Das Anthropomorphe Gottesbild: Berechtigung Und Ursprung Aus Der Sicht Antiker Denker 9783515124195, 9783515124218, 3515124195

Die Auffassungen vom Gottlichen, welche antike Philosophen entwickelten, wurden bekanntlich nur von einer verschwindend

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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel 1: Einleitung
1.1. Das Problem
1.2. Schlüsselthema: Die Ursprungsfrage
1.3. Präzisierung des Dilemmas und richtungsweisende Klärung der Distinktion Gott – Personifikation
1.4. Methodische und prinzipielle Erwägungen zur einschlägigen modernen Diskussion
Kapitel 2: Das anthropomorphe Gottesbild als Träger buchstäblicher Wahrheit
Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A
3.0. Einleitung
3.1. Spontane Entstehung
3.2. Die anthropomorphe Gottesvorstellung als bewusst erfunden
Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte
4.0. Einleitung
4.1. Varro und das neue Denkmodell
4.2. Varros RD: Die zwei Phasen und ihr Bezug zum neuen Denkmodell
4.3. Varros tria genera theologiae
4.4. Varro und der frührömische Kult ohne Götterbilder
Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B
5.0. Einleitung
5.1. Zur Frage der Wertung des anthropomorphen Gottesbildes bei Plutarch
5.2. Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus
5.3. Porphyrios über die Götterbilder
5.4. Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie
5.5. Abschließende Bemerkungen
Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C
6.0. Einleitung
6.1. Inhalt und Form der Hiera Anagraphe. Frühere Deutungsvorschläge
6.2. Die „ewigen und unvergänglichen Götter“ in der Hiera Anagraphe
6.3. Der Status der kultisch verehrten Sterblichen in der Hiera Anagraphe: Götter oder nur ‚Götter‘?
6.4. Reflexionen zum Charakter und Umfang der Kritik an Euhemeros
6.5. Exkurs über den „Euhemerismus im weiteren Sinne“
Kapitel 7: Rückblick
Bibliographie
Indices
8.1. Allgemeines Register
8.2. Stellenregister
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Das Anthropomorphe Gottesbild: Berechtigung Und Ursprung Aus Der Sicht Antiker Denker
 9783515124195, 9783515124218, 3515124195

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Marianne Wifstrand Schiebe

Das anthropomorphe Gottesbild Berechtigung und Ursprung aus der Sicht antiker Denker

Alte Geschichte Franz Steiner Verlag

Potsdamer Altertums wissenschaftliche Beiträge

69

POTSDAMER ALTERTUMSWISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE Herausgegeben von Pedro Barceló (Potsdam), Peter Riemer (Saarbrücken), Jörg Rüpke (Erfurt) und John Scheid (Paris) Band 69

Das anthropomorphe Gottesbild Berechtigung und Ursprung aus der Sicht antiker Denker Marianne Wifstrand Schiebe

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von: The Harald and Tonny Hagendahl Memorial Fund Vilhelm Ekmans Universitetsfond (Universität Uppsala) Olle Engkvist Foundation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Layout und Herstellung durch den Verlag Satz: Jeanette Frieberg, Buchgestaltung | Mediendesign, Leipzig Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12419-5 (Print) ISBN 978-3-515-12421-8 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis Vorwort 1. 11 12 13

Einleitung Das Problem Schlüsselthema: Die Ursprungsfrage Präzisierung des Dilemmas und richtungsweisende Klärung der Distinktion Gott – Personifikation 1 4 Methodische und prinzipielle Erwägungen zur einschlägigen modernen Diskussion 1.4.1. Zur Entstehung der Allegorese des mythologischen Narrativs

8 11 11 22 24 30 34

2. Das anthropomorphe Gottesbild als Träger buchstäblicher Wahrheit

37

3. Die Ursprungsfrage A 3 0 Einleitung 3 1 Spontane Entstehung 3.1.1. Sekundäre Dekadenzerscheinung 3.1.1.1. Die Bedeutung der Ergebnisse von A. A. Long 3.1.1.2. Die Ergänzung und Korrektur von Longs These durch G. R. Boys-Stones und die Entstehungsfrage im vorsokratischen Denken 3.1.2. Empedokles 3.1.3. Die Theorie des Xenophanes 3.1.4. ‚Pseudo-spontane‘ Entstehung: Ein problematischer Fall bei Cicero, De natura deorum 1,77 3 2 Die anthropomorphe Gottesvorstellung als bewusst erfunden 3.2.1. Die anthropomorphe Gottesvorstellung als politisch begründete Manipulation 3.2.1.1. Cottas Theorie in De natura deorum 1,77 3.2.1.2. Ps.Plutarchos, De Homero 2,113: Homer als Vater der anthropomorphen Darstellungsweise insgesamt 3.2.2. Macrobius, Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis 1,2,20: Das anthropomorphe Gottesbild als theologisch begründete Manipulation

44 44 45 47 67 77 85 90 96 100 101 105 114 123

6

Inhaltsverzeichnis

4. 40 41 42

Vertreter zweier Standpunkte Einleitung Varro und das neue Denkmodell Varros RD: Die zwei Phasen und ihr Bezug zum neuen Denkmodell 4.2.1. RD: Die Frühphase 4.2.2. Die Spätphase 4 3 Varros tria genera theologiae 4 4 Varro und der frührömische Kult ohne Götterbilder 4.4.1. Der frührömische Kult ohne Götterbilder und die Tradition von den Penatenbildern und dem Palladium 4.4.1.1. Die Frage der Authentizität von Fragment 205 Cardauns

138 138 142 145 150 158 167 177

5. 50 51 52

199 199 205 211 218 220

Die Ursprungsfrage B Einleitung Zur Frage der Wertung des anthropomorphen Gottesbildes bei Plutarch Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus 5.2.1. Cornutus und die stoische ‚Allegorese‘ 5 3 Porphyrios über die Götterbilder 5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie 5.4.1. Die olympische Rede des Dion von Prusa (or. 12) 5.4.1.1. Pheidiasszene 5.4.1.2. Blick auf die 12. Rede außer der Pheidiasszene: Ambiguität der Position 5.4.1.3. Schlussbemerkung zur 12. Rede Dions 5.4.2. Maximos von Tyros 5.4.2.1. Dialexis 2: Status und Funktion von ἀγάλματα 5.4.2.2. Dialexis 2: Zu einem angedeuteten Grundgerüst einer Entwicklungsgeschichte des Gebrauchs von Götterbildern 5.4.2.3. Dialexis 2: Die Begründung der anthropomorphen Darstellungsform und die Theorie des Schönen 5.4.2.4. Die anthropomorphe Darstellungsweise außerhalb der 2. Dialexis 5 5 Abschließende Bemerkungen 6. Die Ursprungsfrage C 6 0 Einleitung 6 1 Inhalt und Form der Hiera Anagraphe Frühere Deutungsvorschläge 6.1.1. Die Hiera Anagraphe als Unterstützung des Herrscherkults 6 2 Die „ewigen und unvergänglichen Götter“ in der Hiera Anagraphe 6 3 Der Status der kultisch verehrten Sterblichen in der Hiera Anagraphe: Götter oder nur ‚Götter‘?

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240 241 243 257 263 264 266 270 278 286 292 295 295 297 303 316 322

Inhaltsverzeichnis

7

6 4 Reflexionen zum Charakter und Umfang der Kritik an Euhemeros 6 5 Exkurs über den „Euhemerismus im weiteren Sinne“

328 331

7. Rückblick

336

Bibliographie

343

8. Indices 8 1 Allgemeines Register 8 2 Stellenregister

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Vorwort Die Arbeit an der vorliegenden Untersuchung begann vor vielen Jahren als ein vom Schwedischen Forschungsrat (Vetenskapsrådet) finanziertes Projekt Weitere wesentliche finanzielle Unterstützung wurde mir durch die Universität Uppsala (E O Burmans docentstipendium) zuteil Im Laufe des Unternehmens hatte ich Gelegenheit, mit schwedischen wie ausländischen Kollegen Pläne und Ergebnisse zu besprechen In Tromsø, Leuven, Durham, Lund und Stockholm wie auch in mehreren Fachkreisen in Uppsala habe ich Teilergebnisse und Gesamtplan zur Diskussion vorlegen können Wichtige Gesprächspartner auf verschiedenen Teilgebieten waren mir Pauliina Remes, Börje Bydén, Staffan Fogelmark, Helène Whittaker und Jan Stenger Den betreffenden Universitäten sowie der Stiftung Hilda Kumlin an der Universität Uppsala und dem Harald and Tonny Hagendahl Memorial Fund danke ich für großzügige Beiträge zur Deckung der Reisekosten Ihnen allen schulde ich großen Dank Der dauerhafte Gedankenaustausch mit David Konstan ist eine nie versiegende Quelle der Inspiration gewesen Meinen jungen Kollegen im Griechischen Seminar zu Uppsala, Eric Cullhed, Dimitrios Iordanoglou und Fredrik Sixtensson, sowie auch Denis Searby, Stockholm, danke ich für ihre fruchtbare kritische Auseinandersetzung mit meinem Kapitel über Porphyrios (Kap   5 3 ) Ein besonderer Dank gilt Anders Ekenberg, dem ehemaligen Leiter des Patristikerseminars am Newman-Institut Die Möglichkeit, wichtige Abschnitte der Arbeit dem Patristikerseminar zur Diskussion vorzulegen, hat neue Perspektiven gebracht und wesentlich zur Verfeinerung der Argumentation beigetragen Meine Kollegin Gerd Haverling, Ordinaria für Latein an der UU, hat die Arbeit stets mit lebhaftem Interesse verfolgt und sowohl durch ihre Kritik wie ihre Freundschaft gefördert Auch den übrigen Kollegen im Lateinischen Seminar bin ich zu Dank verpflichtet, vor allem Josef Eskhult, Hans Helander und Erik Bohlin (nunmehr Göteborg) Den Teilnehmern an dem von Gerd Haverling und mir am 8 4 2015 im hiesigen Institut für Linguistik und Philologie organisierten Workshop „Philosophical critique of the anthropomorphic image of the divine“, Clara Auvray-Assayas, Balbina Bäbler und Heinz-Günther Nesselrath, sei herzlich gedankt, nicht nur für ihre Beiträge und ihr reges Interesse bei dieser Gelegenheit, sondern auch für den bleibenden Kontakt Die Finan-

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Vorwort

zierung des Workshops wurde dankenswerterweise von Kungliga Vetenskapssamhället i Uppsala (The Royal Society of Arts and Sciences of Uppsala) übernommen Zwei meiner Freunde und Kollegen in der Societas Soederblomiana (Nathan Söderblom-Sällskapet) seien hier besonders erwähnt Carl-Martin Edsman († 2010) hat mit seiner bis ins hohe Alter ungeschwächten wissenschaftlichen Neugier und seinem nie ablassenden persönlichen Interesse, so lange er es vermochte, mein Vorhaben begleitet und durch positiven Zuspruch gefördert Es ist ein großer Verlust, dass es mir nicht vergönnt wurde, auch nur annähernd die reiferen Ergebnisse der Untersuchung mit ihm zu besprechen Lars Hartman hat durch die unvergleichliche Art, wie er tiefgreifende Kritik und Hochschätzung gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen vermag, entscheidend dazu beigetragen, die Schwierigkeiten der Anfangsphase zu überwinden, etwas was zu betonen mir um so wichtiger ist, als er bei den Gelegenheiten, wo ich ihm expressis verbis dafür gedankt habe, bescheiden zu verstehen gegeben hat, dass ich doch wohl übertreibe Die Universitätsbibliothek Uppsala hat, wie immer, eine entscheidende Rolle gespielt Die abendlichen Stunden im B-Saal der Carolina Rediviva boten die nötige Arbeitsruhe; hinzu kommt die Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft des Personals Ein ganz besonderer Dank sei dabei an zwei Bibliothekarinnen gerichtet: Kerstin Herelius hat sich mit stets liebenswürdiger Aufmerksamkeit meiner Wünsche angenommen und tatkräftig für ihre prompte Erfüllung gesorgt Sofie Kraft hat mit fröhlicher Energie alle Probleme, die im Zuge der verwirrenden Bedingungen des langjährigen Umbaus der UB auftauchten, unverzüglich gelöst Für die Aufnahme des Manuskripts in die Reihe Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge danke ich den Herausgebern, besonders Jörg Rüpke Katarina Stüdemann im Franz Steiner Verlag war durch ihre effektive und zugleich persönliche Betreuung die ideale Kontaktperson Elisabeth Begemann war eine engagierte Koordinatorin Drei schwedische Stiftungen haben dankenswerterweise die Druckkosten getragen: Harald and Tonny Hagendahl Memorial Fund, Vilhelm Ekmans universitetsfond an der UU sowie Olle Engkvist Foundation Mein Mann Traugott Schiebe hat die Arbeit mit unermüdlichem Interesse und nie nachlassendem Scharfblick begleitet Seine konstruktive Kritik ist von unschätzbarem Wert gewesen Uppsala im September 2019 Marianne Wifstrand Schiebe

Kapitel 1 Einleitung Abgrenzung der Forschungsaufgabe und Festlegung grundlegender Distinktionen 1.1. Das Problem Zwischen dem in Kult und Ikonographie vermittelten, öffentlichen Gottesbild und den verschiedenen Auffassungen vom Göttlichen, die in der philosophischen Theologie verfochten wurden, bestand das Altertum hindurch eine Kluft, die uns späten Betrachtern schier unüberbrückbar erscheint 1 Dass die philosophisch Gebildeten sich trotzdem mit der öffentlichen Religion zurechtgefunden haben, bedeutet jedoch nicht, dass sie sich über deren Verhältnis zur philosophischen Theologie keine Gedanken gemacht hätten Ganz im Gegenteil können wir unseren Texten entnehmen, dass die Kluft ihnen nicht gleichgültig gewesen ist, sondern dass sie darüber nachgedacht haben, wie sie zustandegekommen sei, oder besser ausgedrückt, wie es wohl gekommen sei, dass das richtige (d h das eigene) Gottesbild von einer Minderheit vertreten werde, während eine radikal davon abweichende Gottesvorstellung sich in der Gesellschaft durchgesetzt habe Ihre Versuche, diesen Umstand zu erklären, wurden mit Vorliebe so konstruiert, dass sie der Teilnahme am öffentlichen Kult Berechtigung verliehen Insofern ist unser Eindruck, dass die philosophisch geschulte Elite mit souveräner Unbekümmertheit den öffentlichen Kult mitgemacht hat, nicht berechtigt Ein bestimmter Überbrückungsmechanismus diente in besonderer Weise dazu, das Teilnehmen am öffentlichen Kultus zu einem sinnvollen und logischen Verhalten zu machen Ich beziehe mich auf die in der antiken Philosophie unabhängig von allen sonstigen Meinungsunterschieden allgemein praktisierte Sitte, die Götter des traditionellen Kults im Rahmen der eigenen philosophischen Theologie unterzubringen Anders ausgedrückt: Die Göttlichkeit der im traditionellen Kult verehrten Götter wurde nicht bestritten; nur von der Form, in der sie vorgeführt wurden, und von den

1

Vgl etwa die Diskussion bei Nicolai 2005

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Kapitel 1: Einleitung

Eigenschaften, die ihnen zugelegt wurden, wurde Abstand genommen Demnach galt der traditionelle Kult also letztendlich Gottheiten – oder der Gottheit – der eigenen philosophischen Lehre Bereits in vorsokratischer Zeit wurde diese Methode in wechselnder Form praktisiert, wie wir unten sehen werden 2 Nach Platons schillerndem Ansatz im Timaios 40d–e unternahmen es seine Nachfolger, mit Xenokrates beginnend, in wechselnder Weise den Platz der Olympier und ihrer Vorfahren innerhalb des platonistischen Weltbilds zu definieren und systematisieren 3 Aristoteles setzt im vielbesprochenen Kapitel Λ 8 der Metaphysik „die ersten Substanzen“ (αἱ πρῶται οὐσίαι), wie es scheint, mit den traditionellen Kultgöttern gleich 4 Für die Stoiker war Zeus der ewige, alles lenkende kosmische Gott, der unvergängliche göttliche Logos, das schaffende Feuer oder Pneuma, und die übrigen Olympier waren nichts anderes als seine wirkende Kraft in den verschiedenen Teilen des Weltalls 5 Auch die Epikureer, deren Gottesauffassung insofern dem offiziellen Gottesbild näher stand, als die Vorstellung von einer menschenähnlichen Gestalt der Götter bejaht wurde, die aber entschiedener als jede andere Schule gegen allgemein gültige Meinungen von Sinn und Funktion der Kulthandlungen angekämpft haben, verstanden sich als Verehrer der öffentlichen Kultgötter 6 Die Einordnung der Kultgötter als wahre Gottheiten der jeweiligen philosophischen Theologie verlieh dem öffentlichen Kult seine philosophische Signifikanz und Berechtigung Dieses Grundprinzip blieb das ganze Altertum hindurch bestehen, auch wenn die Methode der Integrierung wechseln konnte Nur wenn wir uns die Bedeutung dieser Strategie voll bewusst machen, werden uns gewisse sonst weniger durchsichtige Verfahren und Urteile, die in unseren Texten zum Ausdruck kommen, voll verständlich werden 7 In der wissenschaftlichen Literatur wird diese wichtigste Ausgleichstrategie nur selten gebührend berücksichtigt 8 Stattdessen tritt eine Tendenz hervor, „Gott“ oder „die Götter“ im philosophischen Sinne von den „Volksgöttern“ / „den Göttern des Volksglaubens“ abzuheben, wodurch zu Unrecht der Eindruck erweckt wird, als seien dies

2 3 4 5 6 7

8

S Abschnitt 3 1 1 2 a E ; 3 1 2 S Xenokrates fr 15 Heinze = 213 Isnardi Parente (zu den Problemen dieses vielbesprochenen Fragments, aus Aëtios Plac 1,7,30 Dox p 304, s Dillon 2003, 100‒107; 154 f ); ferner fr 18–20 Heinze = 216–219 Isnardi Parente Zur Stelle vgl unten 3 2 1 m Anm 142 Wenn es korrekt ist, ein Fragment aus Philodemos, De pietate im Papyrus Herculanensis 1428 Theophrastos zuzuweisen (s Henrichs 1972, 94; die Stelle ist fr  581 Fortenbaugh), sind für diesen die Gleichungen Zeus = Nous und Athene = Phronesis belegt SVF 1,160; 162; 527; 2,937; 1021; 1024; 1027; 1062–1064; 1070; 1076; 1093; 3,4; 3 II 33 u a S dazu Lemke 1973, 83 f (mit angeführten Stellen) Die Strategie der Integration bildet die notwendige Voraussetzung für die physische Allegorese des literarischen Götternarrativs (vgl unten 1 4 1 ) Und erst auf dem Hintergrund dieses Verfahrens wird voll verständlich, weshalb die Hiera Anagraphe des Euhemeros ihrem Verfasser die Bezeichnung ἄθεος einbrachte S dazu Kap  6 (bes 6 4 ) und vgl hier unten (mit Anm  21) Klar herausgestellt etwa bei Athanassiadi und Frede 1999, Introduction 7 f

1 1 Das Problem

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zwei getrennte Kategorien 9 Die Trennungslinie verlief zwischen der Art, wie die Philosophie sich die Götter vorstellte, und der Art, wie der öffentliche Kult sie präsentierte, nicht zwischen Göttern der Philosophie und Göttern des Volks Manchmal wird das Verfahren als Kompromiss mit dem Volksglauben (o ä ) beschrieben Dies ist gewiss nicht unberechtigt, nur kommt dabei die ideologische Funktion des Modells als systematische Methode, die Kluft zu überbrücken, nicht genügend zum Ausdruck 10 Die Strategie als Allegorisierung oder Personifizierung der Kultgötter zu bezeichnen, eine Charakterisierung, die ebenfalls in der modernen Wissenschaft kursiert, führt dagegen eher irre, wie wir im Folgenden sehen werden 11 Dass die Strategien, die dazu benutzt wurden, die Kluft zwischen öffentlichem und philosophischem Gottesbild zu überbrücken, mit Reflexionen darüber, welche mutmaßlichen historischen oder anthropologischen Faktoren diese Kluft bewirkt hätten, verbunden gewesen sind, liegt nahe genug und bestätigt sich, wie einleitend vermerkt, in unseren Texten Die folgende Untersuchung setzt sich das Ziel, diesen Überlegungen antiker Denker nachzugehen Dabei stehen die Versuche, zu erklären, wie das öffentlich vermittelte Gottesbild – genauer, das anthropomorphe Gottesbild im gleich zu definierenden Sinne – aufgekommen sei, im Zentrum Aus unseren erhaltenen Texten lässt sich eine ganze Reihe von solchen Entstehungsmodellen rekonstruieren Die Unterschiede zwischen öffentlichem und philosophischem Gottesbild betreffen zwei Aspekte: einmal das angebliche Agieren der Götter und dann auch die Art, wie sie konkret präsentiert werden In der öffentlichen Religion gilt als selbstverständliche Voraussetzung, dass die Götter auf Kulthandlungen reagieren, ihre Verehrer aufmerksam überwachen und bereit sind, ihnen Beistand zu leisten bzw gegebenenfalls Vergehen und Fehlverhalten zu bestrafen 12 Nicht so in der Philosophie: Alle philoso9

10 11

12

S z B Görgemanns 2009, 50: „Die Stoiker gebrauchten den Begriff „Gott“ oder „Götter“ in zweierlei Weise: Auf der einen Seite stand Gott als der Welt-Logos, das alldurchdringende Pneuma, das umfassende Schicksal (εἱμαρμένη) Neben diesem pantheistischen Konzept gibt es die Götter des Volksglaubens, die allegorisch als Naturkräfte verstanden werden …“ S z B Heinze 1892, 77; Guthrie 1 (1962), 130 f ; Morgan 2000, 61; Brisson 2004, 45, u a Vgl die ausgewogenen Worte zur Theologie der Stoiker und Epikureer bei Long 1990, 280 S etwa Jaeger 1967, 137 („allegorical personification“, auf den Umstand bezogen, dass Empedokles die von ihm postulierten göttlichen Wurzelkräfte mit Namen wie Zeus, Hera und Aidoneus benennt; entsprechend Primavesi 2006, 66 f ); Steinmetz 1986, mehrfach; Dyck 2003, 63 („The theory / d h Ciceros / that the traditional anthropomorphic gods are an allegory for parts of the physical world …“); ebenda 60 („physical allegorism“, von Apollon und Artemis als Sonne und Mond) Richtigstellender Ansatz von Konstan in der Einführung zu Russell und Konstan 2005, xvii Die Frage wird uns unten Abschnitt 1 3 und 1 4 eingehender beschäftigen Vgl Yunis 1988, 35–58 zu den drei „fundamental beliefs of Athenian polis religion“: 1 Die Götter existieren; 2 die Götter nehmen an Leben und Wandel der Menschen Anteil; 3 „reciprocity between men and gods“ S auch Parker 1998, bes die allgemeinen Bemerkungen a A (und vgl ebenda 121–123 zur philosophischen Meinung) Auf eine Auseinandersetzung mit der modernen These, derzufolge es unzutreffend sei, im Zusammenhang mit antiker Religion und antikem Kult von Glaubensinhalten zu sprechen – oder, wie ein berühmtes Schlagwort lautete: „Practice, not belief, is the key“ (Price 1999, 3) – kann verzich-

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Kapitel 1: Einleitung

phischen Richtungen bestreiten, dass die Götter in diesem Sinne tätig seien Mit anderen Worten herrscht vollständige Einigkeit darin, dass die offizielle Religion hier ein durch und durch falsches Bild vermittle Die Versuche, den Hintergrund und die Entstehung dieser offiziellen Fehlvorstellung zu erklären, stimmen auch im wesentlichen überein Mit der philosophischen Haltung zur äußeren Form, in der die Götter in Kult und Ikonographie präsentiert werden, verhält es sich dagegen anders Hinsichtlich der Beurteilung der Frage, wie der Brauch aufgekommen sei, die Götter in menschlicher Gestalt darzustellen, bezeugen uns die Texte eine nicht unbedeutende Pluralität der Meinungen Die ablehnende Grundhaltung – ablehnend in dem gleich zu erörternden Sinne – ist offensichtlich dominierend und lange Zeit sogar alleinherrschend gewesen Erst viel später belegt ist eine Sichtweise, nach der die anthropomorphe Darstellungsweise – denn hier handelt es sich wirklich allein um die menschliche Gestalt als Darstellungsform – umgekehrt als philosophisch wertvoll anerkannt wird: Sie verdanke ihre Entstehung dem Wunsch nach einer sinnvollen Methode, Gotteserkenntnis in übertragenem Sinne zu vermitteln Schon wegen des reicheren Vorrats an Meinungen wird der zweite Aspekt im Zentrum stehen, wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, ein Bild davon zu zeichnen, wie im antiken Denken das offizielle Gottesbild bewertet wurde und wie man sich seine Entstehung vorstellte Wir werden zwar gelegentlich damit zu tun haben, wie man sich generell zum öffentlich gültigen Paradigma von persönlich eingreifenden Göttern verhielt;13 im wesentlichen gilt meine Untersuchung jedoch der Frage, wie die Vorstellung von der Menschengestalt der öffentlichen Kultgötter (einschließlich spezifisch mit der anthropomorphen Form verbundener Charakteristiken wie Geschlecht, Alter, Familienbeziehungen) bzw die Art, diese Götter so darzustellen, im antiken Denken bewertet wurden Auf eine Diskussion des Problems des (allzu) menschlichen Agierens der Götter im mythologischen Narrativ habe ich bewusst verzichtet Das liegt nicht daran, dass diese Frage im Gegensatz zu dem von mir untersuchten Thema schon lange in der Forschung besprochen worden ist Vielmehr ist die Entscheidung ein Ergebnis der Untersuchung selbst Die von mir aufgezeigten Modelle sind im kritischen Verhalten dem Kult gegenüber begründet und sind nicht aus der Auseinandersetzung mit der Dichtung entstanden Im Laufe der Arbeit wurde mir immer deutlicher, dass es unbedingt

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tet werden Ich verweise auf die ausführliche Diskussion bei Versnel 2011, Appendix Four (539 ff und bes 552 f ) Selbstverständliche Grundvoraussetzung des Kults ist die Überzeugung, dass die Götter existieren Diese Überzeugung teilten die Intellektuellen mit der antiken Gesellschaft im Übrigen Dass sie nicht alle vom öffentlichen Kult unterstützten Inhalte akzeptierten, bedeutet natürlich nicht, dass sie nichts glaubten Sie glaubten eben anderes S Kap  2 a E (Kleindruck) Man wäre gerne bereit, die dort sowie in den Abschnitten 3 2 –3 2 1 2 beschriebene Grundhaltung als bewusst „doppelseitiges Verfahren“ zu charakterisieren (die Phrase aus Nicolai 2005, 18) Auch hier entspringen die Stellungnahmen zweifellos dem Streben, die Dominanz des öffentlichen Gottesbildes zu begründen

1 1 Das Problem

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notwendig ist, die beiden Aspekte strikt auseinanderzuhalten, wie ich im Folgenden genauer erläutern werde (s Abschnitt 1 4 ) Die oben genannte allgemein praktisierte Überbrückungsstrategie trägt potentiell schon in sich den Keim zu einer recht einleuchtenden Erklärung, wie die fehlerhafte anthropomorphe Gottesvorstellung entstanden sei 14 Wer nämlich die eigene Theologie und das offizielle Gottesbild für im Kern identisch hält und zugleich noch, wie die allermeisten Intellektuellen im Altertum, der Meinung ist, dass die beste Zeit der Menschheit in einer fernen Vergangenheit gelegen habe, wird leicht dazu neigen, sein eigenes Gottesbild (mehr oder weniger exakt) mit einem ursprünglicheren, unverfälschten Gottesbild zu identifizieren Die offizielle Gottesvorstellung wird damit auf eine historisch sekundäre Stufe herabgesetzt – anders ausgedrückt: Auch sie spiegelt das ursprüngliche Gottesbild wider, jedoch in einer stärker veränderten Form Sie wird somit als degenerierte Fassung verstanden Ich habe unten (Kap  3 1 1 ) zu rekonstruieren versucht, wie die Anhänger dieser Sichtweise sich die Entwicklung vorgestellt haben, die vom einstigen, überlegenen Gottesverständnis zum fehlerhaften Gottesbild der Spätzeit geführt habe Aus unseren Texten tritt ein Bild hervor, nach dem dieses sich im Laufe der Zeiten durch Missverständnisse und Fehldeutungen herausgebildet habe Dieser Vorgang ist, wie ich glaube, so verstanden worden, dass das überlegene Gottesbild ursprünglich in metaphorisch formulierten Aussagen beschrieben und überliefert worden sei Vertraute Bereiche des Wortschatzes hätten dabei das Vokabular geliefert Auf die Dauer sei jedoch der metaphorische Charakter dieser Aussagen nicht mehr beachtet oder verstanden worden, so dass sie stattdessen buchstäblich gedeutet worden seien Diese buchstäbliche Deutung habe die falsche Vorstellung von menschlich gestalteten Göttern generiert 15 Es gibt gute Gründe, gerade diese Variante 14

15

Aus praktischen Gründen verwende ich im Folgenden den Begriff ‚anthropomorphe Gottesvorstellung‘ im Sinne eines buchstäblichen, als fehlerhaft betrachteten Verständnisses der Menschenähnlichkeit der Götter, während ‚anthropomorphes Gottesbild‘ im neutralen Sinne benutzt wird, d h sowohl für ein buchstäbliches wie für ein nicht-buchstäbliches (übertragenes) Verständnis stehen kann Sonst (d h ohne die Bestimmung „anthropomorph“) werden die Begriffe ‚Gottesvorstellung‘ und ‚Gottesbild‘ dagegen unterschiedslos gebraucht Es sei hier sicherheitshalber unterstrichen, dass das Wort ‚anthropomorph‘, so wie es in dieser Untersuchung verwendet wird, nicht notwendig die Konnotation einer materiellen Leiblichkeit beinhaltet Allein das buchstäbliche Verständnis der traditionellen anthropomorphen Form schließt eine „kategoriale Unterscheidung zwischen Gott und Mensch“ aus, indem mit Notwendigkeit den Göttern ein (wie auch immer gearteter) menschenähnlicher Körper zugeschrieben wird Ein nicht-buchstäbliches Verständnis – d h die Anerkennung der anthropomorphen Darstellungsweise als übertragene Methode, auf das wahre Wesen Gottes hinzuweisen, s hierzu im Folgenden – verträgt sich dagegen ohne Weiteres mit Vorstellungen sowohl einer Immaterialität wie einer Materialität der Gottheit Vgl Markschies 2016, 113 f (die angeführte Phrase stammt von dort) Diese von mir rekonstruierte antike Vorstellung vom Aufkommen der anthropomorphen Gottesvorstellung hat teilweise Parallelen in Theorien zur Entstehung und Entwicklung der Religion, die im 19  Jahrhundert formuliert wurden, namentlich in der sog naturmythologischen Schule Fr Max Müllers Nicht zuletzt ist mit der Ansicht von einer durch Missverständnisse eines ursprünglich

16

Kapitel 1: Einleitung

als das meistvertretene Überbrückungs- und Erklärungsmodell zu betrachten Wer andererseits nicht so sicher ist, dass die Entwicklung generell negativ verlaufen sei, schreibt dem eigenen Gottesbild nicht in derselben Weise historische Priorität zu Als überlegen gilt es ihm natürlich so oder so 16 Eine weitere, wenn auch vermutlich seltenere Variante der abwertenden Grundhaltung geht von einem anderen Entstehungsansatz aus, und zwar wird geltend gemacht, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung keineswegs spontan entstanden sei, sondern im Gegenteil ein bewusst von oben auferlegtes soziopolitisches Konstrukt sei Einstige kluge Männer hätten dieses Gottesbild erfunden, um die Aufrechterhaltung der falschen, aber politisch notwendigen Vorstellung von persönlich agierenden Göttern zu erleichtern (s dazu bes Kap  3 2 1 und 3 2 1 1 ) Einen ganz anderen Weg beschreiten, wie sich versteht, die überzeugten Befürworter des anthropomorphen Gottesbildes In ihren Augen ist dieses Gottesbild oder, besser gesagt, diese Darstellungsweise dazu eingeführt worden, um als sinnvolles Zeichen für Gott zu dienen, indem mit Hilfe anthropomorpher (selbstverständlich nicht buchstäblich zu deutender) Götterbilder auf das unaussprechliche, unabbildbare Wesen Gottes hingewiesen werde Eine in diesem Zusammenhang wiederholt angeführte Begründung besagt, dass die menschliche Gestalt sich deswegen dafür eigne, eine solche Funktion zu erfüllen, weil der Mensch als einziges vernunftbegabtes Wesen auf Erden eine besondere Beziehung zu Gott habe In diesem übertragenen Sinne sei das anthropomorphe Gottesbild durchaus wahr Bedenken hinsichtlich der Angemessenheit der Götterbilder von der Art, wie sie antike Denker der Spätantike sonst beschäftigt haben sollen,17 kommen in den von mir analysierten Zeugnissen dieses Modells nicht zum Ausdruck Die menschengestalteten Götterbilder werden nicht als in irgendeiner Weise inadäquat oder als notgedrungener Ersatz für eine exaktere Wiedergabe des Göttlichen betrachtet Die anthropomorphen Götterbilder sind nach dieser Sehweise von vornherein dazu eingerichtet worden, als Symbole zu funktionieren, und nicht um die Gottheit abzubilden Sie gelten als durchaus zutreffendes Medium der Wahrheitsvermittlung Dass diese auf indirektem Wege vorgehen muss, wird ausnahmsweise ausdrücklich bemerkt, aber nie bedauert Im Gegenteil besteht die Pointe gerade in der indirekten Vorgehensweise

16 17

metaphorischen Diskurses bedingten Veränderung des Gottesbildes in gewissem Sinne Müllers Theorie, dass sprachliches Fehlverhalten ähnlicher Art für den Entwicklungsverlauf primitiver Religionen eine entscheidende Rolle gespielt hätte, vorgegriffen worden, s z B Müllers Anthropological Religion, 1891, 69–74 (Nachdruck in Turner 1997, vol 3), oder seine Contributions to the Science of Mythology, 1897, vol 1, 68; 112–118; 135–138 u a Zu einer kurzen Übersicht über die Lehre und den Einfluss Müllers s etwa Sharpe 1986, 38–46 oder Turner 1997, vol  1, 8 Ablehnung des anthropomorphen Gottesbildes ohne damit einhergehenden Entwicklungspessimismus – ein seltenes Modell – wurde von Xenophanes vertreten (s Kap  3 1 3 ) Hömke, Chiai u Jenik 2016, 4; vgl Männlein-Robert 2017 a, 196 (s unten 5 3 , mit Anm 114) Vgl Johnson 2013, 170

1 1 Das Problem

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Der früheste Beleg für eine Haltung wie die letztgenannte begegnet erst im letzten vorchristlichen Jahrhundert Man könnte leicht geneigt sein, diesen Umstand der Tücke der Überlieferung zuzuschreiben, denn man sollte meinen, dass diese Sichtweise attraktiver sein müsste als jede andere Die anthropomorphe Darstellungsweise des öffentlichen Kults ließe sich ja dadurch in hervorragender Weise philosophisch begründen Wie wir jedoch sehen werden, gibt es Grund zu glauben, dass es sich nicht einfach nur um eine Überlieferungslücke handelt, sondern dass diese Deutungsmöglichkeit lange Zeit hindurch tatsächlich nicht wahrgenommen wurde Innerhalb der Elite dominierte stets die Überzeugung, dass das allgemeine Publikum nicht dazu fähig sei, dem Missverständnis der buchstäblichen Deutung auszuweichen – dem Volk wurde generell der Glaube unterschoben, dass die Götter sich im Prinzip nur darin von den Menschen unterschieden, dass sie mächtiger, größer und v a unsterblich seien Es versteht sich von selbst, dass wer eine solche Vorstellung von dem Volk hat, nicht in erster Linie daran denkt, der anthropomorphen Darstellungsweise einen eigenen philosophischen Wert und Sinn zuzuschreiben, und für denjenigen, der die anthropomorphe Gottesvorstellung für eine spontan durch Missverständnisse aufgekommene Fehlvorstellung von den Göttern hält, schließt sich die Bejahung dieser Darstellungsweise praktisch aus Erst aufgrund neuer Voraussetzungen, mit denen wir unten Kap   4 und 5 mehr zu tun haben werden, ermöglicht sich die Verbindung einer positiven Sinngebung der anthropomorphen Darstellungsweise mit der herkömmlichen Geringschätzung des Volks und seines Fassungsvermögens Im Zuge einer etwa um 100 v  Chr sich anbahnenden neuen Vorstellung von der frühen Geschichte der Menschheit und den Anfängen menschlicher Kultur tauchen die ersten Belege einer Auffassung auf, nach der das anthropomorphe Gottesbild als Teil einer Tradition zu betrachten sei, die von weisen Männern der Vorzeit bewusst und im Einklang mit einem tiefen Wissen geschaffen worden sei, und zwar in der Absicht, einer eingeweihten Elite esoterische Wahrheit zu vermitteln Erst durch diesen Haltungswechsel bietet sich jedenfalls theoretisch eine Möglichkeit an, der anthropomorphen Darstellungsform eine doppelte Funktion zuzuschreiben, etwa in der Weise, dass ihre Erfinder sie vorerst dafür vorgesehen hätten, den Eingeweihten exklusives Wissen zu vermitteln, zugleich aber auch dafür, die Nicht-Eingeweihten daran zu hindern, an dieses Wissen heranzukommen In solchem Falle gilt also, dass letztere anstelle des eigentlichen, wahren Sinnes, zu dem der Zugang ihnen verweigert wird, die (falsche) Oberflächenebene rezipieren sollen Bewusste Absicht kann eben nach mehreren Seiten hin operieren Zwar wird nicht ausdrücklich ausgesagt, dass es sich um eine solche doppelte Intention handele, aber dies folgt nahezu notwendig daraus, dass der Wahrheitsinhalt einer beschränkten Gruppe vorbehalten bleibt Eine genau entsprechende, ausdrücklich ausgesprochene doppelte Absicht wird in einem

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Kapitel 1: Einleitung

Text, mit dem wir uns im 3 Kapitel beschäftigen werden, Homer beim Verfassen seines angeblich allegorischen mythologischen Narrativs zugeschrieben 18 Gelegentlich begegnet ein Modell, nach dem die anthropomorphe Darstellungsweise dazu erfunden worden sein soll, wahre Gotteserkenntnis zu vermitteln, aber nicht für eine ausgewählte Elite, sondern für ein breiteres Publikum vorgesehen sein soll: Aus Sorge um die Seele eines jeden sei sie eingeführt worden Mit dieser Variante werden wir uns unten Kap  5 4 beschäftigen Es ist hier wichtig zu unterstreichen, dass jedes Modell, welches das anthropomorphe Gottesbild als bewusste Erfindung betrachtet, mit Notwendigkeit Stellungnahmen zu einer Reihe von Begleitfragen voraussetzt, und zwar sind dies die folgenden: die Urheberfrage: Wer hat das anthropomorphe Gottesbild erfunden? – die Empfängerfrage: Für wen ist es erfunden worden? – und schließlich die Absichtsfrage: In welcher Absicht wurde es eingeführt? Dieser Umstand ist nicht so trivial wie er zunächst erscheinen mag; im Gegenteil bietet er uns ein wertvolles Instrument, mit dessen Hilfe wir die Texte befragen können und im Stande sind, wesentliche Aspekte aufzudecken, die sonst leicht übersehen werden Für alle Varianten, die dem anthropomorphen Gottesbild eine wahrheitsvermittelnde Funktion zuerkennen, bleibt die Überzeugung, dass seine Urheber zur Elite gehört haben müssen, konstant Dagegen kann die Zielgruppe verschieden definiert werden Da die philosophischen Versuche, zu erklären, weshalb die Götter im öffentlichen Kult in menschlicher Gestalt präsentiert werden, jeweils eine Stellungnahme zur Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieser Darstellungsform voraussetzen, bildet diese letzte Frage das Haupteinteilungsprinzip der Untersuchung Die drei ausführlichsten Kapitel sind den beiden wichtigsten Grundpositionen in dieser Frage gewidmet: In Kapitel  3 werden Stellungnahmen analysiert, die auf der Voraussetzung bauen, dass das anthropomorphe Gottesbild grundsätzlich unwahr und irreführend sei, und in Kap  4 und 5 wenden wir uns dem entgegengesetzten Standpunkt zu, d h der Auffassung, dass das anthropomorphe Gottesbild dazu erfunden worden sei und durchaus dazu imstande sei, theologische Wahrheit zu vermitteln, und zwar in übertragener Form Beiden genannten Grundpositionen in der Wahrheitsfrage steht die Fassung der epikureischen Lehre gegenüber, nach der das anthropomorphe Gottesbild theologisch korrekt und buchstäblich wahr sei Diese Variante wird uns mehr am Rande 18

Ps Plut De Homero 2,92, unten 3 2 1 2 S auch unten 1 4 a E Vgl auch Salloustios 3 p  4,11–15 Nock; Julian, In matrem deorum 170a–b Freilich stünde theoretisch auch eine andere Möglichkeit zur Verfügung, um den Umstand zu erklären, dass die anthropomorphen Bilder, falls nun ursprünglich für eine beschränkte Gruppe geschaffen, dennoch nachweislich zum öffentlichen Kult gehören, und zwar derart, dass die Sitte aus Versehen bekannt geworden sei und sich verbreitet hätte In solchem Falle wäre am ehesten (wenn auch nicht mit Notwendigkeit) mitzuverstehen, dass das eigentliche Anliegen gerade aus dem Grund verborgen geblieben sei, weil die breiteren Kreise die Götterbilder buchstäblich verstanden hätten

1 1 Das Problem

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beschäftigen, da für sie das Problem des historischen Ursprungs des anthropomorphen Gottesbildes wegfällt Die Epikureer interessiert dafür die Frage, wie die Menschen darüber zur Klarheit gekommen seien, dass die Götter so gestaltet seien 19 Die Bedeutung der Epikureer besteht für die Untersuchung vor allem darin, dass sie mit ihrer Gottesauffassung Widerspruch und anhaltende Polemik hervorgerufen haben Bildeten bisher meist die (tatsächlichen oder vermeintlichen20) Vorstellungen und Verhaltensweisen der ungebildeten Schichten die Zielscheibe der philosophischen Kritik, so bedeutete das Eintreten der Epikureer auf die Bühne eine gewisse Umorientierung, da das Thema der menschlichen Gestalt der Götter nun sogar als Streitpunkt der eigentlichen philosophischen Theologie etabliert wurde Eine Sonderstellung nimmt das Modell der Hiera Anagraphe des Euhemeros ein, dem ein besonderes Kapitel gewidmet werden soll (Kap  6) Voraussetzungen, Sinn und Funktion der Göttergeschichte der Hiera Anagraphe sind meiner Meinung nach bisher nie befriedigend behandelt worden Nach diesem Modell ist die Menschengestalt der kultisch verehrten Götter historisch zu erklären und insofern buchstäblich wahr, als diese Götter in Wirklichkeit einst menschliche Herrscher und Helden gewesen sein sollen 21 Der Euhemerismus bietet damit das wohl eleganteste Modell, die Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes zu erklären Trotz seiner bestechenden Kohärenz wurde dieses Modell von der Philosophie nicht rezipiert, aus Gründen, die ich in Kap  6 eingehender darlegen werde Ein weiterer, theoretisch denkbarer Standpunkt wäre der, die Wahrheitsfrage offenzulassen oder sie für unzutreffend zu erklären, mit anderen Worten, geltend zu machen, dass die menschliche Gestalt der Götter als allgemein akzeptierte, wahrheitsneutrale Tradition zu betrachten sei Eine Sichtweise dieser Art lässt sich jedoch nicht belegen Niemals wird die Auffassung geäußert, dass diese Darstellungsweise der Gottheit einst auf Grund gemeinsamer Vereinbarung, unabhängig von allen Wahrheitsüberlegungen,

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S dazu unten Kap  2 Dort (Anm 3) auch zur modernen Theorie, nach der für die Epikureer die Götter „thought-constructs“ gewesen seien Dass die Reaktionen und Verhaltensweisen, die in unseren Texten dem Volk oder den Vielen unterstellt werden, höchst wahrscheinlich die tatsächliche Wirklichkeit nicht korrekt widerspiegeln, ist in unserem Zusammenhang gleichgültig Vgl Eich 2011, 121; 403 S Kap  6 In der ῾Ιερὰ ἀναγραφή des Euhemeros wurden die olympischen Götter und ihre Vorfahren systematisch als ursprüngliche Menschen dargestellt, die auf Grund ihrer Stellung oder ihrer besonderen Eigenschaften und Leistungen als Götter verehrt worden seien Dementsprechend verwende ich durchgehend den Begriff ‚Euhemerismus‘ ausschließlich für ein Gedankenmodell, nach dem die Götterfamilie der Olympier als geborene Menschen betrachtet werden, denen  – schon zu Lebzeiten oder später – göttliche Ehren erwiesen worden sein sollen Dies ist das einzige Kriterium Wichtige und notwendige Distinktionen werden verwischt, wenn der Begriff auch noch für die Vergöttlichung solcher Gestalten, die ohnehin schon als geborene Menschen galten, verwendet wird Dass dieser uneigentliche Gebrauch des Worts sich durchgesetzt hat, kann nur bedauert werden; s dazu unten Kap  6 5 Vgl auch Verf 1997, 78 f

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Kapitel 1: Einleitung

gewählt worden sei 22 Eine Variante davon wäre die Meinung, dass das anthropomorphe Gottesbild einst allein zum Zweck, immanente literarische Ziele zu erreichen, von Dichtern erschaffen worden sei und dann (aus irgendeinem Grund) sekundär in den Kult aufgenommen worden sei 23 Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt ist immer, explizite oder implizite, mit einbezogen Wir sollten deshalb vermeiden, in unserem Kontext von „Konvention“ zu sprechen, da eine solche Terminologie ohne weitschweifige Relativierungen bestimmte hier nicht zutreffende Assoziationen erwecken würde und damit die Gefahr bestünde, dass die Verhältnisse verdreht werden Bei angenommener nicht-absichtlicher Entstehung gilt der Prozess als zwangsläufig und das so aufgekommene Gottesbild als fehlerhaft Bei vorgesehener bewusster Erfindung werden den vermeintlichen Urhebern stets bestimmte Absichten zugeschrieben, aufgrund derer sie das anthropomorphe Gottesbild – als fehlerhaft oder als wahrheitsvermittelnd verstanden – konzipiert hätten Nach den Testimonien zu urteilen, hat niemand die Meinung vertreten, die menschliche Gestalt der Götter sei arbiträr gewählt worden oder auch rein zufällig entstanden Dies muss um so nachdrücklicher betont werden, als in einer weitverbreiteten Monographie von Simon Price hinsichtlich der Einstellung der Griechen zu den anthropomorphen Götterbildern gerade die Begriffe „conventional“ und

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Dies im Gegensatz zur Sprachentstehungsdiskussion im Altertum, wo gelegentlich eine Auffassung dieser Art verfochten worden ist, vgl etwa in Platons Kratylos den Standpunkt des Hermogenes, nach dem συνθήκη καὶ ὁμολογία die Korrektheit der „Namen“ konstituieren (384c–d u a ) bzw Aristoteles interpr 16a19 und 27: Die „Namen“ sind willkürliche Symbole, die κατὰ συνθήκην bestehen Vgl unten 3 1 1 (m Anm 22‒24) Falls in der antiken Literatur Verbildlichungen der Götter (verschiedenster Art) als „Symbole“ bezeichnet werden (wir werden im 4 und 5 Kapitel damit zu tun haben), handelt es sich m W nirgends um arbiträr gewählte Zeichen; die Aussage von Graf 2005, 253 – die nicht durch Belege unterbaut wird – habe ich nicht bekräftigen können Vielmehr wird eine sachliche Verbindung – welcher Art auch immer – regelmäßig postuliert, vgl unten 4 2 1 Anm 70 und 5 4 1 1 , m Anm 142 Die Dichter treten überhaupt in den Überlegungen zum Aufkommen des anthropomorphen Gottesbildes wenig hervor Wir werden unten Kap  4 2 1 (m Anm  33) einen Fall studieren, wo die Dichter generell für die Entstehung der Vorstellung verantwortlich gemacht werden Etwas unklar ist die Rolle der Dichter in der ersten Hälfte der 12 Rede des Dion von Prusa, s dazu unten 5 4 1 2 Im zweiten Hauptteil derselben Rede lässt Dion „Pheidias“ die Dichter als Urheber der anthropomorphen Darstellungsweise betrachten, s dazu 5 4 1 1 Ein Sonderfall (Homer als Erfinder) wird unten 3 2 1 2 besprochen In keinem dieser Fälle gilt das anthropomorphe Gottesbild als wahrheitsneutral Dass die menschliche Gestalt der Götter für die Anschaulichkeit des literarischen Narrativs von Bedeutung sei, wird gelegentlich ausdrücklich hervorgehoben (s unten 3 2 1 1 und 3 2 1 2 bzw 5 4 1 1 , m Anm 147–149) Der Gedanke, dass dieser Umstand allein die Entstehung des Konzepts erklären könnte, lässt sich jedoch nicht belegen Das mag nicht nur am Charakter der theologischen Diskussion liegen, sondern teilweise auch im antiken Dichtungsverständnis wurzeln, das sich nie ganz von der Grundüberzeugung eines wie auch immer gearteten Wirklichkeitsbezuges der Dichtung hat freimachen können Dass die Dichtung ein ganz und gar autonomer, wahrheitsindifferenter Bereich sei, eine Welt im eigenen Recht, ist erst eine moderne Auffassung S dazu Fuhrmann 1992, 34; vgl auch Halliwell 1999, 328 f und die Überlegungen zur Fiktionalität in der Antike bei Borg 2002, 232

1 1 Das Problem

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„convention“ ohne weitere Definition eingeführt werden 24 Schon der Umstand, dass in diesem Zusammenhang über „the Greeks“ im Allgemeinen ein Urteil gefällt wird, macht stutzig, denn nichts deutet darauf, dass es hier jemals einen die Klassengrenzen überschreitenden Konsens gegeben hat Für die Gebildeten handelte es sich wie gesagt im Grunde immer um die Wahrheitsfrage Zu sagen, die menschliche Gestalt gelte als (leider) allgemein akzeptiert, würde die Auffassung vieler oder gar der meisten dieser Elite korrekt wiedergeben; zu behaupten, sie gelte ihnen als Konvention, wäre dagegen grob irreführend Demgegenüber sind wir darüber, wie die Normalkultausüber oder die Normalbetrachter der Götterbilder persönlich in dieser Frage gedacht haben, sehr schlecht informiert Vielleicht haben die meisten die normale Art, wie die Götter dargestellt wurden, einfach hingenommen, ohne einen Drang gespürt zu haben, eingehender darüber nachzudenken 25 Oder die Lage mag eher so gewesen sein, wie sie R L Gordon beschrieben hat: In einer funktionierenden anthropomorphen Religion hätten die Verehrer kein Problem, die Götter zu klassifizieren – „they are people, but they are also not “ Solange das System stabil sei, bestehe keine Gefahr, dass jemand glaube, „that ‚people‘ were people“ 26 Freilich dürfte die intellektuelle Elite, wie wir schon gesehen haben, normalerweise vorausgesetzt haben, dass die breiteren Kreise grundsätzlich einer solchen Fehlvorstellung verfallen seien, etwas was Gordon nicht kommentiert

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Price 1999, 57 Freilich ist es nicht leicht, den komprimierten aber zugleich sprunghaften Gedankengang des betreffenden, sehr kurzen Abschnitts zu deuten Zu einer wesentlich feinfühligeren Erwägung zur etwaigen Konventionalität der anthropomorphen Darstellungsweise im Altertum s Stenger 2009 a, 53 Vgl auch noch meine Bemerkung Kap  5 4 1 1 , Anm  147 Scheer 2000 und Eich 2011 sind zwei beachtenswerte aber (nicht zuletzt im theoretischen Ansatz) grundverschiedene Versuche, ein konkretes Bild davon zu zeichnen, welche Vorstellungen von den Götterbildern die Kultausüber im Allgemeinen gehabt haben mögen Eich wendet sich gegen die gängige – auch von Scheer vertretene – Auffassung, die Götterbilder seien gemeinhin als (dauerhafte oder temporäre) Sitze oder Gefäße der Götter betrachtet oder mit den Göttern selbst verwechselt worden, und kritisiert das immer noch lebendige Entwicklungsmodell eines „mentalen Rationalisierungsprozesses“ (22; vgl 97 f ; gemeint ist die Vorstellung von einer allmählichen Wandlung „vom Mythos zum Logos“, vgl S  434) Ein solcher Prozess lasse sich im Verhalten griechischer Religionsausüber nicht belegen Ganz im Gegenteil sei die Entwicklung, sofern die Reaktionen auf die Götterbilder betrifft, eher umgekehrt verlaufen Selbst setzt er sich von den gängigen Interpretationsmodellen dadurch ab, dass er den Götterbildern gesellschaftsstiftende Funktion zuschreibt und ihre (den Kultausübern selber weitgehend unbewusste) Aufgabe v a darin sieht, als Speicher kollektiver Erinnerungen und Zukunftshoffnungen zu dienen (s bes Abschn 7 2 u 7 4 ) Vgl auch unten Anm 33 Einige weitere moderne Studien, die sich aus wechselnder Perspektive mit den Götterbildern auseinandersetzen, werden in der Übersicht bei Eich 2011, Abschn 1 2 (18–25) resümiert und kritisch besprochen Vgl auch Markschies 2016, 114–130; zur Frage der menschlichen Gestalt und der „Vermenschlichung“ der Götter ebenda 114 Gordon 1979, 20

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Kapitel 1: Einleitung

1.2. Schlüsselthema: Die Ursprungsfrage Schwerpunkt der Untersuchung bilden die Vorstellungen von der Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes (der anthropomorphen Darstellungsweise) Wie schon betont, bedingen sich die Positionen zur Frage nach dem Wahrheitsgehalt dieses Gottesbildes und die verschiedenen Theorien zu seinem Ursprung gegenseitig Anders ausgedrückt: Die Stellungnahmen zum Wahrheitsgehalt des anthropomorphen Gottesbildes sind jeweils mit entsprechenden Vorstellungen von seiner Entstehung verbunden Das genauere Studium der Entstehungstheorien decken die jeweilige Haltung zur Wahrheitsfrage, auch wenn sie nicht explizit ausgedrückt ist, in beispielhafter Weise auf Umgekehrt lassen sich aus den Stellungnahmen zur Wahrheitsfrage in der Regel Schlüsse auf das dazugehörige Entstehungsmodell ziehen, und zwar auch, wenn die Texte dazu keine ausdrückliche Information geben Die Lücken schließen sich dem trainierten Auge weitgehend von selbst Es ist nicht einmal notwendig, anzunehmen, dass die Ursprungsfrage immer unbedingt als besonderer Punkt jedes Versuchs, den allgemeinen Götterglauben oder die Kultformen zu erklären oder die Entwicklung der Menschheit zu erforschen, erörtert wurde Wer sich solchen Fragen widmete, wird zweifellos so oder so in der Lage gewesen sein, auf eine direkte Frage hin eine konkrete und schlüssige Antwort zu geben Auf dem Hintergrund der von mir gewählten Ausgangspunkte weisen die Systeme, die im Folgenden präsentiert werden, in der Regel einen hohen Grad von gedanklicher Folgerichtigkeit auf Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich betonen, dass die Gefahr eines unzulässig weiten Verständnisses von „implicitness“ in diesen Fällen gering ist 27 Denn es geht hier nicht um Versuche, aus an sich inkohärenten Aussagen um jeden Preis einen einheitlichen Sinn zu konstruieren; vielmehr handelt es meist davon, gegebenenfalls fehlende Glieder zusammenhängender Gedankenmodelle explizit zu machen Wir haben keinen Anlass, uns den Vorwurf zu machen, dass wir in anachronistischer Weise den damaligen Denkern unsere eigene, übertrieben auf Kohärenz ausgerichtete Denkweise aufdrücken Letztendlich verhält es sich ja, wie Plinius betonte, so, dass nicht einmal Gott imstande ist, daran zu rücken, dass zweimal zehn zwanzig ergibt 28 Grundlage meiner Untersuchung sind die antiken Texte, die sich mit der Frage nach Herkunft, Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes auseinandersetzen Im Blickfeld stehen die bezeugten eigenen Deutungen und Stellungnahmen der aktiven Teilnehmer an der damaligen philosophischen Diskussion Zu den bezeugten Stellungnahmen zähle ich auch diejenigen Meinungen, die gegebenenfalls implizite aus 27 28

„Implicitness“: S die ausführliche Diskussion in Versnel 2011, bes 190–195 Plin nat 2,27: … ut bis dena viginti non sint aut multa similiter non posse (sc deum) Ich verweise hier noch auf Makins Erwägungen zu einer sinnvollen Vorgehensweise bei der Rekonstruktion unvollständig bezeugter philosophischer Meinungen (Makin 1988)

1 2 Schlüsselthema: Die Ursprungsfrage

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den Texten hervorgehen Wie weit diese Deutungen und Stellungnahmen in modernen religionswissenschaftlichen oder anthropologischen Theorien Stütze finden oder nicht, ist im Zusammenhang ohne Belang – auf eine religionswissenschaftliche oder anthropologische Beurteilung des Ursprungs und der Funktionen der anthropomorphen Gottesvorstellung kommt es hier nicht an 29 Zeitlich umfasst die Arbeit im Prinzip die gesamte pagane Periode von den Anfängen der griechischen Philosophie etwa bis zum Ende der paganen Kultur Dass wichtige Namen der griechischen Philosophie in der Untersuchung nur marginell vertreten sind, ist durch die Themenwahl bedingt Im platonischen Korpus etwa ist das im Kult vermittelte anthropomorphe Gottesbild als solches kein Thema, und deshalb ist Platon hier kein eigenständiger Untersuchungsgegenstand, auch wenn er häufig genug in wechselnden Zusammenhängen angeführt wird Aristoteles gibt für meine Fragestellung etwas mehr ab, wie wir in Kap   3 2 1 sehen werden Wie schon aus dem Titel hervorgeht, gilt die Untersuchung der innerphilosophischen und innerpaganen Diskussion Die Auseinandersetzung mit dem Christentum bleibt außerhalb des Rahmens, schon aus dem Grund, weil die christliche Polemik gegen die paganen Götter und den paganen Kult sich weitgehend gegen Verhaltensweisen und Vorstellungen wendet, die der intellektuellen Elite fremd sind und von ihr selbst beanstandet worden sind Immer wieder begegnet der Vorwurf, dass die Götterbilder selbst, oder gar Stein, Gold und Elfenbein, d h der Stoff, aus dem die Bilder hergestellt wurden, angebetet würden 30 Die pagane Elite befindet sich nunmehr teilweise in einer Lage, in der ihre eigenen Waffen gewissermaßen gegen sie selbst gewendet werden Ein paar Texte, in

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Zu zwei modernen Behandlungen der Voraussetzungen und Implikationen anthropomorphen Projektionsverhaltens s Guthrie 1993 einerseits und (in Auseinandersetzung mit diesem) Boyer 1996 andererseits Vgl die Rede des Paulus in Athen, Apg 17,29 Zur Gewohnheit der christlichen Autoren, ihre Gegner des „Hylotheismus“ zu bezichtigen, s Finney 1994, 47–53 S auch unten 5 3 (m den Anm  91 bzw 93) Weitere Beispiele für Polemik und Gegenpolemik etwa bei Orig. Cels 3,40 p  183 Marcovich; ibid 7,62 ff p  512 ff ; Lact inst 2,2; Athanasios gent 11 ff Thomson, passim, bes 19–22; Julian, epist 89b, 293c–295 p  161–163 Bidez, Aug enarr. ps 96,11 p  1362 Dekkers u Fraipont Zu einem kurzen Überblick über die Hauptpunkte der frühchristlichen Polemik gegen die pagane Religion s Dihle 1996, 187 f Vgl auch unten Kap  5 5 Anm 273 Gerade die Gewohnheit, das Bild der Gottheit für die Gottheit selbst zu nehmen, wird gelegentlich von paganen Denkern als fehlerhaftes Verhalten zeitgenössischer Kultausüber gerügt; s z B Herakleitos 22 DK fr B 5 / 9 LM D 15 a E und Plut de Iside, moralia 379c, um zwei zeitlich weit auseinanderliegende Fälle zu erwähnen Eichs Bedenken, ob der Schluss von Herakleitos fr B 5 eine solche Deutung zulasse (Eich 2011, 123 f ), scheinen mir übertrieben zu sein Wie die schwedische Redewendung „som att tala till en vägg“ („wie zu einer Wand reden“) dürfte doch wohl mit der Phrase „als wollten sie sich mit Häusern unterhalten“ nichts anderes gemeint sein, als dass das Gegenüber (in diesem Fall die Götterbilder) auf die Anrede (in diesem Fall die Gebete) nicht reagiert So ist der Spruch offensichtlich von Clemens Alexandrinus verstanden worden, wie seine Bemerkung, dass Herakleitos mit dieser Äußerung „die Leblosigkeit der Götterbilder kritisiert habe“ (Protreptikos 50,4 …τοῦ Ἐφεσίου Ἡρακλείτου τὴν ἀναισθησίαν ὀνειδίζοντος τοῖς ἀγάλμασιν), erkennen lässt Ähnlich bei Origenes Cels 1,5 S auch unten 3 2 1 1 Anm 153

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Kapitel 1: Einleitung

denen die menschliche Gestalt als solche zur Diskussion steht, wo ihre vermeintliche zugrundeliegende Intention und ihr Wahrheitswert das Thema bilden (oder indirekt betroffen sind) – Fragmente des Porphyrios; Macrobius somn 1,2,19 f  – werden dagegen, meiner Zielsetzung entsprechend, berücksichtigt, unabhängig davon, wie weit sie einem Willen, die pagane Gottesvorstellung gegenüber der christlichen zu verteidigen, entsprungen sind 31 1.3. Präzisierung des Dilemmas und richtungsweisende Klärung der Distinktion Gott – Personifikation Vergegenwärtigen wir uns die Reaktion eines philosophisch gebildeten Betrachters auf das eine oder andere der berühmten Kultbilder der klassischen oder hellenistischen Zeit Wir dürfen davon ausgehen, dass er der Meinung gewesen ist, für seinen persönlichen Teil keine Schwierigkeiten zu haben, vom illusorischen Eindruck der bis ins kleinste Detail reichenden Nachbildung des menschlichen Körpers abzusehen Aber in unserem Zusammenhang ebenso wichtig ist seine Vorstellung von den diesbezüglichen Reaktionen anderer Mit gutem Grund nehmen wir an, dass er davon überzeugt ist, dass das Volk dazu neige, jedes menschlich gestaltete Götterbild buchstäblich zu verstehen32 (und es vielleicht u U sogar für einen leibhaftigen Gott zu nehmen33) Aber nicht nur das: Diese seine Überzeugung hinsichtlich der fehlerhaften Reaktion der ungebildeten Menge ist mit großer Wahrscheinlichkeit mit einer bestimmten

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Selbstverständlich kann nicht aus dem Fragment geschlossen werden, dass dem Normalkultausüber der Unterschied zwischen Götterbild und Gottheit tatsächlich verschwommen oder gar aufgehoben gewesen sei, vgl Eich ebenda 126; 275 u a S auch hier oben Anm 20 S dazu unten Kap  5 3 sowie 3 2 2 Eine gewisse Rolle spielen außerdem Stellen aus den neuplatonischen Platon- und Aristoteleskommentaren (Proklos, Ammonios, Simplikios), v a indem sie uns Zeugnisse aus älterer Zeit vermitteln und besprechen Vgl Cicero nat. deor 2,45 (der Stoiker Lucilius Balbus) bzw ebenda 1,101 (der Skeptiker Aurelius Cotta) Vgl in diesem Zusammenhang die generellen Reflexionen von Vernant (1991, 153–159) zum Unterschied in Status und Funktion zwischen den archaischen Xoana und den voll anthropomorphisierten Kultstatuen der öffentlichen Tempel („… the divine symbol is transformed into an ‚image‘ of the god“, 159) und die ausführliche Diskussion bei Steiner 2003, 80–95 Steiner betont (ebenda, 90), dass die griechischen Bildkünstler sich der Gefahr bewusst gewesen sind, die die vollendete anthropomorphe Form mit sich bringt – neben der „misrepresentation“ als solcher auch noch den Nachteil, das Göttliche zu sehr auf die menschliche Ebene herabsinken zu lassen – und deswegen bei der Gestaltung ihrer Bilder zu erreichen versucht haben, dass diese bei aller Menschennähe auf die Kluft zwischen dem Betrachter und der unsichtbaren, unaussprechlichen Welt außer Reichweite aller konkreten Darstellung hinweisen sollten Vgl hier oben Anm 29 und Eich 2011, 121 Obwohl Eichs umfangreiche Monographie den Schwerpunkt ganz anders setzt (vgl oben Anm 25), findet sich darin eine Reihe höchst zutreffender Beobachtungen dazu, welche Vorstellungen von den Göttern und den Götterbildern die intellektuelle Elite dem gemeinen Volk zuzuschreiben pflegte (s hier unten Anm 34 und 36)

1 3 Präzisierung des Dilemmas

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Annahme darüber verknüpft, wie es dazu gekommen sei, dass man Bilder der Götter in menschlicher Gestalt herstellt, und zwar mit der, dass diese Darstellungsweise von vornherein auf die Intention zurückgehe, die Götter in ihrer tatsächlichen Gestalt abzubilden 34 Da die Menschen einst bedauerlicherweise dazu verfallen seien, fälschlich zu glauben, die Götter seien eben den Menschen ähnlich (wenn auch, selbstverständlich, unsterblich und viel mächtiger), hätten sie damit begonnen, Götterbilder in dieser Form aufzustellen Oder aber er ist der (an sich gewiss seltener vertretenen) Meinung, diese Art, die Götter darzustellen, sei von klugen Männern in der bewussten Absicht, das Volk mit Hilfe dieses falschen, aber ihm leicht verständlichen Gottesbildes besser kontrollieren zu können, erfunden worden Obwohl unser Betrachter selbst keineswegs der Meinung ist, dass das Bild eine Abbildung seines Referenten im konkreten, realistischen Sinne sei, sieht er also hier trotzdem keine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Bild und Gegenstand anders zu beurteilen, denn in seiner Gedankenwelt sind die Götterbilder eben ursprünglich mit einer solchen Intention geschaffen worden und werden auch weiterhin normalerweise so verstanden So erklären sich eine Reihe von Aussagen verschiedener Zeit, die, wenn wir sie auf ihre Prämissen hin überprüfen, darauf deuten, dass die betreffenden Sprecher wie selbstverständlich die Sitte, die Götter in menschlicher Gestalt darzustellen, auf eine vermutete Intention, die Gottheit regelrecht abzubilden, zurückführen „Gott gleicht niemandem, und deshalb kann niemand ihn durch ein Bild kennenlernen,“ soll Antisthenes gesagt haben 35 Herodotos erzählt uns, dass die Perser den Göttern keine Bilder, Tempel und Altäre errichten; alle, die dies tun, halten sie für töricht, „wie ich vermute, weil sie nicht, wie die Griechen, sich die Götter menschengestaltet vorstellen“ 36 In Rom sollen gewisse Ansprüche philosophischer Theologie den pragmatisch gesinnten Pontifex Q Mucius Scaevola irritiert haben, offensichtlich weil er befürchtete, sie könnten, wenn sie öffentlich bekannt würden, zu Turbulenzen führen, darunter die folgende Behauptung: Die Staaten hätten von denen, die wirklich Götter seien, keine wahren Bilder, „da ein wahrer Gott weder Geschlecht noch Alter noch fest umgrenzte Glieder besitzt “37 Der Eindruck, den diese Äußerungen erwecken, ist der, dass eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Bild und Gegenstand anders zu beurteilen 34

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Vgl Eich 2011, 126; 158 Dass Xenophanes damit rechnet, Götterbilder seien dazu gedacht, die in den Augen der Verehrer tatsächliche Gestalt der Götter wiederzugeben, zeigen die beiden Fragmente 21 DK B 15 und 16 / 8 LM D 14 und 13, gleichzeitig betrachtet (Zu Xenophanes s unten Kap  3 1 3 ) Antisthenes fr 181 Giannantoni p 207 = fr 40 Decleva Caizzi Herodotos 1,131 Vgl Eich 2011, 158 zu Herodotos 2,46 Zu Herodotos s auch unten 3 1 3 Anm  126 Aug civ 4,27 p 180,1 (Varro, Logistoricus de cultu deorum fr 5 Cardauns): Quod eorum qui sint dii non habeant civitates vera simulacra, quod verus deus nec sexum habeat nec aetatem nec definita corporis membra Der Pontifex selbst tritt dabei gewissermaßen als Gesinnungsgenosse und Komplize der manipulativen Staatsmänner hervor, die der unten Kap  3 2 1 und 3 2 1 1 besprochenen Theorie zufolge die anthropomorphe Gottesvorstellung im Interesse der politischen und sozialen Ordnung erfunden haben sollen Zur Stelle s ferner unten Kap  4 3 Anm  80, 92 und 101

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Kapitel 1: Einleitung

als im Sinne von einer Abbildung im konkreten Sinne, überhaupt nicht erwogen worden ist Der Grund ist der angegebene: Die Sprecher gehen davon aus, dass die Bilder einer Absicht, ihre Referenten konkret abzubilden, entspringen und generell so verstanden werden, und da die Wirklichkeit (selbstverständlich) diesem Verhältnis von Bild und Gegenstand nicht entspricht – und nicht entsprechen kann! – sind die Götterbilder eben falsch Es versteht sich von selbst, dass ihnen unter diesen Bedingungen nicht leicht einfallen wird, dass eben diese Darstellungsform geradezu die richtige theologische Verständnishilfe sei und als solche geschaffen worden sei Wir dürfen dabei nicht übersehen, dass die Gegner der anthropomorphen Gottesvorstellung keineswegs grundsätzlich der menschlichen Gestalt als solcher die Fähigkeit abgesprochen haben, in sinnvoller Weise anders schwer darstellbare Inhalte vermitteln zu können Mehrfach sind uns Aussagen überliefert, die ausdrücklich bezeugen, dass eine Distinktion zwischen Bildern solcher Gestalten, die wir Personifikationen nennen können, einerseits, und regelrechten Götterbildern andererseits aufrechterhalten wurde Die anthropomorphen Formen der ersten Kategorie galten als unproblematisch oder wurden als praktikable Methode, anders nicht auszudrückende Inhalte zu veranschaulichen, anerkannt; allein für die zweite Kategorie wird die menschliche Darstellungsform abgewiesen 38 Diese Aussagen deuten darauf, dass die von den Personifikationen repräsentierten Erscheinungen den Sprechern nicht als Götter gelten, und damit entfällt offensichtlich das Problem Philodem berichtet, dass Chrysippos geschrieben haben soll, dass es „kindisch sei, die Götter in Wort und Bild menschengestaltig darzustellen, so wie man Städte und Flüsse und Orte und Affekte darstellt “39

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Unter Personifikation verstehe ich hier, in Anlehnung an eine geläufige moderne Definition (s etwa Stafford 2000, 4; ähnlich Borg 2002, 49–50), eine anthropomorphe Gestalt, die ein unbelebtes Ding repräsentiert, eine Definition, die sich, wie gleich zu zeigen sein wird, auf die hier anzuführenden Texte gut anwenden lässt Vgl auch unten Anm 41 Dass diese Darstellungen bewusst in der Absicht, Nicht- oder Schwerdarstellbares zu veranschaulichen, gewählt worden sind, gehört dabei zur Definition, d h „die sachliche Priorität des Begriffs vor der Person“ wird vorausgesetzt (vgl Borg ebenda 50 f ) Die Bedenken, die Borg selbst einer solchen Einschränkung gegenüber ebenda äußert, treffen hier nicht zu Ganz im Gegenteil erweist sich die Bedingung für die im Folgenden angeführte Textevidenz als wesentlich und hilfreich Eine Verallgemeinerung meiner Definition auf Untersuchungsgegenstände oder -bereiche, die nicht in den gegenwärtigen Rahmen gehören, ist selbstverständlich nicht beabsichtigt Auch sehe ich davon ab, dass der Begriff ‚Personifikation‘ unter Anthropologen und Religionswissenschaftlern auch ohne diese Konnotation der Intentionalität verwendet wird (wozu s Whitman 1987, 271) Ein antiker Begriff für die bildhafte Personifikation fehlt In der literarischen Rhetorik wird ein der Personifikation nahestehender Kunstgriff, nämlich „die Einführung nichtpersonhafter Dinge als sprechender sowie zu sonstigem personhaftem Verhalten befähigter Personen“ meist mit dem Begriff προσωποποιία oder lat fictio personae bezeichnet (Lausberg 31990 § 826 S  411 Stafford 2000, 3–8 bespricht diesen sowie verwandte Begriffe anhand einschlägiger Stellen aus antiken Handbüchern) Philodemos, De pietate PHerc 1428 col 5,28–6,1 = Henrichs 1974, 16 f κα[ὶ παι]δαριωδῶς λέγεσ[θαι] [κ]α[ὶ] γράφε[σ]θαι κα[ὶ] πλάτ[τε]σθαι [θε]οὺς ἀνθρω[ποειδεῖς], ὃν τρόπον καὶ π[ό]λεις καὶ ποταμοὺς καὶ τόπους καὶ πάθ[η] Die Übersetzung von Henrichs ebenda („… ebenso wie Städ-

1 3 Präzisierung des Dilemmas

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Demnach gehören die Städte und Flüsse usw in den Augen des Chrysippos nicht zu den Göttern Dieselbe Distinktion wird später noch deutlicher von Dion von Prusa, or 4,85, formuliert (Diogenes spricht): Künstler pflegen nicht nur die Götter, sondern ebenfalls Flüsse, Quellen, Inseln, Städte „und nahezu alles andere“ in menschlicher Gestalt darzustellen Chrysippos ist bereit, die menschliche Darstellungsform für die zweite Kategorie zu akzeptieren Für die Götter lehnt er sie jedoch ab Diese Äußerung des Chrysippos lässt sich in für uns interessanter Weise durch ein Kapitel der Noctes Atticae des Gellius ergänzen, welches ein langes Zitat aus einem Werk enthält, in dem Chrysippos u a die Gestalt der Gerechtigkeit (d h Dikaiosyne), wie sie „ältere Maler und Rhetoren“ gewöhnlich dargestellt hätten, genau beschrieben und all ihre charakteristischen Züge auf ihre tiefere Signifikanz hin erläutert haben soll Es wird gesagt, dass sie eine keusche junge Frau sei, was ein Zeichen dafür ist (κατὰ σύμβολον), dass sie unbestechlich ist und auf keine Weise Übeltätern nachgibt und sich auch nicht von wohlwollenden Worten noch von Entschuldigungen oder Bitten oder Schmeichelei oder irgendetwas derselben Art beeinflussen lässt Demzufolge wird sie auch mit finsterem Gesicht, gerunzelter Stirn und scharfem, durchdringendem Blick dargestellt, so dass sie den Ungerechten Schreck einjagt, aber den Gerechten Mut einflößt 40

Aus diesen Worten wie auch aus den einleitenden Worten des Gellius im Vorangehenden geht hervor, dass Chrysippos die menschliche Gestalt hier adäquat findet und die Frauenfigur der Dikaiosyne gutheißt Ihre menschliche Verbildlichung gilt in seiner Vorstellung offensichtlich als bewusst dazu gewählt, die Eigenschaft der Gerechtigkeit zu veranschaulichen Auch dürfen wir annehmen, dass er ihren Status ähnlich beurteilt, wie den der Städte, Flüsse, Orte und Affekte, d h dass er sie nicht zu den Göttern zählt Und ist sie ihm keine Gottheit, dann folgt daraus, dass sie ihm auch nicht als Teil des ursprünglichen metaphorischen theologischen Diskurses gilt (s Kap  3 1 1 ) Ihre Frauengestalt hat also für ihn nichts mit der Degenerierung zu tun, die aus den metaphorischen Müttern, Vätern, Gatten, Geliebten usw vermeintlich tatsächliche Mütter, Väter, Gatten usw machte, so dass sie zu Hauptpersonen eines allmählich immer mehr wuchernden mythologischen Narrativs wurden Dieser Umstand ist wichtig,

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te, Flüsse, Orte und Affekte  …“) erweckt den Eindruck, als hätte Chrysippos im einen wie im anderen Fall die menschliche Darstellungsform verurteilt, und in diesem Sinne wird die Stelle auch sonst normalerweise gedeutet Das kann jedoch nicht korrekt sein Der Vergleich findet nicht auf der Ebene des Kindischen statt, sondern auf der der Darstellung (Zur Stelle s auch unten Kap  3 1 1 1 m Anm 53 ) Gellius 4,14: Παρθένος δὲ εἶναι λέγεται κατὰ σύμβολον τοῦ ἀδιάφθορος εἶναι καὶ μηδαμῶς ἐνδιδόναι τοῖς κακούργοις μηδὲ προσίεσθαι μήτε τοὺς ἐπιεικεῖς λόγους μήτε παραίτησιν καὶ δέησιν μήτε κολακείαν μήτε ἄλλο μηδὲν τῶν τοιούτων· οἷς ἀκολούθως καὶ σκυθρωπὴ γράφεται καὶ συνεστηκὸς ἔχουσα τὸ πρόσωπον καὶ ἔντονον καὶ δεδορκὸς βλέπουσα, ὥστε τοῖς μὲν ἀδίκοις φόβον ἐμποιεῖν, τοῖς δὲ δικαίοις θάρσος … (SVF 3 Appendix 2 p  197 f ) Die Übersetzungen griechischer und lateinischer Texte im Folgenden stammen, so weit nicht anders vermerkt, von mir selber

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Kapitel 1: Einleitung

da Stoikern wie Chrysippos die Mythologisierung als sekundäre Konsequenz und folgenschwere Befestigung der fehlerhaften Vermenschlichung der Götter galt Freilich liegen bei einigen dieser Personifikationen durchaus gut belegte mythologische Traditionen vor, namentlich bei den Flüssen Da diese aber für Chrysippos, wie wir gesehen haben, eben keine Götter sind, muss er sich nicht darüber aufregen, falls sie – sei es auch als Folge einer einst von den alten Namengebern eingeführten metaphorischen Geschlechtsdifferenzierung – vermenschlicht und dementsprechend ebenfalls zu Protagonisten schlüpfriger Liebesgeschichten gemacht worden sind, da diese Entwicklung theologisch irrelevant ist, anders als im Falle der wichtigsten Kultgötter, der großen Götter der Physis 41 Lucilius Balbus, der stoische Sprecher in Ciceros De natura deorum, findet zweimal Anlass, zu erklären, wie es dazu gekommen sei, dass gute Eigenschaften und politische Tugenden und Werte in Rom Kulte erhalten haben: Diese seien Gaben der Götter, nicht eigentlich selbst Götter: So erkennen wir, dass auch die Klugheit und die Vernunft (mens) von den Göttern zu den Menschen gekommen sind, und aus diesem Grund sind durch Beschlüsse unserer Vorfahren die Vernunft, die Treue, die Tapferkeit und die Eintracht zu göttlichem Status erhoben worden und haben Tempel erhalten Denn wie könnte man leugnen, dass sie im Besitz der Götter sind, wo wir ja doch ihre hochwürdigen und heiligen Bilder verehren? Denn falls Vernunft, Treue, Tapferkeit und Eintracht im Menschengeschlecht vorhanden sind, von wo können sie auf die Erde heruntergekommen sein, falls nicht von den Göttern?42

Die ausdrückliche Anerkennung der anthropomorphen Bilder dieser Gestalten fällt zunächst auf Derselbe Sprecher hat kurz zuvor dargelegt, wie die „physischen“ Götter fälschlich vermenschlicht worden seien und daraufhin zum Lieblingsstoff der Dichter geworden seien, mit unglücklichen und verwirrenden Konsequenzen in Form von aber41

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Zu den Namengebern und der metaphorischen Geschlechtsdifferenzierung s unten 3 1 1 , mit Anm   24–26 Dieselbe Unterscheidung zwischen Naturerscheinungen (Flüssen, Meeren, Seen) und Göttern kommt im dort besprochenen Referat aus einem Aristoteleskommentar des Ammonios zum Ausdruck Beachte auch, dass gewisse Kategorien von Personifikationen  – wie z B die Gerechtigkeit (Dikaiosyne) oder ‚Affekte‘ – im Gegensatz zu den Olympiern keine eigentlichen Namen haben; ihre Bezeichnungen sind abstrakte Substantive, die in der alltäglichen Sprache von allen häufig verwendet wurden, so dass sie schon aus dem Grund nicht so leicht als regelrechte Personen verstanden wurden Vgl Stafford 2000, 4 Cic nat. deor 2,79: Ex quo intellegitur prudentiam quoque et mentem a deis ad homines pervenisse ob eamque causam maiorum institutis Mens Fides Virtus Concordia consecratae et publice dedicatae sunt; quae qui convenit penes deos esse negare, cum eorum augusta et sancta simulacra veneremur; quod si inest in hominum genere mens fides virtus concordia, unde haec in terram nisi a superis defluere potuerunt? Vgl ebenda 2,61 f : Quarum omnium rerum / diese sind Fides, Mens, Honos, Ops, Salus, Concordia, Libertas und Victoria / quia vis erat tanta, ut sine deo regi non posset, ipsa res deorum nomen obtinuit. „Da die Kraft eines jeden dieser Dinge so groß war, dass sie mit Notwendigkeit von göttlicher Lenkung abhängig erschien, ist das Ding selbst als Gott bezeichnet worden “ Vgl auch Cic leg 2,28

1 3 Präzisierung des Dilemmas

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gläubischen Wahnvorstellungen 43 Die Distinktion ist aber dieselbe wie bei Chrysippos: Einerseits haben wir die (wahren, höheren) Götter, deren herkömmliche Menschengestalt nicht anerkannt wird, andererseits die Personifikationen, gegen deren menschliche Darstellungsform nichts einzuwenden ist Sie sind eben keine Götter Dafür sind sie Gaben der Götter Eine etwas andere, aber deutlich verwandte Sichtweise schreibt Augustin den Römern zu Er wendet in civ 4 wiederholt gegen eine Menge von römischen Kulten ein, dass sie Gaben Gottes gelten (und nicht Göttern) Interessanterweise sollen die heidnischen Römer das selbst erkannt haben – „Wollen wir glauben, sagen sie, dass unsere Vorfahren derart einfältig gewesen sind, dass sie nicht gewusst haben, dass alles dies göttliche Gaben sind, und keine Götter?“ Sie hätten aber dabei nichtsdestoweniger die betreffenden Kulte verteidigt, natürlich mit unhaltbaren Argumenten: „Aber da sie wussten, dass niemandem solche Gaben verliehen werden falls nicht als Geschenk eines Gottes, nannten sie die Götter, deren Namen ihnen unbekannt waren, mit den Benennungen der Dinge, die von ihnen, wie sie empfanden, gegeben wurden “ Als konkrete Beispiele werden im Folgenden u a Pecunia, Virtus, Honor, Concordia und Victoria angeführt, und das Kapitel endet mit den Worten: „Wenn das Glück eine Göttin genannt wird, sagen sie, dann ist folglich nicht die Gabe als solche beabsichtigt, sondern die göttliche Macht, von der das Glück verliehen wird “44 Es geht in diesen Äußerungen unmissverständlich hervor, dass es für die Beurteilung keine Rolle spielt, ob diese Personifikationen kultisch verehrt werden oder nicht Der modernen Forschung gilt in der Regel gerade die Kultevidenz als Kriterium, um zu entscheiden, ob eine Personifikation als Gott/Göttin betrachtet worden sei oder nicht Das mag für die antike Gesellschaft im Ganzen ein gutes Einteilungsinstrument sein; für die angeführten Denker ist es jedoch offensichtlich ohne Relevanz Grenzfälle lassen sich zweifellos finden; die angeführten Äußerungen sprechen jedoch ihre deutliche Sprache Dagegen können wir jetzt feststellen, dass die oben gegebene Defi-

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Cic nat. deor 2,63; 2,70 S unten Kap  3 1 1 (Textstellen dort Anm 18 und 19 angeführt ) Aug civ 4,24 p 176,14: Usque adeone, inquiunt, maiores nostros insipientes fuisse credendum est, ut haec nescirent munera divina esse, non deos? Sed quoniam sciebant nemini talia nisi aliquo deo largiente concedi, quorum deorum nomina non inveniebant, earum rerum nominibus appellabant deos, quas ab eis sentiebant dari … (p  176,29): Ita, inquiunt, cum Felicitas dea dicitur, non ipsa quae datur, sed numen illud adtenditur a quo felicitas datur Da die Auseinandersetzung mit Varros Antiquitates in civ 4 eine wichtige Rolle spielt, liegt es nahe, auch diese Argumentation Varro zuzuschreiben, wie dies schon Agahd getan hat (Agahd RD 14 fr  91; bei Cardauns RD 14 fr  189) Varro – oder wer nun hinter diesem Versuch steckt, den alten Römern eine Theorie der Personifizierung von Abstrakta zuzuschreiben – hat also in einer anderen Weise als Balbus bei Cicero die ‚Personifikationen‘ von den großen Göttern – den Göttern der Physis – unterschieden (vgl Cardauns 1976:2, 216, im Kommentar zu fr  189) Obwohl nicht hervorgeht, ob und, falls ja, wie sich diese Unterscheidung in der Auffassung von ihren Darstellungen ausgewirkt hat, ist die Stelle als Zeugnis einer abweichenden Beurteilung des Status der Personifikationen wertvoll

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Kapitel 1: Einleitung

nition einer Personifikation (im Gegensatz zu einem Gott) sich in diesem Zusammenhang durchaus bewährt, ungeachtet dessen, dass eingewendet worden ist, sie gründe sich einseitig auf moderne Konvention und werde den schillernden Verhältnissen im Altertum nicht gerecht 45 In den hier genannten Zeugnissen schließen sich die Kategorien Gott und ‚Personifikation‘ gegenseitig aus Die genannten ‚Personifikationen‘ (im Sinne der oben gegebenen Definition) – menschliche Eigenschaften und Gefühle, topographische Entitäten wie Flüsse, Berge, Quellen – sind für diese Denker keine Götter, ebenso wenig wie Ehre, Freiheit, Sieg, Reichtum u ä 1.4. Methodische und prinzipielle Erwägungen zur einschlägigen modernen Diskussion Schon diese einleitende Übersicht lässt Verhältnisse hervortreten, aus denen sich Konsequenzen für die Beurteilung der Haltung antiker Philosophen zu den anthropomorphen Kultgöttern in der modernen Wissenschaft ergeben Nicht selten wird den antiken Denkern unterstellt, dass die traditionellen Kultgötter für sie die Rolle von Personifikationen oder Allegorien gespielt hätten, bzw dass ihre Methode, die wichtigsten dieser Götter den Gottheiten ihrer eigenen philosophischen Doktrin gleichzusetzen, eine Art Allegorese sei 46 In Wirklichkeit sind diese – oft in unklarer Weise verwendeten – Bezeichnungen für die betreffenden Verhältnisse wenig adäquat Was hier mit den beiden Begriffen Personifikation und Allegorie gemeint ist, müssten wohl die Kultgötter in ihrer traditionellen anthropomorphen Gestalt sein Es dürfte nunmehr klar sein, dass eine solche Terminologie vermieden werden sollte, da sie mit Vorteil für andere Zwecke reserviert wird 47 Wir haben ja eben gerade gesehen, wie Chrysippos zwischen Göttern und einer anderen Kategorie unterscheidet Die Bezeichnung ‚Personifikation‘ nun gerade für diejenige Kategorie zu verwenden, für die sie sich eher nicht eignet, stellt sich als höchst unökonomisch heraus, denn es heißt, auf die Möglichkeit zu verzichten, diese den antiken Denkern selber nachweislich geläufige Distinktion mit Hilfe einer völlig einleuchtenden terminologischen Differenzierung hervorzukehren, eben der Unterscheidung zwischen Göttern und ‚Personifikationen‘ Nehmen wir aber diese Möglichkeit wahr, präsentiert sich in exemplarischer Weise 45 46 47

Borg 2002, 49 Zur Definition s oben Anm 38 Beispiele s oben Anm 11 und 9 Auf eine theoretische Definition des (etwaigen) Unterschieds zwischen Personifikationen und ‚allegorischen‘ Gestalten einzugehen, erübrigt sich in unserem Zusammenhang Der Begriff ‚Allegorie‘ wird von mir im Folgenden nirgends in diesem Sinne verwendet Wie Borg vermerkt, wird er in der Kunstwissenschaft oft als Synonym oder als Oberbegriff zu Personifikation verwendet (Borg 2002, 80), ein Gebrauch, mit dem sie aus guten Gründen nicht einverstanden ist Auch im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich eine Gewohnheit durchgesetzt, diese Begriffe als austauschbar zu betrachten

1 4 Methodische und prinzipielle Erwägungen zur einschlägigen modernen Diskussion

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ein bestimmter, bisher nicht beachteter Zug antiker theologischer Denkweise Wie ich den Begriff Personifikation im Anschluss an moderne Theorie und mit Hilfe des von mir analysierten Textmaterials definiert habe, schließt er die Voraussetzung mit ein, dass die so bezeichneten Darstellungen bewusst dazu gewählt worden seien, die betreffenden Erscheinungen zu veranschaulichen 48 Für die philosophische Theologie bis in späthellenistische (spätrepublikanische) Zeit spielen die öffentlichen Kultgötter in ihrer anthropomorphen Form jedoch keine solche Rolle; ihre anthropomorphe Form vermittelt keinen positiven Ideeninhalt überhaupt Ganz im Gegenteil repräsentiert die Menschengestaltigkeit der Olympier für sie eine von den Ungebildeten (unbewusst) oder, gelegentlich, für die Ungebildeten (bewusst) konstruierte, nichts Wahres bezeichnende Verdrehung – sie bildet den sichtbaren Ausdruck der Entartung der Gottesvorstellung oder, gegebenenfalls, einen im Interesse der Volkserziehung aufrechtzuerhaltenden Ersatz für das korrekte, der Menge unzugängliche oder vorzuenthaltende Gottesbild Damit wir überhaupt berechtigt wären, von den traditionellen Kultgöttern in ihrer anthropomorphen Form als Personifikationen (oder Allegorien) im angeführten Sinne zu sprechen, müsste also mindestens die Grundbedingung erfüllt sein, dass die menschliche Darstellungsform bewusst in der Absicht eingeführt worden sei, das Wesen Gottes in sinnvoller Weise indirekt zu verbildlichen Mit anderen Worten käme eine Charakterisierung dieser Art höchstens bei Varianten der in Kap  5 studierten Grundposition in Frage Die postulierte Bedingung trifft z B gut auf die Art zu, wie die anthropomorphen Olympier im Kompendium des Cornutus vorgestellt werden 49 Aus oben genannten Gründen empfiehlt es sich nichtsdestoweniger, die Bezeichnung ‚Personifikation‘ im Zusammenhang mit Darstellungen oder Auffassungen der Olympier grundsätzlich zu vermeiden Hinsichtlich der Gewohnheit, von einer „Allegorese der Kultgötter/Volksgötter“ zu sprechen, verhält es sich etwas anders Gelegentlich scheint damit nichts anderes gemeint zu sein, als Verhältnisse wie etwa, dass für die Stoiker Zeus der Logos oder das Pneuma ist und die übrigen Olympier als dessen Manifestationen im Kosmos verstanden werden Dies ist jedoch Grundbestand des betreffenden Gottesbildes und vom Gesichtspunkt der Vertreter aus weder Allegorese noch Deutung überhaupt Eine ‚Allegorese der Kultgötter/Volksgötter‘ als solcher gibt es für die Vertreter der philosophischen Theologie selber gar nicht Es wäre einiges gewonnen, falls die Forschung sich einigen könnte, den Begriff ‚Allegorese‘ (‚allegorische Deutung‘) allein im Sinne einer Exegese literarischer Narrative (d h in unserem Zusammenhang: narrativer 48 49

Mutmaßlich gelten für Chrysippos die Darstellungen der Flüsse, Städte, Affekte u a m ebenso als im entsprechenden Sinne intentional gewählte Verbildlichungen wie die Gestalt der Dikaiosyne S dazu unten Kap  5 2 , m Anm 37 Auch die Funktion des Zeusbildes im fr 354 des Porphyrios, wo das Standbild den weltschaffenden Nous verbildlicht und konkretisiert, könnte zur Not als die einer Personifikation beschrieben werden Das gilt jedoch nur für diese besondere Verbildlichung, und nicht generell für Zeus s dazu unten Kap  5 3

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Kapitel 1: Einleitung

mythologischer Textsequenzen) zu gebrauchen, die dem betreffenden Narrativ eine (vermeintlich) ursprünglich hineingelegte, nicht buchstäbliche Sinnebene zuschreibt, welche vom Ausleger als das eigentliche intentionale Anliegen betrachtet wird Nur so wird der Begriff im Folgenden verwendet 50 Zusammenfassend ist zu betonen, dass wir vermeiden sollten, alle möglichen Gegenstände, denen die theologische Reflexion Aufmerksamkeit widmet, pauschal als Personifikationen oder Allegorien zu charakterisieren, und dass wir ebenfalls darauf verzichten sollten, jede Strategie, die dabei verwendet wird, pauschal als ‚Allegorese‘ zu bezeichnen, wenn wir darauf Wert legen, zu einem Verständnis der von den antiken Denkern selber angewendeten Kriterien und Kategorien vorzustoßen Das philosophische Verständnis von den Olympiern in solcher Weise zu charakterisieren, schafft unnötige Unklarheit und Verwirrung Bekanntlich hat die Allegorese des homerischen Götternarrativs früh eingesetzt 51 Mit Hilfe dieser Strategie fand man eine Möglichkeit, dem abstoßend anmutenden Verhalten der Götter einen anderen, philosophisch annehmbaren Sinn zu verleihen Von größtem Gewicht ist nun die – bisher m W völlig fehlende – Erkenntnis, dass das Verfahren keineswegs automatisch auch noch mit einschließt, dass der Menschengestaltigkeit der Götter als solcher ein philosophischer Inhalt beigelegt wird Die Frage nach Wert und Sinn des mythologischen Götternarrativs ist von der Frage nach Wert und Sinn der Gestalt der darin auftretenden Götter ursprünglich unabhängig Deswegen muss eine Distinktion zwischen der philosophischen Beurteilung der menschlichen Gestalt der Götter und dem menschlichen Agieren der Götter im mythologischen Narrativ unbedingt aufrechterhalten werden 52 Das stößt erfahrungsgemäß auf Verständnisschwierigkeiten und ruft spontane Einwände hervor Meine Darstellung im Folgenden wird zeigen, dass diese Distinktion unabdingbar ist und uns eine Reihe von bisher verschlossenen Türen öffnet In seiner Kritik an Homer und Hesiod soll 50

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Vgl die Definition von ‚allegorical interpretation‘ bei Dawson 1992, 4: „the giving of nonliteral meaning to prior narrative texts“ Es sei hier unterstrichen, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass die allegorisierenden Ausleger im Altertum den angeblichen philosophischen Inhalt als grundsätzlich vom Dichter intendiert betrachteten Vgl die Definition von Allegorese in Coulter 1976, 19: „In a word, the allegorical method is marked by a search for intention.“ S auch ebenda 20 und bes 25 Vgl ferner Struck 2004, 150, Anm  20, bzw Russell 1981, 97 Es besteht kein Konsens darüber, ob der Begriff ‚Allegorese‘ der allegorischen Auslegung nichtallegorischer Texte vorbehalten bleiben soll oder nicht (vgl Borg 2002, 41 Anm  99) Eine solche Einschränkung erweist sich jedoch in unserem Zusammenhang als hilfreich und wird deshalb hier wahrgenommen S auch unten, Ende dieses Abschnitts, sowie 1 4 1 bzw 5 2 1 ; dazu noch 3 1 1 1 , mit Anm  45 und 49 Zugegebenermaßen habe ich selbst ehedem unreflektiert den Begriff Allegorese im oben beanstandeten Sinne verwendet (z B 1997, 80) S dazu Konstan in Russell und Konstan 2005, xiii–xxiv; Obbink 2010, bes 15–18; oder auch z B Buffière 1956 (Kap  2–4) Wie ich oben 1 1 vorausgeschickt habe Vgl auch unten Kap   3 2 2 m Anm 212, 5 0 5 4 1 1 , bei Anm 151, u a

1 4 Methodische und prinzipielle Erwägungen zur einschlägigen modernen Diskussion

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Xenophanes den Vorwurf geäußert haben, dass die beiden Dichter den Göttern Verhaltensweisen zuschreiben, die unter den Menschen als frevelhaft gelten (21 DK fr B 11 und 12 = 8 LM D 8 und D 9) Dagegen hat er ihnen nicht vorgeworfen, dass sie die Götter in menschlicher Gestalt darstellen, obwohl er selbst diese Gottesvorstellung nachweislich nicht akzeptierte (fr   23 / 8 LM D 16) 53 Seine Zurückhaltung ist völlig logisch, denn für die Gestalt der Götter macht er die beiden Dichter eben nicht verantwortlich, wie aus wiederum anderen Fragmenten hervorgeht (fr B 14–16 / 8 LM D12; D 14 und D 13) Kritik am allzu menschlichen Benehmen der Götter ist nicht dasselbe wie Kritik an ihrer menschlichen Gestalt Und entsprechend darf auch nicht die antike Reflexion über Wert und Sinn der Sitte, die Götter in dieser Gestalt darzustellen, mit der Reflexion über Wert und Sinn des Narrativs, das von den Abenteuern und Taten der so gestalteten Götter erzählt, verwechselt oder gleichgestellt werden Dass die frühen Homerausleger zu erkennen meinten, Homer habe in seinen Götterszenen wahre philosophische Lehre in versteckter Form vermitteln wollen, bedeutet nicht, dass sie damit auch die menschliche Gestalt der so handelnden und denkenden Götter akzeptiert oder verteidigt hätten, und auch nicht, dass sie meinten, Homer hätte dies getan Es ist durchaus möglich, den Standpunkt einzunehmen, dass dem Götternarrativ ein wahrer theologisch-philosophischer Sinn zugrundeliege, ohne damit zugleich auch der anthropomorphen Darstellungsweise als solcher eine entsprechende Signifikanz beizulegen Der Autor des Papyrus von Derveni deckt die angebliche tiefe Weisheit auf, die „Orpheus“ in das kommentierte Gedicht hineingelegt haben soll 54 Für den anthropomorphen Charakter der darin beschriebenen Götter ist Orpheus dagegen nicht zuständig Im Gegenteil versteht der Kommentator die Anthropomorphisierung offensichtlich als einen spontan entstandenen und vor sich gehenden Prozess, der seine Wurzeln in der metaphorischen Ausdrucksweise der frühen Zeit habe Erst nachträglich hätten die Menschen fälschlich zu glauben begonnen, dass Zeus wirklich geboren worden sei (col  18,10–15), und vom eigentlichen Sinn der an sich korrekten (d h metaphorischen) Redeweise vom Spinnen der Moira hätten sie keine Ahnung mehr (ebenda ll  4–7) 55 Die Deutung des mythologischen Narrativs als eines Mediums, in allegorischer Form philosophische Wahrheit zu vermitteln, geht der philosophischen Akzeptanz der menschlichen Gestalt offensichtlich weit voraus Es kommt in unseren überlieferten Texten nur selten vor, dass die Frage nach Berechtigung und Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes in direkter Verbindung mit der Frage nach Sinn und Funktion des mythologischen Götternarrativs erörtert wird Für den, der das anthropomorphe Gottesbild als sekundäre Dekaden-

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Zu Xenophanes s unten Kap  3 1 3 Die Meinungen dazu, wann der im Papyrus vorliegende Kommentar geschrieben worden ist, wechseln; nach einem Vorschlag soll er bis in die Zeit um 420 v  Chr zurückgehen, andere setzen ihn ins 4 Jahrhundert an, vgl Tsantsanoglou in der Einführung zur Ausgabe (2006, 10) Zur Signifikanz des Verfahrens im Kommentar s noch unten Kap  3 1 1 (mit Anm 33)

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Kapitel 1: Einleitung

zerscheinung betrachtet (wie unten Kap  3 1 1 eingehender beschrieben), ist dies im Grunde logisch – dass eine diesbezügliche ausdrückliche Stellungnahme im Zusammenhang mit Überlegungen zu den Voraussetzungen und Prinzipien der philosophischen Allegorese des Narrativs in der Regel einfach ausbleibt, läge dann daran, dass der Umstand, dass die Götter in menschlicher Gestalt dargestellt werden, als vorgegebene (freilich zu bedauernde) Tatsache gilt, für die die Dichter nicht verantwortlich gemacht werden können Zugleich wird vorausgesetzt worden sein, dass die Dichter sich dessen voll bewusst gewesen seien, dass diese Art, sich die Götter vorzustellen und sie vorzuführen, nicht nur sekundär, sondern auch falsch sei, genau so wie wir es im Papyrus von Derveni gesehen haben So hätten sie sich vorgenommen, ihre Erzählungen von den Göttern in einer Weise zu gestalten, die dem Einsichtigen klarmache, dass damit eben ursprüngliche, wahre Theologie vermittelt werde, während der Unverständige nichtsahnend mit dem Oberflächensinn, d h mit allerlei spannenden Geschichten und Abenteuern der traditionell (d h menschlich) gestalteten Götter vorliebzunehmen habe 56 Der Umstand, dass die Dichter, wie wir oben unter 1 1 gesehen haben, im Kontext der Reflexionen zu Wert und Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes kaum eine nennenswerte Rolle spielen, ist an sich schon ein Indiz, dass die Beweggründe des diesbezüglichen Reflektierens andere als Bedenken oder Mutmaßungen hinsichtlich des dichterischen Narrativs gewesen sind 1 4 1 Zur Entstehung der Allegorese des mythologischen Narrativs Obwohl mein Anliegen nicht darin besteht, philosophische Dichter- und Mythenallegorese zu studieren, sind die Ergebnisse der Untersuchung nichtsdestoweniger für das richtige Verständnis der Voraussetzungen und Ausgangspunkte der Allegorese von Bedeutung Erstens sollte ein für alle Mal mit Kraft ausgesagt und unterstrichen werden, dass das philosophische Verständnis der wichtigen Kultgötter als Prinzipien und Grundakteure der philosophischen Theologie ein vorgegebener Befund ist, von dem aus die Allegoristen operieren, nicht eine sekundäre Erscheinung, die erst von der Homerallegorese angeregt worden ist Bestimmte Äußerungen moderner Forscher erwecken den Eindruck, als seien die Homerdeuter die Urheber der Sitte, den Kultgöttern die Rolle von im Kosmos wirkenden Kräften zu geben, womit de facto geltend gemacht wird, dass das philosophische Gottesbild ein Ergebnis oder eine Folge der Homerexegese sei 57 Gerade die verbreitete Gewohnheit moderner Wissenschaftler, den Standpunkt der Philosophen den traditionellen Kultgöttern gegenüber als Alle-

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Vgl unten Anm 60 Wie Primavesi 2008, 257

1 4 Methodische und prinzipielle Erwägungen zur einschlägigen modernen Diskussion

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gorese zu bezeichnen, mag dazu beigetragen haben, diese Vorstellung von der Beziehung zwischen der Homerallegorese und der philosophischen Theologie am Leben zu erhalten Aber das Unternehmen der allegorischen Ausleger wäre gewiss vollends aussichtslos gewesen, wenn sie ad hoc ein solches Modell zugeschnitten hätten Wer hätte so etwas überhaupt begreifen können? Dann wäre die Auslegung ja genau so willkürlich und absurd wie sie uns heute erscheint Aber es verhält sich umgekehrt Die angebliche Aussage des Diogenes von Apollonia, Homer hätte wahrheitsgemäß über die Gottheit gesprochen – er hätte nämlich Zeus mit der Luft gleichgesetzt, denn das müsse es heißen, wenn der Dichter sagt, dass Zeus alles wisse (64 DK A 8)58 – ist selbstverständlich auf dem Hintergrund zu verstehen, dass Diogenes selber, von sich aus und von allen Mutmaßungen zu Homer und seinen Götterschilderungen abgesehen, der Meinung gewesen ist, Zeus sei die göttliche, vernunftbegabte, alles beherrschende Luft (s 64 DK B 5) Aber wir können vielleicht noch weiter gehen Wenn wir annehmen dürfen, dass zur Zeit des Beginns der Dichterallegorese die Mehrheit der antiken Philosophen der Meinung war, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung erst ein Ergebnis falscher Deutung ursprünglicher metaphorischer Aussagen der Vorzeit sei, dann lässt sich das Phänomen der Allegorese des Götternarrativs aus einer neuen, fruchtbaren Perspektive verstehen Wir haben gesehen, dass dieses Modell im Papyrus von Derveni greifbar ist, einem Text, der noch in die Zeit vor 400 v  Chr zurückgehen mag 59 Falls es damals schon so fest etabliert gewesen ist, dass es den normalen Hintergrund der Stellungnahmen zu Sinn und Wert des mythologischen Narrativs bildete, mit anderen Worten, falls es in annähernd gleicher Form von den meisten Allegoristen wie von der Mehrzahl ihrer Kritiker (sowie auch der Kritiker der Dichter) umfasst wurde, dann erscheint die Idee der physischen Allegorese nicht mehr so abwegig; auf diesem Hintergrund betrachtet mag die Strategie sogar in gewissem Sinne recht naheliegend anmuten Die Voraussetzung, die hinter der Allegorisierung des mythologischen Narrativs steckt, wäre in solchem Falle die Meinung, dass die Dichter  – oder jedenfalls die seriösesten Dichter – hinter den Schleier der nachträglichen, falschen Entwicklung der theologischen Tradition zu blicken vermocht hätten Sie hätten also eingesehen, dass die anthropomorphen Götter sekundär aus einem metaphorischen Diskurs von Vätern, Müttern, Gemahlinnen, Liebesverbindungen, Zeugungen, Ehebrüchen u a m entstanden seien Dementsprechend träten sie nun als Vermittler der ursprünglichen Wahrheit auf, indem sie durch geschickte Handhabung der den Göttern durch die Tradition fälschlich zugelegten anthropomorphen Eigenschaften und gegenseitigen Beziehungen und durch Aktionen und Gedanken, die sie ihnen selbst zuschreiben, denje-

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64 DK A 8, aus Philodem piet = PHerc 1428 fr  18 Schober 1923/1988 p  114 Vgl unten Kap  3 1 1 2 , m Anm  78 ff Vgl oben Anm 54

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Kapitel 1: Einleitung

nigen, die scharfsinnig genug sind und die richtige Methode beherrschen,60 den Weg weisen und sie dazu ermutigen, die dahinter versteckte Wahrheit über die Struktur und die wahren Mechanismen des Kosmos aufzuspüren Dies ist genau das Bild, das der Kommentator im Papyrus von Derveni von „Orpheus“, dem vermeintlichen Dichter des von ihm kommentierten Gedichts, vermittelt 61 Die Kritiker wiederum bestreiten, dass die Dichter diese Fähigkeit besäßen; ganz im Gegenteil hätten sie der negativen Entwicklung weiteren Vorschub geleistet, indem sie in ihrem Eifer, unterhaltende und spannende Geschichten zu erfinden, die fehlerhaft anthropomorphisierten Götter dadurch noch weiter vermenschlicht hätten, dass sie ihnen durch und durch menschliches Verhalten, menschliche Gefühle und menschliche Reaktionen zuschreiben Wenn diese Hypothese zutrifft, dann würde das bedeuten, dass die physische Allegorese des dichterischen Narrativs anfangs mit der hier beschriebenen Dekadenztheorie verbunden gewesen ist, oder, besser gesagt, davon ausgegangen ist Dass etwa die Götterschlachten in Ilias 5, 20 und 21 oder die Verführungsszene in Ilias 14 in besonderer Weise Gegenstand der Allegorese gewesen sind, weil sie als besonders anstößig empfunden wurden, leuchtet ein; zugleich lassen sich aber gerade diese Partien leichter als andere einem Interpretationsmodell anpassen, dem eine These von einer aus metaphorischen Berichten über die Verhältnisse des Kosmos entstandenen Mythologie zugrundeliegt Dass der ursprüngliche Kontext dieser gewesen sein dürfte, wird nicht dadurch widersprochen, dass der Rahmen sich mit der Zeit verändert und erweitert, so dass physische Allegorese auch in Zusammenhängen auftritt, wo ganz andere Vorstellungen von der Entstehung des mythologischen Narrativs vorherrschen 62 Nach diesen einleitenden Erwägungen und Ausführungen gehen wir zu einem kurzen Überblick über die epikureische Gottesvorstellung und ihre Voraussetzungen über, um uns dann im 3 Kapitel der eigentlichen Untersuchung zuzuwenden

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Diese Einschränkung ist notwendig, um zu erklären, warum es nicht sofort offenkundig ist, dass die Dichter über dieses Wissen verfügen und es vermitteln wollen Die Allegorese muss also notwendigerweise elitistisch sein – dies ist ein Zwang, der sich aus dem tatsächlich vorliegenden Text ergibt Vgl Struck 2004, 161 S auch unten Kap  3 2 1 2 Anm 180 Vgl wie Sokrates im Kratylos (407a–b) bemerkt, dass „die Alten“ (οἱ παλαιοί) dieselbe Auffassung von Athena gehegt zu haben scheinen wie die gewandten Homerausleger der Gegenwart sie Homer zuschreiben (nämlich dass sie νοῦς καὶ διάνοια sei) S dazu bes unten 5 0

Kapitel 2 Das anthropomorphe Gottesbild als Träger buchstäblicher Wahrheit Die epikureische Position Wer der Meinung ist, die Gestalt, in der die Götter gemeinhin dargestellt werden, entspreche im Prinzip ihrer tatsächlichen Form, rechnet wahrscheinlich damit, dass die Einsicht, die Götter seien so gestaltet, sich den Menschen irgendwie in unmittelbar überzeugender Weise offenbart habe 1 So beschreibt uns Lukrez in einem eindrucksvollen Abschnitt, wie die frühen Menschen zur Erkenntnis der Existenz und des Wesens der Götter gelangt seien (5,1169–1182): Quippe etenim iam tum divom mortalia saecla egregias animo facies vigilante videbant et magis in somnis mirando corporis auctu his igitur sensum tribuebant propterea quod membra movere videbantur vocesque superbas mittere pro facie praeclara et viribus amplis aeternamque dabant vitam, quia semper eorum subpeditabatur facies et forma manebat, et tamen omnino quod tantis viribus auctos non temere ulla vi convinci posse putabant fortunisque ideo longe praestare putabant, quod mortis timor haut quemquam vexaret eorum, et simul in somnis quia multa et mira videbant efficere et nullum capere ipsos inde laborem

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Daraus folgt nicht an und für sich, dass man nun auch automatisch das konkrete Abbilden in dieser Form akzeptiert Vgl unten Anm  9

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Kapitel 2: Das anthropomorphe Gottesbild als Träger buchstäblicher Wahrheit

Nämlich, es waren natürlich schon damals dem menschlichen Geiste herrliche Göttergestalten von wundersam riesigem Wuchse teils im Wachen erschienen, jedoch noch öfter im Traume Diesen Gestalten nun lieh man Gefühl Denn sie regten die Glieder, wie es wenigstens schien, und sprachen erhabene Worte, welche der hehren Gestalt und den riesigen Kräften entsprachen Ewiges Leben verliehen sie ihnen, weil ständig die Götter unter der nämlichen Form und Gestalt den Menschen erschienen, und vor allem jedoch, weil solche gewaltigen Wesen schwerlich besiegbar erschienen durch irgend andere Kräfte Drum schien ihnen ihr Leben vor andern besonders begnadet, weil auch nicht einen von ihnen die Furcht vor dem Tode bekümmre Sahen sie doch in den Träumen, wie Götter so zahlreiche Wunder wirkten, wobei sie doch selbst nicht die mindeste Mühe verrieten 2

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Epikur hat die mentale Wahrnehmung im Prinzip der Sinneswahrnehmung gleichgestellt Geistige Regungen jeglicher Art  – sogar Träume  – entstehen ebenso wie die Sinneseindrücke durch äußerliche, körperliche Einwirkung und geben uns somit Information über die Wirklichkeit Diese Lehre hat Epikur viel Kritik und Spott eingebracht, ist aber auf dem Hintergrund seines extremen Materialismus konsequent genug Das All besteht aus Atomen (und aus dem leeren Raum, in dem sich die Atome bewegen) Der Grundsatz „nichts entsteht aus nichts“ (Epikurs Brief an Herodotos = Diogenes Laërtios 10,38) ist also durchaus konkret gedacht Die frühen Menschen, von denen Lukrez erzählt, taten darin recht, von ihren Visionen und Traumerlebnissen auf die tatsächliche Existenz solcher Wesen, wie sie sie erlebten, zu schließen 3 Der Vorgang ihres Erfahrungsprozesses – von Lukrez in diesem Abschnitt nicht ausdrücklich beschrieben4 – ließe sich nach der epikureischen Erkenntnistheorie etwa folgendermaßen erklären:

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Übersetzung Diels 1924, 245 Von der modernen Theorie, nach der die Epikureer die Götter nicht für lebende Wesen, sondern für imaginäre lebende Wesen gehalten hätten, sehe ich hier ab Die These ist mehrfach schon im Hinblick auf die Textevidenz widerlegt worden, s v a Mansfeld 1993 sowie die Monographie von Essler 2011 (mit erneuter, sehr gründlicher Musterung sowohl der Textzeugnisse wie der modernen wissenschaftlichen Diskussion) In meinem Artikel zu diesem Thema (2003) habe ich die innere Widersprüchlichkeit der Argumentation, mit der Long u Sedley (1987, bes 1, 145; 146; 149) die These unterbauen wollen, bloßgelegt Vgl unten Anm  8 Die epikureische Gottesvorstellung ist auch abgesehen von den Diskussionen, die sich um die in der vorigen Anmerkung erwähnte These und ihre Vorstadien entfaltet haben, ein komplexes und vielbesprochenes Problem, zumal die Quellen keine vollständige Rekonstruktion erlauben Meine hier gegebene Kurzfassung erhebt nicht den Anspruch, eine vollwertige Synthese der Quellen zu sein, und schon gar nicht der wissenschaftlichen Diskussion Ich hoffe jedoch, dass meine äußerst

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Alle Atomkonglomerate geben ununterbrochen dünne Atomschichten oder „Bilder“ (εἴδωλα, lat simulacra oder imagines) ab Diese εἴδωλα erzeugen im Menschen Gesichtseindrücke oder Vorstellungen, Gedanken und Erinnerungen, je nachdem wie sie die für die visuelle oder mentale Wahrnehmung zuständigen Seelenatome treffen Ströme von gröberen εἴδωλα bewirken visuelle Eindrücke, während feinere εἴδωλα in uns mentale Eindrücke erwecken Wenn wir von etwas Bilder empfangen, heißt dies also, dass es auch tatsächlich existiert Die feineren εἴδωλα sind so dünn, dass sie direkt auf unseren Verstand einwirken können, ohne den Weg über die Sinnesorgane zu nehmen 5 Die Götter sind in Wahrheit von so feiner Struktur, dass sie überhaupt nur feinere εἴδωλα ausschleudern, und dementsprechend sind sie nur dem Geist wahrnehmbar (vgl Lukrez 5,148–150) Andere Atomkonglomerate werfen dagegen beide Arten von Bildern ab Auch reicht im Prinzip ein einziges Bild, um eine mentale Regung zu bewirken, während regelrechte Gesichtseindrücke erst durch einen Strom von Bildern ausgelöst werden Das Einzelbild kann allerdings u U fehlgeraten, so dass, wie es scheint, auch hier erst ein kontinuierlicher Strom von εἴδωλα die Existenz der Objekte in der Form, wie sie uns die Vorstellung zeigt, gewährleistet 6 In unserem Abschnitt aus Lukrez hat die Kontinuität der Visionen die Menschen der Urzeit zur Schlussfolgerung veranlasst, dass die Götter ewig bestünden und ihr Dasein mühelos verbrächten Nach Sextus Empiricus, der die Argumente der ‚dogmatischen‘ Philosophen hinsichtlich Existenz und Wesen der Götter mustert, nehmen die Epikureer die Visionen für die unmittelbare Erkenntnis der Götter und ihrer menschlichen Gestalt in Anspruch, während erst durch ein zusätzliches Denkverfahren die Erfassung ihres ewigen und glückseligen Lebens erfolgt (math 9,25 und 9,43) 7 Es versteht sich von selbst und ist oben schon deutlich geworden, dass die Epikureer nicht meinten, die Gotteserfahrung sei auf die frühe Phase der Menschheit beschränkt, sodass das anthropomorphe Gottesbild, einmal eingeführt, ausschließlich als Tradition weitergepflegt worden sei Vielmehr folgt aus der epikureischen Perzeptionslehre, dass der Einzelne immer wieder aufs Neue von dieser Einsicht betroffen und berührt

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rudimentäre und stark vereinfachte Darstellung als notwendiger Hintergrund für meine Behandlung der hier zutreffenden epikureischen Texte ausreicht Zu einer eingehenden Erörterung der epikureischen Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie s Jürss 1991 Genaueres zur Gotteserfahrung der frühen Menschen bei Kleve 1963, 86 ff ; Lemke 1973, 53 ff ; Essler 2011, 172–185, bes 176– 183, alles Arbeiten, denen ich insgesamt tief verpflichtet bin Jürss 1991, 79 So Kleve 1963, 72 Die Epikureer wollten nicht behaupten, dass jede Art von Vorstellung mit Notwendigkeit wahr sei Einbildungen, wie etwa Vorstellungen von Phantasiegeschöpfen, sind ihrer Meinung nach Produkte spontan in der Luft entstehender Bilder oder zufälliger Kombinationen von Einzelbildern (s Lucr 4,722–751; vgl 4,129–142), oder aber sie beruhen auf falscher Deutung der an sich wahren Eindrücke durch den Empfangenden selber (Herodotosbrief bei Diogenes Laërtios 10,50; Sextus Empiricus math 8,63) S Verf 2003, 719–723 Freilich mag auch bei Lukrez über das direkte seelische Erlebnis hinaus ein zusätzlicher Denkprozess impliziert sein (Kleve 1963, 86, m Anm  2; vgl Essler 2011, 179‒181)

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wird (vgl Cic nat deor 1,46 und 49) Die Voraussetzungen für eine richtige Gotteserkenntnis sind selbstverständlich im Prinzip immer vorhanden Die εἴδωλα strömen ja ständig von den Göttern und erzeugen in den Menschen getreue Wahrnehmungen Diese Wahrnehmungen haben die Menschen der Urzeit offensichtlich richtig gedeutet Auf die Kontinuität der Erfahrung weist Lukrez in unserem Abschnitt durch die Phrase iam tum (V 1169) ausdrücklich hin 8 Unser Abschnitt ist Teil einer längeren entwicklungsgeschichtlichen Übersicht im Werk des Lukrez Diese Entwicklungsgeschichte schildert die frühe Zeit der Menschheit von ihrer ersten Entstehung bis hin zur voll entwickelten Gesellschaft Nach dem ‚Inhaltsverzeichnis‘ am Anfang des Buchs (5,55 ff , hier bes 71–90) besteht das Anliegen der Darstellung, soweit die Entwicklung der Religion behandelt ist, freilich nicht darin, das Aufkommen des korrekten, evidenten Götterglaubens darzulegen Vielmehr spricht Lukrez von seiner Absicht, zu schildern, „wie die Furcht vor den Göttern sich in die Herzen der Menschen eingeschlichen hat“ 9 Nicht die Entstehung des Götterglaubens, sondern seine

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Kleve 1963, 36, Anm   3; Essler 2011, 175 Auvray-Assayas macht darauf aufmerksam, dass Lukrez keine Verbindung etabliert zwischen der Gotteserkenntnis der frühen Menschen, wie sie in unserem Abschnitt beschrieben wird, und den simulacra (εἴδωλα), die die Kunde von der Gestalt der Götter vermitteln, wie sie im sechsten Buch kurz ins Blickfeld rücken (6,75–78) Mit anderen Worten trennt er den Bericht von der Entstehung des Gottesglaubens von der Beschreibung des Prozesses, der zur Gotteserkenntnis führt (Auvray-Assayas 1998, 302) Sie findet es auffällig, dass der Dichter darauf verzichtet hat, zu erklären, wie der Götterglaube aus den simulacra entstanden sei und sich entwickelt habe, hat er doch z B das allmähliche Aufkommen der Sprache und anderer grundlegender Institutionen der Gesellschaft ausdrücklich geschildert Sie schlägt vor, das Fehlen einer solchen aitiologisch-anthropologischen Perspektive als Reflex eines Wunsches der Epikureer zu verstehen, sich von der Theorie des Demokritos zum Aufkommen des Götterglaubens (zu welcher s Sextus Empiricus math 9,19) zu distanzieren (ebenda 302 f ) Die Frage nach Ursprung und Entwicklung der anthropomorphen Gottesvorstellung stellt sich selbstverständlich jedem, der meint, dass die Götter nicht so gestaltet seien, in dringlicher Weise (vgl am Anfang des nächsten Kapitels) Der Epikureer, dem die menschliche Gestalt der Götter ja als empirisch gesichert gilt, spürt nicht dasselbe Bedürfnis, diese Frage anzugehen Aus epikureischer Sicht hat die Entwicklung der Religion den Götterglauben negativ beeinflusst, und wie wir gleich unten sehen werden, beschäftigen die Folgen dieser Entwicklung Lukrez sogar sehr Gerade der eben genannte Abschnitt des 6 Buchs betont ja ausdrücklich, dass wahre Frömmigkeit nur denkbar ist, wenn man es vermag, frei von allen Vorurteilen, die sich um den Götterglauben ausgebildet haben, die simulacra zu empfangen, die von der Gestalt der Götter Kunde bringen Einem philosophisch gut bewanderten Leser wird es, wie ich glaube, deutlich gewesen sein, dass in 5,1169 ff ein Vorgang wie der dann in 6,76 f angedeutete vorausgesetzt ist Gerade die Phrase iam tum mag ein Zeichen sein, dass Lukrez mit dem Verständnis des Publikums gerechnet hat Lucr 5,74–75: …  et quibus ille modis divom metus insinuarit / pectora, terrarum qui in orbi sancta tuetur / fana lacus lucos aras simulacraque divom … „… und in welcher Weise die Furcht vor den Göttern sich in die Herzen der Menschen eingeschlichen hat, (diese Furcht), die in der ganzen Welt heilige Tempel, Gewässer, Haine, Altäre und Götterbilder pflegt  …“ Zu beachten ist hier nicht zuletzt, dass die Götterbilder zu dem letztlich durch die fehlerhafte Götterfurcht aufgekommenen religiösen Apparat gezählt werden, ein Indiz, dass die konkreten Darstellungen der Götter keineswegs mit Notwendigkeit von den Epikureern positiv beurteilt wurden (wenn auch Aurelius Cotta bei Cic nat. deor 1,85 behauptet, die Epikureer pflegten jedem Götterbildchen ihre Ehr-

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Degeneration bildet den Schwerpunkt des Gesamtabschnitts Ich habe oben die Verse 5,1169–1182 aus ihrem Kontext herausgegriffen und isoliert angeführt In Wirklichkeit liegt aber kein Einschnitt gerade bei 1169 vor; der eigentliche Absatz findet sich schon 1161, wo Lukrez sich dem Thema der Religion mit folgenden Worten zuwendet: „Welcher Faktor nun die Vorstellung vom Wirken [numina] der Götter über weite Völker verbreitet hat und die Städte mit Altären gefüllt hat und das Stiften von feierlichen Gottesdiensten veranlasst hat, Gottesdiensten, die jetzt in mächtigen Reichen und an mächtigen Orten fleißig ausgeübt werden, so dass auch jetzt tief in den Sterblichen der Schrecken nistet, der über die ganze Welt neue Göttertempel entstehen lässt und den Zwang aufrechterhält, sie an Festtagen zu besuchen, ist nicht so schwer zu erklären “10 Darauf folgen die oben von mir besprochenen Verse Diese schildern somit nur die allererste Stufe, als die primitiven Menschen aufgrund ihrer Erlebnisse und Erfahrungen von der Existenz der Götter und ihren Eigenschaften ihr unmittelbares, korrektes Gottesbild konzipierten Nach diesem vergleichsweise kurzen Bericht über die anfängliche, unmittelbare Gotteserkenntnis der frühen Menschen setzt nun die Behandlung des in den einleitenden Versen 1161–1168 angekündigten Problems ein Die Gesetze und Funktionen der Himmelserscheinungen und der Natur waren den primitiven Menschen, wie sich versteht, nicht in derselben Weise leicht zu erschließen wie die εἴδωλα-Ströme, die sie von den Göttern empfingen So sei es gekommen, dass sie dazu verfielen, fälschlich die Götter für die ihnen unverständlichen Phänomene des Kosmos für verantwortlich zu halten Die Himmelskörper und ihre Bewegungen, den Wechsel von Tag und Nacht und die regelmäßige Folge der Jahreszeiten, ebenso wie die bedrohlichen Schrecken der Natur – Blitz und Donner, Stürme, Sturzregen, Sonnenfinsternisse, Überschwemmungen, Erdbeben u a m  – hätten sie für Werke der Götter gehalten, und so sei der verderbliche Wahn entstanden, dass die Götter das Weltgeschehen lenken und dementsprechend zu fürchten bzw mit Opfern, Gebeten und anderen Riten zu beschwichtigen seien Hier habe der Götterglaube begonnen, sich ins Negative zu wandeln Die entwicklungsgeschichtliche Perspektive tritt von nun an in den Hintergrund, und die Darstellung geht stattdessen über in eine zeitlose Predigt gegen die unglückselige Götterfurcht und das sinnlose Verhalten, die diese erzeugt Dabei wird immerhin eingestanden, dass die furchtbaren Kräfte, die die Natur entfalten kann, sehr leicht zu falschen Schlüssen über die dahintersteckenden Faktoren verleiten können (1218–1240; vgl 6,58–67) Es mag sich hier lohnen, kurz darüber nachzudenken, worin diese ‚Religionsanthropologie‘ sich mit anderen Modellen trifft bzw sich besonders unterscheidet Die Epikureer

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furcht zu erweisen, und Epikur selbst – vorausgesetzt, dass die Ergänzungen bei Philodem, piet col 32 ll  911 f Obbink 1996, 163–169, korrekt sind – betont haben soll, dass er die Götterstatuen verehrt habe) Lucr 5,1161–1168: Nunc quae causa deum per magnas numina gentis / pervulgarit et ararum compleverit urbis / suscipiendaque curarit sollemnia sacra, / quae nunc in magnis florent sacra rebus locisque, / unde etiam nunc est mortalibus insitus horror, / qui delubra deum nova toto suscitat orbi / terrarum et festis cogit celebrare diebus, / non ita difficilest rationem reddere verbis

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stimmen bei aller Differenz in der Auffassung des Gottesbildes und des korrekten Götterglaubens insofern mit vielen ihrer Gegner – etwa mit den Stoikern – überein, als sie eine Epoche des wahren Glaubens an den Anfang der Entwicklung verlegen Mehr am Rande zu notieren – obwohl dennoch, wie sich unten zeigen wird, teilweise relevant – ist der Umstand, dass die Epikureer durch ihre grundsätzliche Verurteilung der Furcht vor den Göttern bestimmte sonst vorkommende Denkmuster hinsichtlich der Entstehung und Entwicklung der Religion geradezu auf den Kopf stellen oder zumindest radikal verneinen Es sei hier sicherheitshalber unterstrichen, dass mit dem Begriff ‚Götterfurcht‘ (und Entspr ) zwei unterschiedliche Grundvoraussetzungen verbunden sind, die in der wissenschaftlichen Literatur häufig nicht genügend auseinandergehalten werden Einerseits kann es sich um Furcht vor vermeintlichen Göttern handeln Andererseits geht es um Furcht vor Göttern, deren Existenz nicht in Frage gestellt oder bestritten wird Die philosophisch gebildete Elite des Altertums hat normalerweise die Existenz göttlicher Mächte (wie auch immer geartet) nicht angezweifelt Ebenso allgemein war die Überzeugung, dass diese Götter nicht zu fürchten seien Aber obwohl die Götterfurcht als theologisch unvertretbar galt, wurde nichtsdestoweniger das öffentliche Bild von Göttern, die strafend und belohnend in das Leben der Menschen eingreifen, gerne verteidigt, und zwar mit der Begründung, dass es politisch und sozial vorteilhaft sei, wenn das Volk den Zorn der Götter fürchtete 11 Wir haben mit dieser zwiespältigen Haltung der Elite schon oben, Kap  1 1 , kurz zu tun gehabt Mehr dazu folgt unten Kap  3 2 1 Die gerade beschriebene Haltung darf mit der Furcht vor vermeintlichen Göttern nicht verwechselt werden Dem sog Kritias-Fragment zufolge ist der Götterglaube insgesamt nichts als ein einstiger politischer Trick, dessen Zweck es gewesen sei, das Volk effektiver einzuschüchtern Die Erfindung der Gesetze hätte nicht ausgereicht, um Untaten und Verbrechen zu verhindern, da sie nur in der Öffentlichkeit wirksam sind Deshalb sei irgendein Schlaukopf auf die Idee gekommen, die Vorstellung von unsichtbaren, alles überwachenden Göttern zu erfinden und zu verbreiten, dass diese ihren Sitz im Himmel hätten und strafend gegen jeglichen Frevel mit Blitz und Donner eingreifen 12 Beiden Modellen gemein ist die Vorstellung, dass die Furcht vor den Göttern zwar jeder Grundlage entbehre, aber nichtsdestoweniger in der Gesellschaft im Allgemeinen nützlich sei Dagegen ist die Begründung, weshalb sie unberechtigt sei, nicht dieselbe Werfen wir nach dieser kurzen Übersicht einen Blick zurück auf die epikureische Beurteilung der Götterfurcht und ihrer Rolle für die Entwicklung der Religion, so wie diese von Lukrez dargestellt wird, tritt uns die Radikalität der Position umso klarer vor Augen Wie etliche andere halten die Epikureer, wie wir gesehen haben, die Götterfurcht für theo-

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S z B Polyb 6,56,9‒12; Cic leg 2,15; div 2,70; Seneca, nat qu 2,42,3; Plin nat 2,26 Vgl unten Kap  3 2 1 , mit Anm  136 und 138 Zur Verfasserfrage s ebenda Der Text des Fragments liegt am vollständigsten bei Sextus Empiricus math 9,54 vor Ähnliche Gedanken werden bei Sextus ebenda 9,14–16 und bei Cic nat deor 1,118 refereriert und liegen offensichtlich der Beurteilung des Polybios (s die vorige Anm ) zugrunde

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logisch unvertretbar Aber auch der Gedanke, dieses theologisch abzuweisende Verhalten sei aufgrund eines etwaigen politischen und sozialen Nutzens wünschenswert und zu fördern, ist ihnen fremd Die Furcht vor den Göttern ist ausschließlich negativ und soll bekämpft werden So sehr die Epikureer sich selbst im Gegensatz zum gemeinen Volk sehen – unfromm ist derjenige, der dieselben Auffassungen von den Göttern hat wie das Volk, sagt Epikur im Brief an Menoikeus, Diogenes Laërtios 10,123  – sie sind nicht der Meinung, dass das Volk über das wahre Wesen Gottes hinters Licht zu führen oder in Unkenntnis zu halten sei 13

So sind die Epikureer auch nicht bereit, wie dies gelegentlich anderswo belegt ist, aus den Ängsten und Schrecken, die die frühen Menschen vor den bedrohlichen Phänomenen der Natur empfanden, das Aufkommen des Götterglaubens herzuleiten 14 Nein, für die Epikureer gilt dieses Stadium als sekundär zur ursprünglichen, richtigen Gotteserkenntnis Aber nicht nur das: Sie sind ebenso wenig bereit, den Beginn des Götterglaubens mit den mutmaßlich staunenden Gefühlen, die sich der primitiven Menschen bemächtigten, wenn sie die großartige Ordnung des Himmelsgewölbes, den leuchtenden Sternenhimmel und den regelmäßigen Wechsel der Zeiten betrachteten, zu verbinden 15 Aus Unkenntnis der Mechanismen des Kosmos haben die Menschen der Urzeit diese Erscheinungen auf die Götter zurückgeführt Auch dies ist also schon degenerierter Gottesglaube Damit bestreiten die Epikureer schlechtweg die Gültigkeit dieses auch außerhalb des entwicklungsgeschichtlichen Diskurses verwendeten Gottesbeweises 16

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Vgl Philodem piet col 42 ll 1190–1216 Obbink 1996, und s bes den Kommentar zu 1202–1208 ibid S  493–495 S auch unten 3 2 1 (m Anm  139 und 141) S etwa Sextus Empiricus math 9,24 = Demokritos 68 DK A 75; Cic div 2,42 und vgl nat. deor 2,14; Philodemos piet PHerc 1428 fr 16 Schober 1923/1988 p 114 (dazu Henrichs 1975, 96–106) Wie bei Aët plac 1,6,4–8 Dox p 293–295; Cic nat. deor 2,15 ; div 2,42; Sextus Emp math 9,22; 9,26 f (Aristoteles fr 947 und 948 Gigon = 10 und 11 Rose); Diod Sic 1,11,1 Vgl Cornutus c  1,2 ll 21–24 Nesselrath Beispielsweise vom Stoiker Lucilius Balbus bei Cic nat deor 2,4; 2,19; 2,75; 2,97 und 2,153 verwendet S auch die Kontroverse ebenda 1,54 (der Epikureer Velleius spricht) bzw 1,100 (sein Kritiker Cotta) Vgl auch Platon, leges 10 886a; Cic div 2,148; Tusc 1,68–70; Dion Prus 12,34; Max Tyr diss 11,5,3 ll 85–90 Trapp u a S auch unten Kap  3 1 1 2 , Anm  81, und vgl Essler 2011, 247

Kapitel 3 Die Ursprungsfrage A Das anthropomorphe Gottesbild als grundsätzlich unwahr 3.0. Einleitung Wie wir im 2 Kapitel gesehen haben, waren die Epikureer im Prinzip vom Problem der Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes unbetroffen, da sie davon überzeugt waren, dass die menschliche Gestalt der Götter empirisch gesichert sei Aber allen anderen Gebildeten stellte sich diese Frage, da sie ebenso überzeugt waren, dass mit diesem Gottesbild nichts buchstäblich Wahres über das Wesen der Götter ausgesagt sei Ihre mehr oder weniger ausdrücklich formulierten Versuche, mit dem Problem zurechtzukommen, werden uns von nun an beschäftigen Wie schon eingangs betont (Kap  1 2 ), gilt es dabei u a auch, aufmerksam auf Voraussetzungen und Implikationen zu achten, die nicht unbedingt unmittelbar zum Ausdruck kommen aber nichtsdestoweniger für die verschiedenen Erklärungsmodelle konstituierend sind Vorerst gilt unser Interesse der grundsätzlich ablehnenden Haltung, genauer: den Entstehungstheorien, die bei dieser Haltung in Frage kommen Die Grundfrage, um die es hier geht, könnte folgendermaßen formuliert werden: „Wie ist das fehlerhafte Gottesbild aufgekommen und wie hat es sich durchsetzen können?“ Zwei Ansätze bieten sich dabei an: Entweder wird damit gerechnet, dass es spontan entstanden sei, oder es wird stipuliert, dass es bewusst erfunden und propagiert worden sei Indem ich hier von ‚Ansätzen‘ spreche, will ich unterstreichen, dass wir es nicht einfach mit zwei festgelegten, statischen Theorien zu tun haben Die Frage, wie und aus welchem Grund die anthropomorphe Gottesvorstellung spontan aufgekommen sei, lässt nämlich mehr als eine Antwort zu, und entsprechend ist die Antwort auf die Frage, von wem, für wen und in welcher Absicht dieses Gottesbild erfunden worden sei, nicht immer die gleiche Wir haben es also innerhalb dieser Alternativen mit jeweils mehr als einer Theorie zu tun

3 1 Spontane Entstehung

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3.1. Spontane Entstehung Mehrere unter sich verschiedene Grundmodelle des Gedankens, dass die falsche Vorstellung von der menschlichen Gestalt der Götter spontan aufgekommen sei, sind in unseren Texten bezeugt Eines davon rechnet mit einem einmaligen, „historischen“ Prozess, im Laufe dessen dieser Wahn durch Missverständnisse und Fehlinterpretation sekundär entstanden sei Dieses Modell wurde schon in der Einleitung kurz präsentiert, wo ich auch die Vermutung geäußert habe, dass diese Auffassung schon in vorsokratischer Zeit Vertreter gefunden habe und lange Zeit das meistvertetene Modell gewesen sei (Kap  1 1 ; 1 4 1 ) Wir werden diese Theorie zunächst in stoischer Fassung studieren, da die Theorie sich gerade hier am deutlichsten in Einzelheiten rekonstruieren lässt Ein anderes Grundmodell, das eine spontane Entstehung vorsieht (spontan im Sinne von nicht absichtlich erfunden), unterscheidet sich von dem ersten – wie auch von allen bezeugten Ursprungstheorien überhaupt – darin, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung für eine gewissermaßen gesetzmäßig auftretende Erscheinung gehalten wird Sie gilt als konstitutionell bedingt: Wegen einer unglücklichen psychischen Veranlagung neigen die Menschen a priori dazu, von sich selbst auf das Wesen der Götter zu schließen Die Vorstellung von menschlich gestalteten Göttern sei somit nicht nur einmal aufgekommen und nicht erst sekundär; im Gegenteil entspringe sie einer allen Menschen zu allen Zeiten angeborenen Tendenz und entstehe deshalb bei den einzelnen Völkern unabhängig und primär Dabei wird mitverstanden, dass es innerhalb der Reichweite menschlicher Fähigkeiten liegt, bestenfalls über diese fehlerhafte Vorstellung hinauszukommen Die Umrisse einer Hypothese dieser eindrucksvollen Art treten uns in den Fragmenten des Xenophanes entgegen Die Stoiker vertraten bekanntlich im Allgemeinen die Theorie von der Ekpyrose, dem periodisch wiederkehrenden Weltbrand Vorstellungen von periodisch eintretenden Untergängen bzw Erneuerungen der Welt (des Kosmos) oder der Zivilisation waren seit den Vorsokratikern geläufig Für Xenophanes ist eine originelle Theorie von einem periodischen Wechsel bezeugt (21 DK A 33 / 8 LM D 22) Er hielt die Welt für vergänglich, aber die Gesamtmasse für konstant Seine Theorie besagte, dass das Land sich zeitweise in Schlamm auflöse, aus dem dann wiederum nach und nach fester Erdboden entstehe Zyklisches Denken dieser Art schließt nicht aus, dass innerhalb der gegenwärtig laufenden Weltperiode der Vorgang als ‚historisch‘ – d h linear verlaufend – betrachtet wird, und dies scheint auch die Regel gewesen zu sein 1 Es gibt auch keinen Grund zu glauben, dass Xenophanes in dieser Hinsicht anders gedacht hätte als 1

Vgl die grundsätzlichen Bemerkungen bei Lovejoy u Boas 1935, 5 Dass in gewissen Systemen mit einer mehr oder weniger vollständigen Wiederholung der Erscheinungen und Vorgänge von einem Zyklus zum anderen gerechnet wurde, spielt im Zusammenhang keine Rolle

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

die Stoiker Gerade die Entstehung der anthropomorphen Gottesvorstellung ist jedoch für Xenophanes eindeutig kein ‚historisches‘ Ereignis: Es handelt sich nicht um einen einmaligen Vorgang (dessen Wirkung sich dann immer mehr unter die Menschen verbreitet hätte), sondern um eine Entwicklungsstufe, die für jedes Volk notwendig und unvermeidlich sei, freilich auch u U überwunden werden könne Das heißt also nicht nur, dass sie wieder neu entstehen kann, sondern dass sie sich sogar wiederholen muss, wo immer eine entsprechende Ausgangslage in der gegenwärtig laufenden Weltperiode wieder vorliegen sollte Vom heutigen Standpunkt aus überzeugt die Theorie des Xenophanes gewiss mehr als alle anderen damaligen Ursprungstheorien Damals empfand man es allerdings anders Soweit wir erkennen können, ist Xenophanes der erste ausdrückliche Kritiker der anthropomorphen Gottesvorstellung, und als solcher hat er zweifellos eine sehr wichtige Rolle gespielt Sein Entstehungsmodell ist jedoch allem Anschein nach praktisch ohne reale Nachwirkung geblieben Dies hat wohl jedenfalls teilweise damit zu tun, dass es mit einer bestimmten Auffassung von der generellen Entwicklung verbunden war, die die meisten nicht teilten: Xenophanes glaubt an eine aufsteigende Entwicklung der Menschheit Mehr dazu unten Abschnitt 3 1 3 Ein drittes Modell, welches, ohne den entwicklungsgeschichtlichen Standpunkt des Xenophanes zu teilen, in gewissem Sinne mit dessen Theorie verwandt ist, besagt, dass die Menschen generell dem kindischen Glauben verfallen seien, dass die Götter ihnen selber ähnlich seien Weder früher noch später wären sie zu einer geistigen Reife vorgedrungen, die es ihnen erlaubt hätte, von sich aus die Wahrheit über die Götter zu erblicken Die richtige Gotteserkenntnis sei nur sehr beschränkt und allein durch besondere göttliche Vermittlung verfügbar Diese Haltung tritt aus den Fragmenten des Empedokles zutage Wie das Modell des Xenophanes ist auch dieses eine Ausnahmeerscheinung geblieben, aber aus ganz anderen Gründen S dazu unten Abschnitt 3 1 2 Hier soll nun zunächst die erste und weit häufiger vertretene Alternative besprochen werden

Zu den verschiedenen Theorien von Weltzyklen und zur Verankerung der Idee im Denken der Vorsokratiker s Kahn 1993, 107 Werfen wir einen Blick auf das Zyklusdenken insgesamt, können wir feststellen, dass Empedokles mit seinem Modell eines ewigen kosmischen Kampfes zwischen den beiden weltschaffenden Prinzipien Liebe (φιλότης) und Streit (νεῖκος) sich – neben den Stoikern – am einen Ende des Spektrums befindet; am anderen finden wir Aristoteles und Platon, die die Welt als ewig betrachteten, aber mit wiederkehrenden Untergängen der menschlichen Kultur durch periodisch eintretende Naturkatastrophen rechneten (Platon, leges 3 677 ff ; Arist met Λ 8 1073a23 bzw 1074b10; Arist fr  916 p  810,40 ff Gigon ≈ fr  19‒21 Rose; 829 p  788, 32 Gigon = 22 Rose)

3 1 Spontane Entstehung

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3 1 1 Sekundäre Dekadenzerscheinung Die antike Philosophie zeichnet sich im Allgemeinen dadurch aus, dass sie bemüht ist, die wichtigsten offiziellen Kultgötter in ihre philosophische Theologie einzugliedern Schon im allerersten Abschnitt dieser Untersuchung habe ich auf die Bedeutung dieser Strategie hingewiesen, die es ermöglichte, zwischen dem öffentlichen Kult und der philosophischen Theologie eine Brücke zu schlagen Wenn diese Strategie sich mit einer entwicklungspessimistischen Perspektive verbindet, ergeben sich daraus für die Beurteilung des Gottesbildes bestimmte entwicklungsgeschichtliche Konsequenzen Dass die beste Zeit der Menschheit – wie immer auch geartet – schon längst vorbei sei, war im Altertum eine weitverbreitete Auffassung 2 Zum Bild gehört in der Regel eine Überzeugung, dass die Menschen damals Gott näher gestanden hätten und deshalb ein direkteres, überlegenes Gottesverständnis gehabt hätten, oder jedenfalls, dass gewisse besonders einsichtsvolle Männer über ein solches überlegenes Gottesbild verfügt hätten 3 Es wird dann mitverstanden, dass dieses korrektere Gottesverständnis sich am reinsten in der philosophischen Theologie erhalten habe Aber auch das offizielle Gottesbild sei nichts anderes als das frühere, wenn auch in entarteter Form Dessen ursprünglicher Inhalt und Voraussetzungen seien also irgendwie missverstanden worden, und so habe sich das fehlerhafte Konzept von menschlich gestalteten,

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Der Umstand, dass die Thematik in den platonischen Dialogen häufig zur Sprache kommt, zeugt von der Verankerung der Vorstellung in der philosophischen Diskussion S z   B Hippias maior 282a; Philebos 16c; Kritias, bes 120de–121a; vgl auch Politikos 271d, Kratylos 398a u a (Die Haltung zu dieser Vorstellung ist in den Dialogen nicht eindeutig, s etwa Boys-Stones 2001,  8–14) Ansonsten z B Empedokles 31 DK B 128 / 22 LM D 25 (wozu s unten 3 1 2 ); Dikaiarchos fr  49 Wehrli / 56 A Fortenbaugh u Schütrumpf (= Porphyrios, abst  4,2); Theophrastos piet  fr  2 Pötscher / 584 A Fortenbaugh (= Porph  abst  2,5–7); Cic leg  2,27 und 35; Tusc  1,26; Seneca epist  90,44; Dion  Prus  or 12,27‒32 Die qualitativen Bedingungen, die der vergangenen Idealzeit zugeschrieben werden, wechseln selbstverständlich, s dazu Verf 1981, 7 f Das extremste Modell setzte die ideale Epoche mit einem anfänglichen Primitivzustand gleich (Seneca epist   90, bes 8–19; 36–46; Maximos von Tyros diss  21,5); vgl Boys-Stones 2001, 7 f Aber nicht nur die qualitativen Bedingungen, auch die zeitliche Ansiedelung variiert Gelegentlich wird damit gerechnet, dass der besten Epoche eine erste, negativ zu bewertende Phase vorangegangen sei, wie bei Cornutus c 20,14 l  765 ff Nesselrath Vgl Gatz 1967, 156–158; 161, und s die systematische Übersicht aller vorkommenden Möglichkeiten bei Lovejoy u Boas 1935, 1‒22 Wohlgemerkt ist die exakte zeitliche Einordnung der Idealzeit in unserem Zusammenhang unwesentlich Das Gemeinsame aller Degenerationsvorstellungen ist der Gedanke, dass von einem bestimmten – je nach Grundeinstellung verschieden angesetzten – Zeitpunkt in der Vergangenheit an die Entwicklung stetig abwärts verlaufen sei Dabei kann die Degeneration mit dem Beginn der Zivilisation gleichgesetzt werden; sie wird aber zum Teil auch später angesetzt Wer eine grundsätzlich positive Haltung zur Kulturentstehung einnimmt, rechnet also keineswegs unbedingt mit einer seitdem stets aufwärtssteigenden Entwicklung Ganz im Gegenteil hat ein solcher Standpunkt im Altertum nur sehr selten Vertreter gefunden Vgl Verf 1981, 8 S z B die in der vorigen Anmerkung aufgeführten Stellen aus Platons Philebos, Dikaiarchos, Cicero und Seneca, und vgl unten 3 1 1 2

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

menschlich denkenden und menschlich reagierenden Göttern entwickelt So wird zwischen dem frühen, unverdorbenen Gottesbild und dem gegenwärtigen – sei es in der Philosophie, sei es in der öffentlichen Religion – Kontinuität vorausgesetzt, nur stehe das philosophische Gottesbild den einst obwaltenden Verhältnissen so viel näher als das offizielle, das weit mehr von sekundär hinzugekommenen Elementen geprägt sei Es gibt, wie ich glaube, guten Grund zu vermuten, dass man den Anstoß zur Entartung der Gottesvorstellung in der Regel in einem mutmaßlichen sprachlichen Fehlverhalten gefunden hat Zwar wird der Prozess nirgends ausdrücklich so beschrieben, jedoch meine ich, dass wir den vermeintlichen Vorgang in dieser Weise rekonstruieren sollten Es scheint mir, als hätte man häufig damit gerechnet, dass diejenigen, die einst das überlegene Gottesbild formuliert hätten, sich einer metaphorischen Sprache bedient hätten, ja, sie hätten ihre von natürlichem Scharfsinn und enger Gottesnähe inspirierten Beobachtungen der Natur und des Kosmos sogar zwangsläufig bildlich ausdrücken müssen, da ein diesbezügliches technisches Vokabular noch nicht existiert habe Die beobachteten Vorgänge und Verhältnisse hätten sie mit Hilfe von Übertragungen aus dem ihnen so weit zur Verfügung stehenden Wortschatz zu elementaren menschlichen Erfahrungsgebieten erfasst und beschrieben Namentlich die den menschlichen Körper, das Sexualleben und die Familienverhältnisse betreffenden Wortfelder hätten sich dabei als geeignet angeboten, sowie auch solche, die die fundamentalen Bedingungen menschlicher Existenz und menschlichen Zusammenlebens bezeichnen: Geburt, Leben und Tod, und neben Liebe noch Hader und Streit, u a m , was heute noch vielbenutzte Metaphernquellen sind So hätten sie den Himmel als Vater bezeichnet und die Erde als Mutter, da der befruchtende Regen sich aus dem Himmel ergieße und die Erde wie eine Mutter davon schwanger werde und gebäre 4 Dieselbe Auffassung spiegelt sich auch in der etymologischen Deutung der Götternamen Jupiter als iuvans pater, und Demeter als γῆ μήτηρ 5 Wer sich eine frühe Weltbeschreibung nach diesem Muster vorstellt, hat keine Schwierigkeit, für die vermeintliche Entartung der Gottesvorstellung eine überzeugende Erklärung zu finden Der vermutete Vorgang wäre der folgende: 1) Das Verhältnis der göttlichen Kräfte des Kosmos zueinander sowie ihre Manifestationen seien einst vorwiegend in Metaphern beschrieben worden, wobei die Metaphorik weitgehend anthropomorpher Art gewesen sei 2) Die Einsicht, dass es sich um metaphorische Begriffe und Redewendungen handele, sei mit der Zeit verlorengegangen, so dass der metaphorische Diskurs nunmehr buchstäblich gedeutet worden sei 3) Durch diese falsche Deutung sei die fehlerhafte Vorstellung von men4

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Vgl Aëtios, Plac 1,6,11 Dox p 296 = [Plut ] moralia 880b (SVF 2, 1009 p  300,17 ff ): διὸ πατὴρ μὲν ἔδοξεν αὐτοῖς οὐρανὸς ὑπάρχειν, μήτηρ δὲ γῆ· τούτων δὲ ὁ μὲν πατὴρ διὰ τὸ τὰς τῶν ὑδάτων ἐκχύσεις σπερμάτων ἔχειν τάξιν, ἡ δὲ μήτηρ διὰ τὸ δέχεσθαι ταῦτα καὶ τίκτειν Vgl unten Anm 30 Am Anfang der modernen Religionswissenschaft sind Theorien verwandter Art zeitweise beliebt gewesen Vgl oben Kap  1 1 , Anm  15 Etwa bei Cic nat deor  2,64 bzw 67 (zu diesem Abschnitt s hier unten); Papyrus von Derveni col  21,9–10 u a Vgl Platon, Kratylos 404b9

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schenähnlichen Göttern, die miteinander nach Art menschlicher Familienverhältnisse verbunden seien, erzeugt worden Es leuchtet ein, dass das in Punkt 3 beschriebene Stadium geradezu zwangsläufig eintreten muss Den vermeintlichen Vorgang zu rekonstruieren, wird uns dadurch erschwert, dass das Altertum weder ein theoretisches Modell noch eine spezifische Terminologie kannte, mit deren Hilfe der Prozess ausdrücklich und konzise hätte beschrieben werden können Antike Metapherntheorie kreist beinahe ausschließlich um die Metapher als bewusst eingesetztes Stilelement der Kunstsprache, das der größeren Wirkung der Rede dient 6 Aber es handelt sich in unserem Zusammenhang gerade nicht um die Metapher als fakultatives Stilelement, sondern um Metaphern als unmittelbare, spontane Konzeptualisierung früher, grundlegender menschlicher Erfahrung Zwar betont Aristoteles, dass die Fähigkeit, wirkungsvolle Metaphern zu schaffen, nicht erlernt werden kann, sondern allein von der Begabung abhängt 7 Jedoch bezieht er sich auch hier auf die Wirkung der Metapher in der bewusst gestalteten dichterischen und rhetorischen Kunstsprache Eher relevant ist die gelegentlich auftretende Beobachtung, dass Metaphern spontan in der Alltagssprache auftreten, und zwar unabhängig vom Bildungsgrad des Sprechers 8 Jedoch bleibt diese Art der Metaphernverwendung außerhalb der eigentlichen theoretischen Diskussion, schon aus dem Grund, weil diese Diskussion meist präskriptiv ist In der von mir postulierten Theorie gilt Metaphorik dagegen als konstitutives Element früher Versuche, die Welt zu beschreiben Sie fußt auf der Vorstellung, dass die Metaphorik die charakteristische Artikulierung einer frühen Entwicklungsstufe menschlichen Denkens darstellt, während der das aus unmittelbarer Nähe Beobachtete in natürlicher und spontaner Weise zur Erfassung und Beschreibung der Natur und des Kosmos dient Wir haben es mit „einer Arbeitsweise der menschlichen Kognition, einer Form der Erfahrungsbewältigung“ zu tun 9

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Knappe Zusammenfassung des antiken Metaphernverständnisses bei Baldauf 1997, 14 Ausführlicher beispielsweise bei Eggs 2001, 1103–1115 Als technische Terminologie begegnet das Wortfeld μεταφορά/μεταφέρειν erstmals bei Isokrates 9,9 Das lateinische Gegenstück translatio/transferre findet sich seit Rhetorica ad Herennium 4,34,45 Arist poet  1459a5–7; rhet 1405a9 Arist rhet   1404b33 f ; Cic or   81; vgl de oratore 3,155; Quint 8,6,4; außerhalb der rhetorischen Fachkreise, etwa Chrysippos bei Galenos, De placitis Hippocratis et Platonis 4,6,6 p  270,33 De Lacy (= SVF 3, 473 p  123,20–26) Wir werden unten am Ende dieses Abschnitts und in 3 1 1 1 Anlass haben, auf Chrysippos zurückzukommen Diese Formulierung stammt aus Baldauf 1997, 16 Sie bezieht sich auf die moderne, von Lakoff und Johnson 1980 im Rahmen der kognitiven Semantik entwickelte Metapherntheorie, nach der metaphorisches Denken, generell und zu allen Zeiten, für die Art, wie der Mensch die Welt auffasst und seine Erfahrungen formuliert, bestimmend sei Um ein historisches Entwicklungsmodell handelt es sich bei der von Baldauf beschriebenen Theorie also nicht Dennoch sei es mir hier erlaubt, selektiv an das von Lakoff und Johnson etablierte Modell anzuschließen, da in dieser Weise die von mir postulierte Entstehungstheorie sich gut und bündig vorführen lässt

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Dieses Modell ist allerdings nirgends in unseren Texten ausdrücklich dargelegt, sondern ergibt sich erst implizite aus unserem Material Eine ausdrückliche, zusammenhängende Theorie, die ein solches Metaphernverständnis formuliert, hat das Altertum sowieso nicht gekannt, und ebenso wenig eine spezifisch damit zusammenhängende, strikte Terminologie Ich will im Folgenden versuchen, zu zeigen, dass Vorstellungen von Verhaltensweisen und Denkmustern der geschilderten Art in Praxi bekannt und geläufig waren, nur finden wir sie nicht im Rahmen der eigentlichen Metapherntheorien, da diese sich mit der Kunstsprache beschäftigen und nicht mit spontan generierter Metaphorik, zumal nicht aus anthropologischer Perspektive Wir müssen sie in ganz anderen Kontexten suchen Mehr Aufmerksamkeit hat die Forschung dem nahverwandten Gebiet der antiken etymologischen Spekulation gewidmet Für diese lassen sich in ganz anderer Weise die theoretischen Grundlagen anhand ausdrücklicher Textbeispiele rekonstruieren Dass diese so vergleichsweise oft in unseren Texten zur Sprache kommen, mag teilweise mit dem Einfluss von Platons Kratylos zusammenhängen Normalvoraussetzung des antiken Interesses für etymologische Wortstudien ist die Überzeugung, dass die Benennungen, richtig gedeutet, über das wahre Wesen der Erscheinungen Aufschluss geben können Wohlgemerkt besteht kein Gegensatz zwischen dieser Vorstellung von der über etymologische Untersuchungen erreichbaren Wahrheit und der hier zum ersten Mal ausdrücklich beschriebenen antiken Theorie eines metaphorisch formulierten frühen Gottesbildes Ganz im Gegenteil lassen sich diese, wie wir noch sehen werden, sinnvoll kombinieren Die Etymologie ist der Suche nach dem exakten Inhalt der ursprünglichen Benennungen gewidmet; dieser wurde für wichtig gehalten, weil man damit rechnete, dass die ursprünglichen Bezeichnungen und Benennungen als Wesens- und Charakterbeschreibungen gedacht gewesen seien, die dank des natürlichen und unverdorbenen Scharfsinns der ‚Namengeber‘ eben den wahren Charakter und die wahre Funktion der Erscheinungen zum Ausdruck brächten 10 Für die Rekonstruktion der ursprünglichen theologischen Berichte kann die Suche nach dem Sinn

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Antike etymologische Spekulation hat bekanntlich ganz andere Vorzeichen und ganz andere Ziele als die moderne etymologische Wissenschaft S Sluiter 2015, 897‒899; 902 f ; Nifadopoulos 2003, 11–16 Gemeint ist hier die eine Seite antiker etymologischer Spekulation, die „semantische“ Methode, um mit Baxter zu sprechen (1992, 5; 56 f ) Ein solches beschreibend-definierendes Verfahren ist ohne einen gewissen Vorrat an sprachlichen Ausdrucksmitteln nicht möglich M  a  W wird ein noch weiter zurückliegendes, absolutes Anfangsvokabular vorausgesetzt, dessen Entstehungsmodus ein anderer gewesen sein muss Die Frage nach diesen πρῶτα ὀνόματα oder πρῶται φωναί spielt in den hier im Folgenden zu besprechenden Texten keine Rolle, aber Sokrates führt im Kratylos (422a–427d) die Distinktion ausführlich vor: Bestimmte Laute seien dazu imstande, das Wesen der Dinge in besonderer Weise nachzuahmen Durch sinnvolle Zusammensetzung dieser ‚lautmalenden‘ Grundelemente (στοιχεῖα) seien die πρῶτα ὀνόματα geschaffen worden (s bes 426d f ), die der weiteren Sprachschöpfung zugrunde gelegen hätten (die „mimetische“ Theorie, Baxter 1992, 62–64, und vgl Barwick 1957, 72 f )

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der Bezeichnungen jedoch nicht ausgereicht haben, denn die Bezeichnungen allein vermögen noch kein zusammenhängendes Bild des Kosmos zu vermitteln Dazu gehören noch Aussagen darüber, wie die einzelnen Erscheinungen sich zueinander verhalten und miteinander interagieren, mit anderen Worten Aussagen über die Vorgänge und Gesetze des göttlichen oder von Gott gelenkten Kosmos Erst durch die hier von mir postulierte Theorie von einem ursprünglich metaphorisch ausgedrückten Weltbild vervollständigt sich das Bild von der vermeintlichen Tätigkeit der ‚Namengeber‘ Metaphorische Verwendung konkreter Begriffe ist noch heute die natürlichste Methode, abstrakte Vorgänge und schwer erfassbare Phänomene zu konzeptualisieren Um so näher muss es gelegen haben, den frühen Pionieren eine solche Verfahrensweise zuzuschreiben – aufgrund des geringen Umfangs ihres Wortschatzes müssten diese doch wohl noch mehr geneigt gewesen sein, Wörter und Begriffe, die primär aus unmittelbarer Nähe Beobachtetes und Erlebtes bezeichneten, auch noch für ihre Bemühungen, ihr Weltbild in Worte zu fassen, zu verwenden Ciceros De natura deorum bietet uns das meistversprechende Material für die Rekonstruktion dieses Gedankenmodells Von besonderer Bedeutung ist dabei ein Abschnitt aus dem 2  Buch (2,63–71), weil der vorausgesetzte Entwicklungsgang hier annähernd deutlich und explizit zum Ausdruck kommt Der betreffende Abschnitt macht einen Teil des relativ gesehen sehr ausführlichen Gesamtvortrags des Stoikers Lucilius Balbus aus – dieser umfasst beinahe das ganze zweite Buch (2,3–167) Der Vortrag enthält vier Punkte (Gesamtgliederung in 2,3; vgl 3,6) Der erste Punkt dient dem Beweis, dass Götter existieren Der zweite soll Gestalt und Wesen dieser Götter darlegen Der dritte und vierte Punkt soll jeweils beweisen, dass die Götter das Weltall lenken bzw dass sie für die Menschen Sorge tragen Unser Abschnitt gehört zum zweiten Punkt (2,45 ff ) 11 Die Argumentation dieses Teils

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Freilich entspricht der Verlauf der Argumentation, wie ihn die Ausgaben präsentieren, den Verhältnissen in den Handschriften nicht Der Hauptunterschied besteht darin, dass ein langer Abschnitt, seit der Ausgabe von Pietro Marso, Venedig 1507, als §§ 86(b)–156(a) eingeordnet, in den MSS schon mitten in § 15 oder 16 einsetzt Dass bedeutet u a , dass in den Handschriften die Argumentation zum Thema qualis deorum natura sit (jetzt § 45 ff ), zu dem der hier besprochene Abschnitt gehört, sowie der Anfang der Diskussion zum Thema providentia deorum mundum et omnes mundi partes … administrari (§ 75 ff ) erst folgen, nachdem das Ende der Gesamtargumentation schon angesagt worden ist (§ 154 restat ut doceam et aliquando perorem omnia quae sint in hoc mundo … hominum causa facta esse et parata) Gemeinhin wird damit gerechnet, dass die Reihenfolge der MSS auf mechanischem Wege entstanden sei: Sie wird auf einen Vertausch von Faszikeln beim Einbinden eines für die Überlieferung entscheidenden Codex zurückgeführt Differenzen an den Bruchstellen seien sekundär dazu entstanden, etwa durch Bemühungen der späteren Korrektoren, in der Verwirrung etwas Ordnung zu schaffen Wie Clark (1918, 327) gezeigt hat, sind die vertauschten Textblöcke im Umfang etwa gleichwertig: „The obvious inference is that quaternions of Q / d h des gemeinsamen Archetyps unserer MSS / have changed places “ S auch z B Schmidt 1974, 72–75 Vgl auch unten 3 2 1 1 Anm 157 Anders Auvray-Assayas (1999 und 1997), die die routinemäßige Haltung der Ausgaben kritisiert und dazu auffordert, die Probleme der Überlieferung erneut zu konfrontieren und sie auf ihr phi-

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macht streckenweise einen recht undurchsichtigen und unlogischen Eindruck Cicero hat nämlich zwei wichtige stoische Problemkomplexe in einen zusammengelegt: Er verbindet die Frage nach dem wahren Wesen der Götter mit einer kulturhistorischen Übersicht darüber, wie die Vorstellungen von den einzelnen Götterkategorien entstanden sind Wie auch sonst im Vortrag des Balbus wird wiederholt nebenbei mit den Epikureern Spott getrieben, was ebenfalls dazu beiträgt, die Gliederung des Abschnitts zu verwischen 12 Die Argumentation zum zweiten Punkt fängt damit an, die Eigenschaften der im ersten Punkt erwiesenen Götter, d h des Kosmos (mundus) und der Gestirne, zu erläutern (§ 45) Mit § 60 wechselt die Darstellung jedoch von dieser Thematik zu einer historischen Übersicht über die verschiedenen traditionellen Götterkategorien über Hier erfahren wir nun, wie der metonymische Gebrauch von Götternamen (Ceres = Getreide; Liber = Wein) entstanden sei; auch wird erklärt, aus welchen Gründen die Römer abstrakte Konzepte wie Fides, Honos, Concordia, Ops, Libertas usw als Götter geweiht haben (§ 61); ferner wird die Kategorie der vergöttlichten Menschen eingeführt (Hercules, Kastor und Pollux, Aesculapius und, spezifisch auf römischem Boden, Romulus/Quirinus; § 62) 13 Darauf folgt nun der Teil, der uns hier interessiert: die Besprechung der Kategorie der höheren Götter des Kults (maiorum gentium di, wie sie Cicero an anderer Stelle nennt14) Gerade weil zwei Problemstellungen vermengt worden sind, ist eine gewisse Überschneidung mit früher besprochenen Göttern unvermeidlich 15 Generell entsprechen die hier behandelten Götter für Balbus als Stoiker den ursprünglich von den

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losophisches Interesse hin zu befragen Sie betrachtet den Text der MSS als das Ergebnis einer Redaktionsstufe, die mit zwei verschiedenen Fassungen operiert habe, von denen die eine dazu gedacht gewesen sei, die andere zu ersetzen (1999, 92 und 103 f sowie bes 2005, 235 Anm  7) S  auch unten 3 1 4 Anm  131 Inhalt des zweiten Punkts: quales (di) sint, 2,3 = qualis eorum natura sit 2,45 Herabsetzende Urteile über die Epikureer und ihre anthropomorphe Gottesvorstellung: 2,45 ff ; 2,59; außerhalb unseres Abschnitts 2,73 ff und 2,88 Zur Argumentation des Balbus hinsichtlich der Vergöttlichung von Fides, Honos usw s oben Kap  1 3 Zur Vergöttlichung von Hercules, den Dioskuren usw , s unten Kap  6 1 1 bei Anm  51; 6 2 , bes Anm  63, und vgl Verf 1997, 78 Die Basis ihrer Vergöttlichung – die als real begründet betrachtet wird – ist die Überzeugung, dass die Seelen dieser ausnehmend verdienstlichen Männer ewig bestehen Vgl Cic leg  2,19 und 2,27 (unten 6 1 1 Anm  52 angeführt) sowie die Worte des Velleius, des epikureischen Kollegen des Balbus, über Chrysippos (nat. deor  1,39) Tusc.1,29 Zur Phrase s Verf 1997, 78 und unten, Kap  6 1 1 Anm  54 Allein bei dieser Kategorie wird die menschliche Darstellungsform als problematisch empfunden (vgl oben Kap  1 3 ) Die Gruppierung der Götter in §§ 63–69 stammt in dieser Form nicht direkt von Zenon, Kleanthes und Chrysippos, auf die Balbus in § 63 hinweist, sondern ist erst römisch, wie der Umstand beweist, dass Janus und die Penaten dabei sind Es handelt sich um die Götter der Gruppe, die Varro als di praecipui atque selecti bezeichnet hat (Aug civ  7,1 und 7,2 = Varro RD 16 fr  229 Cardauns) Unter den Penaten müssen wir die offiziellen Penaten verstehen, di penates populi Romani Quiritium Diese wurden nicht selten mit verschiedenen wichtigen römischen Göttern gleichgesetzt, u a mit der kapitolinischen Trias, was ihr Vorkommen in unserem Zusammenhang begründet S  Stellen und Diskussion dazu unten Kap  4 4 1 1 Apollon und Diana § 68 f = Sol und Luna § 49 f

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ersten Menschen erkannten und mit eigenen Namen benannten Manifestationen der einen Gottheit, der Physis oder des göttlichen Logos 16 Balbus nimmt sich die doppelte Aufgabe vor, sowohl ihr wahres Wesen darzulegen, wie auch zu erklären, wie es dazu gekommen sei, dass sie in einer Weise dargestellt und verehrt werden, die ihren wahren Charakter verkennen lässt Um die erste Teilaufgabe zu erfüllen, nimmt er die etymologische Herleitung zur Hilfe, durch die er zur ursprünglichen Signifikanz der Götternamen – sowohl der griechischen wie der lateinischen – vorzustoßen hofft Ihm ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Götter einst Namen erhielten, die sinnvoll und konzis ihren wahren Charakter und ihre tatsächlichen Funktionen im göttlichen Kosmos spiegelten Für die zweite Teilaufgabe bedient er sich einer Methode, die ich mir in Anlehnung an eine unten zu besprechende Textstelle (Cic nat. deor 1,41) mit der Phrase (veritatem) a fabula deiungere zu beschreiben erlaube Auf dem Hintergrund des oben Gesagten sind wir jetzt in der Lage, zu erkennen, dass diese Methode das Ziel hat, zur ursprünglichen, metaphorischen Aussage, die sich hinter dem späteren anthropomorphen Narrativ verbirgt, vorzustoßen Beiden Strategien liegt die Prämisse zugrunde, dass durch sie das ursprüngliche Gottesbild aus der Zeit vor der Degeneration aus dem vorhandenen Befund noch im Wesentlichen zurückgewonnen werden könne Da am Anfang des Abschnitts Zenon, Kleanthes und Chrysippos namentlich genannt werden, dürfen wir davon ausgehen, dass die zugrundeliegenden Gedanken im Wesentlichen aus der alten Stoa stammen (Cic nat. deor  2,63 ff ): Aus einem anderen Bereich, und zwar aus dem der Physis, hat sich eine Menge von Göttern entwickelt, die mit menschlicher Gestalt ausgestattet wurden und so den Dichtern Sagenstoff boten und das Leben im Allgemeinen mit jeder Art von Aberglauben füllten Diese Thematik wurde schon von Zenon besprochen und dann von Kleanthes und Chrysippos eingehender behandelt Beispielsweise ist der folgende alte Glaube überall in Griechenland verbreitet: Caelus (‚Himmel‘) sei von seinem Sohn Saturn kastriert worden, und Saturn sei dann seinerseits von seinem Sohn Jupiter gefesselt worden (64) Eine keineswegs geschmacklose Überlegung zu den Vorgängen der Natur verbirgt sich hinter den gottlosen Sagen Man meinte nämlich (voluerunt, ‚sie wollten‘17), dass die Substanz (natura) des Himmels, die allerhöchste, ätherische – d h feurige – Substanz, die alles allein aus sich selbst erzeugt, von dem Körperteil befreit sein sollte, der nicht zu erzeugen vermag, ohne sich mit etwas anderem zu verbinden Saturn deuteten sie als (esse voluerunt) denjenigen, der den Verlauf und die Umdrehung der Zeiträume aufrechterhält, und gerade so wird er auch im Griechischen genannt Er heißt nämlich Kronos, was dasselbe ist wie χρόνος, d h ‚Zeitraum‘ Aber Saturnus hat man ihn genannt, weil er sich mit Jahren sättigt (quod saturaretur annis); die Sage erzählt, dass er die Gewohnheit gehabt habe, seine eigenen Kinder zu verschlingen, weil die Ewigkeit die Zeiträume wieder in sich aufnimmt und

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Vgl wie Balbus kurz vor unserer Stelle, § 57–58, Zenons Physisbegriff (lat natura) erklärt Zum Subjekt der Form voluerunt (zweimal in § 64) s gleich unten, m  Anm  21

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sich unersättlich mit den Jahren, die vorbeigehen, füllt Und er soll von Jupiter gefesselt worden sein, damit er nicht unkontrolliert ausschweife, sondern ihm die Fesseln der Gestirne auferlegt würden Aber Jupiter wiederum, d h der helfende Vater, den wir in den flektierten Fällen Iovem /usw/ nennen, und zwar ebenfalls von ‚helfen‘, wird von den Dichtern „Vater der Götter und der Menschen“ genannt Unsere Vorfahren nannten ihn „den besten und größten“, und zwar zuerst „den besten“ – d h den freigebigsten – und erst dann „den größten“, weil es größer und zweifellos willkommener ist, allen nützlich zu sein, als große Macht zu besitzen (65) Diesen nennt Ennius, wie ich schon erwähnt habe / = § 4 /, indem er sagt „betrachte dieses hohe, leuchtende Element, das von allen mit dem Namen Jupiter genannt wird“ Weniger deutlich bezieht er sich an einer anderen Stelle auf ihn, „Was auch immer dieses, das leuchtet, ist, ihm will ich alles was in mir ist widmen“ Und genau das meinen unsere Auguren, wenn sie sagen: „Wenn Jupiter blitzt und donnert …“; denn sie meinen damit „bei blitzendem und donnerndem Himmel“ Ferner steht bei Euripides unter vielen anderen hervorragenden Aussagen auch die folgende kurze Äußerung: „Du siehst den hoch oben weit sich ausbreitenden Äther, der die Erde mit zarter Umarmung umschlingt Ihn sollst du als höchsten Gott betrachten, ihn sollst du als Jupiter verehren “ Ferner wird die Luft, die sich zwischen Himmel und Meer befindet, wie die Stoiker argumentieren, unter dem Namen Juno als Göttin bezeichnet; sie ist die Schwester und Gemahlin Jupiters, weil sie dem Äther gleicht und engstens mit ihm verbunden ist Man hat die Luft mit weiblichem Geschlecht benannt / im älteren Griechisch ist ἀήρ tatsächlich weiblich, MWS / und der Juno zugeschrieben, weil nichts weicher ist als die Luft Der Name Juno ist, wie ich glaube, ebenfalls von iuvare abgeleitet Wasser und Erde waren noch übrig, um die Dreiteilung der Reiche, wie sie in den Sagen vorliegt, vollständig zu machen Das eine, die gesamte Herrschaft über das Meer, wurde Neptun zuerkannt, dem Bruder Jupiters, wie wir zu sagen pflegen; sein Name wurde von nare, ‚schwimmen‘ durch Ausdehnung gebildet, ähnlich wie der des Portunus von porta‚ ‚Tor‘, freilich mit einer gewissen Veränderung der ersten Buchstaben Ausmaß und Substanz der Erde wurde ganz dem Dis pater übertragen, d h dem Reichen – wie Plouton bei den Griechen – weil alles sowohl in die Erde zurückfällt wie auch aus der Erde entsteht Ihm gibt man Proserpina zur Frau, die ihren Namen von den Griechen hat; sie ist nämlich dieselbe, die auf griechisch Persephone heißt Diese hält man für den Samen des Getreides, und man gibt vor, dass sie versteckt wird und von ihrer Mutter gesucht wird Ihre Mutter hat von fruges gerere‚ ‚Ernte tragen‘, ihren Namen Ceres, d h im Grunde geres, und aus Zufall hat sich der erste Buchstabe in derselben Weise wie bei den Griechen gewandelt, denn von ihnen wurde sie Demeter genannt, was so viel heißt wie Gē mēter / Mutter Erde / 18 18

Cic nat  deor  2,63–67: Alia quoque ex ratione et quidem physica magna fluxit multitudo deorum, qui induti specie humana fabulas poetis suppeditaverunt, hominum autem vitam superstitione omni referserunt. Atque hic locus a Zenone tractatus post a Cleanthe et Chrysippo pluribus verbis explicatus est.

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In §§ 67–69 folgen Ausführungen über die wahre Bedeutung der Namen weiterer Götter und die Folgerungen, die sich daraus für Wesen und Funktion dieser Götter ergeben In § 70 greift Balbus dann auf das Thema der Anthropomorphisierung zurück, das er am Anfang unseres Abschnitts gestreift hatte, aber dann nicht mehr ausdrücklich besprochen hatte Mit § 70 ist der Punkt erreicht, wo dieser Prozess in sein zweites Stadium übergeht: Die sekundär entstandenen anthropomorphen Einzelgötter geben zu völlig falschen und verdrehten opiniones Anlass, denn nun folgt die eingehende Individualisierung und die endgültige Vermenschlichung ihres Charakters, in der das dichterische mythologische Narrativ schwelgt (2,70): Seht ihr nun also ein, wie das System von einer an sich korrekten und nützlichen Erkenntnis der Naturerscheinungen herabgezogen worden ist zur Erfindung von reinen Fantasiegöttern? Dies führte wiederum zu falschen Meinungen, verwirrenden Wahnvorstellungen und abergläubischen Ideen, wie sie beinahe nur zu alten Weibern passen Denn wir meinen ja sogar zu wissen, wie die Götter aussehen, wie alt sie sind, wie sie gekleidet sind und welche Attribute sie haben; ferner kennen wir ihre Stammbäume, ihre Eheverbindungen und Verwandtschaftsverhältnisse, und überhaupt ist alles nach dem Muster

Nam vetus haec opinio Graeciam opplevit, esse exsectum Caelum a filio Saturno, vinctum autem Saturnum ipsum a filio Iove; (64) physica ratio non inelegans inclusa est in impias fabulas. Caelestem enim altissimam aetheriamque naturam id est igneam, quae per se omnia gigneret, vacare voluerunt ea parte corporis quae coniunctione alterius egeret ad procreandum. Saturnum autem eum esse voluerunt qui cursum et conversionem spatiorum ac temporum contineret. Qui deus Graece id ipsum nomen habet: Κρόνος enim dicitur, qui est idem χρόνος id est spatium temporis. Saturnus autem est appellatus quod saturaretur annis; ex se enim natos comesse fingitur solitus, quia consumit aetas temporum spatia annisque praeteritis insaturabiliter expletur. Vinctus autem a Iove, ne inmoderatos cursus haberet, atque ut eum siderum vinculis alligaret. Sed ipse Iuppiter, id est iuvans pater, quem conversis casibus appellamus a iuvando Iovem, a poetis „pater divomque hominumque“ dicitur, a maioribus autem nostris optumus maxumus, et quidem ante optimus id est beneficentissimus quam maximus, quia maius est certeque gratius prodesse omnibus quam opes magnas habere, (65) – hunc igitur Ennius, ut supra dixi /§ 4/, nuncupat ita dicens „aspice hoc sublime candens, quem invocant omnes Iovem“, planius quam alio loco idem „cui quod in me est exsecrabor hoc quod lucet quidquid est.“ (s fr 345 und 401 Vahlen bzw 301 und 342 Jocelyn) Hunc etiam augures nostri cum dicunt „Iove fulgente, tonante“: dicunt enim „caelo fulgente, tonante“. Euripides autem ut multa praeclare sic hoc breviter: „Vides sublime fusum immoderatum aethera, qui terram tenero circumiectu amplectitur. Hunc summum habeto divum, hunc perhibeto Iovem.“ (Vgl unten, m Anm  27 sowie 3 1 1 2 , m Anm  82 ) (66) Aer autem, ut Stoici disputant, interiectus inter mare et caelum Iunonis nomine consecratur; quae est soror et coniunx Iovis, quod similitudo est aetheris et cum eo summa coniunctio. Effeminarunt autem eum Iunonique tribuerunt, quod nihil est eo mollius. Sed Iunonem a iuvando credo nominatam. Aqua restabat et terra, ut essent ex fabulis tria regna divisa. Datum est igitur Neptuno alterum, Iovis ut volumus fratri, maritimum omne regnum, nomenque productum ut Portunus a porta sic Neptunus a nando, paulum primis litteris immutatis. Terrena autem vis omnis atque natura Diti patri dedicata est, qui dives ut apud Graecos Πλούτων, quia et recidunt omnia in terras et oriuntur e terris. † Cui dicunt Proserpinam (quod Graecorum nomen est, ea enim est quae Περσεφόνη Graece nominatur) – quam frugum semen esse volunt absconditamque quaeri a matre fingunt. (67) Mater autem est a gerendis frugibus Ceres tamquam geres casuque prima littera itidem immutata ut a Graecis; nam ab illis quoque Δημήτηρ quasi γῆ μήτηρ nominata est

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menschlicher Schwäche umgedeutet worden Die Götter werden ja sogar im Affektzustand dargestellt: Wir haben von Begierden, Seelenleiden und Wutausbrüchen der Götter erfahren Nach den Sagen zu urteilen haben sie sich nicht einmal von Kriegen ferngehalten, und dies gilt nicht nur da, wo zwei /menschliche/ Heere einander gegenüberstanden, wie es bei Homer ist, und nun auf beiden Seiten Götter in den Kampf eingegriffen haben, sondern sie haben sogar angeblich eigene Kriege geführt, wie z B mit den Titanen und mit den Giganten Alles dies wird erzählt und findet törichterweise auch Glauben, obwohl es von Nichtigkeit und größtem Leichtsinn strotzt 19 (2,71): Aber unter der Voraussetzung, dass diese Sagen verachtet und verworfen werden, wird es nichtsdestoweniger möglich sein, die Gottheit, die sich durch die Substanz (natura) einer jeden Erscheinung hindurchzieht, zu verstehen – Ceres, die die Erde durchströmt, Neptun, der sich durch die Meere erstreckt, und so weiter – und diese einzelnen Götter und ihre Eigenschaften zu erfassen, wie auch mit welchem Namen die Tradition sie benannt hat Dies sind die Götter, die wir anbeten und verehren sollen 20

Auch wenn der Gedankengang des Balbus teilweise unzusammenhängend und undurchsichtig wirkt, liegt seiner Darstellung, wie ich glaube, eine kohärente Theorie von der Entwicklung des Gottesbildes nach Art der oben am Anfang des Abschnitts beschriebenen zugrunde Grundvoraussetzung ist die Überzeugung von der überlegenen, natürlichen Gotteserkenntnis der frühen Menschen Zugleich traten diese – oder die klügsten unter ihnen – als ‚Namengeber‘ auf: Sie haben die sprachlichen Benennungen geschaffen, und aufgrund ihrer besonderen Fähigkeit, die Dinge unmittelbar korrekt zu erfassen, waren sie im Stande, diese im vollen Einklang mit dem wahren Wesen der zu benennenden Erscheinungen zu konzipieren Nicht nur die Appellative, sondern auch Individualnamen wurden selbstverständlich nach diesem Prinzip gebildet Dank ihrer größeren Gottesnähe und ihrer ungetrübten Intuition vermochten sie auch, die kosmischen Vorgänge – die Gesetze der Natur und ihrer wirksamen Kräfte, anders ausgedrückt: die Beziehungen und Interaktionen der Götter – richtig zu erfassen und mit Hilfe des von ihnen selber geschaffenen Wortschatzes korrekt zu beschrei19

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Cic nat. deor 2,70 f : Videtisne igitur ut a physicis rebus bene atque utiliter inventis tracta ratio sit ad commenticios et fictos deos? Quae res genuit falsas opiniones erroresque turbulentos et superstitiones paene aniles. Et formae enim nobis deorum et aetates et vestitus ornatusque noti sunt, genera praeterea coniugia cognationes, omniaque traducta ad similitudinem inbecillitatis humanae. Nam et perturbatis animis inducuntur: accepimus enim deorum cupiditates aegritudines iracundias; nec vero, ut fabulae ferunt, bellis proeliisque caruerunt, nec solum ut apud Homerum cum duo exercitus contrarios alii dei ex alia parte defenderent, sed etiam ut cum Titanis ut cum Gigantibus sua propria bella gesserunt. Haec et dicuntur et creduntur stultissime et plena sunt futtilitatis summaeque levitatis. Ibid § 71 (schließt direkt an den Text in der vorigen Anmerkung an): Sed tamen iis fabulis spretis ac repudiatis deus pertinens per naturam cuiusque rei, per terras Ceres per maria Neptunus alii per alia, poterunt intellegi qui qualesque sint quoque eos nomine consuetudo nuncupaverit. Quos deos et venerari et colere debemus. Lesart wie bei Plasberg u Ax und bei Pease 2 (S  737)

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ben, zwar ohne Zugang zu einer entwickelten wissenschaftlichen Terminologie und ohne den kunstvollen und ausgeklügelten Wortschmuck späterer Zeiten zu kennen, jedoch wahrheitsgemäß und klug, indem sie solche Elemente des von ihnen selbst geschaffenen Wortschatzes, die menschliche Beziehungen und Aktionen bezeichneten, in geschickter Weise auf die kosmischen Vorgänge übertrugen Auf die Gedanken und Intentionen dieser frühen Menschen sind, wie ich glaube, die aktiven Vergangenheitsverben 3 Person Plural am Anfang unseres Abschnitts zu beziehen (voluerunt, § 64 zweimal; effeminarunt und tribuerunt § 66) 21 Die Prinzipien, die die Namengeber dieser Theorie zufolge befolgt haben sollen, lassen sich zu einem guten Teil aus der Überlieferung rekonstruieren Besonders interessante Auskunft bietet uns Ammonios, der Nachfolger des Proklos, an einer Stelle seines Kommentars zu Aristoteles, De interpretatione Aristoteles betont kurz, aber mit Nachdruck, dass die Wörter nicht „von Natur“ (φύσει) bestehen, sondern immer nur κατὰ συνθήκην, „durch Übereinkunft“, ihre Bedeutung tragen Diese Bemerkung gibt Ammonios Anlass, zu fragen, wie Aristoteles kurzerhand bestreiten könne, dass die Benennungen ihre Beziehung zu ihren Referenten „von Natur“ hätten, wo doch Sokrates im Kratylos sich darum bemühe, zu demonstrieren, dass gerade dies der Fall sei 22 Seine Gegenüberstellung der beiden Ausgangspositionen als θέσει (Hermogenes) und φύσει (Kratylos) im Folgenden gibt die platonische Terminologie allerdings nicht korrekt wieder – es wird zunächst ein Gegensatzverhältnis zwischen φύσει und θέσει vorgespiegelt, so wie es bei Aristoteles zwischen φύσει und κατὰ συνθήκην vorliegt, aber ein solches besteht im Kratylos nicht Ganz im Gegenteil gilt dort als allen gemeinsame Grundvoraussetzung, dass alle Benennungen θέσει, „durch Auferlegung“, bestehen 23 Diesem Umstand wird im Folgenden insofern doch noch Rechnung getragen, als Ammonios betont, dass von den Varianten der beiden Positionen, die er in der weite-

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Vgl Long 2001, 70 (= 1996, 52) Anm  24 Voluerunt in § 67 gehört dagegen in die Zeit der differenzierten Kulturgebräuche, nicht in die früheste Epoche Wir haben es hier mit Entscheidungen der frühen Römer zu tun, mitverstandenes Subjekt somit etwa nostri (vgl § 69) oder maiores nostri (§ 62; 60) „Sie wollten, dass beim Opfer Janus der erste sei “ Die Vorstellung von einer allgemeinen Degeneration der Zeiten besagt natürlich nicht, dass die Fähigkeit des Menschen, Wahrheit zu erblicken und korrekte Entscheidungen zu treffen, grundsätzlich verlorengegangen sei Nur den unmittelbaren, direkten Zugang zur Wahrheit gebe es nicht mehr; was an richtiger Einsicht zu erreichen sei, müsse nunmehr erarbeitet werden Um den Verlust der natürlichen Klugheit zu kompensieren, sei die Philosophie entstanden (s dazu Boys-Stones 2001, 18–27; vgl dens , 2003, 206 f ) So hat es in den Augen des Balbus sowohl griechische wie römische Weise gegeben (Graeciae sapientes und maiores nostri auf einer Stufe in § 60; auch nostri in § 69, und vgl § 71: non enim philosophi solum verum etiam maiores nostri) Aristoteles, De interpretatione 16a20; Ammonius, In Aristotelis De interpretatione commentarius, ed Busse (CAG 4:5, Berlin 1897) p  34,15‒20 Vgl unten Anm 75 Dagegen wird θέσει später häufig im Sinne von „durch Übereinkunft“ (= κατὰ συνθήκην) gebraucht Klare Übersicht über die Terminologie und ihre Entwicklung bei Allen 2005, 18–20, und vgl Ademollo 2011, 5 f

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

ren Diskussion verzeichnet, die zweite θέσει-Alternative mit der zweiten φύσει-Alternative zusammenfalle (p 36,22 ff ) Unser Interesse gilt gerade diesem ‚doppelten‘ Modell, so wie es von Ammonios präsentiert wird (p 35,16 ff ) Dies ist im Wesentlichen dieselbe Position, die Sokrates im Kratylos zusammen mit Hermogenes ausarbeitet Ammonios nähert sich also hier wieder dem dortigen Sprachgebrauch: Θέσει seien die Namen insofern, als sie vom Namengeber (oder von den Namengebern) durch bewusste Anordnung auferlegt worden seien, aber φύσει seien sie insofern, als sie aufgrund besonderer Einsicht in das Wesen der Erscheinungen festgelegt worden seien Ammonios führt aber außerdem ein bestimmtes angeblich von den Namengebern befolgtes Prinzip an, das Sokrates im Kratylos nicht erwähnt Die kreative Klugheit der Namengeber habe nicht nur die spezifische Natur eines jeden Dinges beachtet (wie es im Kratylos heißt); sie hätten auch noch eine Analogie zum Unterschied zwischen männlich und weiblich berücksichtigt, wie er im eigentlichen Sinne unter den sterblichen Wesen zu beobachten ist 24 Wie dieses Prinzip funktioniert haben soll, zeigt Ammonios durch konkrete Beispiele im Folgenden: „Nicht von ungefähr haben die Schöpfer der Benennungen die Flüsse mit männlichen Bezeichnungen versehen, die Meere und Seen andererseits mit weiblichen, sondern von ihrer Beobachtung ausgehend, dass diese jene in sich aufnehmen, hielten sie es für begründet, sie mit weiblichem Geschlecht zu benennen Hinsichtlich der Flüsse wiederum meinten sie, dass die Analogie zum männlichen Geschlecht relevant sei, da diese sich in die Meere und Seen ergießen Und bei allen übrigen Erscheinungen fanden sie in deutlicherem oder weniger deutlichem Maße dieselbe Analogie “25 Auf diesem Wege seien sie weitergeschritten, und nicht einmal bei den Benennungen der Götter hätten sie Halt gemacht So sei die Sonne mit männlichem Geschlecht und der Mond mit weiblichem versehen worden, da der Mond nicht selbst leuchtet, sondern sein Licht von der Sonne erhält (p  36,1 f ); der Himmel habe dementsprechend männliches Geschlecht bekommen, die Erde weibliches (p  36,10 f ) Genau dieses vermeintliche Verfahren bildet offensichtlich einen Grundbestandteil der Reflexionen des Balbus Das Leitprinzip, das der Wahl der analogen Geschlechtsbestimmung zugrundegelegen haben soll, wird so verstanden, dass die ‚aktiven‘, schöpferischen, zeugenden Elemente oder Erscheinungen als männlich betrachtet wurden, während die ‚passiven‘, bloß aufnehmenden oder reproduzierenden, weibliche Benen24 25

Ammonios, in interpr P 35,15–17: … πρός τε τὴν ἰδίαν ὁρῶσα τοῦ πράγματος φύσιν καὶ τὴν ἀναλογίαν τοῦ ἄρρενος καὶ θήλεος, τῶν κυρίως ἐν τοῖς θνητοῖς ζῴοις ὁρᾶσθαι πεφυκότων Vgl Pohlenz 1948– 1949 1, 42 und 2, 24 Ammonios p 35,24–30: οὐ γὰρ ἀσκέπτως τοὺς μὲν ποταμοὺς ἀρρενικῶς, τὰς δὲ θαλάσσας καὶ τὰς λίμνας θηλυκῶς οἱ τῶν ὀνομάτων δημιουργοὶ προσηγόρευσαν, ἀλλ’ ἐκείνας μὲν ὡς ὑποδοχὰς οὔσας τῶν ποταμῶν διὰ τοῦ θηλυκοῦ γένους ὀνομάζειν δοκιμάσαντες, τοὺς δὲ ποταμοὺς ὡς ἐμβάλλοντας εἰς αὐτὰς οἰκείως ἔχειν πρὸς τὴν τοῦ ἄρρενος ἀναλογίαν νομίσαντες καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων ἁπάντων ὡσαύτως ἢ τρανότερον ἢ ἀμυδρότερον τὴν ἀναλογίαν εὑρόντες

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nungen erhielten Der Himmel oder Äther ist, wie wir von Balbus in § 64 erfahren haben, mit dem schöpferischen Feuer identisch und enthält die Samen aller Dinge Er muss deswegen männlich sein Andere Quellen bestätigen uns, dass die Stoiker die Geschlechtszugehörigkeit auch der individuellen Götternamen in dieser Weise erklärten Der Vergilkommentator Servius erläutert das Prinzip von männlichen und weiblichen Göttern in folgender Weise (zu Aen  4,638): … Und es ist zu beachten, dass der Dichter hier den Stoikern zufolge sagt, dass Gott einer ist und dass seine Namen je nach Aktivität und Funktionen wechseln Aus diesem Grund sagt man auch, dass die Götter zweifachen Geschlechts seien, so dass sie männlich sind, wenn sie aktiv tätig sind, aber weiblich, wenn ihr Wesen nur duldend ist

Es folgt ein Hinweis auf einen anderen, in unserem Zusammenhang interessanten Vergilvers, Georgica 2,326: „(Vater Äther) steigt herab in den Schoß seiner üppigen Gattin“ (d h der Erde) 26 Die frühen Namengeber haben also bei der Benennung der Erscheinungen den Geschlechtsunterschied gewissermaßen metaphorisch gebraucht Wo nun schon bei der Namengebung der Geschlechtsunterschied aufgrund einer festgestellten Ähnlichkeit übertragen worden war, muss es nahegelegen haben, auch noch bei der Beschreibung der Interaktionen und Beziehungen der Elemente und Kräfte des göttlichen Kosmos zueinander das Analogieverfahren anzuwenden, indem Teile des primären Wortschatzes selber von ihrer bisher festgelegten Referenz zu neuer Signifikanz in den kosmischen Bereich übertragen wurden Die semantischen Felder vertrauter menschlicher Erfahrung – der menschliche Körper, die Familie, der Geschlechtsverkehr – boten sich damals wie jetzt als fruchtbare ‚Quellendomänen‘ an In der Vergilstelle, die Servius zur Illustration des stoischen Prinzips der Geschlechtsdifferenzierung bei den Göttern verwendete, Georgica 2,325 f , sind alle diese drei Metapherntypen enthalten: tum pater omnipotens fecundis imbribus Aether / coniugis in gremium laetae descendit … „Dann steigt der allmächtige Vater Äther in befruchtendem Regen in den Schoß seiner üppigen Gattin herab …“ Es ist eine ansprechende und naheliegende Vermutung, dass die Stoiker 26

Servius zu Aen  4,638 (SVF 2, 1070): … et sciendum secundum Stoicos dicere unum esse deum, cui nomina variantur pro actibus et officiis. Unde etiam duplicis sexus numina esse dicuntur, ut cum in actu sunt mares sint, feminae cum patiendi habent naturam: unde est „coniugis in gremium laetae descendit“ (georg  2,326). Auch verstehen wir jetzt besser, weshalb Jupiter von Balbus mit dem Äther, dem göttlichen Feuer, gleichgesetzt wird, obwohl kurz davor (in § 64) sein Großvater (Uranos/Caelus) als Äther galt: Der Stoiker sieht hier kein Problem, da alle Götter, wie Balbus auch selbst am Ende unseres Abschnitts (§ 71) betont, im Grunde Teilaspekte oder Manifestationen der einen, die ganze Welt durchziehenden Gottheit sind, des Logos oder der Physis, die ihren besonderen Sitz im Äther hat und von dort ausströmend sich durch alle Elemente verbreitet Vgl Philodem, De pietate PHerc 1428 col   6,26 ff Henrichs 1974,  17, Referat aus Chrysippos: „Alles ist Aether, der Vater und Sohn zugleich ist, wie es ja auch im 1 (Buch) heißt, es sei kein Widerspruch, dass Rhea sowohl Mutter als auch Tochter des Zeus ist “ Vgl spezifisch zu unserem Fall Varro ling  5,64: idem hi dei Caelum et Terra Iupiter et Iuno (zu dieser Stelle s unten Kap  4 2 2 )

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

sich vorgestellt haben, dass die alten klugen Männer der Frühzeit ihr Weltbild etwa so formulierten, wie Vergil hier spricht Die kurzen und oberflächlichen Analysen, die Balbus vornimmt, unterstützen diese Annahme Seine Begeisterung über die zwei von ihm angeführten Zeilen aus Euripides weist ebenfalls in diese Richtung Hier haben wir einen Dichter, der wegen seiner massiv anthropomorphen Bildsprache gelobt wird Balbus findet die anthropomorphe Metaphorik, durch die uns das Bild eines Mannes, der seine Ehegattin oder Geliebte umarmt, vor Augen geführt wird, sinnvoll und schön 27 Kritisieren tut er nur solche Dichter, die die Götter als tatsächliche anthropomorphe Wesen darstellen (vgl § 63; 70), und dies gilt ja nachweislich nicht von unserem Fragment Ganz im Gegenteil spricht daraus der Wille, die fehlerhafte Normalvorstellung von Jupiter/Zeus zu korrigieren: „Diesen sollst du für Jupiter halten“ – und nicht den des Kults und der Ikonographie, nicht den Homers Korrekt gehandhabt und verstanden vermag die anthropomorphe Metaphorik etwas Wesentliches über den Äther und seine Funktion im Kosmos auszusagen Wir finden hier dieselben Übertragungsgebiete wie bei Vergil im Georgicavers wieder Wir dürfen annehmen, dass Balbus der Meinung ist, Euripides stelle sich hiermit in die Tradition der ursprünglichen korrekten und nützlichen Berichte, die Begriffe aus alltäglichen und hautnahen Erfahrungsbereichen heranzogen, um die gegenseitigen Verhältnisse und die Wirkung der göttlichen Mächte des Kosmos zu beschreiben und zu erklären Dementsprechend ist Juno Gattin und Schwester Jupiters, „weil sie dem Äther ähnlich und mit ihm engstens verbunden ist“;28 Neptun ist der Bruder Jupiters, „wie wir zu sagen pflegen“ (ut volumus), ein deutlicher Hinweis auf den metaphorischen Charakter der Ausdrucksweise Die Aussaat ist eine geraubte Tochter der Mutter Erde, die wiedergefunden wird, wenn das zarte Getreide hervorsprießt;29 die Jahre sind die Kinder der Zeit, und hinter dem voll entwickelten anthropomorphen Narrativ von der Kastrierung des Himmels durch Saturn, das sekundär mit so viel List, Hass und Schreck gewürzt worden ist, erkennt der Experte den ursprünglichen Kern, in dem dieselbe Kombination dreier Übertragungsgebiete greifbar ist wie im Georgicavers, eine Kombination, die ursprünglich dazu da war, die selbständige Schöpfertätigkeit und Zeugungsfähigkeit der göttlichen Physis, des feurigen Äthers, auszudrücken „Der Himmel schien ihnen ein Vater zu sein und die Erde eine Mutter,“ heißt es bei Aëtios, Plac  1,6, „jener deswegen ein Vater, weil die Regengüsse die Rolle von Samen zu haben schienen, und diese eine Mutter, weil sie ihrerseits diese aufzunehmen und dann zu gebären schien “30 Jupiter heißt im Lateinischen (eigentlich) iuvans pater, selbst ist er Sohn Saturns 27 28 29 30

Noch stärker wird das Bild in der griechischen Fassung unterstrichen, s unten Abschnitt 3 1 1 2 , Anm  91 § 66 … quae est soror et coniunx Iovis, quod et similitudo aetheris et cum eo summa coniunctio Vgl (z B ) Serv zu Aen  1,47 (SVF 2, 1066) Ibid (§ 66) Aëtios Plac 1,6,11 Dox p  296,2 (SVF 2, 1009 p  300, 17 ff ), Text oben Anm  4 angeführt Aëtios verwendet, genau wie Balbus, wenig Sorgfalt darauf, den Lesern/Zuhörern deutlich klarzumachen,

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Was Balbus an den Wurzeln der mythischen Traditionen zu finden meint, sind ursprüngliche Metaphern, mit denen die kosmischen Vorgänge einst in übertragener Weise beschrieben worden sind Wer sich darüber im Klaren ist, dass es sich um Metaphern handelt, bildet sich nicht ein, dass er es bei den Kindern der Zeit oder der Schwester und Gemahlin des Äthers mit menschlich gestalteten und menschlich agierenden Göttern zu tun hat Wer aber dies nicht versteht und deswegen die Metaphern buchstäblich deutet, kann gar nicht umhin, dem irrigen Glauben zu verfallen, dass regelrechte Personen, mit voller Individualisierung und mit allen menschlichen Eigenschaften ausgestattet, gemeint seien Gerade dies muss für die Stoiker der ‚historische‘ Prozess gewesen sein, der zur Anthropomorphisierung, und, in der Verlängerung, zur Mythologisierung der Götter führte Als die Zeit, in der man unverdorben der Natur folgte, verging, ging auch das natürliche Verhältnis zum göttlichen Kosmos verloren; dass die Berichte darüber in Metaphern formuliert waren, wurde nicht mehr verstanden, und deswegen lagen sie folgenschweren Fehldeutungen und Missverständnissen offen Durch allzu buchstäbliches Verständnis der Metaphorik wurden die Teilaspekte der einen Gottheit – die göttlichen Substanzen und Kräfte der Physis – induti specie humana, mit menschlicher Gestalt versehen Dass die frühen Weisen sich einer metaphorischen Ausdrucksweise bedient haben müssen, darf nicht dahingehend gedeutet werden, dass sie selber narrative Mythen geschaffen hätten Balbus ist zu diesem Punkt gelegentlich uneindeutig,31 aber sowohl am Anfang wie teilweise auch am Ende unseres Abschnitts macht er deutlich, dass wir die ursprünglichen Berichte nicht als Narrativ auffassen dürfen Die Mythen – d h das regelrechte Narrativ mit zusammenhängender Handlung und agierenden Rollen – sind erst eine Folge der Vermenschlichung der Gestalt Die Geschlechtsanalogie ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Vermenschlichung gewesen Mit der Übertragung des Wortschatzes ist der Boden vollends dafür vorbereitet Es leuchtet sofort ein, welche Konsequenzen sich ergeben müssen, wenn etwa eine Phrase wie „Schwester und Gemahlin des Zeus“ für bare Münze genommen wird Um nicht davon zu sprechen, wozu eine Literaldeutung von Metaphern, deren Quellenbereich der menschliche Körper und das Sexualleben sind, führen kann „Sie meinten, dass die Substanz des Himmels … die alles allein aus sich selbst erzeugt, von dem Körperteil befreit sein sollte, der nicht zu erzeugen vermag, ohne sich mit etwas anderem zu verbinden “ In der Verlängerung führte die Vernachlässigung dieser Metaphorik zu der vetus (und falsa) opinio von der Kastrierung des Caelus

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auf wessen Gedanken er sich mit den Verben bezieht Es kann jedoch keinem Zweifel unterliegen, dass die Gemeinten im betreffenden Abschnitt die frühen Menschen oder die frühen klugen Männer sind Dafür tritt die Distinktion in den gleich zu besprechenden Stellen aus Aug civ 4,10 und Cicero nat. deor 1,41 deutlich zutage

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

Die fehlerhafte Literaldeutung des Geschlechtsunterschieds und der Metaphorik führt also zur vollen Individualisierung von menschlich gestalteten Göttern, die eine menschliche Familie mit menschlichen Familienbeziehungen bilden Wenn die göttliche Familie einmal etabliert ist, folgt aufgrund davon die Ausgestaltung weiterer menschlicher sozialer Beziehungen und nicht zuletzt der menschlichen Mentalität: Nun werden den Göttern menschliche Gedanken und Gefühle und menschliche Reaktionen zugeschrieben „Alles ist nach dem Muster menschlicher Schwäche umgedeutet worden “ Augustin hat offensichtlich eine klare Vorstellung davon gehabt, dass Distinktionen wie die hier beschriebenen in der paganen theologischen Diskussion eine Rolle gespielt haben In civ  4,10 fingiert er eine Auseinandersetzung mit paganen Gegnern, die in unserem Zusammenhang von Interesse ist Er lässt diese Gegner die Tradition, dass Juno Schwester und Gemahlin Jupiters sei, in derselben Weise philosophisch auslegen wie Balbus in nat. deor 2,66 (civ 4,10 p  157,16 ff ) Als er sie aber im Folgenden herausfordert, indem er ihnen besonders anstößige Mythenstoffe entgegenhält (wie Jupiters Kampf mit Saturn oder die Liebesaffäre der Venus mit Mars), weichen sie nicht in die Allegorisierung aus, sondern weisen diese Geschichten als unwahre fabulae ab (civ 4,10 p  158,18: Absit, inquiunt; fabularum est ista garrulitas; p  159,27: Rursus, inquiunt, ad fabulas redis) Die beschriebene Position entspricht gut der von Lucilius Balbus: Eine ursprüngliche, korrekte, in Metaphern ausgedrückte Theologie sei sekundär und fehlerhaft zum voll anthropomorphen Narrativ entstellt worden 32 Es ist wichtig, zu betonen, dass die ursprünglichen metaphorischen Berichte nach dieser Sichtweise nicht als verschlüsselte Darstellungen geschaffen wurden Wir müssen sie so verstehen, dass die Metaphorik zwar auf sorgfältige und wohlüberlegte Reflexion zurückging, jedoch nicht in der Absicht herangezogen wurde, die Wahrheit zu verdecken Im Gegenteil muss die metaphorische Ausdrucksweise als notwendig verstanden worden sein – der Gedanke ist, dass sie in Ermangelung eines direkt zutreffenden Wortschatzes geschaffen worden sei Mit anderen Worten sei sie nicht dazu da gewesen, von einigen (von der Menge) nicht verstanden zu werden Dass dies mit der Zeit trotzdem eingetroffen sei, gilt als unbeachsichtigt und bedauernswert Das ist ein wichtiger Punkt, der unterstrichen werden muss, nicht zuletzt, weil im späteren Stoizismus, wie wir unten Kap  5 2 sehen werden, auch eine Auffassung von den ursprünglichen Berichten als bewusst verschlüsselter Rede auftritt Auch muss betont werden, dass die negative Beurteilung der Dichter, wie sie bei Balbus festzustellen ist, keineswegs für die von ihm vetretene Entstehungstheorie zwingend ist Ich habe oben

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Meine Rekonstruktion der vermeintlichen Entwicklung berührt sich teilweise eng mit der Art, wie A A Long die Vorstellung der Stoiker vom Ursprung der mythologischen Tradition beschrieben hat (Long 2001, 58‒84; zuerst 1992 erschienen) Eingehender zu Longs gewichtigem Beitrag und zu dessen Bedeutung für das von mir rekonstruierte Modell unten Abschnitt 3 1 1 1 Vgl auch Kap  5 2 1

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Kap  1 4 1 geltend gemacht, dass der Beginn der philosophischen Allegorese des dichterischen Götternarrativs sich besser verstehen lässt, wenn wir annehmen, dass ihre Ausüber die hier beschriebene Vorstellung vom Aufkommen des anthropomorphen Gottesbildes umfasst haben Anders ausgedrückt: Dass die Allegoristen den angeblich allegorisierenden Dichtern die Absicht zuschreiben, ihr eigentliches Anliegen zu verhehlen, bedeutet nicht, dass sie gemeint haben müssen, auch ursprünglich seien die Aussagen über die Götter in verschlüsselter Form ausgedrückt worden Wie ich dort unterstrichen habe, ist es eine praktische Notwendigkeit, den Dichtern eine solche Intention zuzuschreiben, da das Narrativ als solches dem ihm unterschobenen Sinn zuwiderläuft Die Rolle, die ein Allegorist, der dieselbe Auffassung von der Entstehung der anthropomorphen Gottesvorstellung vertritt wie Balbus, dem Dichter des von ihm zu deutenden Narrativs zuschreibt, ist die eines scharfsinnigen Denkers und einsichtigen Theologen, der sich vorgenommen habe, durch besonders sinnvolle Entfaltung des Agierens und des Dialogs der sekundär anthropomorphisierten Götter und meist auch durch indirekte Erschließung der eigentlichen Signifikanz ihrer Namen einem avanzierten Leserkreis durch die ackumulierten falschen Überdeckungen hindurch eine Ahnung von den ursprünglichen, korrekten metaphorischen Äußerungen über die Wirkung des Göttlichen im Kosmos zu vermitteln Hier bietet der Papyrus von Derveni, bekanntlich ein allegorisierender Kommentar eines orphischen kosmogonischen Gedichts, der Einflüsse sowohl von Seiten des Anaxagoras, des Diogenes von Apollonia wie von Empedokles zeigt, einen interessanten Testfall 33 ‚Orpheus‘, der angebliche Dichter des kommentierten Gedichts, wird genau in der beschriebenen Weise vorgeführt Selbst soll er bewusst „in Rätseln“ gesprochen haben (col  7,4 ff ; 9,10; 10,11; 13,5 f ; 17,13; vgl 23,1 ff ) Es wird mitverstanden, dass zu seiner Zeit die fehler33

Oben Kap  1 4 (zur Datierung, s ebenda Anm  54) und unten 3 1 1 2 , bei Anm  76 Zur Nachwirkung vorsokratischer kosmologischer Spekulation im Kommentar s Kouremenos in der Einführung zur Ausgabe von Kouremenos u  al , 2006, 34–45 Baxter beschreibt die Rolle, die der Kommentator dem Dichter zuschreibt, als zweifach: Teils werde ‚Orpheus‘ als Namengeber im eigentlichen Sinne vorgestellt (d h als Erfinder von Benennungen), teils sei seine Tätigkeit gewissermaßen als Neubearbeitung und Korrektur eines schon vorliegenden Wortschatzes gekennzeichnet (Baxter 1992, 134‒139; Nummerierung der Spalten des Papyrus bei Baxter nach ZPE 47, 1982, App ); dabei überwiege der zweite Aspekt (s bes  135) Ein klareres und zusammenhängenderes Bild tritt hervor, wenn wir die Lage so verstehen wie hier von mir beschrieben Als Urheber eines dichterischen Narrativs kann ‚Orpheus‘ nur einer späteren Zeit zugehören als die ursprünglichen Sprachschöpfer, vgl col  23 Seine Sonderstellung besteht in den Augen des Kommentators darin, dass er die Fähigkeit besitze, die ursprüngliche Intention der Namengeber zu durchschauen, oder, gegebenenfalls, den eigentlichen Sinn der auf göttlichem Wege zustandegekommenen Namen (vgl den Papyrus col   21 sowie Baxter 137) Mit anderen Worten sei ihm die eigentliche Signifikanz der Benennungen bekannt, und diese verwende und vermittle er jetzt dem beschränkten Kreis, für den seine verschlüsselte Erläuterung der Entstehung und Beschaffenheit des Kosmos vorgesehen ist Aber dabei steht ihm als Dichter selbstverständlich auch noch die Freiheit zu, über die sprachlichen Ausdrucksmittel schöpferisch zu verfügen, etwa neue sinnvolle Benennungen zu schaffen, Zweideutigkeiten nutzbar zu machen (col   13: αἰδοῖον) und Synonyme und Homonyme anzubringen (col  12: Olympos)

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

hafte Anthropomorphisierung des Pantheons sich durchgesetzt habe (s col  18,10–12 und bes 14 f ; vgl 17,4 und 26,8 f ) Orpheus selbst habe jedoch vollen Einblick in die eigentliche Wahrheit, die er jetzt versuche, in seinem Gedicht den Einsichtigen darzulegen Bei diesem Unternehmen kommen sowohl extensive Etymologisierung wie auch Redewendungen und Denkmuster zur Verwendung, die, korrekt verstanden, die ursprüngliche Metaphorik wachrufen – Sohn und Vater (col  9,2); Mutter (c  22,8–10; 26,1); Amme (τροφός 10,11); Geburt und gebären (14,3; 17,10; 18,13; 21,13); Geschlechtsverkehr (21,4‒9; 26,9 f ; Sonne = männliches Glied 13,4 und 9; 16,1) Dabei werden mehrfach die fehlerhaften Literaldeutungen angeführt und beanstandet (9,2–3; 17,4; 18,10–12 und 14 f ; vgl 20,13 ff und s auch 18,5 f ) Eine Stelle im ersten Buch De natura deorum, auf die ich schon beiläufig hingewiesen habe, beleuchtet in instruktiver Weise die Distinktion zwischen dem metaphorisch formulierten Ursprungsstoff und der sekundär entstandenen Mythologie Der epikureische Gesprächsteilnehmer Velleius liefert in 1,36–41 eine scharfe Kritik an der stoischen Theologie 34 Er beendet seine kritische Übersicht mit folgenden Worten: „In treuer Nachfolge des Chrysippos nimmt Diogenes von Babylon in seinem Buch Minerva die Geburtswehen Jupiters und die Geburt der keuschen Göttin für die Physislehre in Anspruch und trennt sie von der Sage “35 Wie die Wortwahl „trennen“ (deiungere) erkennen lässt, macht Diogenes hier eine wesentliche Unterscheidung Damit scheint er mir der Theorie von zwei getrennten Entwicklungsstufen Rechnung zu tragen Wir finden hier einerseits das ursprüngliche metaphorische Stratum – die Geburt der Athena aus dem Kopf des Zeus – und andererseits das sekundär daraus entstandene anthropomorphe Narrativ (fabula), das demgemäß davon zu unterscheiden sei Wir sind in der glücklichen Lage, den griechischen Text vergleichen zu können, der mit einiger Wahrscheinlichkeit Cicero für diese Bemerkung des Velleius sowie für seine gesamte Kritik gegen die Gotteslehren nicht-epikureischer Philosophen überhaupt zur Vorlage gedient hat, nämlich das gemeinhin Philodem zugeschriebene Werk Περὶ εὐσεβείας (De pietate), das uns in Bruchstücken in den herculanischen Papyri

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Long (wie oben Anm  32) hat uns gezeigt, wie ein bestimmter Teil dieser Kritik (1,41) von der Forschung zu ernst genommen worden ist und damit in ungebührlicher Weise unsere Vorstellungen von der Haltung der Stoiker der mythologischen Dichtung gegenüber beeinflusst hat Dieser herkömmlichen modernen Deutung zufolge seien die Stoiker grundsätzlich Allegoristen gewesen, die im mythologischen Narrativ der alten Dichter verhüllte Weisheit gefunden hätten, etwas was Long mit Recht bestreitet Bezeichnenderweise hat bisher niemand beachtet – auch Long nicht – dass schon der nächste (hier zu besprechende) Satz die herkömmliche Lesung wesentlich einzuschränken vermag S auch den nächsten Abschnitt (3 1 1 1 ) Cic nat. deor 1,41: … Quem / i. e. Chrysippum / Diogenes Babylonius consequens in eo libro qui inscribitur de Minerva partum Iovis ortumque virginis ad physiologiam traducens deiungit a fabula (SVF 3 Diogenes 34 p 217) Diogenes von Seleukeia (auch D von Babylon genannt) wirkte um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts als Schulhaupt der Stoa

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erhalten ist (hier: PHerc 1428 = Henrichs 1974) Sowohl die Kritik an Chrysippos wie die Bemerkung über Diogenes von Babylon haben hier ihre Gegenstücke 36 Philodem vermittelt mehr Information über Diogenes als Cicero Die beiden Fassungen ergänzen sich in vorteilhafter Weise Wir ersehen aus Philodem, dass Diogenes hinter der Tradition von der Geburt der Athena eine ursprüngliche metaphorische Redewendung vermutet, und zwar „Kopf des Zeus“ Der Babylonier Diogenes schreibt in der Schrift Über Athene, dass der Kosmos mit Zeus identisch sei bzw Zeus umschließe wie der Mensch die Seele Weiter, dass die Sonne Apollon sei und der Mond Artemis Und es sei Kindergeschwätz und eine logische Unmöglichkeit, von menschengestaltigen Göttern zu reden 37 Der Teil von Zeus, der bis ins Meer reiche, sei Poseidon, der bis in die Erde Demeter, der bis in die Luft Hera … (col  8,33:) der bis in den Aither Athena Denn das sei damit gemeint, wenn es heiße, „aus dem Kopf “, und „Zeus ist männlich, Zeus ist weiblich“ 38

Auch wenn der uns unmittelbar betreffende Teil des Abschnitts über Diogenes sehr kurzgefasst ist, lässt sich der zugrundeliegende Gedanke ohne Schwierigkeit erkennen: „Zeus“ bezeichnet den ganzen Kosmos oder aber auch, wie es scheint, die Seele des Alls Letztere ist nichts anderes als der göttliche Logos, der sich durch den gesamten Kosmos erstreckt, wie es auch an einer früheren Stelle des Papyrus heißt 39 Er ist der deus pertinens per naturam cuiusque rei (um die Worte des Balbus in nat. deor 2,71 wie36

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Es besteht kein Konsens der Gelehrten darüber, wie sich De natura deorum 1 zu De pietate verhält Zum Problem s Obbink 1996, 96–98 Long (2001, 67 = 1992, 49 f ) betrachtet De pietate als Vorlage Ciceros Dieselbe Position vertritt auch Obbink (2001, 204 f ) und Auvray-Assayas (2001, 227 ff ), während z B Jaeger 1967, 179; Gigante 1987, 62; McKirahan 1996, 874 sowie der Herausgeber des hier aktuellen Teils von De pietate, Henrichs (s 1974, 9), mehr oder weniger nachdrücklich die Meinung vertreten, dass eine gemeinsame Vorlage benutzt worden sei Unter allen Umständen berühren sich die beiden Texte so eng miteinander, dass sie sich ohnehin gegenseitig beleuchten S auch meinen Artikel ‚Prodikos zur Entstehung des Götterglaubens‘ Über den Verfasser von De pietate erfahren wir am Ende des beschädigten Papyrus 1428 nichts mehr als dass sein Name mit einem Φ anfängt (vgl Henrichs 1974, 8 f ; Obbink 1996, 88; 96 f ) Der geläufigen Konvention entsprechend heißt Philodemos hier nichts mehr als der Verfasser von De pietate / Περὶ εὐσεβείας Vgl die ähnliche Äußerung von Chrysippos im selben Papyrus, oben Kap  1 3 , mit Anm  39 bzw unten 3 1 1 1 , mit Anm  53 PHerc 1428 col  8,14‒9,9 Henrichs 1974, 19 = SVF 3 Diogenes 33 p 217 Δ[ι]ογένης δ᾽ ὁ Βαβυλώνιος ἐν τῶι Περὶ τῆς ᾽Αθηνᾶς τὸν κόσμον γράφει τῶι Δ[ιὶ τ]ὸν αὐτὸν ὑπάρ[χει]ν ἢ περιέχειν τ[ὸ]ν Δία καθάπ[ε]ρ ἄνθρωπ[ον ψ]υχήν· κα[ὶ] τὸν ἥλ[ι]ον μ[ὲν] ᾽Απόλλω, [τ]ὴν δ[ὲ σε]λήνην [῎Αρ]τεμιν· [καὶ] παιδα[ρι]ῶδες εἶν[αι] θεοὺς ἀ[ν]θρωποε[ι]δεῖς λ[έγει]ν καὶ ἀδύνατον· ε[ἶ]ν[αί] τε τοῦ Διὸς τὸ μὲν εἰς τὴν θάλ[α]τταν διατετα[κ]ὸς Ποσε[ι]δῶνα, τὸ δ᾽ εἰς τὴν γῆν Δήμητρα, τὸ δ᾽ εἰς τὸν ἀέρα Ἥραν … τ[ὸ] δ᾽ εἰς τὸ[ν] αέρα ᾽Αθηνᾶν· τοῦτο γὰρ λέγ[εσ]θαι τὸ „ἐκ τῆς κεφαλῆς“ καὶ „Ζεὺς ἄρρην Ζεὺς θῆλυς“ Übersetzung von Henrichs ibid PHerc 1428 col  4,12‒20 p 15 (Übersetzung Henrichs ebenda): „… Aber Chrysippos, der alles auf Zeus zurückführt, sagt im ersten Buch Über die Götter, dass Zeus der alles durchwaltende Logos sei und die Allseele …“ (ἀλλ[ὰ μὴν] Χρύσ[ι]π[πος τὸ π]ᾶν ἐπ[ὶ] Δί’ ἀ[νάγων ἐ]ν τῶι πρώιτ[ωι Περὶ θεῶ]ν Δία φη[σὶν εἶναι τὸ]ν ἅπαν[τα διοικοῦ]ντα λόγον [καὶ τὴν] τοῦ ὅλου ψυ[χήν …)

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der aufzugreifen), der je nachdem er die einzelnen Gebiete des Kosmos durchzieht, mit neuen Namen benannt wird, so dass die verschiedenen Einzelgötter im Grunde als Teile oder Teilaspekte von ihm zu betrachten sind So ist Athena für Diogenes der Teil von Zeus, „der bis in den Äther reiche“ (vgl Diogenes Laërtios 7,147 = SVF 2, 1021) ‚Kopf ‘ muss nun als Metapher für den höchsten Teil des Kosmos/Zeus zu verstehen sein, d h den Äther Die Geburt der Athena aus diesem Kopf bildet für Diogenes eine weitere, komplexere Metapher: Hier wird Athena ‚geboren‘, indem die Seele des Alls erst hier zu ‚Athena‘ wird Dass Zeus (= Seele des Alls) sowohl männlich wie weiblich sei, sei ebenso wenig wörtlich zu nehmen, sondern ergebe sich einfach aus dem Umstand, dass gewisse Teile oder Teilaspekte von ihm, beispielsweise gerade Athena, mit weiblichen Namen benannt werden 40 In der Deutung der Tradition von der Geburt der Athena unterscheidet sich Diogenes von seinem Lehrer Chrysippos, dessen diesbezügliche Auslegung bei Cicero unberücksichtigt bleibt, aber von Philodem anschließend behandelt wird (col   9,15–27) Laut Chrysippos bezieht sich diese Tradition auf einen ganz anderen Bereich: Nicht der Kosmos und die Weltseele, sondern die Vernunft (Athena = φρόνησις) und ihr Sitz im menschlichen Körper seien das Thema Die sehr knappe Information, die Philodem dazu gibt, lässt sich aus einer ganz anderen Quelle, Galenos, De placitis Hippocratis et Platonis 3,8 (222 ff De Lacy = SVF 2, 908–909) ergänzen Hier sind uns streckenweise recht umfangreiche wörtliche Zitate aus dem Werk des Chrysippos Über die Seele erhalten In den Kontroversen darüber, wo der Sitz des ‚Zentralorgans‘ (der Denkseele, τὸ ἡγεμονικόν) im menschlichen Körper sei, ist die Sage von der Geburt der Athena offensichtlich als Argument dafür verwendet worden, dass er sich im Kopf befinde Da Chrysippos anderer Meinung ist – nach ihm ist der Sitz des Zentralorgans das Herz – versucht er nun seinerseits, der Sage Argumente für seine Ansicht abzugewinnen, etwas was nicht unerwartet den Spott des Galenos hervorruft Wie sich schon aus meiner kurzen Inhaltsangabe versteht, finden wir hier keine Kopfmetapher, da der Begriff ‚Kopf ‘ im eigentlichen Sinne zu nehmen und auf den menschlichen Kopf zu beziehen ist (die Referenz von ‚Zeus‘ bleibt unbesprochen) Dagegen deutet Chrysippos die Begriffe ‚Geburt‘ (‚gebären‘, τίκτειν) und ‚herunterschlucken‘, ‚verschlingen‘ (καταπίνειν – Zeus hat Metis, die Mutter Athenas, verschlungen) metaphorisch (3,8,16 f p  226 De Lacy) Das Wort ‚Metapher‘ selbst fällt nicht in den angeblich wörtlich aus Chrysippos übernommenen Abschnitten, wird aber im Zusammenhang damit unbefangen von Galenos selbst auf diese Art von Redewendungen angewendet (3,5,17 p  204,14 De Lacy: τοῖς ἐκ μεταφορᾶς λεγομένοις) 41

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Vgl oben Anm  26 (Die dort a E angeführte Äußerung des Chrysippos stammt aus demselben Papyrus ) Galenos zitiert im nächsten Buch (4,6,6 p  270,29–33) eine Äußerung des Chrysippos, in der dieser körperliche Muskeltätigkeit und seelische Kraft vergleicht, wobei er bemerkt, dass die Phrasen

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Während die Deutung des Diogenes m W kaum jemals in der Forschung besprochen worden ist, ist der von Chrysippos recht viel Aufmerksamkeit zugekommen, und zwar nicht zuletzt in der Diskussion, die von A A  Longs Artikel „Stoic Readings of Homer“ ausgelöst worden ist Wie oben schon erwähnt, wollte Long mit diesem Beitrag zeigen, dass entgegen einer lange geltenden Auffassung die Allegorese von Dichtung den Stoikern fremd sei Da Chrysippos seine Analyse anhand der Fassung Hesiods vornimmt, bot sie sich wie selbstverständlich als Argument gegen Long an, der zwar nicht versäumt hatte, selbst den Fall zu besprechen, dem aber nun der Vorwurf gemacht wurde, den allegorischen Charakter dieser Deutung ungebührend bestritten zu haben Da ich im nächsten Abschnitt Longs Beitrag und dessen Bedeutung bespreche, lassen sich meine weiteren Bemerkungen zur Beurteilung der Frage besser dort anbringen Ein weiteres, wenn auch sehr viel schwächer bezeugtes Beispiel dafür, wie Chrysippos einen mythologischen Stoff in seinem Sinne ausgelegt haben soll, wird dort ebenfalls besprochen werden: eine angebliche Bilddarstellung obszönen Charakters 3.1.1.1. Die Bedeutung der Ergebnisse von A. A. Long Meine Rekonstruktion dieses Gedankenmodells ist von A A Long und von G R  Boys-Stones entscheidend mit angeregt worden Zwar gehört das anthropomorphe Gottesbild nicht zum eigentlichen Anliegen dieser Gelehrten Das verringert jedoch in keiner Weise die Bedeutung ihrer Ergebnisse für die hier aktuelle Frage In seiner erstmals 1992 veröffentlichten Untersuchung „Stoic Readings of Homer“ setzt sich Long das Ziel, zu zeigen, dass die von der Wissenschaft lange Zeit praktisch als Selbstverständlichkeit akzeptierte Vorstellung, Allegorese der frühgriechischen Dichtung habe zum stoischen Programm gehört, aufgegeben werden sollte Zu einem guten Teil gehe diese Fehlvorstellung auf eine allzu bereitwillige Akzeptanz einer polemisch zugespitzten Beschuldigung zurück, die Velleius in De natura deorum 1,41 gegen Chrysippos richtet 42 Sofern die Stoiker ihr Interesse dem mythologischen Narrativ zuwendeten, seien sie nicht darauf aus gewesen, eine vom Dichter selbst hineingelegte Wahrheit bloßzulegen Vielmehr hätten sie sich von dem Glauben leiten lassen, dass in der Dichtung Reste theologischer Berichte aus der frühen Zeit, in der die Gotteserkenntnis der Menschen direkt und unverdorben gewesen sei, enthalten sein könn-

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ἄνευρος und νεῦρα ἔχειν („ohne Muskeln“ und „Muskeln haben“) als Metaphern (κατὰ μεταφοράν) für seelische Kraftlosigkeit bzw Kraft geläufig seien Vgl oben Anm  6 Long, bes 2001, 66 = 1992, 49 (vgl oben Anm  34) Mit gutem Grund sieht Long in Philodemos, De pietate eine der Quellen für De natura deorum 1, s oben Anm  36 Der Text von col  6,16–26 Henrichs 1974 p  17 ist der Aussage des Velleius in nat. deor 1,41 sehr ähnlich S hier oben 3 1 1 (m  Anm  35; 37‒40) zu Diogenes von Babylon in beiden Texten

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ten Diese Fragmente, die, unabhängig von der Intention der Dichter und ohne von diesen verstanden oder erkannt zu werden, mitsamt der von ihnen verwendeten Überlieferung in ihre Dichtung eingeflossen seien, hätten die stoischen Denker aufspüren wollen, in der Hoffnung, sie sorgfältig von den Spuren sekundärer Fehldeutung und von akkumulierten fiktiven Überlagerungen zu säubern und in dieser Weise die einstige Wahrheit über Welt und Götter wiedergewinnen zu können Dass Long das vorherrschende Bild von den eifrig allegorisierenden Stoikern entscheidend korrigiert hat, ist von der Forschung bereitwillig genug anerkannt worden Freilich ist auch die Kritik nicht ausgeblieben V  a ist eingewendet worden, dass er zu kategorisch den Stoikern jede literarische Allegorisierung abspreche 43 Auch hat Longs nachdrückliche Forderung einer Unterscheidung zwischen Etymologie einerseits und Allegorie (Allegorese) andererseits Kritik ausgelöst 44 Es dürfte schwer zu bestreiten sein, dass die Kritik teilweise berechtigt ist Long ist in seinen Schlussfolgerungen zu kategorisch 45 Aber dessen ungeachtet bedeutet Longs Artikel einen wichtigen Einschnitt Er hat bisher vernachlässigte Distinktionen aufgedeckt und hat dadurch neue Voraussetzungen für ein korrektes Verständnis der antiken philosophischen Theologie geschaffen Dass die Frage nach Wert und Sinn des anthropomorphen Gottesbildes bisher nicht als wissenschaftliches Untersuchungsfeld wahrgenommen wurde, hängt u a damit zusammen, dass die von Long eingeführten Distinktionen verkannt worden waren Erst durch die Unterscheidung zwischen den vermeintlichen Resten alter, ursprünglicher Theologie, die die Stoiker hinter dem mythologischen Narrativ zu finden hofften, und dem von den Dichtern selber geschaffenen mythologischen Narrativ gewinnen wir eine Basis für das Verständnis des Entwicklungsprozesses, der in den Augen der Stoiker (und anderer Denker vor und nach ihnen) zur falschen Vorstellung von menschengestalteten Göttern geführt

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Tielemann 1996, 220 Anm  6; 221 Anm  9; Struck 2004, 113 f ; Goulet 2005, 113 f ; Whitman 2003, 36, Anm  6 Die Kritik hält sich nicht immer an dieselben Definitionen von Allegorie und Allegorese wie Long selbst, was zu gewissen Verdrehungen der Debatte führt Allegorese bedeutet für Long immer Aufdeckung eines ins Narrativ vom Dichter selbst (tatsächlich oder vermeintlich) hineingelegten Sinnes Vgl oben 1 4 und unten Anm  49 S auch meinen Artikel 2012 Vgl Whitman 2003, 36 Anm  6; Goulet 2005, 113 f So z B ist Cornutus – trotz Longs gegenteiliger Versicherungen – sowohl am Wiedergewinnen der Reste ursprünglicher Weisheit wie an den Intentionen der Dichter selber interessiert Vgl Most 1989, bes 2025 (Zu Cornutus s hier unten Kap  5 2 und 5 2 1 ) Mosts einflussreicher ANRW-Beitrag berührt sich teilweise eng mit Longs Artikel, was auch von Long ausdrücklich anerkannt wird Aber im Gegensatz zu Long besteht Most darauf, dass für die Stoiker die Methoden der Exegese vom untersuchten Stoff unabhängig gewesen seien, und er hält deswegen eine terminologische Differenzierung von ‚literary allegoresis‘ einerseits und ‚allegorical explanation‘ im Allgemeinen für unnötig, oder, wenn ich ihn richtig verstehe, gar für verwerflich (ebenda 2024) In dieser Hinsicht ist ihm Long weit voraus S noch unten Anm  49 Zu beachten ist, dass gerade Cornutus das anthropomorphe Gottesbild nicht als Dekadenzphänomen betrachtet, ein Umstand, der, wie wir sehen werden, für seine Strategien von Bedeutung ist, s  unten Kap  5 2

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habe In den Versuchen, die altübernommenen Reste aufzuspüren, wurden die Götternamen analysiert und ihre ursprüngliche Signifikanz gesucht Die Allegorese, dagegen (in dem von Long postulierten Sinne), galt dem voll ausgebildeten Narrativ und dem vom Dichter darin hineingelegten, tieferen Sinn Long tut durchaus daran recht, Etymologie und Allegorese zu trennen: Ersteres Instrument wird u U in einem Kontext angewendet, in dem Allegorese gar nicht in Frage kommen kann 46 Zwar kommen wir mit den Kategorien Etymologie und Allegorese nicht aus, sondern müssen weitere Distinktionen einführen Denn wie wir oben am Anfang des Abschnitts 3 1 1 gesehen haben, bietet die Etymologie allein dem stoischen Philosophen kein genügendes Instrument, das Weltbild der frühen Menschen zurückzugewinnen, Longs Versicherungen zum Trotz 47 Die Namen und die Epithete der Götter, denen die etymologische Analyse gilt, reichen nicht an sich aus, um das von Long postulierte, von ihm als „Proto-Mythos“ („proto-myth“) bezeichnete Substrat der späteren Mythologie zu bilden Der Namengebung, deren ursprünglicher Inhalt mit Hilfe der Etymologie zurückgewonnen werden sollte, stelle ich deshalb die Tätigkeit zur Seite, in der die Namengeber sich daran machten, die Interaktionen und Beziehungen der Erscheinungen und Elemente des göttlichen Kosmos zueinander zu beschreiben Meiner These entsprechend nehmen wir dabei an, dass damit gerechnet wurde, dass zu diesem Zweck bestimmte Teile des schon vorliegenden Wortschatzes über ihre bisherige, buchstäbliche Funktion hinaus nun außerdem noch in übertragenem Sinne verwendet worden seien Erst so können wir mit Recht von einem ‚Proto-Mythos‘ sprechen, dem metaphorischen Diskurs der ‚Köpfe‘‚ ‚Umarmungen‘, ‚Ehen‘, ‚Geburten‘, ‚Väter‘, ‚Mütter‘ u a m , der den Ausgangspunkt der hier postulierten Entwicklung bildet, die in der Vorstellung von einer regelrechten Götterfamilie endet und in der Verlängerung zur mythologischen Dichtung führt Nach dem Wortlaut einer bestimmten Stelle seines Artikels zu urteilen, ist Long hart daran vorbeigesteuert, tatsächlich ein Modell dieser Art vorzuschlagen 48 46

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Etymologische Spekulation und Allegorese treten oft genug nebeneinander in der Deutung dichterischer Narrative auf (vgl Goulet 2005, 113; Sluiter 2015, 913) Wer aber wie Lucilius Balbus in De natura deorum 2 das mythologische Narrativ ganz und gar ablehnt, schreibt ihm selbstverständlich nicht doch noch eine versteckte philosophische Signifikanz zu Long 2001, 71 = 1992, 54: „Etymology, that is, analysis of the original meaning of names, enables the Stoic philosopher to recover the beliefs about the world held by those who first gave the gods their present names “ Vgl auch ebenda: „Behind the earliest Greek poetry, and distortedly present in it, are ways of understanding the world whose basic correctness the Stoic interpreter, through etymology, can reveal “ Long 2001, 70 = 1992, 53: „At some time in the remote past, on this view, certain people intuited basic truths about nature They expressed these, however, in a symbolical mode that was easy to misinterpret as independently valid “ (Meine Hervorhebung ) In einer Anmerkung (n  26) macht Long auf eine besondere Formulierung aufmerksam, mit der C Aurelius Cotta in seiner Kritik bestimmte Strategien des Balbus und der stoischen Theologie im Allgemeinen charakterisiert (De natura deorum 3,63): commenticiarum fabularum reddere rationem, vocabulorum cur quidque ita appellatum sit causas explicare Schon im vorangehenden Paragraphen hat Cotta die Frage gestellt, „iam vero quid vos illa delectat explicatio fabularum et enodatio

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Nun hat er es nicht getan, aber dennoch sind wir dank seiner Leistung schon ein gutes Stück unterwegs, nicht zuletzt weil de facto mit der folgenschweren Verwechslung von philosophischem Verständnis der Götter einerseits und philosophischer Auslegung des mythologischen Narrativs andererseits, die seit jeher in der wissenschaftlichen Literatur wuchert, aufgeräumt wird Dass die Stoiker die traditionellen Götter gemäß der stoischen Theologie verstanden haben, haben sie selbst nicht als ‚Auslegung‘ oder ‚Deutung‘ der Kultgötter empfunden; für sie repräsentiert diese Sichtweise die ursprüngliche Wahrheit selbst Diese Auffassung von den Göttern ist vom mythologischen Narrativ oder von Mutmaßungen zu seiner Bedeutung unabhängig – obwohl sie selbstverständlich auch im mythologischen Narrativ gesucht werden kann und auch in den Intentionen eines Dichters wiedergefunden werden kann In dem vermeintlichen historischen Prozess ist sie primär; das mythologische Narrativ gilt dagegen als Erzeugnis späterer Zeiten M  a  W ausgedrückt: Long lehrt uns – oder sollte uns gelehrt haben – endlich einmal klar zu erkennen, dass philosophische Integration der traditionellen Götter nicht mit allegorischer Deutung des mythologischen Götternarrativs gleichgesetzt werden darf 49 Ein bestimmter Punkt der Kritik, die gegen Long vorgebracht worden ist, soll hier zur Sprache gebracht werden, und zwar die Beurteilung, die Chrysippos und seine Deutung der Sage von der Geburt der Athena durch Long erfahren 50 Es ist offensichtlich, dass Chrysippos damit rechnet, dass die anthropomorphisierte Tradition von der Geburt der Athena aus dem Kopf des Zeus nicht von Hesiod erfunden worden sei, sondern dass dieser sie als vorgegeben in sein Narrativ aufgenommen habe, einschließlich der dem anthropomorphen Narrativ zugrundeliegenden Metaphern καταπίνειν‚ ‚verschlingen‘, ‚herunterschlucken‘ und τίκτειν ‚gebären‘ (Galenos,

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nominum?“ Wie ich diese Worte deute, bezieht sich Cotta hier gerade auf die Distinktion zwischen der Untersuchung der Namen und des Grundwortschatzes, die die Namengeber geschaffen hätten, einerseits, und der Analyse der mythologischen Tradition mit dem Ziel, das komplexe, vornehmlich durch Übertragung des vorhandenen Wortschatzes formulierte frühe Weltbild wiederzugewinnen, andererseits S dazu oben Kap  1 4 und 1 4 Ich hoffe, hiermit klargemacht zu haben, weshalb wir sowohl im Hinblick auf Methoden wie auf Untersuchungsgegenstände der theologischen Reflexion der antiken Philosophie Verschiedenes auseinanderhalten sollten Im Grunde genommen ist es dabei nicht entscheidend, welche Terminologie wir verwenden, vorausgesetzt dass sie konsequent und durchsichtig ist Vom Standpunkt moderner Allegorieforschung aus betrachtet mag es uninteressant oder überflüssig erscheinen, die Strategien und Ausgangspunkte etwa des Lucilius Balbus in De natura deorum 2, des Derveni-Kommentators, des Cornutus, des Maximos und des Porphyrios auseinanderzuhalten Für das Verständnis der antiken Reflexion selber ist eine klare Unterscheidung der verschiedenen Methoden und Intentionen der Interpreten jedoch fundamental Wollen wir den Begriff ‚Allegorese‘ (‚allegorical interpretation‘) verwenden, sollten wir, der Anregung von Long folgend, uns ein für alle Mal vornehmen, ihn grundsätzlich für die philosophische Auslegung literarischer Narrative zu reservieren Alles andere führt zu Missverständnissen und Unklarheiten Vgl unten 5 2 1 Long 2001, 76 = 1992, 58 f S Tielemann 1996, 223; Struck 2004, 113 f ; Goulet 2005, 113; 115 f Zum Inhalt und Charakter der Deutung vgl oben 3 1 1 a E

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Plac 3,8,16 f p 226 De Lacy) Andererseits scheint Chrysippos davon ausgegangen zu sein, dass Hesiod die tiefere Signifikanz der Geschichte selbst verstanden und bewusst intendiert habe Wenn dieser Eindruck korrekt ist, müssen wir, wie ich glaube, zugeben, dass Long zu weit geht, indem er Chrysippos alle „allegorization“ abspricht Chrysipps Methode und seine Vorstellungen von den Intentionen und Voraussetzungen des Dichters unterscheiden sich kaum von denen der frühen allegorisierenden Homerdeuter, wie ich diese oben Kap  1 4 und 1 4 1 skizziert habe 51 Es lässt sich kaum bestreiten, dass Chrysippos sich ein Bild von Hesiod gemacht hat, nach dem dieser bewusst eine alte Tradition in seine Theogonie aufgenommen hat, die schon anthropomorphisierte Götter mit (weitgehend) anthropomorphem Benehmen enthielt, und dass er meinte, dass der Dichter die ursprüngliche Signifikanz dieser Tradition (mitsamt der Bedeutung der anthropomorphen Metaphern) verstanden und selbst intendiert hat Es fällt deshalb schwer zu leugnen, dass es sich hier um Allegorese (in dem von Long selbst postulierten Sinne) handelt Die Beschuldigung des Velleius scheint also letztendlich nicht ganz grundlos zu sein Der nicht zu bestreitende Umstand, dass Chrysippos sich eher für die Tradition als für den Dichter selbst interessiert,52 schränkt diese Schlussfolgerung nicht ein, da Chrysippos der Meinung ist, dass der Dichter die Genese der Tradition und die ihr zugrundeliegende Bedeutung verstanden habe Dennoch wird Chrysippos dadurch kaum zu einem Vollblutsallegoristen Dass er sonst viele Dichterstellen anführt und diese in eigentlicher Bedeutung auslegt – Galenos verzeichnet sie mengenweise – fällt dabei nicht ins Gewicht Denn selbstverständlich hat Chrysippos, wie die meisten antiken Leser, alle unproblematischen Teile der Dichtung in eigentlicher Bedeutung verstanden Die Probleme beschränkten sich im Grunde auf das Götternarrativ, d h auf solche Inhalte wie die gerade besprochene Sage, und auf sonstige übernatürliche Elemente, die der Erfahrung zuwiderliefen und deswegen nach einer anderen Deutung verlangten Ernsthaft gegen Chrysippos als allegorisierenden Interpreten mythologischer Dichtung spricht dagegen eine bestimmte Bemerkung bei Philodem, und zwar die von mir schon im einleitenden Kapitel besprochene Stelle Dort erfahren wir, dass Chrysippos die Gewohnheit, in Wort und Bild die Götter menschengestaltet darzustellen, als kindisch bezeichnet habe 53 Wer eine so starke ausdrückliche Verurteilung aller Manifestationen des anthropomorphen Gottesbildes 51

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Auch inhaltlich liegen Berührungspunkte vor Nach Platon, Kratylos 407a zu urteilen, müssen ähnliche Vorstellungen von Athena wie die hier von Chrysippos befürwortete in der Homerexegese zur Zeit Platons geläufig gewesen sein Und, sagt Sokrates ebenda, diese Auffassungen von Athena stimmen mit denen ‚der Alten‘ (οἱ παλαιοί) überein Vgl Tielemann 1996, 225; 221 Anm  9; Goulet 2005, 116 Philodemos, De pietate col 5,28–32 = p 16 Henrichs 1974 Oben Kap  1 3 , mit Anm 39 „In Wort und Bild darzustellen“ ist meine Übersetzung der Phrase λέγεσ[θαι] [κ]α[ὶ] γράφε[σ]θαι κα[ὶ] πλάτ[τε]σθαι ([θε]οὺς ἀνθρω[ποειδεῖς]) Die passivischen Infinitive λέγεσ[θαι] [κ]α[ὶ] γράφε[σ] θαι κα[ὶ] πλάτ[τε]σθαι beziehen sich jeweils auf die Erzähltradition, die Malerei und die Skulptur

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ausspricht, einschließlich der Rede von so gestalteten Göttern, von dem würde man nicht erwarten, dass er bereit sei, anzuerkennen, dass das dichterische Narrativ, in dem solche Götter als Rollenträger auftreten, sinnvolle philosophische Lehre vermitteln könne Dagegen lässt sich bei genauerem Zusehen feststellen, dass ein anderer Fall, der gemeinhin als Allegorese des Chrysippos gilt, als Argument gegen Longs Standpunkt ungeeignet ist Es handelt sich hier nicht um einen Text, sondern um eine bildliche Darstellung Chrysippos soll das Motiv – Hera treibt mit Zeus Oralsex – im Sinne der stoischen Physik ausgelegt haben, und wir hätten es also mit einem Beispiel stoischer Bildallegorese zu tun 54 In Wirklichkeit lässt der Fall sich durchaus mit Longs These in Einklang bringen – etwas, was Long selbst allerdings übersehen zu haben scheint 55 In meinem Artikel 2012 habe ich die diesbezügliche Evidenz einer eingehenden Musterung unterzogen, und ich kann mich deshalb über Hintergrund und Forschungsgeschichte einigermaßen kurz fassen Wie ich dort gezeigt habe, lässt eine eingehende Betrachtung der Bezeugung des Bildes sowie seiner Deutung durch Chrysippos einen wesentlich anderen Eindruck entstehen als ihn die einschlägige wissenschaftliche Literatur vermittelt Vier Textstellen bilden die gesamte Unterlage der Diskussion Der Umstand, dass diese bei von Arnim auf Grund thematischer Verwandtschaft nebeneinanderstehen (SVF 2, 1071–1074), mag der falschen Vorstellung von einem einheitlichen Inhalt den Boden bereitet haben In Wirklichkeit widersprechen sich die vier Fragmente in fast allen Punkten Von einem Bild ist nur in den beiden Fragmenten 1072 und 1074 die Rede Dabei wird dieses Bild in einem Fall in Argos, im anderen in Samos angesiedelt In den beiden anderen Fragmenten scheint es sich eher um einen Text als um eine bildliche Darstellung zu handeln Als wohl verhängnisvollsten Missgriff der Debatte wage ich die geläufige Zuweisung von SVF 2, 1072 zu einem (sonst unbekannten) Werk des Clemens Alexandrinus zu bezeichnen 56 Ein falscher Schein der Autorität umgibt seitdem diesen kleinen Abschnitt aus dem frühchristlichen Roman, der sich als Selbstbiographie des Klemens von Rom ausgibt, den sog pseudoklementinischen Homilien (genauer: Hom 5,18,5–6) 57 Wir finden hier den Hinweis auf „das Bild in Argos“, das Chrysippos erwähnt haben soll, in einem Liebesbrief, in dem dafür argumentiert wird, dass die Adressatin nicht zögern solle, ihrem Liebhaber nachzugeben, da unge54 55 56 57

Die Rubrik, unter der dieser Fall von Meijer 2007, 104, behandelt wird, „Degrading pictural scenes Stoically explained“, erweckt den Eindruck, als seien mehr solche Fälle bekannt, jedoch wird von Meijer nur dieser behandelt und sonst keiner mehr erwähnt Vgl die parenthetische Bemerkung, mit der er die Interpretation des Chrysippos kommentiert: „(Do we know he was utterly serious in doing so?)“ (Long 2001, 75 f = 1992, 58) Den „Römischen Homilien“ Ich vermute, dass dieser Titel aus einer Missdeutung der Quellenangabe zum Fragment bei von Arnim entstanden ist Vgl Verf 2012, Anm  9 Die Zuweisung an Clemens Alexandrinus ist beinahe allgegenwärtig Zu den wenigen Ausnahmen gehören jedenfalls Goulet (2005, 115 Anm  57) und Gourinat (2005 a, 10 Anm  1)

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hemmte sexuelle Verbindungen göttliche Sanktion hätten und zudem auch von namhaften Philosophen empfohlen und praktisiert worden seien 58 Dementsprechend ist von einer Auslegung des Bildes im Sinne der stoischen Physik keine Rede Im Gegenteil erhalten das Bild und seine Erwähnung durch Chrysippos ihre Funktion allein kraft des unmittelbaren, konkreten Inhalts des Motivs – so bilden sie einen Teil der Befür wortung von freien sexuellen Verbindungen Es wird impliziert, dass Chrysippos selbst, indem er das Bild erwähnt habe, dasselbe Ziel verfolgt habe Gewiss wird damit in nicht ungeschickter Weise an bestimmte Züge der frühstoischen politischen Theorie angeknüpft 59 Dennoch sollten wir uns hüten, dem Text unreservierten Glauben zu schenken Auch sollten wir den angegebenen Werktitel des Chrysippos, Ἐρωτικαὶ ἐπιστολαί, Liebesbriefe, mit Skepsis betrachten Angesichts des besonderen Kontexts bei Pseudo-Klemens erscheint gerade dieser Titel doch wohl etwas verdächtig Chrysippos ist zugegebenermaßen ein überaus produktiver Autor gewesen 60 Aber um so leichter mag es gewesen sein, ihm noch weitere Werke zu unterschieben Als Bezeugung eines Bildes, das von Chrysippos nach stoischen Prinzipien ausgelegt worden sei, bleibt allein SVF 2, 1074, oder Origenes, Cels 4,48 Origenes siedelt das Bild in Samos an, nicht in Argos Das Motiv wird nicht näher beschrieben; wir erfahren nur, dass es Hera in einer lieber nicht zu nennenden Akt mit Zeus darstelle (γραφὴν τὴν ἐν Σάμῳ, ἐν ᾗ ἀρρητοποιοῦσα ἡ Ἥρα τὸν Δία ἐγέγραπτο; beachte die Vergangenheitsform ἐγέγραπτο) Chrysippos habe das Motiv so gedeutet, dass hier die Materie (Hera = ὕλη) die spermatikoi logoi, die „Keimkräfte“, die die geordnete Erschaffung der Welt ermöglichen, vom Gott (= Zeus) empfange und in sich hege 61

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Näheres zu diesem – in doppeltem Sinne fingierten – Liebesbrief in meinem Artikel 2012, 471 f Der Brief soll, wie sich versteht, von einem paganen Verfasser geschrieben worden sein Indirekt handelt es sich hier natürlich um antipagane Polemik, die sich freilich nicht an pagane Leser richtet, sondern dazu da ist, dass der christliche Empfängerkreis daran Spaß haben soll Im unmittelbarsten Kontext soll der Fall als positives Beispiel dienen Vgl z  B SVF 1, 269; 3, 743–747 S meinen Artikel 2012, Anm  12 Wie wir in der Vita Persi erfahren, soll die Bibliothek dieses Dichters u a rund 700 Werke des Chrysippos umfasst haben (s Persius, BT-Ausgabe von Kissel, 2007, p  43,33 bzw Oxfordausgabe von Clausen, 1959, p  33,37) Origenes Cels 4,48 (SVF 2,  1074; p 265 Marcovich):  … καὶ τί με δεῖ καταλέγειν τὰς περὶ θεῶν ἀτόπους Ἑλλήνων ἱστορίας, αἰσχύνης αὐτόθεν ἀξίας καὶ ἀλληγορουμένας; Ὅπου γε ὁ Σολεὺς Χρύσιππος, ὁ τὴν Στοὰν τῶν φιλοσόφων πολλοῖς συγγράμμασι συνετοῖς κεκοσμηκέναι νομιζόμενος, παρερμηνεύει γραφὴν τὴν ἐν Σάμῳ, ἐν ᾗ ἀρρητοποιοῦσα ἡ Ἥρα τὸν Δία ἐγέγραπτο Λέγει γὰρ ἐν τοῖς ἑαυτοῦ συγγράμμασιν ὁ σεμνὸς φιλόσοφος, ὅτι τοὺς σπερματικοὺς λόγους τοῦ θεοῦ ἡ ὕλη παραδεξαμένη ἔχει ἐν ἑαυτῇ εἰς κατακόσμησιν τῶν ὅλων· Ὕλη γὰρ ἡ ἐν τῇ κατὰ τῆν Σάμον γραφῇ ἡ Ἥρα καὶ ὁ θεὸς ὁ Ζεύς „Aber warum soll ich die abgeschmackten Göttergeschichten der Griechen weiter aufzählen, über die man sich genauso sehr schämen muss, wenn sie als Allegorien verstanden werden? Um nur ein Beispiel zu nennen: Chrysippos von Soloi – angeblich dafür bekannt, das Ansehen der Philosophenstoa mit vielen klugen Schriften erhöht zu haben – gibt eine schiefe Deutung vom Gemälde in Samos, auf dem Hera in einem lieber zu verschweigenden Akt mit Zeus dargestellt war Der ehrwürdige Philosoph sagt nämlich in seinen Schriften, dass die Materie die

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Auch SVF 2, 1073 stammt von einem christlichen Autor, und zwar von Theophilos, der etwa um eine Generation älter als Origenes gewesen sein dürfte Im dritten Buch an Autolykos erwähnt dieser, dass Chrysippos berichtet haben soll, wie Hera mit ihrem schmutzigen Mund mit Zeus Sex treibt 62 Da kein Wort über ein Bild geäußert wird, müssen wir den Schluss ziehen, dass Theophilos an eine Geschichte denkt, sei es, dass Chrysippos diese erfunden habe, sei es, dass er sie als bekannt vorgegeben habe Der Text lässt nichts von einer besonderen Deutung durch Chrysippos verlauten Das Fragment 1071, Diogenes Laërtios 7,187 f , spricht ausdrücklich nur von einer ἱστορία, einer Geschichte also, und zwar einer, die Chrysippos selbst erfunden haben soll; sein Ausgangspunkt sei dabei τὰ περὶ τὴν Ἥραν καὶ τὸν Δία, d h , wie es scheint, eine bekannte Tradition Da Hera zuerst genannt wird, denken wir wohl in erster Linie an die berühmte Szene in der Ilias, in der Hera mit verführerischen Künsten Zeus in die Falle lockt (Il 14,159 ff ) In der nicht genauer beschriebenen Geschichte soll Chrysippos einen positiven „physischen“ Inhalt (nicht angegebener Art) gefunden haben 63 Der Abschnitt bietet der Deutung insofern Schwierigkeiten, als die Behauptung, die Geschichte sei von Chrysippos erfunden worden, noch mit einem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass sie in Büchern über Gemäldekunst nicht zu belegen sei, bekräftigt wird Diese überraschende Auskunft taucht völlig unvermittelt auf – von einem Gemälde war bisher keine Rede Wie ich schon in meinem Artikel betont habe, liegt der Verdacht nahe, dass der Text in der Form, wie wir ihn lesen, nicht vollständig ist Bekanntlich ist die Tradition des Diogenes Laërtios nicht einwandfrei Auch zu unse-

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spermatikoi logoi des Gottes aufnehme und zum Zweck der Einrichtung des Alls in sich hege Denn auf dem Gemälde in Samos sei Hera die Materie und Zeus der Gott “ Theophilos Antiochenos (Autol 3,8,2 = SVF 2, 1073): Χρύσιππος δὲ ὁ πολλὰ φλυαρήσας, πῶς οὐχὶ εὑρίσκεται σημαίνων τὴν Ἥραν στόματι μιαρῷ συγγίνεσθαι τῷ Διί; D L 7,187 f = SVF 2, 1071 (245 Hülser): Εἰσὶ δὲ οἳ κατατρέχουσι τοῦ Χρυσίππου ὡς πολλὰ αἰσχρῶς καὶ ἀρρήτως ἀναγεγραφότος ἐν μὲν γὰρ τῷ Περὶ τῶν ἀρχαίων φυσιολόγων συγγράμματι αἰσχρῶς τὰ περὶ τὴν Ἥραν καὶ τὸν Δία ἀναπλάττει, λέγων κατὰ τοὺς ἑξακοσίους στίχους ἃ μηδεὶς ἠτυχηκὼς μολύνειν τὸ στόμα εἴποι ἄν αἰσχροτάτην γάρ, φασί, ταύτην ἀναπλάττει ἱστορίαν, εἰ καὶ ἐπαινεῖ ὡς φυσικήν, χαμαιτύπαις μᾶλλον πρέπουσαν ἢ θεοῖς, ἔτι τε καὶ παρὰ τοῖς περὶ πινάκων γράψασι κατακεχωρισμένην· μήτε γὰρ παρὰ Πολέμωνι μήτε παρ᾽ Ὑψικράτει, ἀλλὰ μηδὲ παρ᾽ Ἀντιγόνῳ εἶναι, ὑπ᾽ αὐτοῦ δὲ πεπλάσθαι „Es gibt Leute, die Chrysippos deswegen tadeln, weil er viel Schändliches und lieber nicht zu Nennendes geschrieben habe So gestalte er in seinem Werk Über die alten Naturphilosophen in schamlosester Weise die Geschichte von Hera und Zeus um Diese Darstellung, die niemand wiedergeben könne, ohne sich den Mund zu besudeln, finde sich um die Zeile 600 Er gestalte, sagen sie, die Geschichte in äußerst unanständiger Weise um, und es helfe nichts, dass er sie als physisch lobe – sie gezieme sich eher für Prostituierte als für Götter, und sie sei auch nicht bei den Autoren, die über Gemäldekunst geschrieben haben, bezeugt – weder bei Polemon, noch bei Hypsikrates, und nicht einmal bei Antigonos; kurz: Er habe sie selber erfunden “ (Meine Übersetzung) Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Phrase κατὰ τοὺς ἑξακοσίους στίχους einen Stellenhinweis bildet (ein entsprechender Fall findet sich kurz nach unserer Stelle, im nächsten Paragraphen 188) In diesem Sinne ist meine Besprechung des Abschnitts (2012, Anm  16 und 17), zu berichtigen Ich danke Egil Kraggerud dafür, dass er die Verbesserung angeregt hat Zur dieser Art, Texte zu gliedern, s den Artikel „Stichometrie“ in DNP 11, 2001, 990 (Damschen)

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rem Abschnitt bieten die Codices Lesarten, die offensichtlich fehlerhaft sind Die Ergänzung von Casaubon ist notwendig, wie der unmittelbar folgende Wortlaut zeigt 64 Die Annahme einer Lücke (etwa von einer Zeile, oder mehr) dürfte jedenfalls attraktiver sein als die alternative Lösung, dass Diogenes ohne es wahrzunehmen sich einen Gedankensprung so auffallender Art geleistet hätte Nehmen wir als beste Lösung des Problems eine solche Lücke an  – was hätte wohl im ausgefallenen Stück gestanden? Der Umstand, dass gerade die Literatur zur Gemäldekunst im Folgenden herangezogen wird, deutet darauf, dass gemeint ist, Chrysippos habe im Zusammenhang mit der betreffenden Geschichte auf eine bildliche Darstellung davon hingewiesen Die nicht spezifizierten Quellen, denen Diogenes nach eigener Aussage hier folgt, müssen eingewendet haben, dass eine solche Bilddarstellung nicht existiere – denn wir haben ja gesehen, dass sie darauf hingewiesen haben sollen, dass die Kunstbücher schweigen (wie wir den Text lesen, schweigen sie über die Geschichte – ταύτην … ἱστορίαν) 65 Welche Funktion hätte ein Hinweis auf die Bilddarstellung für Chrysippos gehabt? Fest steht, dass im Zentrum der Darstellung bei Diogenes Laërtios eine ἱστορία, eine Geschichte, steht, die Chrysippos in seinem Werk Über die alten Naturphilosophen erwähnt oder wiedergegeben haben soll, und die er dabei im Sinne der stoischen Physik ausgelegt haben soll Diese Geschichte ist angeblich ohne Gewähr; so viel ist aus dem uns vorliegenden Text ohne weiteres klar Das deutet darauf, dass Chrysippos sich nicht in erster Linie für das Bild als solches bzw für die Intention des Künstlers interessiert hätte, sondern dass sein Interesse der unabhängig vom Bild existierenden Geschichte gegolten hätte Das Bild hätte in solchem Falle eher die Funktion, als Beleg dafür zu dienen, dass diese – sonst schwer oder gar nicht zu bezeugende – Geschichte tatsächlich in der Tradition bekannt sei: Der Künstler habe sie ja gekannt und sie dargestellt Eine Lage wie diese lässt sich nun ohne weiteres mit Longs Standpunkt – und mit der oben 3 1 1 von mir postulierten Ursprungstheorie  – vereinbaren Dem Künstler käme nämlich in solchem Falle keine eigenständige Rolle zu Er hätte das Motiv einfach in der vorgegebenen, anthropomorphisierten Form der Geschichte dargestellt 64

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S Casaubons Notae ad Diogenis Laertii libros de vitis, dictis et decretis principum philosophorum p  98 f , am Ende der Editio secunda des Diogenes Laertios von Stephanus, Genf 1593 Von Casaubon stammt auch die Konjektur καί an Stelle von τά (ἔτι τε καὶ παρὰ τοῖς περὶ πινάκων γράψασι κατακεχωρισμένην), s ebenda Kurzerhand auf unser Fragment als Beleg für die tatsächliche Existenz einer Bilddarstellung hinzuweisen, ist also unzulässig Sei es, dass die Gewährsleute des Diogenes nur bestritten hätten, dass die Geschichte in den Büchern belegt sei (d h , wenn wir den Text so nehmen, wie wir ihn lesen), sei es dass sie haben sagen wollen, dass auch die Bilddarstellung dort nicht erwähnt sei – so oder so wollen sie sagen, dass es sich um eine freie Erfindung des Chrysippos handelt Daraus wäre allenfalls die Schlussfolgerung zu ziehen, dass ein solches Bild nicht existiert hat Dagegen dürfen wir den Abschnitt als Beleg einer physischen Deutung einer (von Chrysippos selbst erfundenen oder jedenfalls den Gewährsleuten sonst unbekannten) Geschichte der betreffenden Art betrachten

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

Die vorgefundene Form müsste nicht die ursprüngliche sein; sie könnte sehr wohl von Chrysippos als eine erst sekundär aufgekommene, entstellte Fassung des eigentlichen, in Metaphern ausgedrückten Berichts betrachtet worden sein M  a  W wäre der physische ‚Hintersinn‘ nicht in der dargestellten anthropomorphen Darstellung als solcher zu finden Im Gegenteil wäre er trotz dieser sekundär hinzugekommenen Einkleidung für den Experten noch erkennbar Φυσική wäre die Geschichte somit völlig unabhängig von und primär zur Intention des Künstlers Der Titel, den Diogenes für das betreffende Werk des Chrysippos angibt, gewinnt in diesem Zusammenhang an Interesse: Περὶ τῶν ἀρχαίων φυσιολόγων, Über die alten Naturphilosophen – vielleicht ein weiteres Indiz dafür, dass Chrysippos nicht der Absicht des Künstlers, sondern der der Theologen vergangener Zeiten nachging? Mit dieser Rekonstruktion ist der Abschnitt bei Diogenes Laërtios jedenfalls kein Argument gegen Long und für eine stoische Bildallegorese im eigentlichen Sinne Letztendlich gilt auch für Origenes (SVF 2, 1074) dasselbe: Der Inhalt des Abschnitts steht nicht zum oben beschriebenen Modell in Widerspruch Nur in diesen beiden Fällen ist von einer Auslegung überhaupt die Rede Die beiden übrigen Fragmente treffen somit auf keinen Fall als Argumente gegen Longs These zu Der ‚Beleg‘ bei Pseudo-Klemens hat aber auch schon aus anderen Gründen aus der Diskussion auszuscheiden Dem anonymen Verfasser (oder Redaktor) der „Homilie“ geht es überhaupt nicht um Vermittlung von Sachverhalten; darin nach Spuren davon zu suchen, hat keinen Sinn, auch wenn solche darin enthalten sein sollten 66 Wie wir gesehen haben, sollen die Quellen des Diogenes (jedenfalls) bestritten haben, dass die Geschichte überhaupt bekannt sei – Chrysippos soll sie selbst erfunden haben Damit wird auch schon a priori die Existenz einer entsprechenden Bilddarstellung geleugnet, unabhängig davon, ob die Gewährsleute dies ausdrücklich ausgesagt haben oder nicht Origenes und Pseudo-Klemens setzen voraus, dass ein Bild existiert habe, geben aber seinen Ort verschieden an In meinem Artikel habe ich einige Überlegungen dazu angestellt, wie die mangelnde Übereinstimmung hinsichtlich der Lokalität zu erklären ist 67 Es ist nicht notwendig, diese Reflexionen zu wiederholen; nur soviel sei hier vermerkt, dass ich mir nicht gut vorstellen kann, dass Chrysippos absichtlich ein frei von ihm selber erfundenes Bild eingeführt hätte Er hätte ebenso gut – oder besser – behaupten können, dass die Geschichte bekannt sei, denn das ließe sich nicht so leicht als falsch nachweisen Die Existenz eines konkreten Artefakts vorzugeben, ist weit riskanter, und zwar selbstverständlich ganz besonders, wenn noch ein Ort, an dem es sich befinde, genannt wird Hat Chrysippos auf eine Bilddarstellung der betreffenden Art hingewiesen, muss er, wie ich glaube, schon ernsthaft davon 66 67

Wir sollten uns z B hüten, den Umstand, dass D L einen Werktitel angibt, Ps Klemens einen anderen, daraufhin zu deuten, dass Chrysippos das Bild in zwei Schriften erwähnt habe (so Meijer 2007, 105 Anm  561 und Gourinat 2005 a, 19 f , bes 20 Anm  2) Verf 2012, 476

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überzeugt gewesen sein, dass sie auch tatsächlich existiert habe Ob er dies zu Recht oder zu Unrecht geglaubt hätte, ist für die vorliegende Untersuchung ohne Belang Wenn also einerseits die Auslegung der Geburt der Athena deutlich macht, dass der Fall des Chrysippos nicht so eindeutig ist, wie Long hat geltend machen wollen, so können andererseits die vier Fragmente SVF 2, 1071–1074 nicht dazu dienen, Longs Position zu entkräften oder gar zu widerlegen Es lässt sich, wie ich meine, nicht bestreiten, dass sein Beitrag in vieler Hinsicht wegweisend ist, und nicht zuletzt für die vorliegende Untersuchung 3.1.1.2. Die Ergänzung und Korrektur von Longs These durch G. R. Boys-Stones und die Entstehungsfrage im vorsokratischen Denken Die Skizze der stoischen Entwicklungsvorstellung, die Long vorgelegt hat, ist von Boys-Stones sowohl im Hinblick auf Voraussetzungen wie auf Nachwirkung weiter ausgebaut worden Boys-Stones hat dabei das von Long gezeichnete Bild teilweise korrigiert, v a indem er zusätzlich einen wichtigen Einschnitt in der Entwicklung der stoischen Vergangenheitsauffassung aufdeckt, von dem an, anders als zuvor, Allegorese von Dichtung auch von Stoikern betrieben worden ist 68 Wir werden unten im 4 und 5 Kapitel Anlass haben, auf diese neue Sichtweise zurückzukommen Eine neue Beurteilung der Entwicklung der philosophischen Theologie bahnt sich hier an, die, wie ich dort vorschlage, auch die Möglichkeit einer Aufwertung der anthropomorphen Darstellungsweise bereitstellt Im Augenblick gilt unser Interesse jedoch der Vergangenheitsauffassung der älteren Stoa, so wie Boys-Stones sie von Long ausgehend und seine Darstellung weiter präzisierend beschrieben hat Er hat nämlich dabei de facto schon beinahe vollständig die hier von mir postulierte Theorie formuliert: In den Augen der Stoiker sei das ursprüngliche, überlegene Weltbild im Laufe der Zeit zunehmend unverständlich geworden Durch allmähliche spontane Fehldeutung sei es deshalb schließlich in die Mythologie des anthropomorphen Pantheons umgewandelt worden 69 68 69

Boys-Stones verbindet diesen Einschnitt mit der Tätigkeit des Poseidonios S dazu eingehender unten Kap  4 0 (mit Anm  16 ff ) Es sei mir hier erlaubt, einen Abschnitt wörtlich anzuführen, in dem Boys-Stones mit besonderer Deutlichkeit diese stoische These formuliert: „… the beliefs which these primitive folk did hold about the world had a particular interest for the philosopher, just insofar as their unaffected and natural purity guaranteed their truth It is, then, these beliefs which are reflected in later mythology And while the Stoics did not believe that there was a natural cataclysm to account for the transition from philosophy to mythology, they did believe that a gradual slide into decadence led to the loss of the purer world-view possessed by early man As vice spread, and with a more distorted view of the world, we must suppose that the insights inherited from earlier thinkers became increasingly unintelligible to later generations These insights were received, not as (for example) physical accounts of the heavenly bodies, but as amusing fictions (or obnoxious superstitions, depending

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

Um aus dieser Rekonstruktion einen voll zusammenhängenden, einheitlichen Komplex herzustellen, fehlt nur noch das allerletzte Glied – das Element, das die Brücke schlägt zwischen dem ursprünglichen Stadium unverfälschten Götterglaubens und der Endstufe der Entwicklung, d h der Mythologie der anthropomorphen Götter Durch meine ergänzende Annahme einer metaphorischen Weltbeschreibung wird die latente Lücke, die im Grunde der Konstruktion der stoischen Vergangenheitsauffassung bei Long und Boys-Stones anheftet, in überzeugender Weise geschlossen, und das System steht nun erst als voll kohärentes Ganzes da Wir gewinnen einen ausnehmend einleuchtenden Hintergrund für den Vorgang, durch den die ursprünglich korrekt verstandenen göttlichen Mächte in eine menschlich gestaltete, menschlich reagierende Götterfamilie verdreht worden seien, denn bei einer buchstäblichen Deutung ursprünglich metaphorischer Aussagen von der hier vorauszusetzenden Art ist ein derartiger Prozess geradezu unvermeidlich Boys-Stones stellt Überlegungen dazu an, unter welchen Bedingungen die Vorstellung entstehen könne, dass das Weltbild der frühen Menschen für das Leben einer späteren Zeit relevant sei und somit verdiene, möglichst zusammenhängend rekonstruiert zu werden, und kommt dabei zum Schluss, dass eine Grundvoraussetzung darin bestehe, dass die früheste Zeit der Menschheit als eine Periode der inneren Überlegenheit betrachtet wird Eine solche Überzeugung sei aber erst in einer Zeit möglich, in der das Postulat, die Menschheit sei von einem fürsorglichen Gott geschaffen worden, in die Philosophie eingedrungen sei Erst von da an sei die Vorstellung von einem ethisch privilegierten Dasein der Urzeit vorhanden Gott hätte selbstverständlich, so die notwendige Implikation dieses Standpunkts, die Menschen zu einem Leben geschaffen, das mit seinem Willen in vollem Einklang stünde, und deshalb müssten sie tatsächlich auch so gelebt haben – bis ihr Leben irgendwann, und zwar durch ihre eigene Schuld, zu degenerieren begonnen habe Eine solche ethische Aufwertung der Urzeit sei erst mit den Kynikern greifbar 70 Ältere positive Schilderungen der Urzeit (wie etwa Hesiod, Erga 106 ff ) verbinden diese mit äußerlich günstigen Lebensbedingungen, nicht mit inneren Vorzügen der Menschen Und im Denken der Vorsokratiker seien Entstehung und Erhaltung des Kosmos und damit das Wesen des Göttlichen und dessen Verhältnis zum Menschen so radikal umgestaltet worden, dass für eine positive Einschätzung des urzeitlichen Daseins, von welcher Art auch immer, praktisch kein Raum geblieben sei 71

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on one’s point of view) concerning a pantheon of superhuman deities “ (Boys-Stones 2003, 192 f ) Vgl auch meine Besprechung von Boys-Stones 2003 (Verf 2006–2007, 210 f ) Boys-Stones 2001, 8: „… we find in the Cynics, perhaps for the first time, the implicit recognition that to reconstruct something of the thought processes of early man will be a way of finding a cure for our own moral malaise, of pushing forward our own philosophical understanding “ Boys-Stones 2001, 4–8

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Bei aller Verwandtschaft, die zwischen dem von Boys-Stones gezeichneten Bild und der von mir skizzierten Theorie besteht, scheint mir kein Grund vorzuliegen, für letztere den Ansatz so spät anzusetzen Denn sie gründet nicht in erster Linie auf einer moralisch-ethischen Idealisierung der Urzeit Sie fußt auf der Überzeugung, dass in der Frühzeit der Menschheit gewisse Männer nicht nur ihren Zeitgenossen, sondern auch den Menschen späterer Zeiten an Einsicht und Erkenntnisvermögen überlegen gewesen seien Nicht moralisch-ethische Vorzüge bilden also die Grundlage – entscheidend ist die kognitive Überlegenheit So werden wir im nächsten Abschnitt interessanterweise feststellen können, dass gerade derjenige Denker der vorsokratischen Zeit, bei dem oberflächlich gesehen die von mir rekonstruierte Theorie am ehesten zu vermuten wäre, nämlich Empedokles (31 DK / 22 LM), diese nicht vertreten haben kann Denn zwar wird in den Fragmenten B 128 / 22 LM D 25 und B 130 / LM D 26 auf eine ferne Vergangenheit zurückgeblickt, die so geschildert wird, dass ihr ohne jeden Zweifel ein höherer ethischer Standard zugeschrieben worden sein muss 72 Aber dafür wird ihnen die kognitive Überlegenheit abgesprochen, wie aus anderen Fragmenten zu ersehen ist Gerade die Überzeugung von einer in früher Zeit vorhandenen kognitiven Überlegenheit bildet dagegen die Grundvoraussetzung der etymologischen Spekulation Wir haben uns oben 3 1 1 schon damit beschäftigt Eben weil man meinte, dass die einstigen Namengeber ein besonderes Gespür für die wahren Verhältnisse gehabt hätten, ein Gespür, das es ihnen erlaubt habe, die Benennungen der Dinge so zu gestalten, dass darin ihr eigentliches Wesen zum Ausdruck komme, galt die Suche nach dem ursprünglichen Inhalt der Benennungen als sinnvoll und wichtig Es spielt dabei keine Rolle, ob die Namengeber als wohlgeübte Weise gedacht wurden73 oder ob ihnen ein eher intuitiv arbeitender Spürsinn, oder gar göttliche Inspiration, zugeschrieben wurde So oder so handelt es sich hier um eine Überzeugung, dass in der Vergangenheit, mehr oder weniger systematisch, wichtige, korrekte Erkenntnisse formuliert worden seien, die zwar häufig durch spätere Sprachveränderungen verballhornt und unkenntlich gemacht worden seien, die aber nie ganz verlorengegangen seien Reflexe dieser Sichtweise finden wir mehrfach bei Platon 74 Schon zur Zeit des Sokrates selber muss dies eine fest etablierte Vorstellung gewesen sein 75 Etymologische Spekulation

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Wortlaut und Nummerierung der Fragmente der Vorsokratiker im Folgenden nach Diels u Kranz (DK); die Nummerierung von Laks u Most (LM) wird zusätzlich angegeben Zu Empedokles s den nächsten Abschnitt (3 1 2 ) Boys-Stones weist selbst darauf hin, dass Empedokles nicht ohne weiteres in das von ihm gezeichnete Bild der Verhältnisse hereinpasst (2001, 5 n  8) Vgl den angeblichen Spruch des Pythagoras, „Was ist am weisesten? – Die Zahl, und in zweiter Linie derjenige, der den Dingen ihre Namen gab “ (Τί τὸ σοφώτατον; ἀριθμός, δεύτερον δὲ ὁ τοῖς πράγμασι τὰ ὀνόματα θέμενος (Iambl Vita Pyth 82; vgl Cic Tusc 1,62) Kratylos 401a–b; 402d–e; 436c; 438c, und vgl ebenda 389a; Philebos 18b–d Sedley 2003, 30: „… that language originated as the deliberate contrivance of one or more gifted individuals was almost certainly the regular assumption until the end of the fourth century BC,

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

auf dieser Grundlage bildet einen der Ausgangspunkte für die Exegese im Papyrus von Derveni, die, wie wir gesehen haben, bis in die Zeit vor 400 zurückgehen mag 76 Dass Anaxagoras und die Anaxagoreer die Methode verwendet haben, können wir dem Kratylos entnehmen 77 Dass das Wesen und Wirken des Göttlichen – ein Gebiet, dass der menschlichen Erfahrung schwer greifbar ist – als ein zentrales Anliegen des Unternehmens empfunden worden sein sollte, ist kaum verwunderlich Wo Sokrates im Kratylos dem Hermogenes in hohem Tempo etymologische ‚Analysen‘ vorlegt, widmet er gerade den Götternamen besondere Aufmerksamkeit (401a–408d) Wir dürfen darin gleichsam ein Spiegelbild des Eifers erkennen, mit dem die Jagd nach dem ursprünglichen Inhalt dieser Benennungen von Seiten der Intellektuellen der Zeit betrieben wurde Sokrates selbst bestreitet, dass die Meinungen, aufgrund deren die Namengeber die Götter benannt hätten, mehr als eben nur Meinungen seien, die also durchaus auch falsch sein könnten (401a; vgl 411b; 439c) Aber für die eigentlichen Ausüber des Verfahrens, auf die Sokrates es abzielt, handelte es sich nicht um Mutmaßungen, sondern um korrekte Einsichten Es ist eine naheliegende und ansprechende Vermutung, dass unter den Ausübern solcher etymologischen Untersuchungen das oben von mir rekonstruierte Modell verbreitet gewesen ist Diese hätten also damit gerechnet, dass nach der Einrichtung des Grundwortschatzes damit begonnen worden sei, die Wirkung und Interaktionen der (schon benannten) göttlichen Mächte zu beschreiben, wobei der zu Gebote stehende Wortschatz trotz seines geringen Umfangs dank eines sinnvollen Übertragungsverfahrens sich als geeignet erwiesen habe, die komplizierten Vorgänge bildhaft auszudrücken In diesen frühen Versuchen, die Welt und die Wirkung des Göttlichen darin in Worte zu fassen, hätte die falsche Vorstellung von der Menschenähnlichkeit der Götter ihre Wurzeln Ein konkretes Indiz, dass das Modell in vorsokratischer Zeit vertreten gewesen ist, gibt wiederum der Papyrus von Derveni, in dem es deutlich greifbar ist Ferner lässt sich, wie ich schon in meiner Einführung unterstrichen habe, das Aufkommen der physischen Dichterallegorese leichter auf einem solchen Hintergrund

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when Epicurus came up with his alternative proposal that names started as the human version of animal cries, and were correlated to the objects that provoked them only subsequently “ Vgl oben 1 4 , m Anm  54; 1 4 1 , m Anm  59; 3 1 1 , m Anm  33 Nach Jaeger 1967, 68 f , mit Anm  64 auf S  220, soll die Etymologie eine der wichtigsten und beliebtesten Methoden der frühen griechischen Theologie gewesen sein S bes Kratylos 413c (= 59 DK A 55; nicht in LM), infolgedessen für Anaxagoras das weltordnende Prinzip (νοῦς, die göttliche Vernunft) mit τὸ δίκαιον identisch sei und von ihm u a so beschrieben worden sei, dass es „die ganze Welt organisiere, indem es das All durchlaufe“ (πάντα … κοσμεῖν τὰ πράγματα διὰ πάντων ἰόντα) Diese Bemerkung unterstützt übrigens die ohnehin naheliegende Vermutung, dass Anaxagoras den νοῦς mit Zeus gleichgesetzt hat und dabei die von Sokrates selbst ebenda 396a angedeutete, später so beliebte etymologische Verbindung der Form Δία (Akk von Zeus) mit der Präposition διά hergestellt hat (Philodemos piet PHerc 1428 col 4,12‒20 p 15 Henrichs 1974 = SVF 2, 1076; Diogenes Laërtios 7,147 = SVF 2, 1021; Cornutus 2,1 l 32 Nesselrath, u a )

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verstehen 78 Außerdem konnte das Modell beim Brückenschlagen zum öffentlichen Kult gute Dienste leisten und müsste schon aus dem Grund den vorsokratischen Denkern attraktiv erschienen sein Für mehrere der Vorsokratiker ist bezeugt, dass sie traditionelle Götternamen in ihre eigene Lehre aufgenommen haben Wer so verfährt, erhebt den Anspruch, dass die Gottheiten der eigenen philosophischen Lehre und die traditionellen Götter imgrunde dieselben seien 79 Die Radikalität, die die Vorstellungen der Vorsokratiker vom Göttlichen de facto prägt, lässt uns leicht übersehen, dass diese selbst keineswegs hier als Revolutionäre paradierten Sie waren nicht darauf aus, von den Göttern des öffentlichen Kults Abstand zu nehmen Keiner von ihnen hat beabsichtigt, mit seinem Gottesbild „to leave the very existence of the cult gods in doubt“ 80 Sie wollen auch nicht bestreiten, dass es an sich berechtigt sei, diese Götter zu verehren Im Anspruch, dass kosmische Vorgänge und Phänomene nach gesetzmäßigen Regeln verlaufen, in der Forderung, dass Himmelserscheinungen und Naturkatastrophen keineswegs als unvorhersehbare Willens- und Machtäußerungen personhafter Götter, die es zu beschwichtigen oder zu bestechen gelte, zu verstehen seien, liegt natürlich eine Verneinung der traditionellen Voraussetzungen des Kults Aber gerade in der Gesetzmäßigkeit der Vorgänge wird jetzt die Anwesenheit und die Wirkung des Göttlichen erkannt, und gerade deshalb ist die Götterverehrung – nach wie vor – berechtigt 81 Wie es in einem oben schon besprochenen Fragment des Euripides heißt: „Siehst du den Äther da hoch oben? Ihn sollst du als Zeus verehren!“82 So wie diese Denker es selbst dargestellt haben, ging es ihnen also nicht um Abreißen, noch auch im Grunde um Entmythologisierung oder Entanthropomorphisierung, obwohl letztere Charakteristiken in gewissem Sinne dem Anliegen schon näher kommen 83 78 79 80 81

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Oben 1 4 und bes 1 4 1 ; 3 1 1 , m Anm  33 Vgl oben Kap  1 1 So Vlastos 1970, 101 Das Postulat der Gesetzmäßigkeit der Naturerscheinungen schließt nicht an sich die Möglichkeit einer aktiv wirkenden göttlichen Intention aus Mit der Zeit wird gerade die Regelmäßigkeit – der stete Wechsel der Jahreszeiten sowie von Tag und Nacht, die unveränderlichen Bewegungen der Himmelskörper – zu einem Standardargument für die Existenz einer rationalen, alles ordnenden Gottheit (oben, Kap  2, m Anm  16) S zu diesem „argument from design“ bes Gerson 1990, 155–160 Euripides fr 941 Kannicht Oben 3 1 1 , m den Anm  18 und 27, und s unten Anm  91 zum griechischen Text Entanthropomorphisierung (Anaxagoras): v Fritz 1971, 588 Robinson liefert eine kurze, aber kraftvolle und originelle Übersicht der Theologie des Herakleitos (2008,  489‒493) Dass dieser den Namen Zeus behalten hat und somit nicht endgültig vom Volksglauben Abstand genommen hat, scheint Robinson zu verwundern (ebenda) Vgl oben Kap  1 1 , mit Anm  9 und 10 Betegh 2006, 626 weist darauf hin, dass das Normalverhalten griechischer Philosophen zur traditionellen Religion sich durch einen auffallenden Doppelcharakter auszeichnet De facto liefern sie starke Kritik und äußern ohne Zögern radikale Ansichten vom Wesen des Göttlichen Andererseits kleiden sie dies alles in eine Form, die es als Korrektur des bestehenden oder gar Wiederherstellung des ursprünglichen Glaubens erscheinen lässt Diese Charakteristik trifft schon auf mehrere vorsokratische Denker zu

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

Bekanntlich ließ sich die Umwelt wenig beeindrucken; das Gottesbild blieb wie zuvor, und wer öffentlich anderes geltend machte, lief u U , wenn auch in Ausnahmefällen, Gefahr, zur Kategorie der τὰ θεῖα μὴ νομίζοντες gezählt zu werden 84 Dieses ändert jedoch nichts daran, dass die Absicht der Strategie wie beschrieben gewesen sein muss und auch von der Umwelt so verstanden worden sein muss 85 Von Herakleitos, Anaxagoras und Diogenes von Apollonia, sowie auch vom Pythagoreer Philolaos von Kroton, einem Zeitgenossen des Sokrates, wissen wir sicher oder mit annähernder Sicherheit, dass sie den traditionellen Göttern einen Platz in ihrem Denken gegeben haben Für Herakleitos ist Zeus einwandfrei bezeugt; von Anaxagoras dürfen wir, wie wir gesehen haben, Entsprechendes vermuten, bei Diogenes vielleicht auch und wohl ebenfalls bei Philolaos Anaxagoras scheint auch Hestia eine Rolle in seiner Lehre eingeräumt zu haben Bei Herakleitos finden wir außer Zeus noch Dionysos und Hades 86 Empedokles, der sich mit Kraft über die wahre Rolle von Zeus, Hera, Hades, Hephaistos, Aphrodite und, wie es scheint, Apollon äußert,87 scheidet freilich als Vertreter des oben 3 1 1 beschriebenen Modells aus, wie ich hier 84

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Diese Kategorie soll nach Plut Pericl 32 (= 59 DK A 17 / 25 LM P 25 a) in dem Antrag, der der Asebie-Anklage gegen Anaxagoras zugrundegelegt worden sein soll, ausdrücklich erwähnt worden sein Außerdem soll der Antrag sich gegen diejenigen, „die Theorien über die Himmelserscheinungen verbreiteten“ (οἱ λόγους περὶ τῶν μεταρσίων διδάσκοντες, ebenda) gerichtet haben Nach anderen Quellen zu urteilen, hat man v a daran Anstoß genommen, dass Anaxagoras die Göttlichkeit der Himmelskörper bestritten habe und geltend gemacht habe, die Sonne sei ein glühender Metallklumpen (59 DK A 1§ 12 / 25 LM P 23; A 19 (nicht in LM); A 20 / 43 LM Dram T 75; A 71 / 25 LM D 36; A 73 / 25 LM R 7) Zum Prozess gegen Anaxagoras s Curd 2007, 129–137, bes 136 Wright geht also in ihrer Beurteilung der Rolle der traditionellen Götternamen im Werk des Empedokles völlig fehl: „In calling his roots by divine names Empedocles is showing that they are the new gods; he sets them up as worthy, because of their eternal and unchanging nature, of the respect and wonder with which the Olympians were traditionally viewed“ (1981, 22) Sie bezieht sich auf 31 DK B 6 / 22 LM D 57 (bei ihr fr  7 S zu diesem Fragment unten 3 1 2 , bes  Anm 99) Die Umwelt kann die Absicht des Empedokles nicht anders verstanden haben, als dass mit Zeus, Hera usw eben Zeus und Hera usw gemeint seien (Hier richtig Kingsley 1995, 44) Auch wird sich Empedokles zweifellos darüber im Klaren gewesen sein, dass man ihn so verstehen würde Mit anderen Worten ausgedrückt: Er hat genau diese Wirkung intendiert; seine Absicht bestand darin, der Umwelt zu enthüllen, dass die alten Götter – Zeus, Hera usw  – gerade so seien, wie er sie beschrieb, und nicht so wie sie gemeinhin dargestellt wurden Herakleitos 22 DK B 32 / 9 LM D 45 und B 120 / LM D 93 (Zeus) bzw B 15 / LM D 16 (Dionysos und Hades); Diogenes von Apollonia 64 DK A 8 (T 6 Laks; nicht in 28 LM) Zu Anaxagoras vgl hier oben Anm  77 und 59 DK A 20 b / 43 LM Dram T 48 c (Hestia) Philolaos von Kroton soll, wenn auf das Zeugnis Verlass ist, das zentrale Feuer des Weltalls „Haus des Zeus“ (Διὸς οἶκος) u a m genannt haben, 44 DK A 16 / 12 LM D 19 Über die Zuverlässigkeit der Fragmente und Testimonien ist eine rege wissenschaftliche Diskussion geführt worden, s dazu Zhmud in GGPh2 1/1 422 (Überhaupt würde einiges, was die Tradition von Pythagoras und seinen Nachfolgern erzählt, die Annahme unterstützen, dass sie die Theorie umfasst haben; da die Tradition jedoch nahezu insgesamt spät und von allerlei Legendenbildung überlagert ist, soll hier nicht weiter darüber spekuliert werden ) Vgl auch 61 DK (Metrodoros von Lampsakos) Text 3 und 6 Empedokles 31 DK B 6 / 22 LM D 57; B 17,21–26 / LM D 73; B 95 / LM D 217; B 96 / LM D 192; B 98 / LM D 58 a und D 190; B 134 / D 93

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oben vorausgeschickt habe; im nächsten Abschnitt wollen wir uns eingehender mit seiner Ursprungsauffassung auseinandersetzen Herakleitos und wohl auch Anaxagoras haben sich für den tieferen Sinn der sprachlichen Ausdrucksmittel interessiert, was wiederum ein Zeichen sein kann, dass sie damit auch noch ein Interesse für die Tätigkeit der vermeintlichen Sprachschöpfer verbunden haben 88 Dass Herakleitos in seinem berühmten Spruch B 32 / 9 LM D 45 die Genitivform Ζηνός (von Ζεύς) mit dem Verb ζῆν in Verbindung bringen will, ist unbestritten, auch wenn die Deutung des Fragments sonst kontrovers ist Dass er diesen Inhalt des Namens auch als den ursprünglichen, schon von den Namengebern hineingelegten, betrachtet hat, ist keine allzu kühne Vermutung Und entsprechend dürfte es sich mit der wahrscheinlichen Verbindung des Akkusativs Δία (ebenfalls von Ζεύς) mit der Präposition διά, die für Anaxagoras wahrscheinlich ist, verhalten 89 Das genannte Fragment des Herakleitos (B 32) ist in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse: ῝Εν τὸ σοφὸν μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα „Das eine Weise, das einzig und allein ist, ist nicht bereit und doch wieder bereit, mit dem Namen des Zeus genannt zu werden “ Mansfeld, dessen Übersetzung ich hier benutze, kommentiert: „Das Göttliche ist, als oberstes Prinzip, damit einverstanden, wenn es mit dem Namen „Zeus“ (der oberste Gott des traditionellen Pantheons) angeredet wird, und doch auch wieder nicht, weil die mit dem mythischen Zeus verbundenen Assoziationen auf es nicht zutreffen “90 Dies lässt sich noch präzisieren Wegen der gängigen Fehlvorstellung von der Menschenähnlichkeit des Zeus ist es unwillig, mit diesem Namen benannt zu werden; weil es tatsächlich Zeus ist, der wahre Zeus, wie sich versteht, will es dennoch so genannt werden Wir können vergleichen, wie das soeben genannte Euripidesfragment zur Hinwendung an den wahren Zeus auffordert: „Siehst du ihn da hoch oben, diesen grenzenlosen Äther, und wie er die Erde in seinen feuchten Armen hält? Ihn sollst du als Zeus verehren; ihn sollst du als Gott betrachten!“91 Gegen die traditionelle Deutung von B 32 / LM D 45, die ich hier in Mansfelds Fassung angeführt habe, ist u a von Dilcher eingewendet worden Dilcher bevorzugt eine alternative Deutung, einmal weil er meint, dass diese eine bessere Syntax biete, zum anderen auch, weil seiner Meinung nach im Fragment eben nicht die traditionelle Religion „with its anthropomorphic understanding“ von Zeus kritisiert wird; ganz im Gegenteil, „for it is precisely this traditional image of the wise supreme ruler whose mind sets everything aright and is manifested in every event, which Heraclitus evokes

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Vgl Sedley, oben Anm  75 Vgl oben Anm  77 Mansfeld, in Mansfeld u Primavesi 2012, 243 Fragmenttext und Übersetzung (hier Nr  44) finden sich ebenda 262–263 Euripides fr  941 Kannicht: ῾Ορᾷς τὸν ὑψοῦ τόνδ᾽ ἄπειρον αἰθέρα / καὶ γῆν πέριξ ἔχονθ᾽ ὑγραῖς ἐν ἀγκάλαις; / τοῦτον νόμιζε Ζῆνα, τόνδ᾽ ἡγοῦ θεόν Oben, Anm  82

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

and means to evoke“ Auch meint Dilcher offensichtlich, dass für die herkömmliche Deutung der Umstand gravierend sei, dass Herakleitos Gott einen Willen – also einen anthropomorphen Zug  – zuschreibt 92 Auf dem Hintergrund meiner Darstellung in diesem Kapitel erkennen wir sofort, dass Dilchers Einwände nicht zutreffen Die Distinktion zwischen anthropomorpher Metaphorik einerseits und dem regelrechten Anthropomorphismus – der voll ausgebildeten Vorstellung von menschenähnlichen Göttern – andererseits ist zentral Kritik und Ablehnung der letzteren und Anwendung der ersteren schließen sich nicht aus Die anthropomorphe Metaphorik stellte für die griechischen Denker kein Problem dar; ganz im Gegenteil haben sie sich ihrer gerne und oft sehr kreativ bedient Herakleitos selbst soll gesagt haben, dass der Krieg der Vater und König und Herrscher aller Dinge sei Und in einer Reihe von antithetischen Doppelphrasen, mit denen er versucht haben soll, das All (τὸ πᾶν) zu charakterisieren, finden wir u a das Metaphernpaar „Vater – Sohn“ 93 Zumal die ‚Familienmetaphorik‘ ist zu allen Zeiten geläufig und beliebt gewesen; auch weit drastischere Ausbeutung derselben Quellendomäne kommt vor Und nachdem was ich oben Kap  3 1 1 dargelegt habe, verwundert es nicht, dass auch Körpermetaphern in mehr oder weniger drastischer Form häufig vorkommen Wir kennen pythagoreische Phrasen wie „Träne des Kronos“ (Κρόνου δάκρυον, das Meer), „Hände der Rhea“ (Ῥέας χεῖρες, der große und der kleine Bär) 94 Ein Vertreter des hier besprochenen Ursprungsmodells mag die Verwendung anthropomorpher Metaphorik vielleicht sogar als bewusste Nachahmung des vermeintlichen ursprünglichen Diskurses verstanden haben, eine Art Wiederherstellung der ursprünglichen, unverdorbenen Ausdrucksweise Das würde genau der Haltung entsprechen, die Balbus bei Cicero der gerade angeführten Euripidesstelle gegenüber zeigt Die Methode, mit Hilfe des grammatischen Geschlechtsunterschiedes sowie einer dicht anthropomorphen Metaphorik die Wirkung des Göttlichen bildlich als Umarmung zweier Liebender vor Augen zu führen, erkennt er durchaus an,

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Dilcher 1995, 126 f Das alternative (nicht erst von ihm stammende) Verständnis des Fragments, „one is the Wise It is unwilling and willing to be called alone by the name of Zeus“, setzt folgende syntaktische Struktur voraus: ῝Εν τὸ σοφὸν· μοῦνον λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα Mir scheint dieser Vorschlag keineswegs so elegant wie Dilcher ihn findet Falls wir in der Aussage eine Pause ansetzen wollen (und das Fehlen einer verbindenden Partikel hinnehmen wollen), dann wäre doch wohl eine Struktur wie diese natürlicher: ῝Εν τὸ σοφὸν μοῦνον· λέγεσθαι οὐκ ἐθέλει καὶ ἐθέλει Ζηνὸς ὄνομα – „allein das Weise ist eins Es will nicht und will doch mit dem Namen des Zeus benannt werden “ Plut Is 370d: … πόλεμον ὀνομάζει πατέρα καὶ βασιλέα καὶ κύριον πάντων Bei 22 DK B 53 / 9 LM D 64 in der Fassung πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς (= Hippolytos ref 9,4 p   344 Marcovich) Hippolytos ref 9,9,1 Marcovich ibid : τὸ πᾶν  … πατέρα υἱόν  … (s 22 DK B 50 / LM D 86 p 296) Van Kooten 2014 verfolgt die Geschichte der Sitte, Gott als den „Vater aller Dinge“ zu bezeichnen, von den Vorsokratikern bis zu Paulus (s bes 296 f ) Plut Is 364a; Clem Al strom 5,50,1; Porph Vita Pyth  41 Vgl oben 3 1 1 , nach Anm  26 S auch unten 3 1 2 Anm  104 zu Beispielen bei Empedokles

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während er die voll anthropomorphisierten Götterszenen uneingeschränkt ablehnt 95 Ein weiteres Beispiel findet sich bei Platon, Sophista (242c–d): Dort spricht der Fremde aus Elea höhnisch davon, wie die Naturphilosophen, wenn sie das Wesen der Dinge erklären wollen, von Krieg und Freundschaft, von „Ehen, Geburten und Ernährung von Kindern“ (γάμους τε καὶ τόκους καὶ τροφὰς τῶν ἐκγόνων) und dergleichen sprechen Falls Herakleitos im Fragment B 32 ein Bild von Zeus als weisem Weltherrscher hat wachrufen wollen, kann dies folglich nicht als Argument gegen die herkömmliche Deutung des Spruchs angeführt werden Dass anthropomorphe Sprache unumgänglich ist, hat schon Xenophanes eingesehen, der ohne Bedenken davon spricht, wie Gott sieht, hört und denkt (21 DK B 24 / 8 LM D 17) 96 3 1 2 Empedokles Zu Empedokles (31 DK / 22 LM) haben wir, was den Umfang der Überlieferung betrifft, einen besseren Zugang als zu allen anderen Denkern der vorsokratischen Zeit Allein Demokritos (68 DK / 27 LM „Atomists“) könnte ihm den ersten Rang streitig machen, nur besitzen wir von diesem kaum wörtliche Zitate, während wir im Falle des Empedokles damit gut versorgt sind und sogar in jüngster Zeit mit neuen Verszeilen bereichert worden sind Durch die sensationelle Entdeckung, dass eine handvoll Papyrusbruchstücke in Straßburg (PStrasb gr  Inv 1665 und 1666) mehr oder weniger vollständige Verszeilen seines Werks enthalten  – das umfangreichste Stück umfasst 30 Zeilen – besitzen wir nunmehr für Empedokles als einzigen vorsokratischen Denker eine gewisse direkte Überlieferung Dadurch wurden der Forschung zusätzliche Möglichkeiten bereitet, alte und neue Meinungen zum Inhalt und v a zur Struktur dieses Werks zu überprüfen und zu verfeinern 97 95 96 97

Oben 3 1 1 , m Anm  27 Xenophanes 21 DK B 24 / 8 LM D 17 ist unten Anm  124 angeführt Lesher 1992, 94 äußert gegenüber der anthropomorphen Metaphorik dieses und anderer Fragmente des Xenophanes ähnliche, unbegründete Bedenken wie Dilcher im Hinblick auf Herakleitos Die wissenschaftliche Arbeit an den neugewonnenen Versfolgen ist intensiv gewesen und hat im Verhältnis zur Erstausgabe des Papyrus von Martin u Primavesi 1999 (Text S  130–139) noch substantielle Verbesserungen gezeitigt; sogar eine exakte Einreihung der neu hinzugekommenen Verse ermöglichte sich (s Janko 2004 und bes Primavesi 2008 b sowie 2013, 691–693, und vgl unten Anm 108) Die Rekonstruktionsversuche gehen allerdings z T weit auseinander, und in der alten Streitfrage, ob Empedokles zwei Gedichte geschrieben hat oder nur eins, herrscht auch weiterhin keine Einigkeit, s z B Inwood 2001, 6; 9–19; 78 f ; Pierris 2005 a (im Appendix zu seinem Artikel, am Ende des Bandes) einerseits, und Primavesi 2013, 685‒688 andererseits Letzterer befürwortet die traditionelle Zweiteilung des Werks, wobei die Physika von einem menschlichen Erzähler vorgetragen werde, die Katharmoi dagegen von einem göttlichen, s bes 688 und vgl 673 f sowie auch Primavesi 2012, 392–396 Laks und Most halten ebenfalls die traditionelle Zweiteilung für wahrscheinlicher (vol 5,318) Vgl noch unten Anm 105

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

Eine ganze Reihe traditioneller Götternamen haben im Werk des Empedokles Aufnahme gefunden Von den sechs grundlegenden Entitäten seiner Physik werden fünf mit solchen Namen benannt: Mit dem Namen Aphrodite nennt er (gelegentlich) die eine der beiden ewigen Kräfte, die den von ihm postulierten ewigen zyklischen Prozess vorantreiben;98 drei der „Wurzelwerke“ (ῥιζώματα), der vier Elemente als Grund aller Dinge, sind ebenfalls mit traditionellen Götternamen benannt (B 6 / 22 LM D 57): „Die vier Wurzelwerke aller Dinge höre zuerst: leuchtend-heller Zeus und lebensspendende Hera und Aïdoneus [d h Hades] und Nestis, die mit ihren Tränen tränkt, was den Sterblichen entströmt “99 Diese göttlichen Substanzen treten im Laufe des großen Zyklus zeitweise als völlig getrennte, reine Stoffmassen auf, zeitweise gehen sie mannigfaltige Verbindungen ein, verschmelzen dann ganz miteinander, um allmählich wieder aus dieser Einheit herausgelöst und immer mehr separiert zu werden, bis sie erneut beim Stadium ihrer völligen Trennung angelangt sind, usf Dieser immerwährende Prozess von Vereinigung und Separation wird durch den ständig hin- und hergehenden Kampf zwischen den beiden kosmischen Prinzipien, der Liebe (Aphrodite) und dem Streit (Νεῖκος) getrieben, wobei die Liebe die Vereinigung bewirkt und der Streit die Auflösung zuwegebringt Wenn Aphrodite den Neikos bis an den äußersten Rand des Alls verdrängt hat, tritt die totale Verschmelzung ein Das Ergebnis ist der Sphairos, der Kugelgott 100 Diesen hat Empedokles, wie es scheint, Apollon genannt 101

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31 DK B 17,24–25 / 22 LM D 73; B 22,5 / LM D 101; B 71,5 / D 61; B 86 / D 213 und R 70; B 87 / D 214; B 151 / D 64 Für ihr Gegenstück, den Streit (Νεῖκος) ist kein traditioneller Gottesname bezeugt 99 B 6 / D 57: Τέσσαρα γὰρ πάντων ῥιζώματα πρῶτον ἄκουε· / Ζεὺς ἀργὴς ῞Ηρη τε φερέσβιος ἠδ᾽ Αἰδωνεύς / Νῆστις θ᾽, ἣ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον (Übersetzung von Primavesi 2012, 447; bei ihm Fragment 49 Z  4 deutsch bei DK p  312: „die durch ihre Tränen irdisches Quellwasser fließen lässt “) Die Kontroverse, die schon im Altertum hinsichtlich der Zuordnung dieser Götternamen zu den einzelnen Elementen bestand, lebt heute noch fort und hat sich sogar erweitert, indem die Gleichung Zeus = Feuer, über die man sich im Altertum einig war, in moderner Zeit in Frage gestellt worden ist V  a hat sich Kingsley, m M n mit beachtenswerten Argumenten, für die Gleichung Aïdoneus = Feuer (bzw Zeus = Luft) eingesetzt (Kingsley 1995, 13–78) Nicht ohne Bedeutung für die Diskussion ist dabei der Umstand, dass Empedokles für das Feuer auch noch einen weiteren Götternamen einsetzt, und zwar wird es in seiner Rolle als Teilgrund der Zoogonie in fr B 96 / D 192 und B 98 / D 58 a in uns vertrauterer Weise Hephaistos genannt Kingsley scheint mir einleuchtend genug dafür argumentiert zu haben, dass die doppelte Benennung in der Form Hades – Hephaistos sinnvoller ist als in der Form Zeus – Hephaistos (Kingsley 1995, 74–78) Ausführlich zur Diskussion der Zuordnung im Altertum s dens 1994 Vgl auch Primavesi 2013, 709 Hippolytos ref 7,29,5–6 p  305 Marcovich (DK A 33 S  289, 31 ff / 22 LM R 92) spekuliert über den Sinn des Namens Nestis In moderner Zeit ist geltend gemacht worden, dass Nestis eine sizilische Göttin gewesen sei, die vielleicht mit Persephone identifiziert worden sei (Kingsley 1995, 348–358, mit älterer Literatur) 100 Eine kurze und zugängliche Zusammenfassung des zyklischen Systems findet sich bei Graham 2010, Bd 1, 327 Ausführlicher z B Primavesi 2012, 396–404 oder 2013, 696–698; Inwood 2001, 44 ff 101 Diese Benennung ist nicht in einem regelrechten Zitat belegt; die Information, dass der Sphairos Apollon genannt worden sei, verdanken wir einem Referat aus Empedokles im Kommentar zu

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Das Fragment B 128 / D 25 schildert eine frühe Epoche der gegenwärtigen Weltperiode 102 Eine ferne Vergangenheit tritt hervor, in der „Kypris die Königin“ allein geherrscht habe und Blutsopfer unbekannt gewesen seien: Auch Ares galt ihnen nicht als Gott, auch Kydoimos [Kampfwut] nicht, auch nicht der König Zeus oder Poseidon, sondern die Königin Kypris Deren Gnade gewannen sie mit fromm gestifteten Kultbildern, mit gemalten Lebewesen und betörend duftenden Parfums, mit Opfergaben von reiner Myrrhe und von duftendem Weihrauch, und indem sie Spenden gelblichen Honigs schwungvoll auf den Boden gossen Nicht aber wurde der Altar durch die unsägliche Ermordung von Stieren mit Blut getränkt, sondern die größte Befleckung war dies unter den Menschen: den Lebensgeist herauszureißen und die starken Glieder zu verzehren 103

Auf dieselbe Epoche dürfte sich B 130 / LM D 26 beziehen, demzufolge zwischen allen Lebewesen völlige Harmonie geherrscht haben soll Auf diesem Hintergrund läge es nahe, zu vermuten, dass Empedokles damit gerechnet hätte, dass die Menschen dieser idealisierten Frühzeit sich nicht nur durch bessere Kultsitten ausgezeichnet hätten, sondern dass sie auch eine der Gegenwart überlegene Gottesvorstellung gehabt hätten, im wesentlichen seiner eigenen ähnlich, und viel-

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Aristoteles, De interpretatione von Ammonios, CAG 4:5 p   249,1 ff ; s DK B  134 / LM D 93 und Vortext dazu / LM R 95 Vgl Primavesi 2013, 709 Ich verzichte darauf, auf die Kontroverse einzugehen, ob der Umstand, dass zwei der von Ammonios ebenda angeführten Verse (= B 134,2–3 / D 93) im Sphairosfragment B 29 / D 92 praktisch identisch vorliegen, uns dazu berechtigen, den Schluss zu ziehen, dass der „heilige Wille“ (φρὴν ἱερή) von B 134 mit dem Sphairos identisch sei, wie z B Wright 1981, 255 (vorsichtig) und Primavesi 2013, 709 es wollen, aber wie z B von Schwabl 1957, 281 und Inwood 2001, 68 bestritten wird Sterbliche Wesen entstehen und vergehen pro Zyklus zweimal, und zwar jeweils halbwegs, d h einmal in der Zeit zwischen der völligen Trennung der Grundelemente (der Wurzelwerke), die durch die Dominanz des Streits entsteht, und ihrer totalen Vereinigung im Sphairos, die auf den Sieg der Liebe folgt, und einmal zwischen dem Sphairoszustand und der durch den Sieg des Streits etablierten völligen Trennung der Elementmassen (vgl B 17,3–14 / D 73 p 410) Nach einer Reihe von Testimonien entsteht das Zeitalter der Menschen dabei, wie es scheint, nur einmal, nämlich während der beginnenden Herrschaft des Streits, der Zeit zunehmender Trennung, in der jedoch der Einfluss der Liebe noch nicht ausgeschaltet worden ist S bes Simplikios, In Arist. Physica, ed Diels (CAG 10, Berlin 1895), p  1124, 2–3, sowie das erst seit den 1980er Jahren bekannte Fragment des Alexander von Aphrodisias (Primavesi 2012 Nr  65 S  460) Freilich herrscht auch hinsichtlich der Beurteilung dieser (und weiterer relevanter) Zeugnisse kein vollständiger Konsens, s etwa die Diskussion zum Thema bei Inwood 2001, 44–49 bzw bei Primavesi 2013, 703 und bes 709–713, und vgl LM S  319 Β 128,1–10 / D 25: Οὐδέ τις ἦν κείνοισιν Ἄρης θεὸς οὐδὲ Κυδοιμός / οὐδὲ Ζεὺς βασιλεὺς οὐδὲ Κρόνος οὐδὲ Ποσειδῶν, / ἀλλὰ Κύπρις βασίλεια / Τὴν οἵ γ’ εὐσεβέεσσιν ἀγάλμασιν ἱλάσκοντο / γραπτοῖς τε ζώιοισι μύροισί τε δαιδαλέοδμοις / σμύρνης τ’ ἀκρήτου θυσίαις λιβάνου τε θυώδους / ξανθῶν τε σπονδὰς μελίτων ῥίπτοντες ἐς οὖδας· / ταύρων δ’ ἀρρήτοισι φόνοις οὐ δεύετο βωμός, / ἀλλὰ μύσος τοῦτ’ ἔσκεν ἐν ἀνθρώποισι μέγιστον, / θυμὸν ἀπορραίσαντας ἐέδμεναι ἠέα γυῖα Übersetzung von Primavesi 2012, 433 (bei ihm Nr  25 a) Der Anfang des Fragments (οὐδέ) deutet darauf, dass davor mindestens ein weiterer Gott erwähnt worden ist

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

leicht auch, dass sie dieses korrektere Gottesbild in Metaphern ausgedrückt hätten, die dann im Laufe der Zeit nicht mehr als solche verstanden, sondern für bare Münze genommen worden seien, so dass die falsche Vorstellung von menschenähnlichen Göttern als Folge davon aufgekommen sei Seine eigene Vorliebe für kraftvolle anthropomorphe Metaphorik hätte als Versuch gesehen werden können, an eine solche vermeintliche ursprüngliche Ausdrucksweise anzuknüpfen 104 Indessen erweist sich eine solche Vermutung bei genauerem Zusehen als unrichtig Harmonisches Zusammenleben aller und friedliche Einigkeit der Natur müssen nicht zugleich auch noch überlegene Gotteserkenntnis bedeuten Beispielhafte Kultsitten und unverdorbene Lebensweise deuten nicht mit Notwendigkeit auf ein korrektes Gottesverständnis Vielmehr ist im Werk des Empedokles die volle Einsicht in die physischen Prozesse, und somit ins Wesen des Göttlichen, exklusives Privileg des Sprechers, das dieser durch göttliche Vermittlung erhält oder aber auch, weil er selbst ein Gott ist, besitzt 105 Nur so kann er von den göttlichen Grundstoffen Kenntnis haben, die ja in ihrer reinen Form gar nicht zur Welt der Menschen gehören; nur so kann er vollen Einblick in die Tätigkeit der beiden vorantreibenden kosmischen Mächte haben 106 Zwar sind Liebe und Streit in der Welt der Menschen in einer ihrem Wirken im großen zyklischen Prozess entsprechenden Weise tätig 107 Aber die Menschen kennen sie nur von ihrer beschränkten Erfahrung her, und das war damals, als sie Aphrodite allein verehrten, nicht anders Das wird durch einige Zeilen des berühmten Fragments B 17 / D 73 bestätigt: Betrachte sie / d h Φιλότης, die Liebe / mit deinem Verstand – sitze nicht bloß da und staune sie mit den Augen an! Sie ist es, von der auch die Sterblichen annehmen, dass sie in ihren Gliedern verwurzelt sei, und durch welche sie liebevolle Gedanken hegen und

104 Vgl oben 3 1 1 , bei Anm  27–28, und 3 1 1 2 a E Einige Beispiele solcher Metaphorik: „die Tränen der Nestis“ (31 DK B 6 / D 57), „die Hände der Kypris“ (B 75 / D 200 und B 95 / D 217), „die Glieder des Gottes“ (B 31 / D 95), „die breite (oder schöne) Brust der Erde“ (B 96 / D 192); „der Schweiß der Erde, das Meer“ (B 55 / D 147 a); „der behaarte Leib der Erde“ (B 27,2 / D 96 = Plut mor 926e, mit der Lesart von Karsten: δέμας) u a m Sein Hang zu Metaphern wurde von Aristoteles hervorgehoben, s fr  17 Gigon = 70 Rose (Diogenes Laërtios 8,57) 105 Zur Frage des Sprechers im Werk des Empedokles s oben Anm 97 a E Der unterschiedliche Status des Sprechers im Verhältnis zu den Zuhörern, oder zu den Menschen im Allgemeinen, wird in mehreren Fragmenten betont, s B 23,11 / D 60 (θεοῦ πάρα μῦθον ἀκούσας); Β 112–114 / D 4–6 Vgl B 4 / D 47 In B 112,4 / D 4 bezeichnet er sich als Gott (ἐγὼ δ’ ὑμῖν θεὸς ἄμβροτος, οὐκέτι θνητός) Meine eigene Kompetenz reicht nicht dazu aus, um eine wohlbegründete Meinung in der Frage zu haben, ob unsere erhaltenen Fragmente einem einzigen Werk entstammen oder zweien Dennoch sei es mir erlaubt, so viel zu sagen, dass vom Standpunkt der hier untersuchten Problematik aus gesehen mir der Gedanke durchaus attraktiv erscheint, dass sie alle einem Werk entnommen sind, dessen Inhalt insgesamt einem göttlichen Sprecher in den Mund gelegt wird, gerade weil der Erkenntnisstand des Sprechers so oft und so eifrig als weit über menschliche Maße erhoben bezeichnet wird 106 S oben Anm  102 107 Simplikios CAG 10 p  1124,9 ff (bei DK im Vortext zu B 20 angeführt; bei LM R 79) Vgl Wright 1981, 48

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Handlungen der Vereinigung ausführen, wobei sie sie mit Beinamen „Freude“ nennen und „Aphrodite“ Dass sie es ist, die unter jenen / d h den Wurzelwerken / sich hin und her wendet, weiß kein sterblicher Mann. Du aber höre meiner Rede untrüglichen Weg!108

Die übergeordnete Bedeutung, die der Aphrodite im ewigen kosmischen Zyklus zukommt, sei demgemäß nicht nur den jetzigen Menschen unbekannt – kein Sterblicher habe sie ja jemals verstanden, οὔ τις δεδάηκε θνητὸς ἀνήρ 109 Die Menschen sind in ihrer eigenen Weltperiode befangen, und das Wirken der Aphrodite in der größeren Perspektive wird ihnen nie bewusst Auch damals, in der Zeit der vorbildlichen Opfersitten, haben sie dazu keinen Zugang gehabt Darüber verfügt einzig der privilegierte Sprecher Die Vorstellung, die die Menschen von Aphrodite haben, ist nicht nur unvollständig, sie ist auch fehlerhaft Ich sehe in V  21 einen betonten Gegensatz zwischen den beiden Erkenntnisorganen νόῳ bzw ὄμμασι, dem Verstand und den Augen Die Augen haben, wie ich meine, tragende Bedeutung: Die anthropomorphen Darstellungen der Aphrodite unterbauen fehlerhafte Vorstellungen von ihrem Wesen 110 Es scheint nun, als seien die frühen Aphroditeverehrer der fehlerhaften anthropomorphen Gottesvorstellung schon verhaftet gewesen Denn was haben wohl die fromm gestifteten ἀγάλματα von B 128 / D 25 dargestellt, die sie der Göttin dargebracht haben? Es liegt am nächsten, an anthropomorphe Darstellungen der Göttin selber zu denken 111 Zu beachten ist auch, dass diese frommen Menschen offensichtlich voraussetzen, dass

108 Empedokles 31 DK fr B 17,21–26 / D 73: τὴν σὺ νόῳ δέρκευ, μηδ᾽ ὄμμασι ἧσο τεθηπώς· / ἥτις καὶ θνητοῖσι νομίζεται ἔμφυτος ἄρθροις, / τῇ τε φίλα φρονέουσι καὶ ἄρθμια ἔργα τελοῦσι, / Γηθοσύνην καλέοντες ἐπώνυμον ἠδ᾽ Ἀφροδίτην· / τὴν οὔ τις μετὰ τοῖσιν ἑλισσομένην δεδάηκε / θνητὸς ἀνήρ· σὺ δ᾽ ἄκουε λόγου στόλον οὐκ ἀπατηλόν Zu Primavesis Übersetzung (2012, 465; bei ihm Nr  66 b, 252– 257), von der ich ausgegangen bin, s die folgenden Anmerkungen (Die Hervorhebung stammt von mir) 109 In Primavesis Übersetzung ist diese Pointe nicht deutlich zu ersehen Vgl dafür Inwood 2001, 225 (bei ihm fr  25): „Her no mortal man has perceived whirling among them “ Ähnlich Graham 2010 Bd  1, 353 (Text 41); Wright 1981 (Nr  8), 167; LM S  415 („That it is she who is going around among them [i e the elements], no mortal man knows this “) Einige Verse von B 17 / 73 finden sich am Anfang des größten Bruchstücks des Straßburger Papyrus Das Fragment ist in dieser Weise beträchtlich erweitert worden Die hohe Verszahl bei Primavesi Nr 66 b bezieht sich auf die von ihm aufgrund einer stichometrischen Markierung (= Z  300) am Rand des Papyrusbruchstücks a (ii) rekonstruierte exakte Position der Verse im Gesamttext des ersten Buchs der Physika (s Primavesi 2008 b, 11) Vgl LM S  410 Anm  1 zum Fragment 110 Primavesis Übersetzung wird diesem betonten Gegensatz zwischen νόῳ und ὄμμασι nicht gerecht, und ich habe deshalb die erste Zeile geändert 111 Primavesis Übersetzung („mit frommen Kultbildern“) lässt an solche Bilder denken (LM S  377: „with pious images“) Und Wright beurteilt die Phrase wohl auch so: Es seien „presumably representations of the goddess“ (Wright 1981, 283) Freilich bezeichnet ἄγαλμα nicht immer ein anthropomorphes Götterbild, und zumal nicht schon zur Zeit des Empedokles, s dazu die eingehende Wortuntersuchung bei Scheer 2000, 8–18 Die Übersetzung der Phrase lautet bei DK S  363 „mit frommen Weihgaben“

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sie die Göttin (irgendwie) beeinflussen können (ἱλάσκοντο B 128,4) In B 128 / D 25 und B 130 / D 26 wird, wie ich glaube, ein Dasein geschildert, das durch Unschuld und naives Vertrauen auf die Göttin charakterisiert ist Die Frömmigkeit der Aphroditeverehrer baut nicht auf einem überlegenen und vollen Verständnis ihres eigentlichen Wesens, sondern lässt sich eher als kindliche Achtung, als ehrfurchtsvolle Liebe zur Göttin beschreiben, die sie sich in naiver Weise als sich selber ähnlich vorstellen Wenn ich hierin recht habe, heißt dies, dass gerade im Hinblick auf das Aufkommen der anthropomorphen Gottesvorstellung eine nicht unbedeutende Verwandtschaft besteht zwischen der Fassung des Empedokles und der Theorie des Xenophanes, die wir im nächsten Abschnitt analysieren wollen Empedokles könnte sich hier durchaus von Xenophanes haben inspirieren lassen – genauso wie er in seiner Beschreibung des „unermesslichen Willens“, der mit seinen schnellen Gedanken den Kosmos durcheilt, an gewisse Äußerungen des Xenophanes anknüpft112  – unbeschadet des Umstands, dass die beiden Denker sich in ihrer Haltung zu den Fähigkeiten und der Entwicklung der Menschheit grundsätzlich unterscheiden Während Xenophanes, wie ich seine Aussagen deute, den Menschen die Fähigkeit zu besserer Einsicht zutraut und deswegen nicht ausschließt, dass sie die fehlerhafte anthropomorphe Gottesvorstellung überwinden könnten, gilt bei Empedokles, dass wahres Verständnis des Wesens der Götter außer Reichweite der Menschen liegt, es sei denn, dass der in den Gedichten angebotene göttliche Unterricht die Angesprochenen so tief beeinflussen kann, dass ihr normaler Stumpfsinn überwunden wird und sie den Inhalt richtig aufnehmen können (B 2 / D 42; B 3 / D 44,9–13; B 4 / D 47; B 114 / D 6) 3 1 3 Die Theorie des Xenophanes Wie Empedokles formuliert Xenophanes eine explizite Absage an das traditionelle anthropomorphe Gottesbild: „Gott ist nicht von menschlicher Gestalt“, 21 DK B 23 / 8 LM D 16 113 Und ähnlich wie Empedokles, der, wie wir gesehen haben, in die112

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Empedokles B 134 / D 93,4 f : ἀλλὰ φρὴν ἱερὴ καὶ ἀθέσφατος ἔπλετο μοῦνον / φροντίσι κόσμον ἅπαντα καταΐσσουσα θοῇσιν („… sondern er war nur ein heiliger, unermesslicher Wille, der mit seinen schnellen Gedanken den ganzen Kosmos durcheilte“) Vgl Xenophanes 21 DK B 25 / 8 LM D 18: ἀλλ’ ἀπάνευθε πόνοιο νόου φρενὶ πάντα κραδαίνει, „sondern ohne Mühe erschüttert er die Welt durch seinen tätigen Willen (oder Impuls), der von seiner alles durchdringenden Einsicht ausgeht“ (s v Fritz 1968, 291) Vgl auch unser Fragment 17,25 f mit Xenophanes B 34 / 8 LM D 49,1 f (unten Anm  117 angeführt) Nebenbei gesagt soll eine der Quellen des Diogenes Laërtios (Hermippos von Smyrna) geltend gemacht haben, dass Empedokles den Xenophanes persönlich gekannt und sich darum bemüht habe, ihm nachzueifern (D L 8,56) Zum Verhältnis Empedokles – Xenophanes s Inwood 2001, 23 21 DK B 23 / 8 LM D 16: Εἷς θεός, ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος, / οὔτε δέμας θνητοῖσιν ὁμοίιος οὐδὲ νόημα „Ein Gott ist der größte unter Göttern und Menschen, / weder an Gestalt noch an Gedanken gleicht er den Sterblichen “ (S unten Anm  124 ) Vgl Empedokles B 134 / 22 LM D 93

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ser Hinsicht von Xenophanes beeinflusst sein mag, hält er die anthropomorphe Gottesvorstellung für primär Darin heben sich die beiden Denker von allen anderen ab, denn ohne Ausnahme sehen letztere im anthropomorphen Gottesbild ein irgendwie sekundär entstandenes Phänomen, sei es, dass es als falsche Vermenschlichung der Götter gilt, sei es, dass es als zulässiger Versuch gilt, das sonst nicht darstellbare Wesen Gottes in übertragener Weise zu verbildlichen 114 Während aber Empedokles mit den meisten anderen Denkern und Dichtern der antiken Welt die Auffassung teilt, dass die Geschichte der Menschheit ihren Höhepunkt bereits am Anfang, oder nahe am Anfang, gehabt habe, um sich dann ins Schlechtere zu wandeln, nimmt Xenophanes hier einen anderen Standpunkt ein „Nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles enthüllt, sondern allmählich finden sie durch Suchen das Bessere,“ heißt es im vielbesprochenen Fragment B  18 / D 53 115 Ohne im einzelnen auf die endlose Diskussion einzugehen, die in der modernen Wissenschaft über die Frage geführt wird, welche Art von Fortschritt hier gemeint ist,116 dürfen wir damit rechnen, dass die im Fragment vertretene Position bedeutsam ist, wenn es darum geht, zu rekonstruieren, wie Xenophanes die Genese der anthropomorphen Gottesvorstellung beurteilt Neben B 18 / D 53 spielt in der wissenschaftlichen Diskussion zur Epistemologie des Xenophanes das Fragment B 34 / D 49 eine Hauptrolle Es wird häufig als Argument für oder gegen bestimmte Interpretationen von B 18 angeführt Meines Erachtens ergänzen sich die beiden Fragmente in sinnvoller Weise Es heißt in B 34 / D 49 etwa folgendermaßen: Und es hat niemals ein Mensch das Sichere (τὸ σαφές) gesehen, und es wird auch niemanden geben, der Wissen besitzt über die Götter oder über das was ich über das All sage Denn auch wenn es jemandem tatsächlich gelingen sollte, geradezu exakte Wahrheit zu sagen, dann wüsste er dies gleichwohl selber nicht Überall herrscht nur Vermutung 117 114 115 116

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Die Epikureer bleiben hier wieder, wie sich von selber versteht, unberücksichtigt B 18 / LM D 53: οὔτοι ἀπ᾽ ἀρχῆς πάντα θεοὶ θνητοῖς ὑπέδειξαν, / ἀλλὰ χρόνῳ ζητοῦντες ἐφευρίσκουσιν ἄμεινον Ist in erster Linie ein soziokultureller Fortschritt gemeint (vgl z  B Dodds 1973, 4 f )? Oder bekundet das Fragment Stolz und Vertrauen auf die Errungenschaften und weiteren Aussichten eines intellektuellen und wissenschaftlichen Fortschritts (vgl Schäfer 1996, 123–126)? Will das Fragment etwa eine Aufforderung zu forschender Observation im Sinne der jonischen historie sein (vgl Lesher 1992, 153–156)? 21 DK B 34 / 8 LM D 49: Καὶ τὸ μὲν οὖν σαφὲς οὔτις ἀνὴρ ἴδεν οὐδέ τις ἔσται / εἰδὼς ἀμφὶ θεῶν τε καὶ ἅσσα λέγω περὶ πάντων· / εἰ γὰρ καὶ τὰ μάλιστα τύχοι τετελεσμένον εἰπών, / αὐτὸς ὅμως οὐκ οἶδε· δόκος δ’ ἐπὶ πᾶσι τέτυκται Eigener Übersetzungsversuch Den vielen Unklarheiten dieser Zeilen zufolge sind die Deutungen Legion, und dementsprechend ist auch die Streuung der wissenschaftlichen Positionen in der Frage, wie der epistemologische Standpunkt des Xenophanes zu charakterisieren sei, sehr breit Ich verweise auf die diesbezügliche Übersicht bei Lesher 1992, 160–169, sowie auf die Diskussion zum Thema bei Mogyoródi 2006, 129–146 Δόκος wird bei DK als „Schein(meinen)“ wiedergegeben Inzwischen herrscht im Prinzip darüber Konsens, dass eine Konnotation des Scheins oder des Falschen nicht automatisch dem Wort anheftet (s z B von Fritz 1967, 1558; Lesher 1992, 159 n  6; Schirren 2013, 365)

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Wenn wir diese Aussage so deuten dürfen, dass hier die Möglichkeit sicheren Wissens auf dem Gebiet der Theologie und der Kosmologie118 ausgeschlossen wird, entweder weil die menschliche Erfahrung dazu keinen Zugang hat, oder weil die volle Evidenz außer Reichweite liegt, dann heißt dies jedoch nicht, dass Xenophanes die Möglichkeit menschlicher Erkenntnis schlechtweg abweist, oder dass er der Empirie jeden Wert abspricht 119 Auf dem Hintergrund eines solchen Verständnisses bietet sich folgende Deutung des Fragments B 18 / D 53 an: Der Mensch darf der Möglichkeit vertrauen, durch aufmerksame Beobachtung der Erscheinungen und sorgfältige Reflexion aufgrund der Erfahrung – je breiter, um so besser – sich ein verlässliches Wirklichkeitsbild zu schaffen und es auch nach und nach gemäß neu hinzukommenden Einsichten und Erfahrungen zu korrigieren Die Fähigkeit, durch eigene Leistung Besseres zu finden, steht mit anderen Worten den Menschen grundsätzlich zu 120 Durch Aktivierung dieser Fähigkeit haben sie sich von einer negativ verstandenen Ausgangslage emporgearbeitet, und werden auch künftig auf diesem Weg weiterschreiten können Dieser Ausgangspunkt schafft die Basis für meine Rekonstruktion im Folgenden Xenophanes vertritt ein entwicklungsgeschichtliches Modell, demzufolge die anthropomorphe Gottesvorstellung als erste, generell auftretende, unvermeidliche Stufe gilt Von der eigenen Gestalt auf die der Götter zu schließen, ist nach diesem Modell ein allgemeinmenschliches Verhalten, das sich an dem Punkt der Entwicklung eines jeden Volks, wo die Menschen so weit sind, dass sie über sich selbst und über die Welt nachzudenken beginnen, von selber aufdrängt Daher die generalisierende Ausdrucksweise in fr B 14 / D 12: „Aber die Menschen meinen, dass die Götter geboren werden und Kleidung, Stimme und Gestalt haben wie sie selbst“ 121 Der beschränkte Erfahrungszustand, in dem dieser Mechanismus in Aktion tritt, erklärt – und wird sichtbar durch – den Umstand, dass jedes Volk den Göttern auch noch seine spezifischen Charakteristiken zuschreibt So meinen die Äthiopier, die Götter sähen wie Äthiopier aus (stülpnasig und dunkelhäutig), während die Thraker

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Περὶ πάντων, „über alles“, d h über das All Es ist umstritten, ob die Phrase περὶ πάντων zum Relativsatz (ἅσσα λέγω) gehört, wie hier von mir vorausgesetzt, oder ob sie dem Relativsatz übergeordnet ist (περὶ πάντων ἅσσα λέγω), was so viel heißen würde wie „über alles, was ich sage“ (vgl Lesher 1992, 168; Schirren 2013, 362 und dens , 1998, 147–150) 119 Dass Xenophanes einen mehr oder weniger strengen Skeptizismus vertreten habe, wird gelegentlich in der doxographischen Tradition geltend gemacht, allerdings meist in Zusammenhängen, die dieser Charakterisierung direkt widersprechen, wie in 21 DK A 32 / D 23 und A 33 (in 8 LM D 22 nicht enthalten) S dazu die kritische Musterung von Mansfeld 1987, 295–298 = 1990, 156–159 120 Vgl Voigtländer 1980, 57 f Schirren 2013, 366: „B 18 ist der früheste Beleg einer Aszendenztheorie menschlicher Entwicklung “ 121 21 DK fr B 14 / D 12: ἀλλ᾽ οἱ βροτοὶ δοκέουσι γεννᾶσθαι θεούς, τὴν σφετέρην δ᾽ ἐσθῆτα ἔχειν φωνήν τε δέμας τε Nach dieser Deutung ist das Possessivpronomen σφετέρην ein indirektes Reflexivum und bestimmt alle drei Substantive Lesher bezieht das Pronomen allein auf die Kleidung, und es sei somit eine vermeintliche besondere Götterkleidung gemeint (Lesher 1992, 85 f und bes 89)

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hingegen überzeugt sind, dass sie den Thrakern ähnlich seien (d h blauäugig und rothaarig) 122 Dass es sich um ein generell in Erscheinung tretendes Phänomen handelt, wird in fr  15 / D 14 in pointierter Weise zum Ausdruck gebracht, indem der Reflex, die eigene Gestalt auf die Götter zu projizieren, sogar auf die Tiere ausgedehnt wird: Wenn diese Hände hätten und im Stande wären, wie die Menschen Götterbilder herzustellen, dann würden sich daraus lauter rind-, löwen- und pferdegestaltete (usf ) Götterbilder ergeben 123 Dass ein bestimmter Mechanismus des Bewusstseins sich so auswirkt, dass der an sich richtige Glaube an die Existenz des Göttlichen dadurch verdreht wird, dass das verehrende Subjekt dazu verfällt, das verehrte Objekt als (übersteigertes) Selbstbild zu betrachten, bedeutet nicht, dass das Verhalten nicht überwunden werden kann Schon der Umstand, dass Xenophanes selbst ein anderes Gottesbild vertritt, zeigt ja, dass er vorausgesetzt haben muss, dass zumindest einzelne Individuen im Stande seien, zu einer anderen, besseren Gotteserkenntnis vorzudringen 124 Zudem muss er gewusst 122

21 DK fr B 16 / D 13: Αἰθίοπές τε σιμοὺς μέλανάς τε / Θρῆικές τε γλαυκοὺς καὶ πυρρούς Ergänzungen von Diels DK 1 S  133 123 21 DK fr B 15 / D 14: ἀλλ᾽ εἰ χεῖρας ἔχον βόες ἠὲ λέοντες / ἢ γράψαι χείρεσσι καὶ ἔργα τελεῖν ἅπερ ἄνδρες / ἵπποι μέν θ᾽ ἵπποισι βόες δέ τε βουσὶν ὁμοίας / καί θεῶν ἰδέας ἔγραφον καὶ σώματ᾽ ἐποίουν / τοιαῦθ᾽ οἷόν περ καὐτοὶ δέμας εἶχον Ich gebe die Zeilen mit den Ergänzungen von Diels wieder (die Pferde in Z  1 sind natürlich aufgrund von Z  3 eingeführt worden) Es ist nicht notwendig, auf andere Ergänzungsvorschläge oder etwaige Ergänzungsmöglichkeiten einzugehen, da es uns hier um den Gesamtgedanken geht, und nicht um die Einzelformulierungen Nach Heitsch 1994, 15, soll Xenophanes nicht darauf aus gewesen sein, die Gottesvorstellungen als falsch darzustellen; was er kritisieren wolle, sei vielmehr, dass die Völker Bilder der Götter machen Wenn ich Heitsch richtig verstehe – was freilich nicht sicher ist – soll die Vermenschlichung der Götter irgendwie sekundär zur Herstellung von Götterbildern in menschlicher Form sein Möglicherweise stellt sich Heitsch vor, dass Xenophanes damit gerechnet habe, die ersten menschlich gestalteten Götterbilder seien als symbolhafte Ausdrücke göttlichen Wesens gemeint gewesen, seien aber als konkrete Abbildungen missverstanden worden, so dass erst die anthropomorphe Darstellung die Überzeugung von der tatsächlichen Menschenähnlichkeit der Götter veranlasst habe Jedoch liefert fr  B 15 / D 14 sofort den Gegenbeweis: Gemeint ist dort selbstverständlich, dass die Selbstprojektion sich automatisch und von selbst anbiete, d h dass sie ohne besonderen Anstoß in der Imagination entstehe, nicht erst als Konsequenz eines Einflusses vorher schon vorhandener Bilddarstellungen Das Gedankenexperiment mit den Tiergöttern wäre sonst sinnlos Dass Xenophanes damit gerechnet hätte, dass auch nur ein einziges voll anthropomorphes Götterbild mit der Intention aufgestellt worden sei, das Wesen Gottes in indirekter Weise auszudrücken, ist so gut wie ausgeschlossen Wie ich schon in der Einleitung klargemacht habe (Kap  1 1 ) und unten (Kap  4 0 ) eingehender erörtern will, wird die Möglichkeit einer nicht-buchstäblichen Bedeutung der menschlichen Gestalt erst sehr spät erwogen Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Kritik des Xenophanes hier primär auf die Gottesvorstellung als solche abzielt, nicht auf die Bilddarstellung So spricht auch der überlieferte Wortlaut in B 14 / D 12 vom Glauben (δοκέουσι) 124 Die berühmten Fragmente B 23–26 / D 16–19 vermitteln uns ein Bild von der eigenen Gottesvorstellung des Xenophanes B 23 / D 16 bildet insofern ein Gegenstück zu B 14 / D 12 und B 16 / D 13, als hier ausdrücklich gesagt wird, dass Gott nicht von menschlicher Gestalt sei: εἷς θεός, ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος, / οὔτε δέμας θνητοῖσιν ὁμοίιος οὐδὲ νόημα „Ein Gott ist der größte unter Göttern und Menschen, / weder an Gestalt noch an Gedanken gleicht er den Sterblichen “ Die

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haben, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung de facto nicht überall galt Er muss jedenfalls mit den charakteristischen Zügen der Religion der Perser bekannt gewesen sein Seine eigene Vaterstadt, Kolophon, ist zu seinen Lebzeiten von den Persern erobert worden (546/545 v  Chr ) 125 Vielleicht hat er auch die jüdische Religion mit ihrem eindeutig nicht anthropomorphen Gottesbild gekannt Die Juden konnten etwa um dieselbe Zeit aus dem Exil in ihre alte Heimat zurückkehren und durften bald mit Erlaubnis des Kyros damit beginnen, den Tempel wiederherzustellen Während die Griechen im Hinblick auf ihre Gottesvorstellung nach der Meinung des Xenophanes noch nicht über die Elementarstufe hinausgelangt waren, wird er die persische, gegebenenfalls auch die jüdische Religion als fortgeschrittenere Entwicklungsstufe verstanden haben 126 Neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse, Gedankenarbeit, Erziehung, dürfen als Faktoren vermutet werden, durch die die Elementarstufe überwunden werden kann, bei ganzen Völkern, wie bei den Persern, oder im kleineren Ausmaß, wie im Falle griechischer Philosophen Wer z B erfahren oder beobachtet hat, dass die Vorstellung von menschenähnlichen Göttern in einer Menge von Varianten auftritt, wobei die Unterschiede in einem deutlichen Verhältnis zu den äußeren Charakteristiken der

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endlose Diskussion um die exakte Deutung der ersten Zeile kann hier außer Acht gelassen werden Die verschiedensten Lösungen sind vorgeschlagen worden, s etwa die (zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangenden) Erörterungen bei Schäfer 1996, 164–170, und Finkelberg 1990, 145 Anm  101 Im kurzen fr B 24 / D 17 erfahren wir, dass Gott „reines Sehen, reines Denken, reines Hören“ sei (οὖλος ὁρᾶι, οὖλος δὲ νοεῖ, οὖλος δὲ ἀκούει) In einem erhaltenen Fragment (B 22 / D 54,5) wird auf dieses Ereignis angespielt („Der Meder“, der hier erwähnt wird, ist Harpagos, der zu Kyros übergetreten war und als dessen Feldherr u a die jonischen Städte unterwarf ) Wie Xenophanes selbst berichtet, hat er im Alter von 25 Jahren seine Heimatstadt verlassen (B 8 / D 66) Die Frage, ob die Eroberung ihn dazu veranlasst hat, oder ob die Auswanderung schon früher stattgefunden hatte, braucht uns hier nicht zu beschäftigen S dazu die Diskussion bei Schäfer 1996, 95 ff Herodotos (1,131) zieht aus dem Fehlen von Götterbildern und Tempeln und aus dem Umstand, dass die Perser solche Sitten für töricht halten, den Schluss, dass die Perser eben nicht, wie die Griechen, sich die Götter in menschlicher Gestalt vorstellen Auch wenn seine Schlussfolgerung nicht voll zutrifft, muss sie für einen Griechen nahe genug gelegen haben Vgl Boyce 1982, 179 Übersichtlich zur altpersischen Religion Widengren 1965, 117–155 Herodotos erzählt ferner (ebenda), dass die Perser den Himmelsrund Zeus nennen; diesem sowie der Sonne, dem Mond und den Elementen pflegen sie zu opfern Wenn Burkert recht hat, spricht aus Herodots Worten eine ähnliche Haltung wie ich sie für Xenophanes angenommen habe: Die persische Religion sei der griechischen überlegen; genauer, sie entspreche der aufgeklärten Theologie der griechischen Naturphilosophie, wobei die Priorität hier nicht den Griechen, sondern den Persern zukomme (Burkert 1963, 99, und vgl dens , 1990, 21) Freilich sollte man sich darüber im Klaren sein, dass die vorausgesetzte genaue Entwicklungsfolge hier vermutlich nicht dieselbe ist Wer die anthropomorphe Gottesvorstellung als sekundäre Dekadenzerscheinung betrachtet – und dies dürfen wir vielleicht für Herodotos annehmen – nimmt logischerweise an, dass die Völker, die dieses Gottesbild nicht umfassen, dem Einfluss der negativen Entwicklung entgangen seien Bei einem Modell wie dem des Xenophanes trifft mit aller Wahrscheinlichkeit das Umgekehrte zu, d h diese Völker haben die anthropomorphe Gottesvorstellung schon überwunden

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jeweiligen Verehrer stehen, wird imstande sein, daraus zu schließen, dass das Konzept von vornherein als Folge naiver Selbstprojektion entstanden ist Somit glaube ich, dass die Fragmente B 14–16 / D 12, D 14 und D 13 weniger in der Absicht formuliert worden sind, die mangelnde Übereinstimmung religiöser Vorstellungen zu kritisieren oder ihren Inhalt zu verspotten, als mit dem Ziel, durch den Nachweis der Relativität und Subjektivität der anthropomorphen Gottesvorstellung zu erklären, wie sie aufgekommen ist, um auf diesem Wege zu demonstrieren, dass sie unbegründet sei 127 In eine andere Kategorie gehört das Fragment B 11 / D 8 (vgl auch B 12 / D 9) Wie ich oben im Kap  1 4 betont habe, gelten die Einwände, die dort gegen Homers und Hesiods Götterschilderungen gemacht werden, dem amoralischen Verhalten, das die beiden Dichter den Göttern zuschreiben, nicht der Menschenähnlichkeit der Götter als solcher Da das Modell des Xenophanes beinhaltet, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung unabhängig von und primär zu der Dichtung aufgekommen ist, ist es folgerichtig, dass die Kritik an den Dichtern diesen Grundaspekt unbeachtet lässt Ein Einwand, den Aurelius Cotta in Ciceros De natura deorum gegen ein epikureisches Argument für die Menschengestalt der Götter äußert, zeigt eine gewisse Verwandschaft mit Xenophanes B 14–16 / D 12; D 14 u D 13 Die menschliche Gestalt – so der Epikureer Velleius, ebenda 1,47 f  – müsse u a deswegen den Göttern zugeschrieben werden, weil sie allen anderen Formen an Schönheit überlegen sei Cotta bestreitet, dass die menschliche Gestalt objektiv die schönste sei; die Menschen unterscheiden sich in ihrem diesbezüglichen Urteil nicht von den Tieren, von denen jedes die eigenen Artgenossen zweifellos allen anderen vorziehen würde (1,77 f ) Nach Xenophanes wurzelt tief in der Seele der Menschen der Drang, sich fälschlich die Gottheit in einer der eigenen Gestalt ähnlichen Form vorzustellen Cotta spricht von dem  – ebenfalls tief in jedem Wesen angesiedelten  – Drang, die eigene Gattung unbewusst zu bevorzugen Cottas Vergleich mit der Tierwelt hat also, anders als bei Xenophanes, nicht primär die Funktion, die Subjektivität der Gottesvorstellung zu illustrieren, sondern dient dazu, die Subjektivität des menschlichen Schönheitsideals herauszustellen Seine Pointe besteht nicht darin, dass die Menschen a priori ihre eigene Gestalt auf die Götter übertragen Ganz im Gegenteil: Die Behauptung des Velleius, dass die Menschen immer und überall sich die Götter menschenähnlich vorstellen, weist er als mit der Wahrheit nicht übereinstimmend zurück (§ 81 f ; 92), weshalb auch dieses Argument als posi-

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Vgl Meijer 1981,  221 Dass für Xenophanes die Methode der Falsifikation als Weg zur Erkenntnis bedeutsam ist, eine Verfahrensweise, durch die auch ohne Zugang zu τὸ σαφές wesentliche Einsichten errungen werden können, wird in der modernen Diskussion betont (s z B Schäfer 1996, 110; Mogyoródi 2006, 145 f u a ) Falls Xenophanes in fr 14–16 / LM D 12, D 14 und D 13 nicht geltend machen will, dass alle Völker gegenwärtig an menschengestaltete Götter mit jeweils eigentypischen Charakteristiken glauben, wird der Einwand von McKirahan, dass andere, nachweislich vorkommende Gottesvorstellungen unberücksichtigt bleiben, geschwächt (McKirahan 2010, 60, m Anm 8)

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tive Stütze für die Menschenähnlichkeit der Götter (vgl den Vortrag des Velleius, § 46) ausscheiden müsse Cotta selbst hält es für evident, dass das (falsche) anthropomorphe Gottesbild einen ganz anderen, und zwar sekundären, Ursprung hat Mit seiner Ursprungsthese werden wir demnächst zu tun haben Dennoch ist er bereit, einzugestehen, dass die subjektive Überzeugung der Menschen, die menschliche Gestalt sei an Schönheit allen anderen überlegen, zur Befestigung der Vorstellung von der Menschenähnlichkeit der Götter beigetragen haben mag: Accessit etiam ista opinio fortasse, quod homini homine pulchrius nil videatur 128

3 1 4 ‚Pseudo-spontane‘ Entstehung: Ein problematischer Fall bei Cicero, De natura deorum 1,77 Nachdem der Epikureer Velleius im 1 Buch von Ciceros De natura deorum seinen Vortrag über die epikureische Gottesvorstellung beendet hat, ergreift C Aurelius Cotta, Anhänger der (skeptischen) Akademie, das Wort (§ 57) und liefert nach einigen einleitenden Höflichkeitsphrasen eine scharfe Kritik, die sich bis zum Ende des ersten Buchs erstreckt (§ 124) und damit um ein Wesentliches den Umfang der kritisierten Darstellung übertrifft In einer wortreichen, teilweise höhnischen Musterung weist Cotta sowohl Argumente wie Standpunkte des Velleius ab Die Rede zeichnet sich weitgehend durch ein eigenartig ruckartiges und teilweise repetitives Argumentationsverfahren aus, das auf einen modernen Leser befremdend wirkt 129 Die Eigenheiten beschränken sich nicht auf Cottas Rede Auch der Vortrag des Velleius selbst enthält eine Reihe von Idiosynkrasien Wie weit in diesen Eigenheiten 128 129

Vgl auch die Diskussion der Funktion dieses Gedankens für den Zusammenhang im Folgenden unten 3 2 1 1 (bei Anm  161 ff ) Die moderne Beurteilung von Cottas Verfahren ist nicht ganz einheitlich Die meisten Forscher halten Cottas Verfahren für unsachgemäß und manipulativ Schäublin meint, dass es nicht eigentlich mit den Prinzipien und Erfordernissen einer philosophischen Diskussion im Einklang stehe, sondern nach Art einer effektvollen Gerichtsrede gestaltet sei (Schäublin 1990, 94 f ; 100 f ) Cottas charakteristische Art, immer wieder Zusammengehöriges zu trennen, deutet Schäublin als beabsichtigt Diese Art diene Cotta „fast als methodisches Prinzip“ (ebenda 100) Kleve sieht in Cottas Verfahrensweise ein Streben, an die Argumentationsmethode des Karneades anzuschließen, die sich mehr an der Eleganz und der Wirkung als an einer sachgerechten Berücksichtigung der Argumente des Gegners orientiere (Kleve 1978, 78) Essler analysiert eingehend Cottas Argumentation in 1,105–114 und macht geltend, dass diese durch Verschiebungen, Umdeutungen und Auslassungen im Verhältnis zum entsprechenden Abschnitt der Rede des Velleius (= 1,49 f ) dessen Standpunkt verzerre (Essler 2011, 109–131; vgl ebenda 56) Demgegenüber setzt sich Auvray-Assayas (1991; vgl 2001; 1998, bes 305 ff ) für eine positivere Wertung ein: Wenn auch größtenteils „allusive et très condensée“ (1991, 60), zeuge Cottas Darstellung von eingehender Vertrautheit mit epikureischen Argumentationsmethoden, die erfolgreich und pädagogisch dazu benutzt würden, die Schwächen der Theologie der Epikureer mit Hilfe ihrer eigenen logischen Grundsätze herauszustellen und sie dazu aufzufordern, die Art, wie sie über die Götter und den Gottesglauben sprechen, in der sonst üblichen philosophischen Diskussionspraxis zu verankern

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bewusste Strategien zu erkennen sind, oder ob sie vielmehr als Reflexe der ungeheuren Schnelligkeit, mit der Cicero das Werk verfasst hat, zu verstehen sind, ist eine offene Frage 130 Andere fragliche Züge inhaltlicher und struktureller Art lassen sich eindeutiger als nicht intendiert – d h als Flüchtigkeitsfehler – bestimmen Ähnliches lässt sich auch in anderen philosophischen Werken Ciceros beobachten, vor allem in denen, die aus derselben, übermäßig produktiven Phase der Jahre 45–44 stammen 131 Hinzu kommt die Frage nach der Rolle der Überlieferung Wenn auch am ehesten dort mit Traditionsfehlern zu rechnen ist, wo gegen sprachliche Regeln verstoßen wird, lässt sich nicht ausschließen, dass gelegentlich eine inhaltliche Eigenheit auf einen durch die Überlieferung entstandenen mechanischen Fehler zurückgeht, der dann wiederum durch Versuche, eine leidlich funktionierende Syntax wiederherzustellen, maskiert worden ist Andererseits muss bei grammatischen Abweichungen ebenfalls erwogen werden, wie weit auch diese sich u U durch die Eile und die Ungeduld des Autors erklären lassen, zumal wenn sie in umfangreichen und komplizierten Satzkonstruktionen auftauchen Probleme dieser Art werden uns im Folgenden im Zusammenhang mit der Beurteilung eines bestimmten Punkts in Cottas Kritik an den von Velleius vorgelegten Argumenten für die menschliche Gestalt der Götter beschäftigen

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So z B hält McKirahan die Abweichungen von der doxographischen Tradition, die im epikureischen Vortrag des Velleius festzustellen sind, für bewusste Änderungen von Cicero selbst, in der Absicht, die Epikureer in einem negativeren Licht erscheinen zu lassen (McKirahan 1996, bes 876–878) Die Verdrehungen seien dazu da, um die unfaire Diskussionstechnik der Epikureer (von Cotta in 1,93 beanstandet) nachzumachen, und Ciceros Leser seien wahrscheinlich im Stande gewesen, das Bild von Velleius, das dadurch entsteht, korrekt als Karikatur aufzufassen Obbink 2001 vergleicht, teilweise im Anschluss an McKirahan, De natura deorum 1 mit Philodems De pietate Die Kürzungen und Entstellungen, die er bei Cicero im Verhältnis zu seiner Quelle De pietate findet, deutet Obbink teils als bewusst, in polemischer Absicht vorgenommen, teils als unbewusst, als Folgen ungenauer Kompilation (s bes S  202) Gegen diese beiden Positionen bezieht AuvrayAssayas energisch Stellung Sie unterstreicht u a , dass Velleius ein anderes Ziel verfolgt als Philodem, so dass Anlage und Inhalt von De pietate, das ohnehin mehr als „source de réflexion“, und nicht als regelrechte Textquelle zu betrachten sei, nicht ohne weiteres reproduziert werden könne (Auvray-Assayas 2001, hier 227; s auch dies 1998 und 1999; vgl auch die vorige Anm ) Vgl z  B Schäublin 1990, 87–90 Zu den Eigenheiten des ersten Buchs, die den Eindruck ungenügender Bearbeitung vermitteln, gehören die folgenden Fälle, auf die m W noch nicht hingewiesen wurde: Cotta spricht in 1,85 von der ersten rata sententia Epikurs in einer Weise, als hätte er nicht mitbekommen, dass diese schon im epikureischen Vortrag des Velleius (1,45) ausdrücklich angeführt und besprochen worden ist Und in 1,121 polemisiert er gegen Demokritos als Vorbild Epikurs (1,121), obwohl Velleius in 1,29 von dessen Theologie Abstand genommen hatte Ich erinnere hier auch an die bekannten Unstimmigkeiten hinsichtlich der Zeitspanne der Handlung: Obwohl die gesamte Diskussion sich an einem einzigen Tag vollzieht, spricht Balbus in 2,73 vom Vortrag des Velleius, als wäre er „gestern“ (hesterno die) geliefert worden, und bezieht sich Cotta in 3,18 auf das was Balbus „vorgestern“ (nudius tertius) gesagt haben soll Wie wir schon gesehen haben, wird die überlieferte Textfolge des zweiten Buchs seit Jahrhunderten als fehlerhaft betrachtet Nach allgemeinem Dafürhalten handelt es sich hier jedoch um eine erst nachträglich entstandene Abweichung, s oben 3 1 1 Anm  11

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Velleius hatte den Standpunkt verfochten, dass sowohl die Natur wie die Vernunft uns lehren, dass die Gestalt der Götter der der Menschen ähnlich sei (1,46–48) 132 In 1,76 hat Cotta in seiner Durchnahme diesen Punkt erreicht Zunächst fasst er die drei diesbezüglichen Hauptargumente des Velleius kurz zusammen: Niemand stelle sich die Götter jemals anders als in menschlicher Gestalt vor; die menschliche Gestalt sei von allen denkbaren Formen die schönste, und, schließlich, nur die menschliche Gestalt sei imstande, Vernunft zu enthalten 133 Obwohl Cotta sich in der Regel einer positiven Stellungnahme enthält – vgl seine eigenen Worte 1,60: … quid non sit citius quam quid sit dixerim; vgl auch 1,91 – äußert er gerade zu diesem Punkt eine dezidierte eigene Meinung, die er der kritischen Musterung der Argumentation des Velleius nachdrücklich voranstellt:134 „Wer ist denn jemals bei genauer Erwägung der Sachlage so blind gewesen,“ fragt er in § 77, „dass er nicht eingesehen hat, dass jene menschlichen Formen entweder durch einen Plan weiser Männer auf die Götter übertragen worden sind, um die Ungebildeten leichter von ihrer verkehrten Lebensweise abzubringen und zur Verehrung der Götter hinzuführen, oder durch Aberglauben, damit Götterbilder vorhanden sein sollten, bei deren Verehrung das Volk glauben würde, an die Götter selber heranzutreten? Dann haben die Dichter, Maler und Künstler noch dazu beigetragen, diese Vorstellung zu untermauern Denn es ging ja darum, die Götter als aktiv tätig und planend darzustellen, etwas was nicht leicht anhand einer Nachbildung anderer Formen / als der menschlichen / aufrechterhalten werden konnte Vielleicht kam auch jener Wahn hinzu, auf den du dich beziehst, nämlich der, dass einem Menschen eben nichts schöner als der Mensch erscheint “135 132

Die menschliche Gestalt der Götter gilt für die Epikureer als empirisch gesichert (vgl oben Kap  2) Die späteren Epikureer haben sich darum bemüht, zusätzlich zur empirischen Erfahrung auch noch weitere Argumente für die menschliche Gestalt der Götter anzuführen, s besonders die Argumentation des Demetrios Lakon (PHerc 1055 col 14 sq p 96 Santoro) 133 Mit dem Argument der überragenden Schönheit der menschlichen Gestalt und Cottas Entgegnung haben wir uns oben (Ende des vorigen Abschnitts, 3 1 3 ) kurz beschäftigt Auch Cottas Einwände gegen das erste Hauptargument habe ich dort kurz gestreift Die Behauptung, dass wir uns alle Gott immer nur in menschlicher Gestalt vorstellen, sei einfach falsch; wer von Kindesbeinen an daran gewohnt sei, von so gestalteten Götterbildern umgeben zu sein, dem erscheine gerade diese Form gewiss als unmittelbar selbstverständlich, aber ein Blick auf die Gottesvorstellungen anderer Völker wie etwa die der Ägypter oder der Syrier genüge, um zu beweisen, dass die generelle Behauptung keineswegs zutreffe § 81; vgl 92) 134 Schäublin, der gerade der Widerlegung des epikureischen Grundsatzes von der tatsächlichen menschenähnlichen Gestalt der Götter durch Cotta besondere Aufmerksamkeit widmet (s v a 1990, 97–100), weist darauf hin, dass kein anderer Punkt der epikureischen Theologie so ausführlich von Cotta besprochen wird wie dieser, ein Zeichen, dass er besonders herausfordernd gewirkt haben mag Ich möchte hinzufügen, dass der Umstand, dass Cotta gerade hier eine bestimmte eigene Meinung zum Ausdruck bringt, diese Vermutung noch unterstützt 135 Cic nat deor 1,77: „Quis tam caecus in contemplandis rebus umquam fuit ut non videret species istas hominum conlatas in deos aut consilio quodam sapientium, quo facilius animos imperitorum ad deorum cultum a vitae pravitate converterent, aut superstitione, ut essent simulacra quae venerantes deos ipsos se adire crederent? Auxerunt autem haec eadem poetae, pictores, opifices; erat enim non facile agentis et

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Der letzte Satz leitet zur eigentlichen Auseinandersetzung mit den epikureischen Argumenten über, die Cotta insgesamt ungenügend findet Für Cotta besteht kein Zweifel, dass es sich in Wirklichkeit um eine Vorstellung sekundärer Art handelt Er trägt seine eigene Erklärung mit großer Kraft und in kategorischen Worten vor, als sei sie geradezu selbstverständlich Trotzdem legt er sich nicht, wie die selbstsichere Wortwahl erwarten lässt, auf eine bestimmte Theorie fest Im Gegenteil werden zugleich zwei Theorien vorgelegt, und die Wahl zwischen diesen beiden wird offengelassen Denn beide können sie nicht in Frage kommen; vielmehr schließen sie sich gegenseitig aus, wie das doppelte aut … aut deutlich zeigt Was Cotta so offenkundig erscheint, ist also, dass eine dieser Theorien korrekt sein müsste, aber welche das sei, lässt er unausgesprochen Die erste Alternative stellt das Konzept von menschlich gestalteten Göttern als bewusst ersonnen und propagiert vor Es sei von klugen – oder schlauen – Politikern im Dienste der Volksdisziplin eingeführt worden Die zweite Alternative sieht dagegen, zumindest wie es zunächst erscheint, spontane Entstehung vor, und zwar unter dem Volk (den Ungebildeten), denn wie sich versteht, könnte niemand anders als impliziertes Subjekt zu superstitione („durch Aberglauben“) gedacht sein Die erste Theorie ist in ihrer Art logisch und schlüssig; sie schließt an auch sonst bekannte elitistische Ansichten über die mangelnde Fähigkeit des Volks, sich den Erfordernissen der Gesellschaft anzupassen, an Mit der zweiten Theorie steht es dagegen anders Dass eine Aussage, die die Wahl zwischen Alternativen offenlässt, mit so kompromisslosen Worten eingeleitet wird („wer ist denn so blind gewesen, dass er nicht eingesehen hat …“), mutet schon unnatürlich an Wir verstehen die kategorischen Worte Cottas als Signal, dass es überhaupt keinen Zweifel daran geben kann, wie die Idee von anthropomorphen Göttern aufgekommen sei, und deshalb wundern wir uns, wenn wir erfahren, dass die Sache keineswegs so eindeutig ist Noch befremdender ist der Umstand, dass die zweite Alternative zunächst den Eindruck einer spontanen Entstehung erweckt, aber nach dem Wortlaut im Folgenden zu urteilen („ut essent simulacra …“) sich dennoch, wie es scheint, als bewusste Initiative erweist, und zwar eine bewusste Initiative des Volks Das führt aber wiederum zu eigenartigen Konsequenzen, nicht zuletzt was den abschließenden Relativsatz betrifft: Es sieht so aus, als hätte das Volk von vornherein vorausgesehen und beabsichtigt, dass es selbst die Götterbilder für die Götter selber halten würde Aber die bewusste Einsicht oder Berechnung, dass die Götterbilder für Götter gehalten werden würden, wird doch wohl kaum demjenigen zugeschrieben, der selbst dieser Verwechslung anheimfällt molientis deos in aliarum formarum imitatione servare. Accessit etiam ista opinio fortasse, quod homini homine pulchrius nihil videatur …“ Ein isoliertes omnium steht in allen Handschriften am Anfang des Satzes, was zu verschiedenen Verbesserungsvorschlägen geführt hat Plasberg u  Ax ergänzen davor noch ein primum, andere ändern omnium zu omnino Pease lässt omnium fallen (s Pease 1,394), was ich hier ebenfalls getan habe Die Frage ist für uns ohne Belang

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Es gibt, wie ich glaube, guten Grund, dem Text hier zu misstrauen Die zweite Alternative ist nicht nur in der gesamten Evidenz von den Vorstellungen vom Aufkommen des anthropomorphen Gottesbildes ganz und gar einmalig – sie ist unverständlich Vom Wort superstitione abgesehen lassen Wortlaut und Präsuppositionen unserer Stelle insgesamt ein Bild von Erwägungen und Absichten hervortreten, das nicht zum Volk, sondern allein zur Elite stimmt Ich glaube deshalb nicht, dass Cicero die Absicht gehabt haben kann, Cotta zwei gleichwertige Theorien zur Wahl stellen zu lassen, von denen die eine den sapientes, die andere dem Volk die Urheberrolle zuteilt Vielmehr glaube ich, dass das was Cotta so selbstverständlich erscheint, nichts anderes sein kann, als dass die (theologisch absurde) anthropomorphe Gottesvorstellung auf eine einstige Elite zurückgehe, die damit bestimmte Absichten gehabt habe und mit bestimmten Reaktionen des Volks gerechnet habe Wir hätten es hier also nicht mit zwei alternativen Theorien zu tun, von denen die zweite die Urheberrolle dem Volk zuschreibt, sondern nur mit einer Theorie, und diese besagt, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung zwecks politischer Manipulation bewusst erfunden worden sei Unsere Diskussion dazu erfolgt dementsprechend erst im folgenden Hauptabschnitt dieses Kapitels (3 2 ) Dort wird Cottas Theorie in ihrer Gesamtheit eingehend besprochen werden (3 2 1 1 ) Um genauer begründen zu können, weshalb die zweite Alternative der ursprünglichen Intention nicht entsprechen kann, brauchen wir den Gesamtkontext Erst danach lässt sich sinnvoll fragen, welche etwaige Rolle Faktoren wie den hier anfangs angesprochenen zukommt, d h , ob die fehlerhafte Fassung von zwei Alternativen eine Folge der großen Hast ist, mit der das Werk verfasst worden ist, oder ob die Überlieferung daran schuld ist 3.2. Die anthropomorphe Gottesvorstellung als bewusst erfunden Zwei in ihren Grundvoraussetzungen verschiedene Modelle, die das anthropomorphe Gottesbild als bewusst erfundenes und propagiertes Konzept verstehen, sind im antiken Denken vertreten Dem Haupteinteilungsprinzip meiner Untersuchung entsprechend wird die Diskussion dieser beiden Modelle auf Kapitel 3 einerseits und 4–5 andererseits verteilt, da sie in der Frage, ob dieses Gottesbild etwas über das wahre Wesen Gottes aussagt oder nicht, entgegengesetzte Positionen repräsentieren Im einen Fall wird diese Frage mit einem Ja beantwortet, und zwar sei das anthropomorphe Gottesbild – genauer: die anthropomorphe Darstellungsweise – ein Ergebnis der Suche nach einer sinnvollen Methode, das unabbildbare und unaussprechliche Wesen Gottes in übertragener Weise konkret zu veranschaulichen Meist wird die Wahl der menschlichen Gestalt damit begründet, dass zwischen Gott und Mensch eine einmalige Verwandschaft bestehe: Der Mensch sei das einzige bekannte irdische Wesen, das Vernunft besitzt, die Eigenschaft, die in besonderer Weise Gott zukommt oder gar das Wesen Gottes ausmacht Wegen dieses gleichsam synekdokischen Verhältnisses sei

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gerade die menschliche Gestalt besonders gut dafür geeignet, als Hinweis auf oder Erinnerung an Gott zu dienen Aus diesem Grund allein habe man einst begonnen, Götterbilder in menschlicher Gestalt aufzustellen Die menschliche Gestalt und die menschlich gestalteten Götterbilder sind also nach dieser Sichtweise nie dafür vorgesehen gewesen, buchstäblich verstanden zu werden Sie vermitteln den Empfängern – die verschiedentlich definiert werden können  – theologische Wahrheit in symbolischer oder übertragener Form Mit diesem Modell werden wir uns in den Kapiteln 4 und 5 beschäftigen Hier zu besprechen ist das andere Modell In den nächsten Abschnitten (3 2 1 – 3 2 2 ) gilt unsere Aufmerksamkeit denjenigen Varianten, denen zufolge die Menschenähnlichkeit der Götter als eine nach außen aufrechtzuerhaltende Fiktion gilt Der primäre Zweck des für das Volk konzipierten, ihm mutmaßlich leicht verständlichen anthropomorphen Gottesbildes ist danach, entweder ihm dadurch zum erwünschten sozialen Verhalten zu verhelfen, oder es daran zu hindern, an die einer ausgewählten Elite vorzubehaltende theologische Wahrheit heranzukommen Es handelt sich mit anderen Worten um ein vorsätzlich irreführendes Konzept, dessen vermeintlichen Erfindern zugeschrieben wird, dass sie im Interesse der politischen und sozialen Ordnung oder der Reinheit der theologischen Lehre sich bewusst über ihre eigene Überzeugung vom Wesen Gottes hinweggesetzt hätten oder diese hätten verhehlen wollen 3 2 1 Die anthropomorphe Gottesvorstellung als politisch begründete Manipulation Wohlbekannt ist die sophistische These, die in einem mehrfach bezeugten, nicht einheitlich attribuierten Fragment aus einem Drama ausführlich zum Ausdruck kommt Diese besagt, dass der Götterglaube unbegründet sei, denn die Götter seien eine reine Fiktion, ein Betrug, in der Absicht ersonnen, die Volksdisziplin besser aufrechtzuerhalten Die Fiktion stamme von einem schlauen Mann, dem einst die glänzende Idee eingefallen sei, die Lüge zu verbreiten, dass Götter im Himmel wohnten, die alles sähen und hörten Das Volk sollte also Blitze, Donner, Stürme und dergleichen als Zeichen göttlichen Unwillens über die Taten der Menschen verstehen 136 Weniger bekannt ist der Umstand, dass gelegentlich die anthropomorphe Gottesvorstellung ebenfalls als politischer Trick gilt Die betreffenden Testimonien werden

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Dies ist das sogenannte Kritias- oder Sisyphus-Fragment, s Nauck 1,43; 88 DK (Kritias) B  25; TrGF 1 nr 43 Kritias fr  1; 43 LM Dram T 63 Der Text liegt am vollständigsten bei Sextus Empiricus, math 9,54 vor In der kontroversen Frage, ob die Stelle Euripides zuzuschreiben ist, wie bei Aëtios, Plac 1,7,2 (Dox p  298), und nicht Kritias, wie Sextus angibt, braucht hier nicht Stellung genommen zu werden Vgl Dihle 1977 und s die eingehende Besprechung der Frage bei Pechstein 1998, 311–318 bzw bei Whitmarsh 2014 S auch hier unten Anm  138

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zwar häufig angeführt und besprochen, nur werden sie eigenartigerweise beinahe ausnahmslos mit dem Standpunkt des genannten Fragments verwechselt 137 Dabei ist die Leugnung der Existenz von Göttern, wie sie im Fragment zum Ausdruck kommt, gewiss die ausgefallenere Position 138 Der Vertreter des hier zu besprechenden Modells glaubt, anders als ein Befürworter des im Sisyphos-Fragment vorliegenden Standpunkts, an die Existenz des Göttlichen Die Fiktion betrifft also nicht das Göttliche an sich, sondern die Form und die Eigenschaften der als wirklich existierend verstandenen Götter Der Vertreter unseres Modells nimmt dabei unzweifelhaft die philosophische Standardposition ein, die besagt, dass die Götter nicht zu fürchten seien Da aber die Ausübung des offiziellen Kults auf der Voraussetzung baut, dass die Götter das Verhalten eines jeden aufmerksam verfolgen und strafend bzw belohnend eingreifen, muss er, um die Brücke zum öffentlichen Kult zu schlagen, eine Methode finden, die im Kult vermittelte Sichtweise trotz seiner eigenen davon abweichenden Überzeugung zu unterstützen Als Ausweg bietet sich die Vorstellung von den mangelnden sozialen Fähigkeiten des Volks an, die er mit den etwaigen Vertretern der im Sisyphos-Fragment ausgedrückten Position teilt: Es wird vorausgesetzt, dass dem Volk die Kraft oder der Wille fehle, von sich aus den Erfordernissen der Gesellschaft zu entsprechen Nur aus Furcht vor negativen Konsequenzen vermöge es sich ruhig und anständig zu verhalten Man müsse somit dafür sorgen, dass das Volk in möglichst hohem Grad sich daran gehindert fühle, seinem vermeintlich schlechten Charakter nachzugeben, und dies sei am besten zu erreichen, wenn es das Gefühl habe, ständig von drohenden Mächten überwacht zu sein, die gnadenlos gegen jeden Fehlschritt einschreiten 139

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S Kap   2 gegen Ende (Kleindruck), wo ich unterstreiche, dass die Furcht vor falschen Göttern nicht mit falscher Furcht vor Göttern, deren Existenz nicht in Frage gestellt wird, verwechselt werden darf Kahn 1997 schließt sich Dihle an, indem er es für bewiesen hält, dass das Stück einen Teil einer Rede des Sisyphos innerhalb des nach diesem benannten Satyrspiels von Euripides ausmacht (1997, 261 f ), und bemerkt, dass es kaum Zufall sein dürfte, dass die radikale These gerade von Sisyphos selber ausgesprochen wird Die kontroversesten Äußerungen der Zeit finden wir im Rahmen des dramatischen Dialogs, und zwar werden sie interessanterweise den zwielichtigsten Rollen in den Mund gelegt („the conventions of the theatre allow the gangster type to speak openly“, ebenda 262) Vgl die interessante Deutung der Strategie bei Aëtios, Plac 1,7,2 (Dox p 298) Neuerdings hat Whitmarsh allerdings vorgeschlagen, dass hier keine Rollenfigur spreche, sondern dass das Fragment vielmehr einen Teil eines Prologs ausmache Der Aussage des Sprechers – die somit nicht auf die Perspektive eines vom Publikum eher negativ zu wertenden Rollenträgers zu beschränken sei – komme auch noch eine metapoetische Funktion als indirekte Spiegelung der Tätigkeit des tragischen Dichters zu (Whitmarsh 2014, bes 122 f ) Der Standpunkt, dass der falsche Glaube, die Götter seien zu fürchten, gesellschaftlich wünschenswert sei, ist sogar nahezu allgegenwärtig Vgl oben 1 1 und s z B Dihle, Art „Furcht (Gottes)“, RAC 8, 1972, 665–667; Brunt 1989, 178–185 Die Epikureer nehmen als einzige ausdrücklich davon Abstand, falsche Gottesfurcht zu propagieren Vgl unten Anm  141 und 144 (Plutarch)

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Diese Übereinstimmung mag dafür verantwortlich sein, dass die beiden Modelle in der Forschung verwechselt worden sind Das hier zur Diskussion stehende Modell ist jedoch ungleich komplexer, gerade weil in diesem Fall ein positives philosophisches Gottesbild vorliegt, und nicht, wie im Sisyphos-Modell, ein theologisches Vakuum Der Vertreter des Sisyphos-Modells täuscht die Existenz bedrohlicher göttlicher Mächte vor Der Befürworter unseres Modells sieht sich dazu gezwungen, sich über sein eigenes positives Gottesbild hinwegzusetzen Um den falschen Schein, dass die Götter zu fürchten seien, aufrechtzuerhalten, müsse ein Gottesbild propagiert werden, dass sich radikal von dem philosophisch korrekten unterscheide, denn dieses sei dem Volk unverständlich Einen Reflex einer solchen Haltung finden wir in einem der rhetorischen Abhandlungen, die herkömmlicherweise Menander Rhetor zugeschrieben werden; dort wird davor gewarnt, „physische“ oder „physiologische“ Götterhymnen öffentlich zu verbreiten „Man sollte Vorsicht üben und solche Hymnen nicht unter die große Menge und unter das Volk bringen, denn die Vielen finden sie eher unglaubwürdig und lächerlich “140 Und Philodem spottet in seiner Kritik an der stoischen Theologie darüber, dass noch niemand „aus Furcht vor der Luft, dem Äther oder dem All eine unrechte Tat gemieden hat“ 141 Mit anderen Worten: Das Volk brauche ein Gottesbild, das ihm verständlich sei, und zu diesem Zweck eigne sich – so der Vertreter unseres Modells – das anthropomorphe Gottesbild am besten Es wäre gut für das Volk, sich einzubilden, dass die Götter so etwas wie ewige und allwissende Supermenschen seien, die mit Zorn und Wut 140 Menander Rhetor, Περὶ ἐπιδεικτικῶν 337 (Russell  u   Wilson 1981,  12–14): …  ἐπιτηρεῖν δὲ χρὴ καὶ μὴ εἰς τὸν πολὺν ὄχλον καὶ δῆμον ἐκφέρειν τοὺς τοιούτους ὕμνους· ἀπιθανώτεροι γὰρ καὶ καταγελαστικώτεροι τοῖς πολλοῖς φαίνονται Die ὕμνοι φυσικοί oder φυσιολόγοι werden im selben Kapitel näher definiert: Solche Hymnen seien beispielsweise von Parmenides und Empedokles verfasst worden Es handelt sich um diese Kategorie, „wenn wir in einem Hymnus von Apollon sagen, dass er die Sonne sei, und dabei die Natur der Sonne erörtern, oder wenn wir von Hera sagen, dass sie die Luft sei, und Zeus die Wärme “ Vgl auch ebenda 333 (Russell u  Wilson 6–7) 141 Philodem piet col  13,9–15 = p 23 Henrichs 1974: ὡς οὐδὲ εἷς τῶν πώποτε ἀνθρώπων τὸν ἀέρα καὶ τὸν αἰθέρα φοβούμενος ἢ τὸ πᾶν ἀπέχεταί τινος ἀδίκου πράγματος Philodem hat sich als Ziel gesteckt, Epikur und die Epikureer gegen die Beschuldigung zu verteidigen, dass sie durch ihren Grundsatz, dass die Götter keinen Anteil am Weltgeschehen und am Schicksal der Menschen nehmen, aller Frömmigkeit den Boden entrissen und die Religion über Bord würfen Grundlage der öffentlichen Religion sei nämlich gerade der Glaube, dass die Götter die Moral eines jeden überwachen und mit Strafen und Belohnungen eingreifen Die Theologie Epikurs sei in diesem Sinne nicht nur gottlos, sondern obendrein noch gesellschaftsgefährlich, da die anspornende bzw abwehrende Funktion, die der Religion zukomme, dadurch zunichte gemacht werde (vgl unten Anm  146) In diesem Kontext setzt sich Philodem mit der angeblichen Bedeutung der Götterfurcht als soziales Instrument auseinander Philodem selbst hält es als Epikureer selbstverständlich für verwerflich und sogar kontraproduktiv, den irrigen Glauben zu verbreiten, dass die Götter zu fürchten seien S Philodemos, De pietate col  71 ll 2043–2060; 81 ll  2343–2362 Obbink 1996 Etwa zweihundert Jahre später wird Diogenes von Oinoanda verkünden, dass erst wenn es möglich wäre, alle Menschen zum Epikureismus zu bekehren, alles voll von Gerechtigkeit und Menschenliebe sein werde, fr 56 Smith 1993, S  243; 395 und 504; vgl auch 140 f ; auch in Long u  Sedley 2, 143 (1, 134) Die Gerechtigkeit hänge also nicht von der Furcht ab, sondern umgekehrt geradezu von der Freiheit von Furcht

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gegen frevelhafte Taten eingreifen, zugleich aber sowohl dazu fähig wie auch bereit seien, auf ein richtiges Verhalten positiv zu reagieren Der Gedanke, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung bewusst eingeführt worden sei, weil sie dem Volksgeist besonders gut angepasst sei, findet bei Aristoteles in der Metaphysik Ausdruck: Es gibt eine Tradition aus alter und allerältester Zeit, die in mythischer Form der Nachwelt überliefert worden ist, die darauf hinausläuft, dass diese (= αἱ πρῶται οὐσίαι, die ersten Substanzen, 1074b9) Götter seien und dass das Göttliche die gesamte Physis umfasse Was sonst gilt, sind Zusätze sagenmäßiger Art, die eingeführt worden sind, um die Menge zu überzeugen und um den Gesetzen und dem allgemeinen Wohl zu dienen, und zwar sagt man, dass sie menschengestaltet seien und auch einigen der Tiere ähnlich seien …142

Und an anderer Stelle erklärt Aristoteles, dass bei der Erziehung der Jugend Argumente oder Mahnungen offensichtlich nur die Edelsten zu beeinflussen vermögen; wenn es aber darum geht, die Vielen zu einem moralischen Verhalten anzuspornen, bleiben die Worte ohne Wirkung, …  denn sie sind nicht imstande, aus Anständigkeit zu gehorchen, sondern allein aus Furcht, und halten sich nicht von schlechten Taten ab, weil sie sich schämen, sondern weil sie Strafen fürchten 143

Dass auch sonst ein Zusammenhang zwischen Götterfurcht und anthropomorphen Göttern u U angenommen wurde, zeigt uns die kleine Schrift des Plutarch, De superstitione (Περὶ δεισιδαιμονίας) Hier werden die δεισιδαίμονες, die von ständiger Götterfurcht Heimgesuchten, u a so beschrieben, dass sie nicht nur an Stelle der wahren Eigenschaften der Götter, d h der Güte, der väterlichen Sorge und der Milde, der aller Zorn fremd sei, ihnen Furchtbarkeit, Tyrannei und Grausamkeit zuschreiben, sondern sie lassen sich außerdem auch von Bronzeschmieden, Bildhauern und Herstellern von Wachsbildern überzeugen, dass die Körper der Götter denen der Menschen ähnlich seien, 142 Arist Met Λ 8 1074a38–1074b8  … παραδέδοται δὲ παρὰ τῶν ἀρχαίων καὶ παμπαλαίων ἐν μύθου σχήματι καταλελειμμένα τοῖς ὕστερον ὅτι θεοί τέ εἰσιν οὗτοι καὶ περιέχει τὸ θεῖον τὴν ὅλην φύσιν τὰ δὲ λοιπὰ μυθικῶς ἤδη προσῆκται πρὸς τὴν πειθὼ τῶν πολλῶν καὶ πρὸς τὴν εἰς τοὺς νόμους καὶ τὸ συμφέρον χρῆσιν· ἀνθρωποειδεῖς τε γὰρ τούτους καὶ τῶν ἄλλων ζῴων ὁμοίους τισὶ λέγουσι  … Zu den vielfachen Problemen des Abschnitts s Lloyd 2000, 268–270 Lloyd spricht sich dafür aus, dass Aristoteles meine, diejenigen Elemente, die als (unwahre) Zusätze hinzugefügt worden seien, gehörten schon zur ursprünglichen Tradition (ebenda 269), während u a Boys-Stones (2001, 28, und 2003, 191) diese als später hinzugekommen deutet, zu Recht, wie ich glaube Vgl auch meinen Artikel 2017 (in schwedischer Sprache), Abschnitt 2 3 Es ist beachtenswert, dass Aristoteles damit rechnet, dass die Idee von tiergestalteten Göttern – gewiss denkt er hier an Ägypten – in derselben Weise zu erklären sei wie die anthropomorphe Gottesvorstellung 143 Arist ΝΕ 10,9 1179b7 ff S bes 10–13:  … οὐ γὰρ πεφύκασιν αἰδοῖ πειθαρχεῖν ἀλλὰ φόβῳ, οὐδ᾽ ἀπέχεσθαι τῶν φαύλων διὰ τὸ αἰσχρὸν ἀλλὰ διὰ τὰς τιμωρίας

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und fertigen sich auch solche Bilder an, schmücken sie, und beugen vor ihnen dann ihre Kniee 144

Dass Götter (und Götterbilder) in menschlicher Form besonders furchterregend sein sollten, erscheint uns keineswegs selbstverständlich und war es im antiken Denken auch nicht Wer das anthropomorphe Gottesbild nicht ablehnte, sondern darin ein vollwertiges Mittel erkannte, die Menschen zur Erinnerung an und Hinwendung zu Gott zu bringen, nahm selbstverständlich einen ganz anderen Standpunkt ein (unten Kap  5 4 ) Aber auch unter denen, die das anthropomorphe Gottesbild für grundsätzlich falsch hielten, gingen die Meinungen auseinander So lässt Philostratos seinen Helden Apollonios von Tyana seinem ägyptischen Gesprächspartner Thespesion gegenüber geltend machen, dass die ägyptischen tiergestalteten Götterdarstellungen den anthropomorphen Götterbildern u a deswegen unterlegen seien, weil sie auf Tempelräuber und andere schlimme Verbrecher keinen abschreckenden Effekt hätten (Philostr Vita Apollonii 6,19) Andererseits erfahren wir von Augustin, dass Varro gesagt haben soll, „dass diejenigen, die damit begonnen haben, öffentlich Götterbilder aufzustellen, ihren Bürgern die Furcht vor den Göttern genommen hätten und zugleich auch noch ihre Wahnvorstellungen geschürt hätten“ 145 3.2.1.1. Cottas Theorie in De natura deorum 1,77 In De natura deorum 1,77 stellt Aurelius Cotta dem von Velleius vorgetragenen epikureischen Dogma von der tatsächlich menschenähnlichen Gestalt der Götter seine eigene, nachdrücklich formulierte These entgegen Er ist kein Vertreter der Position des Sisyphos-Fragments, etwas was gegen Ende seiner Rede, wo er gerade diesen Standpunkt mit viel Nachdruck abweist, besonders deutlich hervorgeht 146 Zwar gibt er zu, dass ihn 144 Plutarchos, De superstitione 167d: εἶτα χαλκοτύποις μὲν πείθονται καὶ λιθοξόοις καὶ κηροπλάσταις ἀνθρωπόμορφα τῶν θεῶν τὰ σώματα εἶναι, καὶ τοιαῦτα πλάττουσι καὶ κατασκευάζουσι καὶ προσκυνοῦσι Variante: (ἀνθρωπόμορφα τῶν θεῶν) τὰ εἴδη ποιοῦσι καὶ τοιαῦτα κτλ „bilden die Götter in menschlicher Gestalt ab …“ Plutarch selbst ist kein Anhänger des Gedankens, dass falsche Gottesfurcht positiv oder gar notwendig sei Er verurteilt das von ihm beschriebene Verhalten in den schärfsten Worten (er hält die δεισιδαίμονες für noch schlimmer als die Atheisten), s seine Definition superst 165b; vgl Is 355c Übersichtlich zu Plutarchs Verständnis der δεισιδαιμονία in Calderone 1972, 379–381, und vgl Martin 2004, 94–98 145 Aug civ 4,31 p  186,26 Zu dieser Stelle und den damit verbundenen Problemen s unten 4 1 , m Anm 22; 4 2 1 , m Anm  39 ff , sowie 4 4 146 Cic nat deor 1,118: „Und was nun diejenigen betrifft, die behauptet haben, dass die gesamte Vorstellung von unsterblichen Göttern von weisen Männern um des Staates willen erfunden worden sei, damit diejenigen, die nicht durch die Vernunft dazu gebracht werden konnten, ihre Pflicht zu erfüllen, durch die Religion dazu veranlasst werden sollten  – haben nicht diese die gesamte Religion durch und durch aufgehoben?“ (Quid i qui dixerunt totam de dis inmortalibus opinionem fictam esse ab hominibus sapientibus rei publicae causa, ut quos ratio non posset eos ad officium reli-

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

manchmal Zweifel an der Existenz der Götter befallen Das bedeutet jedoch nicht, dass er daran zweifeln möchte; ganz im Gegenteil sagt er ausdrücklich, er begrüße jedes rationale Argument, das den überkommenen Glauben an die Existenz von Göttern bestätige (1,61 f ; ähnlich in seiner Kritik am Vortrag des Balbus, 3,7, und vgl ebenda 3,15 und 3,10) Und im dritten Buch betont er einmal in einem ganz anderen Zusammenhang, dass es sich für einen Philosophen nicht gezieme, die Götter abzuschaffen (3,44) Dass Cottas These mit Problemen verbunden ist, habe ich oben 3 1 4 schon betont Um den Überblick zu erleichtern, führe ich den lateinischen Text hier zunächst noch einmal vollständig an Quis tam caecus in contemplandis rebus umquam fuit ut non videret species istas hominum conlatas in deos aut consilio quodam sapientium, quo facilius animos imperitorum ad deorum cultum a vitae pravitate converterent, aut superstitione, ut essent simulacra quae venerantes deos ipsos se adire crederent? Auxerunt autem haec eadem poetae, pictores, opifices; erat enim non facile agentis et molientis deos in aliarum formarum imitatione servare Accessit etiam ista opinio fortasse, quod homini homine pulchrius nihil videatur „Wer ist denn jemals bei genauer Erwägung der Sachlage so blind gewesen, dass er nicht eingesehen hat, dass jene äußeren menschlichen Formen entweder durch einen Plan weiser Männer auf die Götter übertragen worden sind, um die Ungebildeten leichter von ihrer verkehrten Lebensweise abzubringen und zur Verehrung der Götter hinzuführen, oder durch Aberglauben, damit Götterbilder vorhanden sein sollten, bei deren Verehrung das Volk glauben würde, an die Götter selber heranzutreten? Dann haben die Dichter, Maler und Künstler dazu beigetragen, diese Vorstellung noch zu untermauern Denn es ging ja darum, die Götter als aktiv tätig und planend darzustellen, etwas was nicht leicht anhand einer Nachbildung anderer Formen / als der menschlichen / aufrechterhalten werden konnte Vielleicht kam auch jener Wahn hinzu, auf den du dich beziehst, nämlich der, dass einem Menschen eben nichts schöner als der Mensch erscheint “147

Cottas Theorie besagt zunächst, dass das anthropomorphe Gottesbild von einstigen klugen Männern (sapientes) erfunden worden sei Unabhängig davon, wie sich Cotta das eigene Gottesbild dieser sapientes vorstellen mag, dürfen wir davon ausgehen,

gio duceret, nonne omnem religionem funditus sustulerunt?) Es handelt sich im Vorangehenden um den Anspruch der Epikureer, durch ihre Gotteslehre die Menschen vom Aberglauben, d h von der übertriebenen Furcht vor den Göttern, befreien zu können (vgl Velleius in 1,45) Cotta hebt demgegenüber hervor, dass man dies leichter erreichen würde, wenn man die Existenz der Götter ganz und gar leugne Freilich wäre damit zugleich die ganze Religion abgeschafft – genau wie dies diejenigen tun, auf die sich Cotta mit den hier angeführten Worten bezieht In Wirklichkeit, meint Cotta kurz darauf, gehöre auch Epikur zu denen, die die Existenz der Götter verneinen und im Grunde die gesamte Religion aufheben, nur habe er nicht den Mut gehabt, diesen Standpunkt offen zu vertreten (1,121–124, Ende des ersten Buchs; s auch 1,85) Zu diesem Thema s Obbink 1989 und 1996, 12–16 147 Zur Textgestaltung s noch die Bemerkung oben Anm  135 a E

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dass er ihnen die Meinung zulegt, es würde dem Volk nützen, sich vor den Göttern zu fürchten,148 und dies sei am leichtesten zu erreichen, wenn man ihm vortäuschte, dass die Götter den Menschen ähnlich seien (wenn auch natürlich viel mächtiger und dazu allwissend und unsterblich) Im Hinblick auf Cottas eigene Position liegt es am nächsten, zu vermuten, dass er sich vorstellt, die betreffenden frühen Staatsleiter seien Agnostiker gewesen Dann hätten sie besonders gute Gründe gehabt, den eigenen Standpunkt zu verhehlen, denn es leuchtet unmittelbar ein, dass dieser keine angemessene Grundlage für eine disziplinierende Staatsreligion bieten kann Aber bei einem dogmatischen philosophischen Gottesbild wäre dies kaum anders; man hätte damit gerechnet, dass das Volk kein Verständnis dafür hätte, und so liefe es Gefahr, von ihm verachtet und verspottet zu werden, und sollte deshalb lieber möglichst verheimlicht werden 149 So weit wie bisher beschrieben ist Cottas Theorie zusammenhängend und klar Problematisch wird sie erst, wenn die alternative Erklärung unter die Lupe genommen wird: „… oder / dass die menschlichen Formen auf die Götter übertragen worden sind / durch Aberglauben, damit Götterbilder vorhanden sein sollten, bei deren Verehrung das Volk glauben würde, an die Götter selber heranzutreten “ Obwohl Cotta seinen Vorschlag in einer Weise einleitet, als sei sie glasklar, ist diese zweite Alternative alles andere als durchsichtig Wir erfahren, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung ihr Aufkommen dem Aberglauben, der superstitio, verdanke Das implizierte Subjekt dazu kann nur das Volk (die Ungebildeten, die Vielen usw ) sein Von seinem Aberglauben verleitet habe das Volk also, wie es scheint, zu glauben begonnen, dass die Götter den Menschen ähnlich seien Man würde meinen, dass darunter ein spontanes Geschehen zu verstehen sei, und dieser Eindruck wird durch den Hinweis auf die Dichter und Künstler im Folgenden unterstrichen: Durch deren Tätigkeit sei die – anscheinend spontan entstandene – Vorstellung weiter befestigt worden Es folgen jedoch unmittelbar nach dem Wort superstitione zwei Gliedsätze, die dem Eindruck einer spontanen Reaktion zuwiderlaufen Der ut-Satz scheint zu sagen, dass man (menschengestaltete) Götterbilder gewünscht habe, und dieser Wunsch kann wegen der übergeordneten Position von superstitione wohl nur dem Volk zugeschrieben werden Das würde also doch auf eine bewusste Initiative des Volks deuten Welches Motiv oder welche Begründung könnte nun einer solchen vom Volk ausge148 Beachte, wie stark die Absicht, die Cotta hier den sapientes zuschreibt, der Begründung der homines sapientes in seiner Beschreibung des Sisyphos-Modells ähnelt (§ 118, s Anm  146) 149 Vgl oben 3 2 1 a E (m Anm  140 und 141) Velleius selbst berührt die Frage nach der allgemeinen gesellschaftlichen und sozialen Potenz der philosophischen Gotteslehren nicht Fest steht aber, dass er jedenfalls nicht meint, dass Götter, wie die Hauptgegner Epikurs, die Stoiker, sie sich vorstellen, unfähig wären, Furcht zu erwecken Im Gegenteil wirft er den Stoikern vor, mit ihrem Konzept von einem alles voraussehenden und überall anwesenden und deswegen ständig arbeitsbeladenen Gott der Menschheit einen immer zu fürchtenden Tyrannen aufdrängen zu wollen Von solchen Schreckensperspektiven mache zum Glück die epikureische Gotteslehre frei (§ 54–56)

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

henden Initiative zugrundeliegen? Doch wohl nicht der Wunsch, sich selber Furcht einzujagen? Nein, wir müssten in solchem Falle, wie ich glaube, am ehesten vermuten, dass das Volk diesen Wunsch aus Sehnsucht nach Götternähe und handgreiflichem Trost gehegt hätte Das kann Cotta jedoch nicht gemeint haben, da er ja gerade die superstitio für den entscheidenden Faktor hält, und diese wird von ihm selber später derart definiert, dass darin „grundlose Furcht vor den Göttern enthalten ist“ 150 Dazu kommt die weitere Eigenheit, dass es unklar ist, wie sich das Einführen von menschlich gestalteten Götterbildern zur Idee der anthropomorphen Gottesvorstellung als solcher verhält Der Text scheint zu sagen, dass der Wunsch nach anthropomorphen Götterbildern diese Gottesvorstellung überhaupt erst bedingt habe Dass das Volk Götterbilder menschlicher Gestalt gewünscht oder den Anstoß zu ihrem Gebrauch gegeben hätte, wäre an sich kein ganz abwegiger Gedanke; dass aber jemand auf die Idee gekommen wäre, dass das Volk diesen Wunsch gehegt hätte oder diese Initiative ergriffen hätte, ohne von vornherein davon auszugehen, dass die Götter tatsächlich so gestaltet seien, ist dagegen gänzlich unwahrscheinlich Falls das Aufstellen von Götterbildern als in irgendeiner Weise primär gelten soll zur Überzeugung des Volks, dass die Götter auch wirklich so seien, dann nur unter der Voraussetzung, dass die Initiative, solche Götterbilder herzustellen, nicht vom Volk selber ausgeht Durch Bilder, die von der Elite konzipiert und aufgestellt worden wären, wäre das Volk dann dazu angeregt worden, spontan zu glauben, die Götter seien so gestaltet wie die Bilder sie darstellen 151 Soweit habe ich den Relativsatz (quae venerantes deos ipsos se adire crederent) praktisch ausgeklammert Hier stoßen wir auf weitere Probleme, die die Rolle des Volks im Entstehungsprozess noch merkwürdiger erscheinen lassen Kein Zweifel kann daran bestehen, dass das Volk (die Ungebildeten usf ) das Subjekt zu crederent sein müsste Was will der Relativsatz aber sonst besagen? Will er eine Folge des ut-Satzes ausdrücken, oder eine weitere, damit verbundene Absicht? Falls eine Folge – das heißt also, das Volk hätte, nachdem Götterbilder eingeführt worden seien, angefangen zu glauben, die Götterbilder seien die Götter selbst  – wie wollen wir erklären, dass es zunächst danach aussah, als seien die Götterbilder irgendwie vom Volk selber eingeführt oder zumindest angeregt worden (freilich aufgrund seines Aberglaubens)? Hat das Volk menschengestaltete Götterbilder gewünscht, ohne einzusehen, dass es sie für tatsächliche Götter halten würde? Oder hat das Volk, genau wie es – nach dem Wortlaut unseres Textes zu urteilen – die Götterbilder bewusst eingeführt oder angeregt

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Nat. deor 1,117 (im oben Anm   146 beschriebenen Kontext): …  (superstitionem)  … in qua inest timor inanis deorum. Vgl die ähnliche Definition von Varro bei Aug civ 6,9 p  263,20 (Varro RD fr  47 Cardauns) Kleves Deutungsvorschlag, „dass der Anthropomorphismus ein Resultat davon sein kann, dass die Menschen die menschenähnlichen Götterbilder, die sie anbeteten, mit den Göttern selbst verwechselten“ (Kleve 1963, 107), käme also allein in Frage, falls die sapientes die Urheber der Götterbilder seien Vgl hier unten Anm 156

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hat, auch noch bewusst damit gerechnet, oder gar beabsichtigt oder gewünscht, dass es so reagieren werde? Die Probleme häufen sich in unerträglicher Weise Wie ich oben 3 1 4 schon betont habe, ist die zweite Alterative Cottas nicht nur einmalig – in den übrigen Theorien, die das Aufkommen der anthropomorphen Gottesvorstellung „dem Volk“, „den Vielen“ (usw ) zuschreiben, kommt allein spontane Entstehung vor152 – sie ist geradezu unverständlich Dabei lassen die selbstsicheren Worte, mit denen Cotta seine Meinungsäußerung einleitet, alles andere als Kryptisches erwarten Schon der Umstand, dass er nach so kategorischer Einleitung überhaupt mehr als eine Theorie vorschlägt, macht stutzig Vollends unglaubhaft wird seine Sicherheit, wo sich dann herausstellt, dass die zweite Alternative gedanklich so verwirrt ist Meiner Meinung nach kann kein Zweifel bestehen, dass unser Text der ursprünglichen Intention nicht entspricht Es gibt allen Anlass, anzunehmen, dass Cotta sich für eine bestimmte Entstehungserklärung hat einsetzen wollen, die ich versuchsweise folgendermaßen beschreiben möchte: Die Vorstellung von menschengestalteten Göttern sei eine Folge einer Initiative einstiger führender Männer Diese seien auf die Idee gekommen, im Interesse der Volkserziehung menschlich gestaltete Kultbilder einzuführen Sie hätten dabei – mit gutem Grund – damit gerechnet, dass das Volk nicht nur sich dadurch verleiten lassen würde, zu glauben, die Götter seien tatsächlich den Menschen äußerlich ähnlich, sondern auch, dass es in seinem Aberglauben und seiner Unfähigkeit, abstrakt zu denken, dem Irrtum verfallen würde, zu meinen, diese Bilder seien die Götter selbst 153 Es würde das Gefühl haben, von leibhaftig anwesenden Göttern überwacht zu sein 154 Dabei würde die Illusion der regelrecht auf die Verehrer blickenden Gesichter der menschlich gestalteten Bilder den erhofften psychologischen Effekt vermutlich wesentlich unterstreichen In dieser Form hinge Cottas Modell logisch zusammen Ein solches Modell knüpft an gut belegte elitistische Vorstellungen von der Bildungslage und den moralischen Fähigkeiten der Menge an, wie wir sie oben 3 2 1 studiert haben Der beabsichtigte Wortlaut wäre dann wie folgt: Wer ist denn jemals bei genauer Erwägung der Sachlage so blind gewesen, dass er nicht eingesehen hat, dass jene menschlichen Formen durch einen Plan weiser Männer auf die Götter übertragen worden sind, um die Ungebildeten leichter von ihrer verkehrten Lebens152 153

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Oben 3 1 –3 1 2 Dieses Verhalten dürfte zu allen Zeiten häufig gewesen sein Es wird schon von Herakleitos 22 DK fr  B 5 / 9 LM D 15 beanstandet Vgl auch Plut superst 167d (oben 3 2 1 ), Is 379c, Lucilius 484–489 Marx (bei Lactanz inst 1,22,13) S auch oben, Kap  1 2 a E , mit Anm  30, sowie unten Kap  4 2 1 Anm  48 Arnobius polemisiert ausführlich gegen ein Argument, das angeblich von Verteidigern der Kultbilder angeführt werde: Die Götterbilder seien „wegen des ungezügelten und ungebildeten gemeinen Volks“ (propter indomitum atque imperitum vulgus) eingeführt worden, und zwar v a , um ihm durch den Schein der leibhaftigen Präsenz der Götter Schreck einzujagen (Arnobius nat  6,24–26)

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

weise abzubringen und zur Verehrung der Götter hinzuführen, und damit Götterbilder vorhanden sein sollten, bei deren Verehrung das Volk in seinem Aberglauben glauben würde, an die Götter selber heranzutreten?

In lateinischer Form: Quis tam caecus in contemplandis rebus umquam fuit, ut non videret species istas hominum conlatas in deos consilio quodam sapientium, quo facilius animos imperitorum ad deorum cultum a vitae pravitate converterent atque ut essent simulacra quae venerantes deos ipsos se adire superstitione crederent?

So knüpft der unmittelbar folgende Gedanke in gut begründeter Weise an: Dann haben die Dichter, Maler und Künstler dazu beigetragen, diese Vorstellung noch zu untermauern Denn es ging ja darum, die Götter als aktiv tätig und planend darzustellen, etwas was nicht leicht anhand einer Nachbildung anderer Formen / als der menschlichen / aufrechterhalten werden konnte Vielleicht kam auch jener Wahn hinzu, auf den du dich beziehst, nämlich der, dass einem Menschen eben nichts schöner als der Mensch erscheint 155

Die Reaktionen, die dem Volk zugeschrieben werden, sind hier  – wie zu erwarten war – insgesamt spontaner Art 156 Wenn diese Rekonstruktion korrekt ist, entfällt die Möglichkeit, unsere vorliegende Textfassung als ursprünglichen Flüchtigkeitsfehler zu betrachten, der stehengeblieben wäre, weil die endgültige Kontrolle ausblieb Der Wortlaut der MSS kann nur ein Ergebnis der Tradierung sein, und zwar wird die Verballhornung damit angefangen haben, dass auf einem frühen Stadium der Überlieferung das Wort superstitione versehentlich versetzt wurde Der Ort, wo es hingehört, ist der Relativsatz: quae venerantes deos ipsos se adire superstitione crederent (oder vielleicht: superstitione se adire crederent) Das Wort mag von seiner richtigen Stelle in die Zeile davor geraten sein Diese Versetzung reicht allein aus, um zu erklären, wie aus dem einen Vorschlag zwei alternative Theorien 155 156

Der Gedanke, dass die Dichtung ohne die anthropomorphe Gottesvorstellung nicht auskomme, taucht mit anderen Vorzeichen bei Ps Plutarch, De Homero 2,113 p  56 Kindstrand auf Zu dieser Stelle s den nächsten Abschnitt (3 2 1 2 ) Kleve meint offensichtlich, dass die Dichter, Maler und Künstler die Auffassung, dass die Götterbilder die Götter selbst seien, verstärkt hätten „Oder er (= der Glaube an die menschliche Gestalt der Götter) kann auf reinem Aberglauben beruhen: Die Menschen hielten die Götterbilder, die sie anbeteten, für Götter, eine Auffassung, die von Dichtern, Malern und Künstlern noch weiter verstärkt worden ist“ (1963, 103) Das kann aber doch wohl nicht Cottas Pointe sein (wenn auch eine solche Lesung von der Form des Textes her nicht undenkbar wäre) Denn wie könnten die Dichter die fehlerhafte Vorstellung von den Götterbildern beeinflussen? Was Cotta hier sagen will, ist selbstverständlich, dass die Vorstellung von der Menschengestalt der Götter von den Dichtern, Malern und Künstlern weiter untermauert worden sei Vgl Plutarch, De superstitione 167d (oben 3 2 1 a E)

3 2 Die anthropomorphe Gottesvorstellung als bewusst erfunden

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entstehen konnten, als Ergebnis eines Versuchs, den nicht mehr überzeugend klingenden Text zu verbessern Betrachten wir den mutmaßlichen Vorgang etwas näher Die Versetzung führte dazu, dass das Wort superstitione aus seinem korrekten syntaktischen Zusammenhang losgelöst wurde In seiner sekundären Position erschien es als Beiordnung zu consilio quodam sapientium (atque superstitione, ut essent …) Ein Schreiber, der über den Inhalt des Textes reflektierte und sich damit nicht zufriedengeben wollte, dass die menschliche Gestalt der Götter sowohl auf die Initiative weiser Männer wie auf den Aberglauben (des Volks, wie sich versteht) zurückgehen sollte, sah keine andere Lösung, als dass es sich um Alternativen handeln müsse, und änderte deshalb das vorhandene atque in ein aut (im erhaltenen Text das zweite) um Derselbe, oder ein Nachfolger, ergänzte dann auch das erste aut, so dass der Text die heute geläufige Gestaltung annahm Die Umstellung und die Versuche, mit ihren Folgen zurechtzukommen, müssen passiert sein, ehe der Archetypus unserer Tradition hergestellt wurde, d h sie gehören in die Zeit vor dem neunten Jahrhundert 157 Da ich der Meinung bin, dass unser Text unzweifelhaft impliziert, dass allein die sapientes die Urheber des Konzepts sein können, sehe ich im Grunde keine Alternativen zur hier vorgeschlagenen Rekonstruktion Eine zeitlang ging ich mit einem anderen Gedanken um, nämlich dass mit der Phrase consilio quodam sapientium der Entstehungsgrund vermittelt werden sollte, und dass dann zwei alternative (aut  … aut) Absichten der Urheber zur Wahl gestellt werden sollten In diesem Falle wären die beiden aut authentisch, jedoch wäre das erste aut nicht dafür vorgesehen, an seiner jetzigen Stelle zu stehen, sondern hätte erst nach der Phrase consilio quodam sapientium folgen sollen 158 Dass ein aut in dieser Weise schon beim Entstehen des Originaltexts in der Eile falsch geraten könnte, wäre vielleicht nicht ganz ausgeschlossen Aber falls die zweite Alternative noch als Absicht der sapientes gelten soll, dann ist die Überordnung des Worts superstitione sowieso falsch – es liegen genau dieselben oben schon dargelegten logischen Probleme vor Außerdem: Das zweite Glied scheint sich nicht genügend vom ersten abzuheben, um es wirklich als alternative Absicht einzuführen, wie dies durch das doppelte aut vorgespiegelt wird Wir erwarten, dass die zweite Alternative etwas Neues bringen wird Aber was sollte dies Neue sein? Dass Cotta den sapientes etwa die Absicht zuschreiben wollte, dass man dem Volk mit den Bildern eine vermeintliche trostreiche Götternähe habe suggerieren wollen, lässt sich schwer denken, und zwar gerade wegen des einen Worts superstitione, das, wie oben schon erläutert wurde, ganz andere Assoziationen als Trost und Sicherheit erweckt

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158

Die Handschriften der Bücher De natura deorum weisen eine Unmenge von größeren und kleineren Transpositionen und Lücken wie auch von Schreibfehlern, Korrekturen und Verbesserungsvorschlägen auf, über die Clark 1918, 324–363, eingehend informiert Zur Überlieferungsgeschichte s auch die praefatio von Plasberg in der BT-Ausgabe, Plasberg u Ax 1961 (oder 1933), V sqq , oder Van den Bruwaene 1970, 34–41 Vgl auch oben 3 1 1 Anm  11 Einige Überlegungen dieser Art in meinem in Artikel 2017, Abschnitt 2 3

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

Allenfalls könnte man sich vorstellen, nur das erste aut zu streichen und das zweite zu belassen, wobei dieses aut in abschwächender Bedeutung zu nehmen wäre: … dass jene menschlichen Formen durch einen Plan weiser Männer auf die Götter übertragen worden sind, um die Ungebildeten leichter von ihrer verkehrten Lebensweise abzubringen und zur Verehrung der Götter hinzuführen, oder wenigstens, damit Götterbilder vorhanden sein sollten, bei deren Verehrung das Volk in seinem Aberglauben glauben würde, an die Götter selber heranzutreten

Gemeint wäre in solchem Falle, dass das Volk, wenn nun die furchterregende Wirkung des anthropomorphen Gottesbildes sich als geringer erwiesen hätte als die Erfinder es erhofft hätten,159 zumindest reichliche Zeit auf die Pflege und Wartung der Götter(bilder) verwendet hätte und damit weniger Kraft und Energie für etwaige unerwünschte Beschäftigungen gehabt hätte 160 Andererseits melden sich auch hier ähnliche Bedenken wie ich sie eben gerade formulierte, fällt es doch schwer, zu bestreiten, dass das im ut-Satz ausgedrückte, mäßigere Ziel die Hinwendung des Volks zum deorum cultus schon mit umfassen würde Auf alle Fälle erübrigt sich die Annahme, dass der Text in der vorliegenden Form auf Cicero selbst zurückgehen könnte Letztendlich wäre es wenig glaubhaft, dass Cicero beim Verfassen so grobe inhaltliche Fehler begangen hätte, geschweige denn die syntaktische Akribie dermaßen vernachlässigt hätte, dass sich ein ganz anderer Sinn als der beabsichtigte ergeben hätte Die Annahme, dass die Überlieferung an der Verwirrung schuld sei, erscheint unter diesen Umständen überlegen, und handelt es sich um Effekte der Überlieferung, erklärt sich die Genese der Fassung der Handschriften doch wohl eher aufgrund der ersten von mir vorgelegten Rekonstruktion als aufgrund der zuletzt besprochenen Ein interessanter Fall, den zu vergleichen sich lohnen mag, da er ebenfalls zu textkritischen Überlegungen Anlass gibt, findet sich noch im selben Paragraphen, also in unmittelbarer Nähe unserer Problemstelle und im selben Kontext, der Frage nach der Entstehung der anthropomorphen Gottesvorstellung Während zu den von mir beanstandeten Zeilen m W noch nie Bedenken geäußert wurden, sind solche hier laut geworden, allerdings weniger aus inhaltlich-logischen als aus syntaktischen und stilistischen Gründen Cotta polemisiert gegen das Argument des Velleius, dass den Göttern die menschliche Gestalt auch aus dem Grund zugeschrieben werden müsse, weil diese 159

Wie wir ja oben (3 2 1 a E ) gesehen haben, gingen die Meinungen darüber, ob das anthropomorphe Gottesbild besonders furchterregend sei oder nicht, auseinander 160 Zur betreffenden Verwendung von aut, s Szantyr 499 (§ 269  b) Erst durch das nachträgliche Hinzufügen des ersten aut wäre eine Fassung zustandegekommen, nach der zwei sich gegenseitig ausschließende Alternativen präsentiert werden Auf diese Möglichkeit wies mein Kollege Hans Helander in einer Diskussion des Problems im lateinischen Seminar der Universität Uppsala am 3 4 2014 hin Ich nehme die Gelegenheit wahr, auch zwei anderen anwesenden Kollegen, Erik Bohlin und Gerd Haverling, für wertvolle Anregungen zu danken

3 2 Die anthropomorphe Gottesvorstellung als bewusst erfunden

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allen anderen Formen an Schönheit überlegen sei Der letzte von mir oben angeführte Satz (Accessit etiam ista opinio fortasse  …) leitet zu Cottas Einwänden gegen dieses Argument über:161 Es sei Unsinn, zu glauben, dass gerade die menschliche Gestalt rein objektiv die schönste Form sei Man brauche nur die Tierwelt zu vergleichen, um zu entdecken, dass es Regel sei, dass alle Individuen die eigenen Artgenossen vorziehen „Quid igitur mirum, si hoc eodem modo homini natura praescripsit, ut nihil pulchrius quam hominem putaret, eam esse causam, cur deos hominum similis putaremus?“ Vor allem sind stilistisch-syntaktische Bedenken gegen den eingeschobenen Konditionalsatz si  … putaret geäußert worden Der Leser müsse zunächst automatisch davon ausgehen, dass das si direkt von quid mirum abhänge, um dann erst zu entdecken, dass dies gar nicht der Fall ist; erst eam esse causam bringt den von quid mirum abhängigen Gedanken Einige haben deshalb vermutet, dass tatsächlich quid mirum si direkt zu verbinden sei, und dass eam esse causam cur … putaremus, das in solchem Falle isoliert dastehe, ein inkompetenter Randkommentar sei, der fälschlich in den Text geraten sei, zumal die Form putaremus gegen die normale consecutio temporum verstoße Andere haben angenommen, dass eam esse causam … usw authentisch sei, aber nicht von quid mirum abhängig sei (vielmehr sei si … putaret damit zu verbinden), dass der Text also defekt sei, so dass Ergänzungen notwendig seien 162 Wesentlich schwerwiegender erscheint mir hier jedoch der Umstand, dass sich darüber hinaus auch noch Bedenken hinsichtlich der Logik des Gedankengangs melden müssten, etwas, was jedoch m W noch nirgends vermerkt worden ist Wenn eam esse causam cur … putaremus als echt akzeptiert wird, entsteht ein Bruch in der Argumentationslinie, denn Cotta sieht ja keineswegs im natürlichen Drang des Menschen, der menschlichen Gestalt den Vorzug zu geben, den Grund für das Aufkommen der anthropomorphen Gottesvorstellung Er hat ja eben gerade mit großem Nachdruck geltend gemacht, dass jeder einsehen müsste, dass die Erklärung eine ganz andere sei Der trügerische Wahn, dass die menschliche Gestalt die schönste sei, sei höchstens ein Faktor, der zusätzlich dazu beigetragen haben könnte, die auf anderem Wege entstandene falsche Gottesvorstellung noch zu befestigen Die mit der Phrase eam esse causam, cur … putaremus verbundene Problematik unterscheidet sich allerdings in einer wichtigen Hinsicht von den Schwierigkeiten, die mit dem Wortlaut im Vorangehenden verbunden sind Wir hätten es hier mit einer gedanklichen Verschiebung im Verhältnis zum Anfang des Paragraphen zu tun, die sich erst bei eam esse causam, cur … putaremus als Widerspruch zur anfangs deklarierten Überzeugung manifestiert Die einzelnen Gedanken sind durchaus logisch 161 162

Zu diesen Einwänden s auch oben 3 1 3 a E (Kleindruck) S die Diskussion bei Pease 1, 399, der, etwas ungerecht, den Kritikern des überlieferten Satzbaus vorwirft, dass sie „have been misled by supposing that the construction was quid igitur mirum si“ Er betrachtet selbst den si-Satz als Konditionalsatz, zu dem quid mirum eam esse causam den Nachsatz bildet Die Vorgänger von Pease haben sehr wohl diese Möglichkeit gesehen und erwogen (s etwa die Diskussion bei Schoemann 1858, 318) Mirum (est) si mit dem Indikativ ist zu allen Zeiten der Latinität häufig; bei Cicero s z B div 2,114; Quinct 13 und 18; Mur 24 S auch die nächste Anm

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

und zusammenhängend163 – der Fehler liegt in der Verbindung der Gedanken Ich stelle mir vor, dass eine derartige Verletzung der Logik im Laufe der Argumentation sich bei hastiger Ausschreibung und Kompilierung verschiedener Quellen schon einschleichen könnte, ohne bemerkt zu werden, zumal wenn es um Auffassungen geht, die der Schreibende wiedergibt, vielleicht ohne sie selbst zu vertreten; dass Cicero selbst die Meinungen, die er Cotta hier zuschreibt, unterstützt, können wir ausschließen 164 Aber der Gedanke einer fälschlich in den Text geratenen Randbemerkung kommt mir schon wahrscheinlicher vor 3.2.1.2. Ps.Plutarchos, De Homero 2,113: Homer als Vater der anthropomorphen Darstellungsweise insgesamt Eine überraschende und sonst nirgends bezeugte These, wie das anthropomorphe Gottesbild entstanden sei, wird in der pseudoplutarchischen Schrift De Homero vorgelegt Gerade weil die These sonst nirgends belegt ist, ist es um so bedauerlicher, dass sie nur sehr rasch hingeworfen wird Hier gilt Homer als der Urheber der anthropomorphen Darstellungsweise überhaupt, in der Dichtung wie in der Bildkunst Das anonyme Werk dürfte von einem grammaticus des ausgehenden zweiten nachchristlichen Jahrhunderts stammen, der es als Einführung in die Homerlektüre verfasste und sich zugleich vornahm, nachzuweisen, dass Homer am Anfang aller Bildung und alles Wissens stehe 165 Dieses Bestreben mag zum Teil seinen Anspruch erklären, dass auch die Sitte, die Götter wie Menschen darzustellen, von Homer stamme Die herkömmlich kontroverse Frage nach Funktion und Inhalt des Götternarrativs konnte im Rahmen 163

Pease verteidigt seine Entscheidung, den überlieferten Text beizubehalten, mit diesem Argument (1, 399: „This construction yields a clear and appropriate sense: ‚What wonder, then, if in the same fashion nature has ordained for man that he should consider nothing more beautiful than man, that this is the reason why we considered the gods to be like men?‘“) 164 Vgl Ciceros abschließende Worte in Buch 3 § 95 165 Eine kurze übersichtliche Präsentation des aktuellen Forschungsstands hinsichtlich Zeit, Zweck und Rahmen des Werks bietet Hillgruber in Finkelberg 2011, Band 3, 697 f Zur Datierung sowie zu Inhalt und Intention des Werks, s auch Keaney u Lamberton 1996, 8–29 Der maßgebliche Text ist die Teubnerausgabe von Kindstrand (1990) S dort praefatio V‒XII zur inhaltlichen und überlieferungsgeschichtlichen Verbindung mit Plutarch, und vgl Keaney u Lamberton (im Folgenden KL) 1–4 Es herrscht Konsens darüber, dass von den beiden zusammen überlieferten, aber offensichtlich voneinander unabhängigen Teilen De Homero 1 und 2 das erste, kürzere, ein byzantinisches Werk ist (KL, 14, m Anm 49; Kindstrand 1990 praef ΧΙ) Nur De Homero 2 ist für mein Vorhaben von Interesse Dementsprechend betrifft meine Diskussion im Folgenden nur diesen Teil Ein kurzer Überblick über den Aufbau des Traktats findet sich bei Hillgruber 1994, 35 f ; ein ausführlicherer bei KL 45–53 Der Anspruch, Homer sei die Quelle alles Wissens, machte sich schon in vorsokratischer Zeit geltend und wurde immer wieder in wechselnder Form aktualisiert, stieß aber auch auf Kritik Übersicht bei Hillgruber 1994, 5–35

3 2 Die anthropomorphe Gottesvorstellung als bewusst erfunden

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des Unternehmens schlecht fehlen (s bes cap  4–6; 92 und 218,1) und mag die Idee nahegelegt haben Dagegen ist es ungleich weniger selbstverständlich, im gegebenen Kontext auch noch Herkunft und Funktion der Götterbilder zu behandeln Nach langem Zögern habe ich mich dazu entschlossen, den Fall am ehesten hier einzuordnen Bei genauerem Zusehen stellt sich nämlich heraus, dass die These mit teilweise sich widersprechenden Implikationen verbunden ist, so dass es unklar ist, welches die exakten Grundvoraussetzungen sind Es kann mit gutem Grund bezweifelt werden, dass der Autor sich die Mühe gemacht hat, über die genauen Implikationen seiner äußerst originellen Idee nachzudenken Im Rahmen seines Hauptanliegens handelt es sich um eine Kleinigkeit, und so kann vermutet werden, dass ihm die latenten Komplikationen nicht bewusst geworden sind, oder dass er sie für unwichtig gehalten hat Sein Eifer, Homer überall und grundsätzlich als Urheber oder Vorgänger herauszukehren, zeitigt ein Arbeitsverfahren, das bei aller Pfiffigkeit, wenn es darum geht, das Anliegen durch Verse der Ilias oder der Odyssee zu unterstützen, oberflächlich und mechanisch akkumulativ vorgeht Seine Phantasie und sein Erfindergeschick, wenn es darum geht, ‚Belege‘ zu finden, sind beachtenswert, seine Sorge um gedankliche Stringenz und Kohärenz entsprechend weniger hervortretend 166 Das wird schon dadurch deutlich, dass er keine Bedenken hegt, Homer als die ursprüngliche Quelle weit auseinanderliegender, auch direkt unvereinbarer, philosophischer Lehrsätze, anzugeben 167 Die Skizze der These findet sich in c  113: Weil die Dichtung aktiv handelnde Götter brauchte, stattete er sie mit Körpern aus, um dem Verständnis des Publikums ihren Willen anschaulicher zu machen Denn keine andere Art von Körper als die des Menschen ist dazu fähig, Erkenntnis und Vernunft zu fassen (2) Deswegen machte er jeden Gott dem Menschen ähnlich, schmückte sie alle mit Größe und Schönheit und gab dadurch zugleich auch Anleitung dazu, Götterbilder, die der menschlichen Gestalt genau angepasst sind, aufzustellen, und zwar um auch den weniger Intellektuellen zur Erinnerung daran zu verhelfen, dass Götter existieren 168 Hier empfiehlt sich zunächst ein Exkurs Oberflächlich gesehen mag es den Anschein haben, als bestünde zwischen De Homero 2,113 und einem um mehrere Jahrhunderte älteren Textabschnitt, Herodotos 2,53, Verwandschaft Die Ähnlichkeit sollte aber nicht überbetont werden Es heißt bei Herodotos, dass erst Hesiod und Homer den Griechen 166 Vgl KL 10; 12; 23; 25–26 Nebenbei vermerkt scheint mir die generelle Beurteilung des Textes durch KL gelegentlich etwas zu wohlwollend 167 Vgl Hillgruber 1994, 75; Long 2001, 84 (= 1992, 66); Ramelli u  Lucchetta 2004, 391 bzw KL 13 f 168 Ps Plutarchos, De Homero 2,113 p 56: Ἐπεὶ δὲ ἐδεῖτο ἡ ποίησις θεῶν ἐνεργούντων, ἵνα τὴν γνώμην αὐτῶν αἰσθήσει τῶν ἐντυγχανόντων παραστήσῃ, περιέθηκεν αὐτοῖς σώματα οὐδὲν δὲ ἄλλο σώματος εἶδος ἢ τοῦ ἀνθρώπου δεκτικόν ἐστιν ἐπιστήμης καὶ λόγου (2) προσεικάσας ἕκαστον τῶν θεῶν μετὰ τοῦ κοσμῆσαι μεγέθει τε καὶ κάλλει ἅμα καὶ τοῦτο ὑπέδειξε τὸ εἰκόνας καὶ ἀγάλματα θεῶν εἰς ἀνθρώπων εἶδος ἠκριβωμένα ἱδρῦσθαι ὑπὲρ τοῦ παρέχειν ὑπόμνησιν καὶ τοῖς ἔλασσον φρονοῦσιν, ὅτι εἰσὶ θεοί

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

eine Göttergenealogie aufgestellt hätten, den Göttern ihre Zunamen gegeben, ihre Ämter bestimmt und ihre äußere Gestalt (εἴδεα) angezeigt hätten 169 Damit will Herodotos sagen, dass diese beiden Dichter, die er für die ältesten griechischen Dichter hält,170 die spezifische Tradition, wie die Götterfamilie des griechischen Pantheons zusammengesetzt ist und wie die einzelnen Götter von den Griechen dargestellt zu werden pflegen, eingeführt haben Dagegen ist er nicht darauf aus, Hesiod und Homer als die Urheber der Idee von menschengestalteten Göttern als solcher zu bezeichnen Herodotos vertritt im zweiten Buch die Auffassung, dass die Griechen ihre Götter von anderen Völkern übernommen hätten, meist von den Ägyptern; sie hätten damit auch die dort gültige grundlegende anthropomorphe Form und die Vorstellung von Verwandtschaften und Beziehungen der Götter nach Art einer menschlichen Familie mit übernommen Herodotos geht es also nicht etwa darum, den griechischen Anthropomorphismus ägyptischem Theriomorphismus aufwertend gegenüberzustellen Es gibt in Ägypten Tiere, die als heilig gelten (2,76,3) und denen große Ehren erwiesen werden, aber diese sind in den Augen Herodots nicht selbst Götter, sondern sie sind jeweils Eigentum eines besonderen Gottes oder stehen unter besonderer Obhut eines Gottes (2,65,4; vgl 2,72; 2,74) Und der Umstand, dass die Ägypter das Bild der Isis mit Kuhhörnern zu versehen pflegen, ändert nichts an der Tatsache, dass dies ein γυναικήιον ἄγαλμα ist (2,41,2) Für den Widderkopf des Ammon gibt er eine angeblich einheimische rationalistische Erklärung an (2,42,4–6) Zudem sind die Griechen selbst nicht von ähnlichen Eigenheiten frei So ist die Darstellung von Pan mit Ziegengesicht und Bocksfüßen bei ihnen noch dieselbe wie bei den Ägyptern (2,46,2) Die ityphallischen Hermesbilder, die die Pelasger an die Athener weitergegeben haben sollen (2,51,1), sind natürlich im Grunde anthropomorph Die Göttergeschichten, die Herodotos von den ägyptischen Priestern erfahren haben will, schildern ebenso wie das homerische Epos die Taten und Erlebnisse menschlich gestalteter und wie Menschen denkender Rollenfiguren (2,42,3–6; 2,63,4; 2,122,1) Da aber die griechischen Darstellungen der Götter in Wort und Bild weder hinsichtlich ihrer Gestalt noch hinsichtlich ihrer internen Familienverhältnisse mit den ägyptischen übereinstimmen – man denke etwa an das Götterpaar Isis/Deme-

169 Herod 2,53: Ὅθεν δὲ ἐγένοντο ἕκαστος τῶν θεῶν εἴτε αἰεὶ ἦσαν πάντες, ὁκοῖοί τέ τινες τὰ εἴδεα, οὐκ ἠπιστέατο μέχρι οὗ πρώην τε καὶ χθές, ὡς εἰπεῖν λόγῳ Ἡσίοδον γὰρ καὶ Ὅμηρον ἡλικίην τετρακοσίοισι ἔτεσι δοκέω μευ πρεσβυτέρους γενέσθαι καὶ οὐ πλέοσι οὗτοι δέ εἰσιν οἱ ποιήσαντες θεογονίην Ἕλλησι καὶ τοῖσι θεοῖσι τὰς ἐπωνυμίας δόντες καὶ τιμάς τε καὶ τέχνας διελόντες καὶ εἴδεα αὐτῶν σημήναντες οἱ δὲ πρότερον ποιηταὶ λεγόμενοι τούτων τῶν ἀνδρῶν γενέσθαι ὕστερον, ἔμοιγε δοκέειν, ἐγένοντο „Von wem die einzelnen Götter geboren worden seien, oder ob sie alle ewig seien, und wie sie gestaltet seien, haben die Griechen bis gestern und vorgestern, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht verstanden Hesiod und Homer sind meiner Meinung nach nicht mehr als 400 Jahre älter als ich Diese sind es, die den Griechen eine Göttergenealogie aufgestellt haben, den Göttern ihre Zunamen gegeben, ihnen ihre Ämter und Fachbereiche zugeteilt und ihre äußere Gestalt angezeigt haben Diejenigen Dichter, von denen man sagt, dass sie früher als diese Männer gelebt haben, haben meines Erachtens in Wirklichkeit später gelebt “ 170 S den Text in der vorigen Anm Dass sie ihm nicht als die ältesten überhaupt gelten, erhellt aus einer Bemerkung in 2,23 (… Ὅμηρον δὲ ἤ τινα τῶν προτέρων γενομένων ποιητέων …)

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ter und Osiris/Dionysos (2,42,2; 2,59,2) – werden Hesiod und Homer nicht ohne guten Grund für die genaue Ausgestaltung davon verantwortlich gemacht

Der Anspruch unseres Anonymus stellt sich weit radikaler Denn der Wortlaut lässt sich wohl kaum anders als dahingehend verstehen, dass Homer der Vater der anthropomorphen Darstellungsweise schlechthin sei – die Phrase περιέθηκεν αὐτοῖς σώματα müsste eine Pioniertat Homers bezeichnen, und die gleich darauf folgende Begründung (οὐδὲν δὲ ἄλλο σώματος εἶδος …) eine angebliche Überlegung Homers wiedergeben Welche Pointe käme sonst dem ersten Satz zu, falls er bloß als generelle Reflexion zur Rolle der Menschengestalt in einem Narrativ gedacht wäre und Homer nur einem etablierten Gebrauch gefolgt sei, indem er die Götter in Menschengestalt auftreten ließ? Ferner geht ja im Folgenden klar hervor, dass der Gebrauch von anthropomorphen Götterbildern (oder jedenfalls von voll anthropomorphisierten Bildern, vgl hier gleich unten) auf ihn als ersten zurückgeführt wird Ich verstehe den Text deshalb so, dass das mythologische Götternarrativ mit seinen anthropomorphen Rollenfiguren von ausragender Schönheit und Stattlichkeit Homers Schöpfung sei Zugleich hat dieser damit auch den Anstoß zur Sitte, so gestaltete Götterbilder aufzustellen, gegeben So wie ich den diesbezüglichen Teil des Abschnitts hier paraphrasiere bzw oben übersetzt habe, bleibt es in der Schwebe, ob Homer den Gebrauch der Götterbilder indirekt angeregt habe  – also durch sein Epos mittelbar inspiriert habe  – oder ob gemeint ist, er habe selbst die Götterbilder bewusst und aktiv einführen lassen Diese Unklarheit liegt schon im Verb ὑποδείκνυμι und mag intendiert sein Die Phrase εἰς ἀνθρώπων εἶδος ἠκριβωμένα, „der menschlichen Gestalt genau nachgebildet“, gibt zu einem weiteren Fragezeichen Anlass: Soll damit vielleicht angedeutet werden, dass erst die vollendete anthropomorphe Form mit Homer verbunden sei, so dass die Zeit vor Homer rudimentär menschengestaltige Götterbilder schon gekannt habe (etwa wie die Hermesbilder der Pelasger, die diese nach Angabe Herodots an die Athener vermittelt haben sollen)?171 Oder sind die von ihm angeregten oder eingeführten Götterbilder die ersten, die überhaupt die Form des Menschen tragen? Der Umstand, dass ausdrücklich mitgeteilt wird, welche Absicht mit den menschengestalteten Götterbildern verbunden sei (ὑπὲρ τοῦ παρέχειν ὑπόμνησιν, ὅτι εἰσὶ θεοί), spricht eher für die letztgenannte Alternative, jedenfalls wenn damit die eigene Intention Homers gemeint ist In solchem Falle liegt der Schluss näher, dass Homer selbst als der aktive und bewusste Erfinder zu verstehen ist, wie immer wir uns auch die praktische Initiierung des Gebrauchs der Götterbilder vorstellen sollen Falls ferner

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Mit diesem Argument hätte sich unser unbekannter Autor vor einer heiklen Frage, mit der man ihn gerne auf die Probe gestellt hätte, elegant retten können: Wie steht es mit der Tatsache, dass nach Ilias 6 (87–92; 273; 303) im Tempel der Athena in Troja ein offensichtlich anthropomorphes Bild von ihr vorhanden ist? (Sonst werden Götterbilder bei Homer nicht erwähnt ) Vgl das oberflächlich verwandte Problem von der Gestalt des Palladiums und der Penaten, unten Kap  4 4 1

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

Homer als der erste gelten soll, der ein mythologisches Narrativ mit menschengestalteten Göttern gedichtet hat, dann erscheint es auch deswegen weniger wahrscheinlich, dass unserem Autor vorschweben sollte, die menschliche Gestalt sei (irgendwie und irgendwo) schon vor Homers Zeit als konkrete Darstellungsform in Gebrauch gewesen Das würde schlecht mit der Gesamttendenz des Werks reimen, und auch insofern liegt also die Annahme näher, dass cap  113 dahingehend zu deuten ist, dass Homer der Erfinder der anthropomorphen Darstellungsweise überhaupt sei Dass die Bilder möglichst exakt der menschlichen Gestalt nachgebildet sein sollen, dürfte mit der ihnen zugedachten Funktion zu tun haben Darauf komme ich unten zurück Ein Blick zurück auf c  92 gibt allerdings zu gewissen Bedenken Anlass: Wenn er aber durch Rätsel (αἰνιγμάτων) und gewisse mythische Reden seine Gedanken aufzeigt, so soll man das nicht für widersinnig halten Es liegt nämlich an der dichterischen Kunst und der Gewohnheit der Menschen der alten Zeit, so zu verfahren, damit die Lernbegierigen durch einen gewissen Kunstsinn bestrickt leichter die Wahrheit suchen und finden, die Ungebildeten sich aber nicht verächtlich äußern können über die Dinge, von denen sie nichts verstehen Denn es ist etwas Verlockendes, was seine Bedeutung erst durch einen Hintersinn hat, was aber offen ausgesprochen wird, liegt wohlfeil da 172

Diese Aussage erweckt den Eindruck, als ob die verhüllte Darstellungsweise schon zur Zeit Homers eine Tradition gewesen wäre, die sich anhand von psychologischen Erfahrungen mit dem Publikum ausgebildet hätte Und schon im ersten Satz des Traktats erfahren wir, dass Homer zwar ein sehr früher Dichter gewesen sei, dass er jedoch zumindest einige Vorgänger gehabt habe (De Homero 2,1,1: …  Ὅμηρον τὸν ποιητὴν χρόνῳ μὲν τῶν πλείστων, δυνάμει δὲ πάντων πρῶτον γενόμενον …) Aber, so fragt man sich, woraus hätten die vorhomerischen αἰνίγματα καὶ μυθικοὶ λόγοι bestanden, falls nicht aus Erzählungen über anthropomorphe Götter? Sehen wir aber zunächst von dieser Komplikation ab, und widmen wir stattdessen der Frage, welche Absicht Homer mit der anthropomorphen Darstellungsweise verfolgt haben soll und für welche Empfänger er sie vorgesehen haben soll, eine etwas eingehendere Betrachtung Hier lässt sich das Modell, das in c  113 skizziert wird, besser durch die Aussagen in c  92 zu einem sinnvollen Ganzen ausbauen, und zwar etwa folgendermaßen: Der weise Homer sieht für das jeweilige Medium verschiedene Rezipienten vor, und der zu vermittelnde Inhalt ist entsprechend differenziert Mit seiner Schilderung der Physik und der Theologie (wie diese in cc  93–112 und 114–121 besprochen werden) wendet er sich an einen beschränkten Empfängerkreis Da er sich des-

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De Homero 2,92 (Übersetzung Koster 1970, 147 f , leicht abgeändert) Εἰ δὲ δι’ αἰνιγμάτων καὶ μυθικῶν λόγων τινῶν ἐμφαίνεται τὰ νοήματα, οὐ χρῆ παράδοξον ἡγεῖσθαι· τούτου γὰρ αἴτιον ποιητικὴ καὶ τῶν ἀρχαίων ἦθος, ὅπως οἱ μὲν φιλομαθοῦντες μετά τινος εὐμουσίας ψυχαγωγούμενοι ῥᾷον ζητῶσί τε καὶ εὑρίσκωσι τὴν ἀλήθειαν, οἱ δὲ ἀμαθεῖς μὴ καταφρονῶσι τούτων ὧν οὐ δύνανται συνιέναι καὶ γάρ ἐστί πως τὸ μὲν δι’ ὑπονοίας σημαινόμενον ἀγωγόν, τὸ δὲ φανερῶς λεγόμενον εὐτελές

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sen bewusst ist, dass ein trockener Bericht kosmischer Vorgänge weder attraktiv noch pädagogisch ist (c  92), noch sich für einen Dichter ziemt (c  113), und die Schwierigkeit erkennt, die Macht und Wirkung eines unkörperlichen Agens klarzumachen (113; vgl 114), wählt er, seine tiefen Einsichten in die Struktur und die Mechanismen des Kosmos (93–112) und seine Kenntnis vom höchsten, allein dem Intellekt fassbaren Gott und seiner Wirkung in der Welt (114–116) in ein spannendes Drama zu verwandeln, in dem er die Götter wie leibhaftige Menschen agieren und denken lässt (113) 173 Durch diese indirekte Darstellungsweise verspricht er sich mit gutem Grund bei den vorgesehenen Rezipienten mehr Erfolg (92) Zugleich schafft er sich die Möglichkeit, solche Empfänger fernzuhalten, denen die Fähigkeit fehlt, physisch-theologische Inhalte richtig zu verstehen und ernst zu nehmen (92) Um aber zu vermeiden, dass diejenigen, denen nicht gestattet ist, an die theologische Wahrheit heranzukommen, dazu verfallen, zu glauben, dass gar keine Götter existieren, lässt er die Sitte, Götterbilder aufzustellen, initiieren (113) Die Bilder zeigen die Götter in möglichst genau gestalteter menschlicher Form, nur dass sie größer und schöner dargestellt werden als die Menschen es sind Dieses Konzept wird als wirksames erzieherisches Instrument funktionieren können Die Götter werden in einer für einfältige Seelen leicht verständlichen Form vorgeführt, die diese buchstäblich verstehen werden, und zudem werden sie auch noch glauben, dass die Bilder die Götter selbst seien, und sich nun von deren naturgetreuen Augen regelrecht überwacht fühlen 174 So könnte sich eine ausführliche und plausible Interpretation von c  113 in Verbindung mit c  92 ausnehmen Das mythologische Narrativ erfüllt die Aufgabe, das gemeine Volk von der theologischen Wahrheit, die es nicht begreifen würde und deshalb verachten würde, fernzuhalten Die Götterbilder sollen ebenfalls dazu dienen, dieses Publikum vom Wissen über das wahre Wesen der Götter auszusperren, wobei sie ihm zusätzlich auch bestimmte unwahre, aber nützliche Vorstellungen über die Götter eingeben sollen, und zwar soll das Volk sich einbilden, dass die Götter stets gegenwärtig seien und jeden überwachen, um bei Bedarf strafend oder belohnend einzugreifen Die exakte menschliche Gestalt wäre also ein psychologisch wirksames Instrument, diesen Effekt zu erreichen Nichtsdestoweniger ist das gerade gezeichnete Bild in einer bestimmten Hinsicht weniger stichhaltig Der zweite Satz („Denn keine andere Art von Körper als die des Menschen …“) leitet nämlich die Assoziationen in andere Richtung Solche Hinweise sind sonst dazu da, um zu begründen, weshalb die menschliche Gestalt trotz allem als sinnvolle Verbildlichung Gottes geeignet oder gar allein dazu geeignet sei Sie sig-

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Wir sind schon im vorigen Abschnitt meiner Untersuchung (3 2 1 1 ) auf eine Meinung gestoßen, nach der die Götter im Narrativ deshalb in menschlicher Gestalt auftreten, weil es schwer sei, „handelnde und planende Götter“ anders als menschenähnlich darzustellen Das entspricht ziemlich genau dem Gedanken am Anfang von c  113 Vgl den vorigen Abschnitt (3 2 1 1 ) sowie auch 3 2 1

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nalisieren, dass die anthropomorphe Darstellungsweise, obwohl selbstverständlich im buchstäblichen Sinne unwahr, dennoch theologisch relevant und philosophisch sinnvoll sei Denn zwischen Gott und dem Menschen als einzigem vernunftbegabten Wesen auf Erden besteht eine besondere Verwandtschaft, die die Verwendung der äußeren Gestalt des Menschen als sichtbares Zeichen für den unsichtbaren, allen Sinnen unzugänglichen Gott motiviert 175 Die Frage stellt sich also, ob meine bisherige tentative Rekonstruktion verfehlt ist Sollen wir stattdessen herauslesen, dass Homer von einem geradezu umgekehrten Standpunkt aus agiert habe, indem er mit der Wahl der menschlichen Gestalt grundsätzlich – sowohl im Narrativ wie bei den konkreten Götterbildern – die spezifische Verwandschaft von Gott und Mensch habe betonen wollen und folglich die Errichtung der menschlich gestalteten Götterbilder aus wahrer Fürsorge um die einfachen Menschen angeregt habe?176 Die Aufgabe der Götterbilder bestünde in solchem Falle darin, denjenigen, die solche handgreifliche Hilfe nötig haben, als sichtbare Vermittler zwischen der göttlichen Vernunft, die das All durchzieht (c  114), und den Menschen zu dienen Ihr Zweck wäre also gar nicht, die Rezipienten hinsichtlich des wahren Charakters der Götter irrezuführen; eine Absicht, dass die menschliche Gestalt der Götterbilder buchstäblich genommen werden sollte, läge nicht vor – ganz im Gegenteil: Es wäre mitverstanden, dass die Bilder die vermittelnde Funktion befriedigend zu erfüllen vermöchten, oder, mit anderen Worten, dass eine Gefahr nicht bestehe, dass die Empfänger außer Stande wären, ihren nicht-buchstäblichen Sinn zu verstehen Ein solches Modell von Sinn und Funktion der Götterbilder ist nachweislich durchaus denkbar Wir werden im 5 Kapitel mit einem Fall dieser Art bei Maximos von Tyros zu tun haben, in dem frühe „Gesetzgeber“ genau die Rolle einnehmen, die hier Homer zukäme 177 Gegen eine solche Deutung von De Homero 113 könnte aber eingewendet werden, dass der Wortlaut, mit dem die den Götterbildern zugrundeliegende Absicht ausgedrückt wird, in De Homero 113,2 eigenartig schroff klingt: Die Götterbilder sollen die Empfänger daran erinnern, „dass Götter existieren“ Bei Maximos heißt es, dass sie „als Zeichen der Verehrung des Göttlichen und gleichsam als Anleitung und Hilfsmittel der Erinnerung“ dienen sollen, σημεῖα τῆς πρὸς τὸ θεῖον τιμῆς, καὶ ὥσπερ 175 176

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S oben Kap  3 2 am Anfang und unten Kap  4 1 und 4 2 2 ; 5 0 ; 5 4 1 1 Als Argument für diese Betrachtungsweise könnte der Umstand angeführt werden, dass an anderen Stellen des Traktats, v a in c  5 2, aber auch in 115 und 118,2, Homers Gewohnheit, die Götter gelegentlich direkt mit den Menschen verkehren zu lassen, auf eine Absicht des Dichters zurückgeführt wird, die Fürsorge der Götter um die Menschen zum Ausdruck zu bringen: „Er ließ auch die Götter mit den Menschen verkehren, und zwar nicht nur um des Vergnügens und der Spannung wegen, sondern um damit zu veranschaulichen, dass die Götter sich um die Menschen kümmern und sie keineswegs vernachlässigen “ (5,2: πεποίηκε δὲ καὶ τοὺς θεοὺς τοῖς ἀνθρώποις ὁμιλοῦντας οὐ μόνον ψυχαγωγίας καὶ ἐκπλήξεως χάριν, ἀλλ’ ἵνα καὶ ἐν τούτῳ παραστήσῃ ὅτι κήδονται καὶ οὐκ ἀμελοῦσι τῶν ἀνθρώπων οἱ θεοί ) In diesem Zusammenhang wird nichts davon gesagt, dass der Dichter eine spezifische Zielgruppe im Auge gehabt habe Unten 5 4 2 2

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χειραγωγίαν τινὰ καὶ ὁδὸν πρὸς ἀνάμνησιν Es ist gewiss nicht von ungefähr, dass hier das platonische Schlüsselwort ἀνάμνησις gewählt worden ist Denn die Erinnerung, die die Götterbilder in den Menschen wachrufen sollen, ist hier eine ganz andere: Sie bezieht sich auf die Zeit der Präexistenz der Seele, der ursprünglichen Gemeinschaft mit Gott 178 Ferner frage ich mich, ob nicht auch der Umstand, dass bei Ps Plutarch trotz der Kürze, mit der das Thema behandelt wird, nicht nur die anthropomorphe Form der Götterbilder, sondern sogar ihre exakte Ausgestaltung ausdrücklich betont wird, gegen die Annahme spricht, dass Homer damit eine echte, väterliche Sorge um die Frömmigkeit und den Gottesglauben der weniger Gebildeten ausgeübt haben soll 179 Es liegt, wie ich glaube, wesentlich näher, die nachdrücklich betonte exakte Ausgestaltung funktional zu verstehen, und zwar so, dass die getreue Wiedergabe der Menschengestalt den illusionistischen Charakter der Bilder erhöhen soll und durch diesen Effekt die Rezipienten leichter dazu verleiten soll, sie buchstäblich zu verstehen Das wären Götter, die für einfache Seelen verständlich und überzeugend wären; sie beinahe leibhaftig vor Augen zu haben, wäre für diese Menschen eine notwendige, konkrete Mahnung zur Disziplin Die Differenzierung der Zielgruppe scheint mir ebenfalls eher für diese Lesung zu sprechen Die Verbindung einer esoterischen Vorstellung vom Götternarrativ als verhüllter Wahrheitsvermittlung mit einer Sinngebung der anthropomorphen Götterbilder, nach der die Vernunft des Menschen die Wahl gerade seiner Gestalt für die Verbildlichung Gottes begründet und diese somit als durchaus theologisch relevant angesehen wird, wäre an sich, wie wir im Kap  4 2 2 sehen werden, keineswegs ausgeschlossen Nun gilt aber in dem Fall, dass die vorgesehenen Empfänger beider Medien dieselben sind (und zwar die eingeweihte Elite) Eine Lösung, nach der die so verstandenen Götterbilder sich allein an die weniger Gebildeten richten sollten, so dass Homer sich nun plötzlich ebenso ernsthaft um diese bemüht wie um die φιλομαθεῖς (c  92), erscheint mir deswegen etwas bedenklich Im Hinblick auf die unzweifelhaft elitistische Perspektive in c 92 fällt es mir leichter, in c 113 für Homer eine entsprechende Haltung anzunehmen, eher als wahre Fürsorge um die weniger Intellektuellen, die er vom eigentlichen Inhalt des Narrativs aussperren möchte Unser Autor ist ein Kompilator, der bereitwillig alles aufnimmt, was zugunsten Homers Priorität spricht, gleichgültig auf welchem Gebiet Wir haben seine Vorstel178 179

S dazu 5 4 2 1 Bei Maximos wird im Zusammenhang mit der angeführten Angabe über die beabsichtigte Funktion der Götterbilder nicht ausdrücklich auf die anthropomorphe Gestalt der Bilder hingewiesen Wie unten 5 4 2 2 eingehender dargelegt wird, kann es dennoch keinem Zweifel unterliegen, dass gerade die menschlich gestalteten Bilder gemeint sind, noch dass diese Art von Götterbildern im Grunde als die überlegene betrachtet wird, auch und zumal wenn es darum geht, die Erinnerungsfunktion zu erfüllen Das geht zumindest indirekt aus anderen Teilen des betreffenden Textes hervor Wo es darum geht, die fürsorgliche Tätigkeit der frühen Gesetzgeber herauszustellen, wird die menschliche Gestalt der Bilder jedoch nicht ausdrücklich unterstrichen

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lungen von Absicht und Funktion des mythologischen Narrativs in c 92 studiert Wenn er Homer die Absicht zuschreibt, durch sein mythologisches Narrativ einem exklusiven Empfängerkreis versteckte Wahrheit zu vermitteln, knüpft er an eine Strategie an, die seit langem beliebt gewesen sein muss und für die er in seinen Quellen vermutlich mengenweise Beispiele finden konnte, und zwar nicht zuletzt solche, die diese Strategie gerade auf Homers Götternarrativ anwenden 180 Viele der konkreten Fälle aus den homerischen Gedichten, die er dann auf ihren verborgenen Sinn hin überprüft, sind in praktisch identischer Form bei „Herakleitos“ oder bei Cornutus zu belegen 181 Wohlgemerkt hindert ihn dies nicht daran, gelegentlich auch andere Ideen von der Rolle des mythologischen Narrativs zu verfechten 182 Die Idee, dass die Sitte, anthropomorphe Götterbilder aufzustellen, auf Homer zurückgehe, mag ein eigener verflogener Einfall unseres Autors sein 183 Hier gelingt es ihm ausnahmsweise nicht, den Anspruch mit auch nur einem einzigen Homervers zu ‚belegen‘ 184 Möglicherweise schwebte ihm dabei mehr oder weniger bewusst vor, dass die Pointe der Behauptung, Homer sei der Urheber der anthropomorphen Götterbilder, recht schwach wäre, falls schon andere Dichter vor ihm die Götter in Menschengestalt dargestellt hätten, und so kam es vielleicht, dass er in c 113 Homer kurzerhand zum Erfinder der anthropomorphen Darstellungsweise schlechthin ernennt, obwohl das nicht gut mit dem harmoniert, was in c 92 mitgeteilt wird Dort wird, wie wir sahen, deutlich impliziert, dass das mythologische Narrativ schon vor Homer in der Dichtung üblich gewesen sei Auf die im Verhältnis zur elitistischen Begründung des 180 Struck weist darauf hin, dass vor „Herakleitos“ und Pseudoplutarch wenig ausdrückliche Methodendiskussion oder Rechtfertigung der Allegorese erhalten ist (2004,  161) Wie er aber selbst bemerkt, ist die esoterische Haltung schon im Papyrus von Derveni deutlich vorhanden (ebenda 160) Aber wie ich schon in Kap  1 4 1 (Anm  60) betont habe, ergibt sich diese Perspektive letztendlich von selber Sie ist eine notwendige Konsequenz des Umstands, dass die ausgelegten Texte – etwa die homerischen Götterszenen – sich nicht selbst als Allegorien verraten Es kann also nicht jeder imstande sein, zu entdecken, dass der Text ‚in Wirklichkeit‘ von etwas ganz anderem handelt als er äußerlich kundtut Wie Struck selbst feststellt, generiert die allegorische Deutung immer zwei Gruppen, „those who know and those who do not“ (161) 181 KL 19–27 Eine bequeme Übersicht über die Übereinstimmungen findet sich bei Struck 2004, 159 Zu Cornutus s auch unten Kap  5 2 182 Der Wortlaut in c  5 und auch teilweise in c  6 verrät Einflüsse einer anderen Vorstellung von der Rolle des mythologischen Narrativs als der in c  92 vorgeführten, s Zitat aus 5,2 oben Anm  176 Ψυχαγωγία und ἔκπληξις, Spannung und Staunen, sind Schlüsselwörter der Auffassung, dass die Aufgabe der Dichtung nicht darin bestehe, zu unterrichten oder zu erziehen, sondern allein darin, dem Publikum Vergnügen zu bereiten Mittlere Positionen sind freilich häufig, und unser Autor bekennt sich am Anfang der Schrift offensichtlich zu einer solchen, da er sich dort auch dafür einsetzt, dass die homerischen Gedichte im Allgemeinen moralische Anleitung vermitteln wollen (c  5,1; vgl 4,3) Ein kurzer Überblick zu den im Altertum vertretenen Positionen in der Streitfrage, welche Aufgabe der Dichtung zukomme, findet sich bei Koster 1970, 143–151 183 Die ausdrückliche Kombination einer Diskussion der Frage nach Sinn und Funktion des anthropomorphen Götternarrativs einerseits und der Frage nach Sinn und Funktion der anthropomorphen Götterbilder ist ohnehin selten, s hier unten 3 2 2 bzw 5 0 , und vgl oben 1 4 184 Tatsächlich hätte man seine Idee hier leicht widerlegen können, s oben Anm  171

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Götternarrativs, wie ich glaube, wesentlich ‚modernere‘ Idee, dass die anthropomorphe Gestalt der Götterbilder deswegen sinnvoll sei, weil gerade der Mensch vernunftbegabt sei, mag er bei seiner Lektüre oder während seiner Ausbildung gestoßen sein und so auf den Gedanken gekommen sein, so nebenbei noch Ähnliches zu formulieren, ohne große Rücksicht darauf, wie es in den Rahmen passte 3 2 2 Macrobius, Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis 1,2,20: Das anthropomorphe Gottesbild als theologisch begründete Manipulation Zwei Werke des Macrobius sind uns überliefert worden: die Saturnalia (Sat ), die als gelehrtes Gespräch einer Reihe der letzten bedeutenden paganen Persönlichkeiten Roms gestaltet sind, und die Commentarii in Somnium Scipionis (somn ), ein Kommentar in zwei Büchern zum letzten Abschnitt des letzten (= sechsten) Buchs von Ciceros De republica Die beiden Werke dürften in der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts entstanden sein 185 Das neuplatonische Weltbild des Autors, das weitgehend die Auslegung von Scipios Traum prägt, tritt in den Saturnalia mit ihrer mannigfachen Themenwahl weniger deutlich hervor Dass der Autor in der paganen Tradition fest verankert ist und sich dazu bekennt, kann m E nicht bezweifelt werden 186 Es versteht sich von selbst, dass zur Zeit des Macrobius nicht mehr ausdrücklich in der Weise gegen das Christentum angekämpft werden konnte, wie es Porphyrios und dann Julian getan haben Kritik und Abstandnahme ebenso wie positive Werbung für einen paganen Standpunkt als lebensanschauliche Alternative mussten mit subtileren Mitteln betrieben werden 187 Zeitlich liegen die beiden Werke im Prinzip außerhalb meiner Untersuchung Dass ich mich entschlossen habe, trotzdem auf Macrobius einzugehen, liegt daran, dass ein paar kurze Bemerkungen im zweiten Kapitel des ersten Buchs der Commentarii mir als 185

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In der kontroversen Frage nach der Identität des Verfassers – die uns hier nicht weiter beschäftigen wird – scheint heute die Mehrheit dazu zu neigen, ihn mit dem praefaectus praetorio Italiae des Jahres 430 zu identifizieren ( Theodosius PLRE 2, 1101 Theodosius 8; vgl ebenda 1102 Theodosius 20) S dazu Cameron 2011, bes 231–239, und vgl Armisen-Marchetti 2001, VII–XVI Gelegentlich ist geltend gemacht worden, dass Macrobius im Grunde Christ gewesen sei Diese Meinung ist besonders eifrig von Cameron verfochten worden (Cameron 2011, 257–272; dort auch Hinweise auf frühere Beiträge) Ausführliche Auseinandersetzung mit dieser These bei Van Nuffelen 2016, 129–132; vgl auch Armisen-Marchetti 2001, XVIII–XIX Sofern die Saturnalia als Befürwortung paganer Kultur und paganer Religion betrachtet worden sind, konzentrierte sich das Interesse der Forschung meist auf die lange Rede der dominierenden Rollenfigur, des wohlbekannten Vettius Agorius Praetextatus († 384), im ersten Buch (1,17,2– 23,22) S dazu z B Flamant 1977, 35 f ; 43–45; 674–677 Inzwischen ist das Blickfeld erweitert worden So schlägt Christa Frateantonio in einem eleganten Beitrag (Frateantonio 2007) vor, die Saturnalia insgesamt als eine Art „Re-Inszenierung“ einer geläuterten römischen Religion zu betrachten, mit der ein Gegenmodell präsentiert werde, das implizite als überlegene Alternative zum sich etablierenden stadtrömischen Christentum verstanden werden wolle

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besonders pointierte Stellungnahmen zur Frage nach Ursprung, Wert und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes aufgefallen sind Dank der besonderen Perspektive meiner Untersuchung lässt sich diesen Bemerkungen trotz ihrer Kürze grundsätzlich Wichtiges und bisher Unbekanntes abgewinnen Hier zeigt sich, dass um diese Zeit eine ablehnende Grundhaltung immer noch vertreten wurde, und zwar finden wir sie hier in einer äußerst interessanten Form, die sonst unbekannt ist Die Saturnalia sind dagegen für mein Thema weniger ergiebig Das mag paradox erscheinen, denn in diesem Werk, zumal im ersten Buch, spielen pagane Götter und ihre Kulte eine weit mehr hervortretende Rolle als in somn Wichtig ist jedoch, hier klarzustellen, dass die Saturnalien in der uns interessierenden Frage mit somn nicht zu vereinbaren sind – wichtig aus dem Grund, weil neuerdings vorgeschlagen worden ist, dass aus der langen Rede des Praetextatus in Sat 1,17 ff und aus somn 1,2 (genauer: 1,2,16, wozu s hier weiter unten) eine gemeinsame Bildtheorie konstruiert werden könne, durch die Macrobius dem Gebrauch von Götterbildern eine philosophische Berechtigung habe verleihen wollen 188 Wir werden unten eingehender behandeln, weshalb diese These nicht aufrechterhalten werden kann Denn obwohl aus dem Vortrag des Praetextatus im Wesentlichen dasselbe Bild von der Vergangenheit hervortritt, das in somn zum Ausdruck kommt, besteht gerade hinsichtlich der Funktion und des vorgesehenen Empfängerkreises der Götterbilder keine Übereinstimmung Erwägungen zu Funktion und Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes werden in unseren Texten nur selten mit Reflexionen zu Sinn und Berechtigung des mythologischen Narrativs verbunden 189 In somn 1,2 liegt ein solcher Fall vor Der Gesamtkontext besteht in einer theoretischen Diskussion darüber, welche Ausdrucksmittel dem Philosophen zur Verfügung stehen und welche er vermeiden soll, wenn er göttliche Dinge behandelt (de divinis rebus philosophantis 1,2,11), die sich von 1,2,6 bis zum Ende des Kapitels erstreckt (1,2,21) 190 Innerhalb dieser Diskussion tauchen zwei Bemerkungen zum Gebrauch und Ursprung von Götterbildern auf, in 1,2,16 und 1,2,20, von denen v a die zweite über die Haltung zu Ursprung und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes Aufschluss gibt 191 Während ohne Weiteres klar ist, dass die Reflexionen über Sinn und Berechtigung des mythologischen Narrativs, die hier angestellt werden, einen organischen Teil des Gesamtkontexts ausmachen, lässt sich nicht in derselben Weise unmittelbar erkennen, wie das Thema der Götterbilder damit zu verbinden ist Den Anstoß zur Gesamtdiskussion gibt die Kritik, die v a von epikureischer Seite gegen die Erzählung von den Erfahrungen des scheintoten Sol-

188 Van Nuffelen 2016 S ferner hier unten Anm 215–217 189 S bes Kap  1 4 a E Vgl auch unten Anm 212 190 S auch unten, Anm 198 Dass Macrobius in somn 1,2 darauf aus sei, eine theoretische Grundlage für allegorische Lesung eines literarischen Werks zu geben – so Struck 2004, 185 – ist nicht korrekt 191 Und die erste (in 1,2,16) braucht, wie wir sehen werden, zusätzlich die Information in § 20, um voll verstanden zu werden

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daten Er, mit der Platon sein Werk über den Staat abschließt, gerichtet worden war Macrobius weist diese Kritik ab und zielt gleichzeitig darauf, ähnliche potentielle Einwände gegen Ciceros Erzählung vom Traum des Scipio ein für alle Mal zu entschärfen Der Epikureer Kolotes soll, wie wir in § 3 erfahren, ein ganzes Buch geschrieben haben, in dem er mit Platons Unterfangen Spott getrieben hat Durch seine Wahl, eine ausgeklügelte, erdichtete Geschichte sensationellen Inhalts an Stelle einer sauberen, klaren Darstellung ohne Umschweife zu benutzen, habe Platon – so Kolotes – die Philosophie mit Lügen besudelt; als Philosoph hätte er kein Märchen erfinden dürfen, da keine Art von Fiktion sich für die Verkünder der Wahrheit gezieme (ait a philosopho fabulam non oportuisse confingi, quoniam nullum figmenti genus veri professoribus conveniret, § 4) 192 Macrobius unternimmt es im Folgenden, alle verschiedenen Arten von fabulae zu klassifizieren, und erklärt dann anschließend eine bestimmte Kategorie als allein für den philosophischen Diskurs zulässig (1,2,6–13) Der Begriff fabula ist das Schlüsselwort der ganzen Diskussion Ich habe es hier oben mit „Märchen“ wiedergegeben Diese Wiedergabe eignet sich allerdings nicht durchgehend Der Klassifizierung zufolge umfasst der allgemeine Begriff fabula ein weites Feld verschiedener Erzählformen; Fabeln (im modernen Sinne) und Komödien gehören dazu und bilden eigene Untergruppen Schon aus diesem Grund eignet sich auch das deutsche Wort „Mythos“ als Wiedergabe von fabula im allgemeinen Sinne nicht 193 Was nun die Jenseitsschilderungen bei Platon und Cicero angeht, bilden diese offensichtlich keine eigene Gruppe, sondern werden den regelrechten Göttermythen, oder jedenfalls denjenigen Göttermythen, die sich als zulässig erweisen, gleichgestellt Für diese Kategorie könnte dt „Mythos“ an sich gut verwendet werden; jedoch hätte das die negative Konsequenz, dass der Begriff fabula nicht einheitlich wiedergegeben werden könnte „Fiction“ (wie bei Armisen-Marchetti) wäre als Gesamtbegriff denkbar Aber auch dies ist nicht ideal, denn das würde dem besonderen Umstand nicht gerecht werden, dass für Macrobius 192

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Wir kennen diese epikureische Kritik gegen Platon etwas eingehender aus Proklos, In Platonis rem publicam vol  2 p  105 ff Kroll Kolotes soll sich besonders gegen die Schreckensszenen im Hades, die Er beobachtet haben will, gewendet haben Proklos gibt u a einige Gegenargumente wieder, die Porphyrios gegen die Kritik angeführt haben soll Zur Kritik des Kolotes und den von Proklos angeführten Gegenargumenten, s Cürsgen 2002, 188–211 Besonders seitdem Courcelle mit Kraft sich dafür einsetzte, dass Porphyrios als die neuplatonische Hauptquelle des Macrobius zu betrachten sei (Courcelle 1943, 20–35), ist geltend gemacht worden, dass unser Kapitel (mehr oder weniger durchgehend) auf Porphyrios baue (Courcelle 23 f ; ferner z B Sodano 1966; Flamant 1977, 656–668; 672–674) Dass Porphyrios generell für Macrobius eine wichtige Rolle gespielt hat, steht fest, s Gersh 1986, 508–510; 516 ff , bes 520 f ; 530–595, passim Ausdrückliche Verweise auf Porphyrios finden sich in somn 1,3,17 und 2,3,15 sowie Sat  1,17,70 Dem anthropomorphen Gottesbild und den Götterbildern gegenüber nimmt Porphyrios freilich eine ganz andere Position ein, s dazu hier unten a E des Abschnitts (m Anm 224) sowie Kap  5 3 Der griechische Begriff μῦθος umfasst bekanntlich zumindest noch die Fabel, s z B Dion or 72,13; Max Tyr diss 32,1 5 Trapp, u a In den elementaren rhetorischen Handbüchern, den Progymnasmata, bezeichnet das Wort sogar regelmäßig eine Fabel s Theon p 72,27 ff Spengel; Hermogenes p  180 ff Patillon

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fabula sich nicht auf sprachliche Ausdrucksmittel beschränkt, sondern auch religiöse Riten (caerimoniarum sacra, § 9  – mutmaßlich die Mysterienriten, da diese weiter unten noch vorkommen und dabei offensichtlich dieser Kategorie zugezählt werden) sowie auch, wie in indirekter Weise erst in § 16 hervorgeht, die Götterbilder umfasst Ich habe deswegen auf eine deutsche Wiedergabe verzichtet und verwende durchgehend den lateinischen Begriff Nur so lässt sich der Gang der Argumentation einigermaßen durchschauen Das Wort fabula wird von Macrobius am Anfang der Diskussion ausdrücklich mit der Konnotation der Unwahrheit verbunden (1,2,7): Fabulae, quarum nomen indicat falsi professionem … („die Fabulae – schon ihre Bezeichnung macht klar, dass sie Unwahres ausdrücken …“) Alle sind sie unwahr,194 jedoch kann Unwahres u U für philosophische Zwecke nutzbar gemacht werden; es gilt nur, dass der Philosoph sich dessen bewusst ist, nach welchen Kriterien die Wahl zu treffen ist In einer ersten, übergeordneten Sichtung unterscheidet Macrobius zwei Hauptgruppen, eine, die ausschließlich auf den Genuss und das Vergnügen der Empfänger ausgerichtet ist, und eine zweite, die erfunden worden ist, um zu moralischer Besserung anzuregen (§ 7) Die erste Hauptgruppe (zu der z B die Komödien gehören) wird gleich von vornherein aussortiert Darauf wird die zweite Hauptgruppe, diejenigen fabulae, die seriösere Anliegen verfolgen, ihrerseits einer neuen Sichtung unterzogen Die Fabeln des Aisopos werden als Bespiel einer ersten Untergruppe genannt, die als philosophisch unnütz abgetan wird, da der Stoff erdichtet sei und außerdem anhand von Lügen vorgeführt werde Demgegenüber gilt für eine zweite Untergruppe dieser Kategorie, dass „ihr Stoff fest auf dem Grund der Wahrheit steht, wobei allerdings dieser wahre Inhalt anhand gewisser erdichteter Elemente ausgedrückt wird“ 195 Dies ist der Bereich, aus dem der Philosoph zu schöpfen hat, wenn er über die Götter spricht Hier führt Macrobius eine terminologische Finesse ein: Diese besondere Untergruppe sei eher „fabulose Erzählweise“ (narratio fabulosa) zu nennen, und nicht fabula Das Wort fabula signalisiert ja, wie wir in 1,2,7 erfahren haben, an sich Unwahrheit, und es mag somit begründet erscheinen, eine Benennung einzuführen, die zeigt, dass in diesen Fällen die Unwahrheit sich auf die Darstellungsweise beschränkt Als Beispiele dieser Sonderform werden die heiligen religiösen Riten (caerimoniarum sacra), die Berichte über die Nachkommenschaft und die Taten der Götter bei Hesiod und Orpheus und die mystischen Sprüche der Pythagoreer genannt (§ 9) Freilich steht es dem Philosophen nicht frei, von der narratio fabulosa uneingeschränkt Gebrauch zu machen Nein, nur insofern die erdichteten Elemente nicht

194 Dasselbe Signal gibt das Verb fabulari, mit dem der Akt der Erfindung der Götterbilder in § 20 gekennzeichnet wird (Text unten, m Anm 206) Dasselbe Verb noch einmal in § 21 (Text unten Anm  211) 195 Macr somn 1,2,9: … argumentum quidem fundatur veri soliditate, sed haec ipsa veritas per quaedam composita et ficta profertur …

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gegen die Würde der Götter verstoßen, ist diese Kategorie als einwandfreies Ausdrucksmittel der philosophischen Theologie anzubefehlen 196 Die angeblichen Erlebnisse des Er und der Traum des Scipio sind in dieser Hinsicht, wie sich versteht, völlig tadellos, und „der Ankläger sollte nun endlich gelernt haben, Fabuloses von den fabulae zu unterscheiden, und deswegen mit seiner Kritik aufhören“ 197 Anschließend führt Macrobius eine Einschränkung anderer Art ein, die durch sein neuplatonisches Weltbild bestimmt ist Die narratio fabulosa darf nicht für jede theologische Erörterung gebraucht werden, sondern nur wenn diese den niedrigeren Stufen der Götterhierarchie gilt Die Wirklichkeit gliedert sich für ihn als Neuplatoniker in Stufen, von denen die sichtbare Welt das niedrigste Niveau ausmacht; einen höheren Rang nehmen die metaphysischen Ebenen ein, von denen „Seele“ (anima, gr ψυχή) der Erscheinungswelt am nächsten steht und zwischen dieser und der nächsten Stufe vermittelt, dem „Intellekt“ (mens, gr νοῦς), der die eigentlichen Seinsformen, die Ideen, in sich hegt Dieser seinerseits steht dem Urgrund, dem absoluten Einen, oder „dem Guten“, dem höchsten Gott, am nächsten und geht aus ihm hervor Es wird nun in unserem Text betont, dass dem philosophischen theologischen Diskurs die fabulose Erzählweise für die beiden höchsten Ebenen nicht zusteht Allein für die dritte Ebene – die Seele – und für die göttlichen Mächte des sichtbaren Universums darf sie verwendet werden 198 Die beiden höchsten Wesensebenen, „das Gute“ und „der

196 Schändlich und mit der Würde der Götter unvereinbar sind etwa solche Mythen, die den Göttern unstatthafte sexuelle Verbindungen zuschreiben oder davon erzählen, wie Saturn seinen Vater entmannt habe und wie er selbst seinerseits von seinem Sohn überwunden und gefesselt worden sei (somn 1,2,11) Es ist natürlich kein Zufall, dass dies z T dieselben Göttermythen sind, von denen Platon meint, sie dürften nicht, auch wenn sie wahr wären und ob sie einen Hintersinn hätten oder nicht, den Jugendlichen zu Ohren dringen (resp 377a–378d) Für Macrobius besteht beachtenswerterweise kein Zweifel, dass diese Sagen verhüllte Wahrheit vermitteln, nur schließen sie sich für den philosophischen Diskurs aus dem gerade genannten Grund aus 197 Somn 1,2,12: … accusator tandem edoctus a fabulis fabulosa secernere conquiescat 198 Macr somn 1,2,13 f : „Es ist zu beachten, dass die Philosophen auch die an sich zulässige narratio fabulosa nicht für jedes Diskussionsthema erlauben, sondern sie pflegen sie nur zu verwenden, wenn sie von der Seele, von den Mächten der Luft und des Äthers und von den übrigen Göttern sprechen Aber wenn der philosophische Diskurs sich dreist dazu erhebt, den höchsten und vornehmsten aller Götter zu besprechen, der bei den Griechen τἀγαθόν / das Gute / und πρῶτον αἴτιον / der erste Grund / genannt wird, oder den Intellekt zu behandeln, ihn, den die Griechen νοῦς nennen, der in sich die äußersten, reinen Formen der Dinge enthält, die als ἰδέαι bezeichnet worden sind, und der vom höchsten Gott geboren und hervorgegangen ist – wenn die Philosophen also von diesen, d h dem höchsten Gott und dem Intellekt, sprechen, lassen sie alles Fabulose beiseite …“ (Sciendum est tamen non in omnem disputationem philosophos admittere fabulosa vel licita; sed his uti solent cum vel de anima vel de aeriis aetheriisve potestatibus vel de ceteris dis loquuntur Ceterum cum ad summum et principem omnium deum, qui apud Graecos τἀγαθόν, qui πρῶτον αἴτιον nuncupatur, tractatus se audet attollere, vel ad mentem, quem Graeci νοῦν appellant, originales rerum species, quae ἰδέαι dictae sunt, continentem, ex summo natam et profectam deo: cum de his inquam loquuntur summo deo et mente, nihil fabulosum penitus attingunt …) Weiter unten, in 1,5,1, bevor er dazu übergeht, Ciceros Text im Einzelnen zu erläutern, gibt Macrobius eine Zusammenfassung der Themen, die er so weit behandelt hat, wobei er u a feststellt, dass er erläutert hat, bei welcher

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Intellekt“, sind nicht nur der menschlichen Sprache, sondern auch dem menschlichen Denken unerreichbar, und so stehen hier nach platonischem Vorbild höchstens nur Gleichnisse (similitudines) und analoge Beispiele (exempla) zur Verfügung (1,2,14–15) In diesem Kontext wird nun plötzlich und wie en passant das Thema der Götterbilder eingeführt (§ 16) Die zeitlose Frage, wie der Philosoph das Instrument der narratio fabulosa zu verwenden hat bzw nicht verwenden darf, wird für einen Augenblick unterbrochen, und der Blickwinkel wechselt kurz auf eine längst vergangene Epoche über Ausgelöst wird diese Themenverschiebung durch den Gedanken, dass der Verwendung der narratio fabulosa Grenzen gesetzt seien Eine entsprechende Einschränkung soll nämlich, wie wir erfahren, für die Götterbilder gelten: Deshalb haben die Alten (antiquitas, eig „die alte Zeit“) dem Guten auch kein Götterbild gemacht, obwohl solche den anderen Göttern aufgestellt wurden, denn der höchste Gott wie auch der aus ihm geborene Intellekt sind sowohl jenseits der Seele wie über der Natur; dorthin darf nichts durchdringen, was mit fabulae zu tun hat 199

Dies erweckt zunächst den Eindruck, als hätten die Götterbilder einen entsprechenden Status als Wahrheitsvermittler wie die narratio fabulosa Genau wie diese haben sie ja ab der dritten Wirklichkeitsebene Verwendung gefunden Daraus folgt jedoch nicht, dass die Götterbilder ebenfalls zu den Ausdrucksmitteln der Philosophen gehören Erst in § 20 wird klar, dass ein solcher Schluss unberechtigt ist – dort rückt die antiquitas wieder kurz ins Blickfeld, und zwar erfahren wir, dass diese mit den Bildern ganz andere Absichten verfolgt hätte, als wahre Kenntnis vom Göttlichen zu vermitteln Die kurze Mitteilung in § 16 ist jedoch informationsreich genug, insofern als sie die dem ganzen Traktat zugrundeliegende Vergangenheitsauffassung durchscheinen lässt Es wird offensichtlich vorausgesetzt, dass die Alten – oder, wie wir mit gutem Grund annehmen dürfen, die Weisesten und Klügsten unter ihnen – volle Einsicht in die hierarchische Struktur der Gesamtwirklichkeit, des sichtbaren Kosmos wie der überkosmischen Bereiche, und in die Verhältnisse der verschiedenen Ebenen des Göttlichen zueinander gehabt hätten Weitere Stellen im Folgenden erläutern die Weisheit dieser einstigen Elite und wie ihr tiefes Wissen sich in den Geheimriten der verschiedenen

Art von Abhandlungen der Philosoph die fabulose Darstellungsweise heranzieht bzw bei welcher er ganz darauf verzichtet (… quibus tractatibus philosophi admisceant vel a quibus penitus excludant fabulosa rettulimus) In 1,6,7–9, 1,14,5–12 und 1,17,12–13 legt Macrobius sein von Plotin und Porphyrios übernommenes Modell der Struktur der Wirklichkeit etwas eingehender dar Vgl Gersh 1986, 530–571 (Zu meiner Übersetzung von νοῦς/mens s unten 5 3 Anm  86 ) 199 Somn 1,2,16: Ideo et nullum ei / i e dem Guten / simulacrum, cum dis aliis constituerentur, finxit antiquitas, quia summus deus nataque ex eo mens sicut ultra animam ita supra naturam sunt, quo nihil fas est de fabulis pervenire

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Völker ahnen lasse 200 Die Alten, die nach 1,2,16 die Götterbilder eingeführt haben sollen, und die Begründer der heiligen Riten, seien sie identisch oder nicht, sind Philosophen vor der eigentlichen, voll entwickelten Philosophie, ganz nach Art des unten Kap  4 0 beschriebenen Modells 201 In § 17 wird das Thema der philosophischen Darstellungsweise wieder aufgegriffen: Aber wenn es um die übrigen Götter und um die Seele geht, wenden sich die Philosophen, wie ich schon gesagt habe, den fabulosa zu, und zwar nicht von ungefähr, und auch nicht, um Vergnügen zu bereiten, sondern weil sie wissen, dass der Natur eine unverhüllte und offene Darlegung ihrer selbst zuwider ist Ebenso wie diese den gemeinen Sinnen der Menschen das Verständnis ihres Wesens mit Hilfe von allerlei Verdeckung und Einhüllung entzogen hat, hat sie auch noch ihren Wunsch gezeigt, dass ihre Geheimnisse von den Klugen durch fabulosa behandelt werden sollen 202

Der Zeit- und Subjektswechsel (finxit antiquitas einerseits, se convertunt, sc philosophi, andererseits), der Rückverweis auf eine frühere Aussage (ut dixi) und das Aufgreifen des Schlüsselworts fabulosa signalisieren die Wiederaufnahme des unterbrochenen Gedankengangs Die Philosophen verwenden die fabulosa im Auftrag der Natur, um ihre Geheimnisse zu schützen Der philosophische theologische Diskurs steht auf 200 Die Phrase in somn 1,10,9, qui per diversas gentes auctores constituendis sacris caerimonarium fuerunt („diejenigen, die jeweils bei den verschiedenen Völkern die heiligen Riten begründet haben“) erinnert uns daran, dass nach somn 1,2,9 die caerimoniarum sacra zur Kategorie der narratio fabulosa gezählt werden Nicht zuletzt seien in den Riten der verschiedenen Völker tiefe Einsichten der Alten in die Bedingungen der menschlichen Seelen gespeichert  – wie diese ihre ursprüngliche Heimat verlassen und sich mit der Materie verbinden, um dann entweder durch den (vermeintlichen) Tod befreit zu werden oder weitere Verkörperungen auf sich zu nehmen (1,10,8–16) Zu beachten ist die Phrase veterum sapientia in 1,10,8 S auch 1,11,8 (antiquitas); 1,12,11 (veteres) 201 „The discourse of ancient wisdom“, wie es Van Nuffelen nennt (2016, 127 und 140, und s besonders dens , 2011, 17, Definition des Begriffs, und vgl 46) Wie die meisten Neuplatoniker, folgt Macrobius Platon und Aristoteles darin, dass er die Welt für nicht geschaffen und ewig hält Wie er im Anschluss an seine Erläuterung von Ciceros Text c  7 in somn 2,10 erörtert, rechnet auch er mit zyklischen Zerstörungen der menschlichen Kultur durch Naturkatastrophen (vgl oben Kap  3 1 Anm 1) Die alten Weisen, von denen er spricht, sind folglich weder die ersten Menschen überhaupt, noch die frühesten der gegenwärtigen Epoche, sondern Repräsentanten einer fortgeschritteneren, aber noch aufsteigenden Stufe der laufenden Weltperiode 202 Somn 1,2,17: de dis autem (ut dixi) ceteris et de anima non frustra se nec ut oblectent ad fabulosa convertunt, sed quia sciunt inimicam esse naturae apertam nudamque expositionem sui, quae sicut vulgaribus hominum sensibus intellectum sui vario rerum tegmine operimentoque subtraxit, ita a prudentibus arcana sua voluit per fabulosa tractari Proklos weist in seiner Erwiderung der Kritik des Kolotes (wozu s oben, m Anm  192), p  107,6 f Kroll, in ähnlichem Zusammenhang darauf hin, dass „nach Herakleitos die Natur es liebe, sich zu verbergen“ (ἡ φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ καθ’ Ἡράκλειτον 22 DK B 123 / 9 LM D 35) Vgl auch unten Anm  211 Die Phrase „wie ich schon gesagt habe“ (ut dixi) verweist zurück auf § 13 (oben, m Anm 198) Die Bemerkung „und auch nicht, um Vergnügen zu bereiten“ (nec ut oblectent) erinnert an die Kontroverse hinsichtlich der vermeintlichen Aufgabe der Dichtung (s oben 3 2 1 2 Anm  182), und mag vielleicht als Hieb auf die eine diesbezügliche Richtung zu verstehen sein

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

einer Stufe mit den Mysterien (ipsa mysteria), etwas was im Folgenden ausdrücklich betont wird Mutmaßlich geht es hier um die caerimoniarum sacra, von denen wir in § 9 erfahren haben, dass sie zu den fabulosa gehören Diese, wie die fabulosa der Philosophen, haben eine zweifache Funktion, indem sie teils eine aussperrende, teils eine nach innen gerichtete oder interne Funktion erfüllen sollen Die philosophische narratio fabulosa wird für interne Zwecke, d h für den Gedankenaustausch innerhalb der Philosophie selber, gebraucht, und zwar aus dem Grund, weil die Natur selber nur diese Diskursart akzeptiert, soll aber zugleich auch eine Fassade sein, die die Unkundigen, die den Stoff nicht verstehen und nicht schätzen können, davon fernhalten soll Die Mysterienriten andererseits richten sich selbstverständlich überhaupt nicht nach außen, aber nichtsdestoweniger haben sie eine analoge doppelte Aufgabe Denn in den Mysterien verhält es sich sogar so, dass der Zugang zu dem hinter dem Schleier der dunklen Riten versteckten tieferen Sinn (dem verum arcanum oder secretum) nicht einmal allen Eingeweihten gestattet wird Unter den Initiierten gelten nämlich Rangunterschiede: Nur die Fortgeschrittensten dürfen an die verborgene Wahrheit heran, während die übrigen Eingeweihten die Geheimriten zwar mitmachen dürfen, aber sich damit zufriedengeben müssen, in Verehrung den Schleier, den sie nicht zu heben vermögen oder heben dürfen, zu betrachten 203 So führen die Riten die wenigen Vollweisen zur Wahrheit, bilden aber zugleich eine Sperre für die weniger erfahrenen Mysten 204 Die Exklusivität der theologischen Wahrheit, sei es im philosophischen Diskurs, sei es in den Mysterien, ist heiliges Gebot der göttlichen Natur und darf nicht kompromittiert werden Dies soll Numenios, der platonische Philosoph, sogar persönlich haben erfahren müssen, nachdem er sich dazu angemaßt hatte, die eleusinischen Mysterien öffentlich auszulegen, wie wir in § 19 lesen 205 In einem Traum soll ihm

203 Somn 1,2,18: „In derselben Weise sind auch die Mysterien durch die Geheimgänge der symbolischen Ausdrucksformen versperrt, damit die Natur sich nicht einmal den Eingeweihten ohne solche Einkleidungen offenbart, sondern während allein die erhabensten Männer durch die Vermittlung ihrer Weisheit volle Einsicht in die verborgene Wahrheit besitzen, die Übrigen sich damit zufriedengeben müssen, die symbolischen Formen zu verehren, die das Geheimnis vor der Geringschätzung schützen “ (Sic ipsa mysteria figurarum cuniculis operiuntur ne vel haec adeptis nudam rerum talium natura se praebeat, sed summatibus tantum viris sapientia interprete veri arcani consciis, contenti sint reliqui ad venerationem figuris defendentibus a vilitate secretum ) 204 Es ist unklar, ob mitverstanden werden soll, dass die Eingeweihten niedrigeren Ranges von den Formen, die sie verehren sollen, profitieren Vgl wie Julian und Salloustios betonen, dass die mystische Einkleidung der Mythen auch denjenigen, die nicht im Stande sind, sie zu dekodieren, nützlich und sinnvoll sind ( Julian, In matrem deorum 170a–b; contra Heraclium cynicum 206c–d; 216c–d; Salloustios c  3 p 4,4–8 Nock S dazu Stenger 2009 b, 344–346 ) 205 Numenios (von Apameia, 2 Jahrh n  Chr Ausgabe der Fragmente Des Places 1973) wird noch einmal von Macrobius ausdrücklich erwähnt, und zwar in den Saturnalia 1,17,65 Er scheint für Macrobius keine ganz perifere Gestalt gewesen zu sein; einiges spricht dafür, dass das astronomische System und die damit verbundene Fassung der Vorstellung vom Abstieg und Aufstieg der menschlichen Seelen, die in somn zum Ausdruck kommen (bes 1,11–12), direkt oder indirekt von ihm angeregt worden sind (s dazu Gersh 1986, 516–518; 590–595, mit früherer Literatur) Zu seiner

3 2 Die anthropomorphe Gottesvorstellung als bewusst erfunden

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klargemacht worden sein, dass die eleusinischen Göttinnen es übel aufnehmen, wenn ihr wahres Wesen der Öffentlichkeit verraten wird Sie hätten sich ihm in der Rolle und Aufmachung von Prostituierten offenbart und ihn beschuldigt, sie mit Gewalt aus ihrem Allerheiligsten herausgeschleppt und allen feilgeboten zu haben Dies ist der Punkt, wo das Thema der Götterbilder wieder eingeführt wird Macrobius kommentiert das Erlebnis des Numenios mit folgenden Worten: So sehr haben die göttlichen Mächte es vorgezogen, immer so bekannt zu sein und verehrt zu werden, wie es die Alten (antiquitas, wie in § 16) für das gemeine Publikum erdichteten; ungeachtet dessen, dass solche Formen den Göttern völlig fremd sind, teilten sie ihnen Bildnisse und Standbilder zu, und obwohl sie weder Zunehmen noch Abnehmen kennen, schrieben sie ihnen verschiedene Lebensalter zu, und obwohl sie keinen Körper haben, gaben sie ihnen allerlei Kleidung und Schmuck 206

Wir sehen leicht ein, worin die Parallele zum Vorangehenden besteht: Die Götterbilder – wie die anthropomorphe Gottesvorstellung als solche207 – sollen nach Wunsch der Götter die Wahrheit über ihr Wesen vor der Profanierung durch den Zugriff der Menge schützen Aber wir erfahren auch, dass in anderer Hinsicht keine Parallele vorliegt Die anthropomorphe Darstellungsform ist allein für die Öffentlichkeit (in vulgus208) erfunden worden Das kann schwerlich etwas anderes bedeuten, als dass ihr keine andere Funktion als die aussperrende zugedacht ist Die Urheber – die antiquitas, mit der wir schon in § 16 zu tun hatten – haben sie also nicht für eine doppelte Aufgabe und nicht für einen zweifachen Empfängerkreis bestimmt Die Bildnisse und Standbilder und die Vorstellung von menschenähnlichen Göttern als solche sind insofern berechtigt, als sie von den Göttern gewünscht und sanktioniert sind, philosophisch berechtigt sind sie jedoch nicht, denn sie vermitteln keine Wahrheit über das Göttliche Dass sie dies nicht tun, wird durch das Verb des Gliedsatzes bestätigt und unterstrichen (fabulata etwaigen sonstigen Rolle für somn s ebenda 519 f ; 538; 542 und 543 Die hier wiedergegebene Anekdote (fr  55 Des Places) ist sonst nicht bekannt 206 Somn 1,2,20: Adeo semper ita se et sciri et coli numina maluerunt, qualiter in vulgus antiquitas fabulata est, quae et imagines et simulacra formarum talium prorsus alienis, et aetates tam incrementi quam diminutionis ignaris, et amictus ornatusque varios corpus non habentibus adsignavit 207 Dass nach § 20 nicht nur die Götterbilder, sondern die Idee von menschengestalteten Göttern überhaupt von der antiquitas eingeführt worden sein soll, erhellt sowohl durch die Phrase ita se sciri et coli numina maluerunt (die Götter wünschen, nicht nur, dass man sie in der Form verehrt, wie sie die antiquitas erfunden hat, sondern auch, dass man in dieser Weise an sie denkt und von ihnen spricht) wie auch durch den Umstand, dass zur Erfindung der antiquitas das für die anthropomorphe Darstellungsform grundlegende Element der Altersunterschiede gehört 208 Wie aus Sat  1,7,18 (… a physicis in vulgus aperitur) zu ersehen ist, ist die Phrase in vulgus nicht mit Notwendigkeit mit einer Konnotation der Geringschätzung verbunden Sie heißt u U nur so viel wie „öffentlich“ oder „allgemein“ Der Unterschied ist im gegenwärtigen Kontext unwesentlich – in beiden Fällen geht es, wie wir sehen werden, nachweislich um den Gegensatz zwischen einer beschränkten, eingeweihten Elite und der breiten Öffentlichkeit Wie letztere betrachtet wird, ist hier nicht von primärer Bedeutung

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

est) Erst im Lichte der hier, in § 20, gegebenen Information wird deutlich, welche Implikationen mit der Aussage in § 16 verbunden sind: Die Götterbilder gehören nicht zu den fabulosa, deren Gebrauch für die zutreffenden Wirklichkeitsebenen dann in § 17 erklärt wird, wohl aber zur generellen Kategorie der fabulae (vgl die Begründung in § 16, quo nihil fas est de fabulis pervenire) Dass die antiquitas sie trotzdem aufgestellt hat, liegt natürlich daran, dass die Götter die Verehrung durch Bilder wünschen Da sie aber nicht gestatten, dass die Öffentlichkeit ihr wahres Wesen kennt oder darüber spekuliert, müssen sie in irreführender Weise präsentiert werden Die Haltung, die in somn 1,2 zum Ausdruck kommt, steht den Positionen, die in den Abschnitten 3 2 1 1 und 3 2 1 2 hier oben analysiert wurden, insofern nahe, als die anthropomorphe Gottesvorstellung eingeführt worden sein soll, um als ein für die große Menge vorgesehener, bewusst erfundener Ersatz für die theologische Wahrheit zu dienen Aber anders als in 3 2 1 1 ist diese Maßnahme nicht politisch begründet Für das Konzept entscheidend sind nicht die Absichten der Erfinder selber Ausschlaggebend sollen vielmehr der Wille und das Interesse der Götter selbst gewesen sein Die Götter setzen sich dafür ein, in einer nicht-zutreffenden Darstellungsweise abgebildet und beschrieben zu werden, und zwar um zu verhindern, dass die Heiligkeit der Lehre durch öffentlichen Zugriff geschmälert werde Dabei soll den Rezipienten natürlich vorgespiegelt werden, dass diese Darstellungsweise die Götter wahrheitsgemäß präsentieren Die unzutreffende Gestalt will buchstäblich verstanden werden Nun ist die anthropomorphe Darstellungsweise, wenn wir einmal von den konkreten Götterbildern absehen, nicht ganz ohne Verbindung mit dem philosophischen Diskurs Denn die Kategorie der narratio fabulosa benutzt ja offensichtlich u U Erzählungen von Göttern in menschlicher Gestalt und mit menschlichen Eigenschaften, und das gilt nicht nur von solchen Göttermythen, die Macrobius als schändlich abweist (wie die Sagen von den Ehebrüchen der Götter oder die von Caelus, Saturn und Jupiter, § 11) – auch die Geschichte des Er ist davon nicht frei (resp 10 617b ff ), und in noch höherem Grad gilt dies etwa für den großen Mythos im Phaidros 246e ff , der in den Augen des Macrobius gewiss mindestens ebenso makellos sein müsste wie die Jenseitsschilderung am Ende der Politeia 209 Indirekt kann das Konzept von menschengestalteten Göttern in den Dienst der Philosophie treten, und zwar insofern als das anthropomorphe Gottesbild die Voraussetzung und den Ausgangspunkt für das mythologische Götternarrativ bildet Die anthropomorphe Darstellungsweise ist dementsprechend, obwohl selbst nur zur allgemeinen Kategorie fabula gehörig, mit den (empfohlenen wie abgewiesenen) fabulosa verbunden So haben die großen Theologen der griechischen Tradition und ihre Nachfolger ihre Lehren hinter dem Schleier solcher narratio fabulosa versteckt, in der die Götter als Rollenfiguren mit menschlicher Gestalt auftre209 Praetextatus führt in Sat 1,23,5 f die Phaidros-Stelle an (von der er fälschlich angibt, dass sie aus dem Timaios stamme) und erklärt sie im Folgenden (§ 5–8) so, dass Zeus die Sonne sei und die elf Götter, die ihm auf der Fahrt folgen, die Gestirne des Zodiakus seien

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ten: Hesiodos und Orpheus haben von der Nachkommenschaft und dem Handeln der Götter erzählt;210 so „haben auch Pythagoras und Empedokles sowie auch Parmenides und Herakleitos in dieser Weise über die Götter fabuliert, ebenso wie Timaios, der die Nachkommenschaft der Götter gemäß der Tradition geschildert hat“ 211 Ich habe schon mehrmals im Laufe meiner Untersuchung unterstrichen, dass die Akzeptanz des Götternarrativs als philosophisch signifikant in keiner Weise mit Notwendigkeit zugleich eine Akzeptanz der Sitte, die Götter menschengestaltet darzustellen, bedeutet 212 Die angebliche Wahrheit kann in der Handlung entdeckt werden, und nichts hindert, dass wer sie darin zu entdecken meint, ein Vertreter der Meinung ist, dass die anthropomorphe Form der Götter fehlerhaft und mit der wahren Theologie unvereinbar sei Dies trifft auch auf somn 1,2 zu Die Menschengestalt der Götter als solche ist und bleibt unwahr, aber durch ihre gegenseitigen Beziehungen, ihre Antiund Sympathien, ihre Taten und Gedanken im Narrativ vermittelt der Dichter/Philosoph indirekt seinen Bericht über die Struktur und die Mechanismen der göttlichen Kräfte des (sichtbaren) Kosmos und über die Götter des Bereichs der Seele, indem er das Narrativ in Form von einem Gewebe von Analogien zum Aufbau des Kosmos und zum kosmischen Geschehen gestaltet Der Einsichtige ist dazu im Stande, diese Analogien als Signale zu identifizieren, und mit Hilfe des Schlüssels, den ihm sein Wissen über das wahre Wesen des Göttlichen in die Hand gibt, vermag er sie korrekt zu dekodieren 213 Nicht anders – mutatis mutandis – dachten die frühen Allegoristen, so wie ich ihre Auffassung oben Kap  1 4 1 zu rekonstruieren versucht habe Der entschei210

211

212 213

Somn 1,2,9: Beispiele der narratio fabulosa: … Hesiodi et Orphei quae de deorum progenie actuve narrantur Da die betreffenden Teile von Hesiods Theogonie von Elementen, die turpia et indigna numinibus et monstro similia sind (s § 10–11), nicht frei sind, müssen wir davon ausgehen, dass nur gewisse Teile seiner narratio fabulosa anzuerkennen sind Somn 1,2,21, in unmittelbarem Anschluss an den oben Anm 206 angeführten Text: secundum haec Pythagoras ipse atque Empedocles, Parmenides quoque et Heraclitus de dis fabulati sunt, nec secus Timaeus qui progenies eorum sicut traditum fuerat exsecutus est (Vgl Platon, Timaios 40d–41a) In Wirklichkeit haben Empedokles und Herakleitos das traditionelle Gottesbild mehr oder weniger offen kritisiert Dagegen finden sich in den uns bekannten, für unsere Frage relevanten Fragmenten beider Denker Beispiele anthropomorpher Metaphorik, s oben 3 1 1 2 a E ; 3 1 2 , m Anm  104 Möglicherweise könnte der Umstand, dass Porphyrios in seiner Auseinandersetzung mit der epikureischen Kritik an Platons Mythen (vgl oben Anm  192 und 202), wie es scheint, auf eine Aussage des Herakleitos hingewiesen haben soll („die Natur liebt es, sich zu verbergen“, Proklos In remp 2 p  107,5–7 Kroll = 22 DK B 123 / 9 LM D 35), Macrobius dazu angeregt haben, diesen Denker hier mit einzubeziehen S bes Kap  1 4 sowie z B 3 1 1 , m  Anm 49; 3 1 3 a E ; 5 2 a A Ein gutes Bespiel bietet Macrobius selbst in somn 2,10,10 f Hier referiert er eine gelehrte Erklärung davon, welche Information Homeros – divinarum omnium inventionum fons et origo – den Weisen „unter der poetischen Wolke der Fiktion“ (sub poetica nube figmenti, vgl 1,2,11 sub pio figmentorum velamine) habe vermitteln wollen, wenn er erzählt, dass Zeus und die übrigen Götter sich zu den Äthiopiern begeben hätten, um von ihnen bewirtet zu werden (Il  1,423–425) Da Jupiter/Zeus mit dem ignis aetherius identisch sei, und die übrigen Götter mit den Planeten, und da diese nach der Lehre der physici von Feuchtigkeit ernährt werden, da außerdem bekannt sei, dass die Äthiopier als einziges Volk am Rande des Okeanos wohnen, enthüllt sich für den Eingeweihten in der Wolke

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dende Unterschied betrifft die Entstehung des fehlerhaften Gottesbildes, das nach diesen Auffassungen dazu verwendet wird, die wahre Theologie zu verstecken Denn für die Allegoristen – etwa den Derveni-Kommentator – gilt, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung eine bedauerliche Tatsache sei, die den Dichtern vorgelegen habe, aber die sie in geschickter Weise zu verwenden gewusst hätten Obwohl falsch, ist diese Gottesvorstellung aus Wahrem hervorgegangen: Ihre Quelle ist ein ursprüngliches, korrektes, in Metaphern formuliertes Weltbild, und daraus ist die fehlerhafte Vorstellung von einem Pantheon menschengestalteter Götter durch Missdeutung entstanden Die Dichter – so die Vorstellung der Allegoristen – nützen diesen Umstand als Brücke, mit ihrem Narrativ die Verständigen auf dieses ursprüngliche, wahre Weltbild zurückzuverweisen Richtig verstanden lässt dieses die einstige, sinnvolle anthropomorphe Metaphorik wieder hervortreten Der eigentlich zu vermittelnde Inhalt wird gerade dadurch den Spezialisten zugänglich, dass das gängige, verkehrte Gottesbild historisch mit dem ursprünglichen, richtigen Gottesbild in Verbindung steht In somn 1,2, dagegen, liegt eine solche Verbindung zwischen Ausdrucksmittel und Anliegen, zwischen einem sekundären und einem primären Gottesbild nicht vor Die anthropomorphe Darstellungsweise, einschließlich ihrer konkreten Manifestation, der Götterbilder, gilt als bewusst erfundene Strategie, durch welche die Masse am Zugang zur theologischen Wahrheit gehindert werden soll Ein solches Entstehungsmodell haben wir schon anderswo gefunden, aber unser Text ist darin einmalig, dass diese Darstellungsform als göttlich sanktionierter Betrug der Menge gilt, der aber auch noch dem Philosophen zur Verfügung steht oder gar verpflichtend ist, wenn dieser seine narratio fabulosa komponiert, um die Wahrheit über die Götter und göttliche Dinge zu verdecken 214 Kehren wir nun kurz zurück zur anfangs erwähnten These von einer Bildtheorie, mit der Macrobius den Gebrauch von Götterbildern philosophisch habe begründen wollen und die aus somn 1,2,16 und Sat 1,17–23 abzuleiten sei 215 Dieser These zufolge hätten die Götterbilder ihren Status als Wahrheitsträger dadurch erhalten, dass sie durch den Logos, an dem ihre Erzeuger („creators“) teilhaben, inspiriert seien 216

der dichterischen Fiktion ein Hinweis darauf, dass die Sonne, der Mond und die Planeten die von Okeanos emporsteigende Feuchtigkeit aufnehmen Dieselben Homerverse werden ausführlicher von Praetextatus in Sat 1,23,1 f in sehr ähnlicher Weise ausgelegt 214 S somn 1,2,17 (oben, Anm 202 angeführt) 215 Van Nuffelen 2016; s bes abstract S  127 sowie 139 und 140 Vgl oben Anm 188 216 In der Diskussion der These wird deutlich ausgesagt, dass sie im Text wenig verankert ist, s bes  135, wo auf die Nähe zur früheren Bilddeutung in der Stoa und im Mittelplatonismus hingewiesen wird (freilich ohne genaue diesbezügliche Referenzen) Nichtsdestoweniger wird die These in der Einleitung der Publikation von den Herausgebern als Tatsache hingestellt (S  4: „Die Wahrhaftigkeit der Kultbilder ist ihrerseits durch die Inspiration ihrer Erzeuger vom göttlichen Logos gewährleistet“)

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Unabhängig davon, wie wir den Begriff „creators“ verstehen sollen,217 können wir jetzt endgültig feststellen, dass die Aussage in somn 1,2,16 diese Annahme nicht unterstützt Die Götterbilder, von denen hier und in somn 1,2,20 die Rede ist, sind keine „truthful images“ Ganz im Gegenteil besteht ihre Pointe geradezu darin, dass sie dies nicht sind Möglicherweise hat Macrobius sich mit dieser pointierten Stellungnahme gegen Porphyrios absetzen wollen, in dessen Werk Über die Götterbilder, das wir unten 5 3 eingehender studieren werden, die Teilhabe des Menschen am λόγος bzw νοῦς die menschliche Gestalt der Bilder begründet 218 Dem langen Vortrag des Praetextatus im ersten Buch der Saturnalia (1,17,2–1,23) liegt dagegen eine ganz andere Vorstellung von der Aufgabe und der vorgesehenen Zielgruppe der Götterbilder zugrunde 219 Zwar spricht Praetextatus nicht ausdrücklich davon, wie der Gebrauch von Götterbildern aufgekommen sei und warum, aber nichtsdestoweniger verrät seine Darstellung deutlich genug, wie er sich dazu stellt Er ist ohne jeden Zweifel davon überzeugt, dass die Götterbilder philosophisch berechtigt seien Sie gelten ihm als selbstverständliche Träger wahren Inhalts, sichtbare Vermittler der arcana deorum natura (vgl Sat 1,24,1) in symbolischer Form Damit steht schon fest, dass sie bewusst erfunden worden sein müssen, um wahre Kenntnis über die Götter zu vermitteln, und dass sie dementsprechend für einen beschränkten Rezipientenkreis vorgesehen seien, der sie zu dekodieren vermag Sie richten sich also auf keinen Fall in vulgus, wie es in somn 1,2,20 der Fall sein soll Gleichzeitig ist ebenso deutlich, dass Praetextatus eine Vergangenheitsauffassung vertritt, die insgesamt mit derjenigen Fassung übereinstimmt, die in somn zum Ausdruck kommt Er betrachtet augenscheinlich die Medien und Phänomene (außer den Götterbildern v a die Namen und Beinamen der Götter, die Göttermythen und die religiösen Riten), deren verborgene Signifikanz er darlegt, um zu beweisen, dass die meisten Götter als Aspekte oder Manifestationen der Sonne – des höchsten Gottes der Erscheinungswelt – zu verstehen seien, als Elemente einer einzigen, allen gemeinsamen, einstimmigen Tradition, die bei aller Vielfalt im Äußeren letztendlich auf dieselbe, altehrwürdige verborgene Wahrheit über die Götter und ihre Rolle im Kosmos zurückgehe, eine Wahrheit, die

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218 219

Sind die Erzeuger als die jeweiligen Künstler zu verstehen, oder handelt es sich um die ursprünglichen Urheber der Götterbilder? Da auf S  134 ein Vergleich mit enn 4,3,11 angestellt wird, wo Plotin sich darüber Gedanken macht, welche Erwägungen „die alten Weisen“ (οἱ πάλαι σοφοί) dazu veranlasst hätten, Tempel und Götterbilder zu errichten, würde man am ehesten vermuten, dass letztere gemeint seien Eine Bemerkung auf S   135 scheint allerdings dieser Annahme zu widersprechen: „Plotinus holds that an artist, if he produces an image that reveals something about the metaphysical world, is driven by intuition “ Die Unklarheit bleibt bis zuletzt bestehen (s 139–140) Vgl unten, m Anm 220–221 Porph fr 354 Smith; vgl auch fr 352 S dazu unten Kap  5 3 (Text dort Anm 106 bzw 92) Auch im Vorangehenden spricht Praetextatus hier und da von Götterbildern, s bes Sat 1,9,7; 1,9,10; 1,9,12 und 13 ( Janusbilder)

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Kapitel 3: Die Ursprungsfrage A

von weisen Männern einer längst vergangenen Zeit entdeckt und von ihnen in Wort und Bild kryptiert weitergegeben worden sei Sofern wir die vorgeschlagene Bildtheorie dahingehend verstehen sollen, dass der Wahrheitsgehalt der Götterbilder auf ihre ursprünglichen Erfinder und Urheber („die alten Weisen“) zurückgehe, indem diese sie  – auf Grund göttlicher Inspiration und sicherer Intuition, oder auch einem besonderen Scharfsinn und überlegener Rationalität zufolge220 – konzipiert und gestaltet hätten, erscheint mir die These durchaus begründet Aber sie gilt eben nur für Praetextatus, und nicht für die Verhältnisse im Kommentar zum Somnium Scipionis 221 Dass die Auffassung von Aufgabe und Zielgruppe der Götterbilder in somn 1,2 mit dem von Praetextatus in Sat 1 vertretenen Standpunkt nicht übereinstimmt,222 sollte uns davon abhalten, Praetextatus kurzerhand mit Macrobius gleichzusetzen, wie es oft – ausdrücklich oder implizite – geschieht Der versteckte Inhalt der Götterbilder verbindet sich für Praetextatus am häufigsten mit ihren Attributen Andere charakteristische Züge werden v a in solchen Fällen herangezogen und als Geheimzeichen gedeutet, wenn sie nicht-mimetischer Art oder sonst auffallend sind Beispielsweise erfahren wir, wie die eigenartige Frisur eines ägyptischen Bildes auf den Lauf der Sonne hinweise (1,21,14 f ) Die anthropomorphe Form wird nicht besprochen Nichtsdestoweniger ist diese für die Mehrzahl der Bilder augenscheinlich grundlegend und muss mit Notwendigkeit in den Augen des Praetaextatus als philosophisch tragfähig gelten 223 Im Vorgriff auf die folgenden Kapitel meiner Untersuchung sei hier betont, dass es durchaus nicht unmöglich ist, der anthropomorphen Form als solcher einen tieferen, verborgenen Sinn zuzuschreiben Eine ausdrückliche Sinngebung der menschlichen Gestalt der Bilder wäre im Kontext

220 Oben, m Anm 215–217 Es ist mir unklar, ob Van Nuffelen bei Macrobius Andeutungen des Gedankens einer realen göttlichen Präsenz in den von Menschenhand hergestellten Bildern und Tempeln – wie er Plotin vorschwebt (enn 4,3,11; s oben Anm 217) bzw für Jamblichos aber auch für Julian wichtig ist (s dazu Tanaseanu-Döbler 2017, 343–372) – entdecken will oder nicht (Van Nuffelen 2016, 135) M W findet sich davon keine Spur 221 Dabei gilt im Vortrag des Praetextatus gewiss als mitverstanden, dass der jeweilige Künstler oder Hersteller eines Bildes zu den geheimen, tradierten arcana Zugang habe und dazu fähig sei, diese in sein Werk richtig und sinnvoll hineinzulegen (genauso wie die Dichter diese in ihren Werken vermitteln können, Sat 1,17,2 ff ); dies ist jedoch kein Thema des Vortrags 222 Zu beachten ist auch, dass Praetextatus die mythischen Erzählungen der physici von Saturn und Jupiter akzeptabel genug findet (Sat 1,8,6 und 1,8,11), während laut somn 1,2,11 die Philosophen davon Abstand nehmen Vgl oben Anm 196 223 Auf die besonderen metaphorischen Möglichkeiten, die die Begleiterscheinungen der anthropomorphen Darstellungsform zur Verfügung stellen, wie Altersunterschiede und Familienbeziehungen, geht er gelegentlich ein, so v a zu Bildern des Liber pater in Sat 1,18,9; s auch 1,20,4, zu dem Vater-Sohn-Verhältnis von Apollo und Aesculapius

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des Vortrags des Praetextatus keineswegs fehl am Platze gewesen 224 Wir werden unten mit solchen Begründungen zu tun haben Sowohl Varro wie Porphyrios äußern sich spezifisch dazu, welchen Inhalt die anthropomorphen Götterbilder gerade durch ihre Menschengestalt vermitteln sollen 225 Ebenso wie es Porphyrios gelingt, die menschliche Gestalt als solche als Hinweis auf den weltschaffenden Intellekt zu bezeichnen, ebenso gut hätte Praetextatus hier geltend machen können, die anthropomorphe Gestalt sei auf Grund einer Analogie zwischen der menschlichen Vernunft und der lenkenden Macht der Sonne gewählt worden

224 Van Nuffelen bemerkt, dass Praetextatus keine ausdrückliche Rechtfertigung seiner Methode liefert, die Götterbilder und die übrigen herangezogenen Kategorien zu deuten (Van Nuffelen 2016, 128) Im unmittelbaren Kontext – im Kreise der anwesenden Gesprächsteilnehmer – wirkt das Fehlen einer solchen Rechtfertigung vielleicht nicht unbedingt überraschend Eher als eine Begründung der hermeneutischen Methode im allgemeinen hätte man eine Klarlegung erwarten können, welchen spezifischen mystischen Inhalt die Alten gerade durch die menschliche Gestalt der Götterbilder hätten ausdrücken wollen 225 Unten Kap  4 1 und 4 2 2 a E (zu Varro); 5 3 (zu Porphyrios; vgl hier oben, m Anm 218)

Kapitel 4 Vertreter zweier Standpunkte M. Terentius Varro 4.0. Einleitung Im vorigen Kapitel wurde eine Reihe von Ursprungstheorien analysiert, die alle auf der Grundvoraussetzung fußen, dass das anthropomorphe Gottesbild grundsätzlich falsch sei Dabei wurde es als in der einen oder anderen Weise sekundär zum richtigen (d h jeweils vertretenen) Gottesbild betrachtet, sei es, dass man meinte, es sei spontan  – durch menschliches Fehlverhalten – aufgekommen, sei es, dass es auf bewusste Initiativen zurückgeführt wurde Im ersten Fall wird das falsche Gottesbild meist als Ergebnis einer allmählich fortschreitenden negativen Entwicklung verstanden Im zweiten Fall gilt es als Konstruktion, die vorsätzlich im Dienste der Volkserziehung oder in der Absicht, das Volk am Zugang zur eigentlichen Wahrheit zu hindern, geschaffen worden sei Den Urhebern des Konzepts wird also ein bewusster Wille zur Täuschung unterstellt 1 Wir werden uns nun allmählich der entgegengesetzten Grundhaltung zuwenden Ihre Grundlage ist die Auffassung, dass das anthropomorphe Gottesbild keineswegs zur theologischen Wahrheit in Widerspruch stehe Vielmehr bestehe dessen eigentliche und ursprüngliche Funktion darin, in der einen oder anderen Weise solche Wahrheit zu vermitteln Nichtsdestoweniger werden wir in diesem Kapitel teilweise weiterhin bei der ablehnenden Grundhaltung verweilen Anders als Kap  3 und auch Kap  5 unten, ist das vorliegende Kapitel nämlich nicht einer Mehrzahl von Autoren gewidmet, die jeweils verschiedene Varianten einer Grundhaltung repräsentieren, sondern gilt einem einzigen Denker, bei dem beide Grundhaltungen zu belegen sind, und zwar Marcus Terentius Varro Den Wechsel vom einen zum anderen Standpunkt beim selben Autor kontrastierend herauszustellen, empfiehlt sich nicht zuletzt aus dem Grund, weil bei Varro der erste belegte Fall der anerkennenden Grundhaltung überhaupt vorliegt, und insofern stellt Varros Schrifttum einen Wendepunkt dar, dem wir eine gewisse paradigmatische Signifikanz zuerkennen dürfen

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Oben Kap  3 1 1 –3 2 2

4 0 Einleitung

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Um diesen paradigmatischen Charakter zu beleuchten, muss ich etwas weiter ausholen und dabei an meine Darstellung oben 3 1 1 2 anknüpfen Ich habe dort kurz auf eine wichtige Umorientierung hinsichtlich der Vorstellung von der frühen Geschichte der Menschheit hingewiesen, die in der Zeit etwa um 100 v  Chr in der Stoa entstand und die weitgehende und nachhaltige Konsequenzen auch weit außerhalb stoischer Kreise haben sollte Sie bewirkte eine radikale Veränderung der Auffassung vom Ziel und Inhalt der Philosophie Es ist v a das Verdienst von George Boys-Stones, diesen bedeutsamen Neuansatz nachgewiesen zu haben Die Frage, seit wann Philosophie betrieben worden sei, wurde im Laufe des Altertums eifrig diskutiert, und, wie die Übersicht am Anfang des ersten Buchs des Diogenes Laërtios zeigt, sehr verschieden beurteilt Schon früh gab es Vorstellungen, dass die Anfänge bei anderen Kulturen zu suchen seien, wie etwa bei den Magern oder den Gymnosophisten Andere machten geltend, dass die Philosophie von Orpheus, Linos oder Musaios begründet worden sei Die Allegorese des dichterischen Narrativs setzt, wie wir gesehen haben (oben Kap  1 4 ; 1 4 1), voraus, dass die frühen Dichter als Philosophen gelten Andere wiederum setzten den Anfang erst bei den Joniern oder bei Pythagoras an Boys-Stones zeigt, wie man in der Stoa zu glauben begann, dass schon in sehr früher Zeit Philosophen tätig gewesen seien und in der frühen Gesellschaft von führender Bedeutung gewesen seien Das führt dazu, dass Sinn und Zweck der Philosophie neu definiert werden Hatte man ihr bislang die Rolle zugeschrieben, den negativen Effekten menschlicher Zivilisation entgegenzuwirken, indem sie falsche Vorstellungen zu korrigieren und ursprüngliche, unverdorbene Einsichten aufzuspüren, zu ergänzen oder zu rekonstruieren hatte, tritt sie jetzt selbst als die eigentliche Urheberin menschlicher Kultur hervor Die neue Sichtweise bahnt sich im Werk des Poseidonios an Seiner Vergangenheitsauffassung zufolge, wie sie in der Diskussion im 90   Brief Senecas hervortritt, lebten die Menschen schon am Anfang ihrer Kultur unter der Obhut von Philosophen; diese sollen die Grundlagen der Zivilisation geschaffen haben 2 Boys-Stones schreibt dann Cornutus, der etwa 150 Jahre später sein Kompendium der griechischen Theologie verfasste, eine Schlüsselrolle in der weiteren Entwicklung der neuen Sichtweise zu Cornutus meint, dass diese frühen Philosophen über ein vollständiges, systematisches Verständnis von den Strukturen und Mechanismen des Kosmos verfügt hätten, das auch noch von ihnen selbst zusammenhängend formuliert worden sei, wenn auch in einer Weise, die mit der Ausdrucksform späterer Philosophie nicht übereinstimme; vielmehr seien ihre Aussagen von einer allegorischen Ausdrucksform geprägt gewesen, oder, wie Cornutus sagt, „von Symbolen und Rätselworten“, und in dieser ursprünglichen Form weitertradiert worden Die griechischen Traditionen über die Götter (in stoischer Fassung, wie sich versteht), seinen eigenen Interessenbereich, betrachtet er als Reflexe dieser ursprünglichen Phi-

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Boys-Stones 2001, 9; 16 f ; 25 f ; 44–49; 2003, 206–208

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

losophie Sie gelten ihm somit als im wesentlichen zuverlässige Überlieferung, die auf dieses umfassende, vollwertige Weltbild der Urzeit zurückgehe 3 Wie wir oben gesehen haben, ist die Annahme, dass in der Frühzeit Männer tätig gewesen seien, deren Erkenntnisse hinsichtlich des Wesens und der Wirkung des Göttlichen wertvoller waren als die späterer Generationen, keine Neuigkeit (s bes Kap  3 1 1 2 ) Auch die frühe Stoa, der Varro sich in vielem anschließt, hatte auf die Zeit der primitiven Menschen zurückgeblickt, weil damit gerechnet wurde, dass ihr Leben unverdorben und frei von jedem negativen Einfluss gewesen sei, während spätere Generationen der Dekadenz ausgesetzt gewesen seien und deshalb nicht mehr denselben, direkten Zugang zur Wahrheit gehabt hätten; diese müsse vielmehr von der Philosophie mühsam neu erarbeitet werden Der entscheidende Schritt des neuen Denkmodells besteht darin, dass schon in der fernen Urzeit zielbewusste Philosophen tätig gewesen sein sollen Aus den gottesnahen, klugen Männern der Urzeit, die mit natürlichem Scharfblick und unverdorbener Intuition die Wahrheit über Welt und Gott zu erfassen vermochten, wurden jetzt weise, systematisch reflektierende Theologen, die bewusst ans Werk gegangen seien, ihr umfassendes Wissen von der Struktur der Welt und von den Prinzipien, die sie lenken, zu beschreiben Die Vorstellung von einer mit der Zeit eintretenden Niedergangsperiode wird nicht aufgegeben, aber die Entstehung der Philosophie wird an einen Punkt zurückversetzt, der vor der postulierten Degeneration liegt Durch diesen Frühansatz der systematischen Philosophie wird die Voraussetzung für eine veränderte Zielsetzung geschaffen Falls ein korrektes, umfassendes, einheitliches Weltbild schon in nahezu allerältester Zeit formuliert worden ist, dann versteht es sich von selbst, dass die Philosophie sich in erster Linie der Aufgabe zuwenden muss, dieses ursprüngliche, vollwertige System wiederzugewinnen, statt zu versuchen, auf eigene Faust ein annähernd gleichwertiges Modell zu konstruieren, eine Tätigkeit, die bisher nur Meinungsverschiedenheiten gezeitigt hatte Und während man früher gehofft hatte, durch mühsame Sichtung und sorgfältige Untersuchung überkommener Traditionen trotz aller späteren Verballhornungen, Zusätze und Fehldeutungen bestenfalls vereinzelte Brocken der ursprünglich erfassten Wahrheit wiedergewinnen zu können, stellte jetzt der Glaube, das ursprüngliche System sei umfassend und einheitlich gewesen, ein erfolgreiches Wiederaufspüren in Aussicht, da damit zu rechnen war, dass es der verderbbringenden Einwirkung degenerierter Zeiten zum Trotz der Fragmentarisierung leidlich widerstanden habe 4

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S Boys-Stones ebenda, 49–59; 2003, 205 f ; 209 f Schlüsselstelle Cornutus c 35 § 7 l 1517 Nesselrath: Die Alten seien „sowohl dazu imstande gewesen, die Natur des Komos zu verstehen, wie auch darauf eingestellt, darüber in Symbolen und Rätseln zu philosophieren“ (καὶ συνιέναι τὴν τοῦ κόσμου φύσιν ἱκανοὶ καὶ πρὸς τὸ διὰ συμβόλων καὶ αἰνιγμάτων φιλοσοφῆσαι περὶ αὐτῆς εὐεπίφοροι) S Boys-Stones 2001, 18–27; 41–42; 52 f ; 2003, 92 sowie meine Bemerkungen oben Kap  3 1 1 2 und unten 5 2 1 , m Anm 60

4 0 Einleitung

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Als einheitlich verstand man diese alte Weisheit auch insofern, als angenommen wurde, dass das theologische Denken und die religiösen Traditionen aller Kulturen letztendlich darin ihre gemeinsamen Wurzeln hätten Fremde Traditionen werden deshalb auf gleicher Stufe mit den heimischen besprochen und auf ihre Ursprünglichkeit und Reinheit hin überprüft, um dadurch möglichst feststellen zu können, welcher Zweig dem anfänglichen, maßgeblichen Befund am nächsten komme In der Regel erweist sich dabei die eigene Tradition als die älteste und beste, aber u U wird einer fremden Tradition Überlegenheit zuerkannt 5 Das Modell fand, wenn Boys-Stones recht hat, im Platonismus allgemeinen Anschluss und wurde dahingehend umgedeutet, dass die maßgebliche alte Weisheit gerade im Werk Platons erfolgreich rekonstruiert worden sei Plutarch steht am Anfang dieser Entwicklung; zur Zeit des Porphyrios ist das Modell im Platonismus nach Boys-Stones allgegenwärtig 6 Das neue Denkmodell ist nicht als fixiertes dogmatisches System zu verstehen 7 Vielmehr handelt es sich um einen Ansatz, einen Verständnisrahmen, von dem aus Traditionen wechselnden Inhalts und verschiedener Herkunft besprochen und gewertet werden können, wie ja Boys-Stones auch zeigt, dass die jüdische und die christliche Apologetik davon Gebrauch gemacht haben 8 Divergierende Wertungen ein und desselben Phänomens können durchaus mit einem solchen Rahmen verbunden werden Wenn ich auch meine, dass erst das Aufkommen dieses Denkmodells es ermöglichte, dem anthropomorphen Gottesbild eine positive, wahrheitsvermittelnde Funktion zuzuweisen, soll also damit nicht gesagt sein, dass das Modell mit Notwendigkeit eine solche Position mit einschließt Wir haben oben am Ende von Kap  3 schon mit einem Text zu tun gehabt, der illustriert, dass dies nicht der Fall sein muss: Macrobius, Kommentar zum Traum des Scipio 1,2 Ideen, Traditionen und Erscheinungen jeglicher Art können in die Zeit der vermeintlichen alten Weisen zurückversetzt werden, um ihnen so den Status autoritativer Ursprünglichkeit zu verleihen Entscheidend ist allein der Standpunkt des jeweiligen Sprechers

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Boys-Stones 2001, 58 f ; 61; 95; 113; 117 f S Boys-Stones 2001, ch 6 (99–122) Zu Plutarch s hier unten 4 1 a E bzw Kap  5 1 (m Anm  26) Andere Forscher vor Boys-Stones haben betont, dass im Stoizismus und im Platonismus mit der Zeit eine Vorstellung von einem ursprünglichen, gemeinsamen theologischen Wissen Verbreitung fand, und haben auch die Rolle beschrieben, die Platon für die Erhaltung bzw Kodifizierung dieser alten Weisheit zugeschrieben wurde Hier sei beispielsweise auf Baltes 1999 und v a auf Frede 1989 (bes 2087–2092) bzw 1997 (bes 220 und 232 ff ) hingewiesen Vgl auch schon Wifstrand 1942, 8–11 Vgl Boys-Stones 2001,  44, und s auch die ‚Definition‘ des „discourse on ancient wisdom“ bei Van Nuffelen 2011, 46: „less of a philosophical theory than a mode of thinking that underpins an interpretation of religion …“ Vgl ebenda, 1: „This unity should not be understood in the sense that all philosophers share the same doctrine, but rather that they share the same presuppositions and approaches “ Boys-Stones 2001, ch  5, bes 85–95; ch  8, bes 170–175; ch 9 (176–202)

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

4.1. Varro und das neue Denkmodell Peter Van Nuffelen hat geltend machen wollen, dass dieses neue Denkmodell sich wesentlich rascher entwickelt und verbreitet habe als die Untersuchung von BoysStones erkennen lässt Schon um die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts, also beinahe noch zu Lebzeiten des Poseidonios, sei das Modell in den Antiquitates rerum divinarum des Marcus Terentius Varro voll greifbar Van Nuffelen geht in seiner Argumentation vom Fragment 225 C aus,9 einem Text, in dem er seine These, gerade der Religion werde im Rahmen des neuen Denkmodells eine besondere Bedeutung als einer autoritativen Vermittlerin philosophischer Urweisheit beigemessen, bestätigt findet In diesem Fragment trete die Religion als bewusste Schöpfung einstiger weiser Männer hervor, die über ein tiefes philosophisches Wissen verfügt hätten; dieses Wissen hätten sie in symbolisch-figurativer Weise durch den Kultus zum Ausdruck gebracht Um seine These zu unterstützen und zu entwickeln, zieht Van Nuffelen außerdem einige weitere Fragmente desselben Werks heran 10 Für meine eigene Untersuchung stellt gerade das Fragment 225 C eine Schlüsselstelle dar Wie die meisten Fragmente der RD stammt auch dieses aus der Civitas dei Augustins (civ  7,5) Augustin will sich mit den interpretationes physicae auseinandersetzen, mit deren Hilfe versucht worden sei, die Traditionen um diejenigen Götter, die Varro im sechzehnten Buch der RD zur Gruppe der di praecipui atque selecti zusammengeführt hatte, in philosophische Weisheit zu verwandeln Er referiert zunächst, wie Varro diese interpretationes physicae auf die Götterbilder angewendet hat Hier finden wir nun den Gedanken, dass das anthropomorphe Gottesbild keineswegs dem wahren Gottesglauben widerspreche, sondern im Gegenteil von vornherein dazu erfunden worden sei, in vollem Einklang damit in konkreter, sichtbarer Weise auf das an sich unabbildbare, unbegreifliche Wesen Gottes hinzuweisen Für diese Aufgabe eigne sich eine anthropomorphe Darstellungsweise aus dem Grund, weil zwischen Gott und Mensch eine besondere Verwandtschaft bestehe Diese Überlegung wird im Fragment den einstigen Urhebern der Sitte, menschlich gestaltete Götterbilder aufzustellen, versuchsweise zugeschrieben Die Art, wie die Aussage von Augustin eingeführt wird, lässt verstehen, dass Varro selbst die Betrachtungsweise unterstützt Erstens empfiehlt Varro diese / = die physischen / Deutungen in der folgenden Weise: Er sagt, dass die Alten die Bilder der Götter, ihre Attribute und ihre Ausstattungen erfunden hätten, damit diejenigen, die bis zum innersten Kern der Lehre (doctrinae mysteria) vorgestoßen seien, beim Betrachten dieser Bilder im Geiste die Seele der Welt und ihre 9 10

Nummerierung der Fragmente hier und im Folgenden stets nach C(ardauns) 1976 Seitenhinweise auf die Civitas dei nach Dombart u  Kalb 1928–1929 Zur Frage der Datierung der Antiquitates rerum divinarum (im Folgenden RD) s unten Anm  19 Van Nuffelen 2011, bes  28; 30–41; vgl 17 f S ebenda 28 sowie 5 f zur Religion als besonderem Interessenobjekt der neuen Sichtweise

4 1 Varro und das neue Denkmodell

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Teile (anima mundi ac partes eius11), die wahren Götter also, sollten sehen können Als man die Bilder dieser Götter mit menschlicher Gestalt ausstattete, scheint der Gedanke der gewesen zu sein, dass der Geist der Sterblichen, der im menschlichen Leib enthalten ist, dem unsterblichen Geist am ähnlichsten sei Eine Parallele wäre, wenn man etwa um die verschiedenen Götter zu kennzeichnen verschiedene Gefäße in ihren Tempeln aufstellte, und nun im Tempel des Weingotts einen Weinkrug aufstellte, dadurch auf den Wein hinweisend, nach dem Prinzip, dass durch das Enthaltende das Enthaltene bezeichnet werde In gleicher Weise bezeichne das Götterbild mit seiner menschlichen Form die Vernunftsseele, da gerade in dieser Form gleichsam wie in einem Gefäß diejenige Natur normalerweise enthalten sei, die man auch Gott oder den Göttern zuschreibt 12

Schon in der Einführung habe ich unterstrichen, dass es kaum dem Zufall zuzurechnen ist, dass jede Spur einer Auffassung von der Art, dass wahre Gotteserkenntnis durch anthropomorphe Götterbilder vermittelt werden könne, bis zu diesem Punkt fehlt Es wäre gewiss attraktiv, diese so weit unbezeugte Position mit einem weiteren um diese Zeit feststellbaren Haltungswechsel verbinden zu können, fällt es doch schwer zu glauben, dass der recht drastische Schritt, die anthropomorphen Götterbilder als vollwertigen Ausdruck philosophischer Theologie und zugleich Teil uralter Überlieferung darzustellen, getan worden wäre, ohne dass etwas in der Luft gelegen hätte, was einen solchen Schritt hätte erleichtern können Falls wir uns nach einem potentiellen Hilfsfaktor umsehen wollen, liegt es sehr nahe, gerade an die von Boys-Stones festgestellte Neuorientierung zu denken Auf dem Hintergrund der langen Tradition philosophischer Geringschätzung muss für einen Griechen der Schritt, die anthropomorphen Götterbilder als symbolisches Ausdrucksmittel korrekter philosophischer Theologie zu akzeptieren, schwierig erschienen sein Wie oben Kap  1 3 betont wurde, steckt mutmaßlich hinter der jahrhundertelang vorherrschenden ablehnenden Haltung eine bestimmte Vorstellung vom Ursprung der Sitte, menschengestaltete Götterbilder aufzustellen, und zwar die, dass diese Gewohnheit in einem Willen des Volks begründet sei, die Götter in ihrer vermeintlich tatsächlichen Gestalt abzubilden Diese Vorstellung fußt ihrerseits auf einer bestimmten weiteren Annahme, oder, besser gesagt, Überzeugung vom Verhalten des Volks, nämlich der, dass die ungebildete Menge im falschen Glauben verstrickt sei, die Götter seien tatsächlich menschenähnlich Eine 11 12

Zur Phrase und ihrer Deutung s unten Anm  50 RD 16 fr 225 Cardauns = Aug civ 7,5 p  280,20: Primum eas interpretationes sic Varro commendat, ut dicat antiquos simulacra deorum et insignia ornatusque finxisse, quae cum oculis advertissent hi, qui adissent doctrinae mysteria, possent animam mundi ac partes eius, id est deos veros, animo videre; quorum qui simulacra specie hominis fecerunt, hoc videri secutos, quod mortalium animus, qui est in corpore humano, simillimus est immortalis animi; tamquam si vasa ponerentur causa notandorum deorum et in Liberi aede oenophorum sisteretur, quod significaret vinum, per id quod continet id quod continetur; ita per simulacrum, quod formam haberet humanam, significari animam rationalem, quod eo velut vase natura ista soleat contineri, cuius naturae deum volunt esse vel deos.

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Umwertung der Götterbilder, wie sie in fr  225 zum Ausdruck kommt, verlangt somit eine grundsätzliche Positionsänderung in der Frage nach der Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes überhaupt sowie nach seiner Rolle in der Gesellschaft und damit auch in der Beurteilung der frühen Geschichte der Menschheit insgesamt Das ist kaum eine Angelegenheit, in der man im einen Augenblick eine Meinung vertritt und im nächsten eine andere, weil es einem einfach so einfällt Um so mehr drängt sich der Gedanke auf, dass der Umstand, dass eine solche Aufwertung überhaupt erwogen worden ist, und zwar gerade um diese Zeit, mit dem Aufkommen des neuen Denkmodells zu verbinden sei Erst dieses Modell bietet eine übergeordnete theoretische Grundlage für ein radikales Umdenken hinsichtlich der intendierten Funktion der Götterbilder und damit auch des anthropomorphen Gottesbildes überhaupt Hier wird die Möglichkeit philosophischer Sinngebung bereitgestellt, indem die neue, anerkennende Haltung in einer Gesamttheorie zu Ursprung, Sinn und Wert der Religion verankert werden kann Eine notwendige Folgeerscheinung dieses theoretischen Rahmens ist die Aufwertung freilich nicht Macrobius etwa, der eine Vergangenheitsauffassung dieser Art vertritt, hält nach dem Bild, das das 2 Kapitel seines Kommentars zum Somnium Scipionis hervortreten lässt, die anthropomorphe Darstellungsweise zwar für eine Erfindung einer weisen Elite der Urzeit; diese soll sie jedoch nicht zwecks der Wahrheitsvermittlung eingeführt haben, sondern ganz im Gegenteil als Mittel, die Menge von der Wahrheit fernzuhalten, wie wir oben Kap  3 2 2 gesehen haben Die Möglichkeit zur Aufwertung wahrzunehmen, bleibt eine freie Wahl Die positive Entscheidung ist dabei der radikalere Weg In Varros Fall bedeutete sie, wie wir sehen werden, die Lösung eines heiklen Problems Bei Plutarch finden wir später die Akzeptanz in einer etwas anderen Form: Bilder jeglicher Art werden als Vermittler verhüllter Gotteserkenntnis anerkannt Die vollanthropomorphen, kunstvoll ausgestalteten und kostbaren Bilder haben keinen Vorrang vor Verbildlichungen anderer Art, seien es die angeblich ältesten, primitiven Holzbilder, seien es die ägyptischen heiligen Tiere; im Gegenteil ist Plutarch der Meinung, letztere seien als Spiegelbilder des Göttlichen überlegen, da die lebenden Wesen die geistige Welt unmittelbarer widerspiegeln als die von Menschenhand geschaffenen Artefakte Zur relativen Degradierung der vollanthropomorphen Bilder mag aber auch gerade ihr illusorischer Charakter beigetragen haben, der eine fehlerhafte buchstäbliche Deutung nahelegt und den wahren Sinn entsprechend abrücken lässt 13 Bei Plutarch, wie bei Varro, ist philosophische Einsicht und Erfahrung eine Vorbedingung für richtiges Verständnis der Götterbilder In der Zeit des Plutarch finden wir

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S dazu unten Kap  5 1 Freilich hält Plutarch alle Arten von Verbildlichungen für mehr oder weniger zweischneidig, gerade weil ihr richtiger Gebrauch Einsicht verlange, ohne die sie zu fehlerhaften Vorstellungen Anlass geben, s ebenda Zum Irrtum der Abergläubischen, sich die Götter so vorzustellen, wie die Bildkünstler sie abbilden, Plut moralia (de superstitione) 167d, s oben 3 2 1 a E und unten 5 1 , m Anm  14

4 2 Varros RD: Die zwei Phasen und ihr Bezug zum neuen Denkmodell

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die philosophische Sinngebung jedoch auch noch in einer anderen, der Öffentlichkeit angepassten Form Dion Chrysostomos lässt in seiner 12 Rede seine Rollenfigur „Pheidias“ die Bedeutung und Funktion der anthropomorphen Götterbilder erläutern und dabei geltend machen, dass sie für alle da seien Und später noch wird Maximos von Tyros sogar den Anspruch erheben, die Götterbilder seien geradezu für die breiteren Kreise geschaffen worden, und zwar nicht in täuschender Absicht, sondern aus wahrer Sorge um die schwachen Geister, die dadurch an Gott erinnert und auf den Weg zu ihm hingeführt werden sollen Von Befürchtungen, die beabsichtigten Rezipienten seien nicht imstande, das Anliegen korrekt zu verstehen, erfahren wir nichts 14 4.2. Varros RD: Die zwei Phasen und ihr Bezug zum neuen Denkmodell Es wäre nun befriedigend, wenn wir auf Van Nuffelens Argumentation gestützt den Zusammenhang des Varrofragments mit dem neuen Denkmodell kurzerhand als erwiesen betrachten könnten Aber so einfach liegen die Dinge nicht Van Nuffelens Pointe liegt nicht darin, die in fr  225 zutage tretende Haltung den Götterbildern gegenüber spezifisch mit dem neuen Verständnisrahmen zu verbinden Er will zwar beweisen, dass die These vom Ursprung der Götterbilder, die hier vorgelegt wird, den betreffenden Verständnisrahmen voraussetzt Aber offensichtlich ist es nicht seine Absicht, eine besondere Verbindung gerade der in fr  225 ausgedrückten Vorstellung vom Sinn und Ursprung der Götterbilder zum neuen Denkmodell zu etablieren Derselbe Rahmen soll nämlich seiner Meinung nach generell für die RD gelten, also beispielsweise auch für fr  18, ein Fragment, das, wie wir sehen werden, von einem Standpunkt zeugt, demzufolge die Götterbilder und die anthropomorphe Gottesvorstellung insgesamt abgelehnt werden Van Nuffelen zeichnet ein Bild, nach dem Varros Beurteilung der religiösen Tradition, einschließlich des Gebrauchs von Götterbildern, zwar komplex, flexibel und teilweise ambivalent erscheint, aber als solche im Prinzip konstant bleibt Die Haltung, die sich in fr  18 (und auch anderswo) verrät, müsste demnach ebenfalls in diesen Rahmen hereingehören 15 Wir werden gleich sehen, dass das von Van Nuffelen gezeichnete Bild nicht stichhaltig ist In fr  18 bzw 225 treten zwei grundsätzlich sich ausschließende Verhaltensalternativen zu den Götterbildern zutage, und alle Versuche, diese zu harmonisieren, sind zum Scheitern verurteilt Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Varro im Laufe seiner Arbeit an den RD seinen Standpunkt hinsichtlich des Ursprungs, des Werts und der Funktion der Götterbilder tiefgreifend revidiert hat 16 Der diesbezügliche Haltungswechsel geht mit einer Verschiebung in seiner Vorstellung von der Beziehung 14 15 16

S unten Kap  5 4 mit Unterabteilungen Van Nuffelen 2011, 31–41, bes 34 f Wie ich schon in meinem Artikel 2006 eingehend dargelegt habe

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

zwischen Philosophie und Religion einher Mit anderen Worten: Der generelle Verständnisrahmen ist ebenfalls revidiert worden Einige Fragmente, die Van  Nuffelen dazu benutzt, Varros ambivalente Vorstellung von der Religion zu illustrieren, zeugen eindeutig davon, dass es sich in der hier angegebenen Weise verhalten muss 17 Die Vorstellung, dass Religion als solche von vornherein auf regelrecht philosophischer Grundlage geschaffen worden sei, fehlt in den Fragmenten der früheren Bücher der RD und lässt sich sicher erst in RD 16 – der Quelle von fr. 225 – belegen. Auch wird in RD 16 der römischen religiösen Tradition eine Teilhabe an philosophischer Wahrheit zuerkannt, von der in den ersten Büchern keine Rede sein kann. Folglich ist die These, dass das neue Denkmodell durchgehend die RD prägt, nicht zu halten In der Frühphase nimmt Varro, wie wir unten 4 2 1 eingehender sehen werden, hinsichtlich der anthropomorphen Gottesvorstellung den herkömmlich ablehnenden philosophischen Standpunkt ein, was dazu führt, dass er keine andere Möglichkeit sieht als sich damit abzufinden, dass die römische Staatsreligion ein in seinen Augen fehlerhaftes Gottesbild umfasst Dagegen gibt es allen Grund, fr  225 – sowie auch andere Fragmente aus RD 16 – mit dem neuen Modell zu verbinden Wir dürfen annehmen, dass Varro bei laufender Arbeit an den RD damit in Kontakt gekommen ist und erkannt hat, dass er das Dilemma umgehen könne, wenn er sich dem Grundgedanken anschlösse, die menschliche Kultur gehe auf die Tätigkeit von frühen Philosophen zurück, und dass er deshalb mit einem kühnen Zugriff das anthropomorphe Gottesbild selbst auf diese urzeitlichen Philosophen zurückgeführt hat Der Haltungswandel hat auch, wie wir in Kap  4 3 sehen werden, eine Verschiebung in Varros Vorstellung von Inhalt und Funktion der berühmten dreifachen Theologie bewirkt Während die These, die Van Nuffelen vertritt, mithin in ihrer vollen Reichweite nicht stichhaltig ist, muss man ihm also darin recht geben, dass das Modell sich rascher verbreitet hat als von Boys-Stones angenommen, wie auch darin, dass es sehr früh besonders auf dem Gebiet der religiösen Geschichte Anwendung gefunden hat 18 Nebenbei gesagt könnte der Umstand, dass ein Wechsel innerhalb des Werks nachweisbar ist, als Stütze dafür betrachtet werden, dass hier ein Gedankenmodell vorliegt, dass eben erst entwickelt worden ist, ein Argument, das vielleicht noch schwerer wiegt, falls die Frühdatierung der RD in die Zeit kurz nach 60 v  Chr korrekt sein sollte 19

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Van Nuffelen 2011, 35 Zu diesen Fragmenten gehört u a das schon erwähnte fr  18 Van Nuffelen 2011, 17; 28 Van Nuffelen spekuliert darüber, ob Varro direkt von Poseidonios angeregt worden sei oder das neue Modell erst auf dem Weg über seinen Lehrer Antiochos von Aschalon kennengelernt habe (ebenda 36 f ) Wir brauchen uns bei dieser Frage nicht aufzuhalten Entgegen der traditionellen Datierung der RD in die Jahre zwischen 48 und 45 (wozu s z B Cardauns 1976, 132) hat sich Jocelyn 1982–1983 (s bes  164–177; 203–05) für eine Zurückversetzung um etwa zehn Jahre eingesetzt Diese Datierung hat sich nicht durchgesetzt Ich bin nicht imstande, ohne eingehende eigene Untersuchung zu Jocelyns Argumentation Stellung zu nehmen Seine mit Energie und Gründlichkeit durchgeführte Argumentation hätte diese Aufmerksamkeit gewiss verdient Dennoch habe ich darauf verzichtet, da die Frage letztendlich für die vorlie-

4 2 Varros RD: Die zwei Phasen und ihr Bezug zum neuen Denkmodell

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Varro hat im 16 Buch der RD die zwanzig in seinen Augen wichtigsten Götter des römischen Pantheons, von ihm di praecipui atque selecti genannt, behandelt und interpretiert Mit diesem Buch, dem letzten der RD, setzt sich Augustin im siebten Buch der Civitas dei auseinander; im fünften Kapitel referiert er das oben angeführte Fragment 225 Dass die Zugehörigkeit des Fragments zu RD 16 sicher ist, bietet einen vorteilhaften Ausgangspunkt für die Diskussion 20 Augustin weist im selben Kapitel darauf hin, dass Varro an anderer Stelle in einer Weise sich über die Götterbilder geäußert habe, die zur eben angeführten Aussage in Widerspruch stehe Diese Aussage hat er selbst in civ 4,31 besprochen Dies ist das schon genannte Fragment 18 Zu welchem Buch es gehört, steht nicht fest, aber jedenfalls stammt es aus der Frühphase Cardauns ordnet es dem ersten Buch zu Varro sagt auch, dass die alten Römer mehr als 170 Jahre lang die Götter ohne Kultbild verehrt hätten Und, sagt er, hätte diese Sitte bis heute fortgedauert, dann wäre die Götterverehrung reiner und frommer (castius) 21

Augustin fährt fort: Als Zeugen für diese seine Ansicht führt er u a auch das jüdische Volk an, und er traut sich sogar, seine Diskussion des Themas mit der Bemerkung abzuschließen, dass diejenigen, die damit begonnen haben, öffentlich (populis) Götterbilder aufzustellen, ihren Bürgern die Furcht vor den Göttern genommen hätten und zugleich auch noch ihre Wahnvorstellungen geschürt hätten Und dies schreibt er im durchaus berechtigten Verdacht, dass der unsinnige Gebrauch von Götterbildern zu einer Geringschätzung der Götter führen könnte 22

Van Nuffelen ist nicht der erste, der sich darum bemüht hat, die Positionen der beiden Fragmente auszugleichen Ganz im Gegenteil sind solche Versuche zur Regel geworden 23 Van Nuffelen schlägt folgende Synthese vor: Grundsätzlich sei für Varro

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gende Untersuchung nicht entscheidend ist Van Nuffelen bevorzugt die traditionelle Datierung (2011, 17; vgl 29 f ) Die Zuweisung des Fragments zum 16 Buch der RD ist durch den Kontext bei Augustin gesichert Die di selecti (unten, Anm  49) bilden das Hauptthema der vorangehenden Kapitel (civ  7,1–4) In civ  7,4 nimmt Augustin die in seinen Augen abschreckenden Traditionen, die mit diesen Göttern verbunden sind, zum Anlass, sich höhnisch über ihre Sonderstellung zu äußern Am Anfang von 7,5 knüpft er daran an, indem er verkündet, dass er jetzt dazu übergehe, die eigenen Versuche der Heiden, durch interpretationes physicae diese abgeschmackten Wahnvorstellungen in tiefsinnige Philosophie zu verwandeln, zu referieren Es folgt der Text des Fragments Aug civ 4,31 p  186,21 ff (RD 1 fr  18) Lat Text unten Anm  39 Zu Augustins Gewohnheit, Varro der Widersprüchlichkeit zu bezichtigen, s unten Anm  71; spezifisch zum vorliegenden Fall, s  Verf 2006, 194 f Aug ibid p  186,24: Cui sententiae suae testem adhibet inter cetera etiam gentem Iudaeam; nec dubitat eum locum ita concludere, ut dicat, (Forts fr  18:) qui primi simulacra deorum populis posuerunt, eos civitatibus et metum dempsisse et errorem addidisse, prudenter existimans deos facile posse in simulacrorum stoliditate contemni Und zwar mindestens seit Schwarz 1888, 449 (von Agahd 1898, 12 gutgeheißen)

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

ein Kult ohne Götterbilder vorzuziehen, wie er für die ersten 170 Jahre der römischen Religion charakteristisch gewesen sein soll (fr  18) Dies heiße jedoch nicht, dass den Götterbildern keine philosophische Signifikanz zukomme Im Gegenteil seien diese einst eingeführt worden, um als Vermittler philosophischer Erkenntnis zu dienen (fr  225) Varros Skepsis sei damit in Verbindung zu bringen, dass die breiteren Kreise den symbolischen Charakter der Götterbilder nicht verstünden Problematisch seien also nicht die Götterbilder als solche, sondern allein ihre fehlerhafte Rezeption durch unwissende Betrachter 24 Ferner sei aus fr  18 zu schließen, dass die antiqui in fr  225 erst 170 Jahre nach der Gründung Roms gelebt hätten; gemeint sei also in diesem Fragment der Beginn des römischen Bilderkults, und der König Roms zu dieser Zeit, Tarquinius Priscus, sei folglich einer der antiqui Auf ihn, einen Griechen und Eingeweihten der samothrakischen Mysterien (s fr  205), den Erbauer des kapitolinischen Jupitertempels, gehe somit der Gebrauch der Götterbilder in Rom zurück 25 Abgesehen von der These des generellen Verständnisrahmens – d h der Vorstellung von einer vorbildlichen alten Weisheit, an welche die römische Religion über die Verbindung des Tarquinius zu den Mysterien auf Samothrake anschließe – die ja bei Van Nuffelen neu ist, unterscheidet sich sein Ausgleichversuch von früheren Fassungen auch darin, dass er ausdrücklich betont, dass die Bilder sich primär an die philosophisch Einsichtigen richten Wenn er auch geltend machen will, dass Varro auch in fr  225 den bilderlosen Kult für im Grunde überlegen halte, ist er also jedenfalls nicht darauf aus, Varro die Meinung zu unterschieben, dass die Bilder dazu vorgesehen seien, den Bedürfnissen des Volks entgegenzukommen Das ist zweifellos ein Fortschritt Dieser Vorschlag, mit dem schon mehr als einmal versucht worden ist, die Aporie zu heilen, die sich aus den beiden Fragmenten ergibt,26 entbehrt jeder Verankerung im Text Denn laut fr  225 soll ja die vorgesehene Rezipientengruppe der Bilder die Elite selbst gewesen sein In fr  18 wiederum heißt es, dass ein Kult ohne Götterbilder vorzuziehen wäre Dass Götterbilder öffentlich (populis!) eingeführt worden sind, gilt als Nachteil, nicht als zulässiges oder notwendiges Zugeständnis an das Volk Aber von diesem Unterschied abgesehen ist Van Nuffelens Deutung offensichtlich der herkömmlichen Strategie, mit dem widersprüchlichen Stoff zurechtzukommen, gar nicht so unähnlich Dass die Unvereinbarkeit der Aussagen eher scheinbar sei, ist ein wiederholt verwendetes Argument Es handele sich nicht eigentlich um grundverschiedene Standpunkte, sondern um eine flexible Haltung, die sich auch pragmatisch nach den vorhandenen Tatsachen richte, wenn auch

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Van Nuffelen 2011, 35; vgl 39 Van Nuffelen 2011, 32 Zum Fragment 205 Cardauns s unten 4 4 1 1 Wie es etwa Baier 1997, 49 f und Cardauns 1978, 84 tun Ähnlich Lehmann 1997, 192, der in fr  225 ein pragmatisches Zugeständnis an römisches Normalverhalten erblickt, vom dem sich die geistige Elite eher distanziere (mit Hinweis auf fr  12, unten Anm  44 angeführt) Vgl auch unten 4 2 2 Anm  73

4 2 Varros RD: Die zwei Phasen und ihr Bezug zum neuen Denkmodell

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etwas widerwillig 27 Auch ist der Inhalt der beiden Fragmente als historische Abfolge römischer Kultsitten konstruiert worden: fr  18 als frühe Epoche, ohne Götterbilder, und fr  225 als Einführung der Götterbilder durch Tarquinius Priscus 28 Gemeinsam für alle diese Versuche, Van Nuffelens nicht ausgenommen, ist die Tendenz, den wertenden Aspekt, der jeweils aus den Zeugnissen spricht, zu unterdrücken Das führt unausweichlich zu drastischen Verdrehungen und ernsthaften neuen Widersprüchen 29 Wir müssen die wertende Haltung beider Fragmente ernst nehmen und uns endlich klarmachen, dass kein Ausgleich möglich ist Als nächster entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem richtigen Verständnis der Zusammenhänge folgt dann die Einsicht, dass mit der unterschiedlichen Wertung des Gebrauchs von Götterbildern divergierende Vorstellungen von der Entstehung dieses Gebrauchs verbunden sind, welche ihrerseits durch entsprechend grundsätzlich verschiedene Beurteilungen des anthropomorphen Gottesbildes überhaupt bedingt sind Da ein Ausgleich unmöglich ist, kann es sich nur um zwei getrennte Stadien in Varros Denken handeln Und da wir wissen, dass fr  225 dem letzten Buch angehört, können wir den in diesem Fragment ausgedrückten Standpunkt dem Spätstadium zuweisen Fr  18 und einige andere, noch zu besprechende Fragmente spiegeln dementsprechend eine frühere Haltung wider

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S Hinweise oben Anm  26 Eigenartig ist der Versuch von Lieberg 1973, einen Ausgleich derart zu finden, dass die Epoche des Bilderdienstes unter zwei Aspekten betrachtet wird: Die Urheber der Götterbilder hätten einerseits einen Irrtum begangen, indem sie zu wenig beachtet hätten, dass das Volk dazu neigen würde, die Götter in simulacrorum stoliditate zu verachten (vgl Augustins Worte a E des Zitats oben Anm  22), aber andererseits hätten sie lobenswerterweise mit den Götterbildern den Einsichtigen eine Hilfe anbieten wollen, zur geistigen Schau Gottes zu gelangen (Lieberg 1973, 88) Der Vorschlag ist ausdrücklich im Willen, Varro des Vorwurfs der Widersprüchlichkeit zu entheben, begründet, und geht von einer Kritik an Boyancé aus, der zu sehr betont haben soll, dass Varro hinsichtlich der Götterbilder verschiedene Standpunkte vertreten habe (Boyancé 1955, 72) Es scheint Lieberg entgangen zu sein, dass Boyancé, ungeachtet seiner von Lieberg kritisierten Auffassung, dass in fr 225 eine „vue fort différente“ vorliege, sich seinerseits ebenfalls für eine Art Harmonisierung eingesetzt hat, s Boyancé ebenda 73, m Anm  2, und unten 4 2 1 , m Anm  40 Baier 1997, 50; Lehmann 1997, 191 Von Lehmann wird dem Fragment 254, nach dem in alter Zeit ein Speer als Xoanon des Mars funktioniert haben soll, eine Rolle als „étape intermédiaire et obligée“ zugeschrieben (Lehmann ebenda) Auf dieses Fragment komme ich unten 4 4 zurück (Text unten, m Anm  127) So kann die Versuchung, der Aussage in fr  18 mehr Gewicht beizumessen, leicht zur Vorstellung verführen, dass Varro den in fr   225 geschilderten Vorgang letztendlich bedauert habe  – Baier 1997, 50: „Dass diese im sechsten Jahrhundert eingeführte ikonische Götterverehrung / d h , wie das Zitat im vorangehenden zeigt, fr  225; MWS / nur ein Rückschritt sein kann, wird aus RD 1,18 deutlich, wo es mit Bezug auf den früheren Zustand heißt …“

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

4 2 1 RD: Die Frühphase Ein wichtiges Fragment, das uns die Haltung der Frühphase bezeugt, stammt aus dem Anfang des Kapitels civ 4,32 (fr  19) Augustin berichtet hier folgendes: Varro sagt außerdem,30 dass hinsichtlich der Entstehungsweisen (generationes) der Götter die Völker sich mehr von den Dichtern als von den Philosophen (physici) hätten anleiten lassen, und deshalb hätten seine Vorfahren, d h die alten Römer, geglaubt, dass die Götter verschiedenen Geschlechts seien und Kinder zeugen (generationes), und sie hätten dementsprechend Eheverbindungen unter ihnen konstruiert 31

Hieraus erkennen wir, dass Varro zur Zeit der Äußerung die anthropomorphe Gottesvorstellung, die er als historische Grundlage der römischen Religion betrachtet, restlos abgelehnt hat Er findet in dieser Gottesvorstellung keinen philosophischen Inhalt und nichts Nützliches überhaupt Er bedauert die Tatsache, dass sie entstanden ist und in die römische Staatsreligion wie auch in den öffentlichen Kult anderer Völker eingedrungen ist, und macht die Dichter dafür verantwortlich Augustin fügt hinzu, dass die alten Römer mit der Einrichtung des anthropomorphen Pantheons gewiss das Volk hätten hinters Licht führen wollen Er spielt auf eine Meinung Varros an, die er im vorangehenden Kapitel schon referiert hat: Varro habe unverhohlen ausgesprochen, dass die religiöse Wahrheit nicht immer allen förderlich sei, sondern dass es u U besser sei, wenn das Volk Falsches für wahr halte 32 Das ist jedoch eine augenscheinliche Verdrehung des Sachverhalts Der angeführte Wortlaut macht unzweideutig klar, dass Varro der Meinung ist, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung keineswegs aufgrund schlauer Berechnung in die Staatskulte – den römischen wie andere – aufgenommen worden sei In Varros Augen handelt es sich um eine bedauerliche Folge menschlicher Schwäche Es wäre eine naheliegende Vermutung, dass Varro sich vorgestellt hat, dieses Gottesbild sei im Zuge der allgemeinen Degeneration als Ergebnis von Fehldeutungen eines ursprünglichen, metaphorischen Diskurses entstanden, dem Modell entsprechend, das ich oben Kap  3 1 1 dargelegt habe Wird diese Vermutung durch fr  19 unterstützt? Weder „die Völker“ generell noch die alten Römer selbst sind als direkte Quelle

30 31 32

D h zusätzlich zu seinen Bemerkungen über eine bilderlose erste Stufe der römischen Staatsreligion = fr  18, oben 4 2 angeführt und gleich unten noch zu besprechen (Text in Anm  39) Aug civ 4,32 p  187,20–23 = RD fr  19 Cardauns: Dicit etiam de generationibus deorum magis ad poetas quam ad physicos fuisse populos inclinatos, et ideo et sexum et generationes maiores suos, id est veteres credidisse Romanos et eorum constituisse coniugia Aug civ 4,31 p  186,2 (= RD fr  21): … multa esse vera, quae non modo vulgo scire non sit utile, sed etiam tametsi falsa sunt, aliter existimare populum expediat … „Bei vielen Wahrheiten verhalte es sich so, dass es nicht nur dem Volk nütze, sie nicht zu kennen, sondern dass es ein Vorteil sei, wenn es anders darüber denke, obwohl es falsch ist “ (Vgl ebenda 4,27 p  180,4 ) Zu diesem Fragment s auch unten 4 2 2 a E , m Anm  74

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eines solchen Missverständnisses gekennzeichnet – die Anthropomorphisierung wird ja als Folge ihrer Bevorzugung der Dichter dargestellt Sollen wir dies so verstehen, dass die Dichter die Erfinder der anthropomorphen Gottesvorstellung seien? Würde dies bedeuten, dass diese Gottesvorstellung allein in der Absicht, dem Publikum Vergnügen zu bereiten, geschaffen worden sei? Denn wie wir gleich sehen werden, hat Varro zur Zeit der Arbeit an den ersten Büchern der RD dies als einziges Anliegen der Dichter betrachtet Nun spielen die Dichter, anders als man vielleicht erwartet hätte, als ursprüngliche Erfinder des anthropomorphen Gottesbildes im antiken Denken keine nennenswerte Rolle Ich trage deshalb gewisse Bedenken, zu postulieren, eine solche Theorie sei hier stillschweigend mitzuverstehen Im dritten Kapitel haben wir zwei verschiedene Fassungen einer Vorstellung studiert, die besagt, dass die Menschengestalt der Götter einen narrativen Vorteil biete und deswegen für die Götterschilderungen der Dichtung bewusst gewählt worden sei Aber die dort besprochenen Modelle bieten augenscheinlich keine Parallelen zu unserem gegenwärtigen Fall Im einen dort angeführten Fall, der Widerlegung der epikureischen Theologie durch Aurelius Cotta in Cicero, De natura deorum 1,77 f , soll die anthropomorphe Darstellungsweise erst sekundär in die Dichtung aufgenommen worden sein Ihre eigentliche Erfindung wird frühen Staatsmännern zugeschrieben, die diese dem Volk verständliche Gottesvorstellung aus soziopolitischen Gründen geeignet gefunden hätten Dichter (und Bildkünstler) sollen sich diese Darstellungsform angeeignet haben, weil sie deren Potential erkannt hätten (oben 3 2 1 1 ) Im zweiten Fall, Ps Plutarch, De Homero 2,113, gelten nicht die Dichter generell als Urheber, sondern allein der weise Homer, der dabei ebenfalls von bestimmten Überlegungen ausgegangen sein und bestimmte Intentionen im Auge gehabt haben soll Pädagogisch-psychologische, vielleicht auch politische Erwägungen sollen ihn dazu bewegt haben, diese theologisch nicht korrekte, aber nichtsdestoweniger nützliche Darstellungsweise in Wort und Bild (wie es scheint) einzuführen (oben 3 2 1 2 ) Eindeutig der in fr   19 zutagetretenden Beurteilung der Dichter verwandt ist die Haltung des stoischen Sprechers in Ciceros De natura deorum, Lucilius Balbus (2,63; 2,70), die ich oben Kap  3 1 1 eingehend analysiert habe Aber für Balbus, ähnlich wie für Cotta, gelten die Dichter nicht als Erfinder der anthropomorphen Darstellungsweise Balbus vertritt das hier oben gerade genannte Modell, nach dem die Vorstellung von menschengestalteten Göttern versehentlich aus einem ursprünglich besseren Gottesbild aufgekommen sei Die Dichter nützen die so entstandene falsche Gottesvorstellung für ihre Fabeleien und tragen dadurch zur Befestigung und Verschlimmerung der Fehlvorstellung von menschenähnlichen Göttern bei Einzig in der 12 Rede des Dion von Prusa, und zwar nicht in der Pheidiasszene, sondern an einer Stelle im vorangehenden, § 40–43, wird ein Entwicklungsgang im-

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pliziert, der möglicherweise in ähnlicher Form Varro vorgeschwebt haben könnte 33 Varros Fassung würde solchenfalls besagen, dass der letzte, endgültige Schritt von einem ursprünglich metaphorischen Diskurs zu einer vollanthropomorphisierten Gottesvorstellung sich erst mit der Tätigkeit der Dichter vollzogen habe, etwas was vielleicht durch den Wortlaut des Fragments unterstützt wird, wo nicht von Affekten und charakterlichen Schwächen der Götter gesprochen wird, sondern von deren sexus et generationes Wir hätten es in solchem Falle mit einer Variante des von Balbus in De natura deorum 2 verfochtenen Modells zu tun: Der schon lange genug sich anbahnenden Tendenz zu einer wörtlichen Deutung der metaphorisch formulierten Traditionen über die Götter hätten erst die Dichter in ihrem Eifer, ihr Publikum zu vergnügen, durch ihre wilden Fabeleien zum endgültigen Durchbruch verholfen Das könnte der Grund sein, weshalb nach fr  19 zu urteilen weder „die Völker“ generell, noch die alten Römer selbst als Quelle der Missverständnisse gekennzeichnet sind, sondern die Anthropomorphisierung der Einwirkung der Dichter zugeschrieben wird Da ausdrücklich von der Anthropomorphisierung des römischen Pantheons die Rede ist – Augustin spricht ja von den „alten Römern“ – wäre es an sich eine verlockende These, anzunehmen, Varro hätte damit gerechnet, dass es bis zur Zeit der römischen Staatsgründung den Latinern gelungen sei, ein ursprüngliches, abstraktes Gottesbild zu bewahren, d h dass diese im Prinzip außerhalb der allgemeinen Entwicklung, die zur anthropomorphen Gottesvorstellung geführt habe, gestanden hätten Die Latiner galten Varro als Abkömmlinge der Aboriginer, die wiederum aus dem Sabinerland, der Heimat Varros, stammten, die nach seiner Auffassung ein Volk besonderer Frömmigkeit waren 34 Den Latinern hätte es vielleicht aufgrund ihrer besonderen Abstammung gelingen können, sich der Fehldeutung zu erwehren; nach der Gründung Roms aber, in einer Zeit, in der die Dichter sich des Stoffs bemächtigt und ihn mit verführerischen Geschichten ausgebaut hätten, hätte man ihrem Einfluss nicht standhalten können Die fehlerhafte Gottesvorstellung wäre also durch ihre Vermittlung den Römern aufgedrängt worden Diese hübsche Konstruktion hält jedoch nicht Stich Sie setzt voraus, dass die Römer und ihre Vorfahren durch eine Sonderentwicklung gekennzeichnet wären, während die übrigen Völker sich der Degeneration nicht hätten entziehen können Aber nichts in unserem Fragment deutet an, dass hier zwischen den Römern und anderen Völkern ein Unterschied bestehe Ganz im Gegenteil sieht es danach aus, als sei die Anthropomorphisierung bei den sonstigen Völkern und bei den Römern in derselben Weise vor sich gegangen Das zweimal vorkommende Substantiv generatio hat, wörtlich verstanden, mit geschlechtlicher Fortpflanzung zu tun Das lateinische Wort ist mehrdeutig und lässt somit die Deutung im Prinzip offen, aber in der deutschen Fassung ist eine Festle33 34

Unten 5 4 1 2 , bei Anm  175–176 Freilich kommt der Gedanke, die Dichter seien allein darauf aus, dem Publikum Vergnügen zu bereiten, in Dions Rede nirgends zum Ausdruck S unten 4 4 m Anm  119

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gung notwendig 35 Ich habe mich dazu entschlossen, es in verschiedener Weise wiederzugeben Für unser Verständnis des Fragments ist die Frage nach Differenzierung oder nicht von untergeordneter Bedeutung; der entscheidende Punkt besteht darin, dass das Substantiv buchstäblich verstanden eine anthropomorphe Vorstellung suggeriert oder voraussetzt, aber in übertragenem Sinne zum philosophischen Wortschatz gehört Das lässt sich beispielsweise aus einer Stelle bei Tertullian ersehen, die schon aus dem Grund in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, weil dort gerade Varros Gottesvorstellung als Ausgangspunkt dient, um anhand paganer philosophischer Positionen in der Frage, ob Götter „geboren werden“ bzw „(er)zeugen“ können, Inkonsequenzen paganer Lehre aufzudecken, aus denen gefolgert wird, dass auch vom Standpunkt der Philosophen selber der Anspruch, die Elemente und ihre „Abkömmlinge“ seien Götter, nicht stichhaltig sei 36 35

36

Beide Fälle unserer Stelle sind im Artikel generatio in TLL 6:2 in der Spalte 1781, unter Abteilung II de actione generandi: A 1 a (praevalet activa notio procreandi sive propagandi) β aufgeführt (1781,72) Dagegen unterscheidet TLL zwischen den beiden kurz aufeinander folgenden, kontextuell ähnlichen Fällen desselben Worts im gleich zu nennenden Abschnitt bei Tertullian, Ad nationes 2,3,6 f (col   1784,2 f , d h II  A  1  b  β l   84 sqq praevalet passiva vis oriundi, nascendi bzw 1781,69, unter II A 1 a β, wie oben) Zu generatio im Plural vgl Arnobius nat 4,21: … his in lucem prodeunt generationibus dii vestri quibus asini porci canes „Eure Götter kommen durch dieselbe Art von Geburt (dieselbe Art von Zeugung?) zur Welt wie Esel, Schweine und Hunde “ Tert nat 2,3,6 f p  44,27 Borleffs: Si uero institutus omnino non est ac propterea deus habendus (scil. mundus), quod ut deus neque initium neque finem patitur, quomodo quidam assignant elementis, quae deos uolunt, generationem, cum Stoici negent quicquam d nasci? Item quomodo uolunt, quos de elementis natos ferunt, deos beri, cum deum negent nasci? (7) Itaque quod mundi erit, hoc elementis adbetur, caelo dico et terrae et sideribus et igni, quae deos et deorum prentes aduersus negatam generationem dei et natiuitatem frustra u credi proposuit Varro et qui Varroni indicauerunt animalia esse cae et astra. Ich versuche eine eigene Übersetzung: „Falls der Kosmos überhaupt nicht eingerichtet worden ist und deswegen als Gott zu betrachten ist, weil er wie Gott weder Beginn noch Ende kennt, wie können dann gewisse Leute den Elementen, die sie für Götter halten, eine Zeugung (im TLL-Artikel generatio wäre hier „Geburt“ zu verstehen, s oben Anm  35) zuschreiben, wo doch die Stoiker leugnen, dass irgendetwas von Gott geboren werde? Und ferner: Wie können sie geltend machen, dass diejenigen, die sie als Abkömmlinge (natos) der Elemente bezeichnen, für Götter gehalten werden sollen, wo sie doch bestreiten, dass ein Gott geboren wird? (7) Denn was vom Kosmos gilt, muss auch den Elementen zugeschrieben werden, d h dem Himmel, der Erde, den Gestirnen und dem Feuer, aber gerade diese sind es ja, von denen Varro und diejenigen, die Varro den Gedanken vermittelt haben, dass der Himmel und die Gestirne lebende Wesen seien, euch leichtfertig verkündet haben, dass sie für Götter und Erzeuger (parentes) von Göttern gehalten würden, ungeachtet ihrer eigenen Verneinung, dass Zeugung und Geburt (generationem et natiuitatem) für einen Gott in Frage komme “ Varro wird außer am Ende von § 7 auch noch 2,1,8, 2,2,19 und 2,3,11 namentlich erwähnt, in 2,1,8 als Quelle für die kritisierten Meinungen im Folgenden Agahd führte einen Teil dieses Abschnitts als RD 1 fr  20 (p  151 f ) auf Cardauns bringt Teile von § 7 als RD 1 fr  24 (vgl auch Apparat dort) Im Apparat zu unserem Fragment (Nr  19), vermerkt er das parallele doppelte Vorkommnis des Worts generatio im Tertullianabschnitt Müller 2004, 109, weist darauf hin, dass generatio erst seit Celsus und Plinius dem Älteren belegt ist Ob Augustin in unserem Fragment den tatsächlichen varronischen Wortlaut wiedergibt, oder ob er eher eine Art Referat gibt, mag somit unsicher sein Dagegen sind die Substantive genitor und genetrix in klassischer Zeit sowohl in wörtlichem wie in übertragenem Sinne einwandfrei belegt;

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Versuchen wir es, etwas ausführlicher den Kontext des Fragments zu rekonstruieren: Hätten die Völker hinsichtlich der generatio der Götter mehr auf die Philosophen geachtet, hätten sie eingesehen, dass es darum gehe, a quodam tempore an a sempiterno fuerint di – ob die Götter einen zeitlichen Anfang hätten oder seit ewig bestünden 37 Nun haben sie am mythologischen Narrativ der Dichter mehr Freude gehabt und sich davon verleiten lassen, sich die Götter so vorzustellen, wie die Dichter sie beschreiben, und so sind sie auf die falsche Spur geraten, was die generatio betrifft: Sie sind dem Missverständnis der wörtlichen Deutung erlegen Die Römer sind hier keine Ausnahmen gewesen, und so haben sie sich ein Pantheon von regelrecht männlichen und weiblichen Göttern eingerichtet, die durch tatsächliche Verwandtschaft und Ehen verbunden sind und miteinander Kinder erzeugen Durch negativen Einfluss sei dieses Gottesbild aufgenommen und sanktioniert worden Mit anderen Worten: Die Menschenähnlichkeit der Götter wird als bedauerliches Fehlkonzept verstanden Unter solchen Bedingungen kann die anthropomorphe Form weder als geeignet, noch überhaupt als fähig betrachtet werden, in irgendeiner Weise theologische Wahrheit zu vermitteln Sie gilt als vom Götternarrativ der Dichter inspiriert In dieser Phase seines Denkens hat Varro dem Dichternarrativ auch keine Funktion als Träger verhüllter philosophischer Wahrheit zuerkannt Die Dichter schreiben ausschließlich um Vergnügen zu bereiten 38 Diese Überlegungen zu fr  19 erlauben es uns nun, die Aussagen in fr  18 korrekt zu verstehen Diese gehören unmissverständlich zur selben, frühen Phase Wie wir schon sahen, vermittelt uns Augustin die betreffenden Äußerungen Varros in civ 4,31: Varro sagt auch, dass die alten Römer mehr als 170 Jahre lang die Götter ohne Kultbild verehrt hätten Und, sagt er, hätte diese Sitte bis heute fortgedauert, dann wäre die Götterverehrung reiner und frommer (castius) Als Zeugen für diese seine Ansicht führt er u a

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Varro zitiert selbst den Dichter Valerius Soranus, der Iupiter u a als progenitor genetrixque deum (civ 7,9 p  287,5 und 7,11 p  288,29 = fr  2 Cardauns 1960) bezeichnet haben soll Aug civ 6,5 p 253,13, aus der Liste der Themen, die laut Varro im secundum genus theologiae erörtert werden (vgl Varro RD fr  8) S unten 4 3 (m Anm  85) Welche Position Varro auf dieser Stufe seines Denkens in der kontroversen Frage eingenommen hat, wann der Beginn der Philosophie anzusetzen sei (vgl dazu in der Einleitung dieses Kapitels, vor Anm  2), ist m W nicht zu ermitteln, abgesehen davon, dass feststeht, dass er damit gerechnet hat, der Anfang sei jedenfalls der römischen Staatsbildung vorausgegangen Fr  19 setzt ja offensichtlich voraus, dass die alten Römer nicht die ersten gewesen seien, die Philosophen zugunsten der Dichter zu vernachlässigen Civ 6,6 sp  257,20 (fr  11): Delectationis enim causa … scribunt poetae (vgl ibid l 17) Wie wir oben Kap  1 4 gesehen haben, sind philosophische Allegorese des mythologischen Götternarrativs und Anerkennung der anthropomorphen Gestalt der darin auftretenden Götter zwei getrennte, von einander unabhängige Erscheinungen Varro hätte also ohne weiteres das Götternarrativ als Speicher philosophischer Wahrheit betrachten können, ohne die Menschenähnlichkeit der Götter als philosophisch begründet zu akzeptieren Das hat er aber in den RD zunächst nicht getan Im Gegenteil hat er mit Hilfe eines besonderen Instruments, und zwar der sog dreifachen Theologie, die Kategorien Dichtung und Philosophie voneinander strikt getrennt; vgl dazu unten 4 3

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auch das jüdische Volk an, und er traut sich sogar, seine Diskussion des Themas mit der Bemerkung abzuschließen, dass diejenigen, die damit begonnen haben, öffentlich (populis) Götterbilder aufzustellen, ihren Bürgern die Furcht vor den Göttern genommen hätten und zugleich auch noch ihre Wahnvorstellungen geschürt hätten …39

Zählen wir von der Gründung Roms an, reichen wir mit den rund 170 Jahren in die Zeit des Tarquinius Priscus Das Interesse der Forscher hat auch meist um seine Rolle gekreist, wobei Versuche, ein zusammenhängendes Bild von der Bedeutung für die römische Religion, die ihm Varro zugeschrieben haben mag, zu konstruieren, im Zentrum gestanden haben Wir werden unten in Abschnitt 4 4 mehr mit ihm zu tun haben Weniger Aufmerksamkeit ist dem Umstand gewidmet worden, dass dieses Fragment, genau wie fr  19, das betreffende Ereignis in römischer Zeit im größeren Rahmen der allgeimeinen Religionsgeschichte betrachtet und beurteilt Varro unterstreicht sein Urteil, dass ein Kult ohne Götterbilder überlegen wäre, mit einem Ausblick auf den allerersten Anfang der Sitte, Götterbilder öffentlich aufzustellen Wir können aus seinen Worten mehrere wichtige Schlüsse ziehen Es ist ohne weiteres klar, dass Varro sich ausschließlich negativ dazu verhält, dass einst damit begonnen worden ist, Götterbilder aufzustellen Sein Urteil, dass die Verehrung der Götter ohne diese frommer gewesen wäre, lässt keine andere Deutung zu So z B gibt es keine Möglichkeit, Varro hier die Auffassung zu unterschieben, die Götterbilder seien dazu eingeführt worden, um das Volk einzuschüchtern oder irrezuführen 40 Zwar können wir dem Fragment entnehmen, dass Varro es offensichtlich für vorteilhaft gehalten hat, dass ein gewisses Maß an Furcht vor den Göttern im Volk lebendig bleibe Aber dieser Vorteil ist ja in seinen Augen durch die Bilder geschmälert oder gar aufgehoben worden (metum dempsisse), nicht etwa noch unterstützt worden Der error – auf den wir gleich zurückkommen werden  – soll dagegen zugenommen haben, aber dieser angebliche Effekt der Bilder wird ja ebenso bedauert wie das Abnehmen der Furcht Es geht also nicht an, unser Fragment mit dem oben angeführten Fragment 21 zu verbinden, demzufolge Varro es für vorteilhaft gehalten habe, dass das Volk hinsichtlich der religiösen Wahrheit gelegentlich hinters Licht geführt werde 41 Aber ebenso wenig lässt sich der Gedanke hineinlesen, dass die Bilder dafür gedacht gewesen seien, den Wünschen oder Bedürfnissen des Volks entgegenzukommen,42 und zwar wiederum aus denselben Gründen: Dass die Furcht abgenommen habe, gilt als Nachteil, nicht 39

40 41 42

Aug civ 4,31 p  186,21 ff (≈ RD 1 fr  18): Dicit etiam antiquos Romanos plus annos centum et septuaginta deos sine simulacro coluisse. Quod si adhuc, inquit, mansisset, castius di observarentur. Cui sententiae suae testem adhibet inter cetera etiam gentem Iudaeam; nec dubitat eum locum ita concludere, ut dicat, qui primi simulacra deorum populis posuerunt, eos civitatibus et metum dempsisse et errorem addidisse … Vgl auch civ 4,9 p  157,9 ff Dies meint offensichtlich Boyancé 1955, 73 (m Anm  2) Vgl oben Anm  27 S oben (mit Anm  32) Zu fr  21 s auch unten 4 2 2 , m  Anm 73–74 Cardauns 1978, 84; Lehmann 190 und 192 Vgl Verf 2006, 195 Anm  7

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als Vorteil Und schließlich muss auch nachdrücklich unterstrichen werden, dass es ebenso ausgeschlossen ist, unsere Stelle in dem Sinne zu deuten, dass die Götterbilder spezifisch für die Elite vorgesehen seien, die die nötige Erfahrung und Ausbildung besitze, ihren philosophischen Inhalt zu verstehen 43 Denn der error gilt offensichtlich uneingeschränkt: Ein Kult ohne Bilder ist generell reiner und frommer (castius), völlig unabhängig von der Bildung der Ausüber Die von Tarquinius Priscus eingeführte Neuerung des römischen Staatskults gilt Varro als Missgriff Physicae interpretationes der Bilder, wie in fr  225, kommen nicht in Frage Die konkreten Götterbilder tragen – logischerweise  – ebenso wenig einen philosophischen Sinn wie die anthropomorphen Eigenschaften der römischen Götter überhaupt (fr  19) oder das anthropomorphe Götternarrativ der Dichter (fr  8; s unten 4 3 ) Gleichsam als Zusammenfassung der Frühphase klingt Varros Geständnis, dass er, wenn er selbst die Möglichkeit gehabt hätte, den römischen Staat neu zu begründen, die Götter und ihre Namen lieber nach der „Norm der Natur“ eingerichtet hätte 44 Eine Übereinstimmung der Götter des römischen Staatskults und ihrer Namen mit den Prinzipien der Physis liegt also seiner Meinung nicht vor Das bedeutet gewiss nicht, dass er jede Verbindung der römischen Götter mit einer solchen Norm bestritten hat Dass Varro während dieser Phase seiner Beschäftigung mit der römischen Religion gemeint hat, die römischen Staatsgötter seien in der Verlängerung dieselben Götter, die in einer fernen, unverdorbenen Epoche verehrt worden seien, in der das Leben der Menschheit noch unschuldig und frei von Lastern und falschen Vorstellungen gewesen sei, braucht nicht angezweifelt zu werden Er wird davon überzeugt gewesen sein, dass diese Götter im Grunde alle als Manifestationen des einen Gottes, der anima motu ac ratione mundum gubernans („der Seele, die mit ihrer bewegenden Vernunft die Welt lenkt“45) zu verstehen seien, und dass diese anima mit Jupiter gleichzusetzen sei Dabei wird Varro selbst natürlich gemeint haben, im Prinzip das wahre Wesen Gottes erkannt 43

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Vgl Van Nuffelen 2011, 35; 39, und vgl Lieberg 1973, 88 (oben, Anm  27) Die Überlegungen zur Rolle der Furcht als wertvolles sozialpolitisches Instrument, die Van Nuffelen S  39 anhand der Fragmente 18, 47 und 69 anstellt, sind teilweise verfehlt, da sie von einer Fehlübersetzung in fr  18 ausgehen („The creators of images brought error and fear to their communities“, S  38 f ; vgl 40) Aug civ 4,31 p  185,21 (RD fr  12): … nonne ita confitetur non se illa iudicio suo sequi, quae civitatem Romanam instituisse commemorat, ut, si eam civitatem novam constitueret, ex naturae potius formula deos nominaque eorum se fuisse dedicaturum non dubitet confiteri? „Dass er nicht zögert, einzugestehen, dass er, wenn er selbst den römischen Staat neu begründen könnte, seine Götter und ihre Namen lieber im Einklang mit der Norm der Natur eingerichtet hätte, ist doch wohl ein deutliches Bekenntnis, dass er nicht aus eigener Überzeugung den Institutionen des römischen Staats, die er beschreibt, nachgehe “ Der Text fährt fort: Sed iam quoniam in vetere populo esset, acceptam ab antiquis nominum et cognominum historiam tenere, ut tradita est, debere se dicit, et ad eum finem illa scribere ac perscrutari, ut potius eos magis colere quam despicere vulgus velit „Aber da er sich bei einem alten Volk befinde, müsse er, wie er sagt, an der von den Alten angenommenen Tradition der Namen und Beinamen festhalten, so wie sie überliefert ist, und sie vor allem mit dem Ziel beschreiben und durchforschen, dass die Menge diese Götter eher mehr verehren sollte als sie verachten “ Civ 4,31 p  186,13; vgl RD fr  13, wozu s unten nächste Anm

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zu haben, nicht aufgrund direkter Tradition, sondern weil es zur Aufgabe der Philosophie gehört, das Wesen der Götter zu ergründen 46 Die öffentliche Verbindung mit dem wahren Glauben sei jedoch in Rom, wie in vielen anderen Staaten, früh verlorengegangen Die alten Römer (veteres Romanos) hätten unter dem negativen Einfluss der Dichter ein anthropomorphes Pantheon eingerichtet (fr  19), und die herkömmlichen Namen und Beinamen der Götter, die auch aus altrömischer Zeit stammten (acceptam ab antiquis … historiam), könnten nicht, oder nicht mehr, über das eigentliche Wesen der Götter Aufschluss geben (fr  12) Hätte man aber damals den Vorteil genutzt, dass es schon in jener frührömischen Zeit eine voll ausgebildete Philosophie gab, hätte die Lage besser sein können Wären ihre theologischen Einsichten berücksichtigt worden, hätte die römische Staatsreligion auf solider Basis etabliert werden (oder erhalten bleiben) können Wie es aber nun gekommen sei, liege keine Übereinstimmung mit der Norm der Natur vor Im Vorgriff auf meine weitere Behandlung von fr  18 bzw fr  254 möchte ich das so weit gezeichnete Bild von Varros Auffassung in der Frühphase in der folgenden Weise ergänzen und vervollständigen:47 Auch der eine Vorteil, nämlich dass im Kult zunächst keine anthropomorphen Götterbilder verwendet worden seien, sei mit der Zeit aufgegeben worden Das Fehlen von Götterbildern sei allerdings kein Ausdruck einer begründeten theologischen Entscheidung gewesen, sondern sei einfach die notwendige Folge mangelnden künstlerischen Könnens Aber auch so sei dieser Zustand vorzuziehen, da die Bilder weniger gut dazu geeignet seien, eine gewisse gesunde Götterfurcht aufrechtzuerhalten, und sie zudem noch die Fehlvorstellungen des Volks steigern würden (etwa weil es dazu tendiere, die anthropomorphen Götterbilder mit den Göttern selbst zu verwechseln) 48

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RD fr  8 civ 6, 5 p  253,12 (dii qui sint, ubi, quod genus, quale est: a quodam tempore an a sempiterno fuerint di; ex igni sint, ut credit Heraclitus, an ex numeris, ut Pythagoras, an ex atomis, ut ait Epicurus Zur Stelle s noch unten 4 3 , m Anm  85 ) Einer bestimmten Richtung sei es seiner Meinung nach gelungen, den wahren Inhalt des ursprünglichen Gottesglaubens zu rekonstruieren (RD fr  13 civ 4, 31 p  186,11): Dicit etiam … quod hi soli ei videantur animum advertisse quid esset deus, qui crediderunt eum esse animam motu ac ratione mundum gubernantem … („Auch sagt er … diejenigen allein scheinen ihm begriffen zu haben, was Gott sei, die glaubten, dass er die Seele sei, die mit ihrer bewegenden Vernunft die Welt lenke …“) S dazu eingehender unten 4 4 Eine Vorstellung, die de facto in Rom nahe gelegen haben muss, wie in jeder Gesellschaft, in der die Kultbilder in öffentlichen Prozessionen mitgetragen und den Blicken aller ausgesetzt werden Regelmäßiges Versetzen der Götterbilder impliziert, dass die Präsenz der Gottheit von der physischen Anwesenheit ihres Kultbilds abhängt S dazu Bernstein 1998, 42 f

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4 2 2 Die Spätphase Im 16 Buch hat Varro es versucht, die zwanzig wichtigsten Götter des römischen Staatskults, die di praecipui atque selecti,49 insgesamt und, nach Augustins Zeugnis zu urteilen, systematisch auf den Kosmos (mundus) und dessen Teile, oder auch auf die anima mundi und deren Teile, zurückzuführen 50 Augustin nimmt die diesbezüglichen Erläuterungen in civ 7, bes 7,7–24, durch 51 Äußerlich betrachtet mag der Unterschied

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Dies sind, wie aus fr  229 = civ 7,2 p  274,9 hervorgeht, Janus, Jupiter, Saturn, Genius, Mercurius, Apollon, Mars, Vulcanus, Neptunus, Sol, Orcus, Liber pater, Tellus, Ceres, Juno, Luna, Diana, Minerva, Venus und Vesta Jocelyn 1982–1983, 198, macht geltend, dass Varro diese zwanzig Götter ausgewählt habe, „not for philosophical reasons but because of some special prestige which they held among Romans totally unfamiliar with philosophical theology “ Seiner Meinung nach hätten andere Götter ebenso gut in Frage kommen können, falls Varro das Ziel verfolgt hätte, eine römische theologia naturalis vorzulegen Dem kann ich auf keinen Fall zustimmen Es kann kein Zufall sein, dass die Gruppe der di selecti nahezu ganz aus solchen Göttern besteht, die in der philosophischen Theologie eine Rolle spielen Dass Fides, Pietas, Concordia usw , oder auch etwa Castor und Pollux, Aesculapius und Faunus bei der Konstruktion einer römischen philosophischen Theologie genauso gute Dienste hätten leisten können, trifft einfach nicht zu Vgl oben 1 1 sowie unten 6 1 Wie Aug civ 7,6 mitteilt, soll Varro am Anfang von Buch 16 seine Überzeugung ausgesprochen haben, dass Gott die Weltseele (Seele des Kosmos, anima mundi) sei, dass aber auch die Welt oder der Kosmos Gott sei, oder, richtiger, dass dieser Gott genannt werde, weil er beseelt sei (civ  7,6 p   281,31 RD fr 226: Dicit ergo idem Varro adhuc de naturali theologia praeloquens / vgl civ   7,5 p  281,13 / deum se arbitrari esse animam mundi, quem Graeci vocant κόσμον, et hunc ipsum mundum esse deum; sed sicut hominem sapientem, cum sit ex corpore et animo, tamen ab animo dici sapientem, ita mundum deum dici ab animo, cum sit ex animo et corpore Ein aufmerksamer Leser von civ  7 erkennt, dass dem etwas unklaren Wechsel zwischen den Phrasen partes mundi und partes animae mundi in der Diskussion des angeblichen Charakters der di selecti und anderswo eine Distinktion zugrundeliegt, die der Äußerung Varros am Anfang von civ 7,6 entspricht: Die Teile der Welt oder des Kosmos (partes mundi – Elemente; Himmelskörper) erhalten ihre Göttlichkeit dadurch, dass sie von Teilen der Weltseele (partes animae mundi) durchströmt werden (wie auch etwa in civ  7, 23 p   301,15 u a erläutert) Varro hat sich offensichtlich der verkürzten Ausdrucksweise, deren eigentlichen Sinn er in fr  226 (civ 7,6) erläutert, fleißig bedient, denn wiederholt werden römische Götter kurzerhand als pars/partes mundi bezeichnet, s z B civ 7,14 p 291,20; 7,15 p 293,21; 7,16 p  294, 26 Beide Begriffe nebeneinander civ 7,22 p  300,25–30 Die Phrase anima mundi ac partes eius (= die wahren Götter) in fr  225 ist de facto zweideutig: „die Weltseele und ihre Teile“ bzw „die Seele der Welt und deren / d h der Welt / Teile“, aber ein wesentlicher Unterschied im Inhalt muss also nicht vorliegen Augustins Gewohnheit, in seiner Polemik die kritisierten Äußerungen und Meinungen den paganen Römern im Allgemeinen zuzuschreiben (volunt; inquiunt; perhibent; faciunt etc.; ab eis …), führt dazu, dass es häufig unklar ist, wo nun wirklich von Varro selbst Vertretenes vorliegt Das schafft Probleme, nicht nur im Hinblick auf die Entscheidungen, was in die Fragmentsammlungen gehört oder nicht, sondern auch für die Art, wie die Fragmente präsentiert werden bzw wie der Leser sie beurteilen soll In Varros Schriften können im Prinzip auch von ihm selbst nicht unterstützte, aber sonst in der römischen Elite gängige Ansichten besprochen worden sein, und von da in Augustins Diskussion Eingang gefunden haben Ferner hat Augustin natürlich auch aus anderen, nicht namentlich genannten Quellen oder aus seiner eigenen paganen Bildung geschöpft Und gelegentlich ist er gar nicht darauf aus, bestimmte Richtungen oder Autoren besonders unter die Lupe zu nehmen, sondern er will die mangelnde Einheitlichkeit paganer Denkweise überhaupt herauskehren, bekanntlich ein Lieblingsthema der Kirchenväter In solchen Fällen verwendet er

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zu Varros früherem Standpunkt gering erscheinen Bei genauerem Zusehen erweist sich der Unterschied allerdings als tiefgreifend genug Denn Varro spricht hier, wo er sich das Ziel setzt, die di selecti in der angegebenen Weise zu erklären, offensichtlich nicht von einer vom Staatskultus abweichenden oder nicht mehr damit übereinstimmenden philosophischen Sinngebung Vielmehr will er zeigen, dass der Staatskultus selbst das Wissen um das wahre Wesen der Götter verwalte und es durch die Kultsitten sowie auch durch die Götterbilder vermittele Augustins eigene Bemerkungen und Einwände können hier die Information, die die eigentlichen Fragmente bieten, in wertvoller Weise ergänzen Ein einleuchtender Fall findet sich in civ 7,33, wo Augustin folgende kritische Bemerkung äußert: Wenn Varro den Gottesdienst (sacra) dieser Götter gleichsam auf Verhältnisse der Natur zurückzuführen versucht, in der Bemühung, Schändlichkeiten ehrenhaft zu machen, misslingt es ihm, eine zutreffende und konsequente Methode zu finden, denn die Ursachen dieser Gottesdienste sind eben nicht die, die er glaubt, oder eher möchte, dass man glaubt 52

Ungeachtet des polemischen Tons lässt sich diesen Worten unzweifelhaft entnehmen, dass Varro die sacra dieser Götter tatsächlich in der angegebenen Weise erklären wollte; gerade dies bildet ja den Ausgangspunkt der Kritik Augustins Das von Augustin vermittelte Bild lässt sich mit Hilfe der direkten Überlieferung bestätigen Wir sind in der glücklichen Lage, recht umfangreiche zusammenhängende Teile von De lingua Latina, einem anderen späten Werk Varros, zu besitzen 53 Ungeachtet des Titels des Werks begnügt sich Varro hier häufig nicht damit, die sprach-

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selbstverständlich den allgemeinen Plural ‚sie sagen‘, ‚sie meinen‘ usw (so etwa in civ 7,16, s dazu unten 4 4 1 1 , mit Anm  170 ff ) Die Fragmentsammlungen leiden darunter, dass solche Distinktionen nicht aufrechterhalten werden; nicht selten werden sie, wie ich glaube, vollends übersehen Beispielsweise wird zu Unrecht der Eindruck vermittelt, dass Varro sich der bekannten stoischen Gleichung Juno – aër (vgl z  B Cic nat. deor 2,66, oben 3 1 1 , mit Anm  18) verschrieben habe, so fr  28 C (bei Agahd RD 1: 21) = civ 4,10 p  157,17, oder Juno gar als Luft und Erde zugleich betrachtet habe (fr  272 Cardauns bzw Agahd RD 16: 52) = civ 7,16 p  294,34 Die einzige Auffassung von Juno, die als sicher varronisch gelten kann, ist die Gleichung Juno – terra Der Hinweis auf fr  205 C (nicht aus Augustin) zur Unterstützung der Authentizität der betreffenden Aussagen über Juno ist irrelevant, da dieses Fragment aus den Sammlungen auszuscheiden hat S die Diskussion unten 4411 Aus demselben Grund kann fr  205 ebenso wenig als Stütze dafür dienen, dass Varro Minerva für aetheris pars superior gehalten hätte, eine Meinung, die Augustin in civ 4,10 p  158,12 einigen nicht namentlich genannten paganen Gegnern zuschreibt (von Cardauns als fr  278, von Agahd als 16: 61 aufgeführt) S unten ebenda Civ 7,33 p  316,12: Quorum sacra dum quasi ad naturales rationes referre conatur, quaerens honestare res turpes, quo modo his quadret et consonet non potest invenire, quoniam non sunt ipsae illorum sacrorum causae, quas putat vel potius vult putari S auch civ 8,5 p  327,13, und vgl 7,27 p  309,25 De lingua Latina (im Folgenden ling ) umfasste 25 Bücher, von denen die Bücher 5–10 im Wesentlichen erhalten sind An zwei Stellen des sechsten Buchs, 6,13 und 6,18, verweist Varro ausdrücklich auf seine antiquitatum libri

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

lichen Bezeichnungen und ihren Sinn zu besprechen; zuweilen gibt er auch generelle Auskunft über das Wesen ihrer Referenten, so etwa im gleich zu besprechenden Abschnitt über die römischen Götter in ling 5, dem ersten erhaltenen Buch Seiner Absichtserklärung gemäß hat Varro sich hier vorgenommen, „den Ursprüngen der einzelnen Wörter“ des Lateinischen (singulorum verborum origines, 5,7) nachzugehen Das Programm umfasst nicht nur die ursprüngliche Sprachschöpfung, sondern betrifft auch noch die weitere Entwicklung und Erweiterung des Wortschatzes Im Zentrum stehen die Absichten der Sprachschöpfer Ohne der Vorstellung von einer sehr engen Beziehung von Wort und Begriff verpflichtet zu sein, nimmt Varro eine Position ein, derzufolge diejenigen, die die einzelnen Sprachen geschaffen oder sinnvoll weiterentwickelt haben (die impositores, 7,1 und 2; vgl 5,1–3; 6,3; 7,109 und 110; 8,1; 10,53), bei der Benennung der Dinge die Absicht verfolgt hätten, sie sachlich in möglichst sinnvoller Weise zu beschreiben Der in den Namen festgehaltene Inhalt mag je nach Sprache variieren,54 die Intention sei jedoch im Normalfall diese gewesen M  a  W sagen die Benennungen im Prinzip etwas Wesentliches über die benannten Dinge aus,55 wenngleich allerlei Veränderungen und Verluste, die im Laufe der Geschichte der Sprachen eingetroffen seien, das Feststellen der ursprünglichen Absichten der Sprachschöpfer erschweren können 56 Auch der Dichtersprache kommt Aufmerksamkeit zu, teils weil die Dichter neue Wörter gebildet haben (5,7), teils weil sie es verstanden hätten, den Wortschatz im Sinne der ursprünglichen Absicht zu verwenden (ling 7) 57 Das ist ein in unserem Kontext interessanter Umstand Überhaupt werden die Dichter nicht, wie in der Frühphase der RD, als Verdreher der Wahrheit zur Seite geschoben Ganz im Gegenteil: Sie tragen sogar dazu bei, theologisches Wissen (in verhüllter Form) zu vermitteln Wir werden uns hier weiter unten sowie im nächsten Abschnitt etwas eingehender mit dieser Neuerung beschäftigen In dem für uns wichtigen Abschnitt in ling 5,57–74 geht Varro weit über etymologische Spekulation hinaus und ermöglicht uns dadurch, Augustins Aussagen zu überprüfen Er legt die Grundzüge der Theologie dar, die die Basis der römischen Religion bildet, und zeigt uns die Rolle der Einzelgötter in diesem System Es gebe zwei grundlegende Elementarkräfte, und zwar sind dies die zwei Hauptgötter, die principes dei Caelum et Terra Die übrigen Götter werden weitgehend auf diese beiden zurückgeführt oder mit ihnen gleichgesetzt Caelum und Terra, Himmel und Erde, heißen 54 55 56

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S ling 5,74 zum Namen Saturnus: Saturn sei bei den Sabinern wie bei den Latinern gleich genannt, aber nicht unbedingt aus demselben Grund Vgl unten Anm  67 Vgl Dahlmann 1932, 12 f S dazu ling 5,3 (zusammengefasst bei Cardauns 2000, 32) Wie wir hier sehen, hält Varro die Sprachschöpfer nicht für unfehlbar – er rechnet damit, dass ihnen gelegentlich Fehler (menda) unterlaufen sind (vgl auch ling 8,7 f ) Aber wie Cardauns ebenda vermerkt, unterstreicht gerade diese Äußerung Varros Grundhaltung: Dass die Namen eben nicht willkürlich gesetzt worden sind, sondern in Einklang mit der Natur Vgl Pfaffel 1981, 15; Dahlmann 1932, 18; 44–48

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in Latium Saturnus und Ops 58 Die Bezeichnung divi qui potes in den Auguralbüchern beziehe sich auf diese; sie entsprächen den θεοὶ δυνατοί auf Samothrake (5,58) 59 Auch Jupiter und Juno seien dieselben (5,65) 60 Caelum und Terra sind zugleich anima bzw corpus Caelum/anima sei Feuer und generatives Prinzip, während Terra/corpus das aufnehmende Element sei (5,59 f ) Dieses Element sei im Gegensatz zum Feuer, dem trockenen und warmen Element, kalt und feucht (5,59: humidum et frigidum terra; humores frigidae sunt humi), und deswegen gehöre zu ihm auch das Wasser Als generatives bzw aufnehmendes und gebärendes Prinzip seien sie mas et femina, das Männliche und das Weibliche, aus denen alles hervorgeht (5,61; 5,58), ein Gedanke, den Augustin aus RD 16 ausdrücklich registriert (civ 7,28 p  311,3: Ducitur enim quadam ratione verisimili, caelum esse quod faciat, terram quae patiatur, et ideo illi masculinam vim tribuit, huic femininam … „Eine an sich wahrscheinliche Überlegung bringt ihn auf den Gedanken, dass der Himmel das aktive Prinzip sei und die Erde das passive, und deshalb schreibt er jenem die männliche und dieser die weibliche Kraft zu“ Diese Verhältnisse spiegeln sich nicht nur im römischen Pantheon als solchem Wir haben schon gesehen, dass die Auguralbücher davon zeugen Varro erklärt außerdem, wie der Gebrauch von Feuer und Wasser im römischen Hochzeitsritus die Wirkung der beiden fundamentalen Kräfte reflektiert (5,61): Dass bei der Hochzeit diese beiden Dinge (d h Feuer und Wasser) beim Übertreten der Schwelle angewendet werden, ist so zu erklären, dass diese (die Schwelle) die Neuverheirateten vereint (coniungit) und das Feuer männlich ist  – denn die Samen sind darin enthalten – das Wasser weiblich, denn das Embryo erwächst aus der Feuchtigkeit der Frau

Er fügt hinzu: Die Kraft, die die Vereinigung der beiden zustandebringt (horum vinctionis vis), ist Venus 61

Die lateinischen Namen der Götter gehen in Varros Augen selbstverständlich nicht auf die primären, urzeitlichen Namen der Götter zurück Jede Sprache hat ihre besonderen impositores gehabt und ist auf der von ihnen geschaffenen Grundlage erweitert worden Aber sie sind nach denselben Prinzipien wie diese gebildet worden: Sie wollen das Wesen und die Kraft der jeweiligen Götter charakterisieren Dass die Benennungen dazu geschaffen worden seien, über das Wesen ihrer Referenten Sinnvolles auszu58 59 60 61

Vgl die Etymologie des Namens Saturn, ling 5,64: … quod caelum principium, ab satu est dictus Saturnus: „… weil der Himmel der Anfang ist, ist Saturnus vom Saat genannt worden “ Auch die ägyptischen Götter Serapis und Isis werden mit diesen gleichgesetzt (5,57) Dahlmann 1932, 20 zählt alle Götterpaare auf, die Varro den beiden Hauptgöttern gleichsetzt Vgl etwa civ 7,24 p  304,10; 28 Ling 5,61: … ideo ea (= ignis et aqua) nuptiis in limine adhibentur, quod coniungit hic, et mas ignis, quod ibi semen, aqua femina, quod fetus ab eius humore, et horum vinctionis vis Venus In ling 5,64 erhält die Sitte, während der Saturnalien sich gegenseitig Wachskerzen zu senden, ihre kosmische Erklärung – das sei ein Reflex der Tatsache, dass Saturn das schaffende Feuer sei

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sagen, ist, wie wir wissen, das ganze Altertum hindurch die dominierende Meinung gewesen 62 Es ist jedoch wichtig, zu unterstreichen, dass eine Sprachauffassung dieser Art nicht mit Notwendigkeit davon zeugt, dass die Namen aufgrund eines philosophischen Gesamtsystems geschaffen worden seien Wir haben oben 3 1 1 2 gesehen, wie schon in vorsokratischer Zeit die Nachforschung der Ursprünge der Benennungen, und zwar nicht zuletzt der der Götternamen, für wichtig gehalten wurde, ohne dass damit gerechnet wurde, dass die Namengeber und ihre Nachfolger im Besitz eines systematischen, philosophischen Weltbilds gewesen seien Grund des Interesses für den ursprünglichen Sinn der Benennungen war vielmehr die Überzeugung, dass am Anfang der Zeiten gewisse hervortretende Männer es vermocht hätten, intuitiv das wahre Wesen des Göttlichen korrekt zu erkennen, und von dieser Einsicht beim Festlegen der Benennungen ausgegangen seien Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Varro zur Zeit seiner Arbeit an den ersten Büchern der RD eine Sprachauffassung etwa dieser Art umfasst Wo er in fr  12 davon spricht, dass die römischen Götter und ihre Namen mit der Norm der Natur nicht konformieren,63 braucht dies nicht zu bedeuten, dass die lateinischen Götternamen von vornherein fehlerhaft gewesen seien Er kann sich durchaus vorgestellt haben, dass sie am Anfang korrekt gewesen seien, aber dann durch negative Entwicklung entstellt worden, genauso wie er vermutlich der Meinung gewesen ist, die römischen Staatsgötter seien im Grunde mit den wahren Göttern identisch, nur spiegele der Staatskult nicht mehr den ursprünglichen, unverfälschten Gottesglauben wider 64 Der hier für uns entscheidende Unterschied zwischen der Frühphase und der Phase, die sich in ling und in RD 16 spiegelt, liegt weniger in der Auffassung vom Ursprung der Götternamen als in der Beurteilung der späteren Entwicklung, der Götternamen wie des Götterglaubens: In fr  12 gilt, dass beide sich von der Norm der Natur entfernt haben, während in ling fortwährende Übereinstimmung stipuliert wird Varros Standpunkt hinsichtlich der römischen Religion, wie sie in ling und RD 16 zutage tritt, baut auf der Vorstellung, dass der römische Staatskult, mit seinen Göttern und deren Namen und mit seinen Kultsitten, auf der soliden Basis eines theologisch korrekten, zusammenhängenden Gesamtsystems ruhe, das mit Varros eigener philosophischen Theologie zusammenfällt, ein auffallender Positionsunterschied im Verhältnis zur Betrachtungsweise der Frühphase, nach welcher das ursprüngliche, unverfälschte Gottesbild und die römische Staatsreligion eben nicht konvergierten, sondern letztere unter dem verwerflichen Einfluss der Dichter sich von der Wahrheit entfernt hatte 65 Das römische Pantheon besteht nach dem, was wir RD 16 haben entnehmen können, aus Göttern, die einwandfrei zum mundus gehören; dessen Grundgerüst bilden nach ling   5 die beiden Elementarkräfte Himmel und Erde Die römischen Götternamen 62 63 64 65

Oben 3 1 1 2 , m Anm  73–75 Oben 4 2 1 , m Anm  44 Oben ebenda 4 2 1 , m Anm  45–46 S oben 4 2 1 am Anfang sowie nach Anm  32

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reflektieren diese Verhältnisse, und der Hochzeitsritus repräsentiert die Verbindung von Feuer und Wasser Alles dies zeigt, dass es nicht darum geht, dass Varro sich über eine religiöse Wahrheit äußert, die er selbst kennt, die aber der römischen Religion bedauerlicherweise abgeht; gemeint ist vielmehr, dass die römische Religion als solche diese Wahrheit enthalte Die Begründer der römischen Staatsreligion müssen in Besitz adäquater, vollwertiger theologischer Kenntnisse gewesen sein Jetzt sprechen Varro – der Naturphilosoph – und die römische Religion mit einer Stimme Ja, sogar die Dichter gelten als Vermittler und Zeugen derselben Lehre: In ling 5,63 erfahren wir, wie die Sage von der Geburt der Göttin Venus zu verstehen sei: Wenn die Dichter sagen, dass der feurige Same von Caelum ins Meer gefallen sei und Venus „aus dem Schaum“ geboren worden sei, also aus der Verbindung von Feuer und Feuchtigkeit, zeigen sie damit an, dass die Kraft (vis), die diese Elemente haben, von Venus kommt 66

Gewisse mythologische Traditionen haben in den Riten Nachklang gefunden Sie gehören, wie ihre Erklärung zeigt, mit zum theologischen Gesamtsystem (civ 7,18 und 19 Saturn = fr  241; 242; 245; 7,20 Ceres und Proserpina, vgl fr  271) Die beschriebenen di praecipui atque selecti und ihr Kult müssen nicht an sich von vornherein insgesamt zum römischen Staatskultus gehört haben Ob sie aber ursprünglich dazu gehören oder nicht – das Wesentliche ist, dass diese Götter und ihr Kult die anima mundi et partes eius repräsentieren, und dass die Religionsstifter oder diejenigen, die sie jeweils mit dem offiziellen römischen Pantheon einverleibt haben, ihre kosmische Rolle, wie sie im ursprünglichen System beschrieben worden ist, verstanden haben 67 66 67

Ling 5,63: Poetae de Caelo quod semen igneum cecidisse dicunt in mare ac natam ‚e spumis‘ Venerem, coniunctione ignis et humoris, quam habent vim significant esse Veneris Vgl Dahlmann 1932, 21 Es sei hier vermerkt, dass die Entwicklungsgeschichte des römischen Pantheons, wie sie aus den Fragmenten 35–42 bei Cardauns (hauptsächlich aus civ 4,23) hervortritt, mir in dieser Form für die RD nicht annehmbar erscheint Cardauns führt civ 4,23 p  173,20 als RD 1 fr  36 auf, wonach der Saturnkult in Rom von Titus Tatius eingeführt worden sei Dass schon die Aboriginer Saturn verehrt hätten, ist für Varro hinreichend bezeugt (Macr Sat 1,7,28 =  Mirsch RH 2 fr   2; s Verf 1999); dass eine frühe Siedlung am Ort des späteren Rom von Aboriginern gegründet worden sei, erfahren wir aus ling 5,53 (vgl unten 4 4 Anm  119) Zudem wissen wir aus ling (5,45), dass schon Hercules eine Stadt Saturnia an der Stätte Roms vorgefunden habe, und zwar auf dem Kapitol, dem mons Saturnius (s ling 5,45 sowie Verf 1997, 61 f ) Dass Tatius Saturn in Rom einen Altar geweiht haben soll (ling 5,74), heißt nicht mit Notwendigkeit, dass der Saturnkult erst von ihm eingeführt worden sei Der Name Saturns gehört zu denen, die „ihre Wurzeln in beiden Sprachen haben“ (in utraque lingua habent radices, ling ibid ) Ähnlich verhält es sich mit fr  35 (civ ibid p  173,18) Demnach soll u a der Kult des Faunus (der nicht zu den di selecti gehört) von Romulus begründet worden sein Aber aus ling 7,36 erfahren wir, dass schon die Latiner die Götter Fauni – d h Faunus und Fauna – gekannt hätten Unter solchen Umständen fällt es doch wohl schwer, Varro die Auffassung zuzuschreiben, Faunus und Saturn wären erst am Anfang der Königszeit in Rom verehrt worden Die diesbezüglichen Angaben bei Augustin sind nicht als varronisch gekennzeichnet Alles spricht dafür, dass sie aus anderer Quelle stammen

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Zu welchen weiteren Schlüssen berechtigen uns diese Ergebnisse? Folgen wir Van Nuffelens Anregung, indem wir annehmen, dass im Rahmen des oben besprochenen neuen Denkmodells gerade die Religion ein Bereich sei, der mit Vorliebe als bewusste Schöpfung von Philosophen der Urzeit betrachtet worden sei, und rechnen wir damit, dass Varro, wie ich vorgeschlagen habe, in der Spätphase der Arbeit an den RD diese Vorstellung sich zueigen gemacht hat, dann dürfen wir einen Schritt weiter gehen, indem wir einen Hintergrund seiner späteren Beurteilung der römischen Religion folgender Art annehmen: Denjenigen, die einst, in einer Zeit lange vor der Gründung Roms beginnend, die lateinischen Götternamen geschaffen haben, sind die wahre Struktur des Kosmos und die Kräfte der göttlichen Physis wohlbekannt und vertraut gewesen Ihr Wissen davon haben sie von Vorgängern – etwa von professionellen Eingeweihten – übernommen, eine Tradition, die bis in die ferne Urzeit zurückgeht, in der die ersten Philosophen ihre hervorragenden theologischen Einsichten in einem Gesamtsystem, aus Wort, Bild und Handlung bestehend, niedergelegt haben Diese Philosophen haben die Aspekte der Gottheit – der Weltseele und des von ihr durchströmten Kosmos – bestimmt und sie als Einzelgötter bezeichnet, dieselben, die dann eben später zum Kern des römischen Pantheons geworden sind, und sie haben durch bestimmte Kulthandlungen in übertragener Weise deren Rolle im Kosmos kenntlich gemacht Varro erhebt in RD 16 den Anspruch, dass die zwanzig di praecipui atque selecti, „die Staatsgötter des römischen Volks, denen sie Tempel geweiht haben und die sie mit zahlreichen Statuen ausgezeichnet haben,“68 und ihr Kult auf dieses Gesamtsystem zurückgehen und weiterhin damit in Einklang stehen In nahem Anschluss an die gerade angeführte Aussage, mit dem Varro den Hauptteil des 16 Buchs eingeleitet hat, vielleicht sogar schon davor, muss das Fragment 225, mit dem ich oben 4 1 meine Diskussion eingeleitet habe, seinen Platz gehabt haben 69 Thema ist nicht die Aufstellung der ersten Götterbilder in Rom Wenn dem so wäre, wären die angeblichen Überlegungen, die die Wahl der menschlichen Gestalt begründet haben sollen, fehl am Platze Für Varro – wie für alle anderen – muss es eine Selbstverständlichkeit gewesen sein, dass anthropomorphe Götterbilder schon lange vor der römischen Königszeit in Gebrauch gewesen sind (vgl unten 4 4 ) Varro äußert eine Theorie darüber, welche Absichten diejenigen verfolgt hätten, die zum ersten Mal überhaupt auf den Gedanken gekommen sind, menschlich gestaltete Götterbilder aufzustellen, und wie sie die neue Sitte begründet haben mögen (hos videri secutos …) Aus dem Text geht

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RD 16 fr  228 = Aug civ 7,17 p  295,27: De diis, inquit, populi Romani publicis, quibus aedes dedicaverunt eosque pluribus signis ornatos notaverunt, in hoc libro scribam. „Über die Staatsgötter des römischen Volks, denen sie Tempel geweiht und die sie mit zahlreichen Statuen ausgezeichnet und so kenntlich gemacht haben, werde ich in diesem Buch schreiben “ (Cardauns 1976, 227) Sowohl Cardauns wie Agahd ordnet es der Vorrede des 16 Buchs zu (s dazu unten 4 3 , m Anm  103), letzterer als fr  16: 6, p  201 f

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hervor, dass diese Männer alter Zeit (antiqui) als Erfinder nicht nur der anthropomorphen Götterbilder, sondern des anthropomorphen Gottesbildes überhaupt betrachtet werden Diese treten nunmehr an die Stelle der nichtswürdigen Urheber oder Vermittler der verpönten Gottesvorstellung, der Dichter, wie wir ihnen in fr  19 begegneten Aus der Sicht von RD 16 ist das anthropomorphe Gottesbild eigens dazu erfunden worden, als konkrete Versinnbildlichung der wahren Götter – der anima mundi ac partes eius – zu dienen (fr  225 a  A) Wir sind weit entfernt von der Überzeugung (fr  18), dass die ersten, die Götterbilder haben aufstellen lassen, einen doppelten Fehler begangen hätten, indem sie sowohl der gesunden Götterfurcht Abbruch getan hätten wie auch die falsche Vorstellung von den Göttern, die ihre Völker schon ohne die Bilder gehegt hätten (vgl fr  19), durch die konkreten Artefakte noch verschlimmert hätten (etwa in der Weise, dass die Ungebildeten jetzt auch noch der unzulässigen Verwechslung von Bild und Gott anheimgefallen seien) Jetzt gilt die menschliche Gestalt als durchaus geeignet, auf Gott hinzuweisen, und zwar aufgrund der besonderen Ähnlichkeit der Weltseele und der Seele der Sterblichen – letztere sei ja Teil der ersteren Zwischen der menschlichen Seele und der Weltseele wird also ein pars pro toto-Verhältnis postuliert, das dazu berechtigt, die äußere Form, die den Teil (d h die menschliche Seele) umschließt, zur Versinnbildlichung des unabbildbaren, unausprechlichen Ganzen (d h der Weltseele) zu nutzen 70 Die Götterbilder menschlicher Gestalt seien auch noch mit wechselnder Kleidung und unterschiedlichen Attributen ausgestattet worden, um dadurch die verschiedenen Aspekte der Gottheit zu verdeutlichen Alles dies verrät die bewusste, systematische, mit der philosophischen Wahrheit durchweg übereinstimmende Gottesauffassung der Erfinder, die wir mit gutem Grund als autoritative Philosophen der Urzeit bezeichnen dürfen Der römische Kultus vermittelt ein treues Bild des ursprünglichen Systems, wenn es auch nicht jedermanns Sache ist, die wahre Bedeutung zu erfassen, da die figurativ-symbolische Einkleidung philosophische Kenntnisse und Erfahrung verlangt Den Haltungswechsel hinsichtlich des anthropomorphen Gottesbildes könnten wir, wenn wir wollen, im Vorgriff auf den nächsten Abschnitt so beschreiben, dass das Thema nicht mehr zum genus mythicon gehört Es hat jetzt den Status eines anerkannten Mediums theologischer Wahrheit angenommen, was soviel heißt, dass es in das genus physicon versetzt worden ist (primum eas / i e physicas / interpretationes Varro sic commendat … fr  225 civ 7,5 p  280,8) Augustin beobachtet mit Genugtuung, dass Varro sich selbst widerspricht Selbst beurteilt er die RD natürlich aus einer Gesamtperspektive und sieht somit die mit70

Mit ähnlichen Begründungen werden wir im nächsten Kapitel mehrmals zu tun haben Die Götterbilder sind demnach Symbole analog-synekdokischer Art Vom Blickwinkel moderner Symboltheorien wären sie, so verstanden, Symbole im Sinne von „durch Analogie oder durch einen Sachzusammenhang motivierten Zeichen“ (Kurz 2004, 71; vgl Lurker 1991, 720 f ) S auch unten Kap  5 4 1 1 Anm  142 bzw oben 1 1 Anm  22

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

einander unverträglichen Äußerungen in einem Nebeneinander Demgegenüber sind wir jetzt endgültig in der Lage, festzustellen, dass die Widersprüche durch eine Umpositionierung in Varros Denken zu erklären sind 71 Dass innerhalb eines Werks eine Positionsänderung so radikaler Art sich manifestieren sollte, mag verwundern Die recht gewaltsame Umpositionierung lässt sich leichter verstehen, wenn wir annehmen, dass Varro das oben beschriebene Denkmodell inzwischen kennengelernt hat und mit dessen Hilfe eine Möglichkeit gefunden hat, nunmehr der römischen Staatsreligion eine altehrwürdige, philosophische Basis zuzuerkennen Dass gerade Varro, und zwar gerade in den RD, uns den allerersten Beleg philosophischer Sinngebung des anthropomorphen Gottesbildes liefert, unterstreicht die oben Kap  1 1 geäußerte Vermutung, dass das Fehlen diesbezüglicher Evidenz bis zu diesem Punkt nicht dem Zufall der Überlieferung zuzurechnen ist Es leuchtet ein, dass ein Wunsch nach einer Möglichkeit, das traditionelle Gottesbild philosophisch unterzubringen, sich eher mit dem Vorhaben der RD als mit anderen Unternehmen verbinden konnte Mit der Umpositionierung stoßen wir auf ein neues Problem, das allerdings in unseren Testimonien nirgends angesprochen wird Wir wissen also leider nicht, wie Varro es gelöst hat, ja, wir wissen nicht einmal, ob er es explizit formuliert hat Nach ausdrücklicher Angabe in fr   225 sollen die einstigen Erfinder die Götterbilder für eine beschränkte Zielgruppe, für diejenigen, „die bis zum innersten Kern der Lehre vorgestoßen seien“, vorgesehen haben Da die Götterbilder jedoch auch anderen sichtbar sind – und wir können wohl davon ausgehen, dass Varro damit gerechnet hat, dies sei auch von vornherein der Fall gewesen – erhebt sich die Frage, wie andere Betrachter als die primär beabsichtigten Rezipienten darauf reagiert haben bzw hätten reagieren sollen Welchen Sinn würde ein Normalbetrachter in die Bilder hineingelegt haben? Im Hinblick auf sonst bekannte Vorstellungen darüber, wie das Volk die anthropomorphe Darstellungsweise zu verstehen pflege, bietet sich spontan die Vermutung an, dass gemeint ist, andere Betrachter hätten die anthropomorphen Götterbilder buchstäblich genommen Aber gilt dies als Nachteil, als Vorteil oder vielleicht als gleichgültig? Da Varro das erste Zeugnis positiver philosophischer Sinngebung der anthropomorphen Darstellungsweise überhaupt liefert, besitzen wir nur späteres Vergleichsmaterial, wo die Voraussetzungen teilweise anders sind Wir finden dort, dass der Frage wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird: Dions Pheidias weicht der Frage aus, Maximos von Tyros scheint nicht daran zu zweifeln, dass jedermann dazu fähig sei, die Götterbilder korrekt zu verstehen Plutarch hält die buchstäbliche Deutung für eine schlimme Ase71

Civ 7,5 p   280,23 ff S Verf 2006,  195 ff Jocelyn bemerkt anlässlich eines weiteren Falles, wo Augustin Varro wegen eines Widerspruchs beschuldigt, dass wir solche Anklagen mit äußerster Skepsis betrachten sollten ( Jocelyn 1982–1983, 202 Anm  33; spezifisch zu dem von Jocelyn in Frage gestellten Fall s unten 4 4 1 1 , m Anm  190) Hier ist eine klärende Bemerkung am Platze: Das was Augustin als widersprüchlich berichtet, müssen wir als varronisches Gut akzeptieren; ob wir ihm darin recht geben sollen, dass es widersprüchlich ist, ist eine andere Frage, zu der wir in jedem einzelnen Fall Stellung nehmen müssen Vgl oben 4 2 , m Anm  21

4 3 Varros tria genera theologiae

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bie 72 Aber möglicherweise ist hier der Ort, wo das oben 4 2 schon erwähnte RD fr  21 hingehört „Bei vielen Wahrheiten verhalte es sich so, dass es nicht nur dem Volk nütze, sie nicht zu kennen, sondern es sei ein Vorteil, wenn es anders darüber denke, obwohl es falsch ist “73 Ist diese Aussage als Indiz zu deuten, dass Varro das vermutete Verhalten des Volks als Vorteil beurteilt hat? Wenn das Zeugnis tatsächlich mit der Vorstellung von der Funktion der Götterbilder, wie sie in RD 16 zum Ausdruck kommt, zu verbinden sein sollte, müsste es freilich anders eingereiht werden als bisher geschehen ist; es könnte also nicht zu RD 1 gehören, da Varro den Gebrauch von Götterbildern dort insgesamt grundsätzlich verurteilt hat 74 4.3. Varros tria genera theologiae Wir erinnern uns, dass Varro, wo er von der Entstehung des römischen anthropomorphen Pantheons sprach (fr  19), sich auch über das Verhalten der Völker im Allgemeinen äußerte – diese hätten sich von den Dichtern dazu verführen lassen, sich die Götter menschenähnlich vorzustellen, während sie sich doch lieber nach den Philosophen hätten richten sollen 75 Die drei Gruppen, die in fr 19 genannt werden, „die Völker“, „die Dichter“ und „die Philosophen“, lassen an die drei Arten oder Zweige des Götterdiskurses denken, mit deren Hilfe Varro versucht hat, mit den unter sich abweichenden Traditionen von den Göttern zurechtzukommen Augustin, der auch hier unser Hauptzeuge ist, bezeichnet das varronische System als „drei Arten der Theologie, das heißt der Darstellungsweise, die sich um die Götter entfaltet“ 76 Die drei Arten werden von verschiedenen Ausübern gepflegt, die sich weitgehend mit demselben Grundstoff – d h denselben Göttern – befassen, aber aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgangspunkte diesen Stoff jeweils anders behandeln Varro nennt die drei Gruppen genus mythicon, genus physicon und genus civile „Mythisch nennt man die Art, von der

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S die Hinweise oben Anm  13 und 14 Oben 4 2 1 Anm  32 angeführt Ein ähnlicher Gedanke schwebt Lehmann vor (1997, 190), trifft aber so nicht zu, da er im Rahmen des Versuchs, die widerstreitenden Aussagen über die Götterbilder auszugleichen, geäußert wird S oben 4 2 , m  Anm 26–28 Dafür, dass dieses Zeugnis (fr  21) nicht demselben Buch der RD angehört wie fr  12 (si eam civitatem / d h civitatem Romanam / novam constitueret, ex naturae potius formula deos nominaque eorum se fuisse dedicaturum … oben Anm  44), das von Augustin im selben Kapitel 4,31 angeführt wird und von Cardauns ebenfalls RD 1 zugewiesen wird, könnte möglicherweise die Tatsache sprechen, dass Augustin bei der Gegenüberstellung dieser beiden Stellen ausdrücklich angibt, dass er erstere Aussage „anderswo“ (alio loco) gelesen habe RD 1 fr  19, oben 4 2 1 (Text in Anm  31) … tria genera theologiae, id est rationis quae de dis explicatur; civ 6,5 p  252,17 RD fr  7 In der Wissenschaft hat sich die Sitte eingebürgert, dieses Dreierschema theologia tripertita, „die dreigeteilte Theologie“, zu nennen Wie Dörrie (1986, 81 Anm  3) und Rüpke (2009, 76 und bes 2012, 173, m Anm  3, S  253) betonen, ist diese Bezeichnung erst modernen Datums

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

vor allem die Dichter Gebrauch machen, physisch entsprechend diejenige, die die Philosophen verwenden, und ‚civile‘ („bürgerlich“) die der Völker “77 Der Frage nach Herkunft und Quellen dieses Systems ist in der modernen Wissenschaft recht viel Aufmerksamkeit gewidmet worden 78 Wie verbreitet die Dreiteilung als ausdrücklich definiertes Schema de facto gewesen ist, scheint mir eine offene Frage zu sein: Der einzige vor Varro belegte Fall ist der Bericht bei Augustin civ 4, 27, demzufolge der Pontifex Scaevola eine entsprechende Dreiteilung von Götterklassen (tria genera deorum) erörtert haben soll Dass dieser Bericht auch selbst aus Varro stammt, ist nicht ganz so selbstverständlich wie meist angenommen wird Augustin gibt weder Verfasser noch Titel an, sondern schreibt nur: Relatum est in litteras doctissimum pontificem Scaevolam disputasse tria genera tradita deorum („Es steht in einem Buch, dass der hochgelehrte Pontifex Scaevola eine Überlieferung von drei Götterklassen besprochen haben soll“, p  179,21) Nur so viel geht eindeutig hervor, dass Augustin jedenfalls nicht ein Werk des Scaevola selbst konsultiert hat Mir scheint die unbestimmte Phrase relatum est in litteras eine unnatürliche Wortwahl zu sein,79 falls Varro die Quelle sein sollte, wo dieser doch so weit im vierten Buch schon mehrfach namentlich genannt und herangezogen worden ist (4,1; 4,9; 4,22), und nicht zuletzt auch, weil er etwas weiter unten im selben Kapitel 4,27 wieder eingeführt wird 80

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Aug civ 6,5 p  252,25 = RD fr  7 Mythicon appellant, quo maxime utuntur poetae; physicon, quo philosophi, civile, quo populi Augustin gibt im selben Kapitel die beiden griechischen Adjektive mit lat fabulosus bzw naturalis wieder und verwendet dann fortan die Bezeichnungen genus fabulosum / theologia fabulosa bzw genus naturale / theologia naturalis (Das griechische Adjektiv, das zur Bezeichnung der dritten Kategorie diente, ist πολιτικός, wie wir an einer anderen Stelle desselben Buchs der Civitas dei erfahren: … tres theologiae, quas Graeci dicunt mythicen physicen politiken, civ  6,12 p  271, 5, von Cardauns als RD fr  1 aufgeführt ) Ausführlicher Forschungsbericht bis 1968 bei Lieberg 1973; s auch dens , 1982 Lieberg wendet sich gegen die Tendenz, eine spezifische Quelle zu suchen; die Dreiteilung habe als Ordnungsprinzip der hellenistischen Religionskritik, unabhängig von Lehrmeinungen, Verwendung gefunden (s bes 1982, 34; 43; 53 ff ) Lieberg führt eine Reihe von Beispielen an, in denen das Dreierschema mehr oder weniger greifbar sei (1982, 26–43) Dieselbe Phrase auch in civ 15,12 p  80,27 und vgl civ 21,6 p  498,8, quod in easdem litteras est relatum, auf die nicht namentlich genannten paganen Werke, die die Angaben über mirabilia in 21,4–5 beigesteuert haben, s 21,5 p  495,25 … plurima, quae mandata sunt litteris Wir erfahren dort (p  180,5), dass Scaevola der Meinung gewesen sein soll, es sei vorteilhaft, wenn das Volk hinsichtlich der religiösen Wahrheit hinters Licht geführt werde, und Augustin fährt fort: Quod dicere etiam in libris rerum divinarum Varro ipse non dubitat Die Wortwahl Varro ipse wird als Stütze dafür angesehen, dass Varro für den Inhalt des Berichts im vorangehenden verantwortlich sei (Agahd 1898 p  17, m Anm  1, und s hier unten zu Hagendahl 1967, 619 f ), und zwar sind meist die RD als die Quelle betrachtet worden Demgegenüber hat Cardauns anhand der Phrase etiam in libris rerum divinarum nicht ohne Grund den Schluss gezogen, dass gerade die RD als Quelle des Berichts nicht in Frage kämen (Cardauns 1960,  36); statt dessen weist er ihn Varros Logistoricus Curio de cultu deorum zu, fr  5, Cardauns 1960, 5 f bzw 34 ff ; ders , 1976, 37 (Cancik u Cancik-Lindemaier 2001, 43 Anm  3, berufen sich eigenartigerweise gerade auf dieselbe Phrase als Stütze für ihre Meinung, dass der Stoff über Scaevola den RD entnommen sei Sanders 2009, 233

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Unabhängig davon, welches die Quelle des Berichts gewesen ist, gibt es keinen Grund, seine Historizität zu bezweifeln, in welchem Fall die erste ausdrückliche Bezeugung des Systems um einige Jahrzehnte älter wäre Der Pontifex Q Mucius Scaevola wurde im Jahr 82 ermordet Nun ist jedoch die Geschichte des Systems vor Varro für die gegenwärtige Untersuchung von untergeordneter Bedeutung Uns interessiert v a der Gebrauch des Dreierschemas bei Varro selbst 81 Dabei ist es hier wieder wichtig, auf etwaige Veränderungen und Verschiebungen im Gebrauch des Systems zu achten und diese nicht vorschnell ‚wegzuharmonisieren‘ Denn es handelt sich nicht um eine Konstante Die ursprüngliche Funktion des Instruments ist am Ende des Werks nicht mehr deutlich, ein Umstand, der so gut wie keine Beachtung gefunden hat 82

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setzt ohne Argumentation die RD als Quelle einfach voraus ) Gegen Cardauns könnte wiederum eingewendet werden, dass solchenfalls nicht zu ersehen ist, weshalb Augustin Titel und Verfasser unterdrückt, um diese erst viel später in anderen Zusammenhängen zu nennen (civ 7,9 p  287,3 und 7,34 p  317,5) Auch hat Hagendahl (1967, 619 f ) bestritten, dass etiam allein mit den unmittelbar folgenden Worten (in libris rerum divinarum) zu verbinden sei; vielmehr sei es auf den ganzen Satz bezogen (etiam Varro ipse non dubitat), wobei er allerdings meint, dass der angeführte Satz als solcher nicht an sich etwas über die Herkunft des Berichts im vorangehenden aussagen wolle – Augustin habe nur hervorheben wollen, dass Varro selbst ebenso wie Scaevola von der Notwendigkeit, die Menge von der religiösen Wahrheit auszusperren, überzeugt gewesen sei Hagendahl schließt sich der herkömmlichen Auffassung an, die RD seien die Quelle des Berichts (wie ich vermute mit Rücksicht auf die Wortwahl Varro ipse) Diese seien also die am Anfang erwähnten litterae, und auf diese beziehe sich Augustin auch, wenn er unmittelbar darauf mit folgenden Worten auf Scaevola zurückkommt: Poeticum sane deorum genus cur Scaevola respuat, eisdem litteris non tacetur (p  180,9) Aber wenn dem so wäre, erscheint es doch wohl eigenartig, dass Augustin hier – schon wieder – sich so unbestimmt ausdrückt Die Passivform mutet befremdend an Warum nicht einfach non tacet? Dem soll hinzugefügt werden, dass die Phrase Varro ipse nicht mit Notwendigkeit eine Stütze dafür bietet, dass Varro für den Inhalt im Vorangehenden verantwortlich sei Augustin verwendet gerne, einem bekannten lateinischem Sprachgebrauch entsprechend, ipse (et ipse; ipse quoque; etiam ipse), „wenn von einem neuen Gegenstande dasselbe ausgesagt wird, was schon vorher von einem anderen erwähnten oder aus dem Zusammenhange zu ergänzenden gesagt worden ist“ (Kühner u Stegmann 1, 629 f Anm  17), so z B , wenn in civ 4,31 p  185,18 Varro dem Stoiker Balbus in Cicero nat. deor 2 (civ 4,30) zur Seite gestellt wird (quid ipse Varro), insofern als er demselben Vorwurf erliege wie dieser, die traditionelle römische Religion zugleich zu verachten und verteidigen zu wollen; s auch 7,17 p  295,12 ipse Varro (vgl unten Anm  173) Bei einer solchen Deutung wäre die Funktion des Worts ipse hier eben die, Varro dem Scaevola als Vertreter einer identischen Auffassung gegenüberzustellen, nichts wäre damit über die Quelle des Berichts über Scaevola ausgesagt, und die unbestimmte Ausdrucksweise wäre gut begründet: „Es steht in einem / hier nicht näher zu definierenden / Buch …“ Zu civ 4,27 s auch hier unten Anm  92 und 101 sowie oben Kap 1 3 , m Anm  36 S hierzu, neben Lieberg 1973 und 1982, Cardauns 1978, bes 100; Geerlings 1990; Lehmann 1997, 193– 225; Baier 1997, 51–56; Rüpke 2009 Oberflächlich gesehen kann die Feststellung von Cardauns 1976, 242, dass in RD 16 die Gegensätze, die zwischen den drei Kategorien vorliegen, „sich versöhnen und eins werden“, den Eindruck erwecken, als werde hier ein im Verhältnis zu früheren Büchern neu hinzugekommener Aspekt aufgezeigt Das ist jedoch nicht der Fall Cardauns meint offensichtlich nicht, hier eine Folge einer laufenden Entwicklung festzustellen; die Idee scheint die zu sein, dass eine solche Versöhnung von

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

In der Form wie wir den drei Kategorien zunächst begegnen, entsprechen sie jeweils einer Diskursebene und dienen der Bestandsaufnahme von Äußerungen und Traditionen, die innerhalb der drei Gruppen von Ausübern gebräuchlich sind bzw gepflegt werden 83 Dass es sich so verhält, lässt sich Varros Beschreibungen der Einzelkategorien entnehmen, die von Augustin wiedergegeben werden Zum genus mythicon gehören viele Erfindungen, die im Widerspruch mit der Würde und Natur der Unsterblichen stehen Dazu nämlich gehört, dass ein Gott aus dem Haupt, ein anderer aus dem Schenkel, ein anderer aus Blutstropfen geboren sei, dazu, dass Götter gestohlen hätten, dass sie Ehebruch begangen, dass sie einem Menschen Sklavendienste geleistet hätten; kurz es wird hier den Göttern alles zugeschrieben, was nicht nur auf den Menschen, sondern sogar auf den verächtlichsten Menschen zutrifft 84

Als Themen, die zur zweiten Kategorie, dem genus physicon gehören, werden folgende aufgezählt: Welche Götter es gebe, wo sie zu finden sind, welcher Art sie sind, so z B , ob sie seit einer gewissen Zeit oder seit Ewigkeit existieren; ob sie aus Feuer sind, wie Herakleitos glaubt, oder aus Zahlen, wie Pythagoras glaubt, oder aus Atomen, wie Epikur meint 85

Daraus, dass auf namentlich genannte griechische Philosophen und ihre jeweiligen Auffassungen als Beispielstoff hingewiesen wird, ist zu ersehen, dass das genus physicon nicht mit einer einheitlichen, von Varro selbst umfassten Lehre gleichzusetzen ist, und also auch nicht mit einem vermeintlich vorbildlichen, ursprünglichen Gottesglauben Es wird als Rahmen verstanden, innerhalb dessen verschiedene Lehrmeinungen zu den angegebenen Themen berichtet und wohl auch besprochen werden 86

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vornherein für das letzte Buch vorgesehen und geplant gewesen sei, d h also zur ursprünglichen Gesamtkonzeption gehört habe Vgl die Charakterisierung bei Dörrie 1986, 78 RD 1 fr  7 = Aug civ 6,5 p  252,27: In eo sunt multa contra dignitatem et naturam immortalium ficta. In hoc enim est, ut deus alius ex capite, alius ex femore sit, alius ex guttis sanguinis natus; in hoc, ut di furati sint, ut adulterarint, ut servierint homini; denique in hoc omnia dis attribuuntur, quae non modo in hominem, sed etiam quae in contemptissimum hominem cadere possunt (Übersetzung von Cardauns 1976, 139 f , im Komm zu fr 6/7 ) RD 1 fr  8 = civ 6,5 p  253,12: … di qui sint, ubi, quod genus, quale est: a quodam tempore an a sempiterno fuerint di; ex igni sint, ut credit Heraclitus, an ex numeris, ut Pythagoras, an ex atomis, ut ait Epicurus Varro fährt fort: Sic alia, quae facilius intra parietes in schola quam extra in foro ferre possunt aures „Desgleichen auch Sonstiges, was die Ohren leichter im geschlossenen Raum in der Schule ertragen können als in der Öffentlichkeit auf dem Forum “ Die Bemerkung von Cardauns im Kommentar zu fr  12 (1976, 145) gibt deshalb ein falsches Bild: „Den Fragmenten 12–19 ist der Gedanke eigen, dass die ursprünglich reine Gottesanschauung, die noch ganz der theologia naturalis entsprach, nach und nach durch den Einfluss der Dichter entstellt worden ist “ Und ebenso wenig vermag sein Kommentar zu fr  13 (hi soli ei videantur … oben Anm  46 angeführt) das Wesen des genus naturale zu fangen: „Im Vorgriff auf die ausführliche Behandlung des genus naturale (fr   23 ff ) formuliert Varro dessen wichtigsten Grundsatz  …“ In beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass diese Kategorie als einheitliche Lehre zu verstehen sei, und

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Das dritte genus, genus civile, ist nach fr  9, aus demselben Kapitel 6,5 der Civitas dei, eine Bestandsaufnahme dessen, was in den Städten die Bürger, und namentlich die Priester, wissen und handhaben müssen Dazu gehört, welche Götter ein jeder verpflichtet ist, öffentlich zu verehren, welche Gottesdienste und welche Opfer er zu feiern und zu verrichten hat 87

Wir erkennen aus den angeführten Worten, dass diese Kategorie, anders als die beiden übrigen, Regelsysteme wiedergibt: Sie umfasst Vorschriften für den öffentlichen Kultgebrauch; sie verzeichnet auch die Götter, Gottesdienste und Opfer, die zum Pflichtbereich öffentlicher Kulte gehören Wie weit auch noch damit verknüpfte historische Traditionen und ihre Erklärung dazu gehören, geht aus der Definition nicht hervor 88 Auch hier, wie im Falle des genus naturale, empfiehlt sich eine Warnung: Das genus civile ist nicht mit der römischen Staatsreligion – oder mit irgendeiner Staatsreligion – identisch; die Priester sind nicht „die Funktionsträger der theologia civilis“89 Die Priester sind Funktionsträger des öffentlichen Kults, denen verschiedene Aufgaben obliegen Die theologia civilis verzeichnet (u a ) jeweils diese Aufgaben, sie besteht nicht aus diesen Aufgaben So darf z B Varros Äußerung, er selbst hätte die Götter und ihre Namen lieber „in Einklang mit der Norm der Natur“ eingerichtet (fr  12), nicht dahingehend gedeutet werden, dass er sich eine Lage gewünscht hätte, in der das genus civile mit dem genus

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zwar als die von Varro persönlich umfasste philosophische Theologie (Entsprechend Cardauns 1978, 100 ) Erst auf der Spätstufe decken sich, wie wir sehen werden, theologia naturalis und die von Varro selbst umfasste Theologie RD 1 fr  9 = civ 6,5 p  254,14: (Tertium genus est,) quod in urbibus cives, maxime sacerdotes, nosse et administrare debent. In quo est, quos deos publice † sacra ac sacrificia colere et facere quemque par sit Wir brauchen uns bei der Textkorruptel nicht aufzuhalten; der beabsichtigte Sinn muss annähernd wie angegeben sein Es geht m W nirgends hervor, ob Varro selbst tatsächlich eine Bestandsaufnahme des zum genus civile gehörigen Stoffes anderer Staatsbildungen als der römischen präsentiert hat Er hat sich für die eleusinischen Mysterien sowie auch für die samothrakischen interessiert, was freilich erst für die Spätphase der RD gesichert ist (fr  271 civ 7,20 p  288,23; fr  206 civ 7,28 p  311,7; ling 5,58) Der Kult und das Gottesbild der Juden fanden schon in den frühen Büchern seine Zustimmung, wie wir in fr  18 gesehen haben Wie weit es sich hier um Einzelbemerkungen oder um ausführlichere Besprechungen handelte, lässt sich nicht entscheiden Für die Antiquitates rerum humanarum (RH) dagegen, besitzen wir seine eigene Aussage, dass er hier nicht die ganze Welt behandelt habe, sondern nur Rom allein (RD 1 fr  5 civ 6,4, p  251,13: Rerum quippe humanarum libros, non quantum ad orbem terrarum, sed quantum ad solam Romam pertinet, scripsit) Vielleicht hat Varro am Anfang der Arbeit an den RD im Rahmen des genus civile eine Art Entwicklungsgeschichte des römischen Staatskults skizziert, wenn auch Anlass besteht, die Authentizität einiger der darauf deutenden Fragmente zu bezweifeln, s oben Anm  67 Geerlings 1990, 208 Das es sich nicht so verhält, ist schon aus Augustins eigener Verwendung der Terminologie zu ersehen Er schreibt civ 6,11 p  270,10 über Seneca, dass dieser „neben anderen abergläubischen Sitten der Bürgertheologie auch die heiligen Verpflichtungen der Juden kritisiert, und zwar besonders den Sabbat …“ (Hic inter alias civilis theologiae superstitiones reprehendit etiam sacramenta Iudaeorum et maxime sabbata …)

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

physicon zusammenfiele Eine solche Beschreibung widerspricht der ausdrücklich gegebenen Definition sowohl des genus naturale wie des genus civile Aus demselben Grund können wir die Lage nicht so beschreiben, dass das genus civile und das genus naturale sich am Anfang gedeckt hätten, um dann allmählich voneinander zu differieren 90 Varro benutzt das System im Rahmen seines Versuchs, das Phänomen der Staatsreligion zu erfassen Wie Augustin bemerkt, erfährt allein das genus mythicon ein negatives Urteil 91 Varros Definition dieser Kategorie zeigt mit aller Deutlichkeit, dass eine Allegorisierung des Götternarrativs auf dieser Stufe für ihn nicht in Frage kommt 92 Das genus civile erscheint nach Varros hier oben wiedergegebener Definition zu urteilen als an sich wertneutral Es umfasst ja offensichtlich Listen und Vorschriften für den öffentlichen Kult, die es den Priestern obliegt, zu verwalten Augustin bezeugt uns, dass dieses genus für Varro zentral gewesen ist 93 Die übrigen beiden genera sind, wie es scheint, eine Art Hilfsinstrument, wobei das genus mythicon / fabulosum bei der Inventierung nicht gutzuheißender Elemente herhalten muss Ein wertvolles Testimonium bei Augustin hilft uns ein Stück weiter, wenn es darum geht, der Aufgabe nahezukommen, die Varro diesen beiden genera zuteilt Wir finden in civ 6,6 folgendes:

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So Rüpke 2009, 79; vgl dens , 2012, 176 Zwar trifft für die Spätphase zu, dass Varro mit einer Übereinstimmung der (nunmehr anders verstandenen) theologia naturalis und der theologia civilis rechnet; diese Übereinstimmung ist in Varros Augen jedoch nicht auf eine frühhistorische Periode beschränkt gewesen, sondern weiterhin gültig S hier im Folgenden Aug civ 6,5 p  253,4 ff ; vgl ebenda 253,17 Vgl oben Anm   38 Die völlig ablehnende Haltung dem dichterischen Narrativ gegenüber, die sowohl hier wie in dem früheren Fall des Q Mucius Scaevola zutage tritt (civ 4,27 p  179,24: primum genus nugatorium dicit esse, quod multa de dis fingantur indigna, vgl oben Anm 80), spricht gegen die gelegentlich geäußerte moderne Auffassung, nach der die Allegorese von vornherein Bestandteil des Dreiersystems gewesen sei oder jedenfalls zu seinen Begleiterscheinungen gehört habe (Stenger 2009 a, 40; vgl Most 2003, 308) Nichts deutet darauf, dass das Dreierschema als Harmonisierungsversuch konzipiert worden sei (so Stenger ebenda) Es wird sich, wie ich meine, eher umgekehrt verhalten haben Wenn wir annehmen, dass die Geschichte des Dreierschemas als ausdrückliches System in die Zeit vor Varro zurückgeht (s oben 4 3 a A ), liegt es m M n nahe genug, zu vermuten, dass es einem Bedürfnis entsprungen sei, dem Problem des Auseinanderklaffens der philosophischen Theologie einerseits und des durch Kultus, Ikonographie und Dichtung vermittelten Gottesbildes andererseits bequem auszuweichen Durch den einfachen Griff, die Diskurse systematisch zu trennen, wird auf Überbrückungsversuche (wie die Allegorese) verzichtet; zugleich erübrigt sich eine ausdrückliche Ablehnung der anthropomorph geprägten Kategorien Ein ähnlicher Gedanke, aber mit etwas anderer Schwerpunktsetzung, bei Most 2003,  308: „In practice, it served to establish a clear division of labour between three separate forms of religiosity, thereby immunizing not only the great poets of the past … but also the institutions of the city, in their political and religious complicity, against any corrosive impact which might otherwise have derived from philosophical speculation about the nature of the divinity “ Falls die Ausgangslage wie vorgeschlagen gewesen sein sollte, schließt dies selbstverständlich nicht aus, dass im Laufe der Zeit das System u U anders verwendet worden sein kann Aug civ 7,1 p  273,8: … in ea theologia, quam civilem vocant, quae a Marco Varrone sedecim voluminibus explicata est

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Als der genannte Autor (d h Varro) den Versuch machte, die Bürgertheologie von der Naturtheologie als eine Art dritte Kategorie im eigenen Recht zu unterscheiden, wollte er sie so verstanden wissen, dass sie eher eine Mischung aus beiden sei als ganz von beiden getrennt Er sagt nämlich, dass das, was die Dichter schreiben, einen zu geringen Wert hätte, als dass das Volk sich danach richten sollte, dass dagegen das, was die Philosophen schreiben, zu wertvoll sei, als dass es der Menge nützlich sei, es auszuforschen „Dieses / was die Dichter bzw die Philosophen schreiben /,“ sagt er, „klafft zwar weit auseinander, gleichwohl ist nicht wenig aus beiden Kategorien in die staatlichen Regelungen aufgenommen worden Deshalb werden wir das, was sich als gemeinsam herausstellt, zusammen mit dem, was dem genus civile eigen ist, aufführen, wobei wir eine engere Verbindung mit den Philosophen als mit den Dichtern erstreben sollten “94

Ich versuche, diese nicht leicht verständliche Äußerung, so wie ich sie deute, zu paraphrasieren: Da die Staatsreligion  – und zwar selbstverständlich nicht nur die römische – Elemente enthält, die auf den Einfluss der Dichter zurückzuführen sind, andererseits aber auch Elemente aufweist, die mehr oder weniger philosophisch begründet sind, wird das genus civile, die Diskurskategorie zur Beschreibung von Staatsreligionen, insofern eine Mischung aus den beiden anderen Diskurskategorien sein, als diese jeweils zur Beschreibung und Erläuterung der betreffenden Elemente herangezogen werden müssen Das anthropomorphe Gottesbild des römischen Staatskults, eine Erscheinung, die kraft ihrer Eigenschaft als Element der römischen Religion in den Zuständigkeitsbereich des genus civile fällt, lässt sich nicht ohne die Annahme eines Einflusses der Dichter verstehen (fr 19)95 und ist deswegen ein zugleich mit Hilfe des genus mythicum zu beschreibendes Phänomen Der jüdischen Religion etwa ist es gelungen, diesem Einfluss zu entgehen; das jüdische Gottesbild steht mit philosophischer Theologie in besserem Einklang 96 Entsprechend wäre zum Verständnis davon neben dem genus civile die Diskursebene der Philosophen heranzuziehen Bei der Behandlung der römischen Staatsreligion kommt das genus mythicum mehr zur Geltung als es Varro lieb wäre – selbst hätte er gerne gesehen, dass er öfter auf das

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Aug civ 6,6 p  257,2–13 ≈ RD 1 fr 11: Denique cum memoratus auctor civilem theologian a fabulosa et naturali tertiam quandam sui generis distinguere conetur, magis eam ex utraque temperatam quam ab utraque separatam intellegi voluit. Ait enim ea, quae scribunt poetae, minus esse quam ut populi sequi debeant; quae autem philosophi, plus quam ut ea vulgum scrutari expediat. Quae sic abhorrent, inquit, ut tamen ex utroque genere ad civiles rationes adsumpta sint non pauca. Quare quae erunt communia, una cum propriis civilibus scribemus; e quibus maior societas debet esse nobis cum philosophis quam cum poetis Der Text ist hier, anders als bei Cardauns 1976, mit der Konjektur von E  Hoffmann, Sancti Aurelii Augustini episcopi De civitate Dei (Prag, Wien u Leipzig 1899) p   283 gedruckt; die MSS geben meist die Lesart communia cum propriis una cum civilibus. Oben 4 2 1 a A Vgl fr  18, oben 4 2 1 Text in Anm  39

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

genus naturale hätte zurückgreifen können Augustin kommentiert Varros Worte am Ende des Zitats („wobei wir eine engere Verbindung mit den Philosophen als mit den Dichtern erstreben sollten“) damit, dass Varro an anderer Stelle gesagt hätte (d h eben civ 4,32 = fr  19), anlässlich der Frage der generationes der Götter hätten sich die Völker ja umgekehrt mehr nach den Dichtern als nach den Philosophen gerichtet Aber, vermutet Augustin, in jenem Fall habe Varro sich darüber geäußert, wie es tatsächlich zugegangen sei; die hier beschriebene Theorie dagegen besage mutmaßlich, wie es sein solle Augustins Diagnose erscheint mir hier zutreffend genug 97 Was ich soweit zur „dreifachen Theologie“ gesagt habe, gilt ausschließlich für die Frühphase In RD 16 liegen die Dinge anders Augustin spricht in civ 7 nur von der theologia naturalis bzw civilis, von der theologia fabulosa ist keine Rede mehr 98 Theoretisch könnte es sich um einen Zufall handeln, jedoch glaube ich nicht, dass es sich so verhält Varros Beurteilung der Dichter ist auf der Spätstufe nachweislich nicht mehr dieselbe wie in der früheren Phase Wir haben oben feststellen können, dass Varro in De lingua latina bereit ist, die Aussagen der Dichter über die Geburt der Venus als philosophisch begründete, von ihnen selbst erkannte theologische Wahrheit anzuerkennen 99 Auch erkennt er den Dichtern die Fähigkeit zu, die Absichten der ursprünglichen Namengeber zu erfassen Der Schluss ist zwingend: Er ist nicht mehr der Meinung, wie früher, dass die Tätigkeit der Dichter ausschließlich die Absicht verfolge, Vergnügen zu bereiten Der Fall ling 5,63 über die Geburt der Venus ist besonders einleuchtend, da Varro früher, in fr  7, unter den Beispielen von Erfindungen der Dichter, die „im Widerspruch mit der Würde und der Natur der Unsterblichen stehen“, wohl gerade diese Tradition anführte 100 In civ 7 vermittelt uns Augustin weitere Zeugnisse dieser veränderten Haltung, insofern als hier (civ 7,19) hervorgeht, dass Varro die mit Saturn verbundenen Sagen – Saturn verschlingt seine Kinder; an Stelle des neugeborenen Jupiter schluckt er eine Scholle; er hat seinen Vater entmannt; Jupiter hat ihn abgesetzt – keineswegs als unwürdige Dichtererfindungen abweist, sondern vielmehr darin vollwertige theologische Wahrheit in verhüllter Form erkennt 101 Das genus mythicon diente in den frühen Büchern der RD gewissermaßen als Sammelbecken, in welches problematische Elemente abgeschoben werden konnten Wenn nun diesel-

Aug civ 6,6 p  257,16: Hic enim dixit quid fieri debeat, ibi quid fiat Baier ist es aufgefallen, dass das genus mythicon überhaupt eine geringe Rolle zu spielen scheint (1997, 55) Diese Bemerkung ist in der hier dargelegten Weise zu ergänzen 99 Oben 4 2 2 , mit Anm  66 100 Hier oben, m Anm  84: ut deus alius ex capite, alius ex femore sit, alius ex guttis sanguinis natus … 101 Aug civ 7,19 p  297,4 (fr  242); ibid p  298,5 (fr  245); civ 7,18 p  296,24 (fr  241) Vgl civ 4,27, wo das ablehnende Urteil des Pontifex Scaevola über die Göttermythen wiedergegeben wird und dabei als eins von mehreren Beispielen der Gewohnheit der Dichter, die Götter zu erniedrigen, gerade die Sage, wie Saturn seine Kinder verschlingt, angeführt wird (Das ist allerdings nicht Varros eigenes Urteil, s oben Anm  80 )

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ben Elemente nicht mehr als anstößig gelten, verliert diese Kategorie ihre Bedeutung und tritt nicht mehr in Funktion Die anderen beiden Kategorien bleiben dagegen weiterhin aktuell Augustin bezeugt uns, dass Varro sich in Buch 16 das Ziel gesetzt hatte, die theologia civilis durch seine „interpretationes physiologicae“ innerhalb der theologia naturalis unterzubringen 102 Das Buch soll mit einer kurzen Einleitung angefangen haben, die gerade der theologia naturalis gewidmet war: „Über die Naturtheologie hat er sich nämlich in dem Buch über die di selecti, das er zu allerletzt geschrieben hat, einleitend in äußerst kurzen Worten geäußert “ Darauf soll Varro zur eigentlichen Behandlung der theologia civilis übergegangen sein, wobei er mit folgenden, von Augustin in direkter Rede angeführten Worten angesetzt haben soll: „Über die Staatsgötter des römischen Volks, denen sie Tempel geweiht haben und die sie mit zahlreichen Statuen ausgezeichnet haben, werde ich in diesem Buch schreiben  …“103 Wie sich im Folgenden herausstellt, hat die theologia naturalis ihren früheren Charakter als Bestandsaufnahme verloren, um stattdessen den Status einer normativen Lehre anzunehmen Augustin bemerkt nämlich zu dieser Einleitung, unmittelbar vor den gerade angeführten Worten, folgendes: Dieser sehr gelehrte Mann bekennt, dass die Weltseele und ihre Teile die wahren Götter seien, woraus zu erkennen ist, dass seine ganze Theologie, d h eben die Naturtheologie selbst, der er den größten Wert beimisst, sich jedenfalls bis zum Wesen der Vernunftsseele erstrecken konnte / wenn auch nicht zum wahren Schöpfer, dem ewigen Gott, MWS / 104

Im nächsten Kapitel wird dann aus Varros eigener einleitender Darstellung wörtlich angeführt: „Noch in der Einleitung über die Naturtheologie sagt Varro, dass er die Weltseele und ihre Teile für Gott hält, dass aber auch die Welt oder der Kosmos Gott sei …“105 Nichts deutet hier darauf, dass die theologia naturalis mit verschiedenen Lehrmeinungen über die Götter befasst sei, so wie wir sie früher vorgefunden haben, mit ausdrücklich genannten Ansichten und ihren namentlich genannten jeweiligen VertreAug civ 7,5 p  281,15: in quo / d h in RD 16 / videbimus, utrum per interpretationes physiologicas possit ad hanc naturalem referre civilem (Wie zu erwarten, ist Augustin der Meinung, dass das Vorhaben gescheitert sei, s z B 7,28 p  310,25; 7,33 p  316,12; vgl 7,28 p  312,1) 103 Aug civ 7,5 p  281,13: De naturali / scil theologia / enim paucissima praeloquitur in eo libro quem de dis selectis ultimum scripsit Civ 7,17 p  295,23: … postea quam praelocutus est quod ex naturali theologia praeloquendum putavit, ingressurus huius civilis theologiae vanitates et insanias mendaces …‚de diis‘, inquit, ‚populi Romani publicis …‘ (Text oben Anm  68) „Nachdem er / am Anfang von Buch 16 / einleitend das gesagt hat, was ihm notwendig erschien, von der Naturtheologie ausgehend vorauszuschicken, und nun sich daran macht, die eitlen Nichtigkeiten und den lügenhaften Unsinn der Bürgertheologie zu besprechen … beginnt er mit folgenden Worten: ‚Über die Staatsgötter des römischen Volks …‘“ 104 Civ 7,5 p  281,9: Fatetur interim vir iste doctissimus animam mundi ac partes eius esse veros deos; unde intellegitur totam eius theologian, eam ipsam scilicet naturalem, cui plurimum tribuit, usque ad animae rationalis naturam se extendere potuisse Zur Phrase anima mundi ac partes eius und ihrer Deutung, s oben Anm  50 105 Civ 7,6 p  281,31 (RD fr  226) Das ist der Anfang des oben Anm  50 zitierten Stücks

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tern 106 Die „äußerst kurzen Worte“ (paucissima) der Einleitung scheinen nichts als Varros eigene Überzeugung zum Ausdruck gebracht zu haben, ein Eindruck, der durch Augustins Zusammenfassung verstärkt wird: „Und das ist also die von ihm in der Vorrede kurz vorgelegte Naturtheologie, welche nicht nur seine Zustimmung gefunden hat, sondern auch die vieler anderer Philosophen “107 Nach der kurzen Einleitung bespricht Varro im Rahmen der theologia civilis die zwanzig di praecipui atque selecti, bestimmt sie aber dabei nach dem Modell, dem er sich selbst in der Vorrede des Buchs angeschlossen hat Da aber seine Behandlung der wichtigsten Staatsgötter nach Augustins Zeugnis im Rahmen der theologia civilis unternommen wird, müssen wir den Schluss ziehen, dass Varro die theologia naturalis – im hier oben beschriebenen Sinne – im römischen Staatskult sucht und findet, und dass folglich auch nicht die theologia civilis der bloßen Bestandsaufnahme dient, sondern vielmehr die philosophische Deutung der zu behandelnden Götter und ihres Kults mit einschließt Das Dreierschema hat also insgesamt eine andere Form und eine andere Funktion angenommen Augustin wird nicht müde, zu betonen, dass Varro sich darum bemüht, die di selecti „auf den Kosmos zu beziehen“, oder „dem Himmel und der Erde zuzuweisen“, bzw die männlichen di selecti dem Himmel zuzuteilen, die Göttinnen der Erde 108 Es dürfte jetzt klar sein, dass die Schlussphase der RD im Verhältnis zur Anfangsphase radikale Unterschiede aufweist Wir sind nunmehr in der Lage, die beiden Positionen als zwei jeweils im Wesentlichen durchsichtige, zusammenhängende Gedankengebäude zu erkennen Es gibt Anlass, zu glauben, dass frühere Bücher zirkulierten, ehe das Werk vollendet war 109 Aber wie dem auch sei – Varro hat die Divergenz, wie es scheint, stillschweigend mit in Kauf genommen Wir können ohne weiteres nachempfinden, welch kompliziertes Unternehmen eine vollständige Aktualisierung des gesamten, gewaltigen Werks auf den letzten Stand gewesen wäre

106 Hier oben, m Anm  85 107 Civ 7,6 p  282,17: Haec est videlicet breviter in ista praelocutione proposita theologia naturalis, quae non huic tantum, sed multis philosophis placuit 108 Civ 7,26 p  308,21: sed haec omnia, inquit, referuntur ad mundum; civ 7,28 p  310,21: quid igitur valet, quod vir doctissimus Varro … hos omnes deos in caelum et in terram redigere conatur? Civ 7,28 p  311,20: Caelo enim tribuit masculos deos, feminas terrae Vgl civ 7,29 p  312,11: Namque omnia, quae ab eis ex istorum deorum theologia velut physicis rationibus referuntur ad mundum … Civ 8,1 p  321,9: … si quidem ille totam theologiam naturalem usque ad mundum istum vel animam eius extendere potuit … 109 Augustin beschreibt in civ 6,3 p  249,2 (fr  4) die Gliederung des Werks in fünf Abteilungen von je drei Büchern, denen ein einleitendes Buch voranging, in dem das Werk präsentiert wurde Diese Anlage ist mit aller Wahrscheinlichkeit von Varro explizit erklärt worden Ich stelle mir vor, dass die eine oder andere Dreiereinheit schon im Umlauf war, ehe Varro die letzte Dreiereinheit, die drei Bücher, die spezifisch von den Göttern handelten, zu Ende geführt hatte

4 4 Varro und der frührömische Kult ohne Götterbilder

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4.4. Varro und der frührömische Kult ohne Götterbilder In der modernen Forschung wird nicht deutlich zwischen dem anthropomorphen Gottesbild und dem Gebrauch von anthropomorphen Götterbildern unterschieden Das Verständnis von RD fr  18, mit dem wir uns oben 4 2 und besonders 4 2 1 auseinandergesetzt haben, ist durch diese unglückliche Verwischung beeinträchtigt worden Erst wenn die Distinktion aufrechterhalten wird, treten die wahren Implikationen des Fragments hervor Wie wir sahen, soll Varro damit gerechnet haben, dass die alten Römer mehr als 170 Jahre lang die Götter ohne Kultbild verehrt hätten 110 Die Angabe der 170 Jahre führt uns in die Zeit des Tarquinius Priscus Genauere Auskunft über die exakte Gelegenheit finden wir bei Plinius Dieser bestätigt uns nämlich, dass Varro in einem anderen Zusammenhang sich über den Anfang und die Entwicklung der plasticē, der Kunst, in Terrakotta und Gips Bilder zu formen, geäußert habe und dabei erwähnt haben soll, dass Tarquinius Priscus einen eigens aus Etrurien herangeholten Künstler damit beauftragt haben soll, das Standbild Jupiters herzustellen, das in dem Tempel auf dem Kapitol aufgestellt werden sollte, den er Jupiter weihen wollte 111 Bekanntlich galt Tarquinius in der Tradition als Sohn eines Griechen, und dementsprechend soll er eine griechische Erziehung erfahren haben 112 Es muss also nahe genug gelegen haben, gerade von ihm die Initiative ausgehen zu lassen, fremde Bildkünstler einzuladen und ihre Erzeugnisse in den Tempeln aufstellen zu lassen Hier haben wir zweifellos das Ende der von Varro in RD fr  18 stipulierten bilderlosen Phase Aber welches Bild hat sich Varro von der römischen Religion vor diesem Ereignis, also in den ersten 170 Jahren, gemacht? Unabhängig davon, welche exakte Beurteilung der Einführung der Götterbilder durch Tarquinius Priscus Varro zugeschrieben wird, scheint man in der Forschung im großen ganzen vorauszusetzen, dass er gemeint habe, vor diesem Zeitpunkt habe in Rom ein abstraktes Gottesbild geherrscht 113 110 111

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Text oben 4 2 1 , mit Anm  39 Plin nat 35,157: „Ferner – sagt Varro – ist dies eine in Italien und besonders in Etrurien gepflegte Kunst: Aus Veii wurde Vulca herbeigeholt, den Tarquinius Priscus dazu anstellte, das Bild des Jupiter zu verfertigen, das auf dem Kapitol geweiht werden sollte Das Standbild soll aus Terrakotta gewesen sein “ (Praeterea elaboratam hanc artem Italiae et maxime Etruriae; Vulcam Veiis accitum, cui locaret Tarquinius Priscus Iovis effigiem in Capitolio dicandam; fictilem eum fuisse  …) Ob der ursprüngliche Text wirklich den Namen des Künstlers und seinen Heimatort genannt hat – d h ob die geläufige moderne Lesart korrekt ist oder nicht – lasse ich dahingestellt sein, da die Kontroverse für meine Diskussion ohne Belang ist S dazu etwa Rumpf 1961 (zustimmend) bzw v Vacano 1973, 524–530 (kritisch) Plinius stellt nicht in Frage, dass anthropomorphe Götterbilder schon lange vor der Gründung Roms vor Ort in Gebrauch gewesen seien (nat 34,33 Hercules ab Euandro sacratus) Plin ibid § 152 Vgl auch Livius 1,34; Cic rep 2,34; Dion Hal 3,46,5 Baier 1997,  51; Cardauns im Kommentar zu fr   18 (1976,  147): „anikonischer Kult“ Dass dieser Begriff sich in unserem Kontext eingebürgert hat, trägt nicht zur Durchsichtigkeit der Diskussion bei Er wurde einst, in den Anfangstagen der modernen Religionswissenschaft, im Zusammenhang mit dem erwachenden Interesse für ‚primitive‘ Religionen eingeführt und gebraucht In der

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Die Ergebnisse meiner Untersuchung bieten eine zuverlässige Grundlage, von der aus wir uns eine annähernd exakte Auffassung von Varros diesbezüglichem Standpunkt zur Zeit der Frühphase der RD verschaffen können Ausgangspunkt bildet der Umstand, dass in fr  18 die Gewohnheit, Götterbilder aufzustellen, ohne jeden Zweifel grundsätzlich abgelehnt wird Das erlaubt die Schlussfolgerung, dass Varro hinter dieser Maßnahme eine Absicht der Urheber vermutet, die Götter so abzubilden, wie sie sie sich selber vorstellen Denn wie wir wiederholt gesehen haben, ist die philosophische Ablehnung der anthropomorphen Götterbilder nahezu regelmäßig mit der Grundimplikation verbunden, dass hinter der Sitte, menschlich gestaltete Götterbilder aufzustellen, die Überzeugung stecke, die Götter seien eben menschenähnlich Konkrete anthropomorphe Götterdarstellungen entstehen also – so die Kritiker – erst als Folge einer schon vorhandenen Überzeugung dieser Art Anders ausgedrückt: Der Wille, die Götter in Menschengestalt abzubilden, wird wie selbstverständlich als sekundär zur Vorstellung von so gestalteten Göttern betrachtet 114 Die theoretisch denkbare Alternative, dem oben 3 2 1 und 3 2 1 1 beschriebenen Modell gemäß, bestünde darin, dass die Urheber bei der Suche nach einem wirksamen politischen Druckmittel auf den Gedanken gekommen seien, Götterbilder aufzustellen, in der Hoffnung, das Volk werde davon beeindruckt sein, wobei sie persönlich das dadurch vorgeführte Gottesbild selbstverständlich nicht umfasst hätten Diese Alternative kommt jedoch, wie wir oben festgestellt haben, nicht in Frage, da in fr 18 bedauert wird, dass die nützliche Götterfurcht durch das Aufstellen der Götterbilder abgenommen habe 115 Die Götterbilder gelten Varro selbst augenscheinlich nicht als geeignet, das Volk einzuschüchtern Dass er gemeint hätte, wir sollten ihn so verstehen, dass die ersten Urheber der Götterbilder – nur diese sind im Fragment ausdrücklich erwähnt – diese Auffassung gehegt hätten, aber sich in dieser Berechnung getäuscht hätten, können wir getrost ausschließen Varros Ziel ist hier offensichtlich, den Gebrauch von Götterbildern zu kritisieren Er ist nicht darauf aus, eine bestimmte Ursprungstheorie in Frage zu stellen Wäre dies seine Absicht gewesen, hätte er die betreffende Theorie ausdrücklich charakterisieren und widerlegen müssen Das Fragment kann nur dahingehend verstanden werden, dass gemeint ist, diejenigen, die Götterbilder eingeführt hätten, sei es bei der allerersten Gelegenheit, sei es später, in Rom, hätten mit dieser Maßnahme beabsichtigt, die Götter in einer Gestalt abzubilden, die mit ihrer eigenen Gottesvorstellung übereinstimmte Wir können deshalb feststellen, dass Tarquinius und gewiss auch sein Volk auf dieser Stufe varronischen Denkens als Vertreter einer anthropo-

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Kunstwissenschaft heißt ein ‚anikonischer‘ Gegenstand in der Regel eine nicht-figürliche Darstellung, meist ein Kultobjekt Hier impliziert der Begriff dagegen meist (ohne dass dies ausdrücklich klargemacht wird) ein philosophisch überlegenes, ‚abstraktes‘ Gottesbild Vgl unten Anm  117 Eine wissenschaftsgeschichtliche Übersicht über die Verwendung des Begriffs ‚Anikonismus‘ findet sich bei Gaifman 2012, 17–28 S dazu Einführung, Kap  1 4 und oben, Kap  4 1 Oben 4 2 1 , mit Anm  40 und 41

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morphen Gottesvorstellung gelten Und falls nun diese Gottesvorstellung den Urhebern der Götterbilder ebenso wie deren Rezipienten zugeschrieben wird, müssen wir den Schluss ziehen, dass Varro gemeint hat, dies sei damals schon das offiziell in der römischen Religion gültige Gottesbild Es ist folglich unzulässig, Varro die Auffassung zuzuschreiben, Tarquinius sei ein Vertreter der intellektuellen Elite (und ein Eingeweihter der samothrakischen Mysterien) 116 Und wir müssen uns hüten, fr  18 als Indiz dafür anzuführen, dass der römische Staatskult tatsächlich am Anfang von einem ‚anikonischen‘ – d h abstrakten – Gottesbild geprägt gewesen sei und dass Varro sich dessen bewusst gewesen sei 117 Volle Bestätigung bietet uns fr  19, das wir oben schon eingehend studiert haben Demzufolge hätten die alten Römer es leider verschmäht, ihr Pantheon im Einklang mit der Lehre der Philosophen einzurichten; stattdessen hätten sie sich der von den Dichtern präsentierten Gottesvorstellung angeschlossen 118 Die Wortwahl constituisse zeigt deutlich, dass es sich dabei um das offizielle Gottesbild handelt; ein Unterschied zwischen Staatsleitern und Untertanen besteht offensichtlich nicht Das schließt nicht aus, dass Varro dem einen oder anderen frührömischen Staatsleiter hätte zuschreiben können, entgegen der vorherrschenden anthropomorphen Gottesvorstellung aktiv ein abstraktes Gottesbild vertreten zu haben und sich bemüht zu haben, es zu propagieren Titus Tatius und Numa Pompilius, beides Sabiner und damit wohl durch bessere Verankerung in einer unverfälschteren, bodenständigen Tradition den Latinern und ihren Abkömmlingen überlegen, sind gute Kandidaten 119

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S unten 4 4 1 1 zu Fragment 205 S zu dieser These, die u a von Wissowa vertreten worden ist, unten 4 4 1 , mit Anm  132 und 133 Zum Begriff ‚anikonisch‘ s oben Anm  113 Oben 4 2 1 , mit Text in Anm  31 Das Sabinerland, Varros eigene Heimat, galt ihm auch als Heimat der Aborigines (Varro ling 5,53; vgl Dion Hal 1,14) Wie Varro ihre Herkunft und die Etymologie des Begriffs beurteilt hat, ist in der Forschung umstritten Im Anschluss an Deschamps (1987, 186) und Della Corte (1976, 114 = 1978, 238) nehme ich an, dass Varro die Aboriginer für bodenständig gehalten hat Ein Teil der Aboriginer soll in früher Zeit vom Sabinerland aufgebrochen und in die Gegend von Rom gezogen sein (s Varro ibid und Festus p  424,31 L Sacrani) Diese Aboriginer hätten Euander und seinen Arkadern einen Teil ihres Gebiets überlassen (vgl Dion Hal 1,31,2–3, der freilich seinem Anliegen zufolge die Aboriginer für eingewanderte Griechen hält) und dann auch die Trojaner aufgenommen Von der ‚Mischkultur‘, die sich aus dieser Zusammenschmelzung ergeben haben muss (vgl Dion Hal 1,60,2), wurden die im Sabinerland zurückgebliebenen Aboriginer mutmaßlich wenig beeinflusst, und deshalb mögen sie in Varros Augen dem ursprünglichen, unverfälschten Gottesglauben näher gestanden haben Wenn wir Festus 464,18 L (Sabini dicti) glauben dürfen, soll Varro das Wort Sabini ἀπὸ τοῦ σέβεσθαι abgeleitet haben, mit der Begründung, quod ea gens praecipue colat deos, „dass dieses Volk in hervorragender Weise die Götter verehre“ (von Mirsch als RH 3 fr  1 aufgenommen) Es liegt, wie ich meine, nahe zu vermuten, dass Varro gemeint hat, diese Bezeichnung stamme nicht von den Sabinern/Aboriginern selber, sondern sei ihnen zuerst von den einwandernden Pelasgern beigelegt worden, die den Sabinern auch anderes griechisches Sprachgut vermittelt haben sollen (s Varro rust 3,1,6 und vgl Schol Veron zu Aen 10,183 p  444 Thilo 3:2)

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

In der Numabiographie Plutarchs heißt es, dass die Römer in den ersten 170 Jahren zwar Tempel und kleinere Heiligtümer errichtet hätten, dass sie aber während dieser Zeit kein figürliches Götterbild hergestellt hätten 120 Varros Name ist nicht erwähnt, aber die spezifische Zeitangabe kann kaum anderswoher als von ihm stammen Zugleich heißt es, dass Numa den Römern verboten haben soll, oder sie daran gehindert haben soll (διεκώλυσε), menschen- und tierähnliche Götterbilder zu verfertigen 121 Diese Angabe ließe sich theoretisch durchaus mit dem Inhalt von fr  18 und 19 zu einer zusammenhängenden Gedankenfolge verbinden, und zwar etwa folgender Art: Das Fehlen von menschenähnlichen Götterbildern wäre,122 genau wie in Varro fr  18, nicht ein Zeichen von einem allgemein vertretenen nicht-anthropomorphen Gottesbild: Nur Numa hätte ein solches vertreten, während seine Untertanen von der Menschengestalt der Götter überzeugt gewesen seien Nun hätten sie gerade zur Zeit Numas damit begonnen – oder sie hätten den Wunsch gehegt – Bilder dieser Art aufzustellen oder zu verfertigen, seien aber von Numa daran gehindert worden Freilich wird diese Konstruktion sofort durch Plutarchs Text selbst widerlegt, da dieser den bilderlosen Kult in einer abstrakten Gottesvorstellung der Römer selber verankert 123 Es ist deshalb ratsam, mit Cardauns die Zeitangabe für einen Einschub aus Varro bei Plutarch zu betrachten,124 und allenfalls noch die besondere Information, dass Numa die Römer daran gehindert habe, Bilddarstellungen zu verfertigen, Varro zuzuschreiben 125 Für die Verbindung der Ideologie Numas mit pythagoreischer Lehre, wie sie Plutarch an unserer Stelle (8,5‒21) erwägt, ist Varro auf keinen Fall zuständig 126 120 Plut Numa 8,14: „Davor gab es nämlich bei ihnen kein Götterbild, weder gemalt noch skulptiert, sondern in den ersten 170 Jahren haben sie zwar Tempel gebaut und kleinere Heiligtümer errichtet, jedoch kein figürliches Götterbild hergestellt …“ (Οὐδ᾽ ἦν παρ᾽ αὐτοῖς οὔτε γραπτὸν οὔτε πλαστὸν εἶδος θεοῦ πρότερον, ἀλλ᾽ ἐν ἑκατὸν ἑβδομήκοντα τοῖς πρώτοις ἔτεσι ναοὺς μὲν οἰκοδομούμενοι καὶ κηλιάδας ἱερὰς ἱστάντες, ἄγαλμα δ᾽ οὐδὲν ἔμμορφον ποιούμενοι διετέλουν …) 121 Plut Numa 8,13 f : … οὗτός τε διεκώλυσεν ἀνθρωποειδῆ καὶ ζῳόμορφον εἰκόνα θεοῦ ‘Ρωμαίους κτίζειν (κτίζειν aus Clem Al strom 1,71,1; codd νομίζειν) 122 Dass das Verbot auch tiergestalteten Bildern gegolten haben soll, könnte dadurch angeregt worden sein, dass z B gewisse genii häufig in Schlangengestalt dargestellt wurden, s hierzu etwa Dubourdieu 1989, 76; 78 123 Der in Anm  120 angeführte Text fährt nämlich fort: „… in der Meinung, dass es unzulässig sei, Besseres mit Schlechterem zu vergleichen und dass es nicht möglich sei, das Allerbeste anders als mit der Denkkraft zu erfassen“ (… ὡς οὐθ᾽ ὅσιον ἀφομοιοῦν τὰ βελτίονα τοῖς χείροσιν, οὐτ᾽ ἐφάψασθαι τοῦ βελτίστου δυνατὸν ἄλλως ἢ νοήσει) Bei Tert apol 25,12 f und nat 2,17,12 f (= RD 1 fr  38 C) wird das Fehlen von Götterbildern eher als Zeichen der einfachen frührömischen Lebensweise verstanden, möglicherweise auch als Folge des Mangels an künstlerischem Können, wie in dem hier unten gleich zu behandelnden fr  254 C 124 Cardauns 1976, 147, im Kommentar zu fr  18 125 Gerade diese Formulierung wirkt im Kontext befremdend – ‚hindern‘ oder ‚verbieten‘ impliziert ja ein Eingreifen gegen ein schon vorhandenes Verhalten oder eine schon vorhandene Tendenz Aber falls die Römer sowieso eine Auffassung gehegt hätten wie sie Numa vertrat, gibt es keinen Anlass, diesem eine solche Maßnahme zuzuschreiben 126 Dass Numa ein Anhänger pythagoreischer Lehre gewesen sei, ist nach Cic rep 2,28 f zu urteilen schon geraume Zeit vor Varro gelegentlich geltend gemacht worden Plutarch bespricht die

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Völlig unmöglich wäre es vielleicht nicht, dass Varro sich vorgestellt haben könnte, der Prozess, der dazu geführt habe, dass die anthropomorphe Gottesvorstellung in Rom Aufnahme fand (fr  19), sei erst nach Numas Zeit anzusetzen, so dass nicht nur Numa, sondern auch Romulus ein abstraktes, mit dem ursprünglichen, reinen Gottesglauben besser übereinstimmendes Gottesbild vertreten hätte Der Zeitpunkt, zu dem das ursprüngliche, reine Gottesbild von der falschen Gottesvorstellung ersetzt worden sei, läge unter solchen Umständen erst einige Zeit nach der römischen Staatsgründung, d h in der Zeit des Tullus Hostilius oder noch später Freilich müsste die anthropomorphe Gottesvorstellung zur Zeit, in der die Götterbilder eingeführt wurden, d h als der ältere Tarquinius regierte, doch wohl schon längere Weile die römische Staatsreligion geprägt haben, und deshalb erscheint dieser letzte Vorschlag weniger attraktiv Ist es somit klar, dass Varro das Fehlen von Götterbildern am Anfang nicht damit verbindet, dass die Römer ein abstraktes Gottesbild vertreten hätten, wie mag er es sich dann erklärt haben? Hier kommt uns ein Fragment zur Hilfe, das allerdings bisher falsch eingereiht worden ist, eine Stelle aus dem Protreptikos des Klemens Alexandrinos, 4,46,4 ≈ fr  254 Cardauns: In Rom bestand in alter Zeit, wie der Historiker Varro sagt, das Bild des Mars aus einem Speer, da die Künstler sich noch nicht an diese schöngestaltete Unkunst / d h die Kunst, die Bilder der Götter den Menschen ähnlich zu gestalten, ἀνθρώποις ἀπεικονίζεσθαι τὰ ξόανα, wie es im vorangehenden, § 3 heißt, MWS / gemacht hatten Nachdem die Kunst aufgeblüht war, hat der Wahn zugenommen 127

Cardauns folgt Agahd darin, das Fragment dem sechzehnten Buch zuzuordnen (bei Agahd fr 16: 34 p  210), erwägt allerdings eine alternative Zuordnung zum ersten Buch Allein letztere kommt in Frage, wie nunmehr klar sein müsste Der Umfang des als Fragment aufgenommenen Texts ist bei Cardauns und bei Agahd nicht gleich: Agahd lässt die abschließende Bemerkung weg („Nachdem die Kunst aufgeblüht war …“), während Cardauns seinerseits gewählt hat, den Zwischensatz nicht aufzunehmen („da die Künstler …“) Auch wenn die herabsetzende Phrase εὐπρόσωπος κακοτεχνία eher den christlichen Polemiker als den römischen Antiquar verrät, gibt es allen Anlass, den Inhalt insgesamt als varronisch zu akzeptieren – beachte die Bemerkung über die Zunahme des Wahns, die stark an den Wortlaut in fr  18, et errorem addidisse, erinnert Hier haben wir das fehlende Glied der Kette Dass bis zur Zeit des Tarquinius Priscus die

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Problematik eingehender am Anfang der Numabiographie, 1,3–7 Varro hat sich dieser chronologisch unmöglichen Idee nachweislich nicht verschrieben, wie wir durch Augustin wissen, s civ  7,35 p  318,12, und vgl Cardauns 1960, 31 f Zum Alter und zum Ursprungskontext der Vorstellung s Humm 2004 (mit vollständiger Belegsammlung) Clemens Al protr 46,4 p 35 Stählin u Treu: ἐν ῾Ρώμῃ δὲ τὸ παλαιὸν δόρυ φησὶ γεγονέναι τοῦ Ἄρεως τὸ ξόανον Οὐάρρων ὁ συγγραφεύς, οὐδέπω τῶν τεχνιτῶν ἐπὶ τὴν εὐπρόσωπον ταύτην κακοτεχνίαν ὡρμηκότων ἐπειδὴ δὲ ἤνθησεν ἡ τέχνη, ηὔξησεν ἡ πλάνη

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Kultbilder gefehlt haben sollen, hat demnach nichts mit einem vermeintlich abstrakten Gottesbild zu tun Anstelle davon, den alten Römern grundsätzliche Bedenken anthropomorphen Bildern gegenüber zuzuschreiben, führt Varro das Fehlen der Götterbilder auf mangelnde künstlerische Kompetenz zurück Erst mit dem unter Tarquinius beginnenden Zuzug von griechischen Künstlern war in Rom die Möglichkeit vorhanden, zufriedenstellende menschengestaltete Bilder herzustellen 4 4 1 Der frührömische Kult ohne Götterbilder und die Tradition von den Penatenbildern und dem Palladium Trotz seiner Behauptung, die Römer hätten 170 Jahre lang die Götter sine simulacro verehrt, kann Varro nicht gemeint haben, dass anthropomorphe Götterdarstellungen in der frührömischen Zeit überhaupt nicht vorhanden gewesen seien oder völlig unbekannt gewesen seien Für ihn, wie mutmaßlich für die meisten anderen gebildeten Römer seiner Zeit, stand fest, dass mit den trojanischen Einwanderern sowohl die Penatenbilder wie das Palladium nach Latium gekommen und auch weiterhin dort untergebracht gewesen seien Die fragmentarischen Angaben darüber, was Varro zum Thema geschrieben haben soll, die uns durch Servius und Servius auctus, teilweise auch durch Macrobius, vermittelt worden sind, sind nicht ohne Widersprüche; Einzelheiten sind zweifellos verballhornt und verwechselt worden 128 Den wesentlichen Inhalt der Information – Übermittlung der Penatenbilder nach Italien durch Aeneas und sein Gefolge129 bzw des Palladiums zunächst durch Diomedes und Übergabe an die Trojaner durch diesen130 – anzuzweifeln, fehlt jeder Grund Dass Varro sich diese Götterbilder in anthropomorpher Form vorgestellt hat, ist für das Palladium, für dessen Ikonographie wir mit Sicherheit sagen können, dass sie zu Varros Zeit schon jahrhundertelang festlag, eine Selbstverständlichkeit,131 für die Penaten beinahe ebenso 128

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So z B werden im Vulgatservius und im Servius auctus zu Aen 3,12 gewisse Ansichten Varro zugeschrieben, die durch ling 5,58 widerlegt werden S dazu Peyre 1962, 452–454 und vgl Dubourdieu 1989, 433 f Dagegen trifft es nicht zu, dass bei Serv auctus zu Aen 3,148 ausdrücklich vermerkt werde, dass Varro an verschiedenen Stellen verschiedene Vorstellungen von den Penaten ausgedrückt habe, wie Schilling 1980, 1966 n  7 und Castagnoli im Vorwort zu Dubourdieu 1989 (S  VII) meinen: Der Satz „obwohl er hier nicht konsequent ist, sondern mal der einen, mal der anderen Meinung folgt“ (quamvis alio loco alias opiniones secutus diversa dixerit) gilt, wie die wörtlich aus dem betr Vers Aen 3,148 angeführte Phrase effigies sacrae divum im Vorangehenden zeigt, dem Brauch Vergils, und nicht dem Varros (Zu Servius auctus zu Aen 3,148 s auch die folgende Anm sowie bes Anm  132 ) Schol Veronensia zu Aen 2,717 p  428 Thilo 3:2 (bei Mirsch RH 2 fr  9); Macr Sat 3,4,7 und Servius auctus zu Aen 1,378 (RH 2 fr  8); Servius auctus zu Aen 3,148 und vgl ebenda zu Aen 2,636 Servius zu Aen 5,704; Servius auctus zu Aen 2,166 Zu einigen der vielen auf uns gekommenen Beispiele s z B LIMC 2 1 und 2 2 Athena/Minerva 247 (silberne Oinochoe, 1 Jahrh v  Chr ); ibid 3 1 und 3 2 Diomedes I 24 (= Athena 103, attische rotf Amphore um 480); I 29 (apulischer Volutenkrater, um 380); 30 (apulischer Skyphos,

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sicher Wer dies bestreiten will, hat eine schwere Beweisbürde, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die vermittelnden Texte selbst die anthropomorphe Form voraussetzen und durch nichts andeuten, dass eine andere Möglichkeit vorliege Schon aus diesem Grund war die an sich geistreiche Idee von Wissowa, Varro hätte sich die trojanischen Penaten nicht-figürlich vorgestellt, von vornherein verfehlt 132 Es lässt sich einfach nicht leugnen, dass Varro damit gerechnet haben muss, diese anthropomorphen Götterdarstellungen seien lange vor Tarquinius Priscus Bestandteil der römischen Staatsreligion gewesen 133 Wie ist also dieser Sachverhalt mit Varros eigener Behauptung, die Römer hätten mehr als 170 Jahre lang die Götter sine simulacro verehrt, in Einklang zu bringen? Es leuchtet ein, dass in diesem Fall der Widerspruch nicht gut durch die Entwicklung der Haltung Varros zum anthropomorphen Gottesbild erklärt werden kann, schon deswegen nicht, weil die Res humanae nach eigener Aussage Varros den RD vorangehen, und gerade die RH werden ausdrücklich als Quelle in ein paar der einschlägigen vermittelnden Texten genannt (genauer: RH 2) 134

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um 340); 32 attischer rotf Becher, 400–390); 36 (bronzerner Ring aus Olynthos, 400‒350); 37 (= Athena 108, silberne Drachme aus Argos, 370–350) u a ; ibid 1 1 und 1 2 Aineias 128 (Denar des Caesar) Vgl die Übersicht über die Gesamttradition vom Palladion bei Scheer 2000, 90–92 Wissowa wies darauf hin, dass in den einschlägigen Fragmenten (s oben Anm  129) die von Aeneas mitgebrachten Penaten als lignea sigilla vel lapidea, terrena quoque (Schol Veron zu Aen 2,717; vgl Servius auctus zu Aen 3,148) bzw sigilla lignea vel marmorea (Servius auctus zu Aen 1,378) bezeichnet werden Darunter seien „anikonische Symbole der Götter“ zu verstehen, ein Vorschlag, den er mit Hinweis auf Timaios von Tauromenion bei Dion Hal 1,67,4 (FGrHist 566 fr  59) zu unterbauen versuchte (Wissowa 1904, 110 = 1886, 42) Ähnlich Cardauns im Kommentar zu RD fr  18, 1976, 147; desgleichen Lehmann 1997, 189 Anm  21 Das Wort sigillum in dem von Wissowa verlangten Sinne (etwa ‚heiliger, nicht-anthropomorpher Gegenstand‘ o ä ) zu deuten, widerspricht lateinischem Sprachgebrauch, sei es zu Varros Zeit, sei es später; vgl Cic nat. deor 1,85; Verr II  4,46 und 4,95; Ov ars 1,407; Macr Sat 1,11,49 Wer sich die Mühe macht, den Kontext im Servius auctus selbst nachzuschlagen, stellt umgehend fest, dass hier vorausgesetzt wird, dass kein Unterschied zwischen Varros Vorstellung von den Penaten und der Art, wie sie Vergil vorführt, besteht (s zu Aen 3,148 … quaedam lignea vel lapidea sigilla, quod evidenter exprimit / scil Vergilius / dicendo effigies sacrae divum … Deutlicher noch in der Bemerkung zu Aen 1,378: … Varro deos Penates quaedam sigilla lignea vel marmorea ab Aenea in Italiam dicit devecta, cuius rei ita Vergilius meminit effigies sacrae divum Phrygiique Penates …) Vgl auch z B Radke 1988, 13 und s Dubourdieu, die feststellt, dass die drei Scholienstellen zum Zeugnis des Timaios in Widerspruch stehen (1989, 130) Zu Varros Vorstellung vom Palladium s oben Anm  130 Die Statuette wird an den dort angegebenen Stellen als simulacrum bezeichnet Wissowa gehört zu denjenigen Religionsgeschichtlern, die die These verfochten haben, dass die Frühphase der römischen Religion de facto keine Götterbilder gekannt habe (s Wissowa 2 1912, 32 f ) und dabei u a gerade auf das Fragment Varro RD 18 hingewiesen haben Es mag ihm deswegen besonders am Herzen gelegen haben, unseren Widerspruch zu beseitigen, und damit dürfte sein sprachlich unrealistischer Vorschlag zusammenhängen, ohne dass dies direkt aus seinem Artikel (1904/1886) hervorgeht S Dubourdieu 1989,  114 f und 276‒278 S auch oben, Anm  113 Servius auctus Aen 3,148; vgl Macr Sat 3,4,7 Schol Veronensia zu Aen 2,717 verweisen auf Varro in secundo Historiarum

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Dass Varro damit gerechnet hat, dass in Troja anthropomorphe Götterbilder in Gebrauch gewesen seien, ist natürlich unproblematisch Diejenigen, die zuerst Götterbilder aufgestellt haben, müssen der Zeit des Tarquinius Priscus weit vorausgegangen sein Dass die für die Herstellung anthropomorpher Bilder notwendige Kunstfertigkeit in Rom lange Zeit gefehlt habe, bedeutet nicht, dass es sich in anderen Gebieten ähnlich verhalten hätte, wie aus der schon angeführten Pliniusnotiz zu ersehen ist 135 In Varros Augen muss die griechische Kunst sogar schon vor der Zeit des Hesiod einen hohen Grad technischer Vollendung erreicht haben, wenn wir einem Zeugnis Augustins glauben dürfen 136 Das Problem besteht darin, dass Varro selbst geltend gemacht hat, dass einige troische Götterbilder (kleinerer Dimensionen) schon bald nach dem trojanischen Krieg nach Latium gekommen seien und dort untergebracht worden seien; sie müssten dann irgendwie in den frührömischen Kult übergegangen sein Dennoch sollen die Römer nach seiner ausdrücklichen Aussage ihren Kult zunächst ohne Götterbilder verrichtet haben Der Widerspruch scheint mir am ehesten so zu erklären sein, dass die betreffenden trojanischen Statuetten in Varros Konstruktion der frührömischen Religion nicht öffentlich zugänglich waren Wir dürfen annehmen, dass Varro damit gerechnet hat, dass das Palladium spätestens seit der Einrichtung des Vestatempels, gewöhnlich Numa zugeschrieben,137 in diesem Heiligtum untergebracht gewesen sei Dass der Vestatempel in Rom zur Zeit Varros und weit früher nur den Vestalinnen zugänglich war, steht fest und bildet den selbstverständlichen Hintergrund der berühmten Geschichte, wie Caecilius Metellus bei einer Feuersbrunst im Tempel im Jahr 241 v  Chr sich über das Verbot, ihn zu betreten, hinweggesetzt haben soll, um die von den Vestalinnen verlassenen heiligen Gegenstände aus dem Innersten des brennenden Tempels zu retten – eine Heldentat, die Varro sich rühmte, durch die Rettungsaktion, die seine Antiquitates bedeuteten, übertroffen zu haben 138 Was die Penaten betrifft, bietet der 135 136

137 138

Oben 4 4 Anm  111 Aug doctr. christ 2,27 gibt eine Anekdote Varros wieder, nach der in einer griechischen Stadt ein künstlerischer Wettbewerb stattgefunden habe, in dem es darum ging, die Musen, eigentlich drei an der Zahl, darzustellen Drei Künstler hätten den Auftrag bekommen, alle drei Musen abzubilden Der Auftrag sei so gut ausgefallen, dass man beschlossen hätte, alle dreimal drei Statuen aufzustellen, etwas was zu der fehlerhaften Vorstellung geführt habe, es gebe neun Musen, und nicht nur drei Diese neun Musen seien im Nachhinein (postea) von Hesiod benannt worden (von dem wir wissen, dass er nach Varros Ansicht in etwa gleichzeitig mit Homer lebte, s Gellius 3,11) Cardauns führt diese Stelle aus Augustin im Apparat zu fr  212 an; bei Agahd steht sie als RD fr  15: 10 a Ov fast 6,257 ff ; Dion Hal 2,66,1; Plut Numa 11,1 Varro RD 1 fr  2 a (bei Aug civ 6,2 p  248,11) Varro spricht dabei von sacra Vestalia Cic Scaur 48 nennt ausdrücklich das Palladium Der Vestatempel als Ort des Palladiums auch z B bei Livius 5,52 und 26,27,14; Dion Hal 1,69,4 Wo das Bild sich in der Zeit nach der Rückgabe durch Diomedes befunden haben soll, ist nicht zu ermitteln Dass Aeneas es in einem Tempel in Lavinium untergebracht hat, von wo es nach Alba überführt worden ist, ist die naheliegendste Deutung der Tradition

4 4 Varro und der frührömische Kult ohne Götterbilder

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direkt überlieferte Text Anlass zu vermuten, dass Varro gemeint hat, die ursprünglichen Penatenbilder befänden sich noch zu seiner Zeit in Lavinium,139 mutmaßlich in dem Heiligtum, an dem das jährliche Staatsopfer der Magistrate stattfand 140 Nun ist der Penatentempel zu Lavinium nach Dionysios von Halikarnass 1,67,4 nicht öffentlich zugänglich gewesen 141 Wenn dies tatsächlich nicht der Fall war, kann Varro damit gerechnet haben, dass eine entsprechende Regelung von vornherein bestanden habe, so dass sowohl die Penatenbilder wie das Palladium also schon in frührömischer Zeit (und davor) den Blicken der Menge entzogen gewesen wären und ihre Gestalt somit nur der zuständigen Priesterschaft bekannt gewesen wäre 142 Darüber, welche exakte Rolle Varro ihnen im frührömischen Kult zugeschrieben haben mag und welches der Grund gewesen sein soll, dass sie dem Volk nicht exponiert wurden, wage ich nicht zu spekulieren, aber jedenfalls könnten sie in solchem Falle nicht dieselbe Rolle wie öffentlich aufgestellte Kultbilder gespielt haben, und sie könnten keinen Einfluss auf die Gottesvorstellung des Volks ausgeübt haben Varro hätte unter solchen Umständen mit seiner Angabe, die Römer hätten am Anfang ihren Kult ohne Götterbilder verrichtet, nicht gemeint, dass anthropomorphe Götterbilder gänzlich gefehlt hätten – nur der öffentlich begangene Kult wäre sine simulacro vor sich gegangen, während die wenigen anthropomorphen Götterbilder, die von den Trojanern eingeführt worden seien, sich in ein paar Tempeln versteckt befunden hätten, die nur von einer geringen Zahl von Priestern oder Priesterinnen betreten wurden, so dass ihr exaktes Aussehen nur diesen bekannt gewesen sei Ich habe mich in meiner Übersetzung von fr  18 bemüht, diesem Vorschlag gerecht zu werden, indem ich die Phrase qui primi simulacra deorum populis posuerunt folgendermaßen wiedergegeben habe: „diejenigen, die damit begonnen haben, öffentlich Götterbilder aufzustellen“ 143 Es mag kein Zufall sein, dass bei Aug civ 4,31 / RD 1 fr  18, anders als später bei Plutarch, Numa 8,14, nicht behauptet wird, dass keine Götterbilder überhaupt vorhanden gewesen seien 4.4.1.1. Die Frage der Authentizität von Fragment 205 Cardauns Das Fragment 205 Cardauns (=15: 3 a Agahd) spielt in der modernen Diskussion über Varros Konstruktion der frührömischen Religion eine hervortretende Rolle Im Fragment 205 wird eine Auffassung angeführt, nach der die Penaten mit Jupiter, Juno und Varro ling 5,144: „Das erste Städtchen römischen Bluts, das in Latium gegründet wurde, ist Lavinium, denn dort befinden sich unsere Penaten “ (Oppidum quod primum conditum in Latio stirpis Romanae, Lavinium: nam ibi dii Penates nostri ) Vgl Thomas 1990, 146; 156 f 140 Asconius Scaur p  24 Stangl (= 21 Clark); Servius auctus zu Aen 2,296; Macr Sat 3,4,11 Zu diesem Opfer s Thomas 1990 141 Vgl auch ebenda 1,68,1–2 142 Vgl Dion Hal 1,57 und Servius auctus zu Aen 3,1 143 Oben 4 2 , bei Anm  22 bzw 4 2 1 , bei Anm  39 139

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Minerva identisch sind Die drei Götter werden auf ihre kosmische Signifikanz hin charakterisiert Der Umstand, dass Tarquinius Priscus, hier ausdrücklich als Eingeweihter der samothrakischen Mysterien bezeichnet, diese drei Götter in einem Tempel untergebracht habe, soll darauf deuten, dass er diese – implizite mit den Riten in Samothrake übereinstimmende  – Vorstellung von den drei Göttern geteilt habe Das Fragment bildet die Grundlage für die moderne Vorstellung, dass Varro Tarquinius Priscus als eine Art Philosophenkönig betrachtet habe Allein auf dieses Fragment gestützt hat die Forschung sich das Bild konstruiert, Varro habe in Tarquinius einen Philosophenkönig gesehen Diese Konstruktion hat in vielfacher Hinsicht die Beurteilung wichtiger Inhalte der RD beeinträchtigt und schiefe Vorstellungen davon gezeitigt, wie Varro die Entwicklung der römischen Religion beschrieben hat Um tatsächlich vorhandene, unbestreitbare Inkonsequenzen und Unzulänglichkeiten zu entschärfen, sind andere, weit problematischere, konstruiert worden, die viel Verwirrung verursacht haben Die grundsätzlich ablehnende Haltung dem anthropomorphen Gottesbild gegenüber, die in fr  18 vorausgesetzt ist, ist bagatellisiert oder verkannt worden; und das erste Aufstellen von anthropomorphen Götterbildern mitsamt der dazugehörigen Begründung in fr  225, ein Ereignis der fernen Urzeit, ist fälschlich als eine Maßnahme des Tarquinius gedeutet worden 144 Die Frage der Authentizität des Fragments 205 ist methodisch bedeutsam, da sie die Prinzipien bei der Auswahl der Fragmente bzw bei der Gestaltung der Form, in der diese in den Sammlungen präsentiert werden, involviert Wir werden im Folgenden mit aller Deutlichkeit daran erinnert werden, dass die Fragmentsammlungen uns nicht von der Pflicht befreien, zusätzlich auch noch die Texte einzusehen, durch welche die als Fragmente aufgenommenen Stellen vermittelt worden sind Das Fragment steht bei Cardauns in folgender Fassung, aus Servius auctus zu Aen  2,296 (p  268,28 Thilo 1): … Penates esse … per quos penitus spiramus et corpus habemus et animi rationes possidemus; eos autem esse Iovem aetherem medium; Iunonem imum aëra cum terra, summum aetheris cacumen Minervam Quos Tarquinius Demarati Corinthii filius Samothraciis religionibus mystice imbutus, uno templo et sub eodem tecto coniunxit 145

144 S oben 4 2 , m Anm  23 ff ; 4 2 1 , m Anm  43; 4 2 2 , nach Anm  69 145 Serv auct zu Aen 2,296: „Die Penaten sind diejenigen, durch die wir im Inneren (penitus) atmen, einen Körper haben und Denkvermögen besitzen Sie sind Jupiter, der mittlere Äther, Juno, die niedere Luft mitsamt der Erde, und der höchste Gipfel des Äthers, Minerva Diese drei Götter hat Tarquinius, Sohn des Demaratus aus Korinth, der die Einweihung der samothrakischen Mysterien erfahren hatte, in einem Tempel und unter demselben Dach zusammen untergebracht “ Die übergeordnete Konstruktion des einleitenden a c i :s (bei Cardauns im Apparat, bei Agahd im Haupttext p  188 angeführt) lautet: Nonnulli tamen Penates esse dixerunt, per quos etc „Einige haben gesagt, dass / die Penaten diejenigen seien … (usw ) /

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Dieser nicht völlig mit vertrauten philosophischen Theorien übereinstimmende Inhalt will anscheinend sagen, dass der mittlere Äther, d h Jupiter, das lebensspendende Prinzip sei, dass die niedere Luft und die Erde ( Juno) der Materie entsprächen, während der höchste Teil des Äthers (wie ich vermute) die göttliche Vernunft sei Eine gedankliche Verbindung so enger Art mit fr  206 (civ 7,28 p  311,14), wie sie Cardauns im Kommentar zu fr 205/207 erkennen will, besteht nicht 146 Cardauns führt im Apparat zum Fragment einen sehr ähnlichen Abschnitt aus Macrobius, Saturnalia 3,4,8 an, dazu noch einen Satz verwandten Inhalts aus Arnobius Adversus nationes 3,40 Agahd führte sowohl Macrobius als auch Servius auctus als Fragment 15: 3 a auf (p  187 f ), und zwar Macrobius an erster Stelle, Servius auctus an zweiter Der betreffende Satz aus Arnobius 3,40 steht bei ihm als fr 15: 3 c Bei Macrobius geht ein kurzes Referat zum Ursprung der Penaten(bilder), wie er von Varro in den RH dargelegt worden sei, der Auskunft über die Identität und Funktion der Penaten voraus, wobei betont wird, dass Varro in RH 2 nichts zur Frage gesagt habe Es folgt dann ein Hinweis auf andere, nicht namentlich genannte Gewährsleute, welche die uns hier interessierende Auffassung in dieser Frage vertreten haben sollen 147 Im weiteren ist der Wortlaut dem von Servius auctus fast zum Verwechseln ähnlich Varro berichtet im zweiten Buch der Res Humanae, wie Dardanus die Penatengötter aus Samothrake nach Phrygien brachte und wie Aeneas sie dann nach Italien überführte Darüber, wer die Penatengötter seien, äußert sich Varro im genannten Buch nicht Aber diejenigen, die mit besonderem Fleiß nach der Wahrheit graben, haben gesagt, dass die Penaten diejenigen seien … usw

Etwas anders als bei Servius auctus ist die Verbindung vom Tempelbau des Tarquinius mit der Erläuterung der Identität der Penatengötter hier explizit: … dass die Penaten diejenigen seien, durch die wir im Inneren (penitus) atmen, durch die wir einen Körper haben, durch die wir Denkvermögen besitzen; Jupiter sei der mittlere Äther, Juno die niedere Luft mitsamt der Erde, und Minerva der höchste Gipfel des Äthers Und als Beweis dafür führen sie an, dass Tarquinius, Sohn des Demaratus aus Korinth, der die Einweihung der samothrakischen Mysterien erfahren hatte, die genannten Gottheiten in einem Tempel und unter demselben Dach zusammen untergebracht hat 148 146 S hier unten (mit Anm  179 ff ) 147 Zur entsprechenden Phrase bei Servius auctus, s oben Anm  145 a E 148 Macr Sat 3,4,7: Varro Humanarum secundo Dardanum refert deos Penates ex Samothrace in Phrygiam, et Aeneam ex Phrygia in Italiam detulisse. qui sint autem di Penates in libro quidem memorato Varro non exprimit: (§ 8) sed qui diligentius eruunt veritatem, Penates esse dixerunt per quos penitus spiramus, per quos habemus corpus, per quos rationem animi possidemus: esse autem medium aethera Iovem, Iunonem vero imum aëra cum terra et Minervam summum aetheris cacumen: et argumento utuntur quod Tarquinius, Demarati Corinthii filius, Samothraciis religionibus mystice imbutus, uno templo ac sub eodem tecto numina memorata coniunxit.

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Arnobius 3,40 bietet folgendes: Und es hat nicht an Autoren gefehlt, die geschrieben haben, dass Jupiter, Juno und Minerva die Penaten seien, ohne die wir nicht zu leben und verständig zu sein vermögen, sondern die uns im Inneren durch Vernunft, Wärme und Lebenshauch lenken 149

Varro wird im vorangehenden angeführt, und zwar geht es gerade um seine Meinung zur Identität und Funktion der Penaten, eine Meinung, der die hier soeben angeführte durch die Worte „und es hat nicht an Autoren gefehlt, die geschrieben haben …“ kontrastierend gegenüber gestellt wird Ich komme noch unten darauf zurück Dass diese drei Texte sehr eng miteinander verwandt sind und  – mittelbar oder unmittelbar – auf dieselbe Quelle zurückgehen, leuchtet ein Wissowa wollte sie seinerzeit zusammen mit dem vorangehenden Kontext bei Arnobius und Macrobius und einigen inhaltlich damit verwandten Stellen bei Servius und Servius auctus insgesamt auf einen Traktat des römischen Neuplatonikers Cornelius Labeo zurückführen 150 Dieser habe jedoch die meisten der von ihm genannten Autoren nicht selbst eingesehen – Wissowa schlägt vor, seine direkte Quelle sei eine Monographie des Hyginus über die Penaten 151 Ganz abgesehen davon, dass die Glanztage der Quellenforschung und ihrer Kombinationsfreude schon längst vorbei sind und die Vorstellung von Labeos überragender Bedeutung für Arnobius und für das spätantike antiquarische Wissen inzwischen als überholt gilt,152 ist Wissowas These mit ernsthaften methodischen Problemen behaftet, die um so mehr nach einer erneuten Konfrontation verlangen, als Wissowas Argumentation offensichtlich die einzige Basis für die Entscheidung Agahds bildete, die drei Stellen unter die Fragmente aufzunehmen 153 Immerhin bekundete Agahd durch ein Sternchen sowohl bei 15: 3 a wie bei 3 c gewisse Zweifel daran, ob der Inhalt als echt-varronisch zu betrachten sei 154 Bei Cardauns kommt keine solche Vorsicht mehr zum Ausdruck Wie wir gesehen haben, wird an allen drei Stellen auf gewisse, nicht namentlich genannte Gewährsleute hingewiesen, die die betreffende Ansicht zur Identität und Funktion der Penaten geäußert haben sollen Bei Cardauns finden wir diese einleiten149 Arnobius nat 3,40: Nec defuerunt, qui scriberent Iovem, Iunonem ac Minervam deos Penates existere, sine quibus vivere ac sapere nequeamus, sed qui penitus nos regant ratione, calore ac spiritu 150 Es handelt sich um die oben Anm   129 genannten Serviusstellen, dazu noch Servius auctus zu Aen  3,118 f und 2,325 (Wissowa 1904, 102 f = 1886, 35 f ) Macrobius weist kurz vor dem uns betreffenden Abschnitt auf Labeo anlässlich einer weiteren Auffassung von der Identität der Penaten hin (3,4,6), und zwar soll er dieselbe Meinung vertreten haben wie Nigidius (Figulus), ein Zeitgenosse Varros, der auch bei Arnobius eine Rolle spielt 151 Wissowa ebenda 123 (= 53) 152 S Wlosok, HLL 5, 1989, § 569 (Arnobius), S  372; Sallmann, HLL 4, 1997, § 409 (Cornelius Labeo), S  78 153 Agahd 1898 p  11 (wozu s unten, bei Anm  181) sowie p  187 n  3 154 Zur Signifikanz des Sternchens (und einiger anderer Zeichen) bei Agahd s dort p  137

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den Phrasen nur im Apparat, aber bei Agahd stehen sie im Haupttext Ohne Zugang zum Text im Vorangehenden muss der Leser davon ausgehen, Varro sei zu den nicht näher gekennzeichneten Autoren zu zählen (nonnulli; qui diligentius eruunt veritatem; nec defuerunt, qui …) Er wird selbstverständlich damit rechnen, dass die Herausgeber der Fragmentsammlungen im Wesentlichen gute Gründe gehabt haben, diese Abschnitte als varronisch zu betrachten, obwohl Varros Name ebenso wenig wie der anderer Autoren genannt wird Um so größer wird seine Überraschung sein – falls er sich die Mühe geben sollte, die vermittelnden Texte selbst zu befragen – dort zu entdecken, dass die betreffenden Texte zwar gewisse Aussagen im Vorangehenden Varro zuschreiben, dass aber der kleine Textteil, der uns hier interessiert, in zweien der Abschnitte geradezu als nicht-varronisch präsentiert wird 155 Die Phrasen, die auf die anonymen Gewährsleute hinweisen, dienen dazu, das folgende von den vorausgehenden, ausdrücklich Varro zugeschriebenen Äußerungen abzuheben Bei Macrobius finden wir folgendes (3,4,7): Varro berichtet im zweiten Buch der Res humanae, wie Dardanus die Penatengötter aus Samothrake nach Phrygien brachte und wie Aeneas sie dann nach Italien überführte Darüber, wer die Penatengötter seien, äußert sich Varro im genannten Buch nicht Aber diejenigen, die mit besonderem Fleiß nach der Wahrheit graben, haben gesagt, dass die Penaten diejenigen seien, durch die wir im Inneren atmen … (usw ) 156

Noch auffallender ist die Lage bei Arnobius Denn dieser schreibt im Vorangehenden Varro eine ganz andere Theorie über das Wesen der Penaten zu: Varro qui sunt introrsus atque in intimis penetralibus caeli deos esse censet quos loquimur nec eorum numerum nec nomina sciri hos Consentes et Complices Etrusci aiunt et nominant, quod una oriantur et occidant una, sex mares et totidem feminas, nominibus ignotis et miserationis parcissimae, sed eos summi Iovis consiliarios ac participes existimari nec defuerunt qui scriberent Iovem, Iunonem ac Minervam deos Penates existere sine quibus …157

155 156

157

Dies gilt von Macrobius und Arnobius Bei Servius auctus zu Aen 2,296 ist Varro überhaupt nicht genannt Macr Sat 3,4,7 f : Varro Humanarum secundo Dardanum refert deos Penates ex Samothrace in Phrygiam, et Aeneam ex Phrygia in Italiam detulisse. qui sint autem di Penates in libro quidem memorato Varro non exprimit: (§ 8) sed qui diligentius eruunt veritatem, Penates esse dixerunt per quos penitus spiramus … Vollständiger Text oben Anm  148 Arnobius nat 3,40: „Varro ist der Meinung, dass die Götter, von denen wir gerade sprechen / d h die Penaten /, diejenigen seien, die sich im Allerinnersten des Himmels befinden (introrsus atque in intimis penetralibus caeli), und dass weder ihre Anzahl noch ihre Namen bekannt seien Die Etrusker sagen, dass diese die Gemeinsam Beratenden Götter (Consentes) und die Verbündeten (Complices) seien, und zwar nennen sie sie so, weil sie gleichzeitig aufgehen und gleichzeitig untergehen / es handelt sich also um Sterngötter, MWS / Es sind sechs männliche und ebensoviele weibliche Götter; ihre Namen sind unbekannt, und sie zeigen sehr wenig Erbarmen, man halte sie aber für Beisitzer und Genossen Jupiters des höchsten Andererseits hat es nicht an Autoren gefehlt, die geschrieben haben, dass Jupiter, Juno und Minerva die Penaten seien, ohne die … (usw , s Anm 149) “

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Unabhängig davon, ob die Auskunft über die Auffassung der Etrusker zu Varros Darstellung gehört oder nicht,158 besteht nicht der geringste Zweifel daran, das vom Standpunkt des Arnobius selbst die Gleichung Jupiter, Juno und Minerva = Penaten und die zusätzliche Charakterisierung der drei Götter mit Varro nichts zu tun haben Nichtsdestoweniger schreibt Wissowa Varro die gesamte Information zu, die hier wiedergegeben wird, einschließlich der hier von mir nicht angeführten ersten Sätze von nat 3,40, in denen Ansichten des Nigidius sowie eines gewissen Caesius wiedergegeben werden, Ansichten, die diese im Anschluss an etruskische Lehre geäußert haben sollen Dabei sollen – so Wissowa – sowohl Varro wie Nigidius gesondert über die etruskischen Penaten gehandelt haben;159 das, was wir über die Stern-Penaten erfahren, sei nicht Varros eigene Wiedergabe der etruskischen Tradition, sondern sei von ihm als Ansicht des Nigidius referiert worden Erst später sei der Stoff zusammengewürfelt worden, entweder von Labeo oder von Arnobius, so dass das, was Varro aus Nigidius angeführt und vielleicht kritisiert habe, fälschlich ihm selbst zugeschrieben worden sei 160 Arnobius ist nur das letzte Kettenglied in Wissowas Gesamtkonstruktion von Varros Behandlung der Penaten in den RD Zuvor hatte er, wie wir gesehen haben, auch die übrigen hier oben besprochenen Textstellen, die für fr  205 C bzw 15: 3 Agahd eine Rolle spielen, sowie auch noch einige andere auf Labeo zurückgeführt,161 und letzten Endes auf Varro Die unmissverständliche Implikation der Phrasen, die das angebliche Fragment einführen, hat er dabei entweder vernachlässigt oder übersehen Er beschreibt diese Phrasen als „allgemeine Bezeichnungen“,162 aber diese Beschreibung ist irreführend, insofern als der Wortlaut bei Macrobius und Arnobius jedenfalls eine durchaus bestimmte Schlussfolgerung erlaubt, oder richtiger, erzwingt, nämlich dass das was folgt gerade nicht dem Autor zugeschrieben wird, der vorher angeführt worden ist Mit anderen Worten: Hier soll nicht mehr Varro sprechen Der Umstand, dass die Deutung der Penaten als Jupiter, Juno und Minerva „in unmittelbarer Verbindung Formell sieht es jedenfalls nicht danach aus, da diese Mitteilung nicht mehr von Varro censet abhängig ist 159 Indem Wissowa geltend macht, die von Arnobius ausdrücklich Varro zugeschriebene Position betreffe die etruskischen Penaten, schafft er sich die Möglichkeit, die am Ende unseres Abschnitts vorgelegte Theorie, die augenscheinlich dazu im Widerspruch steht, als Standpunkt in der Frage nach dem Wesen der römischen Penaten Varro zuzuschreiben, freilich unter Nichtberücksichtigung der Art, wie diese Meinung von Arnobius präsentiert wird Bei Agahd steht der Teil von Arnobius 3,40, der als varronisch bezeichnet wird, als fr 15: 6 (p  188) Dagegen hat Cardauns ihn als Fragment fallen lassen Er wird im Apparat zu fr  208 angeführt S auch die Bemerkung darüber im Kommentar zu fr  208 (S  222) 160 S Wissowa 1904, 124–128, bes 126 f (= 1886, 53–57, bes 55 f ) 161 Labeo sei von Arnobius direkt benutzt worden; im Falle des Serviuskommentars und des Macrobius postuliert Wissowa eine Mittelquelle (Wisssowa 1904, 121 = 1886, 51) 162 Wissowa 1904, 119 = 1886, 49: „… offenbar hatte bereits Cornelius Labeo den Namen des Urhebers / der im Folgenden angeführten Auffassung von den Penaten, MWS / verschwiegen, da alle drei Kompilationen sich mit allgemeinen Bezeichnungen (nec defuerunt qui scriberent, qui diligentius eruunt veritatem, nonnulli) begnügen “ 158

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mit der varronischen Überlieferung“ steht, legt also keineswegs die Vermutung nahe, dass „derjenige, der zuerst diese Citatenreihe zusammenstellte / wie sie bei Macrobius vorliegt, MWS /, die Deutung der Penaten, die er im zweiten Buch der antiq. rer. hum nicht fand,163 aus den antiqu. rer. div desselben Varro entnahm“ 164 Im Gegenteil kann man aus dem Wortlaut der Übergangsphrasen soviel schließen, dass diese Deutung der Penaten nicht aus Varro stammen soll Wissowa will zusätzlich noch die varronische Echtheit der Vorstellung von den drei kapitolinischen Göttern, wie sie in 205 C zum Ausdruck kommt, mit Hinweis auf ein paar Stellen bei Augustin unterbauen, die er als sicher varronisch ausgibt Die Deutung der kapitolinischen Trias als „Luftgötter“ (Wissowa S  121) sei durch Aussagen in civ  4,10 als varronisch nachzuweisen Es handelt sich einmal um civ 4,10 p  157,17: Warum gibt man ihm / d h Jupiter / Juno zur Gattin und nennt sie ‚Schwester und Gattin‘? – „Weil wir Jupiter im Äther lokalisieren“, antworten sie, „und Juno in der Luft, und diese beiden Elemente verbunden sind, das eine als das obere, das andere als das untere,“165

ferner um 4,10 p  158,10 ff , und bes um Z  12 f : … wenn sie sagen, dass Minerva über den oberen Teil des Äthers herrsche und die Dichter davon ausgehend vorgeben, dass sie aus Jupiters Kopf geboren worden sei …166

Die varronische Authentizität dieser Aussagen sei durch den nahverwandten Inhalt von civ 7,6 bzw 7,16 garantiert, wo Varro namentlich genannt werde Dies trifft jedoch in Wirklichkeit nur bedingt zu (Die betreffenden Stellen werden von Wissowa nicht ausdrücklich angeführt 167) In civ 7,6 wird explizit aus RD 16 zitiert, aber was angeführt wird, stimmt weder mit civ 4,10 noch mit unserem Fragment 205 C überein Im Gegenteil liefert die varronische Doktrin in civ 7,6 (fr  226 C bzw 16: 3 A p  198,21) ein triftiges Argument gegen Wissowas These Dort erfahren wir nämlich, dass Varro sich für eine Zweiteilung des Kosmos in caelum et terra eingesetzt habe Diese beiden Teile seien ihrerseits jeweils in zwei Hauptteile gegliedert, wobei aether und aër unter caelum fallen, während terra dagegen aqua und terra umfasse Augustin hat an anderer Stelle klargemacht, dass Juno für Varro im zweitletzten Buch terra sei (fr  206 C = 15: 4 A, aus Da ja Varro im zweiten Buch der RH zur Identität der Penaten nichts gesagt haben soll, s den Text aus Macr Sat 3,4,7 oben, m Anm 148 164 Wissowa ebenda 165 Aug civ 4,10 p  157,17: Cur illi etiam Iuno uxor adiungitur, quae dicatur ‚soror et coniunx‘? Quia Iovem, inquiunt, in aethere accipimus, in aëre Iunonem, et haec duo elementa coniuncta sunt, alterum superius, alterum inferius, ≈ fr  28 Cardauns, bei Agahd Teil von fr  1: 21 und mit dem Sternchen versehen (wozu s oben Anm  154) 166 Aug civ 4,10 p   158,12: Aut si aetheris partem superiorem Minervam tenere dicunt et hac occasione fingere poetas quod de Iovis capite nata sit …, ≈ fr  278 bei Cardauns; 16: 61 bei Agahd 167 Statt dessen beruft er sich auf eine Abhandlung aus dem Jahr 1836 (Francken, Fragmenta M. Ter. Varronis quae inveniuntur in libris S. Augustini de civitate dei, Leiden, p  9 und 67, von mir nicht eingesehen), und (im Neudruck seines Artikels von 1904) außerdem auf Agahd p  31 163

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

civ  7,28 p  311,14), und diese Information können wir im direkt überlieferten Text von ling 5 bekräftigen – wir haben uns oben mit dem einschlägigen Abschnitt auseinandergesetzt 168 Das bedeutet, dass Juno in dieser Phase der Arbeit an den RD für Varro keine ‚Luftgöttin‘ gewesen ist Wer den Verdacht hegt, dass der imus aër vielleicht doch mit terra und nicht mit aether und aër gehe, kann sich anhand von ling  5,65 vom Gegenteil überzeugen Dort zitiert Varro mit Billigung und als Bekräftigung für seine eigene Position eine Äußerung des Ennius: Diese nämlichen Götter Himmel (Caelum) und Erde (Terra) sind zugleich Jupiter und Juno, weil, wie Ennius sagt, „dieser der Jupiter ist, den ich meine, der von den Griechen aer genannt wird, der auch Wind und Wolke ist und dann Regen, und aus dem Regen entsteht Kälte, dann auch Wind und aufs neue aer “169

In civ 7,16 ist Varro dagegen nicht erwähnt, wenn auch teilweise deutlich genug auf ihn angespielt wird, etwa durch Rückverweis auf civ 7,9 und durch die Verwendung des Begriffs di selecti Was dieses Kapitel betrifft, scheinen mir sowohl Wissowa wie die Herausgeber der Fragmentsammlungen Augustins Anliegen weitgehend missverstanden zu haben Wir haben es in diesem Kapitel mit einem Problem zu tun, auf das ich schon aufmerksam gemacht habe: Die angeführten Ansichten werden in lockerer Weise paganen Stimmen im Allgemeinen zugeschrieben 170 Wenn es nun hier heißt, dass „sie“ der Meinung seien, Mater Magna und Ceres seien identisch, und dass sie dabei auch sagen, dass diese Göttin nichts als die Erde sei, und dann noch behaupten, diese sei auch Juno, dürfen wir zwar davon ausgehen, dass hier (u a ) varronische Lehre wiedergegeben wird, eben weil Ähnliches an anderer Stelle Varro explizit zugeschrieben wird (vgl civ 7,24 = fr  268 C bzw civ 7,28 p  311,14 = fr 206171) und es sich außerdem aus der direkten Überlieferung bekräftigen lässt Wenn es aber weiter unten in civ 7,16, an der Stelle, auf die es Wissowa abgesehen haben muss, von Juno u a heißt, sie sei sowohl Luft wie Erde (et Iuno aër et Iuno terra, p  294,34), geht es, wie ich glaube, darum, auf die Uneinigkeit, die der paganen Theologie im Allgemeinen eigen sei, hinzuweisen Augustins Angriffspunkt in diesem Kapitel ist vor allem der Umstand, dass manchmal eine Erscheinung mit mehreren Göttern gleichgestellt werde, dass es aber andererseits auch vorkomme, dass eine Gottheit für mehrere Erscheinungen zuständig sei oder damit identifiziert werde 172 Die wesentliche Pointe wäre demzufolge nicht die, dass irgendjemand, etwa Varro, eine These verfochten habe, derart, dass Iuno für beide Bereiche, Luft und Erde, gelte, sondern die, dass die pagane Welt 168 S oben 4 2 2 , bei Anm 58 ff Zu Fragment 206 C s hier gleich unten 169 Ennius Epicharmus fr  7 p  222 Vahlen = Epicharmus 10–14 Warmington 1, S  414: Idem hi di Caelum et Terra, quod, ut ait Ennius, istic est is Iupiter quem dico, quem Graeci vocant aërem, qui ventus est et nubes, imber postea, atque ex imbre frigus, ventus post aër denuo fit 170 S oben 4 2 2 Anm  51 171 Unten, mit Anm 179 angeführt 172 Civ 7,16 p  294,34: Et aliquando unum deum res plures, aliquando unam rem deos plures faciunt

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sich nicht einigen könne, ob sie nun Luft oder Erde sei Deshalb wählt es Augustin, die Thesen unter einem unbestimmten Subjekt in Mehrzahl zu präsentieren 173 Die sonst unbegründete anaforische Wiederholung des Namens Iuno (et Iuno aër et Iuno terra) ist die sprachliche Auswirkung des Umstands, dass es um zwei getrennte Aussagen geht Die Auffassung von Juno als Luft (nicht als Luft und zugleich als Erde!) hat Augustin aus anderen Quellen als den RD, etwa Ciceros De natura deorum,174 ein Werk, auf das er sich oft bezieht Wenn wir nun dafür, dass Varro solche doppelte Meinung vom Wesen der Juno umfasst habe, keine bestätigende Evidenz besitzen – im Gegenteil, die unbestreitbar authentische Evidenz zeigt ja, wie wir gesehen haben, dass Varro die Juno eben nicht mit der Luft gleichgesetzt hat175 – sollten wir ihm diese auch nicht zuschreiben Zwar gelten unsere Belege für die Spätphase, während für die Frühphase kein stichhaltiges Zeugnis für Varros Vorstellung von Juno überhaupt vorliegt Aber gerade aus dem Grund erscheint es mir nicht methodisch ratsam, eine andere Position als die für die späteren Bücher bezeugten kurzerhand zu postulieren 176 Was fr  205 betrifft, ist sein vermeintlicher Platz in Buch 15, und es würde sich hier also ohnehin um die späten Bücher handeln Was ich hier gesagt habe, gilt auch von Minerva Auch sie ist in civ  7,16 ein paar mal erwähnt „Minerva ist der höchste Teil des Äthers, aber Minerva ist zugleich auch der Mond, von dem sie meinen, dass er sich an der untersten Grenze des Äthers befinde“ 177 Auffassungen vom Wesen Minervas werden referiert, die von verschiedenen paganen Vertretern umfasst worden sind Die Absicht ist also nicht, zu behaupten, gerade Varro hätte sich für die Meinung eingesetzt, Minerva sei sowohl der höchste Teil des Äthers wie der Mond Es fällt schwer, zu glauben, dass Augustin sich in solchem Falle die Gelegenheit hätte entgehen lassen, Varros widersprüchliche Haltung besonders zu brandmarken Wir haben ja oben gesehen, wie er seinen Haltungswechsel hinsichtlich der Götterbilder verhöhnt hat 178 Und gleich hier unten werden wir auf einen weiteren Fall stoßen, wo Augustin es nicht versäumt hat, eine widersprüchliche Meinung Varros herauszustellen, und zwar gerade Minerva betreffend

173 174 175

176 177 178

Im nächsten Kapitel, 7,17, wendet sich Augustin dann wieder Varro allein voll zu (ipse Varro p  295,12; zur Phrase s oben Anm  80) S oben 3 1 1 , m Anm  18 Cardauns führt nur die zweite Erwähnung von Juno in civ 7,16 – d h die Stelle, die die Worte et Iuno aër et Iuno terra enthält – als Fragment auf (272, Buch 16) Agahd (fr  16: 52 p  215) zeigte hier mehr Umsicht, indem er es wählte, die frühere Stelle zuerst anzuführen, und dann erst die zweite, wobei er die Worte et Iuno aër zwischen Sternchen setzte (s oben Anm  154) Cardauns akzeptiert civ 4,10 p   157,17 (Cur illi etiam Iuno uxor adiungitur  … Text oben, mit Anm  165) als Fragment und reiht es ins erste Buch ein, fr  28 C Agahd brachte es ebenfalls unter den Fragmenten dieses Buch, 1: 21, allerdings markiert er es mit einem Sternchen Civ 7,16 p  295,1: … Minerva summus aether et Minerva itidem luna, quam esse in aetheris infimo limite existimant Vgl ibid p  294,19: … eandem vel summum aethera vel etiam lunam esse dixerunt (fr 16: 60 A und vgl 277 C) Oben 4 2 2 a E und vgl Verf 2006

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Über Varros Auffassung von Minerva sind wir schlechter informiert als über seine Vorstellung von Iuno Das einzige sichere Zeugnis dazu besitzen wir in civ 7,28 p  311,13 (fr 206 C, 15: 4 A) Ich habe die Stelle oben schon gestreift, da sie auch Juno betrifft Varro legt hier seine persönliche Deutung einiger Götterbilder in Samothrake vor Er sei selbst zu dem Schluss gekommen, dass eins der Standbilder den Himmel bezeichne, ein zweites die Erde, ein drittes die exempla rerum, die Platon ‚Ideen‘ nennt Den Himmel versteht er als Jupiter, die Erde als Juno, die Ideen als Minerva, und zwar „sei es der Himmel, von dem etwas geschaffen werde, die Erde, aus der etwas geschaffen werde, und das Exemplum (das Vorbild) sei es, gemäß dem etwas geschaffen werde “179 Wissowa ordnete dieses Zeugnis, das deutlich von Augustin als dem 15 Buch zugehörig gekennzeichnet wird (p  311,8 und 22), der übrigen von ihm Varro zugewiesenen Diskussion über das Wesen der Penaten zu 180 Agahd übernahm diese Gruppierung in ausdrücklicher Anlehnung an Wissowa und bemühte sich nun darum, die Charakterisierungen der Minerva in den beiden Fragmenten 15: 3 und 15: 4 (205 und 206 C) als übereinstimmend zu erweisen 181 Die Brücke zwischen der Vorstellung von Minerva als den Ideen und Minerva als summum aetheris cacumen bildete für ihn diejenige Weiterentwicklung der platonischen Lehre, die die Ideen als Gedanken Gottes versteht Als Beispiel dieser Erscheinung wählte er Hippolytos Phil  19,2, wo die Ideen (das Vorbild, das παράδειγμα) den Gedanken (der διάνοια) Gottes gleichgesetzt werden und „gleichsam als Bild, auf das Gott in seiner Seele hinschauend das All schuf “, charakterisiert werden 182 Das vielbesprochene Problem der Herkunft und Verbreitung dieser Vorstellung soll uns hier nicht beschäftigen 183 Dass sie im Varro-Fragment 206 C voraussetzen sei, ist später mehrfach wiederholt worden 184 Minerva sei mit anderen Worten im Sinne von Ideen = Gedanken Gottes zu verstehen Es gibt jedoch, wie ich glaube, allen Anlass, diese Meinung in Frage zu stellen Wo caelum ( Jupiter) das schaffende Prinzip, d h Gott, ist, müsste Minerva, um mit Gottes Gedanken identisch zu sein, innerhalb des Himmels, d h im Geiste Gottes, sein Aber nach Augustins Deutung der Aussage (auf

Civ 7,28 p  311,10 (≈ fr  206 C bzw 15: 4 A): Dicit enim se multis indiciis collegisse in simulacris aliud significare caelum, aliud terram, aliud exempla rerum, quas Plato appellat ideas; caelum Iovem, terram Iunonem, ideas Minervam vult intellegi; caelum a quo fiat aliquid, terram de qua fiat, exemplum secundum quod fiat. 180 Wissowa 1904, 117 f = 1886, 48 f 181 Agahd 1898, 11 f 182 Hippolytos Phil 19,2 = Dox p  567 (Hippolytos Ref 1,19,2 p  76 Marcovich): … τὸ δὲ παράδειγμα τὴν διάνοιαν θεοῦ εἶναι· ὃ καὶ ἰδέαν καλεῖ / scil Platon /, οἷον εἰκόνισμά τι, ᾧ προσέχων ἐν τῇ ψυχῇ ὁ θεὸς τὰ πάντα ἐδημιούργει 183 Kurz dazu bei Dillon 1993, 94 (vgl 66 f ); Ferrari 2005, 18; 20–23: ausführlich, mit Beispieltexten, bei Baltes 1998, 233; 240–246, anhand von Beispieltext 127 4 (Alkinoos, Didaskalikos 9), ebenda S  20 S auch unten Kap  5 3 , m Anm 107 184 S z B Theiler 1930, 19; Pohlenz 1948 2, 132 („vielleicht schon Varro bekannt“); Cardauns 1976, 221; Dillon 1993, 93 (dort fälschlich als civ 7,8 angegeben) 179

4 4 Varro und der frührömische Kult ohne Götterbilder

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die ich gleich unten zurückkomme) ist Minerva hier jenseits des Himmels (supra ipsum caelum) verlegt 185 Dies ist allerdings nicht mein Haupteinwand Dieser gilt vielmehr der Art, wie Agahd in unser angebliches Fragment sowie auch in die hier oben schon genannten Stellen aus civ 4,10 und 7,16 (Stellen, die nicht nur von Wissowa, sondern auch von Agahd als authentische varronische Doktrin akzeptiert wurden, Agahd fr  16: 61 bzw 60, p  215) dieselbe Vorstellung von Minerva hineininterpretierte, wie er sie in fr  15: 4 (= 206 C) wiederfinden wollte Was gibt uns Anlass, anzunehmen, dass ein Leser im Altertum eine Charakterisierung von Minerva als „dem höchsten Teil des Äthers“ im Sinne von den Ideen, den „Gedanken Gottes, auf die er in der Seele hinschauend die Welt schuf “, verstanden hätte? Oder aber anders ausgedrückt: Worin unterscheidet sich die Charakterisierung von Minerva an diesen Stellen vom Athena-Verständnis des Diogenes von Babylon, mit dem wir im dritten Kapitel zu tun hatten?186 Dort gilt Athena als derjenige Teil des Zeus, der sich bis in den Äther erstrecke, und damit steht sie auf einer Stufe mit den übrigen Olympiern – Poseidon soll der Teil von Zeus sein, der ins Meer reiche, Hera derjenige, der in die Luft reiche Ich denke, ein zeitgenössischer Leser müsste die kurze Angabe, Athena sei summum aetheris cacumen (aetheris pars superior, summus aether) spontan so verstehen, und nicht anders Weder in fr  205 C / 15: 3 A, noch in civ 4,10 und 7,16 ist mit einem Wort angedeutet, dass Minerva für das Vorbild stehe, auf das hinschauend Gott seine Schöpferaufgabe erfülle In Kap  20 des Cornutus, einer Stelle, die ebenfalls in der Diskussion um die Ideen als Gedanken Gottes aufgetreten ist,187 gilt Athena als σύνεσις θεοῦ (φρόνησις, ἡγεμονικόν …) 188 Auch hier ist in keiner Weise signalisiert, dass sie mit Gottes Gedanken gleich sei; vielmehr bildet sie das Organ oder die Eigenschaft, mit dem Gott denkt Agahd geht, wie ich glaube, zu großzügig vor, wenn er nach dem Zitat aus Hippolytos kurzerhand feststellt (p  12): „Idea autem vel mens Dei secundum Stoicorum interpretationem superiore parte Dei vel aetheris cacumine significatur “ Die mens dei kann, soviel ich verstehe, unmöglich zugleich das Vorbild sein, auf das Gott hinschaut Die Gedanken Gottes können nicht mens dei sein, sie müssten in mente dei sein 189 185 186 187 188

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Vgl Baltes 1996, S  389–392, bes 391 f (Baustein 113 1) und, bes , Baltes 1998, 313 Philodemos piet col 8,14, oben 3 1 1, mit Anm  38 Theiler 1930, 19 Cornutus 20,1 f 670–680 Nesselrath: „Athene ist die Intelligenz (σύνεσις) des Zeus; sie ist mit der in ihm befindlichen Vorsehung identisch … Es heißt, dass sie aus dem Kopf des Zeus geboren wurde, vielleicht weil die Alten angenommen haben, dass das lenkende Prinzip unserer Seele dort angesiedelt sei, wie es auch andere, die nach diesen lebten, meinten; vielleicht auch, weil der oberste Teil des Körpers der Kopf und des Kosmos der Äther ist, wo sein lenkendes Prinzip und die Substanz des Denkens sind …“ (Übersetzung Berdozzo in Nesselrath 2009 a, 71) Die Distinktion wird in Senecas 65 Brief § 7 deutlich (eine Stelle, die für die Frage nach Alter und Herkunft der Vorstellung von den Ideen als Gedanken Gottes eine Rolle spielt s bes Theiler 1930, 15 ff ): haec exemplaria rerum omnium deus intra se habet numerosque universorum, quae agenda sunt, et modos mente complexus est: plenus his figuris est, quas Plato ideas appellat

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Falls jemand geltend gemacht hätte, Minerva sei wie sie in civ 4,10 und in Macr   Sat   3,4,8 / Servius auctus zu Aen 2,296 (d h fr   205  C) dargestellt wird, und dann gleichzeitig die Meinung vertreten hätte, Minerva sei die Ideen, dann wäre dies ein mindestens ebenso auffallender Widerspruch wie derjenige, den Augustin in 7,28 Varro zuschreibt und kritisiert Er sagt nämlich, dass Varro in Buch 16 offensichtlich seine in Buch 15 vorgelegte Theorie von der Signifikanz der drei Götter ganz und gar vergessen haben müsse In RD 16 habe er nämlich alle männlichen Götter dem caelum zugewiesen, und alle Göttinnen entsprechend auf die terra bezogen Das habe beispielsweise zur Folge, dass Minerva zur Erde gehöre, während sie doch früher (in Buch  15) sogar oberhalb des Himmels angesiedelt worden sei 190 Wäre nun die Ansicht, Minerva sei der obere Teil des Äthers – oder gar oberster Teil des Äthers und auch noch Mond bei Varro zu finden gewesen, und außerdem noch die Behauptung, sie sei den Ideen gleichzusetzen (ob als Gedanken Gottes verstanden oder nicht), dann hätte Augustin es schwerlich versäumt, damit seinen Spott zu treiben, und um so eifriger hätte er dies wohl getan, wenn diese beiden Vorstellungen sogar nebeneinander im selben Buch gestanden hätten (wie es nach Agahd und Cardauns mit fr  15: 3 und 15: 4 / 205 und 206 der Fall ist) 191 Theoretisch bestünde die Möglichkeit, dass Varro in den frühen Büchern der RD den von RD 15 abweichenden Standpunkt verfochten hätte, Minerva sei der höchste Teil des Äthers 192 Eine Evidenz dafür besitzen wir freilich nicht, und so wäre es, ähnlich wie im Falle Juno = Luft, höchst willkürlich, eine solche Auffassung kurzerhand zu postulieren Wenn nun weder die Vorstellung von Juno, noch die von Minerva, die im fr  205 C zum Ausdruck kommen, Varro zuzuschreiben sind, vielleicht hat er jedenfalls die Ansicht vertreten, die kapitolinische Trias sei mit den Penaten identisch? Dass im sicher 190 Civ 7,28 p  311,18: Hoc dico, istum in hoc libro selectorum deorum rationem illam trium deorum, quibus quasi cuncta complexus est, perdidisse. Caelo enim tribuit masculos deos, feminas terrae; inter quas posuit Minervam, quam supra ipsum caelum ante posuerat. S auch Baltes 1996, 389–392, wo – freilich unter der Annahme, dass fr  205 C authentisch sei – die Diskrepanz zwischen fr 205 und fr 206 eingehend dargelegt wird 191 Agahd weist Augustins Beschuldigung, dass die Angaben über Minerva in RD 15 und RD 16 sich widersprächen, als irrtümlich ab (p  12) Es sei nicht korrekt, dass Varro in RD 16 alle Göttinnen, und somit auch Minerva, der terra zugewiesen habe, da ja die Auffassung von Minerva als oberstem Teil des Äthers für RD 16 nachgewiesen sei Der Nachweis besteht jedoch in den von ihm selbst zu Unrecht als varronisch akzeptierten fr  16: 60 und 16: 61, d h genau denjenigen Stellen, die ich hier besprochen habe (civ 4,10 p  158,12 und 7,16 p  294,19) 192 Diesen Ausweg haben Agahd und Cardauns übersehen – im Gegenteil haben sie die betreffenden Stellen, wie wir gesehen haben, den Büchern 15 und 16 zugewiesen: fr  205 C Buch 15; 278 C Buch 16; vgl auch 277 C Buch 16, bei Agahd als 15: 3 a; 16: 61 und 16: 60 Auch der nach fr  278 C (16: 61 A) anschließende Wortwechsel (civ 4,10 p  158,18) käme allenfalls, wenn überhaupt, für die Frühphase in Frage Hier wird nämlich die Geburt der Minerva aus Jupiters Kopf als sinnlose und verdrehende fabula der Dichter abgewiesen (vgl wie Varro unter den Beispielen der unwürdigen Göttergeschichten der theologia mythica gerade diese Sage anführt, s oben 4 3 , mit Anm  84) In RD 16 hat Varro das Dichternarrativ, wie wir gesehen haben, anders beurteilt (oben 4 2 2 , bei Anm  57 bzw 66)

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authentischen Textbefund eine solche Gleichung nirgends ausdrücklich genannt wird, steht fest, und man hätte gegebenenfalls eine ausdrückliche Aussage erwartet, etwa im Zusammenhang mit ling 5,144 193 Wenn wir andererseits sicher wüssten, ob die Bezeichnung magni di den Penaten allein zukommt, oder ob auch Götter, die nicht zugleich als Penaten gelten, so genannt werden können, wäre die Frage entschieden Falls ersteres zutrifft, sind Caelum und Terra bzw Saturnus und Ops bzw Jupiter und Juno bei Varro ling 5,58 als Penaten gekennzeichnet, und zwar um so mehr, weil sie ausdrücklich zu den samothrakischen Mysterien in Verbindung gesetzt werden Dass es sich so verhalte, gilt als selbstverständlicher Hintergrund für die Gesamtdiskussion Wissowas In späterer Zeit ist jedoch geltend gemacht worden, dass die Lage nicht so eindeutig sei 194 Aber nach all dem, was oben gegen die Authentizität von fr  205 angeführt worden ist, fühle ich mich dazu berechtigt, auf eine diesbezügliche Diskussion zu verzichten, die ohnehin meine Kompetenz übersteigen würde Für unser Problem ist eine solche Diskussion nicht mehr notwendig, da das Fragment 205 C sowieso aus den Sammlungen auszuscheiden hat Ohne dieses Fragment haben wir keinen Grund mehr, anzunehmen, dass Varro dem Tarquinius Priscus die Rolle eines Philosophenkönigs erteilt hätte, oder dass Varro der Meinung gewesen wäre, die Gruppierung der kapitolinischen Triade sei eine Initiative dieses Königs Ganz im Gegenteil besitzen wir Evidenz aus dem direkt überlieferten Text, die beweist, dass er jedenfalls auf der Spätstufe letzteres nicht geltend gemacht hat Vielmehr hat er damit gerechnet, dass die drei Götter schon zusammen verehrt worden seien, ehe der Tempel auf dem Kapitol existierte: Die Anhöhe, die in unmittelbarer Nähe des Floratempels aufsteigt, ist das alte Kapitol, denn dort findet sich eine Kapelle für Jupiter, Juno und Minerva, und diese ist älter als der Tempel, der auf dem Kapitol erbaut wurde 195

Bezeichnenderweise ist auch hier der Versuch der Harmonisierung nicht ausgeblieben: „Einen Widerspruch zum vorliegenden Fragment / d h  205, MWS / wird man daraus nicht konstruieren dürfen; die Triade konnte – nach Varros Vorstellung – älter sein als die Erkenntnis ihrer tieferen Bedeutung durch Tarquinius …“196 Nun schreibt fr  205 dem Tarquinius diese Erkenntnis nur indirekt zu; dafür wird er ausdrücklich als derjenige bezeichnet, der die drei Götter in einem Tempel und unter demselben Dach zusammengeführt habe Das bedeutet selbstverständlich, dass er dies als erster getan hat Die Aussage wäre völlig pointelos, wenn die drei Götter schon vor der Zeit des Tarquinius in gemeinsamen Heiligtümern verehrt worden wären

193 Oben 4 4 1 Anm  139 angeführt 194 S z B Peyre 1962, 452–454; Schilling 1980; Dubourdieu 1989, 132–134 sowie 433–439 195 Varro ling 5,158: Clivus proximus a Flora susus versus Capitolium vetus, quod ibi sacellum Iovis Iunonis Minervae, et id antiquius quam aedis quae in Capitolio facta 196 Cardauns 1976, 222

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Kapitel 4: Vertreter zweier Standpunkte

Es soll hier selbstverständlich nicht bestritten werden, dass es u U in unseren Texten vorkommt, dass eine bestimmte Auffassung einem Autor abgesprochen wird, die er nachweislich vertreten hat, und umgekehrt (etwas, was gewiss häufiger geschieht), dass einem Autor eine Ansicht zugeschrieben wird, von dem wir wissen, dass er sie nicht umfasst hat So z B wird bei Servius auctus zu Aen 3,12 eine bestimmte Meinung über die di magni, die Varro selbst nachweislich abgewiesen hat (ling 5,58), nichtsdestoweniger als die seine bezeichnet, und zugleich wird eine andere, die Varro (ebenda) ausdrücklich unterstützt, als die anderer beschrieben Aber dieser Fall unterscheidet sich eben darin von dem unsrigen, dass wir hier ein Fazit besitzen, das uns über die wahren Verhältnisse aufklärt – wir sind in der Lage, sicher festzustellen, dass Servius irrt, da die direkte Tradition die dort gegebene Auskunft widerlegt Dass Fehler dieser Art entstehen können, gibt uns kein Recht, in Fällen, wo die direkte Überlieferung kein entsprechendes ausdrückliches Fazit bietet, zu postulieren, dass ein solcher Fehler tatsächlich entstanden ist Normalerweise behandeln wir ja auch nicht unsere indirekte Evidenz in dieser Weise Es müssten – wie im gerade genannten Fall bei Servius – sehr starke Gründe vorliegen, um uns zu berechtigen, von unserer normalen Praxis abzuweichen und die in unseren Quellentexten ausdrücklich gegebene Information auf den Kopf zu stellen Ein Fall wie der unsrige zeigt mit aller Deutlichkeit, dass wir nicht darauf verzichten dürfen, die vermittelnden Texte selbst zu konsultieren und in problematischen Fällen die Argumentation, durch die die Aufnahme in die Fragmentsammlungen begründet wurde, mit kritischem Auge erneut zu mustern, eine Forderung, die um so verpflichtender ist, wo die betreffenden Entscheidungen Generationen zurückliegen

Kapitel 5 Die Ursprungsfrage B Das anthropomorphe Gottesbild als in übertragenem Sinne wahr 5.0. Einleitung Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, wie Varro im Laufe der Arbeit an den Antiquitates rerum divinarum seinen Standpunkt hinsichtlich des anthropomorphen Gottesbildes gewechselt hat Während auf der frühen Stufe offensichtlich die herkömmliche, grundsätzlich ablehnende Haltung vorliegt, gilt in den späten Büchern, dass die anthropomorphe Darstellungsweise einst bewusst eingeführt worden sein soll, um als vollwertige Methode, wahre Gotteserkenntnis zu vermitteln, zu dienen Den verschiedenen Varianten dieses Modells wollen wir uns im Folgenden widmen Der gemeinsame Nenner der Varianten lässt sich folgendermaßen definieren: Das anthropomorphe Gottesbild entspringt einem berechtigten, mit dem wahren Gottesglauben durchaus übereinstimmenden Willen und Verlangen, das an sich unabbildbare und unaussprechliche Wesen Gottes irgendwie konkret zum Ausdruck zu bringen Es handelt sich immer um bewusste, reflektierte Erfindung, nie um spontane Entstehung Als Urheber gelten in der Regel weise Männer einer längst vergangenen Zeit – „Theologen“, „Gesetzgeber“ Nirgends wird damit gerechnet, dass das Konzept aus den breiten Kreisen stammen könnte Wie wir gesehen haben, ist Varro allem Anschein nach der erste Vertreter dieser Aufwertung des anthropomorphen Gottesbildes; frühere Belege sind uns nicht erhalten Aus den nächsten etwa hundert Jahren besitzen wir, so weit mir bekannt, keinen weiteren Beleg Die Überzeugung, dass die menschliche Gestalt der Götter allgemein buchstäblich genommen werde, wurzelte tief in den Herzen der philosophisch Gebil-

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

deten, wie u a die im dritten Kapitel besprochenen Stellen aus Ciceros De natura deorum und Philodems De pietate bezeugen 1 Ich habe oben Kap  4 0 und bes 4 1 den Beginn der philosophischen Aufwertung des anthropomorphen Gottesbildes mit dem dort beschriebenen neuen Denkmodell in Verbindung gebracht Meine These besagt, dass Varro das Potential des neuen Modells, die Brücke zwischen philosophischer Theologie und öffentlichem Kult zu schlagen, erkannt hat und sich dieser Möglichkeit in den späteren Büchern seiner Antiquitates rerum divinarum bedient hat Mit Hilfe der besonderen Vergangenheitsauffassung des neuen Modells ließ sich der öffentliche Kult als uralte Einrichtung auf solider philosophischer Basis darstellen Varro schloss das anthropomorphe Gottesbild des offiziellen Kults in dieses vermeintlich alttradierte theologische System mit ein, eine Entscheidung, die sich nicht automatisch ergab 2 Im Folgenden werden wir sehen, wie Cornutus, Plutarch und Porphyrios, jeder in seiner Weise, dieselbe Entscheidung treffen In den Augen dieser Denker gehört die anthropomorphe Darstellungsweise, einschließlich der Gewohnheit, menschengestaltete Götterbilder aufzustellen, mit zu dem alten Kultvorrat, den die frühen Theologen eingeführt haben sollen, um in kodierter Weise die Wahrheit von der Struktur des Kosmos und vom Wesen Gottes auszudrücken Genau wie bei Varro gilt hier, dass der vermittelte Inhalt ohne philosophische Einsicht und Übung nicht zugänglich sei Der Anspruch, dass das anthropomorphe Gottesbild einen tieferen Sinn trage, taucht aber auch in einer anderen Fassung auf, die andere Empfängerkreise anspricht und deshalb die Schwerpunkte anders setzt Ich beziehe mich auf die (unter sich verschiedenen) Versuche des Dion von Prusa bzw des Maximos von Tyros, die wir unten 5 4 eingehender studieren werden Diese richten sich an Kreise, deren Angehörige sich bisher kaum an der Philosophie beteiligt hatten, so dass vermutet werden kann, dass ihnen das traditionelle Gottesbild unproblematisch geblieben war Zwar pflichtet Maximos, wie aus seiner elften Dialexis (bes 11,5 ll 76–83) zu ersehen ist, der Vorstellung von einer allen Völkern gemeinsamen Urweisheit bei, aber der Nachweis einer soliden philosophischen Begründung des öffentlichen Kults in uralter Tradition ist ihm kein wichtiges Anliegen Ihm scheint mehr daran zu liegen, zu unterstreichen, dass die anthropomorphe Darstellungsweise in griechischer  – überlegener  – Tradition begründet ist, als eine bestimmte Theorie zur Geschichte und Entwicklung der Philosophie zu verfechten Was Dion betrifft, spricht er zuweilen in einer Weise, die an die mit derselben Vorstellung verknüpfte Terminologie anklingt, aber das ist auch alles 3 Die Geschichte und der etwaige uralte Symbolgehalt der Kultsitten vermögen

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Oben Kap  3 1 1 ; 3 1 4 und 3 2 1 1 S auch die höhnischen Bemerkungen bei Seneca fr 31 und 39 p  22 bzw 29 Haase (aus Aug civ 6,10 p 267,13 bzw 269,19) und Plin nat 2,17 S dazu oben Kap  4 1 a E S etwa seine Beschreibung der Darstellungen der Tyche in or 63,7 (unten Anm 264) Es mag kein Zufall sein, dass im recht umfangreichen Textcorpus Dions die für das Denkmodell konstitutiven

5 0 Einleitung

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ihn nicht zu engagieren Er sieht seine wichtigste Aufgabe darin, den griechischen Gemeinden unter römischer Herrschaft mit Ratschlägen und heilsame Kritik behilflich zu sein 4 Bekanntlich formuliert er eine eindrucksvolle Sinngebung der anthropomorphen Götterbilder, diese legt er aber dem Pheidias in den Mund Dieser durchaus beachtenswerte Versuch wird also von einer Rollenfigur vorgelegt, ein Umstand, über den wir nicht hinwegsehen sollten Wir werden unten (5 4 1 2 ) sehen, dass in der ersten Hälfte derselben Rede, noch ehe ‚„Pheidias“ auftritt, von den Bildkünstlern und den Götterbildern in einer Weise gesprochen wird, die durch nichts an eine Einstellung denken lässt, wie sie von „Pheidias“ formuliert wird; ganz im Gegenteil scheint hier die herkömmliche Position andeutungsweise durch In den Augen der strikt philosophischen Kreise dürften die Präsuppositionen der von Dions Pheidias und von Maximos präsentierten Gedanken zu Sinn und Funktion der Götterbilder recht abwegig angemutet haben Denn hier gilt, dass die anthropomorphe, nicht buchstäblich zu nehmende Darstellungsform entweder für alle da sei (Pheidias-Rede) oder dass sie gar geradezu für die Nicht-Professionellen geschaffen worden sei (Maximos von Tyros diss  2) Zumindest bei Maximos wird mitverstanden, dass die vorgesehenen Empfänger von sich aus dazu fähig seien, den zu vermittelnden tieferen Inhalt zu rezipieren, ein für die bisher vorherrschende Denkweise gewiss recht starkes Stück 5 Der philosophischen Elite im Allgemeinen war es schon immer schwer gefallen, sich mit dem Gedanken zu befreunden, dass man überhaupt versuchen sollte, Einsicht in das wahre Wesen Gottes öffentlich zu verbreiten Es liegt in der Natur der Sache, dass im vorliegenden Kapitel gerade die Götterbilder  – die sichtbaren Manifestationen des anthropomorphen Gottesbildes  – eine hervortretende Rolle spielen Aber ebenso selbstverständlich ist, dass eine Vorstellung wie die, dass das anthropomorphe Gottesbild bewusst von frühen Theologen als sinnvolles Medium, wahre Gotteseinsicht zu vermitteln, erfunden worden sei, auch Konsequenzen für das Verständnis des mythologischen Narrativs mit sich führt Die Idee, dass die anthropomorphe Darstellungsform bewusst und in vollem Einklang mit theologischer Wahrheit erfunden worden sei, ist nicht nur ein Weg zu einer philosophischen Akzeptanz der Götterbilder – sie eröffnet die Tür zu einem neuen Mythenverständnis Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, worin der Unterschied der

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Begriffe θεολόγος und θεολογία nicht vertreten sind, wie ein Blick in den Wortindex von Koolmeister u Tallmeister zeigt Van Nuffelen 2011, 88, macht geltend, dass der Magier-Mythos am Ende der Borysthenes-Rede (or  36,39 ff ) auf dem Hintergrund des Modells („the discourse of ancient wisdom“) zu betrachten sei Vgl Trapp 2007 b, ch 7 (185–200); Hahn 2009, bes 247–252; Forschner 2003, bes 155 Das Missverständnis der buchstäblichen Deutung wird zweimal von Maximos angesprochen, in diss  8 bzw 11, und zwar in einer Weise, durch die die Empfänger nicht ungeschickt in indirekter Weise von diesem plumpen Fehlverhalten freigesprochen werden S dazu unten 5 4 2 4 Zum Verhältnis in der Pheidias-Rede Dions s 5 4 1 1 , m Anm  158

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Grundbedingungen im Verhältnis zu früher besteht Ich habe schon in der Einführung (1 4 ) mit Kraft unterstrichen, dass wir die Haltung der Philosophen zur menschlichen Gestalt der Götter mit ihrer Haltung zum mythologischen Narrativ, das von den so gestalteten Göttern handelt, nicht gleichsetzen dürfen Wer die Meinung vertritt, im Narrativ liege philosophische Lehre versteckt, erkennt damit keineswegs automatisch auch noch die menschliche Gestalt der darin auftretenden Götter als philosophisch tragfähig an Er kann sehr wohl die menschliche Gestalt und die menschlichen Charakteristiken der Götter als durch und durch fehlerhaft betrachten und trotzdem im Narrativ, das sich um die so gestalteten Götter entfaltet, philosophische Wahrheit entdecken: Der Dichter, selbst Vertreter eines philosophischen Gottesbildes, habe die Götter in ihrer traditionellen Erscheinung als Rollenfiguren in seinem Narrativ auftreten lassen, das äußerlich ihren menschlichen Charakter hervorhebe, dessen besondere Struktur und besonderer Handlungsverlauf jedoch in einer Weise ausgestaltet seien, die den Eingeweihten des Publikums einen Blick hinter den Schleier der geläufigen, entstellten Gottesvorstellung zurück zum ursprünglichen metaphorischen Diskurs über die Wirkung des Göttlichen im Kosmos gewähre Gerade der Umstand, dass die Götter herkömmlich menschenähnlich dargestellt wurden, mit allem was dazu gehört, wie Geschlechtsunterschieden, Familienbeziehungen und Altersunterschieden, dürfte in den Augen der Allegoristen den Dichter vor besondere Herausforderungen gestellt haben, da dies, wie wir vermuten dürfen, als sekundäres Ergebnis von Missverständnissen und Fehldeutungen galt In dem Augenblick aber, in dem die menschliche Gestalt selbst als Mittel indirekter Wahrheitsvermittlung akzeptiert wird, ändern sich die Voraussetzungen für die Beurteilung des Narrativs Die anthropomorphen Charakteristiken werden zu ursprünglichen Bestandteilen einer bewusst gewählten Ausdrucksform und direkt auf die frühzeitlichen Theologen zurückgeführt Damit entsteht auch die Möglichkeit, die zusammenhängende Erzählung von den Abenteuern menschlich gestalteter und menschlich reagierender Götter insgesamt als Medium philosophischer Wahrheitsvermittlung zu betrachten Und gerade weil der anthropomorphe Charakter der Götter zum ursprünglichen theologischen Grundkonzept gehört und an sich schon, unabhängig von jeder narrativen Struktur, Träger philosophischer Signifikanz ist, eröffnet sich außerdem die Möglichkeit eines anthropomorphen Gesamtkonzepts, das Kult, Ikonographie und Mythos umfasst Mit einem solchen anthropomorphen Gesamtkonzept werden wir unten 5 2 zu tun haben 6

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Im Grunde besteht kein Zwang, mit der Akzeptanz der anthropomorphen Form der Götter als sinnvoll auch dem voll entwickelten Götternarrativ wahrheitsvermittelnde Funktion zuzuschreiben Letztendlich steht es noch frei, das mythologische Narrativ etwa als gottlose Sagen unanständiger und verantwortungsloser Dichter abzuweisen Freilich kenne ich eine Haltung dieser Art nur im besonderen Fall der Pheidias-Rede Dions, s unten 5 4 1 1 , m Anm 151 und 152

5 0 Einleitung

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Wir sahen im vorigen Kapitel, wie für Varro (RD fr  225) die Sitte, anthropomorphe Götterbilder aufzustellen, einem Willen entsprungen war, ein sichtbares Zeichen für Gott zu schaffen Die Wahl der anthropomorphen Form wird damit begründet, dass der Mensch als einziges bekanntes vernunftbegabtes Wesen in einer besonderen Beziehung zu Gott, der Vernunft per se, stehe Mit einer solchen Begründung werden wir im Folgenden mehr als einmal zu tun haben Der Beginn der Sitte, menschengestaltete Götterbilder aufzustellen, bedeutet offensichtlich die Geburtsstunde des anthropomorphen Gottesbildes überhaupt Für Varro und für spätere Vertreter dieses Modells besteht ein zentrales Anliegen darin, geltend zu machen, dass das offizielle Gottesbild primär für den Kult geschaffen worden sei und von vornherein philosophisch verankert sei In der Rede, die Dion von Prusa in seinem Olympikos dem Pheidias in den Mund legt, ist dies anders Zwar wird die anthropomorphe Gestalt der Götterbilder in derselben Weise begründet (§ 59), jedoch wird der Beginn der Sitte, die Götter menschenähnlich vorzuführen, den Dichtern zugeschrieben, so dass die Bildkünstler einer schon von den Dichtern etablierten Gewohnheit folgen Vom Ausgangspunkt der fingierten Anklage gegen „Pheidias“ ist dieser Standpunkt durchaus glaubhaft und sinnvoll Ein Pheidias muss selbstverständlich die anthropomorphen Götterbilder verteidigen, dagegen geht es ihm nicht um das Alter der philosophischen Begründung des anthropomorphen Gottesbildes als solches Um allen Missverständnissen vorzubeugen, will ich hier ausdrücklich unterstreichen, dass die positive Entscheidung in der grundsätzlichen Frage, ob durch die anthropomorphen Götterbilder theologische Wahrheit vermittelt werde oder nicht, von kunsttheoretischen und ästhetischen Erwägungen dazu, wie die Einzelgestaltung eines solchen anthropomorphen Bildes vor sich geht und begründet wird, unabhängig ist Die menschliche Gestalt ist ein vorgegebenes Grundmodell, nicht eine Wahl, die der Künstler persönlich trifft oder die ihm durch Inspiration eingegeben wird Im Gegenteil: Die Entscheidung für die menschliche Gestalt gilt als schon längst getroffen und wird auf Erwägungen ganz anderer Art zurückgeführt Ein ästhetischer Aspekt spielt hier nur insofern eine Rolle, als diese Erwägungen u U den Anspruch auf eine generelle ästhetische Überlegenheit der menschlichen Gestalt vor anderen Formen mit umfassen können Die Aufgabe des einzelnen Künstlers besteht darin, das vorgegebene anthropomorphe Grundmodell nach eigenem Können und Wollen zu realisieren und es dabei insofern zu transzendieren, als ein Götterbild irgendwie die Nicht-Menschlichkeit seines eigentlichen Referenten manifestieren muss Denn selbstverständlich arbeitet ein Künstler, der ein Götterbild herstellt, etwa Pheidias beim Schaffen des Zeusbildes in Olympia, ohne direktes Vorbild, πρὸς οὐδὲν αἰσθητόν, wie es bei Plotin heißt Er formt sich im Geiste ein Modell überragender Schönheit, eine cogitata species, um wiederum einen wohlbekannten Ausdruck Ciceros zu verwenden, auf die er

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

seine inneren Augen richtet und die er nun konkret zu realisieren versucht 7 Hier ist für den Künstler der Wirkungsraum seiner Inspiration und seines Genies M  a  W ist der künstlerische Prozess als solcher ein Thema, das die Grundfrage nach der Berechtigung des anthropomorphen Gottesbildes selber gar nicht betrifft, da die anthropomorphe Form selbstverständliches Grundmodell ist So lässt Dion von Prusa, wie wir unten sehen werden, nicht von ungefähr den Pheidias in seiner Verteidigungsrede sich zunächst über die menschliche Gestalt und ihre Rechtfertigung als Darstellungsform äußern (or  12,58–61), um dann erst später, getrennt davon, auf die spezifischen Bedingungen und Schwierigkeiten zu kommen, mit denen der Künstler bei der Arbeit am Kunstwerk zu kämpfen hat (§ 63; 69–74), und lässt ihn logischerweise dem Einwand des Anklägers gegen die menschliche Gestalt des Zeusbildes damit begegnen, dass diese Idee nicht von ihm stamme, sondern lange vor ihm im Gebrauch gewesen sei 8

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Cic orat 9 f Zu dieser Stelle s den alten Klassiker Panofsky 1960, 5‒10 (1 Aufl 1924) Die Phrase πρὸς οὐδὲν αἰσθητόν stammt aus Plotin, enn 5,8,1 Zur Vorstellung vom Vorgehen des Pheidias in diesem wie in anderen antiken Texten s Männlein-Robert 2003 (vgl allerdings unten 5 4 1 1 , Anm  155) Vgl unten 5 4 1 1 Anm  140 und 147 Anders die berühmte Szene in Philostrats Leben des Apollonios von Tyana 6,19 p  231 Kayser, die ein Gespräch des Helden mit dem weisen Ägypter Thespesion vorführt Hier wird der phantasia nicht nur eine Rolle für die Einzelgestaltung besonderer Götterbilder zugeschrieben (p 231,7), sondern auch, wie es scheint, für die Etablierung des Grundmodells Denn dass die Frage der Berechtigung des Grundmodells die Hauptsache der Diskussion ausmacht, ist vom Kontext deutlich genug Apollonios äußert sich negativ über die Gewohnheit, Götter in Tiergestalt darzustellen Er macht geltend, dass die schönste und gottgefälligste Art, sie zu repräsentieren, die der Griechen sei Der verärgerte Thespesion fragt ironisch, ob das daran liege, dass Künstler wie Pheidias und Praxiteles erst in den Himmel gestiegen seien, um sich die Götter anzuschauen, ehe sie ihre Werke verfertigt hätten, oder ob etwas anderes ihrem Schaffen zugrundeliege, aber freilich komme wohl nur die Mimesis in Frage Nein, es ist etwas anderes, erwidert Apollonios, und zwar eine weisere Künstlerin, nämlich die Phantasie „Die Mimesis wird das gestalten, was sie gesehen hat, die Phantasie vermag es dagegen, sogar das zu gestalten, was sie nicht gesehen hat, denn sie wird sich dieses vornehmen, indem sie es zur Wirklichkeit (τοῦ ὄντος) in Beziehung setzt …“ Μίμησις μὲν γὰρ δημιουργήσει ὃ εἶδεν, φαντασία δὲ καὶ ὃ μὴ εἶδεν, ὑποθήσεται γὰρ αὐτὸ πρὸς τὴν ἀναφορὰν τοῦ ὄντος … (p  231,3) Die Bedeutung des Begriffs τοῦ ὄντος ist umstritten Selbst bin ich überzeugt, dass damit die physisch wahrgenommene Wirklichkeit gemeint ist, und nicht die höhere Wirklichkeit im platonischen Sinne Es muss, wie ich meine, zwischen dem, „was die Phantasie nicht gesehen hat“ (d h dem was dargestellt werden soll) und der „Wirklichkeit“ (d h dem was zum Vorbild wird) ein Gegensatzverhältnis vorliegen, und zwar so, dass die Phantasie das nicht Wahrnehmbare dadurch gestaltet, dass sie in der wahrnehmbaren Wirklichkeit ein stellvertretendes Modell sucht, d h eben die menschliche Gestalt Nun wird gerade dies, so wie wir die Sache sonst kennen, nicht als Akt der Imagination verstanden, sondern gilt als eine einst aufgrund rationaler Erwägung getroffene Entscheidung Erst bei der Einzelgestaltung tritt die Imagination in Funktion, indem der Künstler sich im Geiste das imaginäre Vorbild des spezifischen Götterbildes schafft Vgl auch unten 5 4 2 4 , Anm 267 Wenn also mein Verständnis der Phrase τοῦ ὄντος mit der Birmelins (1933, 395 f ) übereinstimmt, so ist andererseits die Verwischung der beiden Vorbildebenen im Wortwechsel zwischen Apollonios und Thespesion mit ein Indiz (unter vielen) dafür, dass in der Vita keine zusammenhängende Kunsttheorie vorliegt, und ebenso wenig lässt sich eine schlüssige philosophische Theologie daraus konstruieren S dazu Bäbler 2016, 111–115 und bes 122–124, mit früherer Literatur

5 1 Zur Frage der Wertung des anthropomorphen Gottesbildes bei Plutarch

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Wer die anthropomorphe Gestalt wie Varro begründet, hält mutmaßlich gerade diese Darstellungsform für die beste Alternative, um theologische Wahrheit in sichtbarer Weise zu vermitteln Dass dies so sei, wird auch ausdrücklich von Dions Pheidias (§ 59) sowie von Maximos in der zweiten Dialexis geltend gemacht (diss  2,3)9 – andere Formen werden anerkannt, aber diese gilt als überlegen Akzeptanz anthropomorpher Bilder als sinnvoller Zeichen kommt jedoch auch ohne diese Begründung und ohne Überlegenheitsanspruch vor, wie das Beispiel Plutarchs lehrt Dieser ist bereit, der anthropomorphen Darstellungsweise eine Funktion als wahrheitsvermittelndes Medium anzuerkennen; dagegen schreibt er ihr keine diesbezügliche Vorrangstellung zu Dieses Verhältnis verlangt unsere Aufmerksamkeit, zumal die Evidenz nicht ganz leicht zu beurteilen ist 5.1. Zur Frage der Wertung des anthropomorphen Gottesbildes bei Plutarch Im dritten Kapitel haben wir studiert, wie Plutarch in seiner Schrift Vom Aberglauben sich mit Schärfe gegen diejenigen wendet, die dem Irrtum anheimfallen, die anthropomorphen Götterbilder buchstäblich zu deuten 10 Es könnte naheliegen, diese Kritik so zu deuten, als wäre Plutarch ein Gegner des anthropomorphen Gottesbildes Ähnliche Bedenken wie die dort von ihm geäußerten dürften, wie wir gesehen haben, jahrhundertelang der grundsätzlich ablehnenden Haltung zugrunde gelegen haben 11 Ferner: Dass Plutarch die spartanischen Dokana, die für die Dioskuren stehen, offensichtlich restlos anerkennt, dass er einem kretensischen Zeusbild ohne Ohren sowie einigen ägyptischen theriomorphen Götterbildern einen positiven übertragenen Inhalt zuschreibt,12 und nicht zuletzt, dass er die kunstvollen griechischen Götterbilder als Verbildlichungen des Göttlichen hinter die heiligen Tiere Ägyptens zurückstellt,13 dies alles könnte, oberflächlich betrachtet, diesen Eindruck unterbauen Dennoch ist dieser Eindruck inkorrekt In Wirklichkeit ist Plutarch bereit, alle Versuche, das Göttliche zu verbildlichen, anzuerkennen und den Ergebnissen dieser Versuche die Fähigkeit zuzugestehen, sinnvoll auf das wahre Wesen des Göttlichen zu verweisen Sie richtig zu verstehen, verlangt allerdings philosophische Einsicht und Erfahrung – ohne diese unterliegen sie insgesamt der Gefahr der Fehldeutung Das gilt sowohl von den anthropomorphen Götterbildern wie von anderen Artefakten, und es gilt genauso von den heiligen Tieren der Ägypter, den lebendigen Abbildern des Göttlichen Es ist also nicht 9 10 11 12 13

S dazu unten 5 4 1 1 , m Anm  142 (Dion); 5 4 2 3 (Maximos) De superstitione 167d, oben 3 2 1 , m Anm  144 S v a oben 1 3 De fraterno amore 478a (dokana); De Iside et Osiride – im Folgenden: Is  – 381d (Zeusbild ohne Ohren); bzw 363f (Falke); 368e (Anubis als Hund dargestellt); 371c (Typhon als Nilpferd) Zu den heiligen Tieren s hier im Folgenden (Generelle Übersicht griechischer Meinungen hinsichtlich der Tierverehrung in Ägypten bei Smelik u Hemelrijk 1984 )

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

statthaft, aus Plutarchs Einwänden gegen die Abergläubischen den Schluss zu ziehen, dass er grundsätzlich von anthropomorphen Götterbildern Abstand nehme 14 Dass insbesondere die vollanthropomorphen Götterbilder zur Fehlinterpretation einladen, leuchtet ein Ein unvollständig anthropomorphisiertes Bild wie das des kretensischen Zeus ohne Ohren wirkt gerade aufgrund der unvertrauten, befremdenden Züge auf den Betrachter und fordert zur Interpretation heraus Die nicht-mimetische Erscheinung regt ein nicht-buchstäbliches Verständnis an Ein Gegenstand wie die Dokana ist ohne Reflexion überhaupt nicht dekodierbar Gerade darin mag ein Vorteil liegen, wenn auch eine solche Begründung m W von Plutarch nirgends ausdrücklich ausgesprochen wird Bei einem vollanthropomorphen Bild drängt sich eine buchstäbliche Deutung dagegen geradezu auf Auch die bewundernswerte Ausführung und der Glanz des Materials dürften als Hindernisse des richtigen Verständnisses empfunden worden sein 15 Das erklärt freilich nicht, weshalb Plutarch in Über Isis und Osiris den anthropomorphen Götterbildern die ägyptischen heiligen Tiere als überlegene oder zumindest gleichwertige Verbildlichungen Gottes entgegenstellt Zwar beanstandet er in dieser Schrift ein für viele Griechen charakteristisches Fehlverhalten, von dem er doch wohl meint, dass es v a durch die menschliche Gestalt der Götterbilder verursacht werde; dann aber schreibt er – mutatis mutandis – den Ägyptern ihren heiligen Tieren gegenüber ein entsprechendes Fehlurteil zu Gewisse Griechen haben die verwerfliche Gewohnheit, die Götterbilder mit den Namen der Götter selbst zu benennen Dies zeitigt die falsche Gleichsetzung der Bilder mit ihren Referenten: „Damit fördern und billigen sie unversehens verwerfliche Vorstellungen, die die Namen mit sich ziehen “16 In Ägypten soll, wie aus dem nachfolgenden Text hervorgeht, gerade eine solche Gleichsetzung nahezu Normalverhalten sein Hier behandeln die allermeisten die heiligen Tiere als Götter 17 In gewissem Sinne seien die Griechen hier den Ägyptern überlegen, denn auch in Griechenland gibt es Tiere, die gewissen Göttern geheiligt sind, etwa die Taube der Aphrodite, die Schlange der Athena, jedoch verfallen die Griechen nicht dazu, diese als selbst göttlich zu betrachten (ebenda)

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„The error is rather that the superstitious man considers such images to be representations of the real nature of the divine and does not recognize their symbolic value “ (Van Nuffelen 2011,  69 Allerdings meint Van Nuffelen ebenda Anm  130 zu Unrecht, dass fr 46 den Gebrauch von Götterbildern unterstütze Das Wort ἀγάλματα steht dort in metaphorischem Sinne) Vgl Hirsch-Luipold 2002, 30, Anm  20 Brenk schreibt Plutarch die Meinung zu: „…  it is better to represent God altogether without recourse to icons“ (Brenk 1977, 38) Eine solche Position vermag ich nicht zu bekräftigen Durch nichts ist angedeutet, dass das Bildverbot Numas (Numa 8,13 f ; s oben 4 4 , m Anm  120 ff ) von Plutarch persönlich unterstützt wird (so Brenk ebenda 29 f ) Vgl Hirsch-Luipold 2002, 173 f Vgl hierzu Graf 2005,  260; 262 und bes Hirsch-Luipold 2002,  286 f sowie ebenda 103 bzw 30, Anm  20 S auch oben 1 3 Anm  29 und unten am Ende dieses Abschnitts (m Anm  29) Is 379d: … λανθάνουσι συνεφελκόμενοι καὶ παραδεχόμενοι δόξας πονηρὰς ἑπομένας τοῖς ὀνόμασιν S hierzu wie zum Folgenden Hirsch-Luipold 2002, 211 f Is 379d: Αἰγυπτίων δ’ οἱ πολλοὶ θεραπεύοντες αὐτὰ τὰ ζῴα καὶ περιέποντες ὡς θεούς …

5 1 Zur Frage der Wertung des anthropomorphen Gottesbildes bei Plutarch

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Der Grund für die relative Degradierung der griechischen anthropomorphen Götterbilder im Verhältnis zu den heiligen Tieren Ägyptens muss also ein anderer sein Plutarch hält die Gefahr der Missdeutung in ihrem Falle augenscheinlich nicht für größer als im Falle der heiligen Tiere Die Erklärung ergibt sich vielmehr aus dem besonderen Charakter von Plutarchs platonischem Weltbild Sein Denken ist durch die Grundüberzeugung geprägt, dass die Erscheinungswelt Abbild der geistigen Welt in der Materie sei Die wahrnehmbare Welt trägt positiven Verweischarakter Sie bietet den Menschen, die sie und ihre Erscheinungen richtig zu deuten verstehen, eine gewisse Möglichkeit, mittelbar das höhere Sein zu erblicken 18 Falls nun die vom göttlichen Nous geschaffene materielle Welt und alle ihre Erscheinungen Abbilder der intelligiblen Welt sind, dann versteht sich, dass die Natur selbst und die lebenden Wesen diese geistige Welt unmittelbarer widerspiegeln als die sekundär von Menschenhand geschaffenen Artefakte Genau dieser Unterschied wird im Traktat De tranquillitate animi deutlich vor Augen geführt: Der Mensch wird durch seine Geburt in die Welt hineingeführt und schaut da keine handgefertigten und unbeweglichen Götterstandbilder, sondern alle wahrnehmbaren Abbilder der intelligiblen Dinge, die der göttliche Ιntellekt, wie Platon sagt, offenbar werden ließ, und die einen innewohnenden Anfang des Lebens und der Bewegung haben, Sonne, Mond und Sterne, Flüsse, die immer neues Wasser hervorsprudeln, und die Erde, die Pflanzen und Tieren Nahrung hervorsprießen lässt 19

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S die eingehende Untersuchung von Hirsch-Luipold 2002, Kap   4 (159–224), der ich hier verpflichtet bin Hirsch-Luipolds Monographie bietet zur Frage nach Sinn und Wert der künstlich hergestellten Götterbilder bei Plutarch sehr wenig (s z B S   30, Anm   20; 190, m Anm   107; 172–174), zum Thema des Ursprungs der Götterbilder, der damit verfolgten Intention und den vorgesehenen Rezipienten gar nichts Insofern scheint mir Van Nuffelens Kritik, dass von Hirsch-Luipold die historische Dimension in Plutarchs religiösem Denken vernachlässigt wird, zuzutreffen (Van Nuffelen 2011, 65 f , Anm  101 und 104) Andererseits wird die von Hirsch-Luipold sehr stark betonte Bedeutung der spezifischen platonischen Ontologie Plutarchs, deren besonderes Kennzeichen die Aufwertung der wahrnehmbaren Welt als Erkenntnisbasis ist, von Van Nuffelen ungebührlich verringert Es kann m M n keinem Zweifel unterliegen, dass Plutarchs hohe Schätzung der heiligen Tiere Ägyptens im Verhältnis zu den traditionellen Götterbildern hierdurch eine einleuchtende Erklärung erfährt (Van Nuffelen bemüht sich, seine Einwände mit Verweis auf Ingenkamps Besprechung der Arbeit in Gnomon 76 (2004), 702–705 zu untermauern Das ist unfair, denn bei aller Kritik an Hirsch-Luipolds weitgreifender Grundthese und nicht immer zutreffender Argumentation hebt Ingenkamp gerade die gute Interpretation von De Iside hervor und empfiehlt sie zur Lektüre, S  704 ) Plut De tranquillitate animi 477c–d: Εἰς δὲ τοῦτον ὁ ἄνθρωπος εἰσάγεται διὰ τῆς γενέσεως οὐ χειροκμήτων οὐδ’ ἀκινήτων ἀγαλμάτων θεατής, ἀλλ’ οἷα νοῦς θεῖος αἰσθητὰ μιμήματα νοητῶν, φησὶν ὁ Πλάτων, ἔμφυτον ἀρχὴν ζωῆς ἔχοντα καὶ κινήσεως ἔφηνεν, ἥλιον καὶ σελήνην καὶ ἄστρα καὶ ποταμοὺς νέον ὕδωρ ἐξιέντας ἀεὶ καὶ γῆν φυτοῖς τε καὶ ζῴοις τροφὰς ἀναπέμπουσαν Übersetzung Hirsch-Luipold 2002, 171 (unbedeutend abgeändert)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Wir verstehen nun besser, dass die lebendigen Tiere einen direkteren Zugang zur wahren Gottheit gewähren können Durch sie spiegelt sich das Göttliche deutlicher wider (ὡς ἐναργεστέρων ἐσόπτρων, Is 382a) Im Gegensatz zu den künstlich hergestellten Götterbildern haben sie gerade durch ihre Lebenskraft Teil an der intelligiblen Quelle des Alls: Ein Wesen, das lebt, Sehvermögen hat, aus eigener Kraft sich bewegt und Vertrautes und Fremdes unterscheiden kann, hegt in sich einen Ausfluss und Anteil an Schönheit, die von der göttlichen Vernunft, „die das All lenkt“, wie Herakleitos sagt, ausgehen Deshalb wird das Göttliche ebenso gut in den Tieren Ägyptens verbildlicht wie in bronzenen und steinernen Kunstwerken, die in gleicher Weise der Vergänglichkeit und Verfärbung ausgesetzt sind, denen aber von Natur jede Empfindung und alles Bewusstsein fehlen 20

Die Phrase οὐ χεῖρον (eig „nicht schlechter“) zeigt, dass die geschaffenen Götterbilder nicht abgelehnt werden: Auch sie vermögen, wie jene, einen tieferen Sinn zu tragen, aber dies tun sie nicht aufgrund einer ihnen von vornherein innewohnenden Eigenschaft, sondern erst weil menschliche Tätigkeit sie dazu bestimmt hat So finden wir die ägyptischen heiligen Tiere näher am göttlichen Nous und mit einer höheren Schönheit verbunden als die äußere menschliche Gestalt der Götterbilder 21 Die Tiere sind lebendige, nicht geschaffene Wesen, die mit einem Ausfluss der intelligiblen Welt versehen sind,22 und zugleich durch ihre besondere Natur überlegene Symbole Ihre tiefere Signifikanz ist im Vorangehenden erläutert worden (τὸ συμβολικόν, Is 380e) Im Wiesel, in der Natter und im Mistkäfer hätten die Ägypter gemeint, „gewisse dunkle Bilder der Kraft der Götter zu erkennen“ 23 Das Krokodil halten sie für ein μίμημα θεοῦ, u a weil es das einzige Tier ohne Zunge sei und insofern dem göttlichen Logos ähnlich sei, und auch weil es mit Gott die Eigenschaft teile, zu sehen ohne gesehen zu werden 24

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Is 382b–c: ἡ δὲ ζῶσα καὶ βλέπουσα καὶ κινήσεως ἀρχὴν ἐξ αὑτῆς ἔχουσα καὶ γνῶσιν οἰκείων καὶ ἀλλοτρίων φύσις κάλλους τ’ ἔσπακεν ἀπορροὴν καὶ μοῖραν ἐκ τοῦ φρονοῦντος, «ὅτῳ κυβερνᾶται τὸ σύμπαν» καθ’ Ἡράκλειτον (22 DK B 41) ὅθεν οὐ χεῖρον ἐν τούτοις εἰκάζεται τὸ θεῖον ἢ χαλκοῖς καὶ λιθίνοις δημιουργήμασιν, ἃ φθορὰς μὲν ὁμοίως δέχεται καὶ ἐπιχρώσεις, αἰσθήσεως δὲ πάσης φύσει καὶ συνέσεως ἐστέρηται Die Deutung von ἐπιχρώσεις ist umstritten; Emperius (1847, 328) schlug seinerzeit die Konjektur πηρώσεις vor, die auch heute von einigen vorgezogen wird (wie von Hopfner 1967 Bd  2, 48; er übersetzt: „Verstümmelung“) Immerhin ist der Gedanke, dass anthropomorphe Form eines Artefakts dazu geeignet sei, auf die Tätigkeit göttlicher Vernunft zu verweisen, Plutarch nicht fremd, wie seine Deutung einer mit menschlichem Gesicht versehenen Katzendarstellung zeigt, die das Sistrum, einen wichtigen Bestandteil des ägyptischen Kults, zu schmücken pflegt „Durch das menschliche Antlitz der Katze wird das Intellektuelle und Vernunftmäßige der Mondphasen sichtbar gemacht“ (τῷ δ’ ἀνθρωπομόρφῳ τοῦ αἰλούρου τὸ νοερὸν καὶ λογικὸν ἐμφαίνεται τῶν περὶ σελήνην μεταβολῶν, Is 376e) Is 382b: Ἀπορροή, „Ausfluss“, ist ein Schlüsselbegriff, s dazu Hirsch-Luipold 2002, 188, m Anm  95 Is 380f‒381a: εἰκόνας τινὰς ἀμαυρὰς … τῆς τῶν θεῶν δυνάμεως κατιδόντες Is 381b: οὐ μὴν οὐδ’ ὁ κροκόδειλος αἰτίας πιθανῆς ἀμοιροῦσαν ἔσχηκε τιμήν, ἀλλὰ μίμημα θεοῦ λέγεται γεγονέναι μόνος μὲν ἄγλωσσος ὤν· φωνῆς γὰρ ὁ θεῖος λόγος ἀπροσδεής ἐστι … μόνου δέ φασιν ἐν

5 1 Zur Frage der Wertung des anthropomorphen Gottesbildes bei Plutarch

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So sehr die lebendigen Tiere unmittelbarer das wahre Sein widerspiegeln, gelten künstlich hergestellte Verbildlichungen des Göttlichen keineswegs als unnötig Sie haben durchaus eine sinnvolle Funktion Das zeigen in besonderer Weise die beiden berühmten Szenen der Coriolanus- bzw Camillusvita, in denen jeweils die Tradition von einem sprechenden Götterbild (der Fortuna muliebris, Cor 37 f , bzw der Juno von Veii, Cam 7) besprochen wird Die Art und Weise, wie Plutarch seine Skepsis diesen Götterwundern gegenüber zum Ausdruck bringt, verrät seine trotz allem schwankende Haltung Zwar unterstreicht er, dass es eine Unmöglichkeit sei, dass die Statuen selber mit artikulierter Stimme reden könnten; andererseits ist ihm der Gedanke nicht ganz fremd, dass die Gottheit sich bestimmter, häufig berichteter Erscheinungen, etwa dass Götterbilder schwitzen u a m , die an sich natürlich zu erklären seien, dazu bedienen könne, um mit den Menschen zu kommunizieren 25 Dem Traktat Über die Schöpfung der Seele im Timaios lässt sich entnehmen, dass anthropomorphe Götterbilder schon zum ursprünglichen Symbolvorrat der alten, maßgeblichen Theologie gezählt werden 26 Am Ende dieser Abhandlung erfahren wir nämlich, dass es bereits in sehr alter Zeit Götterbilder gegeben habe: Die alten Theologen, die ältesten der Philosophen, haben den Bildern der Götter Musikinstrumente in die Hände gesetzt, nicht etwa in der Meinung, dass die Götter die Leier oder die Flöte spielen, sondern weil sie glaubten, dass die wichtigste Angelegenheit der Götter Harmonie und Eintracht seien 27

Die Äußerung zeigt, dass Plutarch zumindest zur Zeit der Abfassung des Traktats der Meinung gewesen ist, dass schon die alten Theologen Götterbilder menschlicher Gestalt eingeführt hätten – wären sie nicht menschengestaltet, hätte man nicht daran gedacht, sie mit Musikinstrumenten zu versehen, und es wird ja auch ausdrücklich gesagt, dass man ihnen diese in die Hände gesetzt habe (ἐγχειρίζειν) Über die Absicht der alten Theologen, damit wahre Gotteserkenntnis in übertragener Weise zu vermit-

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ὑγρῷ διαιτωμένου τὰς ὄψεις ὑμένα λεῖον καὶ διαφανῆ παρακαλύπτειν ἐκ τοῦ μετώπου κατερχόμενον, ὥστε βλέπειν μὴ βλεπόμενον, ὃ τῷ πρώτῳ θεῷ συμβέβηκεν „Und auch das Krokodil genießt eine Achtung, die nicht ohne triftigen Grund ist Man nennt es Abbild Gottes, weil dieses Tier als einziges keine Zunge hat; der göttliche Logos bedarf nämlich keiner Stimme Ferner sagen sie, dass nur vom Krokodil gilt, dass eine glatte und durchsichtige Haut von seiner Stirn herabfällt und seine Augen bedeckt, wenn es sich im Wasser befindet, so dass es sieht ohne gesehen zu werden, etwas was entsprechend auch vom Ersten Gott gilt “ Eine reichhaltige sachliche Diskussion der Vorstellungen, die Plutarch mit diesen Tieren verbindet, mit Parallelstellen ägyptischer, griechischer und lateinischer Texte, findet sich bei Hopfner 1967 2, 270–275 Cor 38,2–3 Vgl dazu Graf 2005, 255–257 S oben 5 0 sowie Boys-Stones 2001, 107–112 Vgl auch Van Nuffelen 2011, 48–71 De animae procreatione in Timaeo 1030a–b: οἵ τε πάλαι θεολόγοι, πρεσβύτατοι φιλοσόφων ὄντες, ὄργανα μουσικὰ θεῶν ἐνεχείριζον ἀγάλμασιν· οὐχ ὡς λύραν που καὶ αὐλοῦσιν, ἀλλ᾿ οὐθὲν ἔργον οἰόμενοι θεῶν οἷον ἁρμονίαν καὶ συμφωνίαν Dieselbe Phrase οἱ πάλαι θεολόγοι auch in Is 360d; in def. orac 436d οἱ παλαιοὶ θεολόγοι

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

teln, werden wir durch die beigegebene Bemerkung unterrichtet, die auch ausdrücklich von einem buchstäblichen Verständnis Abstand nimmt (οὐχ ὡς λύραν που καὶ αὐλοῦσιν) 28 Freilich sollen wir uns nicht vorstellen, dass diese uralten Götterbilder den kostbaren Götterbildern der klassischen und hellenistischen Zeit geähnelt hätten Vermutlich denkt Plutarch an vergleichsweise einfache, hölzerne Bilder In einem von Eusebios überlieferten Fragment (fr  158) schreibt Plutarch den Menschen früher Zeiten, die für ihre kunstlosen Bilder Holz vorgezogen hätten, eine Abneigung gegen die exklusiveren Stoffe zu Die angebliche Begründung der Hersteller dieser Bilder erinnert interessanterweise in gewisser Hinsicht daran, wie er in Is 382b–c die heiligen Tiere befürwortet Sie hätten es verschmäht, Götterbilder aus Stein herzustellen, denn der Stoff sei hart, widerstrebend und leblos Silber und Gold hätten sie allerdings nicht wegen ihrer Leblosigkeit vermieden, sondern weil sie gemeint hätten, dies seien Erzeugnisse ungesunder Natur (Allein Elfenbein hätte man gelegentlich als extra Schmuck akzeptiert )29 Im Fragment wird eine Reihe bekannter Beispiele von alten hölzernen Götterbildern erwähnt, so das alte Standbild der Athena Polias aus Olivenholz und die kleine, aus Birnbaum hergestellte Sitzfigur der Hera in Argolis, aber auch das kaum anthropomorphisierte Hera-Brett auf Samos Nach dem was hier gesagt worden ist, erscheint gerade bei Plutarch dieses Nebeneinander unvollständig anthropomorphisierter und voll-anthropomorpher Götterbilder völlig natürlich 28

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Es ist nicht notwendig, auf das Fragment 190 Sandbach einzugehen, demzufolge Plutarch gewisse Griechen getadelt hätte, weil sie in Nachfolge anderer Völker „den Irrtum der Götterbilder“ (πλάνην ἀγαλμάτων) eingeführt hätten Die Stelle findet sich in der Chronik des Johannes Malalas, Buch 2 (p  39,45 Thurn = 55,17 Dindorf) Es lässt sich nicht nachweisen, dass Malalas zu Plutarchs Schriften Zugang gehabt hat ( Jeffreys 1990, 190 f ) Beachte, dass Plutarch von Malalas irrtümlich als Χερονήσιος bezeichnet wird Richtig wäre Χαιρωνεύς Boys-Stones 2001, 110 n  22 bespricht das Verhältnis des Fragments zum von mir hier unten angeführten fr  158 und deutet es dahingehend, dass die Kritik in fr  190 der Verehrung der Bilder selber gelte, d h der irrigen Meinung, diese wären die Götter selbst Plut fr  158 Sandbach = Eus praep. ev 3,8,1: Πέτραν μὲν γὰρ εἰς θεοῦ κόπτειν εἰκόνα σκληρὰν καὶ δύσεργον καὶ ἄψυχον οὐκ ἐβούλοντο, χρυσὸν δὲ καὶ ἄργυρον ἡγοῦντο γῆς ἀκάρπου καὶ διεφθαρμένης χρώματα νοσώδη καὶ κηλῖδας ἐξανθεῖν ὥσπερ μώλωπας ὑπὸ πυρὸς ῥαπισθείσης· ἐλέφαντι δὲ παίζοντες μὲν ἔσθ’ ὅπου προσεχρῶντο ποικίλματι τρυφῆς „Sie wollten nicht aus Stein, diesem harten, widerstrebenden und leblosen Stoff, ein Bild eines Gottes hauen; Gold und Silber hielten sie für krankhafte Verfärbungen und Brandmale, die aus unfruchtbarer und verdorbener Erde aufschwellen, wenn sie von Feuer verheert wird Elfenbein verwendeten sie dagegen gelegentlich als prächtigen Schmuck, aber nur in spielerischer Weise “ (Die Überlieferung des letzten Worts ist nicht einheitlich, und Konjekturen sind auch vorgeschlagen worden Die Frage ist hier ohne Belang ) Das Beispiel des Hera-Bildes von Argolis, das aus einem frisch abgehauenen, schöngeäderten Baumzweig verfertigt wurde, gibt einen Fingerzeig, inwiefern Holz ein lebendigeres Material als Stein sei Vgl auch unten 5 3 (m Anm 95 und 96) In der modernen Forschung wird unterstrichen, dass zwischen kunstloseren und sophistikierteren Typen von Götterbildern ein weit komplexeres Verhältnis bestanden hat als dass es mit einem einfachen chronologischen Schema beschrieben werden könnte S dazu Mylonopoulos 2014, bes 277–283

5 2 Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus

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Ausdrückliche Aussagen Plutarchs über die ursprünglich vorgesehenen Rezipienten der Götterbilder sind mir nicht bekannt Die Bilder gehören jedenfalls zu den verschlüsselten Ausdrucksformen, deren sich Kult und Religion grundsätzlich bedienen Wie bei allen Medien, die wahre Gotteserkenntnis vermitteln, verlangt die Dekodierung philosophische Betrachtung und Bemühung Eine Absicht, die Menge vom Zugang zur Wahrheit auszusperren, scheint jedoch nicht vorzuliegen Eine buchstäbliche Deutung ist nicht erwünscht und wird nicht geduldet 30 Darin, dass er die Gefahren, die die anthropomorphe Darstellungsweise mit sich bringt, ausdrücklich betont und davor warnt und die Folgen mit Kraft verurteilt, unterscheidet sich Plutarch von den übrigen Denkern, die das anthropomorphe Gottesbild als philosophisch tragfähig darstellen Ob wir darin eine Seite einer ‚seelsorgerischen‘ Haltung seinerseits erkennen sollen, lasse ich dahingestellt sein 31 5.2. Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus Auf die neue Möglichkeit eines anthropomorphen Gesamtkonzepts, die mit der Aufwertung des anthropomorphen Gottesbildes folgt, habe ich oben 5 0 vorgreifend hingewiesen Ein solches Gesamtkonzept, das im Kern auf die „alten Theologen“ zurückgeht und Mythos, Kult und Ikonographie umfasst, liegt dem Kompendium der griechischen Theologie (᾽Επιδρομὴ τῶν κατὰ τὴν Ἑλληνικὴν θεολογίαν παραδεδομένων) zugrunde Das Kompendium gilt als Werk des Stoikers Lucius Annaeus Cornutus 32 Es bietet eine übersichtliche, leidlich systematische Behandlung des griechischen Pantheons Die verschiedenen Götter werden einzeln vorgeführt, ihre Funktion und ihre Namen werden erklärt; wir erfahren, wie sie dargestellt werden, welche Attribute für sie kennzeichnend sind und warum Die Signifikanz ihrer Mythen wird besprochen Das früher in der Forschung wenig beachtete Werk ist in den letzten Jahrzehnten zunehmend Gegenstand wissenschaftlichen Interesses geworden 33 Ich habe oben am

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Vgl meine Überlegungen zu einer potentiellen doppelten Intention oben Kap  1 1 (vor Anm  18) So Feldmeier 1998, bes 417 Zu einer Diskussion der Argumente für und wider die herkömmliche Attribution bzw der Frage, ob die überlieferte Schrift in der uns vorliegenden Form vollständig ist oder eine Kurzfassung darstellt, s die Einführung von Berdozzo in Nesselrath 2009 a, 17–22 Die neue Teubnerausgabe von J B Torres (mit dem Titel Compendium de Graecae Theologiae traditionibus, 2018) ist leider zu spät erschienen, um von mir berücksichtigt zu werden Im Folgenden wird Cornutus nach der Kapiteleinteilung der alten Ausgabe von Lang (1881) zitiert, mit zusätzlicher Paragraphen- und Zeilennummerierung wie bei Nesselrath 2009 a Sowohl in Nesselrath wie in Ramelli 2003 und in Busch u  Zangenberg 2010 wird der Text von Lang reproduziert (jeweils mit vollständiger Übersetzung) Most 1989 und Long 1990/1996 haben die moderne Diskussion zur Frage der Dichterallegorese des Cornutus eingeleitet Wichtige Beiträge seitdem v a Dawson 1992, 24–38; Boys-Stones 2001, bes 49–59 sowie 2003, bes 196–212; Struck 2004, 142–154 sowie die Artikel in Nesselrath 2009 a

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Anfang des vorigen Kapitels darauf hingewiesen, dass Cornutus in der Geschichte des dort beschriebenen Gedankenmodells eine wichtige Rolle spielt Boys-Stones, dem wir die Aufdeckung dieses Modells verdanken, beschreibt, wie das Modell von Cornutus angewendet worden ist Er betont dabei v a den Umstand, dass Cornutus nicht nur die Existenz frühzeitlicher Philosophen voraussetzt, die überlegene Einsichten in die Struktur und die Mechanismen des Kosmos besessen hätten, sondern dass er auch damit rechnet, dass diese ihre Erkenntnisse bewusst formuliert hätten; dabei hätten sie sich einer allegorischen Ausdrucksform bedient, der eine gewisse narrative Struktur eigen gewesen sei Die Dichter hätten dann diese Allegorien als Grundlage für ihre Geschichten benutzt und sie ausgiebig durch eigenes Fabulieren erweitert, so dass sich daraus allmählich eine umfassende mythologische Tradition entwickelt habe, von der auch die Kultsitten beeinflusst worden seien Dank der von vornherein vorliegenden allegorischen Form müsste die Ausgangslage für eine Rekonstruktion der ursprünglichen nicht-fiktiven Aussagen vergleichsweise günstig sein, da man damit rechnen könne, dass wesentliche Teile davon annähernd unversehrt und zusammenhängend erhalten geblieben seien 34 Die Basis der Methode des Cornutus bildet die etymologische Analyse der Götternamen Die Etablierung der exakten Referenz und Bedeutung der Namen schafft die Voraussetzung für die weitere sinnvolle Rekonstruktion der frühen Theologie 35 Nur kurz kommentiert Boys-Stones, dass Cornutus nicht ausschließlich sprachlich manifestierte Elemente (Namen und Mythen) behandelt 36 Die mythologische Tradition bildet durchgehend den Schwerpunkt seiner Darstellung Aber schon mehrere Jahre früher hatte Dawson eine Charakteristik der Vorstellung des Cornutus von der Tätigkeit der frühen Weisen formuliert, die dem in unserem Zusammenhang entscheidenden Umstand gerecht wird, dass für Cornutus die anthropomorphe Darstellungsform von den frühzeitlichen Philosophen selbst bewusst eingeführt worden ist: „In his view the ancient mythmaker is primarily a producer of personifications, turning conceptions of the elements of nature into anthropomorphic gods When he spins stories about these personifications – when he puts his characters into motion, so to speak – he produces allegories “37 Dawsons Begriff „mythmaker“ greift allerdings zu kurz Diese Wortwahl könnte leicht den Umstand verdecken, dass in den Augen des Cornutus die anthropomorphen Gestalten unabhängig vom und primär zum Narrativ eingeführt worden sind, um auf die jeweiligen Erscheinungen der Physis hinzuwei34 35 36 37

Boys-Stones 2001, 52–54; 2003, 196–207, bes 205–206 Boys-Stones 2001, 55 S auch Dawson 1992, 26 Vgl unten Anm  60 Boys-Stones 2003, 198, Anm  14: „Cornutus’ interest in the allegorical potential of iconographical attributes shows, of course, that he is interested in the theological tradition at large, not merely its literary reflections “ Etwas uneindeutig ders 2001, 54 (Kultsitten) Dawson 1992, 32 Wie ich oben 1 3 und bes 1 4 betont habe, gibt es gute praktische Gründe, antike philosophische Auffassungen von den Olympiern grundsätzlich nicht als ‚Personifikationen‘ zu bezeichnen Zugegebenermaßen träfe die Bezeichnung, so wie ich sie dort definiert habe (s 1 3 Anm  37), auf die Vorgehensweise des Cornutus durchaus zu

5 2 Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus

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sen Sie sind einschließlich all ihrer menschlichen Charakteristiken von den frühen Theologen ersonnen worden und bilden einen eigenen Bereich der verschlüsselten Ausdrucksmittel, deren sich die alten Theologen bedient hätten So manifestiert sich die Philosophie der Alten nicht nur im verborgenen Sinn überkommener Erzählungen, sondern auch in der herkömmlichen Ikonographie sowie im Kult Der Vergleich mit dem Vortrag des Lucilius Balbus bei Cicero, De natura deorum 2, mit dem wir uns in Kap  3 auseinandergesetzt haben, ist instruktiv, da beide, Balbus wie Cornutus, dasselbe stoische Weltbild vertreten 38 Für Balbus ist die Sitte, die Götter in menschlicher Gestalt mit persönlichen menschlichen Charakteristiken und mit menschlichen Familienbanden darzustellen, das Ergebnis einer bedauerlichen negativen Entwicklung Das, was sich an Wahrheit und richtiger Theologie darin verstecken mag, stammt aus der Zeit des voranthropomorphen Gottesbildes Das voll ausgebildete anthropomorphisierte Pantheon ist für Balbus nichts als eine Ansammlung von reinen Phantasiegöttern (commenticii et ficti dei), die mit all ihren genau festgelegten formae, aetates, vestitus, ornatus, genera, coniugia und cognationes erst aufkamen, nachdem das Verständnis der basalen anthropomorphen Bildsprache, mit der die Wirkung der Gottheit in der Welt einst in sinnvoller Weise beschrieben wurde, verlorengegangen war, indem die ursprüngliche Metaphorik als buchstäblicher Diskurs missverstanden worden war 39 Für Cornutus sind die menschliche Gestalt und die menschlichen Charakteristiken der Götter – die formae, aetates, vestitus, ornatus, genera, coniugia und cognationes, um mit Balbus zu sprechen – selbstverständlich ebenfalls in konkretem Sinne unwahr Aber weit davon entfernt, dass die Vermenschlichung – wie bei Balbus – als Ergebnis einer Missdeutung sprachlicher Grundmetaphern gilt, stellen die menschliche Gestalt, die individuellen äußeren Charakteristiken, die durchgeführten Verwandtschafts- und Familienbeziehungen, die Kleidung und die Attribute, kurzum, der ganze Vorrat von konkreten, anthropomorphen Einzelheiten und Eigenschaften, nun selbst eine bewusst gewählte, methodisch verwendete Metaphorik dar, in der jedes einzelne Element auf besondere Eigenheiten des Referenten hinweist und dazu beiträgt, ein wahres Gesamtbild figurativen Charakters zu vermitteln Cornutus hält es beispielsweise für gut begründet, dass Zeus in der Gestalt eines vollreifen Mannes dargestellt wird (9,4 l  162) Unter Zeus verstehe man nämlich die Seele des Kosmos (2,1 l  27 f ) oder den Urgrund des Kosmos (9,1 137), das reine Feuer (19,1 630), und so sei aller Verfall, aber auch alles Unreife ihm fremd – er sei nur mit allem Vollkommenen verbunden, weswegen man ihm nur völlig einwandfreie Opfertiere opfere (9,4 162) Dionysos pflegt man dagegen sowohl als jungen wie als älteren Mann darzustellen (30,8 1192), Eros ist wiederum ein Kind, was alles ebenfalls sinnvoll sei (25,1 923) Von Apollon und

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Vgl oben Kap  3 1 1 Cic nat. deor 2,70 (oben 3 1 1 , m Anm  19)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Artemis (Sonne und Mond) gilt, dass seit alters her jener männlich und diese weiblich dargestellt wird; mit gutem Grund werden sie als Geschwister vorgeführt (32,4 1323) und treten als Bogenschützen auf (32,1 1296; s hier gleich unten) Hätten wir die Beispiele einzeln und isoliert vor Augen bekommen, wären wir häufig genug nicht in der Lage gewesen, zu entscheiden, ob wir es vielleicht doch mit einer Vergangenheitsauffassung wie der des Lucilius Balbus zu tun haben Nehmen wir z B die Signifikanz der olympischen Geschwisterehe, wie sie im dritten Kapitel beschrieben wird: Es ist überliefert, dass seine / d h des Zeus / Gattin und Schwester Hera ist, welche die Luft ist Sie steht nämlich in unmittelbarer Berührung mit und Verbindung zu ihm, wobei sie von der Erde abgehoben ist und jener [Zeus] zu ihr hinabgestiegen ist …40

Balbus äußert sich dazu folgendermaßen: Ferner wird die Luft, die sich zwischen Himmel und Meer befindet, wie die Stoiker argumentieren, unter dem Namen Juno als Göttin bezeichnet; sie ist die Schwester und Gemahlin Jupiters, weil sie dem Äther gleicht und engstens mit ihm verbunden ist Man hat die Luft mit weiblichem Geschlecht benannt und der Juno zugeschrieben, weil nichts weicher ist als die Luft 41

Die Verwandtschaftsmetaphorik bleibt dieselbe, unabhängig davon, ob ein anthropomorphes Gesamtkonzept vorausgesetzt wird oder nicht Erst die gelegentlich beigegebenen Erläuterungen der Urheberintentionen klären uns darüber auf, dass die vollanthropomorphen Gestalten zur Ursprungsfassung gehören sollen: Athene /φρόνησις/ wird in voller Rüstung dargestellt, und man erzählt (sie erzählen), dass sie mit dieser Ausstattung geboren worden sei, damit anzeigend, dass die Vernunft selbständig sich dazu rüstet, die größten und schwierigsten Taten zu vollziehen 42

Ein weiteres Beispiel: Die Alten pflegten die älteren und bärtigen Hermes-Figuren mit erigierten Genitalien darzustellen, die jüngeren und bartlosen mit schlaffen Genitalien, womit sie anzeigten, dass in den Menschen fortgeschrittenen Alters die Vernunft (λόγος) fruchtbar und vollkommen ist …, in den jungen Leuten aber noch unfruchtbar und unvollkommen 43 40 41 42 43

Cornutus 3,1 39–43: Γυνὴ δὲ καὶ ἀδελφὴ αὐτοῦ παραδέδοται ἡ Ἥρα, ἥτις ἐστὶν ὁ ἀήρ συνῆπται γὰρ εὐθὺς αὐτῷ καὶ κεκόλληται αἰρομένη ἀπὸ τῆς γῆς ἐκείνου αὐτῇ ἐπιβεβηκότος … (Übers Berdozzo bei Nesselrath 33) Cic nat. deor 2,66 Lat Text oben 3 1 1 Anm  18 Cornutus 20,4 695–698: Καθωπλισμένη δὲ πλάττεται καὶ οὕτως ἱστοροῦσιν αὐτὴν γεγονέναι παριστάντες ὅτι αὐτάρκως πρὸς τὰς μεγίστας καὶ δυσφορωτάτους πράξεις παρασκευάζεται ἡ φρόνησις … (Meine Übersetzung ) C 16,10 427 ff : Οἱ δ᾽ ἀρχαῖοι τοὺς μὲν πρεσβυτέρους καὶ γενειῶντας Ἑρμᾶς ὀρθὰ ἐποίουν τὰ αἰδοῖα ἔχοντας, τοὺς δὲ νεωτέρους καὶ λείους παρειμένα, παριστάντες ὅτι ἐν τοῖς προβεβηκόσι ταῖς ἡλικίαις

5 2 Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus

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Und über Apollon und Artemis heißt es: Darum nämlich / weil sie Sonne und Mond sind / hat man beide als Bogenschützen dargestellt, weil man auf das gleichsam weit reichende Aussenden ihrer Strahlen anspielen wollte 44

In entsprechender Weise können wir erkennen, dass Cornutus meint, dass das mythische Narrativ schon von vornherein in der Absicht geschaffen worden sei, einen anderen Sinninhalt als den oberflächlichen zu vermitteln: „Dieser Mythos ist komponiert worden, um die Entstehung des Kosmos zu beschreiben,“ heißt es von der Sage, wie Kronos den Stein verschlang, der ihm anstelle des neugeborenen Zeus vorgezeigt wurde 45 Wir haben es also nicht mit einer sekundär und versehentlich aus einem ursprünglichen, metaphorischen Kern entstandenen impia fabula zu tun (vgl Balbus in nat. deor 2,64), sondern mit einem zusammenhängenden, sinnvollen Mythos, der in dieser Form, einschließlich der voll anthropomorphisierten Rollenfiguren, konzipiert worden sei, um die Entstehung des Kosmos in verschlüsselter Weise darzulegen Im Zentrum des Interesses steht „die alte Theologie“ 46 Das anthropomorphe Gesamtkonzept gehört dazu Die Alten, οἱ παλαιοί, οἱ ἀρχαῖοι, οἱ πρεσβύτεροι, haben diese Methode, die Gottheit und ihre Wirkung zu beschreiben, bewusst erfunden Wohlgemerkt: Daraus folgt nicht, dass alles, was später entstanden ist, wertlos sei Auch Elemente, die nach und nach hinzugekommen sind, werden u U als richtig und sinnvoll erklärt Deshalb sind Vergangenheitsformen wie παρήγαγον, παρεισήγαγον, παραδέδοται, ἐμύθευσαν, ἔφασαν, ἐπωνόμασαν usw nicht immer so zu verstehen, dass hinter diesen Vorstellungen und Aussagen „die Alten“ selbst stehen Die anthropomorphe Darstellungsweise vermittelt an sich schon tiefere Wahrheit – dazu ist sie ja erfunden worden – und es müsste somit denkbar sein, sich weiterhin dieses Mediums, mit allem was dazu gehört, zu bedienen, vorausgesetzt, dass die richtige Methode der Alten erkannt und eingehalten wird Das bedeutet, dass auch Spätere das anthropo-

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γόνιμος ὁ λόγος καὶ τέλειός ἐστιν … ἐν δὲ τοῖς ἀώροις ἄγονος καὶ ἀτελής (Übersetzung Berdozzo bei Nesselrath 57 ) 32,1 1296: Διὰ τοῦτο γὰρ καὶ τοξότας αὐτοὺς ἀμφοτέρους παρήγαγον, τὴν ὡσανεὶ ἄφεσιν πόρρω τῶν ἀκτίνων αἰνιττόμενοι (Übersetzung Berdozzo 109, leicht abgeändert) Vgl auch z B 14,4 258, wo erklärt wird, weshalb die Musen als weiblich dargestellt werden 6,6 108 συντέτακται γὰρ ὁ μῦθος περὶ τῆς τοῦ κόσμου γενέσεως Die Verschlingung der eigenen Kinder durch Kronos (6,5–6 98–114) wird von Cornutus interessanterweise in zwei verschieden zu deutende Abschnitte unterteilt, und zwar so, dass einerseits das Schicksal der älteren Kinder auf das periodische Vergehen der Elemente, die durch die Bewegung der Physis bei der Welterschaffung entstanden sind (vgl 3,2 48–50), sowie auf den Fortgang der Zeit zu beziehen sei, während andererseits die Verschlingung des Steins – des angeblichen Zeus – in anderer Weise (ἄλλως) zu deuten sei: Hier geht es um die Entstehung des Kosmos selbst, und zwar darum, wie das ordnende Prinzip (Zeus) sich durchsetzte, indem die Erde (= der Stein) ihren festen Platz in der Mitte erhielt Ἡ παλαιὰ θεολογία, 17,12 591; 31,3 1267 Vgl damit Plut de defectu orac 436d; anim. procr 1030a und Is 360d (oben 5 1 , m Anm  27)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

morphe Modell erfolgreich verwendet haben, um in derselben Weise, wie die Alten das taten, weitere wesentliche, so weit unaufgedeckte Einblicke in die Physis und ihre göttlichen Mechanismen zu vermitteln, und vermutlich meint Cornutus, dass weiterhin auch andere es so verwenden können, wenn sie es nur verstehen, dieses Instrument korrekt zu handhaben 47 Entsprechendes gilt von Namen und Epitheten: Gelegentlich werden auch solche, die nicht unbedingt von den Alten selber stammen, billigend erwähnt Wenn sie mit der Methode der Alten im Einklang stehen, können sie als sinnvolle Ausdrücke theologischer Wahrheit akzeptiert werden 48 Unter Umständen wird, wie es scheint, sogar erwogen, ob nicht alte, ursprüngliche Namen sich sinnvoll neu interpretieren lassen, so dass zur ursprünglichen Signifikanz weitere, aussagekräftige Deutungen treten können 49 Es handelt sich also gewissermaßen um ein ‚offenes‘ System Tatsächlich haben wir oben 3 1 1 bei Balbus (mutatis mutandis) eine nicht unähnliche Haltung der ursprünglichen Überlieferung und ihrer Reproduzierbarkeit gegenüber gesehen Dieser verurteilt zwar die fabulae poetarum, hat aber nichts dagegen, wenn die Dichter sich der anthropomorphen Metaphorik in ihrer ursprünglichen Form bedienen, d h so, dass es völlig klar ist, dass es sich um anthropomorphe Sprachmetaphern und eben nicht um Götter als regelrechte Personen handelt Das bedeutet nun nicht, dass das Postulat einer Degeneration der Menschheit nach der vorbildlichen Frühzeit aufgegeben worden ist 50 Die alte Theologie ist nicht intakt geblieben – gerade deswegen liegt ja der Bedarf der Rekonstruktion vor Die Dichter 47 48

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So soll die Vorstellung von der Verbindung zwischen Herakles und Hebe als koische Lokaltradition entstanden sein (31,4 1280) S auch Dawson 1992, 26 f zur Gewohnheit des Cornutus, eine Brücke zwischen den „Alten“ und den modernen Experten zu schlagen Das gilt z B von der Nebentradition von Uranos als Sohn des Akmon, die Cornutus bei „einigen Dichtern“ findet (1,1 l  9) Da er die dazugehörige Begründung, einschließlich der Etymologie, ausdrücklich diesen Dichtern zuschreibt, hält er sie offensichtlich für die Urheber der Tradition: τινὲς δὲ τῶν ποιητῶν Ἄκμονος ἔφασαν αὐτὸν υἱὸν εἶναι, τὸ ἄκμητον τῆς περιφορᾶς αὐτοῦ αἰνιττόμενοι, ἢ προλαβόντες ὅτι ἄφθαρτός ἐστι τοῦτο παριστᾶσι διὰ τῆς ἐτυμολογίας· κεκμηκέναι γὰρ λέγομεν τοὺς τετελευτηκότας „Einige der Dichter haben gesagt, dass er der Sohn des Akmon sei, womit sie auf das Unermüdliche (τὸ ἄκμητον) seines Kreislaufs hingewiesen haben, oder aber sie bringen ihre Einsicht, dass er unvergänglich ist, etymologisch zum Ausdruck Wir sagen nämlich dass die Toten κεκμηκέναι (‚müde sind‘)“ Vgl auch 20,10 739, zu Athene als ἀλαλκομενηίς und ἀγεληίς Ich beziehe mich hier auf den sehr interessanten Fall der Etymologisierung des Namens Aisa Von ihm erfahren wir im 13 Kapitel, wo zunächst die Moira ausdrücklich mit Zeus gleichgesetzt wird: „Zeus ist auch Moira, da er die verborgene Zuteilung des über jeden Einzelnen verhängten Schicksals ist; von daher wurden auch sonst Anteile anderer Art moirai genannt Aisa ist die ungesehene und unbekannte Ursache allen Geschehens – damit wird nämlich jetzt die Unsicherheit der sich ablösenden Dinge bezeichnet – oder sie ist die Immerwährende, wie die Alten sie verstanden haben “ (13,1 206 ff : Ὁ Ζεὺς δέ ἐστι καὶ ἡ Μοῖρα διὰ τὸ μὴ ὁρωμένη διανέμησις εἶναι τῶν ἐπιβαλλόντων ἑκάστῳ, ἐντεῦθεν ἤδη τῶν ἄλλων μερίδων μοιρῶν ὠνομασμένων Αἶσα δέ ἐστιν ἡ ἄιστος καὶ ἄγνωστος αἰτία τῶν γινομένων – ἐμφαίνεται δὲ νῦν ἡ τῶν κατὰ μέρος ἀδηλότης – ἤ, ὡς οἱ πρεσβύτεροι, ἡ ἀεὶ οὖσα ) Zwar bin ich im Zweifel, ob meine Übersetzung der Intention des Textes entspricht, jedoch glaube ich, dass sie jedenfalls adäquater ist als die Fassungen von Ramelli 195, Berdozzo bei Nesselrath 43–45 bzw Busch u  Zangenberg 83 Vgl oben Kap  4 0

5 2 Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus

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tragen einen Teil der Verantwortung für ihre Verballhornung Cornutus will den Dichtern grundsätzlich weder Einsicht in die wahre Theologie noch Beherrschung ihrer Methoden abstreiten 51 Es reicht, hier auf die Dionysosmythen hinzuweisen, die in cap  30 referiert und auf verschiedene Momente der Weinherstellung bezogen werden Nichts deutet darauf, dass die wahre Signifikanz der von Homer wiedergegebenen Sage, wie Lykurgos sich dem Dionysos widersetzte und den Gott dazu trieb, sich ins Meer zu stürzen (Il 6,130–139), dem Dichter entgangen wäre, zumal Cornutus meint, dass der Sinn ohnehin leicht zu durchschauen sei,52 und es wird ausdrücklich betont, dass der tiefere Sinn der Tradition, nach der Dionysos von den Titanen zerrissen wurde, aber dann von Rhea wieder zusammengefügt wurde, von denjenigen, die diesen Mythos überliefert haben, intendiert gewesen sei 53 Unter der Bedingung, dass der Zweck der narrativen Darstellung der ist, philosophische Wahrheit über das Wesen und die Mechanismen des Kosmos zu vermitteln, genau wie es zur Zeit der Alten war, ist Cornutus durchaus bereit, Teile des dichterischen Götternarrativs gutzuheißen, auch wenn es nicht in allen Einzelheiten auf die Zeit der Alten zurückgehen sollte 54 Nicht zulässig ist dagegen, die Tradition μυθικώτερον umzugestalten, was so viel heißen muss, dass es verpönt ist, um der Unterhaltung und der spannenden Effekte willen neue, nicht wahrheitstragende, d h nicht in der Methode der Alten verankerte Elemente hinzuzufügen 55 Das was von Urhebern stammt, die nicht verstanden haben,

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Hierin ist Boys-Stones 2001, 53 f zu berichtigen und Dawson 1992, 24–25 zu ergänzen Dagegen stellt Struck ausdrücklich fest, dass Cornutus nicht der Meinung ist, dass die Dichter nie in der Lage gewesen seien, den eigentlichen Sinn der Traditionen, aus denen sie schöpfen, korrekt zu beurteilen, s bes 2004, 150: „The poet may or may not have understood the wisdom contained in his material “ C 30,18 1247 Ὁ παρὰ τῷ ποιητῇ δὲ μῦθος … ἐμφανῆ τὴν διάνοιαν ἔχει C 30,17 1241 … αἰνιττομένων τῶν παραδόντων τὸν μῦθον ὅτι … So findet z B Agamemnons Schilderung der runzeligen Litai, der Bitten, die hinter ihrer Schwester Ate herhumpeln (Il 9,502 ff ), offensichtlich die Zustimmung des Cornutus (c  12), genauso wie die bei einigen Dichtern vertretene Vorstellung von Uranos als Sohn eines Akmon (oben, Anm  48) 17,12 588 ff : Ἀλλὰ τῆς μὲν Ἡσιόδου τελειοτέρα ποτ᾽ ἂν ἐξήγησίς σοι γένοιτο, τὰ μέν τινα, ὡς οἶμαι, παρὰ τῶν ἀρχαιοτέρων αὐτοῦ παρειληφότος, τὰ δὲ μυθικώτερον ἀφ᾽ αὑτοῦ προσθέντος, ᾧ τρόπῳ καὶ πλεῖστα τῆς παλαιᾶς θεολογίας διεφθάρη „Aber die des Hesiod könnte man dir ausführlicher darlegen, denn er übernimmt – wie ich meine – einige Elemente von älteren [Autoren], andere aber hat er aus eigener Erfindung noch stärker fabulierend hinzugefügt, wodurch auch wirklich sehr vieles der älteren Theologie entstellt wurde “ (Berdozzo 67 Unklar bei Busch u  Zangenberg 2010, 103: „Also – was nun Hesiods Genealogie anbetrifft, so möge dir eine doch noch vollendetere Darstellung zukommen “) Die Ergänzung von Lang ist wahrscheinlich von der gleich zu erörternden Stelle 17,3 514 ff beeinflusst; als Alternative dazu wäre auch etwa θεογονίας denkbar Dawson (1992, 25) und Struck (2004, 149) ziehen es vor, den Text nicht zu ergänzen: „You can,“ Cornutus says, „obtain a more perfect exposition than Hesiod’s“ (Dawson 25) Das Problem, mit dem sich Cornutus in diesem vielbesprochenen Abschnitt auseinandersetzt, besteht, wie ich die Sache betrachte, nicht in den Zusätzen des Hesiod an sich, sondern in solchen Zusätzen, die nicht in der metaphorisch-symbolischen Methode der Alten verankert sind Vgl hier im Folgenden

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

was die ursprüngliche Überlieferung eigentlich sagen will, sondern allein wegen der Oberflächenbedeutung narrative Sequenzen schaffen und somit nichts anderes erreichen wollen, als dass die Götter als tatsächlich menschengestaltete, menschlich denkende und menschlich reagierende Rollenfiguren vorgeführt werden, muss aussortiert werden 56 Es muss somit unterstrichen werden, dass es nicht darum geht, jedes neue Element zu verurteilen Nur solche sollen abgewiesen werden, die ohne Einsicht in den tieferen Sinn des Grundstoffs und ohne Absicht, entsprechende Inhalte zu vermitteln, geschaffen worden sind 57 5 2 1 Cornutus und die stoische ‚Allegorese‘ In seinem schon mehrmals von mir erwähnten Beitrag „Stoic readings of Homer“ bemühte sich A A  Long zu zeigen, dass die Stoiker keineswegs, wie bislang gemeinhin angenommen, sich der Allegorese frühgriechischer Dichtung gewidmet hätten Dass Longs Standpunkt im großen Ganzen für die älteren Stoiker stichhaltig ist und sich sogar teilweise mit weiteren Argumenten unterbauen lässt, habe ich oben 3 1 1 1 dargelegt Dagegen muss Longs Versuch, seine These gerade an Hand von Cornutus zu bekräftigen, als verfehlt angesehen werden, wie Boys-Stones gezeigt hat 58 Aber Boys-Stones geht nicht weit genug Denn der Gedanke, dass im dichterischen Götternarrativ – andere Bereiche der Dichtung sind nicht betroffen59 – eine tiefere Wahrheit

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Vgl am Anfang desselben Kapitels, 17,3  513 ff : Δεῖ δὲ μὴ συγχεῖν τοὺς μύθους μηδ᾽ ἐξ ἑτέρου τὰ ὀνόματα ἐφ᾽ ἕτερον μεταφέρειν μηδ᾽ εἴ τι προσεπλάσθη ταῖς παραδεδομέναις κατ᾽ αὐτοὺς γενεαλογίαις ὑπὸ τῶν μὴ συνιέντων ἃ αἰνίττονται, κεχρημένων δ᾽ αὐτοῖς ὡς καὶ τοῖς πλάσμασιν, ἀλόγως τίθεσθαι Berdozzo übersetzt (Nesselrath 61): „Man darf aber die Mythen nicht durcheinanderbringen noch die Namen von einem auf den anderen übertragen noch ohne Überlegung etwas hinzusetzen, falls etwas erfunden und den in ihnen überlieferten Genealogien von Menschen hinzugefügt wurde, die nicht wissen, worauf [damit] angespielt wird, und die Mythen wie erfundene Geschichten behandeln “ Ich schlage vor, diese Fassung im Anschluss an Boys-Stones (2001, 53) folgendermaßen zu revidieren: „… noch darf man, falls etwas zusätzlich zu den überlieferten Genealogien hinzugedichtet wurde von solchen Menschen, die nicht begreifen, welcher tiefere Sinn dadurch vermittelt wird, sondern die Mythen wie erfundene Geschichten behandeln, dieses gegen die Vernunft akzeptieren“ (ἀλόγως τίθεσθαι) Wenn etwas als „hinzugedichtet“ oder „zusätzlich erfunden“ gilt (προσεπλάσθη, wie in 17,3 514, s die vorige Anm , und in 28,6 1075; in 34,2 1432 προσεπλασμένον; in 34,2 1453 προσανεπλάσθη), ist deshalb nicht unbedingt damit gesagt, dass dies bar jedes wertvollen philosophischen Sinnes sei In c  28,6 und 34,2 werden die hinzuerfundenen Elemente offensichtlich anerkannt Dass in 17,3 (vorige Anm ) dies nicht der Fall ist, erfahren wir durch den ausdrücklich angegebenen Agens („von solchen Menschen, die nicht begreifen, welcher tiefere Sinn durch die Mythen vermittelt wird“) Long 2001, 71–75 (1992, 53–57); Boys-Stones 2001, 54–59; 2003, bes 205–210 Insofern hat Steinmetz (1986) zweifellos darin Recht, dass die Stoa keine „allegorische Deutung von Dichtung als Dichtung“ kannte, andererseits bleibt diese Feststellung aus genau demselben Grund etwas pointelos Vgl Konstan in Russell u  Konstan 2005, Introduction S xxviii

5 2 Das Kompendium der griechischen Theologie des Cornutus

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stecke, die den Dichtern bewusst gewesen sei und u U sogar erst von ihnen selbst hineingelegt worden sei, ist Cornutus keineswegs fremd Es trifft also nicht zu, wie Boys-Stones meint, dass Cornutus die Dichter ausschließlich als Vermittler älterer, mythischer Tradition, deren tiefere Signifikanz sie selbst grundsätzlich nicht verstanden hätten, betrachtet hätte, wie wir auch im Vorangehenden festgestellt haben Dass in der Suche nach der Wahrheit die etymologische Untersuchung für Cornutus den ersten Rang einnimmt, ist ohne weiteres einzuräumen; sein Gesamtunternehmen lässt sich aber nicht, wie Long es wollte, als ‚Etymologisierung‘ charakterisieren 60 Cornutus ist (im Gegensatz zu den früheren Stoikern) auch an allegorischen Göttermythen und an allegorischer Dichtung über die Götter interessiert 61 Wichtig bleibt, zu unterstreichen, dass die Allegorese, sei es der Dichtung selber, sei es der in die Dichtung eingeflossenen, überkommenen Mythen, in seinem Vorhaben keine hervortretende Rolle spielt Nun unterscheidet sich Cornutus, wie wir gesehen haben, von seinen Vorgängern in der Stoa auch darin, dass er die anthropomorphe Form der Götter für theologisch berechtigt hält Die anthropomorphe Gottesvorstellung, wie sie sich in Wort und Bild manifestiert, gehört in der Epidrome zum philosophischen Grundkonzept und gilt demgemäß als Bestandteil der alten Theologie Da die anthropomorphe Darstellungsweise aus der Sicht des Cornutus bewusst dazu geschaffen worden ist, so zu funktionieren, dass die äußere, unmittelbar zu beobachtende Ebene sich vom eigentlichen Sinngehalt unterscheidet und diesen überlagert, könnten wir den Prozess, in dem Cornutus die Oberflächenebene untersucht und die unterliegende Sinnebene herausarbeitet, wenn wir wollen, als ‚Allegorese‘ bezeichnen Andererseits gibt es Anlass, zu befürchten, dass bei Verwendung dieser Bezeichnung neu gewonnene Einsichten wieder verwischt werden und alte Missverständnisse weiter befestigt werden Mosts Bemerkung, dass Cornutus sein Material stets gleich behandelt, also unabhängig davon, ob es sich um Dichtung, um Epithete, Kultrituale oder Bilddarstellungen handelt, trifft zwar weitgehend das Richtige, und insofern wäre das alles Allegorese 62 Da Cornutus nun aber hierin in mehrfacher Hinsicht sich von seinen Vorgängern abhebt, 60

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Vgl Long 2001, bes 71 (= 1992, 54) Dawson 1992, 26–35 bietet eine beachtenswerte Analyse, wie sich Etymologie und Mythenverständnis bei Cornutus zueinander verhalten Er verankert seine Behandlung des Themas in einer gründlichen Übersicht antiker (stoischer) Sprachtheorie S auch Boys-Stones 2001, 55, der erklärt, weshalb in den Augen der antiken Ausleger die Götternamen und ihre Etymologie einen sichereren Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der alten Theologie bieten können als das dichterische Götternarrativ Cornutus scheint im Allgemeinen nicht damit zu rechnen, dass die eigentliche Bedeutung der Namen und Epithete soweit verborgen geblieben wäre Vor allem schreibt er den Dichtern meist volle Kenntnis der Signifikanz der von ihnen verwendeten Epithete zu Wie wir oben (m Anm  49) gesehen haben, ist er gelegentlich sogar bereit, eine neu hinzugekommene Sinngebung eines traditionellen Namens als zutreffend anzusehen Bei Struck wird diese Seite des Vorhabens bei Cornutus wiederum zu stark betont (s bes 2004, 145) Most 1989, 2024

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

haben wir, generell gesehen, allen Anlass, die Exegese verschiedener Materialien terminologisch zu unterscheiden 63 Das lässt sich in sinnvoller Weise machen, wenn wir den Begriff ‚Allegorese‘ für solche Exegese literarischer und mythischer Narrative (d h in unserem Zusammenhang: narrativer Textsequenzen) reservieren, die diesen eine ursprünglich hineingelegte, nichtbuchstäbliche Sinnebene zuschreibt, die als das eigentliche intentionale Anliegen betrachtet wird 64 Das würde eine strikte Unterscheidung der Mechanismen einer Allegorese des Götternarrativs und der Methode des Cornutus, der anthropomorphen Darstellungsweise insgesamt ihren vermeintlichen Sinn zu entlocken, erlauben Wohlgemerkt: Der Wahrheitsgehalt dieser Darstellungsform ist für Cornutus von jedem Narrativ unabhängig Zudem werden die verschiedenen anthropomorphen und mit der anthropomorphen Darstellungsweise verbundenen Züge bei Cornutus einzeln als theologisch signifikant betrachtet und ausgelegt, während in der literarischen Allegorese die zusammenhängende Handlung des Narrativs (das Agieren der Rollen) von konstitutiver Bedeutung ist, ein Verfahren, das in den wenigen in der Epidrome besprochenen narrativen Sequenzen studiert werden kann, wie etwa im Mythos von der Verschlingung der eigenen Kinder durch Kronos 65 Aus diesen Gründen erscheint eine terminologische Unterscheidung wünschenswert 5.3. Porphyrios über die Götterbilder Bei zwei neuplatonischen Denkern, Porphyrios und Macrobius, finden sich Überlegungen zur Frage nach Sinn und Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes, die nach einem Platz in meiner Untersuchung verlangen 66 Beide Autoren stimmen darin überein, dass sie die Sitte, die Götter in menschlicher Gestalt zu präsentieren, als bewusste Strategie betrachten, die schon in einer fernen Vergangenheit eingeführt worden sein soll Aber nur hierin sind sie sich einig Was vermeintliche Intention, Wahrheitsgehalt und Zielgruppe der Darstellungen betrifft, nehmen sie entgegengesetzte Standpunkte ein Der Anlage meiner Untersuchung entsprechend wurde der einschlägige Abschnitt des Macrobius (Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis 1,2) 63

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Denn während die positive philosophische Inanspruchnahme von „epithets“, „cult practices“ und, teilweise, „literary texts“ auch früher praktiziert wurde, war dies mit „artistic depictions“ (vgl Most ebenda), sofern damit anthropomorphe Götterbilder gemeint sind, im Prinzip nicht der Fall S zu dieser Frage oben 4 1 sowie Verf 2012 Vgl oben Kap  3 1 1 1 Anm  45 und bes 49 Vgl oben Kap  1 4 Es wäre also dann „allegorical interpretation“ im Sinne von Dawsons Definition (1992, 4): „the giving of nonliteral meanings to prior narrative texts “ S oben Anm  45 Der vorliegende Kapitelabschnitt wurde am 26 4 2018 dem griechischen Seminar des Instituts für Linguistik und Philologie der Universität Uppsala präsentiert (s dazu oben, Vorwort) Die rege Diskussion bei dieser Gelegenheit hat mir wesentliche Anregungen gebracht Ein ganz besonderer Dank gebührt Jan Stenger, mit dem ich den Abschnitt eingehend besprechen konnte Seine konstruktiven Vorschläge sind von großem Wert gewesen

5 3 Porphyrios über die Götterbilder

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schon im dritten Kapitel besprochen, da in diesem Text geltend gemacht wird, dass das anthropomorphe Gottesbild in irreführender Absicht eingeführt worden sei Dagegen gehören die Reflexionen, die Porphyrios zu Sinn und Funktion der anthropomorphen Darstellungsweise in seinem Traktat Über die Götterbilder äußert, in den Rahmen des vorliegenden Kapitels, denn hier wird den anthropomorphen (wie auch anderen) Götterbildern eine wahrheitsvermittelnde Aufgabe zugeschrieben Wie die meisten Schriften des Porphyrios ist der Traktat Περὶ ἀγαλμάτων (De simulacris) uns nur unvollständig bekannt Die wenig zahlreichen, aber teilweise recht umfangreichen Fragmente stammen fast ausnahmslos aus dem 3 Buch der Praeparatio evangelica des Eusebios 67 Aus diesen Fragmenten hat man früher den Schluss ziehen wollen, dass die Schrift in die vorplotinische Periode des Porphyrios anzusetzen sei; Elemente, die mit seinem reifen Werk nicht übereinstimmen, wurden hervorgehoben, und die Nähe zu stoischer Exegese wurde betont 68 Diese Sicht scheint heute im Wesentlichen überholt zu sein, ohne dass dabei bestritten wird, dass die Fragmente weitgehende Verwandtschaft mit stoischen Deutungsmustern zeigen 69 Nunmehr bemüht man sich, das Werk aus platonischer Perspektive zu betrachten und seine Verankerung in der platonischen theologischen Hierarchie zu bestimmen, wie man heute auch überhaupt eher die Kontinuität und den inneren Zusammenhang im Gesamtwerk des Porphyrios betonen will 70 Wichtig ist, dass Eusebios eindeutig das Werk für vollplatonisch hält Überhaupt bilden die Kommentare des Eusebios eine wichtige Informationsquelle, die man bisher zu wenig beachtet hat, aus übertriebener Vorsicht, wie mir scheint Da Eusebios

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Die Fragmente von De simulacris tragen in Smiths BT-Ausgabe 1993 die Nummern 351–360 Der Werktitel Περὶ ἀγαλμάτων ist uns allein durch Johannes Stobaios bekannt Dieser zitiert ein paar mal einige wenige, auch in den Fragmenten bei Eusebios vorhandene Zeilen (anth 1,1,25 vol   1 p  31,7 Wachsmuth = F 354 a bei Smith; bzw 1,25,2 vol 1 p 209,16 = F 360 a) und gibt dabei diesen Titel an Ob dies der tatsächliche Titel des Werks gewesen ist, lässt sich nicht entscheiden (vgl Bidez 1913, 149) Bidez 1913, 25–26; vgl ebenda 152; 155; Beutler 1953, 295; Buffière 1956, 536 f u a Dass stoische Einflüsse auch sonst bei Porphyrios eine Rolle gespielt haben, ist nicht kontrovers, wenn auch verschieden beurteilt worden ist, wie durchgreifend diese Einwirkung gewesen ist Hadot (1968 1, 225–234) betrachtet das ontologische System des Porphyrios sogar als „Transposition“ stoischer Lehre S dazu Zambon 2012, 1320 f und vgl Smith 1987, 762 Schon Plotin hat trotz eifriger Kritik an stoischer Lehre stoische Grundbegriffe und stoische Terminologie freizügig übernommen und im Sinne seines eigenen Denkens umfunktioniert Dass er in vielfacher Weise an stoische Doktrin anknüpfte, wird ausdrücklich von Porphyrios festgestellt: „In seinen Schriften finden sich eingemischt sowohl versteckte stoische Lehre wie auch peripatetisches Gut“ (ἐμμέμικται δ’ ἐν τοῖς συγγράμμασι καὶ τὰ Στωικὰ λανθάνοντα δόγματα καὶ τὰ περιπατητικά Vita Plotini 14 l  4 ff ) Vgl Wallis 1995, 25; 50 f ; 86 u a und bes die eingehende Untersuchung von Graeser 1972 S auch unten Anm 107 Platonisches in De simulacris: Smith 1987, 722–730; Johnson 2013, 13 f und s zuletzt MännleinRobert 2017 a, passim, und bes 194 ff Vgl auch unten, m Anm 102 Reichliche bibliographische Information über moderne Forschungsbeiträge, in denen der innere Zusammenhang des porphyrischen Werks betont wird, bei Tanaseanu-Döbler 2017 a, 138 Anm 3

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

als Polemiker und Apologet seine eigenen Ziele verfolge, sei er, so wird betont, kein zuverlässiger Zeuge der Absichten seines Gegners 71 Diese Argumentation sollte man, wie ich meine, in unserem Fall eher auf den Kopf stellen Gerade weil Eusebios seine eigenen Ziele verfolgt, gibt es allen Grund, seine Angaben zu Inhalt und Absicht dieses Traktats ernst zu nehmen Um dies zu erläutern, muss ich etwas weiter ausholen 72 Eusebios macht extensiven Gebrauch von Werken des Porphyrios 73 Dabei dienen diese keineswegs nur als Fundgruben für allerlei Beispiele paganer Unsitten, deren Abscheulichkeit oder Absurdität der christliche Polemiker bloßstellen will Eusebios benutzt sie neben einigen anderen paganen Texten auch zu dem Zweck, seine eigenen Anliegen positiv zu unterstützen In den ersten Büchern der Praeparatio evangelica konstruiert er ein bestimmtes Bild der Vergangenheit, das mithelfen soll, die Abkehr der Christen von den Traditionen und Sitten der Vorfahren als gut begründete, rationale Entscheidung darzustellen 74 Er skizziert eine Entwicklung, im Laufe derer die religiösen Bräuche der Menschen sich von relativ unschuldigen – wenn auch falschen  – Anfängen fortlaufend ins Schlechtere gewandelt hätten, bis mit der Entstehung des Christentums eine Wendung eingetreten sei Um die Glaubwürdigkeit dieser Konstruktion in den Augen der Gegner zu erhöhen, hat er sie weitgehend auf Aussagen paganer Autoren aufgebaut 75 Eusebios wählt eine Reihe von Autoren und Texten als Quellen aus, anhand derer er zeigen will, dass die Gottesverehrung stets und überall, vom geographischen Gebiet unabhängig, mit dem Kult der Himmelskörper, des Himmels und der Erde angefangen habe Mehrere wichtige Zeugnisse für die Richtigkeit dieser These holt Eusebios aus Werken des Porphyrios Eins entnimmt er dem 2  Buch Über die Enthaltsamkeit von fleischlicher Nahrung (De abstinentia, 2,5 p  135,3–136,8 und 2,7 p 138,3 Nauck) Es geht hier um den Anfang und die weitere Entwicklung der Opfersitten, von den frühen Ägyptern, die als erste den Himmelsgöttern Opfer dargebracht hätten, bis hin zur weit späteren Entstehung der blutigen Tieropfer 71 72

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Krulak 2011, 350 Vgl Johnson 2013, 31; Gabriele 2012, 29 Damit soll auch zur Schließung einer Lücke beigetragen werden, auf die Irmgard Männlein-Robert in ihrer inhaltsreichen Erörterung von Sinn, Zweck und aktuellen Zeitbezügen des Traktats über die Götterbilder hinweist: „Bislang fehlt eine kontextbezogene Analyse darüber, warum Eusebios seine eigene Auffassung in der komplizierten Bilderfrage nicht nur in diesem Kontext / d h der Auseinandersetzung mit De simulacris, MWS /, sondern auch an anderen Stellen in der PE verhandelt (z B PE I 9, 13–19; ebd 20–30) …“ Männlein-Robert 2017 a, 199 Anm 121 S die eindrucksvolle Liste der von Eusebios angeführten Werke im Stellenregister der Ausgabe der Praeparatio evangelica von Mras & Des Places Bd 2, 459–461 Praep.ev 1,5; 1,7,19; 2,4; 2,5,1; 2,7,8; 3,13,3; 7,1,1 u a S zu dieser Strategie bes praep.ev 1,5,14; 1,6,8; 1,9,14; vgl 2,5,1; 3 prooem 1; 4,6,1–2; 5,5,5–6 u a sowie Demonstratio evangelica 4,9,11 Kofsky betont, dass Eusebios pagane Quellen verwendet, um seine eigene Argumentation zu unterstützen, und zwar nicht zuletzt Porphyrios (Kofsky 2002, 82; 244; 254–264); die Bedeutung dieser Strategie gerade für die Vergangenheitsauffassung des Eusebios kommentiert er jedoch nicht, ebenso wenig wie das besondere Problem, das ihm dabei gerade De simulacris bereitet (Diskussion des Traktats im Kapitelabschnitt „A Critique of Porphyry’s Views and Inconsistencies“ ebenda 265–268)

5 3 Porphyrios über die Götterbilder

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(praep.ev 1,9,7–11) Porphyrios beruft sich hier auf Theophrastos, wodurch das Zeugnis womöglich noch mehr Gewicht erhält Eusebios fügt einige Zeilen aus Platon bei, Kratylos 397c–d, die dieses Bild weiter unterstreichen (praep.ev 1,9,12) Ein weiteres diesbezügliches Zeugnis des Porphyrios liefert der Brief an Anebo (Epistula ad Anebontem fr 81 Saffrey & Segonds; praep.ev 3,4,1–2) 76 In einer späteren Phase, so Eusebios, sei der Gebrauch aufgekommen, mächtige Menschen als Götter zu verehren Erst im Zusammenhang damit habe man angefangen, Götterbilder und Tempel zu errichten und Mythen zu erzählen Die Götterbilder stellen also, so wie Eusebios sie betrachtet, tatsächliche Menschen dar, die Mythen handeln von (meist amoralischen) Menschen, die paganen Tempel sind ihm Gräber toter Menschen 77 Einen der Hauptzeugen für diese Verhältnisse findet Eusebios in der Phönizischen Geschichte des Sanchuniathon, einer schattenhaften Figur, dessen angebliches Werk aus der Übersetzung des Philon von Byblos angeführt wird Sogar hier beruft sich Eusebios auf Porphyrios, und zwar auf dessen gegen die Christen gerichtetes Werk (heute gemeinhin Contra Christianos genannt), insofern als hier das hohe Alter des Sanchuniathon und die Authentizität seiner Quellen unterstrichen werden 78 Auch Tieren habe man göttliche Ehren erwiesen Hier wird nochmals De abstinentia herangezogen (abst 4,9, p 241–243; praep.ev 3,4,6–14) Diese und andere teilweise extensiv angeführte Quellen sollen insgesamt bezeugen, dass bis zur Entstehung des Christentums alle Völker der Verehrung der Materie verhaftet geblieben seien – mit Ausnahme der Hebräer, die es allein vermocht hätten, den Blick von den sichtbaren Erscheinungen zu ihrem Schöpfer zu erheben und an Stelle seiner Schöpfung ihn selbst zu verehren 79 Eusebios ist sich selbstverständlich dessen wohl bewusst, dass in der philosophischen Theologie die paganen Götter meist als Elemente, Erscheinungen oder Kräfte

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Auch hier führt Porphyrios einen Gewährsmann an, diesmal den stoischen Philosophen und ägyptischen Priester Chairemon Ein guter Teil der Fragmente des Chairemon entstammt Werken des Porphyrios Zu seiner Bedeutung für Porphyrios s Frede 1989, 2088; Boys-Stones 2001, 112; Johnson 2013, 253 f Sammlung der Fragmente bei Van der Horst 1984 Praep.ev. 1,6,1–3; 1,9,13–18; 2,6,13–15; 3,3,13–21 u a Vgl dem.ev. 4,9,10 f Nebenbei gesagt ist es kein Zufall, dass die wichtigste Information über die Ἱερὰ ἀναγραφή des Euhemeros uns gerade durch die Praeparatio evangelica (auf dem Wege über das heute verlorene 6 Buch der Bibliotheca des Diodorus Siculus) vermittelt worden ist (S dazu unten Kap  6 , bes 6 2 ) Hier findet Eusebios eine hervorragende pagane Stütze für eine seiner Hauptthesen Praep.ev 1,9,20–22 = Porph c. Christianos fr 41 a Harnack / fr 10 Becker Im 2 Buch der Praeparatio werden die ägyptische und die griechische Theologie in entsprechender Weise konstruiert Zu diesem Zweck bedient sich Eusebios v a ausführlicher Zitate des Diodorus Siculus (vgl auch die vorige Anmerkung) Praep.ev 1,6,2; 1,9,15; vgl 2,6,12 ff ; 3,4,3–5 u a Vgl die Skizze bei Kofsky 2000, 131–135 Platon sei der, der schließlich zur Einsicht gelangt sei, dass Gott über die sichtbare Welt erhoben sei Diese Einsicht habe er allerdings von den Hebräern übernommen (s bes praep.ev 11, 8; 11,21) S dazu z B Johnson 2006, 137–143 Generell zu dem „dependency theme“ und seiner Entstehung s Boys-Stones 2001, ch 9, 176–202, bes 187 f (zu Clemens Alexandrinus)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

der Natur oder des Kosmos verstanden werden und die abstoßenden Mythen von den Taten und Abenteuern der Götter nicht selten als Medium der Vermittlung versteckter philosophischer Doktrin gelten Entsprechend bemüht er sich, diese abweichenden Fassungen als fehlerhaft und unhistorisch herauszukehren; es handele sich um verfehlte Ausweichmanöver solcher Leute, die zwar kritisch seien, aber den Schritt nicht gewagt hätten, völlig von den väterlichen Traditionen Abstand zu nehmen 80 Dabei ist es ihm wichtig, dass auch diese Modelle letztendlich doch irgendwie das von ihm beschriebene Bild bestätigen, nämlich insofern, als sie vom wahren Schöpfer, dem transzendenten Gott, ebenfalls kein Wort sagen, sondern die Götter selbst und ihre Mythen mit sichtbaren Erscheinungen allein verknüpfen 81 Was nun den Traktat über die Götterbilder betrifft, ist sein Status im Plan der Praeparatio evangelica nicht derselbe wie der der bereits erwähnten Schriften des Porphyrios Im Gegenteil stellt dieser Traktat Eusebios vor ein besonderes Problem Dieses Werk läuft nämlich dem von ihm konstruierten Vergangenheitsbild, das er ja teilweise gerade mit Hilfe von Stellen aus anderen Schriften des Porphyrios abzustützen versucht hat, eindeutig zuwider, und das ist der Grund, weshalb er es überhaupt bespricht So wie er es selbst formuliert, handelt es sich um einen unzulässigen Versuch, althergebrachte griechische und ägyptische Tradition zu „platonisieren“ Er entdeckt im Werk die Absicht, der „Theologie der Alten“ die Vorstellung einer transzendenten Wirklichkeit aufzupropfen (praep.ev 3,6,7), d h dort soll geltend gemacht worden sein, dass Vorstellungen von einer transzendenten Gottheit und von einer immateriellen Wirklichkeit außerhalb der Erscheinungswelt schon in einer fernen Vergangenheit geläufig gewesen seien Die Götterbilder, die nach Angabe der Fragmente einst bewusst eingeführt wurden, um die transzendente Wirklichkeit konkret zu vergegenwärtigen, gehören auch schon derselben frühen Zeit an, wie wir sehen werden Das stimmt alles schlecht zu dem Bild, das Eusebios aufgebaut hat, nämlich dass die Vorstellung von einer transzendenten Gottheit allen Völkern mit Ausnahme der Hebräer unbekannt gewesen sei sowie dass Götterbilder erst mit der Zeit entstanden seien, als Ergebnis der Gewohnheit, Menschen zu vergöttlichen Der einfachste Weg wäre für Eusebios gewiss der gewesen, überhaupt darauf zu verzichten, Porphyrios heranzuziehen Aber letztendlich handelte es sich um die vielleicht autoritativste Stimme der zeitgenössischen paganen Elite, den kraftvollen Christengegner Die große Befriedigung, die Eusebios darüber empfunden haben muss, gerade Porphyrios als Zeugen zu verwenden, scheint an etlichen Stellen der Praep.ev durch 82 Den Traktat über die Götterbilder schlechtweg zu verschweigen, dürfte ihm andererseits keine Alternative gewesen sein Die Gegenseite hätte auf dieses Werk und 80 81 82

Bes praep.ev 2 prooem 2–3; 2,4,6; 2,6,16–22; vgl z  B 5,3,3 Praep.ev 2,4,5; 2,6,16–19; 22 bzw 3,2,3–5; 3,6,1–4 S etwa die Worte, mit denen er das erste Zitat aus Porphyrs De abstinentia einführt (praep.ev 1,9,6): … αὐτὸς ἐκεῖνος ὁ ταῖς καθ’ ἡμῶν λαμπρυνόμενος δυσφημίαις („… derjenige selbst, der sich

5 3 Porphyrios über die Götterbilder

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seinen eindeutigen Standpunkt hinweisen können und das Fehlen einer diesbezüglichen Diskussion als Zeichen deuten können, dass Eusebios es nicht gewagt oder vermocht habe, Porphyrios hier entgegenzutreten So ergab sich kein anderer Ausweg, als den Traktat ernst zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen Vor die Aufgabe gestellt, das Gewicht dieser Schrift im Verhältnis zu den anderen, von ihm selbst im Vorangehenden angeführten Werken des Porphyrios abzuschwächen, wählt er es, anders als im Falle jener Schriften, den Werktitel nicht anzugeben Das trägt dazu bei, zu vertuschen, dass es sich um ein gesondertes Werk handelt Die Beschuldigung der Widersprüchlichkeit („der Weisheitsmeister weiß nicht, was er selbst gesagt hat“, λαθὼν ὁ σοφώτατος αὐτὸς ἑαυτόν, 3,13,8) erhält mehr Nachdruck, wenn der Leser nicht unmittelbar im Stande ist, zu erkennen, dass die unter sich nicht übereinstimmenden Angaben sich auf verschiedene Schriften verteilen Die Inkohärenz erscheint unter solchen Umständen flagranter Zwar lässt die Angabe des Eusebios, unmittelbar nach dem ersten Zitat (fr 351), der angeführte Text stehe ὡς ἐν προοιμίῳ (praep.ev 3,7,2), den aufmerksamen Leser ahnen, dass Eusebios hier aus einer anderen Schrift als den früher angeführten zitiert, aber eine Bestätigung dieser Ahnung erhält er nicht Eine andere, effektvolle Methode der Diskreditierung werden wir unten im Zusammenhang mit fr 354 genauer studieren: Hier verficht Eusebios nachdrücklich, und in der Tat nicht ohne guten Grund, die Auffassung, dass die dort von Porphyrios vorgelegte Interpretation eines orphischen Gedichts nicht nur ohne Gewähr sei, sondern geradezu vom Gedicht selber widersprochen werde In Wirklichkeit gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass Porphyrios beim Verfassen von De abstinentia und der Epistula ad Anebontem eine andere Meinung von Alter und Verbreitung platonischer Metaphysik als in De simulacris gehabt hat In dem von Eusebios angeführten Abschnitt der Epistula schimmert durch, dass Porphyrios im Grunde auch hier der Meinung ist, dass die ägyptische Religion von einem transzendenten Gottesbegriff zeuge (praep.ev 3,4,1), und was wir sonst über diesen Text wissen, deutet ebenfalls darauf 83 Da er aber hier feststellt, dass Chairemon und andere diese Meinung nicht vertreten haben, kann das Zitat Eusebios als eine Art Beweis dafür dienen, dass eine derartige Deutung der ägyptischen Religion sich nicht belegen lasse Der Abschnitt aus De abstinentia 2 in praep.ev 1,9,7 ff wiederum, in dem darüber berichtet wird, wie die frühen Einwohner Ägyptens begonnen hätten, die Himmelsgötter mit einfachen Opfern zu verehren, sagt nichts darüber, dass die Ägypter diese Götter allein, und keine anderen verehrt hätten Dass es sich so verhalte, wird von Eusebios suggeriert, indem er ein Zitat aus dem Kratylos folgen lässt, dem zufolge die ersten Griechen nur diese für Götter gehalten hätten (φαίνονταί μοι οἱ πρῶτοι τῶν ἀνθρώπων

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durch Diffamierung von uns ausgezeichnet hat / bezeugt ebenfalls … /“) Vgl auch z B 4,6,2; 5,1,9; 5,5,5; 5,14,3; 10,9,11, und s dem.ev 3,6,39–7,1 S etwa das Fragment 79 Saffrey & Segonds p 74 (Iambl De mysteriis 8,1) und die Anmerkung dazu ebenda

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

τῶν περὶ τὴν Ἑλλάδα τούτους μόνους τοὺς θεοὺς ἡγεῖσθαι  … Krat 397c) Aber ganz im Gegenteil impliziert die ausdrückliche Charakterisierung der Himmelsgötter als „sichtbar“ (τοὺς φαινομένους οὐρανίους θεούς) deutlich, dass gemeint ist, die Ägypter hätten auch noch mit anderen, unsichtbaren Göttern gerechnet Das Fehlen ausdrücklicher Diskussion des Themas schafft die Voraussetzung für die Rolle des Abschnitts in der Konstruktion der Praeparatio 84 Es ist offensichtlich, dass Eusebios viel Kraft und Energie darauf verwendet, die Unzuverlässigkeit und die falschen Ausgangspunkte des Traktats herauszukehren Dass er im Interesse dieses Ziels die Wahl der zitierten Fragmente getroffen hat, liegt auf der Hand, dass er dabei gerafft hat bzw Teile ausgelassen hat, bestätigt er auch selbst 85 Dass er Absicht und Inhalt des Traktas verdreht hat, können wir dagegen ausschließen Er hätte selbstverständlich nie die diesbezügliche Auskunft in einer Weise gefälscht, die dazu beitragen würde, die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Geschichtskonstruktion in Zweifel zu ziehen Wir dürfen also getrost damit rechnen, dass die Information, im Traktat über die Götterbilder werde der Anspruch erhoben, dass das platonische Weltbild, mit seinem (vom Standpunkt des Eusebios aus an sich korrekten) Postulat einer transzendenten Wirklichkeit, schon in einer fernen Vergangenheit geläufig gewesen sei, wahrheitsgemäß ist Diese Einsicht erlaubt es uns, die Fragmente und ihren inneren Zusammenhang besser zu verstehen Wenn wir außerdem aufmerksam auf die Probleme achten, die dieser Inhalt Eusebios bereitet hat, und uns bemühen, seine eigenen Strategien, um damit zurechtzukommen, zu durchschauen, zeichnen sich weitere Umrisse der Struktur des Traktats ab Schon die generell formulierten, einführenden Worte, die Eusebios der ersten der von ihm aus De simulacris angeführten Stellen voranstellt, vermitteln uns Auskunft darüber, wie er das Anliegen des Traktats beurteilt (praep.ev 3,6,7): … es ist Zeit, die Großtuereien der Jüngeren, die sich zu unserer eigenen Zeit als Philosophen ausspielen, unter die Lupe zu nehmen Denn diese haben versucht, die Lehre von einem weltschaffenden Intellekt (νοῦς), von unkörperlichen Ideen und von intellektiven und logoshaften Kräften, die erst weit später von Platon und seinem Kreis aufgedeckt und mit richtigen Überlegungen weiter ausgearbeitet wurde, mit der Theologie der Alten zu

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Wie Smith 2000, 184 bemerkt, ist De abstinentia überhaupt vergleichsweise wenig explizit mit dem platonischen Wirklichkeitsbild beschäftigt Umso mehr erfährt man darüber in der Schrift Über die Nymphenhöhle (De antro nympharum): Hier gilt, dass die platonische Philosophie als παλαιὰ σοφία eine lange Geschichte habe; in den ainigmata Homers sei sie besonders gut greifbar Dieses Werk wird von Eusebios nirgends erwähnt Ein eindeutiger Widerspruch liegt zwischen abst 2,18 und dem unten zu besprechenden fr 352 Über die Götterbilder vor, s dazu unten Anm 95 S praep. ev 3,11,17; 3,11,21; 3,13,3

5 3 Porphyrios über die Götterbilder

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verbinden, und haben damit ihre Ansprüche hinsichtlich der Mythen mit noch größerer Angeberei aufgebauscht …86

Eusebios fängt sofort an, gegen das Vorhaben des Porphyrios anzukämpfen Platonische Lehre in die Zeit der „Theologie der Alten“ zurückzuverlegen, sei ein narrhaftes Unternehmen, denn diese Lehre sei ja erst weit später aufgekommen, und „die Alten“ hätten somit davon keine Ahnung gehabt Letzterer Punkt kehrt mehrfach, in wechselnder Form, in seiner weiteren Auseinandersetzung mit dem Traktat wieder Hierin besteht für Eusebios das Hauptproblem Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass hiermit wesentliche Information über Inhalt und Absicht des Traktats vermittelt wird Wir dürfen davon ausgehen, dass Porphyrios hier tatsächlich eine Art „alter Theologie“ skizziert hat, die durch die Vorstellung von einer immateriellen Wirklichkeit geprägt gewesen sein soll, also genau die Art von Auffassung, die Eusebios zufolge allen alten Völkern außer den Hebräern unbekannt war 87 Wir können uns jetzt mit gewisser Zuversicht der Betrachtung des Traktats selber und der für uns einschlägigen Fragmente zuwenden Porphyrios tritt uns hier als Vertreter des Gedankenmodells von einer alten, systematischen Weisheit entgegen, wie ich es oben Kap   4 0 beschrieben habe Die alte Weisheit entspricht für ihn dem platonischen Wirklichkeitsbild Porphyrios reiht sich unter die Denker ein, für die gilt, dass die anthropomorphen Götterbilder einst bewusst und in der Absicht, wahre Einsicht in das Wesen des Göttlichen zu vermitteln, erfunden worden seien: (Fr 351:) Ich werde nur zu denjenigen sprechen, denen dies zukommt; schließt die Türen zu, ihr Uneingeweihten, während ich die Überlegungen der theologischen Weisheit enthülle, denen zufolge Männer einst den Gott und die Macht des Gottes durch der Wahrnehmung angepasste Bilder aufgedeckt haben, indem sie mit sichtbaren Artefakten das Unsichtbare darstellten, und zwar denjenigen, die es gelernt haben, wie aus Büchern zu lesen, was die Bilder von den Göttern schreiben Denn es ist nicht verwunderlich, dass

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Eus praep.ev 3,6,7: …  ὥρα καὶ τῶν νέων τῶν δὴ καθ’ ἡμᾶς αὐτοὺς φιλοσοφεῖν ἐπαγγελλομένων ἐπαθρῆσαι τὰ καλλωπίσματα Οἵδε γὰρ τὰ περὶ νοῦ δημιουργοῦ τῶν ὅλων καὶ τὰ περὶ ἀσωμάτων ἰδεῶν νοερῶν τε καὶ λογικῶν δυνάμεων τοῖς ἀμφὶ τὸν Πλάτωνα μακροῖς ποθ’ ὕστερον χρόνοις ἐφευρημένα καὶ λογισμοῖς ὀρθοῖς ἐπινενοημένα συμπλέξαι τῇ τῶν παλαιῶν θεολογίᾳ πεπειραμένοι μείζονι τύφῳ τὴν περὶ τῶν μύθων ἐπαγγελίαν ἐξῆραν Vgl auch unten Anm 94 Aus Gründen der Konsequenz und Durchsichtigkeit gebe ich νοῦς hier und in 3 2 2 sowie unten 5 4 1 1 mit dt „Intellekt“ wieder, ohne Rücksicht darauf, dass der Inhalt des Begriffs im letzteren Fall ein anderer ist Eine einheitliche deutsche Übersetzungskonvention vom Begriff νοῦς im Neuplatonismus (oder auch sonst) existiert nicht: „Denken“ (Zeller), „Geist“, „Vernunft“, „Intellekt“, oder auch zuweilen „Intelligenz“ kommen vor Zum heiklen Problem der Übersetzung des Begriffs, s z B Majumdar 2007, 3 n  6, mit Hinweisen auf frühere Diskussionen, und vgl Wallis 1995, 53 bzw 68 Zum Wirklichkeitsbild im Neuplatonismus s oben 3 2 2 , mit 198

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

die Ungebildetsten die Götterbilder für Holz und Stein halten, genauso wie ja auch diejenigen, die von der Schrift keine Ahnung haben, in den Inschriftenstelen nichts als Stein, in den Schreibtafeln nichts als Holz und in den Büchern nichts als zusammengepressten Papyrus erblicken 88

Schon am Anfang des Traktats – ὡς ἐν προοιμίῳ, wie Eusebios sagt (3,7,2) – muss also der Anspruch erhoben worden sein, dass der Gebrauch von Götterbildern auf die bewusste Initiative der alten Weisen oder Theologen zurückgehe Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht um Abbildungen der Götter Die Gottheit lässt sich eben nicht unmittelbar abbilden Vielmehr sind die Götterbilder dazu eingeführt worden, um in indirekter Weise Kenntnis vom Göttlichen zu vermitteln 89 Freilich hat nicht jeder dazu Zugang – die Erfinder haben den zu vermittelnden Inhalt der Bilder denen allein vorbehalten, die die Fähigkeit dazu erworben haben, die Bilder zu dekodieren, „zu lesen“ Der Eindruck, dass dies einen jeweils komplexen, zusammenhängenden Inhalt eines jeden Bildes implizieren soll, wird durch die weiteren Fragmente kaum bestätigt Die Exegese verläuft dort meist punktweise, indem die Einzelzüge und die Attribute der Götterbilder in der Regel je für sich im Hinblick auf ihre Signifikanz erklärt werden, etwa so, dass sie jeweils auf spezifische Funktionen oder Eigenschaften der betreffenden Gottheit bezogen werden Vielleicht haben hier Eingriffe des Eusebios die ursprünglichen Verhältnisse verwischt Immerhin ist im langen Fragment zur ägyptischen Theologie (fr 360) etwas mehr zu holen Wir erfahren dort z B , wie die Ägypter Helios kennzeichnen (σημαίνουσι): ein Mann steht auf einem Boot, das auf dem Rücken eines Krokodils liegt (fr  360,20) Zwar trägt auch hier jedes Element seine Einzelsignifikanz, aber insgesamt fügen sich diese zu einem Gesamtzeichen (ἐσημαίνετο) für den Weg der Sonne auf ihrer Bahn (ebenda Z  20) Die Deutungen der ägyptischen Bilder zeigen besonders deutlich, wie für das Verständnis esoterische Kenntnis erforderlich ist, die erst erlernt werden muss und nicht allen angeboten wird So haben es, wie wir aus unserem Fragment 351 erfuhren, schon die ersten Erfinder, „Männer“ (ἄνδρες) der Vergangenheit, festgelegt 88

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Fr 351 = Eus praep. ev 3,7,1: Φθέγξομαι οἷς θέμις ἐστί, θύρας δ’ ἐπίθεσθε βέβηλοι, σοφίας θεολόγου νοήματα δεικνύς, οἷς τὸν θεὸν καὶ τοῦ θεοῦ τὰς δυνάμεις διὰ εἰκόνων συμφύλων αἰσθήσει ἐμήνυσαν ἄνδρες, τὰ ἀφανῆ φανεροῖς ἀποτυπώσαντες πλάσμασιν, τοῖς καθάπερ ἐκ βίβλων τῶν ἀγαλμάτων ἀναλέγειν τὰ περὶ θεῶν μεμαθηκόσι γράμματα θαυμαστὸν δὲ οὐδὲν ξύλα καὶ λίθους ἡγεῖσθαι τὰ ξόανα τοὺς ἀμαθεστάτους, καθὰ δὴ καὶ τῶν γραμμάτων οἱ ἀνόητοι λίθους μὲν ὁρῶσι τὰς στήλας, ξύλα δὲ τὰς δέλτους, ἐξυφασμένην δὲ πάπυρον τὰς βίβλους Zur einleitenden Phrase s Männlein-Robert 2017 a, 183 m Anm 39–42 Die Formulierung „mit sichtbaren Artefakten das Unsichtbare darzustellen“ erinnert an einige Worte, die Dion in der olympischen Rede seinen Pheidias äußern lässt: τῷ φανερῷ καὶ εἰκαστῷ τὸ ἀνείκαστον καὶ ἀφανὲς ἐνδείκνυσθαι ζητοῦντες, or 12,59 Bei Dion wird ausdrücklich betont, dass die Gottheit ἀνεικαστός sei (ein an sich schon deutliches Signal, dass die Bilder nicht buchstäblich zu verstehen sind) So greifen die Künstler ersatzweise zur anthropomorphen Form, συμβόλου δυνάμει χρώμενοι S dazu unten 5 4 1 1

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Die Gültigkeit dieses elitistischen Standpunkts für die Gegenwart wird unterstrichen, indem in Fragment  351 der Sprecher als Priester oder Mystagoge auftritt, der die Überlegungen der „Männer“ enthüllt und nun genau so, wie diese angeblich den wahren Inhalt der Götterbilder allein für Eingeweihte vorgesehen haben, die Uneingeweihten der Gegenwart von seiner Darstellung ausschließt und dazu noch mit seinen Bemerkungen über das Fehlverhalten der Uneingeweihten zeitaktuelle Polemik treibt Die Grenze zwischen den damals Ausgesperrten und den Unkundigen der Gegenwart, den vom Sprecher Ausgesperrten, verschwimmt Anders als in den von mir bisher behandelten Texten besteht die kritisierte Fehlreaktion der Uneingeweihten nicht in einer naiven Akzeptanz der äußeren Form der Götterbilder Das liegt nicht nur daran, dass im Traktat, wie sich bald herausstellt, nicht nur anthropomorphe Bilder besprochen werden, also solche, deren naturalistische Form besonders leicht zu einer buchstäblichen Deutung verführt, sondern außerdem noch ägyptische halb-anthropomorphe oder theriomorphe Götterbilder, die durch ihre ausgefallene Gestalt ein solches Verständnis eher blockieren 90 Wo Porphyrios die verständnislose Reaktion der Unkundigen am Ende des Fragments so beschreibt, dass sie die Götterbilder nur als Holz und Stein betrachten, zielt er unmissverständlich auf die Christen Bekanntlich hatten diese die Gewohnheit, an die pagane Umwelt immer wieder den Vorwurf zu richten, dass sie nur Stein und Holz oder Elfenbein und Gold – leblosen Stoff – verehre 91 Das Thema der Materialien wird im zweiten Fragment (fr 352) aufgegriffen und in äußerst interessanter und origineller Weise entwickelt Denn es heißt, dass sogar die Wahl des Materials von theologischen Erwägungen der Erfinder diktiert worden sein soll: (Fr 352:) Da das Göttliche lichthaft ist, vom Feuer des Äthers umgeben lebt und der Wahrnehmung, die auf das sterbliche Leben ausgerichtet ist, unsichtbar ist, unternahmen sie es, mit Hilfe von durchsichtigen Stoffen wie Bergkristall oder parischem Marmor oder Elfenbein die Vorstellung von seinem Lichte zu vermitteln und auch durch den Stoff des Goldes zum Verständnis von seinem Feuer und zu seinem reinen Charakter hinzuführen, da Gold nicht verunreinigt wird (Z  10) Viele haben wiederum die Unsichtbarkeit seines Wesens auch mit Hilfe von schwarzem Stein angezeigt Und sie stellten die Götter in menschlicher Form dar, weil das Göttliche Vernunft besitzt; sie gaben ihnen Schönheit, da ungemischte Schönheit den Göttern eigen ist; sie stellten sie in wechselnder Gestalt und verschiedenen Lebensaltern dar, wie auch in verschiedenen sitzenden und stehenden Posituren und verschiedener Kleidung, und einige als Männer, andere als Frauen, als Mädchen oder junge

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Vgl oben 5 1 , m Anm  15 Die Erfinder der Götterbilder sind also nicht nur als frühe Griechen zu verstehen; gemeint sind jedenfalls noch Vorväter der Ägypter S oben Kap  1 2 Anm 30, unten Kap  5 5 a E sowie auch hier gleich unten, m Anm 93

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Männer oder als solche, die schon eheliche Erfahrung haben Damit wollten sie verdeutlichen, wie sie sich voneinander unterscheiden …92

Wir erfahren, dass die Stoffe, weit davon entfernt, nur Materie zu sein, an sich schon bedeutungstragend seien Männlein-Robert dürfte darin Recht haben, dass diese Argumentation, genau wie die Schlussreflexion in fr 351, gegen das christliche Standardargument der „Materialität der Götterbilder“ gerichtet ist 93 Die Wahl der Erfinder, der ἄνδρες von fr 351 – denn diese müssen wir als Subjekt der Vergangenheitsformen in 352 wie in den übrigen Fragmenten verstehen94 – fiel auf die kostbaren Stoffe Sie hätten darin bestimmte Analogien zum Wesen des Göttlichen entdeckt, die sie für die Versinnbildlichung gewisser übergreifender Eigenschaften der göttlichen Natur wie Licht, Unsichtbarkeit und feurige Reinheit, die sich nicht leicht durch Form und Attribute der Bilder ausdrücken ließen, geeignet gefunden hätten Wertvolle Materialien gelten sonst häufig in der Philosophie als moralisch verpönt, während schlichtere Stoffe (und einfachere Formen) aufgewertet und befürwortet werden Und so versäumt Eusebios die Gelegenheit nicht, die Idee, dass die Alten den kostbaren Stoffen solche Symbolinhalte zugeschrieben hätten, als unhistorisch und abwegig abzutun Es sei ja bekannt, dass in früherer Zeit Götterbilder aus wertvollem Material nicht akzeptiert worden seien Zur

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Porph De simulacris fr 352 Smith (= Eus praep. ev. 3,7,2–4): Φωτοειδοῦς δὲ ὄντος τοῦ θείου καὶ ἐν πυρὸς αἰθερίου περιχύσει διάγοντος ἀφανοῦς τε τυγχάνοντος αἰσθήσει περὶ θνητὸν βίον ἀσχόλῳ, διὰ μὲν τῆς διαυγοῦς ὕλης, οἷον κρυστάλλου ἢ Παρίου λίθου ἢ καὶ ἐλέφαντος, εἰς τὴν τοῦ φωτὸς αὐτοῦ ἔννοιαν ἐνῆγον, διὰ δὲ τῆς τοῦ χρυσοῦ εἰς τὴν τοῦ πυρὸς διανόησιν καὶ τὸ ἀμίαντον αὐτοῦ, ὅτι χρυσὸς οὐ μιαίνεται (l  10) πολλοὶ δὲ αὖ καὶ μέλανι λίθῳ τὸ ἀφανὲς αὐτοῦ τῆς οὐσίας ἐδήλωσαν καὶ ἀνθρωποειδεῖς μὲν ἀπετύπουν τοὺς θεοὺς ὅτι λογικὸν τὸ θεῖον καλοὺς δέ, ὅτι κάλλος ἐν ἐκείνοις ἀκήρατον διαφόροις δὲ σχήμασιν καὶ ἡλικίαις καθέδραις τε καὶ στάσεσιν καὶ ἀμφιάσεσιν, καὶ τοὺς μὲν ἄρρενας, τὰς δὲ θηλείας, καὶ παρθένους καὶ ἐφήβους ἢ γάμου πεῖραν εἰληφότας, εἰς παράστασιν αὐτῶν τῆς διαφορᾶς … (Zur Fortsetzung des Fragments s unten Anm 120 ) Männlein-Robert 2017 a, 185 und bes 187 f Vgl schon Bidez 1913, 21 Interessanterweise mobilisiert Eusebios unmittelbar nach Abschluss des Zitats eine Variante gerade dieses Arguments: „Was könnte unnatürlicher sein, als zu behaupten, dass die unbeseelten Stoffe – Gold und Stein und so weiter – Bilder des Lichtes der Götter tragen und Mittel zur Vergegenwärtigung der himmlischen und ätherischen Natur seien?“ (Praep.ev 3,7,5: Τί δὲ βιαιότερον, τὰς ἀψύχους ὕλας, χρυσὸν καὶ λίθον καὶ τὰ τοιαῦτα, εἰκόνας φέρειν τοῦ φωτὸς τῶν θεῶν καὶ τῆς οὐρανίου καὶ αἰθερίου φύσεως δηλώματα φάσκειν;) S auch praep.ev 3,10,19, und vgl 3,10,15; 3,13,23 u a Eusebios hat jedenfalls selbst offensichtlich damit gerechnet, dass die Christen gemeint seien (praep.ev 3,13,4: „Nicht wir also sind die Uneingeweihten  …“, βέβηλοι γοῦν οὐχ ἡμεῖς  …; vgl fr  351,14); s Männlein-Robert ebenda 185 Die Polemik des Eusebios im Anschluss an fr  352 unterstreicht die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung: praep.ev 3,7,5: „… dass alles dies Spitzfindigkeiten der Jüngeren sind, die den Alten nicht einmal im Traum eingefallen wären …“ (… ὅτι δὲ τῶν νέων ἐστὶ ταῦτα σοφίσματα μηδ’ ὄναρ τῶν παλαιῶν εἰς ἐνθύμησιν ἐλθόντα  …) Männlein-Robert hält ebenfalls die Agierenden der beiden Fragmente für dieselben, meint allerdings, darunter seien die „Künstler und Produzenten der Götterbilder“ zu verstehen (2017 a, 190) Dass kann wohl nicht sein Eusebios hätte sich gewiss niemals mit dem generellen Begriff οἱ παλαιοί auf die Künstler bezogen

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Bekräftigung zitiert er einen Auszug aus einem Werk Plutarchs 95 Er fügt hinzu, dass Platon in den Gesetzen solche Stoffe abgelehnt hat, und führt den diesbezüglichen Text an 96 Interessanterweise vermag die anthropomorphe Darstellungsweise die Vermittlung dieser Eigenschaften des Göttlichen durch die Materialien teilweise zu ergänzen oder zu verdeutlichen, wie wir unten bei der Interpretation von fr 354 sehen werden Die grundlegende Rolle der anthropomorphen Darstellungsweise ist freilich eine andere, nicht weniger wichtige – dieselbe, mutatis mutandis, die wir schon aus Varro kennen Die Urheber der Götterbilder hätten die menschliche Gestalt v a deswegen gewählt, weil die Menschenseele als anima rationalis dem göttlichen Wesen, der Vernunft per se, besonders nahe stehe Aus diesem Grund eigne sich die äußere Gestalt des Menschen, der Behälter der anima rationalis, gut dazu, als Zeichen für Gott zu dienen 97 Für einen Platoniker wie Porphyrios sind die Zusammenhänge allerdings komplexer Das Göttliche ist in der Gesamtwirklichkeit präsent, von der höchsten metaphysischen Ebene (d h dem Einen) bis hin zur physischen Welt, jedoch in abnehmender Intensität Die Menschenseele, die selbst der höheren Wirklichkeit entstammt, hat an dieser gestuften Skala insgesamt teil 98 Mit den Göttern der Erscheinungswelt, den sichtbaren (d h den Himmelskörpern und den Gestirnen), wie den unsichtbaren,99 teilt der Mensch die Eigenschaft, ein rationales Wesen zu sein Deshalb die Begründung der menschlichen Gestalt der Götterbilder in fr 352, ὅτι λογικὸν τὸ θεῖον In fr 354 heißt es dagegen: ἀνθρωπόμορφον δὲ τοῦ Διὸς τὸ δείκηλον πεποιήκασιν, ὅτι νοῦς ἦν … Wegen ihrer Teilhabe an den metaphysischen Ebenen steht es der Menschenseele im Prinzip zu – und darin liegt ihr höchstes Ziel – sich von der Erscheinungswelt abzukehren und sich der höheren Wirklichkeit, dem Intellekt (νοῦς), ganz hinzuwenden und damit die νοητά, 95

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Plut fr 158 Sandbach, oben Kap  5 1 Anm 29 teilweise angeführt Das betreffende Werk, Über das Bilderfest in Plataiai (Περὶ τῶν ἐν Πλαταίαις δαιδάλων), ist nur aus dem dritten Buch der Praeparatio ev bekannt (hier 3,8,1; ein weiteres, umfangreicheres Fragment schon in 3,1) Eusebios hat eigenartigerweise übersehen, dass er hier direkt auf Porphyrios hätte zurückgreifen und damit in hervorragender Weise dessen Vergangenheitsauffassung als inkonsequent und unzuverlässig herausstellen können An anderer Stelle hat Porphyrios nämlich selbst auf die einstigen, einfachen Kultgeräte und die Götterbilder aus Lehm und Holz zurückgeblickt, und zwar offensichtlich mit Billigung, abst 2,18 Diese Schrift des Porphyrios ist Eusebios bekannt genug gewesen, wie wir oben gesehen haben (vor Anm 76) Weitere, teilweise umfangreiche Auszüge finden sich in den Büchern 4 und 9 der Praeparatio Platon leges 12 955e–956a Es handelt sich dort um Vorschriften zum Stoff von Weihgeschenken Oben Kap  4 1 (m Anm 12) und 4 2 2 (m Anm 69) Vgl auch oben 5 0 (m Anm  9), und s ferner unten 5 4 1 1 Anm  142; 5 4 2 3 Anm  239 und 249, u a Zur Teilnahme der Menschenseele an der höheren Wirklichkeit, s z B Beierwaltes 2002, 138 f ; Remes 2008, 101–103 Plot enn 5,1 [10] 10,6: Die drei Wesenheiten (ὑποστάσεις) „sind bei uns“ Vgl unten Anm 101 Ich weise auf die Enneaden nach der üblichen Methode hin, d h ich gebe über Traktatnummer, Kapitel und Paragraphenzahl hinaus noch die Zahl des betreffenden Traktats nach der von Porphyrios etablierten chronologischen Reihenfolge (in eckigen Klammern) an, s dazu O’Meara 1993, 10 Anm  2 Zu den sichtbaren und unsichtbaren Göttern s Porph abst 2,37

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

die eigentlichen, nur geistig zu erfassenden Seinsgründe (die Ideen), die dieser in sich hegt und umfasst, zu erschauen 100 Porphyrios begründet und beschreibt den Prozess in De abstinentia 1,29–31 Er macht klar, wie diese Hinwendung – d h diese Art von Denken – sich von unserem normalen, dem Materiellen zugewendeten Denken und Dasein unterscheide „Wir waren, ja, wir sind noch νοεραὶ οὐσίαι (,intellektive‘ oder ,intellektuelle‘ Wesen, d h wir besitzen im Prinzip die Fähigkeit, die νοητά intuitiv zu erfassen), falls wir uns von aller Wahrnehmung und aller Unvernunft rein machen “ Wir können und sollen unseren Geist von der instabilen Erscheinungswelt loslösen, uns nach innen wenden und uns diesem unseren ursprünglichen Dasein, dem wahrhaft Seienden, den eigentlichen Seinsformen, hingeben „Das eigentliche Selbst des Menschen (αὐτός) ist νοῦς “101 Das bedeutet, dass die anthropomorphe Darstellungsform auch für eine Verbildlichung des Intellekts in Frage kommen kann, wie aus fr 354 zu ersehen Dem Unterschied hinsichtlich der Stufe des Göttlichen in den beiden Fragmenten entspricht die terminologische Differenzierung der Begründung der anthropomorphen Form der Götterbilder Hier, in fr 352, handelt es sich um Verbildlichung von Göttern der Erscheinungswelt Die Götter, deren Repräsentationen im Traktat besprochen werden, sind fast durchgehend solche, die als immaterielle δυνάμεις im sichtbaren Kosmos wirken (vgl praep.ev 3,13,5; 3,13,8 u 9; 3,13,22) – oder sie werden als Symbole solcher δυνάμεις verstanden 102 Dass die Begründung der anthropomorphen Form in beiden Fällen nur kurz hingeworfen wird, ohne besonders ausgelegt zu werden, muss nicht unbedingt bedeuten, dass dies in der Originalfassung so gewesen ist Wie wir gesehen haben, bestätigt Eusebios selbst, dass er den Wortlaut des Porphyrios gelegentlich kürzt In fr 354 (Text hier gleich unten, m Anm 106) wird eine Zeusdarstellung beschrieben und interpretiert, die dem Typus des monumentalen Zeusbildes in Olympia genau entspricht, wobei weder Pheidias noch Olympia erwähnt wird Auch sonst in den Fragmenten ist nirgends ausdrücklich auch nur von einem einzigen der berühmten griechischen Götterbilder die Rede (allerdings liegen sonst nicht so eingehende Übereinstimmungen mit bekannten Artefakten vor wie in fr 354) Das Fehlen solcher konkreten 100 Zu νοῦς und den in ihm enthaltenen νοητά s z B Remes 2008, 53; 54, und vgl unten Anm 107 101 Porph abst 1,30 p 108, 18 Nauck: νοεραὶ γὰρ ἦμεν καὶ ἐσμὲν ἔτι οὐσίαι, πάσης αἰσθήσεως καὶ ἀλογίας καθαρεύοντες Ebenda 1,29 p 107,9: αὐτὸς δὲ ὄντως ὁ νοῦς (Die herkömmliche Wiedergabe von νοερός ist „intellektiv“ oder „intellektuell“, zuweilen auch „noushaft“ ) „Die Seele, die den Intellekt in sich hat, hat ihre Vervollkommnung erreicht“, stellt Plotin in enn 5,1 [10] 10,12 fest: τελεία δὲ ἡ / c ψυχή / νοῦν ἔχουσα Ebenda 3,12: οὖσα οὖν ἀπὸ νοῦ νοερά ἐστιν Vgl auch enn 1,3 [20] 4,9–15; 1,6 [1] 9,34–36 u a 102 Wir dürfen diese mit denjenigen δυνάμεις identifizieren, die Porphyrios in den Sententiae zu den immanenten immateriellen Substanzen zählt, d h sie sind unkörperliche Substanzen, die immanent in der Materie ihre Wirkung entfalten (sent  42; vgl sent  19), wie kürzlich von Viltanioti vorgeschlagen worden ist (2017, 65–71) Exakt wie diese δυνάμεις in den Sent zu verstehen sind, ist in der Forschung umstritten, s dazu Chiaradonna 2007, 45 bzw Goulet und Kühn im Kommentar zu Porph Sent 42,4 in Brisson et alii 2005, 2, 749

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Hinweise hat die moderne Forschung beschäftigt 103 Selbst halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass Porphyrios in fr 354 oder anderswo im Traktat dieses oder auch andere wohlbekannte griechische Götterbilder gelegentlich erwähnt hat, dass Eusebios aber dies übergangen hat, da der Fokus für ihn anderswo liegt So z B könnte Porphyrios unterstrichen haben, dass Pheidias bei der Arbeit am großen Zeusbild auf einen sehr alten Darstellungstypus habe zurückgreifen können Denn Porphyrios meint offensichtlich, dass dieser Darstellungstypus auf die ursprünglichen Erfinder der Götterbilder zurückgeht Die Vergangenheitsform πεποιήκασιν deutet darauf, dass hier wieder die Urheber der Sitte, Götterbilder aufzustellen, zu verstehen sind, d h die ἄνδρες von fr 351 Mit diesem Bildtypus hätten sie den δημιουργικὸς νοῦς, den weltschaffenden Intellekt, versinnbildlichen wollen 104 Das Thema der Verbildlichung wird in einer etwas eigenartigen Weise eingeführt So wie das Fragment uns vorliegt, wird es von einem recht umfangreichen Zitat aus einem auch sonst wohlbekannten orphischen kosmologischen Zeushymnus dominiert, das mit einigen kurzen Worten über die Weisheit der Griechen und die Verkünder der Lehre des Orpheus (οἱ τὰ Ὀρφέως εἰπόντες) eingeführt wird Porphyrios legte mutmaßlich Wert darauf, dieses mit einer Aura uralter Autorität umgebene Gedicht für sein Anliegen in Anspruch zu nehmen 105 Die orphischen Theologen, die für das Gedicht verantwortlich gewesen sein sollen, sollen als frühe Vertreter eines platonischen Weltbilds ausgewiesen werden Erst nach 32 Versen, in denen zwar eine reiche Körpermetaphorik entfaltet wird, aber noch gar nichts von einem Bild überhaupt gesagt wird, und einer raschen Zusammenfassung des Zitats wechselt das Thema recht plötzlich und in einer etwas überraschenden Weise auf das Zeusbild über, das als Versinnbildlichung des transzendenten weltschaffenden Intellekts (νοῦς) verstanden wird Das Gedicht verschwindet aus dem Blickfeld, nachdem erst kurz festgestellt worden ist, dass es nicht möglich gewesen sei, Zeus so darzustellen, wie ihn das Gedicht schildert

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S z B Männlein-Robert 2017 a, 181; Johnson 2013, 168, der meint, das diesbezügliche Schweigen der Fragmente sei „an interesting and subtle move away from any concrete or particular religious images“ 104 In enn 4,4 [28], 10, einer Stelle, die deutlich in Porph fr  354 nachklingt, spricht Plotin von Zeus als dem Demiurgen Die Kontroverse darüber, ob Porphyrios eine einheitliche Vorstellung vom Demiurgen vertreten hat oder nicht – eine Frage, die nicht zuletzt unserem Fragment gilt – braucht uns hier nicht zu beschäftigen S dazu z B Opsomer 2005, bes 73–75 (dort auch frühere Literatur), oder Baltes 1998, 276 f 105 Auf ein vollständiges Zitat kann hier verzichtet werden Das Gedicht war schon lange vor der Zeit des Porphyrios bekannt, wie aus den Fragmentsammlungen der Orphica hervorgeht (fr  243 Bernabé 2004, 168 Kern) Es erfreute sich offensichtlich unter den Neuplatonisten großer Beliebtheit Proklos scheint davon besonders begeistert gewesen zu sein, wie schon aus dem Apparat unseres Fragments bei Smith hervorgeht Die Anfangszeilen, „Zeus war der erste, Zeus mit dem weißen Blitz der letzte, Zeus ist das Haupt, Zeus die Mitte, von Zeus kommt alles Geschaffene“ (Ζεὺς πρῶτος γένετο, Ζεὺς ὕστατος ἀργικέραυνος, Ζεὺς κεφαλή, Ζεὺς μέσσα, Διὸς δ’ ἐκ πάντα τέτυκται), haben auch in Verbindung mit anderen Hexametern als den von Porphyrios angeführten zirkuliert Diese beiden Verse sind beispielsweise in nahezu exakt gleicher Form schon im Papyrus von Derveni belegt (col 17,12; vgl Orphica fr  14 Bernabé 2004)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Eusebios seinerseits widmet dem Gedicht sehr viel Aufmerksamkeit, während das Bild erst nachträglich und lange nicht so ausführlich behandelt wird Diese Disproportion hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass das Gedicht, wie wir unten sehen werden, eine aus seiner Sicht weit vorteilhaftere Argumentationsbasis bietet (Fr 354:) Zeus heißt also hier / = im orphischen Gedicht / der gesamte Kosmos, lebendiges Wesen unter lebendigen Wesen, Gott unter Göttern Er ist Zeus, indem er Intellekt ist, von dem aus er alles hervorbringt und mit seinen Gedanken schafft Die Theologen erklärten also die Lehre von Gott in dieser Weise, aber ein Bild von ihm herzustellen von der Art, wie es der Bericht / = das Gedicht / anzeigte, war unmöglich; und falls jemand auf die Idee kam, das Lebendige, das Intellektive und das Vorsehende seines Wesens durch die Kugelgestalt zu demonstrieren, hat er es nicht getan Sie machten dafür das Bild des Zeus in Menschengestalt, weil es der Intellekt war, gemäß dem er schuf, und er die Schöpfung des Alls mit Hilfe der Keimkräfte (λόγοι σπερματικοί) zur Vollendung brachte Er wird sitzend dargestellt, um die Stabilität seiner Kraft anzudeuten; er trägt den Oberkörper nackt, weil er in den intellektiven und in den himmlischen Teilen des Kosmos offenbar ist, die vorderen Teile / d h die unteren, da er sitzend dargestellt ist, MWS / sind dagegen bedeckt, weil er den hier unten Versenkten unsichtbar bleibt In der Linken hält er das Zepter, was soviel heißt, dass links das Herz verborgen ist, das unter allen Körperteilen führende und intellektivste Organ Denn der schaffende Intellekt ist König des Kosmos Mit der Rechten streckt er entweder einen Adler hervor, und zwar weil er über die Götter gebietet, die die Luft durchwandeln / d h die Dämonen /, wie der Adler über die Vögel in der Luft herrscht Oder aber er trägt eine Siegesgöttin, denn er hat selbst alles besiegt 106

Der Umstand, dass Zeus im Gedicht als Gesamtkosmos und als dessen Schöpfer dargestellt wird (Διὸς ἐκ πάντα τέτυκται), liefert offensichtlich den Ausgangspunkt für die Gleichsetzung des Zeus mit dem Gesamtkosmos und dem weltschöpfenden Nous – dies wird platonisch darauf bezogen, dass der Intellekt in sich die ganze intelligible Welt (die νοητά, die Ideen, d h hier seine νοήματα) hegt, die der Schöpfung des sichtbaren Universums zugrundeliegt Die Schöpfung kommt erst auf niederer Seinsstufe zustande, indem die „Keimkräfte“, die Logoi spermatikoi, als Abbilder und Vertreter der 106 Porph De simulacris fr  354 Smith 42–61 (= Eus praep.ev 3,9,3‒5): Ζεὺς οὖν ὁ πᾶς κόσμος, ζῷον ἐκ ζῴων καὶ θεὸς ἐκ θεῶν· Ζεὺς δὲ καθὸ νοῦς, ἀφ’ οὗ προφέρει πάντα καὶ δημιουργεῖ τοῖς νοήμασιν τῶν δὴ θεολόγων τὰ περὶ (l  45) θεοῦ τοῦτον τὸν τρόπον ἐξηγησαμένων, εἰκόνα μὲν τοιαύτην δημιουργεῖν οἵαν ὁ λόγος ἐμήνυσεν, οὔθ’ οἷόν τε ἦν οὔτ’, εἴ τις ἐπενόησεν, τὸ ζωτικὸν καὶ νοερὸν καὶ προνοητικὸν διὰ τῆς σφαίρας ἐδείκνυεν ἀνθρωπόμορφον δὲ τοῦ Διὸς τὸ δείκηλον πεποιήκασιν, ὅτι νοῦς (50) ἦν καθ᾽ ὃν ἐδημιούργει καὶ λόγοις σπερματικοῖς ἀπετέλει τὰ πάντα· κάθηται δέ, τὸ ἑδραῖον τῆς δυνάμεως αἰνιττόμενος· γυμνὰ δὲ ἔχει τὰ ἄνω, ὅτι φανὸς ἐν τοῖς νοεροῖς καὶ τοῖς οὐρανίοις τοῦ κόσμου μέρεσίν ἐστιν· σκέπεται δὲ αὐτῷ τὰ πρόσθια, ὅτι ἀφανὴς τοῖς κάτω (55) κεκρυμμένοις· ἔχει δὲ τῇ μὲν λαιᾷ τὸ σκῆπτρον, καθ᾽ ὃ μάλιστα τῶν τοῦ σώματος μερῶν τὸ ἡγεμονικώτατόν τε καὶ νοερώτατον ὑποικουρεῖ σπλάγχνον, ἡ καρδία· βασιλεὺς γὰρ τοῦ κόσμου ὁ δημιουργικὸς νοῦς· προτείνει δὲ τῇ δεξιᾷ ἢ ἀετόν, ὅτι κρατεῖ τῶν ἀεροπόρων (60) θεῶν ὡς τῶν μεταρσίων ὀρνέων ὁ ἀετός, ἢ Νίκην, ὅτι νενίκηκεν αὐτὸς πάντα (σκέπτεται bei Smith l  54 ist Druckfehler )

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Ideen der Materie ihre Form verleihen und dafür sorgen, dass die vielfältigen Erscheinungen gestaltet werden und existieren können An der zweiten Stelle des Fragments, an der von der Schöpfung die Rede ist, werden nicht mehr die νοήματα genannt; an ihre Stelle treten diese Logoi spermatikoi, so dass hier in verkürzter Fassung die mittelbare Wirkung des Intellekts auf die Sinnenwelt zum Ausdruck kommt 107 Die Auslegung des Bildtypus stellt trotz der raschen Behandlung der Einzelheiten ein ungewöhnlich inhaltsreiches Bespiel dafür dar, wie man sich die bewusste Erfindung und Handhabe der anthropomorphen Darstellungsweise vorstellen konnte Wir erfahren, zumindest indirekt, einiges über die Erfinder – ob diese mit den orphischen Theologen identisch sein sollen, ist unklar, aber jedenfalls teilen sie angeblich dieselbe Wirklichkeitsauffassung Wir werden darüber aufgeklärt, welche Inhalte sie vermitteln wollten – das Lebendige, das Intellektive und das Vorsehende des schöpferischen Demiurgen wollten sie zum Ausdruck bringen – ferner darüber, warum sie gerade die menschliche Gestalt wählten, wobei interessanterweise eine alternative Darstellungsform gestreift wird, die, wie es scheint, zumindest als theoretische Möglichkeit den Alten, die die Gestalt festlegten, vorgelegen haben soll Die platonische Vorstellung von der Kugel als die vollendetste Form (Timaios 33b) könnte den Hintergrund einer solchen Erwägung von Seiten des Porphyrios bilden, zumal gerade der Intellekt gerne mit einer Kugel verglichen wird 108 Einzig die Frage der vorgesehenen Zielgruppe bleibt ohne Kommentar Dieser Punkt war aber schon früher klargemacht worden, wie wir in fr  351 gesehen haben Es überrascht, dass die Begründung der Unmöglichkeit einer Verbildlichung vom Gedicht ausgeht, und nicht vom Gedanken an das grundsätzlich unabbildbare, unaussprechliche Wesen des Göttlichen Eine Verbildlichung des Nous soll aber offensichtlich als erwünscht empfunden worden sein, und so soll man stattdessen ein menschlich gestaltetes Bild gewählt haben Porphyrios zeigt auch, wie die Erfinder neben dem grundlegenden Sinninhalt der anthropomorphen Form als solcher auch noch die mit dieser Form verbundenen meta107 Zu den Ideen, den intelligiblen Seinsgründen, als den Gedanken des Intellekts (hier: die νοήματα des Zeus), vgl Baltes 1998, 264 und 241 f S auch oben 4 4 1 1 , m Anm  182–185 Zu den Logoi spermatikoi, den aktiven Formprinzipien, ihrem Verhältnis zu den Ideen und ihrer Funktion, s enn 4,4 [28] 39, 5 ff und 3,8 [30] 2, 25–34) Vgl Rist 1967, 94–96; Remes 2008, 83 f ; 88 Wir sind dem Begriff schon einmal im Zusammenhang mit der Besprechung eines Fragments des Chrysippos begegnet, s oben Kap  3 1 1 1 , m Anm 61 Plotin hat ihn aus stoischer Lehre übernommen und umgedeutet (Graeser 1972, 41 f ; Wallis 1995, 68 f ) Der Begriff begegnet in den Fragmenten des Porphyrios noch zweimal, im Singular: Nach fr  359,108–110 soll Hermes mit erigiertem Glied auf den σπερματικὸς λόγος, der das All durchzieht, hinweisen, ein Gedanke, der von Plotin ähnlich ausgedrückt worden ist (s enn 3,6 [26] 19,25–26) Und in fr 358,42–44 finden wir Priapos als Bild des σπερματικὸς λόγος, diesmal spezifisch als περίγειος δύναμις (s ibid l 38) 108 S Plot enn 5, 1 [10] 8, mit dem berühmten Hinweis auf Parmenides 18 DK fr B 8,42–44, wo „Denken“ und „Sein“, d h in den Augen eines späten Platonikers der Intellekt und die von ihm gedachten und in ihm enthaltenen Ideen, mit einer Kugelmasse, σφαίρης … ὄγκῳ, verglichen werden, ferner Plut Plat. quaest 1004c; Proklos in Tim 206a vol  2 p  215,2–3 Diehl u a

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

phorischen Möglichkeiten nutzbar gemacht hätten Dass Zeus sitzend dargestellt wird, dass er teils nackt, teils bekleidet ist, sind alles bedeutungstragende Züge Die Funktion dieser letztgenannten Charakteristiken fallen besonders auf In fr  351 hieß es, dass die Götterbilder in der Absicht eingeführt worden seien, das Unsichtbare sichtbar zu machen In fr 352 wurde dieser Gedanke noch um einen Schritt erweitert: Angeblich soll, zumindest gelegentlich, der Versuch unternommen worden sein, die Unsichtbarkeit selbst zu versinnbildlichen, und zwar durch einen für die Bilder verwendeten Stoff (schwarzen Stein), unabhängig von der vom Künstler ausgearbeiteten Form Hier, in fr  354, wird ein ähnlicher Inhalt mit der anthropomorphen Form selber, oder richtiger mit der Ausstattung des anthropomorphen Bildes verbunden, indem Nacktheit für Sichtbarkeit (natürlich nur dem inneren Auge), Einhüllung dagegen für Unsichtbarkeit steht Die Implikation ist die, dass der entblößte Oberkörper für die höhere Welt steht – Zeus/Nous ist den Seelen, die auf den höheren Ebenen verweilen, offenbar109 – während das Verhülltsein der unteren Körperteile seine Unsichtbarkeit repräsentiert, d h er ist den in der Wahrnehmungswelt verstrickten Seelen unsichtbar 110 Insofern spiegelt die Deutung des Bildes in gewissem Sinne die Art, wie die Körperteile des Zeus im orphischen Gedicht aus verschiedenen Elementen und Erscheinungen des Kosmos bestehen Dort bilden die Elemente seinen Leib, der Himmel ist sein Kopf, die Sterne sind seine Haare, Sonne und Mond seine Augen; der Äther ist sein Νοῦς Im Verhältnis zur Länge des Zitats ist die Deutung des Porphyrios auffallend kurz Das könnte daran liegen, dass Eusebios sie gekürzt hat 111 Aus seiner Auseinandersetzung mit dem Fragment im Folgenden (3,9,6 ff ) geht hervor, dass er sich selbst weit mehr für das Gedicht als für die Verbildlichung und ihre Deutung interessiert Er nennt eine ganze Weile das Bild überhaupt nicht, sondern konzentriert sich auf die Verse, denen er auch insgesamt deutlich mehr Aufmerksamkeit widmet Das Gedicht

109 Meine Übersetzung „in den intellektiven und in den himmlischen Teilen des Kosmos“ entspricht der heute geläufigen (vgl Crome 1970, 136; Elm 2012, 308; Maltomini 2012, 75; Simmons 2015, 147) Einen Kommentar dazu, wie die Phrase exakt zu verstehen ist, habe ich nirgends gefunden Entsprechen die intellektiven Teile dem Bereich der Seele? Oder finden wir hier schon eine Andeutung einer weiteren Unterteilung der intelligiblen Sphäre (τὰ νοητά → τὰ νοητά und τὰ νοερά), wie sie bei Jamblichos (s Proklos In Tim 292de, vol 3 p 174 Diehl), bei Julian (In Solem 135; 140d–141a u a ) und dann bei Proklos vorliegt (s bes theol. Plat 5)? Φανός habe ich wegen der Parallelität zu ἀφανής („unsichtbar“, „verborgen“) mit „offenbar“ wiedergegeben In der Paraphrase des Stücks in der Suda steht interessanterweise φανερός (Suda 2 p  503 Adler) Mit Hinweis darauf setzt Des Places 1976, 192, φανερός in den Text Zu beachten ist jedoch, dass in einem anderen Fragment unseres Traktats die Phrase οὐ φανός sich findet, die schwerlich in anderem Sinne verstanden werden kann als „nicht sichtbar“: Nach fr 360, 5–8 trägt das Bild des ägyptischen Gotts Kneph (eines anderen Schöpfergottes, aber als Logos, nicht als Nous verstanden) eine Federkrone, deren Signifikanz die sei, dass der Logos schwer auffindbar, versteckt und οὐ φανός sei Vgl Van der Horst 1984, 65 n 4; zu Kneph s ebenda n 2 110 Vgl wie es in fr  352 heißt, dass das Göttliche „der Wahrnehmung, die auf das sterbliche Leben ausgerichtet ist, unsichtbar ist“ 111 Vgl oben, m Anm 85

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und die damit verbundenen Implikationen beschäftigen ihn das ganze restliche Kapitel hindurch (3,9,6–15), und bilden auch das Thema für die ganze erste Hälfte des nächsten Kapitels Erst in 3,10,13 kommt Eusebios auf das Bild überhaupt zu sprechen Seine eigene Geschichtsauffassung liefert die Argumente: die anthropomorphe Darstellung könne nur ein Bild eines Menschen sein – ja, nicht einmal das, da sie nur den schlechteren Teil, die äußere Form, repräsentiere (3,10,18) Und ein Bild des Zeus vermöge sowieso nur einen Menschen zu repräsentieren, denn die Traditionen insgesamt bezeugen, dass er ein Mensch gewesen sei (3,10,19–26) Wenn wir uns die von Eusebios propagierte Vergangenheitsauffassung und die Probleme, die ihm in dieser Hinsicht der Traktat des Porphyrios bereitete, vergegenwärtigen, ist es nicht schwer, zu verstehen, weshalb das Gedicht für ihn so stark in den Vordergrund tritt Das Gedicht mit seiner Schilderung von Zeus als dem sichtbaren All bietet Eusebios eine Möglichkeit, zu triumphieren, wie es die Bildbeschreibung nicht tut Er kann mit gutem Grund geltend machen, nicht nur, dass die Interpretation unzutreffend sei – der Zeus des Gedichts ist das sichtbare All, und keineswegs ein transzendenter Demiurg – sondern auch und vor allem, dass das Interpretationsobjekt in Wirklichkeit seine eigene Fassung bezeuge Hier handelt wirklich nichts von „einem weltschaffenden Intellekt, von unkörperlichen Ideen und von intellektiven und logoshaften Kräften“ (3,6,7) 112 Der im Gedicht gepriesene Gott ist der materielle Kosmos Orpheus (oder wer auch immer einst das Gedicht verfasst haben mag, vgl praep.ev 3,9,14) kann also unmöglich ein Vertreter einer Theologie platonischen Charakters gewesen sein Woher hätte er eine solche kennen können (3,10,1–2; vgl 3,9,13–15)? Sei es, dass er die Theologie, die sich im Gedicht spiegelt, aus Ägypten mitgebracht habe, sei es, dass sie in Griechenland heimisch gewesen sei, in der einen wie in der anderen Gegend sei keine Vorstellung von einer überweltlichen, unmateriellen Wirklichkeit überhaupt bekannt gewesen, „wie im Vorangehenden demonstriert worden ist“ (3,9,14) Die Vermutung liegt nahe, dass die Disproportion zwischen Gedicht und Bildbeschreibung im Fragment erst sekundär ist, d h dass die Verbildlichung im Ursprungstext einen breiteren Raum beansprucht hat als es das Fragment erkennen lässt Der Triumph, hier einen leichten Sieg über Porphyrios gewonnen zu haben, mag die in dieser Hinsicht vermutlich weniger vielversprechende Bildbeschreibung in den Schatten gestellt haben Die Befriedigung des Eusebios drückt sich deutlich in seiner selbstsicheren Positur aus „Dies sind die Worte des Porphyrios,“ sagt er unmittelbar nach Abschluss des Fragments, und fährt fort: „Da er die Interpretation in der beschriebenen Weise vorgenommen hat, empfiehlt es sich, in aller Ruhe (ἠρέμα καὶ ἐπὶ σχολῆς) in Betracht zu ziehen, wen nun das Gedicht eigentlich als Zeus darstellt“ (3,9,6) 113 112 113

Oben Anm 86 angeführt Praep.ev 3,9,6: Ταῦτά σοι ὁ Πορφύριος, ὧν τὸν εἰρημένον τρόπον ἀποδεδομένων ἠρέμα καὶ ἐπὶ σχολῆς ἐπιθεωρῆσαι καλόν, τίνα ποτὲ ἄρα τὸν Δία φασὶν εἶναι τὰ ἔπη Vgl praep.ev 3,14,4–12, wo ironische Formulierungen demselben Zweck dienen Es geht dort um einige Orakelsprüche, die einem ande-

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass die anthropomorphe Darstellungsweise in den Augen des Porphyrios keineswegs nur eine „bloße Darstellungskonvention“ ist, genauso wenig wie die Götterbilder insgesamt als „defizitär“ gelten 114 Insofern als Gott unabbildbar ist, tritt die menschliche Gestalt ersatzweise als konkretes Modell ein Dass die anthropomorphe Darstellungsweise somit auf indirektem Wege Kenntnis vom Göttlichen vermittelt, bedeutet nicht, dass sie in irgendeiner Weise unterlegen sei Im Gegenteil bietet sie ein durchaus sinnvolles und zutreffendes Ausdrucksmedium, das tiefes Wissen vom eigentlichsten Wesen des Göttlichen aufschließt, wenn auch nicht jedermann dazu Zugang hat Aufgrund des reichen Potentials der Familienbeziehungen und der Geschlechts- und Altersunterschiede eignet sie sich dazu, eine große Vielfalt von Inhalten zu visualisieren Neben den übergeordneten Aspekten, die, wie wir gesehen haben, durch die Menschengestalt als solche versinnbildlicht werden sollen, vermag die anthropomorphe Darstellungsweise eine Menge weiterer bedeutsamer Eigenschaften des Göttlichen metaphorisch zum Ausdruck zu bringen, wie schon aus fr  352 hervorging und noch deutlicher im Fragment 354 zu sehen ist Ferner wird in den Fragmenten 357–359 mit einer Fülle von Beispielen demonstriert, wie diese Begleiterscheinungen der anthropomorphen Form dazu verwendet werden, die Funktionen und die gegenseitigen Beziehungen der Götter herauszustellen 115 Auch unabhängig von der konkreten Verbildlichung des Göttlichen wird die anthropomorphe Metaphorik – in längst traditioneller Weise – dazu benutzt, die Wirkung des Göttlichen in der Welt zu erfassen 116

114

115 116

ren Werk des Porphyrios entstammen (Titel in 3,14,4 genannt, Περὶ τῆς ἐκ λογίων φιλοσοφίας; herkömmlicher lat Titel De philosophia ex oraculis haurienda) Ohne sich zunächst mit den vorgelegten Auslegungen der Sprüche durch Porphyrios auseinanderzusetzen (darauf kommt er mehrfach in den Büchern 4–6 zurück) wirft Eusebios diesem vor, dass die Sprüche – die sich für Äußerungen der Götter selber ausgeben – gewisse Interpretationen umstoßen, die in De simulacris vorgelegt werden Er greift in praep.ev 3,14,9–10 mehr oder weniger wörtlich Formulierungen auf, die er im Vorangehenden aus De simulacris angeführt hat, und unterstreicht, dass diese angesichts der Aussagen der Orakel nicht stimmen können, s fr 359, bes l 107 = praep.ev 3,11,42, über Hermes, und l 113 = 3,11,44, über Pan Beachte, wie Eusebios in diesem letzten Fall außerdem in raffinierter Weise auf fr   351 (= 3,7,1) zurückverweist: Der Orakelspruch (De phil. ex oraculis fr 318 Smith) zeige, dass Pan keineswegs das All oder der gesamte Kosmos sei (wie in fr 359,113), sondern in Wahrheit ein lüsterner Dämon, denn die Verse könnten ja unmöglich aus dem Munde des Alls und des Kosmos stammen Und folglich „ist es das Bild dieses Dämons, und nicht des Alls, das Männer (ἄνδρες – wie in fr 351) herstellten, als sie die / im Orakelspruch / beschriebene Form nachbildeten“ (τούτου τοιγαροῦν τοῦ δαίμονος, ἀλλ’ οὐ τοῦ παντὸς τὴν εἰκόνα ἐκτυπώσαντες ἄνδρες τὸ προγεγραμμένον ἐμιμήσαντο σχῆμα, 3,14,9 Derselbe Spruch ist noch einmal in praep.ev 5,13,1–2 zitiert und kommentiert ) Männlein-Robert 2017 a, 192 „defizitär“ (Vgl oben Kap  1 1 , m Anm 17; unten Kap  5 4 2 2 a E ) Männlein-Robert ebenda 196: „bloße Darstellungskonvention“ Wie ich bereits in Kap  1 1 (gegen Ende) dargelegt habe, führt eine solche Terminologie leicht irre, da sie normalerweise impliziert, dass die Darstellungsform willkürlich gewählt ist S z B 357,8–10 und 357 a, 2–5, 358,39–40 zu Hestia; 359,16–19 Hephaistos; 359,87 f Kronos; 359,99 f Aphrodite; 359,116 f zu Eros Die metaphorische Bedeutung der Familienbeziehungen und der Geschlechtsdifferenzierung unterscheidet sich nicht von derjenigen, die dem in Kap  3 1 1 beschriebenen Modell zugrunde-

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Dennoch kommt der anthropomorphen Darstellungsform im Traktat keine Vorrangigkeit zu Die ägyptischen Bilder gelten als ebenso aussagekräftig und ebenso wichtig, wie aus fr 360 hervorgeht 117 Die von den Griechen seit alters her für ihre Götterbilder verwendete Form bietet somit eine Möglichkeit unter anderen, die Gottheit sinnvoll zu verbildlichen 118 Ja, diese Darstellungsform gilt nicht einmal als spezifisch griechisch Auch die Ägypter sollen ihre Götter in menschlicher Gestalt dargestellt haben, freilich in Verbindung mit theriomorphen Elementen (fr  360,47 ff ), oder mit anderen ausgefallenen Zügen 119 Höchstens könnte man den Umstand, dass das einzige in den überlieferten Fragmenten besprochene Bild, das sich auf die höhere Wirklichkeit bezieht, das Bild des Zeus in fr 354, die menschliche Gestalt trägt, als Zeichen einer gewissen Bevorzugung dieses Ausdrucksmittels gegenüber den nicht-figürlichen, den halbanthropomorphen oder den theriomorphen Alternativen betrachten Andererseits wird, wie wir sahen, in fr 354 die Idee einer kugelgestalteten Verbildlichung des Zeus/Intellekts gestreift So mag diese Form in der Theorie als die überlegene konkrete Darstellungsform gelten 120 liegt Der Unterschied besteht darin, dass dort diese Züge als Ursprung der sekundär entstandenen, fehlerhaften anthropomorphen Gottesvorstellung gelten, während sie hier selbstverständliche Begleiterscheinungen des bewusst erfundenen, wahrheitsvermittelnden anthropomorphen Gottesbildes ausmachen (vgl bes oben 5 2 , m Anm 38–44; s auch 5 0 ) Beachte bes 360,45–46, wonach in Ägypten Osiris sowohl als Gatte wie auch als Bruder und als Sohn der Isis gilt Was dieses Paradoxon besagt, ist aus dem Text im Vorangehenden (360,30–44) zu ersehen 117 Vgl abst 4,9 118 Im Fragment 76,23 in v  Harnacks Sammlung der Fragmente aus dem Werk des Porphyrios, das gemeinhin mit dem Titel Gegen die Christen bezeichnet wird, wird die anthropomorphe Gestalt der Götterbilder in einer Weise begründet, die deutlich einen Anspruch auf Vorrangigkeit dieser Darstellungsform impliziert: „Die Form der Götterbilder ist mit gutem Grund die des Menschen, da der Mensch für das schönste der lebenden Wesen und Bild Gottes gehalten wird“ (ἀνθρωποειδῆ δὲ τῶν ἀγαλμάτων εἰκότως εἶναι τὰ σχήματα, ἐπεὶ τὸ κάλλιστον τῶν ζῴων ἄνθρωπος εἶναι νομίζεται καὶ εἰκὼν θεοῦ, v Harnack 1916, 92 = Makarios von Magnesia, Monogenes/Apokritikos 4,21 b 4 p  312,10 Goulet) Jedoch ist die Frage, in welchem Umfang der vermittelnde Text (die Äußerungen des Christengegners im Monogenes) auf Porphyrios zurückgeht, höchst kontrovers S dazu Morlet 2011, 15 f , mit reichhaltigen Literaturangaben Becker hat in seiner großen Ausgabe alle Fragmente ausgelassen, die v Harnack Makarios entnommen hatte (s Becker 2016, 88 f und 103–105) 119 So z B hat das Bild des Schöpfergottes Kneph dunkelblaue Haut (fr  360,3–5 = Eus praep. ev 3,11,45: Τὸν δημιουργόν, ὃν Κνήφ οἱ Αἰγύπτιοι προαγορεύουσιν, ἀνθρωποειδῆ, τὴν δὲ χροιὰν ἐκ κυανοῦ – καυνοῦ Druckfehler bei Smith – μέλανος ἔχοντα), und einen eigenartigen, selbstverständlich symbolisch zu verstehenden Kopfschmuck (vgl oben Anm 109 a E ) Das sitzende Bild des Gottes von Elephantine (fr 360,51 ff ) hat ebenfalls dunkelblaue Haut und trägt einen Widderkopf, eine Krone mit Ziegenhörnern und auf diesen einen Diskus (es handelt sich um Khnum-Ra; s Gabriele 2012, 274 Anm 168) Dass auch die Griechen u U ihre Götter mit theriomorphen Zügen darstellen, geht aus fr 358,12 f (Kore, Dionysos) und 359, 117–121 (Pan) hervor S auch abst 3,16 (Zeus, Dionysos, Pan) 120 Im letzten Teil von fr 352, oben von mir nicht angeführt, werden bestimmte geometrische Formen den Göttern (des sichtbaren Kosmos) „zugeteilt“, in einer Weise, die stark daran erinnert, wie im Timaios (53 ff , bes 55d–56b) die Elemente mit den geometrischen Hauptkörpern gekoppelt werden Der Sinn des Abschnitts und sein Zusammenhang mit dem Text im Vorangehenden sind unklar Im Fragment verlautet nichts darüber, dass diese Formen für konkrete Bilddarstellungen gebraucht worden seien Handelt es sich etwa um Attribute der Götter(bilder), wie Männlein-

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

5.4. Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie Mit Dion von Prusa und Maximos von Tyros betreten wir einen anderen Boden als zuvor An die Stelle des Meinungsaustausches innerhalb der engeren Kreise einer philosophischen Elite tritt die öffentliche Tätigkeit des Rhetors, des Beraters oder des Lehrers, der seinem Publikum moralische Anleitung in möglichst ansprechender Form bietet, sei es, dass er vor einem städtischen Gremium oder einer lokalen Festgemeinde auftritt, sei es, dass er sich an junge Vertreter wohlbestellter Familien wendet, in deren Kreisen ein gewisses Maß an philosophischer Bildung als unentbehrlich gilt Mit dem Verlust der Selbständigkeit folgt in den ersten Jahrhunderten der Kaiserzeit in den griechisch-sprachigen Teilen des Imperiums ein wachsendes Interesse der städtischen Oberschichten am Statuswert griechischer Bildung Dieses Publikum fragt nicht nach zusammenhängenden theoretischen Systemen, interessiert sich nicht für die Gesetze der Logik und nur wenig für die nach Ursachen und Mechanismen des Kosmos forschende Physik Jetzt lockt leicht zugängliche moralphilosophische Lehre, gerne verbunden mit anekdotischen Rückblicken auf die Geschichte der Philosophie, häufigen Verweisen auf die großen literarischen Klassiker und einem intensiven Zurückgreifen auf die Mythologie Hieraus entsteht eine neue Form von παιδεία, die dem doppelten Zweck dient, sozialen Status zu definieren und zu markieren und eine gemeingriechische Identität zu befestigen 121 Der öffentliche Kult war als soziokulturelles Phänomen ein wichtiges Element der gemeingriechischen Identität und wesentlicher Teil der glorreichen Vergangenheit, auch schon deswegen, weil er herausragende Beispiele der griechischen Bildkunst exponierte Darauf mussten die Vermittler der neuen παιδεία Rücksicht nehmen, unabhängig davon, was sie selber davon halten mochten Wo die Frage nach Sinn, Wert und Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes jetzt mit Dion und Maximos in die Öffentlichkeit tritt, ist mit einer grundsätzlichen Verurteilung der Art, wie die Götter in Kult und Ikonographie repräsentiert werden, schon a priori nicht zu rechnen Sie haben selbstverständlich ihre Worte den Interessen und den Erwartungen ihres jeweiligen Publikums angepasst Die bei Dion und Maximos zum Ausdruck kommenden Thesen zum Zweck, Sinn und Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes sind sowohl als theoretische Gedankenmodelle wie auch als Vorschläge, von denen sie erwarteten, dass sie beim Publikum ankommen würden, selbstverständlich hochinteressant, gleichgültig wie weit sie einer etwaigen eigenen „ehrlichen Meinung“

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Robert für die Kugel vorschlägt (2017 a, 188), da diese u a auch der Tyche zugewiesen wird (fr  352,18), und diese häufig auf einem Globus stehend dargestellt wird? Von einer „Zuteilung“ dieser Formen an eine höhere Wirklichkeitsebene spricht das Fragment nicht Zu diesen Verhältnissen und ihren Voraussetzungen s Swain 2000, 5 f ; Trapp 2007 a, 467 f ; 475, und 1997 a, xviii–xxii; Hahn 2009, sowie Korenjak 2000, bes 39 f und 57–61

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entsprechen 122 Der Umstand, dass sie sich dabei zweier gänzlich verschiedener Strategien bedienen, dürfte teilweise ein Effekt der unterschiedlichen Rezipientenverhältnisse sein Maximos, dessen Dialexeis als „Philosophiekurs für jugendliche Angehörige der Oberschicht“ charakterisiert worden sind,123 lässt weise, fürsorgliche Männer der Frühzeit die Götterbilder als Orientierungshilfe für alle die, die so etwas brauchen, erfinden; es steht dem Zuhörer frei, sich zu der seltenen Kategorie fortgeschrittener Geister, die solche Anleitung nicht nötig haben, zu zählen, oder auch nicht Dion, der vor der großen Festversammlung bei den olympischen Spielen spricht und somit nicht mit einem entsprechend einheitlichen Empfängerkreis rechnen kann, hat eine heiklere Aufgabe, und es verwundert deshalb nicht, dass das Ergebnis vielschichtig und schillernd anmutet Er formuliert eine avanzierte philosophische Sinngebung der anthropomorphen Götterbilder, kombiniert diese mit einer psychologisch begründeten Rechtfertigung des Gebrauchs von Götterbildern überhaupt, die aus einer traditionell philosophischen Perspektive betrachtet dubiös anmuten müsste, und lässt beides geschickt durch einen fiktiven Sprecher vortragen, von dem niemand etwas anderes als eine überzeugte Verteidigung der Götterbilder erwarten würde Diesen Sprecher führt er aber erst in der zweiten Hälfte seiner Rede ein Wie dieser Inhalt sich zu dem, was sich davor findet, verhält, scheint kein Thema der wissenschaftlichen Diskussion zu sein, muss aber selbstverständlich mit berücksichtigt werden Wie wir unten sehen werden, erscheint der zweite Teil in der Tat in einem neuen Licht, wenn klar wird, dass die erste Hälfte sich mehrfach bewusst davon abhebt 5 4 1 Die olympische Rede des Dion von Prusa (or 12) Dion von Prusa lässt uns in seiner 12 (sogenannten olympischen) Rede eine imaginäre Szene miterleben, in der Pheidias vor einer gesamtgriechischen Jury über seine in Olympia aufgestellte Zeusstatue Rechenschaft abzulegen hat Dabei gilt die Verhandlung nicht etwa einer Anklage wegen Entwendung von Mitteln oder Manipulation der

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Vgl dazu unten 5 4 1 2 a E und 5 4 1 3 Es ist zu begrüßen, dass die Diskussion über „sincerity or opportunism?“, der noch Blomqvist mehrere Seiten ihrer Dion-Studie zu widmen sich genötigt sah (Blomqvist 1989, 231–239), heute nicht mehr so brennend erscheint wie zuvor Generell gesehen werden die Reden unserer Autoren als aussagekräftige Zeitdokumente betrachtet und die darin zum Ausdruck kommenden Gedanken ernstgenommen (s z B Swain 1996, 191–200 zu Dion; Trapp 1997 b, 1974 f zu Maximos) Insgesamt zeugen die Reden von einer zusammenhängenden philosophischen Grundhaltung, die im Falle Dions stoisches Gepräge trägt, bei Maximos platonisch gefärbt ist Vgl unten 5 4 2 , Anm  189 Korenjak 2000, 42 (mit Hinweis auf Trapp 1997 a, xx‒xxiii)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

ausgegebenen Summen;124 nein, hier stellt die Jury die konkrete Form, die Pheidias für das Standbild gewählt hat, in Frage Dieser Szene ist mit Recht viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet worden Jedoch leidet die Diskussion darunter, dass nicht genügend problematisiert worden ist, welcher Stellenwert den Äußerungen des „Pheidias“ zukommt Ist es statthaft, in Diskussionen der Szene den Namen „Pheidias“ kurzerhand gegen „Dion“ auszutauschen?125 Wenn vor einem gemischten Publikum, in Sichtweite des wohl berühmtesten Kultbildes der griechischen Welt, eine Auseinandersetzung mit Sinn, Zweck und Wert anthropomorpher Götterbilder gerade dem Schöpfer des Bildes selber in den Mund gelegt wird, ist es da so selbstverständlich, dass der fiktive Sprecher als ‚Sprachrohr‘ des eigentlichen Redners zu verstehen sei?126 Demjenigen Deklamator, der imstande ist, einen fiktiven Sprecher überzeugend zu gestalten, bietet der Kunstgriff glänzende Gelegenheit, seine rhetorische Kunst zur Schau zu tragen Nichts hindert Dion, dem Pheidias fortgeschrittene philosophische Gedanken in den Mund zu legen Aus dem Bildhauer einen regelrechten Philosophen zu machen, wäre dagegen unglaubwürdig Pheidias war Bildkünstler, jeder erwartet, dass der fiktive Angeklagte Pheidias sich um das Ansehen und den Status der Bildkunst bemüht Hinzu kommt, dass die Pheidiasszene weniger als die Hälfte der Gesamtrede umfasst (§ 49–84)127 und die Aussagen der beiden Hauptteile keineswegs immer deckungsgleich sind Im Gegenteil: In der ersten Hälfte findet sich, wie wir unten sehen werden (5 4 1 2 ), eine ganze Reihe von Signalen, die das zeitgenössische Publikum unmöglich mit solchen Auffassungen verbunden haben kann, wie sie dann von „Pheidias“ vertreten werden Einen zusätzlichen, besonders sophistikierten Fingerzeig, dass Dion seinen Pheidias nicht als alter ego versteht, gibt uns der Kontrast zwischen § 26 und § 79 In 26 wird die Tradition referiert, nach der Pheidias beim Schaffen seines Zeusbildes mit Homer, genauer, mit den Iliasversen 1,528–530 („So sprach der Kronide und winkte mit seinen schwarzen Augenbrauen; die ambrosischen Haare wallten vom Haupt des unsterblichen Herrschers herab, und er erschütterte den großen Olymp“) habe wetteifern wollen, ohne in Frage gestellt zu werden ‚Pheidias selbst‘ zählt in §§ 78–79 eine Reihe von Motiven auf, die Homer mit Leichtigkeit habe ausführen können, er selbst aber weder darstellen könne, noch wolle, unter anderem auch, „wie der Olymp auf einen leichten Wink des Zeus mit den Augenbrauen hin erschüttert werde“ 128 124 Wie die Tradition sonst sowohl im Zusammenhang mit diesem Auftrag wie mit der Verfertigung des Standbilds der Athena Parthenos in Athen zu erzählen weiß, vgl Russell im Kommentar S  195 125 So z B Stenger 2009 a, bes 58, und Scheer 2000, 42 (vgl unten Anm  169) 126 So etwa Klauck 2000, 192 Ähnlich Zeitlin 2001, 221 (s unten Anm  154) bzw O’Sullivan 2011, 138 127 Gesamtübersicht der Rede bei Russell 1992, 16–19, und bei Klauck 2000, 27–30 Betz 2004, 222– 234, bietet eine ausführliche, interpretierende Paraphrase der Rede 128 Hom Il 1,528‒530: ἦ καὶ κυανέῃσιν ἐπ’ ὀφρύσι νεῦσε Κρονίων, / ἀμβρόσιαι δ’ ἄρα χαῖται ἐπερρώσαντο ἄνακτος / κρατὸς ἀπ’ ἀθανάτοιο, μέγαν δ’ ἐλέλιξε Ὄλυμπον „Pheidias“ in § 79: …  κινούμενον Ὄλυμπον ὑπὸ νεύματι βραχεῖ τῶν ὀφρύων Vgl unten (m Anm  154), und s 5 4 1 2

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Anders als uns war es dem Zuhörer vor Ort selbstverständlich nicht möglich, die Pheidiasszene isoliert vom Rest der Rede zu betrachten Erst wenn wir die Aussagen des Pheidias den thematisch verwandten Passagen der ersten Hälfte gegenüberstellen, geht die Rechnung auf: Wir sehen ein, dass Dion seinem Pheidias eine selbständige Rolle zugedacht hat Er achtet darauf, seinen Rollencharakter überzeugend darzustellen, gewiss zur Freude seiner Zuhörer Zugleich stellt ihm die fingierte Rede die Möglichkeit bereit, die Unverbindlichkeit der von der Rollenfigur ausgesprochenen Meinungen zu wahren 5.4.1.1. Pheidiasszene Der fingierte Prozess gegen Pheidias setzt mit einer kurzen, an sich sehr respektvollen Rede des ‚Anklägers‘ ein Dieser erkennt die überwältigende Wirkung des großen Zeusbildes bereitwillig an Aber gerade darin sieht er zugleich eine Gefahr So einprägsam sei das Werk, dass von nun an niemand mehr dazu fähig sein werde, sich den Gott anders als gerade so vorzustellen, und deswegen müsse gefragt werden, ob diese Form – „die Gestalt eines zwar übermenschlich schönen und großen Mannes, aber immerhin eines Mannes“129 – die passendste und würdigste sei Er weist darauf hin, dass die Stifter der Spiele und der Opfer zu Olympia darauf verzichtet hatten, dem Gott ein Standbild zu errichten, und wirft die Frage auf, ob diese Zurückhaltung nicht etwa dadurch zu erklären sei, dass sie befürchtet hätten, sie würden niemals im Stande sein, Gott, das höchste und vollkommenste Wesen, in geeigneter Weise durch sterbliche Kunst abzubilden 130 Mit anderen Worten sieht der Ankläger im Bild die Gefahr eines potentiellen Missverständnisses im Sinne einer regelrechten, naturalistischen Abbildung des Gottes und deutet deswegen an, es sei besser, gar keine Götterbilder aufzustellen 131 Pheidias beginnt seine Verteidigung damit, dass er in dreifacher Weise auf die Einwände des Anklägers reagiert: – er bestreitet persönliche Verantwortung für die Wahl der menschlichen Gestalt Schon bevor die Bildkünstler anthropomorphe Götterbilder hergestellt haben, sind die Götter von den Dichtern menschengestaltig dargestellt worden (§ 57) – er macht klar, dass ein anthropomorphes Götterbild keineswegs eine Abbildung des Gottes sein will, sondern als Zeichen für Gott konzipiert ist, und zwar funktioniert es als solches kraft seiner Menschenähnlichkeit (§§ 58–59)

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Or 12,52: … ἀνδρός τε μορφὴν ὑπερφυῆ τὸ κάλλος καὶ τὸ μέγεθος δείξας, πλὴν ἀνδρός Or 12,54: … ἢ μᾶλλον φοβηθέντας μή ποτε οὐ δύναιντο ἱκανῶς ἀπομιμήσασθαι διὰ θνητῆς τέχνης τὴν ἄκραν καὶ τελειοτάτην φύσιν; Vgl oben Kap  1 3

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B



er macht geltend, dass Götterbilder (generell) eine psychologische Funktion erfüllen und deswegen berechtigt sind (§§ 60–61) So weit angekommen setzt Pheidias gewissermaßen erneut an: Nun wendet er sich Homer und dessen Art, Zeus und die Götter zu schildern, zu Er macht den Anspruch, selbst der bessere Künstler der beiden zu sein, zumindest relativ zu den beschränkten Möglichkeiten seiner Kunst (§§ 62–63) Es folgt eine Betrachtung der reichen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache, die der Dichtung zur Verfügung stünden und besonders intensiv von Homer ausgenützt worden seien Pheidias betont demgegenüber, wie beschränkt die Ausdrucksmittel der Bildkunst seien (§§ 69–70; 72; 78–79) Aus dem Mangel selber leitet Pheidias jedoch einen Vorteil der Bildkunst ab: Εr impliziert, dass diese im Grunde der Dichtung qualitativ überlegen sei (§ 74) Die Überlegenheit manifestiere sich besonders deutlich in seinem eigenen Werk, dem großen Standbild des Zeus (§§ 74–77; vgl 78 a E ) Um die Besprechung im Folgenden zu erleichtern, werden hier die für uns wichtigsten Paragraphen 57–61 griechisch und deutsch wiedergegeben Einige weitere Stellen werden dort, wo sie behandelt werden, in den Anmerkungen angeführt 132 (57) δόξας δὲ κατέλαβον παλαιὰς ἀκινήτους, αἷς οὐκ ἦν ἐναντιοῦσθαι δυνατόν, καὶ δημιουργοὺς ἄλλους περὶ τὰ θεῖα, πρεσβυτέρους ἡμῶν καὶ πολὺ σοφωτέρους ἀξιοῦντας εἶναι, τοὺς ποιητάς, ἐκείνων μὲν δυναμένων εἰς πᾶσαν ἐπίνοιαν ἄγειν διὰ τῆς ποιήσεως, τῶν δὲ ἡμετέρων αὐτουργημάτων μόνην ταύτην ἱκανὴν ἐχόντων εἰκασίαν· (58) τὰ γὰρ θεῖα φάσματα, λέγω δὲ ἡλίου καὶ σελήνης καὶ σύμπαντος οὐρανοῦ καὶ ἄστρων, αὐτὰ μὲν καθ’ αὑτὰ φαινόμενα θαυμαστὰ πάντως, ἡ δὲ μίμησις αὐτῶν ἁπλῆ καὶ ἄτεχνος, εἴ τις ἐθέλοι τὰ σελήνης σχήματα ἀφομοιοῦν ἢ τὸν ἡλίου κύκλον· ἔτι δὲ ἤθους καὶ διανοίας αὐτὰ μὲν ἐκεῖνα μεστὰ πάντως, ἐν δὲ τοῖς εἰκάσμασιν οὐδὲν ἐνδεικνύμενα τοιοῦτον ὅθεν ἴσως καὶ τὸ ἐξ ἀρχῆς οὕτως ἐνομίσθη τοῖς Ἕλλησι (59) νοῦν γὰρ καὶ φρόνησιν αὐτὴν μὲν καθ’ αὑτὴν οὔτε τις πλάστης οὔτε τις γραφεὺς εἰκάσαι δυνατὸς ἔσται· ἀθέατοι γὰρ τῶν τοιούτων καὶ ἀνιστόρητοι παντελῶς πάντες τὸ δὲ ἐν ᾧ τοῦτο γιγνόμενόν ἐστιν οὐχ ὑπονοοῦντες ἀλλ’ εἰδότες ἐπ’ αὐτὸ καταφεύγομεν, ἀνθρώπινον σῶμα ὡς ἀγγεῖον φρονήσεως καὶ λόγου θεῷ προσάπτοντες, ἐνδείᾳ καὶ ἀπορίᾳ παραδείγματος τῷ φανερῷ τε καὶ εἰκαστῷ τὸ ἀνείκαστον καὶ ἀφανὲς ἐνδείκνυσθαι ζητοῦντες, συμβόλου δυνάμει χρώμενοι, κρεῖττον ἤ φασι τῶν βαρβάρων τινὰς ζῴοις τὸ θεῖον ἀφομοιοῦν κατὰ σμικρὰς καὶ ἀτόπους ἀφορμάς ὁ δὲ πλεῖστον ὑπερβαλὼν κάλλει καὶ σεμνότητι καὶ μεγαλοπρεπείᾳ, σχεδὸν οὗτος πολὺ κράτιστος δημιουργοῖς τῶν περὶ τὰ θεῖα ἀγαλμάτων (60) Οὐδὲ γὰρ ὡς βέλτιον ὑπῆρχεν ἂν μηδὲν ἵδρυμα μηδὲ εἰκόνα θεῶν ἀποδεδεῖχθαι παρ’ ἀνθρώποις φάιη τις ἄν, ὡς πρὸς μόνα ὁρᾶν δέον τὰ οὐράνια ταῦτα μὲν γὰρ ξύμπαντα ὅ γε

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Der griechische Text entspricht dem von Russell 1992,  79 f Meine Übersetzung ist von Klauck (2000,  89) teilweise angeregt worden Seine Fassung einfach zu übernehmen, erwies sich als schwer, da meine Deutung nicht in allen Einzelheiten mit der seinen übereinstimmt

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νοῦν ἔχων σέβει, θεοὺς ἡγούμενος μακαρίους μακρόθεν ὁρῶν· διὰ δὲ τὴν πρὸς τὸ δαιμόνιον ὁρμὴν ἰσχυρὸς ἔρως πᾶσιν ἀνθρώποις ἐγγύθεν τιμᾶν καὶ θεραπεύειν τὸ θεῖον, προσιόντας καὶ ἁπτομένους μετὰ πειθοῦς, θύοντας καὶ στεφανοῦντας (61) ἀτεχνῶς γὰρ ὥσπερ νήπιοι παῖδες πατρὸς ἢ μητρὸς ἀπεσπασμένοι δεινὸν ἵμερον ἔχοντες καὶ πόθον ὀρέγουσι χεῖρας οὐ παροῦσι πολλάκις ὀνειρώττοντες, οὕτω καὶ θεοῖς ἄνθρωποι ἀγαπῶντες δικαίως διά τε εὐεργεσίαν καὶ συγγένειαν, προθυμούμενοι πάντα τρόπον συνεῖναί τε καὶ ὁμιλεῖν· ὥστε καὶ πολλοὶ τῶν βαρβάρων πενίᾳ τε καὶ ἀπορίᾳ τέχνης ὄρη θεοὺς ἐπονομάζουσι καὶ δένδρα ἀργὰ καὶ ἀσήμους λίθους, οὐδαμῇ οὐδαμῶς οἰκειότερα τὴν μορφήν „(57) Ich fand alte und unerschütterliche Ansichten eurerseits vor, denen ich mich unmöglich widersetzen konnte, und auch andere Künstler fand ich, die sich um das Göttliche bemühten und die älter als wir waren und sich für viel weiser erachteten, nämlich die Dichter Während aber die Dichter durch ihre Kunst jede Vorstellung wachrufen können, sind unsere Erzeugnisse auf diese eine Darstellungsform angewiesen (58) Denn die sichtbaren göttlichen Erscheinungen (τὰ θεῖα φάσματα) – d h die der Sonne und des Mondes, des ganzen Himmels und der Sterne – treten zwar als ganz und gar wundervoll hervor, ihre Abbildungen wären aber nur flach und kunstlos, falls nun jemand die Phasen des Mondes oder den Kreis der Sonne bildlich darstellen wollte Auch sind sie in Fülle mit sittlichem Charakter und zielbewusstem Denken begabt,133 aber in den Abbildungen würde sich nichts derartiges zu erkennen geben Das mag der Grund sein, weshalb die Griechen von vornherein solcher Meinung waren 134 (59) Reinen Intellekt und umsichtiges Denken135 an sich wird nämlich kein Bildhauer und kein Maler abzubilden im Stande

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Die beiden Wörter ἦθος und διάνοια unterstreichen den Umstand, dass die Himmelskörper lebendige, zweckmäßig handelnde Wesen mit eigenem Willen sind Der Sinn der Bemerkung wäre nach Russell (1992, 198) und Klauck (2000, 141) der, dass die Griechen schon von Anfang an gemeint hätten, „dass man die Götter menschengestaltig und nicht anders darstellen solle“ (Klauck ebenda) In solchem Falle müssten unter τοῖς Ἕλλησι die frühesten griechischen Dichter zu verstehen sein, da die Bildkünstler erst später aufgetreten sein sollen Ein solcher Rückverweis auf die Dichter erscheint mir hier, inmitten einer Erörterung der spezifisch für die Bildkunst geltenden Bedingungen und Beschränkungen, unbegründet und wenig elegant Eher hätte man einen ausdrücklichen Vermerk über die Bildkünstler erwartet, etwa dahingehend, dass diese aus dem eben angegebenen Grund davon abgesehen hätten, die Himmelserscheinungen (naturalistisch) abzubilden Das würde sinnvoll zwischen den beiden umrahmenden, offensichtlich eng zusammenhängenden Aussagen vermitteln Ὅθεν ist eine Konjektur von John Selden; die Handschriften haben oἷoν Νοῦς und φρόνησις, ἦθος und διάνοια gehören eng zusammen Die unsichtbaren Götter sind νοῦς καὶ φρόνησις per se, aber auch den sichtbaren Göttern, den Himmelskörpern, kommen diese Eigenschaften zu Vgl or 36,22, wo es von der Eintracht und glücklichen Ordnung der Götter des Himmels – der Fixsterne und der Planeten – heißt: τῶν μὲν φανερωτάτων πορευομένων ἑκάστου καθ’ ἑαυτόν – οὐ πλανωμένων ἄλλως ἀνόητον πλάνην, ἀλλὰ χορείαν εὐδαίμονα χορευόντων μετά τε νοῦ καὶ φρονήσεως τῆς ἄκρας („Dabei ziehen die sichtbarsten je ihren eigenen Weg – doch schweifen sie nicht aufs Geratewohl in unverständiger Irrfahrt herum, sondern tanzen einen glückseligen Reigen, der von Vernunft und klarem Denken begleitet ist “ Übers Nesselrath 2003, 14 ) Sowohl Phrase wie Kontext lassen an Platons Timaios denken (34a) Vgl auch Epinomis 982e

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sein, denn niemand hat jemals so etwas gesehen und eingehend erforschen können Aber da wir von dem, in dem diese Eigenschaften sich manifestieren, nicht nur eine schwache Ahnung haben, sondern sicheres Wissen besitzen, nehmen wir dazu Zuflucht, indem wir den menschlichen Leib – der ja ein Gefäß des Denkens und der Vernunft ist136 – auf Gott übertragen, und suchen so, in Ermangelung eines direkten Vorbilds, das Nichtdarstellbare und Unsichtbare durch das Sichtbare und Darstellbare kundzutun, dabei uns der Möglichkeit eines Symbols bedienend Das ist eine bessere Lösung als die angeblich von gewissen Barbaren verwendete,137 nämlich die, das Göttliche den Tieren ähnlich darzustellen, wofür sie nur minderwertige und abwegige Anhaltspunkte haben Denn das, was das höchste Maß an Schönheit, Würde und Erhabenheit besitzt, ist doch wohl für Künstler das beste Vorbild für die Bilder, die das Göttliche zum Thema haben (60) Niemand würde wohl behaupten, dass es besser wäre, wenn überhaupt kein Standbild oder keine bildliche Darstellung der Götter138 unter den Menschen aufzuzeigen wäre, in der Meinung, dass man den Blick nur auf die Himmelserscheinungen richten sollte Wer Vernunft besitzt, verehrt diese zwar gewiss alle und hält sie für glückselige Götter, die er aus der Ferne betrachten kann Aber allen Menschen wohnt wegen ihrer Sehnsucht nach dem Göttlichen ein heftiges Verlangen inne, Gott aus der Nähe zu verehren und zu huldigen, indem sie an ihn herantreten, ihn zuversichtlich139 berühren, ihm Opfer verrichten und ihn bekränzen (§ 61) Denn ganz wie kleine Kinder, wenn sie von Vater und Mutter getrennt sind, ein starkes Verlangen und heftige Sehnsucht nach ihnen spüren und deswegen häufig im Traum ihre Arme nach ihnen ausstrecken, obwohl sie nicht da sind, so geht es auch den Menschen im Hinblick auf die Götter – mit Recht lieben sie sie wegen ihrer Wohltaten und der Verwandtschaft mit ihnen und wünschen in jeder Weise ihnen nahe zu sein und mit ihnen zu verkehren Deshalb kommt es vor, dass viele der Barbaren

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Durch meine Übersetzung „reiner Intellekt und umsichtiges Denken“ habe ich versucht, der Phrase νοῦν καὶ φρόνησιν etwas mehr Nachdruck zu verleihen Für φρόνησις als menschliche Eigenschaft wäre „Klugheit“ wohl am zutreffendsten (wie etwa in or 3,6 ff oder 71,8), aber hier handelt es sich ja um Eigenschaften, die nicht nur Menschen, sondern in besonderem Grad den Göttern zukommt Göttern Klugheit zuzuschreiben, mutet etwas eigenartig an „Denkvermögen“  – so Klauck S  89 – scheint mir zu passiv Zu einem Einblick in die frühere Bedeutungsgeschichte des Worts s Jaeger 1955, 82–85 Pheidias versteht unter φρόνησις καὶ λόγος offensichtlich dasselbe wie νοῦς καὶ φρόνησις Unter „Vernunft“ (λόγος) soll also an dieser Stelle im Verhältnis zu „Intellekt“ (νοῦς) nichts Neues gemeint sein, sondern ich folge nur, der Durchsichtigkeit halber, meiner sonst in dieser Untersuchung verwendeten Terminologie (vgl oben 5 3 Anm  86 a E ) Nach κρεῖττον ἢ φασι τῶν βαρβάρων τινὰς ζῴοις τὸ θεῖον ἀφομοιοῦν setzt von Arnim eine Lücke an (1893 p  172) Dass hier ein doppelter Ausdruck gewählt worden ist (μηδὲν ἵδρυμα μηδὲ εἰκόνα θεῶν), ist gewiss kein Zufall – mit εἰκών deckt Pheidias alle Arten von Verbildlichungen der Götter ein, einschließlich der theriomorphen (§ 59) sowie auch der Naturgegenstände (§ 61 a E ) Μετὰ πειθοῦς Russell 1992, 200: „in the hope of persuading the gods to help or relent“ Ich vermute, dass Klaucks Wiedergabe „flehend“ entsprechend zu verstehen ist (Klauck 2000, 91 bzw 144, Anm  305)

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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in Ermangelung einer entwickelten Bildkunst Berge und unbehauene Bäume und unbearbeitete Steine Götter nennen, die aber in ihrer Gestalt keineswegs besser geeignet sind “

Wenn wir an die Rede des Anklägers zurückdenken, wird uns klar, dass Pheidias in § 59 erklären will, worin sich ein anthropomorphes Götterbild von einer regelrechten Abbildung unterscheidet Das Bild ist nicht dazu da, die Gottheit abzubilden Abgebildet ist allein die menschliche Gestalt Sie ist gewissermaßen das generelle Vorbild, aber kommt dem Referenten nicht zu 140 Das Bild zeigt diesen nur mittelbar, indem die menschliche Gestalt stellvertretend für den Referenten steht, der der sinnlichen Wahrnehmung nicht zugänglich ist 141 Die Menschengestalt steht symbolisch für den Gott: Ihre Symbolfunktion ist darin begründet, dass Gott und Mensch in besonderer Weise verbunden sind, und zwar so, dass der Mensch Gott selbst (νοῦς καὶ φρόνησις oder φρόνησις καὶ λόγος) teilweise in sich hegt 142 Aus diesem Grund vermag seine äußere Gestalt als sichtbares Zeichen für Gott, der den Sinnen nicht erreichbar ist, zu stehen 140 Der Herstellung eines anthropomorphen Götterbildes liegen also im Grunde zwei – grundsätzlich von einander unterschiedene  – Arten von Vorbildern zugrunde, ohne dass die Distinktion ausdrücklich von Pheidias ausgearbeitet oder betont wird Zum einen arbeitet der Künstler nach einem generellen, vorgewählten Grundmodell, indem er seinem Bild menschliche Gestalt gibt Diese vorgegebene Form gestaltet er dann in den Einzelheiten nach seinem eigenen Konzept aus, seinem „geistigen Vorbild“, wenn man so will (die cogitata species in der Terminolοgie von Cicero, Orator 9) Diese letzte Prozedur, die Ausgestaltung des Einzelwerks, bildet seinen persönlichen Beitrag Vgl oben 5 0 , m Anm  7–8 sowie Die Schwierigkeiten beim Festhalten am Plan, von denen Pheidias in § 70 f spricht, betreffen das generelle, vorgegebene Vorbild natürlich nicht, sondern allein die Arbeit des Künstlers daran, sein einmaliges, geistiges Vorbild zu verwirklichen Or 12,71: τὸ δὲ πάντων χαλεπώτατον, ἀνάγκη παραμένειν τῷ δημιουργῷ τὴν εἰκόνα ἐν τῇ ψυχῇ τὴν αὐτὴν ἀεί, μέχρις ἂν ἐκτελέσῃ τὸ ἔργον, πολλάκις καὶ πολλοῖς ἔτεσι: „Das Schwierigste von allem liegt darin, dass stets dasselbe Bild in der Seele des Künstlers verbleiben muss, bis das Werk vollendet worden ist; häufig handelt es sich sogar um mehrere Jahre “ 141 Stenger spricht hier von der „Erkenntnis, … dass das materielle Kunstwerk den Gott nur approximativ zeigen kann“ (Stenger 2009 a, 51) Die Wortwahl „approximativ“ scheint mir irreführend zu sein Vgl oben 5 3 , m Anm 114 142 Die Wahl der menschlichen Gestalt gilt also nicht als arbiträr, ebenso wenig wie in den übrigen in dieser Untersuchung besprochenen Texten Vgl oben 4 2 2 Anm  70 sowie 1 1 Anm  22 Der Gedanke, dass der Mensch sich dadurch, dass er (allein) Vernunft besitzt, vor anderen irdischen Wesen auszeichnet (vgl oben 5 0 a E sowie hier gleich unten), kommt in Dions Werk wiederholt zum Ausdruck (s bes 36,19); in unserer Rede wird auch außerhalb der Pheidiasszene mehrfach darauf hingewiesen (§ 27 f ; 39; vgl 32) In 36,23 und 31 werden unter dem Begriff ξύμπαν (πᾶν) τὸ λογικὸν γένος Götter und Menschen zusammengefasst Die συγγένεια (oder κοινωνία, s z B 36,38), die Verwandschaft zwischen Gott und Mensch, meist gerade unter dem Aspekt der Teilhabe des Menschen an der Vernunft, ist ein ebenfalls beliebtes Thema (wie eben in § 27 unserer Rede; vgl sonst z B 1,42; 30,26) Pheidias selbst weist, wie wir gesehen haben, in § 61 auf die συγγένεια hin Er spricht sie dann noch in § 77 an, und zwar soll danach die Menschengestalt des Zeusbildes als Symbol für diese Verwandtschaft dienen: τὴν δὲ ἀνθρώπων καὶ θεῶν συγγένειαν αὐτό που τὸ τῆς μορφῆς ὅμοιον ἐν εἴδει συμβόλου (sc βούλεται δηλοῦν): „Aber die Ähnlichkeit der Gestalt an sich schon ist dazu da, in Form eines Symbols auf die Verwandtschaft der Menschen und Götter hinzuweisen “ Der Text ist hier angezweifelt worden, jedoch m M n ohne hinreichen-

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Die Versuche gewisser Barbaren, das Göttliche in Tierform zu verbildlichen, gelingen nicht, weil sie nicht wohlbegründet sind Pheidias erkennt den Symbolcharakter theriomorpher Götterbilder anderer Kulturen im Prinzip an 143 Er stellt sich vor, dass diesen, genau wie den menschengestaltigen Götterbildern der Griechen, die Funktion zugedacht sei, als sichtbare Zeichen des unsichtbaren Göttlichen zu dienen, nur meint er, dass es für eine solche Symbolfunktion in ihrem Fall keine überzeugenden Anhaltspunkte gebe Ich denke, dass unter den σμικραὶ καὶ ἄτοποι ἀφορμαί vielleicht solche Begründungen gemeint sein könnten, wie sie Plutarch aus ägyptischer Tradition für die symbolische Signifikanz etwa des Krokodils, des Wiesels oder des Mistkäfers berichtet 144 Der Einwand des Pheidias wird allerdings nicht, wie wir doch wohl am ehesten erwartet hätten, mit einem Verweis auf die geringere Wesensgleichheit des Bezeichnenden mit dem Bezeichneten unterbaut Stattdessen werden Schönheit, Würde und Erhabenheit des menschlichen Modells ins Feld geführt,145 weitere Vorzüge, die die menschliche Gestalt im Gegensatz zu den Tierformen der Barbaren auszeichnen und noch weiter unterstreichen, dass keine andere Darstellungsform angeden Grund Russell findet, dass die Phrase ἐν εἴδει συμβόλου „spoils the symmetry of the sentence“ (1992, 208) Im Hinblick darauf, dass Pheidias dort sonst die metaphorische Bedeutung der charakteristischen Züge der Einzelgestaltung seines Zeusbildes darlegt (und zwar will er zeigen, dass diese besser mit den vornehmsten der Güte und Gnade des Zeus hervorhebenden Kultepitheten konformiere als jede Vorstellung vom Gott, die Homer vermittelt), dass aber der Gedanke, zu dem die beanstandete Phrase gehört, der symbolischen Signifikanz der menschlichen Gestalt, d h des generellen Vorbilds, gilt, erscheint mir die angezweifelte Phrase begründet genug Die Alternative wäre, den Gesamtgedanken (τὴν δὲ ἀνθρώπων καὶ θεῶν ξυγγένειαν αὐτό που τὸ τῆς μορφῆς ὅμοιον ἐν εἴδει συμβόλου) zu streichen, aber ich sehe eigentlich keinen Grund, weshalb Pheidias nicht noch einmal an die spezifische Funktion der anthropomorphen Gestalt selber erinnern sollte Es sei hier darauf hingewiesen, dass in Dions Reden die Textgestaltung besondere Probleme bereitet, da die Handschriften nicht selten stark divergieren und der Text deutliche Zeichen anorganischer Anordnung verrät Er ist von zahlreichen offensichtlichen Lücken und Auslassungen, Umstellungen, Wiederholungen und Interpolationen geprägt, weshalb die Ausgaben häufig Eingriffe in den überlieferten Text vorschlagen (einige wohl auch etwas zu häufig, s dazu die Übersicht über die Ausgaben bei Amato 2009, 60–65, bes 63 zu v  Arnim) 143 Es ist also nicht die kultische Verehrung von Tieren oder tiergestalteten Göttern, die hier zur Diskussion steht, wie Klauck (2000, 142 Anm  298) offensichtlich glaubt, sondern ihr Symbolwert Klauck geht zu weit, wenn er hier den Text so liest, „dass allein die Menschengestalt für die Darstellung des Göttlichen zulässig ist“ (ebenda 212, meine Kursivierung) Ob Dions Pheidias in erster Linie an lebendige Tiere als Sinnbilder für Gott oder ob er an Bilder in Tiergestalt denkt, oder an beides, ist nicht ganz klar, spielt aber hier keine Rolle 144 Plut Is 381a–c Beispielsweise heißt es dort vom Krokodil, dass es aus mehreren Gründen als μίμημα θεοῦ funktioniere Plutarch selbst kritisiert die Begründung nicht; im Gegenteil hält er die Symbolkraft der ägyptischen heiligen Tiere für überlegen S oben 5 1 , m  Anm 23–24 Nach dem sogenannten Lampriaskatalog der Schriften Plutarchs zu urteilen soll zwischen Plutarch und Dion ein Meinungsaustausch stattgefunden haben: Zwei Titel des Katalogs, Nr  204 und 227 (p  9 u 10 Sandbach), nennen den Namen Dion Besonders die Schrift Nr  204, Ὁ πρὸς Δίωνα ἐν Ὀλυμπίᾳ ῥηθείς, klingt, als wäre sie in unserem Zusammenhang von Interesse gewesen Vgl Desideri 1978, 4 f 145 Ende von § 59 Textgestaltung wie oben, d h mit Ergänzung von und Änderung des δημιουργός der MSS in δημιουργοῖς Vgl Russell zur Stelle (1992, 199)

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bracht ist (vgl § 57 a E ) Hiermit weist Pheidias die besorgte Skepsis des Anklägers hinsichtlich des πρέπον σχήματός τε καὶ μορφῆς zurück (§ 52) So wie Pheidias den Zeichencharakter der anthropomorphen Götterbilder und dessen Begründung darstellt, bestehen deutliche Ähnlichkeiten mit dem varronischen Modell in RD fr  225, das wir oben 4 1 und 4 2 2 gegen Ende studiert haben Beide gebrauchen das Bild vom Menschen als Gefäß der Vernunft (der Vernunftsseele), und begründen damit die Funktion der Götterbilder als Zeichen für Gott Während aber bei Varro der Eindruck entsteht, als sei die anthropomorphe Darstellungsweise überhaupt erst im Zusammenhang mit der Gestaltung von Götterbildern erfunden worden,146 gilt hier die Menschengestalt der Götter in der Dichtung als Regel, noch ehe sie in der Bildkunst zur Verwendung kommt (§ 57) Pheidias begegnet ja dem Einwand gegen seine Darstellung des Zeus in Gestalt eines Mannes mit dem Hinweis, dass derartiges in der Dichtung schon lange im Gebrauch sei 147 Er lehnt somit die Verantwortung für die Wahl der menschlichen Gestalt ab Aber obwohl er also betont, dass die anthropomorphe Darstellungsweise zuerst in der Dichtung zur Verwendung gekommen sei, schreibt er dieser Darstellungsweise in der Bildkunst eine besondere Funktion zu Die Bildkünstler sind es, die es nicht vermögen, νοῦς und φρόνησις unmittelbar zum Ausdruck zu bringen Wie der Text ja auch sagt: νοῦν γὰρ καὶ φρόνησιν αὐτὴν μὲν καθ’ αὑτὴν οὔτε τις πλάστης οὔτε τις γραφεὺς εἰκάσαι δυνατὸς ἔσται Diese sind es, die zur menschlichen Gestalt „Zuflucht nehmen“ – καταφεύγομεν Es ist kein Zufall, dass die erste Person gewählt ist – „wir“ ist nicht verallgemeinernd zu verstehen, es heißt nicht „wir Menschen“, sondern „wir Bildkünstler“ Die Erzeugnisse der Bildkünstler sind sichtbare, konkrete Formen und Gegenstände, und deswegen brauchen sie das sichtbare, konkrete Modell Die einzige Möglichkeit, die ihnen zur Verfügung steht, um unsichtbare und abstrakte Phänomene und Vorgänge auszudrücken, besteht somit darin, mittelbar vorzugehen, d h es geht allein auf dem Weg über Sichtbares und Konkretes An Stelle davon, die Gottheit, d h Intellekt und Denken per se, im Bilde darzu146 Dafür spricht, wie ich meine, die ausdrückliche Auskunft in fr  225, dass auch die insignia und die ornatus der Götter zu den für die konkrete figürliche Darstellung geschaffenen Elementen gehören 147 Nur insofern als jeder Künstler, der ein Götterbild in menschlicher Gestalt schafft, dem ursprünglichen, generellen Vorbild folgt (vgl hier oben Anm  140), könnte die anthropomorphe Darstellungsweise in der Bildkunst als konventionell bezeichnet werden Andererseits setzt Konventionalität, der geläufigsten Definition zufolge, im Prinzip zumindest eine annähernd annehmbare Alternative voraus (Konvention: Eine Verhaltensweise, die regelmäßig, aber ohne äußerlich zwingende Gründe, von einer Gruppe befolgt wird, s Scholz 2005,  66 ) Pheidias hält diese Darstellungsweise im Grunde für zwingend – die Alternativen, die er in § 59 und 61 erwähnt, weist er ja als minderwertig ab Die weitgehend zutreffende Analyse bei Stenger 2009 a, 53 f ist in diesem Sinne zu berichtigen Da die Dichter, wenn ich die Implikationen des Pheidias richtig verstehe, nicht in derselben Weise wie die Bildkünstler darauf angewiesen wären, die Götter in dieser Weise darzustellen (s dazu hier im Folgenden), könnte die anthropomorphe Darstellungsform, so wie Pheidias uns die Verhältnisse darlegt, möglicherweise in der Dichtung – eher als in der Bildkunst – als konventionell bezeichnet werden Als arbiträr wird die Wahl der menschlichen Gestalt allerdings auch hier nicht verstanden, s hier im Folgenden und vgl oben 1 1 Anm  21

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stellen, was unmöglich ist, bilden sie diese indirekt ab, indem sie das sichtbare Wesen, in dem diese Eigenschaften sich auf Erden manifestieren, zum Modell nehmen Das wäre vielleicht nicht der einzige Weg, wie wir aus § 59 (a E ) ersehen, aber der einzig geeignete Weg Die Bildkünstler sind also beim Ausführen ihres Auftrags im Prinzip auf die menschliche Gestalt angewiesen (τῶν δὲ ἡμετέρων αὐτουργημάτων μόνην ταύτην ἱκανὴν ἐχόντων εἰκασίαν, § 57) In der Dichtung, dagegen, liegt ein solcher Zwang nicht vor Hier wäre die menschliche Gestalt, wie es scheint, streng genommen nicht notwendig Die Dichter hätten die Möglichkeit, ihre Kunde vom Göttlichen ohne den Umweg über die anthropomorphe Form zu vermitteln: Ihnen stehen alle die reichhaltigen Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache zur Verfügung Sie haben Wörter und Ausdrücke für alles, auch für Unsichtbares und Abstraktes, und können jeden Eindruck dem inneren Auge des Empfängers vorführen, ohne mit dem Problem kämpfen zu müssen, auch das äußere Auge zu überzeugen (vgl § 71) Die Wahrheitsvermittlung der Dichter wäre nicht auf diese Darstellungsform angewiesen Die Dichter könnten sich bei der Wahl dieser Darstellungsform der Götter davon haben leiten lassen, dass das ἦθος und die διάνοια der Götter leichter verständlich zu machen wären, wenn man sie in regelrechter Menschengestalt und wie Menschen handelnd und denkend einführte, an Stelle davon, sie in rein abstrakter, oder höchstens metaphorisch anthropomorpher Diktion („Vater“, „König“, „Mutter“ und dgl ) zu schildern 148 Die Wahl der menschlichen Gestalt in der Dichtung müsste also, wenn ich recht habe, in den Augen des Pheidias fakultativ gewesen sein Das bedeutet nicht, dass er die menschliche Gestalt der Götter als solche in der Dichtung verurteilt Im Gegenteil: Er erkennt sie durchaus an Schon am Anfang seiner Rede spricht er von den Dichtern als Vorgängern in einer Weise, die unzweifelhaft klarstellt, dass die anthropomorphe Darstellungsweise Teil der Wahrheitsvermittlung der Dichter sei (ἐξηγηταὶ καὶ διδάσκαλοι τῆς ἀληθείας, § 56) Es kann nicht davon die Rede sein, dass die Dichter in den Augen des Pheidias die Menschengestalt ausschließlich um des Narrativs willen gewählt hätten, also allein als praktisches Instrument, ohne dass sie einen eigenen (wahren) Inhalt trüge 149

148 Man denke etwa an die Gründe, die laut der ps -plutarchischen Schrift De Homero den weisen Homer selbst (der dort als Urheber des anthropomorphen Gottesbildes gilt, und zwar sowohl in der Dichtung wie auch in der Bildkunst) dazu veranlasst haben sollen, die Götter in seinen Epen menschengestaltig darzustellen: Die Intentionen der Götter (γνώμην) seien dem Publikum in dieser Weise leichter zu vermitteln, da keine andere konkrete Gestalt als die des Menschen imstande sei, Einsicht und Vernunft zu fassen (Ps Plutarchos, De Homero 2,113 S zu dieser Stelle oben 3 2 1 2 ) Vgl oben 1 1 , m Anm  20 149 Einer solchen Meinung sind wir oben 3 2 1 1 begegnet, und zwar in der Kritik des Aurelius Cotta am epikureischen Gottesbild in Ciceros De natura deorum 1,77 Cotta macht geltend, dass Dichter wie Bildkünstler die Götter in Menschengestalt dargestellt hätten, weil die Vorstellung von ihrer zielbewussten Aktivität sich am leichtesten anhand von menschengestaltigen Rollenfiguren vermitteln lasse In dieser Weise hätten sie alle – poetae, pictores, opifices – dazu beigetragen, die

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Die Erfinder der anthropomorphen Darstellungsweise sind also nach diesem Modell offensichtlich die Dichter Wir können vermuten, dass sie den Göttern diese Gestalt gegeben haben, gerade weil zwischen Gott und Mensch eine besondere Verwandtschaft besteht, und in der Absicht, diese Verwandtschaft zu unterstreichen, obwohl sie, anders als die Bildkünstler, dazu fähig gewesen wären, sowohl die den Göttern eigentümlichen Eigenschaften wie auch noch diejenigen, die sie mit den Menschen teilen, mit Hilfe der Sprache darzustellen Allerdings birgt die Wahl, wie wir gleich sehen werden, gerade in der Dichtung die Gefahr, dass die besondere Beziehung zwischen Gott und Mensch auf den Kopf gestellt wird, indem der Ausgangspunkt – der Mensch ist Gott ähnlich – in der schieren Freude über die Unbeschwertheit der sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten aus dem Auge verloren wird und nun stattdessen die Götter als den Menschen allzu ähnlich hervortreten Die Bildkünstler haben die anthropomorphe Darstellungsform von den Dichtern übernommen Dies ist aber gewissermaßen zwangsläufig geschehen, da sie, anders als die Dichter, keine abstrakten Ausdrucksmöglichkeiten haben Die besonderen Bedingungen und Beschränkungen ihrer Kunst lassen ihnen im Grunde keine Wahl Aus dieser Beschränkung erwächst jedoch, wie Pheidias im Folgenden zeigt, ein Vorteil Wenn Pheidias Homer kritisiert, gilt seine Kritik somit nicht der anthropomorphen Gestalt seiner Götter an sich Im Gegenteil betont er, dass Homer Zeus in einer Gestalt vorführe, die der in der Bildkunst gebräuchlichen sehr ähnlich sei: μορφὴν ἐγγύτατα τῆς δημιουργίας ἐμιμήσατο, § 62 Sein Tadel gilt der falschen Verwendung dieses Ausdrucksmittels Homer hat sich in den Augen des Pheidias offensichtlich vom Gebrauch der menschlichen Gestalt dazu verleiten lassen, die Erhabenheit und Würde des Göttlichen zu vernachlässigen, um die Götter stattdessen zu menschlich agieren zu lassen Die Wahrheit, die die Dichter vermitteln, liegt für Pheidias nicht in der Handlung des mythologischen Narrativs Dieser Punkt ist nicht unwichtig, denn daraus geht hervor, dass Dions Pheidias kein Befürworter allegorischer Auslegung des homerischen anthropomorphen Götternarrativs ist 150 Hier zeigt sich schon wieder mit aller Deutlichkeit, dass die Beurteilung der menschlichen Gestalt der Götter und die Deutung ihrer Tätigkeit als Rollenfiguren (d h der Handlung des Narrativs) grundsätzlich auseinanderzuhalten sind 151 Weit davon entfernt, den Standpunkt zu vertreten, das allzu menschliche Verhalten der homerischen Götter  – Trinkgelage, Schlaf, Geschlechtsverkehr u a m   – sei in Wirklichkeit als verhüllte theologische Lehre zu verstehen, beanstandet Pheidias gerade diese Züge als ungebührende Anpassung an das Mensch-

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anthropomorphe Gottesvorstellung zu befestigen Entstanden sei diese (in den Augen Cottas falsche, aber nützliche) Gottesvorstellung durch die Initiative kluger Politiker Also sollten wir ihm nicht unterstellen, an die Homerallegorese anzuknüpfen (wie Stenger 2009 a, 58, dies tut) S dazu hier oben 5 0 und bes Kap  1 4 ; unten 5 4 2 2  Anm 226, u a

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

liche 152 Sein Zeusbild würde dagegen, wie er sagt, nicht einmal ein Wahnsinniger mit irgendeinem Sterblichen vergleichen, zumal nicht, wenn die Schönheit oder die Größe des Bildes mit berücksichtigt wird (§ 63) 153 Hier und im Folgenden arbeitet Pheidias den schon in § 57 angesprochenen Kontrast zwischen den unbegrenzten Ausdrucksmitteln der Dichter und den beschränkten Möglichkeiten der Bildkünstler ausführlich aus und nutzt den Gegensatz geschickt dazu, im Endeffekt die mangelnde Freiheit der Bildkunst als ihre Stärke erscheinen zu lassen Auf der einen Seite findet er Mühelosigkeit und berauschende Freiheit beim Schaffen des sprachlichen Kunstwerks, auf der anderen knappe und mühsame Bedingungen der praktischen Arbeit am Bildwerk – hartes, widerstrebendes Material, keine Möglichkeit, Veränderung und Bewegung auszudrücken, Beschränkung auf eine einzige, stets gleichbleibende Haltung Der einsichtige Bildkünstler fügt sich jedoch bereitwillig den Begrenzungen seiner Kunst Homers virtuose Kunst ergießt sich dagegen in Übersteigerungen jeder Art (§§ 66–73; 78–79) Der Dichter – der ohne Schwierigkeit die erhabensten Seiten der Götter hätte schildern können – nützt den Reichtum der sprachlichen Mittel für falsche Zwecke Neben die fehlerhafte Anpassung an menschliches Verhalten, die Pheidias in § 62 beanstandet, tritt dann noch Homers Schwelgen in solchen Schilderungen des Gottes, die ihn als schreckenserregend und voller Zorn vorführen (§§ 73–74; 78–79) Pheidias betont, dass er seinerseits nicht dazu imstande ist, so wie Homer einen Zeus zu schildern, der Blitze zum Unheil der Menschen schleudert oder Regen, Hagel, Schnee und Sturm sendet, und ebenso wenig kann er darstellen, wie der Gott Kriegslust und Kampf anfacht oder die Waage des Schicksals über Leben und Tod der Menschen entscheiden lässt Aber auch wenn er dazu fähig gewesen sein sollte, hätte er den Gott nicht so darstellen wollen (§§ 78–79) Sein Zeusbild vermittelt den wahren Zeus, Homer nicht 154 Ihm ist es darum zu tun, den Gott in seiner unendlichen Milde und Güte zu

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§ 62 … ἐκεῖνος γὰρ οὐ μόνον μορφὴν ἐγγύτατα τῆς δημιουργίας ἐμιμήσατο, χαίτας τε ὀνομάζων τοῦ θεοῦ, ἔτι δὲ ἀνθερεῶνα εὐθὺς ἐν ἀρχῇ τῆς ποιήσεως, ὅτε φησὶν ἱκετεύειν τὴν Θέτιν ὑπὲρ τιμῆς τοῦ παιδός· πρὸς δὲ τούτοις ὁμιλίας τε καὶ βουλεύσεις καὶ δημηγορίας τοῖς θεοῖς, ἔτι δὲ ἐξ Ἴδης ἀφίξεις πρὸς οὐρανὸν καὶ Ὄλυμπον, ὕπνους τε καὶ συμπόσια καὶ μίξεις, μάλα μὲν ὑψηλῶς σύμπαντα κοσμῶν τοῖς ἔπεσιν, ὅμως δὲ ἐχόμενα θνητῆς ὁμοιότητος „Er hat nicht nur eine Gestalt in sehr weitgehender Übereinstimmung mit der Bildkunst dargestellt, indem er die Haare des Gottes erwähnt und, gleich am Anfang des Gedichts, wo er sagt, dass Thetis ihn anfleht wegen des Ruhms ihres Sohns, auch sein Kinn / d h so weit die äußere Form, MWS /; er hat außerdem den Göttern Unterhaltungen, Ratschläge und Reden zugeteilt; dazu hat er sie sich vom Ida zum Himmel und zum Olymp begeben lassen, und ihnen Schlaf, Trinkgelage und Geschlechtsverkehr zugeschrieben / d h ein allzu menschliches Benehmen /, alles wunderbar erhaben formuliert, jedoch nichtsdestoweniger auf die Ähnlichkeit mit den Menschen ausgerichtet “ § 63: τὸ δέ γε τῆς ἐμῆς ἐργασίας οὐκ ἄν τις οὐδὲ μανεὶς ἀφομοιώσειεν οὐδενὶ θνητῷ, πρὸς κάλλος ἢ μέγεθος συνεξεταζόμενον Pheidias zielt hier auf die skeptische Frage des Anklägers in § 52, indem er ihre Berechtigung bestreitet Vgl Zeitlin 2001, 221: „Although Homer’s genius, his godlike wisdom, is praised to the skies, Dio through his imagined Pheidias does not unequivocally bring off the poet as victor in this contest, as most critics seem to think Rather, by various clever shifts in the argument, like the one just

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schildern Er versteht sein Bild als Inbegriff der friedlichen, milden, väterlichen, fürsorglichen Seiten des Zeus: Vom Bild strömt beständig ein Abglanz dieser wahrsten Eigenschaften des Gottes aus 155 Daher der Anspruch des Pheidias, ein „besserer und maßvollerer Künstler“ als Homer zu sein: κρείττων καὶ σωφρονέστερος ποιητής (§ 63; beachte die Wortwahl ποιητής) 156 Wenn meine Interpretation korrekt ist, stehen wir hier vor einer äußerst vielschichtigen und raffinierten Theorie Entstanden ist die anthropomorphe Gottesvorstellung als Medium der Götterschilderung in der Dichtung Dort zum Standard geworden,157 ist sie von den Bildkünstlern aufgenommen worden und hat eine neue, zentrale Funk-

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cited / d h §§ 70–71 / (and cf  63), the restrictions faced by the artist may also turn into superior merits “ Das von Zeitlin beanstandete Missverständnis findet sich wieder bei Männlein-Robert 2003, 65, vielleicht teilweise eine Folge davon, dass diese die in den beiden Teilen der Rede zum Ausdruck kommenden Standpunkte nicht unterscheidet; so z B wird Gültigkeit der in § 26 wiedergegebenen Anekdote trotz § 79 stillschweigend für die Rollenfigur „Pheidias“ vorausgesetzt Vgl oben 5 4 1 , m Anm  128, und s am Ende dieser Anm sowie unten 5 4 1 2 Die kritische Haltung Homer gegenüber, der Pheidias Ausdruck gibt, ergibt sich aus dem Wunsch des Bildkünstlers, die Götterbilder die Rolle eines privilegierten Mediums der Wahrheitsvermittlung einnehmen zu lassen Die zwiespältige, zum Teil ausgesprochen negative Einschätzung der homerischen Sprachkunst im hier nicht angeführten Teil der Pheidiasrede gehört zur Rollenfigur und ist in Dions Reden ohne Gegenstück Im Borysthenitikos erfahren wir, dass die Dichter keinen vollen Zugang zur heiligen Wahrheit haben, auch Homer und Hesiod nicht, obwohl sie den jüngeren überlegen seien; sie sind nicht voll eingeweiht, sondern haben nur Bruchstücke davon mitbekommen (or 36,33 S dazu unten 5 4 1 2 , m   Anm 176), zweifellos eine verdeckte Kritik an der übertriebenen Vermenschlichung der Götter Sonst – vom Götternarrativ einmal abgesehen – fällt das Urteil in der Regel sehr positiv aus: Homers Dichtung sei ganz und gar nützlich (καὶ ὠφέλιμα πάντα καὶ χρήσιμα ἔγραψε, 53,11); sein Ziel sei, sein Publikum zu erziehen (55,11) S auch z B 1,12–14; 2 passim; 18,8; 44,1 u a Zum Homerbild in der 11 Rede, die deutlich selbst auf ihren ausgefallenen Charakter hinweist und übrigens zu einem großen Teil einem fiktiven Redner in den Mund gelegt wird, s Fuchs 1996 und vgl Hunter 2009 Kindstrand findet bei Dion „Spuren von zwei einander entgegengesetzten Auffassungen“ Homer gegenüber (1973,  121), erwähnt jedoch nicht, dass die kritischen Äußerungen, auf die er sich bezieht, dem Pheidias in den Mund gelegt sind Auch hat Kindstrand offensichtlich übersehen, dass „Pheidias“ selbst in § 79 von der Tradition, die Iliasverse 1,528–530 hätten ihn beim Schaffen seines Zeusbildes inspiriert, im Grunde Abstand nimmt, während in §§ 25–26 unserer Rede dieselbe Anekdote ohne Relativierung referiert wird Wie aus meiner Erörterung hervorgeht, ist die Pointe des Pheidias in §§ 78–79 gewiss nicht einfach nur die, „dass er nicht die ganze homerische Schilderung von Zeus hat wiedergeben können“ (Kindstrand 1973, 127, Anm  54) §§ 74–77 Diese Eigenschaften – ἦθος und διάνοια des Zeus, wenn wir so wollen – zum Ausdruck zu bringen, ist die Aufgabe der Einzelgestaltung, und diese Aufgabe erfüllt sie, wie zur Genüge aus der Rede des Pheidias hervorgeht, mit Hilfe der metaphorischen Möglichkeiten, die die vorgewählte menschliche Form bereitstellt Die Eigenschaften per se darzustellen, ist selbstverständlich nicht möglich Russell meint, Wenkebachs Konjektur zu § 63 – σοφώτερος an Stelle von σωφρονέστερος – wäre im Hinblick auf die angebliche σοφία Homers, von der im Folgenden die Rede ist (Ὁμήρου … τοῦ δόξαντος ὑμῖν ἰσοθέου τὴν σοφίαν, § 63), besser begründet, „and there seems no point in attributing σωφροσύνη to Pheidias here“ (Komm z St , 1992, 201) Mir erscheint die Wortwahl σωφρονέστερος begründet genug Vgl oben Anm  147

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

tion bekommen Die Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch macht die menschliche Gestalt zum einzigen geeigneten konkreten Sinnbild des Göttlichen Als Entwurf eines philosophischen Modells erscheint dieser Ansatz höchst beachtenswert Das Anliegen tritt aber in einem etwas anderen Licht hervor, wenn der Inhalt von §§ 60–61 mit berücksichtigt wird Pheidias geht hier, wie es scheint, dazu über, die Andeutung des Anklägers, es sei vorzuziehen, ganz auf Götterbilder zu verzichten, abzuweisen oder besser gesagt, herauszufordern Er wählt einen ostentativ zuversichtlichen Ton: „Niemand würde wohl behaupten, dass es besser sei, wenn überhaupt kein Standbild oder keine bildliche Darstellung der Götter aufzuzeigen wäre …“ Götterbilder erfüllen nämlich, wie wir hier erfahren, eine wichtige psychologische Funktion: Sie befriedigen ein allgemeinmenschliches Verlangen nach Götternähe Aus diesem Grund sind alle Götterbilder berechtigt, und zwar unabhängig von ihrer konkreten Form Das Thema des durch die Bilder vermittelten abstrakten Inhalts und der besonderen diesbezüglichen Vorteile der menschengestaltigen Götterbilder kommt nicht mehr zur Sprache Nur insofern ist von der Überlegenheit der anthropomorphen Götterbilder hier noch die Rede, als Pheidias zu verstehen gibt, dass diese Art der Verbildlichung des Göttlichen alleinherrschend gewesen wäre, wenn alle Völker über ein der griechischen Bildkunst vergleichbares technisches Können verfügt hätten (eine Bemerkung, die auch als weitere Entkräftigung von Bedenken hinsichtlich der anthropomorphen Darstellungsform verstanden werden kann) Pheidias hatte sich in § 59 nicht darüber geäußert, an wen sich der dort erläuterte Symbolinhalt der Götterbilder richtet Die Empfängerfrage der Götterbilder wird zumindest implizite in §§ 60–61 angesprochen, freilich in einer Weise, die auf dem Hintergrund des in § 59 Gesagten unerwartet anmutet Ein Bild etwa folgender Art zeichnet sich ab: Alle Menschen spüren ein Bedürfnis, Gott sich so vorzustellen, als könnten sie ihn in der Nähe haben Diesem Bedürfnis kommen die Götterbilder entgegen Die wahrheitsvermittelnde Funktion kommt dabei nur für diejenigen in Frage, die dazu fähig sind, den tieferen Sinn zu begreifen; wer nicht dazu imstande ist, kann aber trotzdem in dem Bild Trost finden Das würde also bedeuten, dass Pheidias geltend machen will, dass Götterbilder (unabhängig von ihrer konkreten Gestalt) selbstverständlich sind  – sie befriedigen eine Sehnsucht nach intimem Kontakt mit der Gottheit, die der gesamten Menschheit eigen ist158 – und dass er somit innerhalb der Gesamtheit zwei Gruppen unterscheidet, eine avanziertere und eine zweite, umfangreichere, der die Kompetenz und der notwendige Scharfsinn fehlen, um zum Symbolinhalt und zur indirekten Wahrheitsvermittlung der Bilder Zugang zu haben

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Freilich wird am Anfang von § 60 angedeutet, dass „wer Vernunft besitzt“ (ὁ νοῦν ἔχων) sich zur Not ohne Götterbilder zufriedengegeben hätte

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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Gegen die Kohärenz dieses Bildes wäre an und für sich nichts einzuwenden;159 vom Standpunkt der Philosophie aus erscheint es jedoch fraglich Aus philosophischer Sicht erinnert das beschriebene allgemeinmenschliche Verhalten zu sehr gerade an das Missverständnis, das dem Ankläger offensichtlich vorschwebt – die Vorstellung vom Bild als einer naturalistischen Abbildung des Gottes – oder gar an die Fehlreaktion, der die Ungebildeten angeblich gerne anheimfallen, nämlich die Verwechslung der Bilder mit den Göttern selbst Zumindest hätte Pheidias einen warnenden Finger erheben müssen, um auf diese Fehlvorstellungen hinzuweisen und ihnen vorzubeugen Das tut er jedoch nicht Ganz im Gegenteil wird das Verhalten geduldet und sogar, wie es scheint, gutgeheißen Zudem gilt das beschriebene Bedürfnis für alle Menschen, nicht nur für die unerfahrene Menge Die Götterbilder sind demnach weder – wie bei Varro – für den Fortschritt der Elite geschaffen worden, noch sind sie „im Grunde Kompromisse …, ein Tribut an die mangelnde Aufnahmefähigkeit der Menge, die so etwas braucht “160 Pheidias setzt sich dafür ein, dass sie für alle da sind, ohne dass eine Ab- oder Aufwertung der einen oder anderen Empfängergruppe spürbar wird 161 Den meisten, die sich selbst als Philosophen betrachteten, hätte dieses Modell nicht zugesagt Sie hätten eingewendet, dass ihr Weg zu Gott ein rein geistiger sei – ihre Suche oder Begegnung mit ihm sei nur über den Intellekt zu vollziehen Von der primitiven Sehnsucht nach so etwas

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Es fragt sich allerdings, wie in solchem Falle die jeweiligen Reflexionen über die Sitten der Barbaren zu beurteilen wären (§ 59 gegen Ende, bzw 61 a E ) Wären sie so zu verstehen, dass die (wenigen) Angehörigen der avanzierteren Gruppe einsehen, dass die tiergestalteten Götterbilder (oder die heiligen Tiere) der Barbaren letztendlich Symbole sind, während alle anderen (d h die zweite Rezipientengruppe), so weit sie Griechen sind, die anthropomorphen Götterbilder mit den Göttern identifizieren, und sofern sie nicht-griechisch sind und über kein der griechischen Bildkunst vergleichbares technisches Können verfügen, jeweils die heiligen Berge, Bäume oder Steine (oder was nun immer in ihrem Kulturkreis gebräuchlich sein mag) für die Götter selbst halten? 160 So Klauck 2000, 212 Klauck sieht im Vergleich mit den kleinen Kindern in § 61 ein Signal in dieser Richtung und liest dann noch aus § 59 (in seiner Wiedergabe „aus purer Not und Ermangelung eines besseren Beispiels“) heraus, „dass die Bilder den Charakter einer Notlösung nicht ganz verleugnen können“ In § 59 geht es jedoch um die Bedingungen der Bildkunst, und gar nicht um die Bedürfnisse der Menge: Zur Diskussion steht das Fehlen eines konkreten Modells und die angeblich daraus sich ergebende (keineswegs negativ empfundene) Notwendigkeit, die Götter menschengestaltig darzustellen Das ist in keiner Weise eine implizite Infragestellung oder Abwertung der Götterbilder Und der Vergleich mit den kleinen Kindern gilt nicht spezifisch für eine gewisse Gruppe, sondern trifft für alle zu (πᾶσιν ἀνθρώποις im unmittelbar vorangehenden Satz) Dagegen wird in der ersten Hälfte der Rede, § 46, ausdrücklich verfochten, dass die Aufgabe der Bildkünstler die sei, den Unerfahrenen das Göttliche verständlich zu machen S dazu unten 5 4 1 2 161 Stenger rechnet, wie es scheint, mit einer negativen Haltung zur beschriebenen Verhaltensweise, oder richtiger, zur zweiten Rezipientengruppe: „Dion / d h Pheidias, MWS / läßt keinen Zweifel daran, dass es nicht jedem beliebigen Menschen gelingen wird, das anthropomorphe Götterbild angemessen zu verstehen Vorausgesetzt wird ein Empfänger, der imstande ist, einen adäquaten, das Symbol nutzenden Gebrauch von dem Götterbild zu machen … Gegenbeispiel sind für Dion die naiven Leute, die das Kultbild für eine naturalistische Wiedergabe des Gottes, ja für den Gott selber halten“ (Stenger 2009 a, 57)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

wie einem konkreten Nahkontakt mit Gott seien sie unbetroffen (vgl unten 5 4 2 2 zu Maximos von Tyros) Antike Philosophen legten im Allgemeinen Wert auf ihre Exklusivität und pflegten ihren vermeintlich über die Menge erhobenen Status Wir sollten, wie ich meine, darauf verzichten, für Pheidias um jeden Preis eine überzeugende, zusammenhängende philosophische Grundposition zu konstruieren, und diese obendrein noch Dion selber zuzuschreiben, und stattdessen die Tatsache, dass der Text sich allen Versuchen dieser Art widersetzt, ernst nehmen Wir sollten die Kohärenz vor allem auf einer anderen Ebene suchen, nämlich im Rahmen der Rollengestaltung Die Frage, welche Konsequenzen die Wahl eines fiktiven Sprechers hier mit sich bringt, ist ein von der wissenschaftlichen Diskussion viel zu wenig beachteter Punkt, obwohl das Phänomen der fingierten Rede in der Zeit der zweiten Sophistik bekannt genug ist Dass historische Gestalten redend eingeführt wurden, wie hier, kam häufig vor 162 Fingierte historische Reden waren eine beliebte Gattung, nicht nur in den Rhetorenschulen, sondern auch in der Öffentlichkeit 163 Es gibt allen Anlass, zu vermuten, dass das Publikum eine überzeugende Charakterzeichnung erwartete und entsprechend kritisch reagierte, falls der Rollenfigur Äußerungen in den Mund gelegt wurden, die ihrer Person unangemessen waren Hier geht es darum, die Rolle des Pheidias, des berühmten Bildkünstlers, überzeugend zu gestalten Nicht überzeugend wäre es, wenn der Bildkünstler von der Sitte, Götterbilder zu verfertigen und aufzustellen, Abstand genommen hätte, oder wenn er geltend gemacht hätte, die Bilder seien jeglichen Inhalts bar Der Bildkünstler kann nicht darum herum, um seinen Beruf und seinen Erwerb bemüht zu sein Es schadet nichts, zur Genugtuung der πεπαιδευμένοι der Zuhörerschar164 ihn zunächst so hervortreten zu lassen, als stünde er an der philosophischen Vorfront; ihn ausdrücklich sagen zu lassen, öffentlich aufgestellte Götterbilder seien eigentlich nur für eine auserwählte Elite da, wäre dagegen höchst ungeschickt Als Bildkünstler kann er sich nicht damit begnügen, einem beschränkten Kreis zu gefallen Er strebt danach, dass seine Werke die Öffentlichkeit ansprechen, und arbeitet im Auftrag des Gemeinwesens Das Gemeinwesen und die Öffentlichkeit umfassen alle Ferner hält der Bildkünstler seine Kunst selbstverständlich für die beste Ein Plutarch kann für seine Person die heiligen Tiere der Ägypter – vorausgesetzt, dass sie nicht fälschlich als Götter verehrt werden – den anthropomorphen Götterbildern überlegen finden,165 aber es ist nur logisch, wenn Pheidias zu wissen meint, dass die Versuche der Barbaren, ihre Sehnsucht nach Götternähe zu befriedigen, andere konkrete Manifestationen gefunden hätten, falls sie zu einer vollendeten Bildkunst (wie der seinen) Zugang gehabt hätten Als Äußerungen eines Bildkünstlers entbehrt der

Vgl bei Dion selbst etwa Diogenes in or  4; 6; 8; 9 und 10, Sokrates in or  3, Alexander in or  4 und Alexander und Philippos in or  2 Vgl Klauck 2000, 174 f 163 Vgl z  B Swain 1996, 92–96; Schmitz 1997, 112 f ; 202–204 164 In § 43 wird an die πεπαιδευμένοι als besonders qualifizierte Zuhörergruppe appelliert 165 S oben 5 1 , m Anm  24–26

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5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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Text in §§ 60–61 der Glaubwürdigkeit nicht, einen Diogenes etwa oder einen Sokrates dagegen hätte Dion nicht in dieser Weise sprechen lassen Zugleich wird signalisiert, dass „Pheidias“ eben nicht mit Dion gleichzustellen ist 166 Die Gebildeteren der Zuhörerschaft mögen den von Pheidias in §§ 58–59 vorgelegten Theorieentwurf interessant gefunden haben, einige vielleicht sogar erwägenswert Sie werden aber auch erkannt haben, dass sie nicht für den tatsächlichen Sprecher gilt Und dass die recht zuversichtlich ausgesprochene Behauptung am Anfang von § 60, „Niemand würde wohl behaupten, dass es besser wäre, wenn überhaupt kein Standbild oder bildliche Darstellung der Götter unter den Menschen aufzuzeigen wäre …“, der realen Verankerung entbehrt, werden sie gewiss eingesehen haben und darin eine Bestätigung erkannt haben, dass hier einer auftritt, der nicht zu den Philosophen zu zählen ist 167 Die Technik der fingierten Rede kann der Distanzierung dienen Vorschläge und Thesen können vorgelegt werden, für die der Sprecher sich nicht verbürgt Das schmälert unser Interesse an den Aussagen des Pheidias selbstverständlich nicht 168 Aber es hilft uns, zu verstehen, warum Pheidias kein vollständiges, philosophisch stichhaltiges Modell vorlegt Erst wenn uns voll bewusst wird, dass „Pheidias“, und nicht Dion, spricht, sehen wir ein, dass die deutliche Dissonanz zwischen den Paragraphen 58–59 und 60–61, die sonst so überraschend wirkt,169 eine Funktion hat, und zwar dient sie der Rollencharakterisierung des Pheidias 5.4.1.2. Blick auf die 12. Rede außer der Pheidiasszene: Ambiguität der Position Der Pheidiasszene geht eine lebhafte Darstellung der Wege voran, durch die die Menschen zur Einsicht in die Existenz und das Wesen Gottes gelangt seien Zuerst wird dabei die ursprüngliche, allen Menschen gemeinsame, natürliche Gotteserkenntnis

166 Dies erhellt nicht nur daraus, dass die Gesamtposition des Pheidias philosophisch nicht stichhaltig anmutet; in dieselbe Richtung weisen deutliche Divergenzen zwischen Äußerungen des Pheidias und Positionen, die in der ersten Hälfte der Rede zum Ausdruck kommen oder impliziert sind, s dazu oben 5 4 1 , m Anm  128; Anm 154 sowie hier unten im nächsten Abschnitt 167 Zahlreiche Zeitgenossen Dions müssen sich darüber im Klaren gewesen sein, dass es Völker und Religionen gab, die ausdrücklich davon Abstand nahmen, ihren Gott zu verbildlichen Schon Herodotos hatte dies festgestellt (1,131 über die Perser) Und dass dies v a für die Juden galt, war zu Dions Zeit allgemein bekannt (s z B Tacitus hist  5,5,4; Strabon 16,2,35) Aber auch im griechischen Kulturkreis hatten sich, mindestens seit der Zeit der frühen Stoa, ähnliche Stimmen erhoben, Zenon SVF 1 fr  264; Antisthenes fr  181 Giannantoni p 207 (oben Kap  1 3 ) Auf römischen Boden Varro RD fr  18 (oben 4 2 und bes 4 2 1 ; Text dort Anm  39) Plutarchs Vita Numae (8,12–14) bezeugt uns außerdem, dass um diese Zeit die Tradition bekannt war, nach der schon Pythagoras sich gegen die Sitte, die Götter bildlich darzustellen, gewendet haben soll (vgl oben 4 4 Anm  126) 168 Wie ich oben 5 4 unterstrichen habe Vgl auch unten am Ende des folgenden Abschnitts 169 S z B Scheer 2000, 42: „Dion Chrysostomos, der sich streckenweise philosophisch über die Vorstellung von den Göttern ausläßt, fällt dann unvermittelt wieder zurück in eine Haltung, die eine enge Bindung von Bild und Gott zuläßt,“ mit Hinweis auf 12,61

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

behandelt (§§ 27–39) Dion hat große Freude daran, die ersten Menschen und ihr Staunen über die Wunder der Natur und die großartige Ordnung des Kosmos zu schildern, durch die sie zur Erkennntnis gelangt seien, dass dies alles von einem erhabenen göttlichen Gebieter gelenkt werde (§§ 28–29; 32; 34) Mit der Zeit seien Dichter, Gesetzgeber, Bildkünstler und schließlich auch Philosophen als Lehrer und Deuter des Göttlichen hinzugekommen (§§ 39–40) 170 Ihre Lehren fußen auf der natürlichen Gotteserkenntnis und wären ohne diese undenkbar (40; 46; 47; 48); sie ergänzen sie, indem sie durch ihre Ausdrucksmittel – Worte (in Mythen und Gesetzen), Bilder – in indirekter Weise den Menschen weitere Einsicht in das Wesen Gottes einprägen Es liegt auf der Hand, dass diese Thematik sich teilweise eng mit dem Inhalt der Pheidiasrede berührt Dabei suchen wir in diesem Teil der Rede, wie in der gesamten ersten Hälfte überhaupt, vergeblich nach Stellungnahmen oder Bemerkungen zur anthropomorphen Darstellungsweise Die ausdrückliche Diskussion der Thematik ist auf die Pheidiasszene beschränkt Das monumentale Zeusbild selbst rückt mehr als einmal ins Blickfeld,171 seine besondere Gestalt wird jedoch nicht kommentiert Dagegen findet sich eine Reihe anderer Berührungspunkte, wobei nicht unbedeutende Differenzen zu den späteren Äußerungen des Pheidias festzustellen sind So finden wir hier, anders als in der Pheidiasszene, ausdrückliche Auskunft darüber, an wen sich die Bildkünstler mit ihren Bildern wenden Nach Angabe von § 46 richten sich die Bildkünstler mit ihren Versuchen, das Göttliche zu interpretieren und zu vermitteln, an die weniger Erfahrenen 172 Das stimmt nicht mit dem überein, was sich implizite aus

170 Das Verhältnis von Dions Modell, mit den vier Wahrheitsvermittlern, zur sogenannten theologia tripertita, mit der wir im 4 Kapitel zu tun hatten (4 3 ), muss hier nicht besprochen werden Nur soviel sei hier noch einmal betont, dass die dreifache Theologie wohl nicht, wie Stenger (2009 a, 40) zu meinen scheint, von vornherein als eine Art Harmonisierungsversuch entstanden ist Ich habe oben (ebenda) geltend gemacht, dass es sinnvoller erscheint, anzunehmen, dass das Schema vielmehr ursprünglich einen Versuch darstellte, die immer mehr als widersprüchlich empfundenen Diskurse über die Götter auseinanderzuhalten So wie es bei Varro vorliegt, besteht es jedenfalls aus drei gesonderten Kategorien; das genus mythicum wird abgewertet und dient gerade nicht dem Zweck der Allegorese (s dazu oben 4 3 , mit Anm  92) Dion konnte wohl damit rechnen, dass das Schema zumindest einigen seiner Zuhörer in der einen oder anderen Form bekannt sei Die von ihm in or  12 vorgelegte Fassung des Systems stellt dagegen einen Versuch der Harmonisierung dar, insofern als alle vier genannten Kategorien – die Dichter, die Gesetzgeber, die Philosophen und die Bildkünstler – von ihm als Vermittler theologischer Wahrheit anerkannt werden (Wohlgemerkt kommt bei Dion weiterhin die Vorrangstellung den Philosophen zu ) Die Einbeziehung der Bildkünstler ist eine allem Anschein nach erst von Dion eingeführte Eigenheit, die auf die hinreichend informierten Zuhörer überraschend gewirkt haben mag Literatur und Übersicht zum Thema bei Klauck 2000, 186–192 171 §§ 12; 21; 25–26 172 Or 12,46: … ὡς ἐκεῖνοι διὰ ἀκοῆς ἐπιδεικνύντες, ἀτεχνῶς καὶ αὐτοὶ δι’ ὄψεως ἐξηγούμενοι τὰ θεῖα τοῖς πλείοσι καὶ ἀπειροτέροις θεαταῖς „Kurzum, so wie jene / = die Dichter / das Göttliche dem Gehör fassbar vorzeigten, so legten auch diese es ihrerseits der weniger erfahrenen Mehrzahl durch die Augen fassbar aus“ (Russells Wiedergabe, 1992, 193, lautet: „actually explaining religious matters visually to the ignorant majority of spectators, as the poets displayed them to the ear “)

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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den Worten des Pheidias heraushören lässt Pheidias beschreibt einerseits (in § 59) die besondere Funktion der anthropomorphen Götterbilder in einer Weise, die an einen exklusiven Empfängerkreis denken lässt Andererseits macht er in §§ 60–61 geltend, dass alle Menschen von einer Sehnsucht nach Nahkontakt mit den Göttern beseelt seien; diesem Verlangen nachzukommen – so wird implizitiert – ist die Aufgabe der Götterbilder (und zwar unabhängig von ihrer konkreten Gestalt) Auch das lässt sich nicht mit dem Standpunkt von § 46 in Einklang bringen Denn die Phrase „alle Menschen“ (§ 60) kann unmöglich mit „den weniger Erfahrenen“ (§ 46) synonym sein, sondern schließt mit Notwendigkeit die Gebildeteren mit ein Der selbstbewusste Bildkünstler Pheidias erhebt den Anspruch, dass die Bildkunst die Stellung eines privilegierten Mediums der Wahrheitsvermittlung einnehme Ein solcher Anspruch ist sonst in der Rede nicht verankert Stattdessen kommt diese Position der Philosophie zu – der Philosoph gilt als der „wohl zuverlässigste und untrüglichste Verkündiger der unsterblichen Natur“ (§ 47) Die übrigen Deuter sind ihm also unterlegen Aber völlig untrüglich ist allein die ursprüngliche Gotteserkenntnis (χωρὶς ἀπάτης, § 27; vgl 39) Die Dichter und die Gesetzgeber entfernen sich in einigen Aspekten ihrer Lehre von der Wahrheit, wie wir in § 40 erfahren 173 Die Auskunft am Ende von § 48, die besagt, dass alle Kategorien von Deutern auf der natürlichen Gotteserkenntnis bauen und mit ihr Übereinstimmendes vermitteln, kann also nicht so zu deuten sein, dass sie nur damit Übereinstimmendes verkünden 174 Der Text unterlässt es, klarzumachen, worin sie Wahres vermitteln und worin die Abirrungen bestehen Beruht dieses Schweigen auf Zufall (oder Versehen), oder entspringt es einer bewussten Strategie? Und was heißt es, dass ein entsprechender Vorbehalt, wie wir gleich sehen werden, bezüglich der Wahrheitsvermittlung der Bildkünstler fehlt? Wie wir gesehen haben, betont Pheidias seinerseits nachdrücklich, dass die menschliche Gestalt, noch ehe sie in der Bildkunst zur Verwendung gekommen sei, in der Dichtung in Gebrauch gewesen sei, erklärt aber sofort, dass die Aufnahme dieser Darstellungsform in die Bildkunst gewissermaßen zwangsläufig erfolgt sei Von einer solchen, durch die Bedingungen der Bildkunst selber begründeten Zwangslage weit entfernt sind die Motive, die nach § 45 die Bildkünstler dazu veranlasst haben sollen, sich den Dichtern und den Gesetzgebern anzuschließen Hier sollen die Sorge um die eigene

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§ 40: …  τὰ μὲν ὀρθῶς καὶ ξυμφώνως ἐξηγουμένων ποιητῶν καὶ νομοθετῶν τῇ τε ἀληθείᾳ καὶ ταῖς ἐννοίαις, τῶν δὲ ἀποπλανωμένων ἔν τισιν „Dichter und Gesetzgeber interpretieren einiges völlig richtig und in Übereinstimmung mit der Wahrheit und den natürlichen Vorstellungen; in einigen Zusammenhängen verlieren sie diese allerdings aus den Augen “ Ende von § 48: πάντες τοιγαροῦν οὗτοι ξυνᾴδουσιν, ὥσπερ ἑνὸς ἴχνους λαβόμενοι, καὶ τοῦτο σῴζοντες, οἱ μὲν σαφῶς, οἱ δὲ ἀδηλότερον „Diese sprechen alle mit einer Stimme, als folgten sie beständig einer Spur, die einen eindeutiger, die anderen weniger offensichtlich “ Freilich sieht das nach einem regelrechten Widerspruch zu § 40 aus (oben, vorige Anm ) Auch textkritisch ist der Satz nicht einwandfrei, und deshalb ist vorgeschlagen worden, ihn ganz zu streichen (s Russell 1992, 194)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Sicherheit und Bemühungen um das eigene Ansehen und die eigene Popularität ausschlaggebend gewesen sein, keineswegs, wie Pheidias geltend macht, der Inhalt und die beschränkten Möglichkeiten der Kunst 175 Dies alles lässt die Bildkünstler in einem anderen Licht erscheinen als später in der Rede des Pheidias: Hier haben sie offensichtlich aus persönlichen Gründen die anthropomorphe Darstellungsform von den Vorgängern übernommen Hätten sie nicht eine Art äußeren Druckes empfunden, hätten sie also ebenso gut eine andere Darstellungsform wählen können; eine nicht-figürliche, bzw eine halb- oder nur teilweise anthropomorphe Form hätte ebenfalls in Frage kommen können Dies gibt uns Anlass, genauer darüber nachzudenken, wie sich ihr Anteil an der Wahrheitsvermittlung zu dem ihrer Vorgänger verhält Gerade weil die Bildkünstler sich weitgehend den Dichtern und den Gesetzgebern anschließen, liegt es nahe genug, anzunehmen, dass sie in derselben Weise von der Wahrheit abweichen wie diese Nun hatten wir ja gar nicht erfahren, worin diese Abweichungen bestehen M  a  W wurde es dem Zuhörer überlassen, die fehlende Information selbst zu ergänzen, und in der Tat dürfte ihm dies – so weit – nicht schwergefallen sein Bis zur Einbeziehung der Bildkünstler in § 44 wird ein aufmerksamer Zuhörer von einiger Bildung aus den bisherigen Worten Dions sich am ehesten ein Bild geschaffen haben, nach dem die Dichter und die Gesetzgeber – von denen es ja heißt, dass sie zwar wahre Kunde von den Göttern vermitteln, aber in einigem fehlgehen – in dem Maße als Wahrheitsvermittler gelten, wie sie das Göttliche in sinnvollen, das richtige Verhalten fördernden Metaphern ausdrücken, und zwar v a solchen, die die Gefühle und Reaktionen der ersten, unverdorbenen Menschen in richtiger Weise aufnehmen und weiterführen (wie § 29: τοῦ σπείραντος καὶ φυτεύσαντος καὶ σῴζοντος καὶ τρέφοντος; τοῦ προπάτορος θεοῦ; § 31

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§ 45 f  … οὐ παντελῶς διαφερόμενοι τοῖς ποιηταῖς καὶ νομοθέταις, τὸ μὲν ὅπως μὴ δοκῶσι παράνομοι καὶ ταῖς ἐπικειμέναις ἐνέχωνται ζημίαις, τὸ δὲ ὁρῶντες προκατειλημμένους αὑτοὺς ὑπὸ τῶν ποιητῶν καὶ πρεσβυτέραν οὖσαν τὴν ἐκείνων εἰδωλοποιίαν οὔκουν ἐβούλοντο φαίνεσθαι τοῖς πολλοῖς ἀπίθανοι καὶ ἀηδεῖς καινοποιοῦντες τὰ μὲν οὖν πολλὰ τοῖς μύθοις ἑπόμενοι καὶ συνηγοροῦντες ἔπλαττον, τὰ δὲ παρ’ αὑτῶν εἰσέφερον, ἀντίτεχνοι καὶ ὁμότεχνοι τρόπον τινὰ γιγνόμενοι τοῖς ποιηταῖς, ὡς ἐκεῖνοι διὰ ἀκοῆς ἐπιδεικνύντες, ἀτεχνῶς καὶ αὐτοὶ δι’ ὄψεως ἐξηγούμενοι τὰ θεῖα τοῖς πλείοσι καὶ ἀπειροτέροις θεαταῖς „Sie wollten sich nicht ganz mit den Dichtern und den Gesetzgebern entzweien, teils, um nicht den Eindruck zu erwecken, gegen die Gesetze zu handeln, so dass sie riskierten, von den festgelegten Strafen betroffen zu werden; teils, weil sie sahen, dass die Dichter ihnen zuvorgekommen seien und ihre Verbildlichung des Göttlichen die ältere sei Mit anderen Worten wollten sie den Vielen nicht als unglaubwürdig und als lästige Erfinder von neuen Moden vorkommen Das meiste schufen sie in Nachfolge und Übereinstimmung mit den Mythen der Dichter, einiges trugen sie aber auch selbst bei, so dass sie gewissermaßen zu Konkurrenten und Kollegen der Dichter wurden Kurzum, so wie jene / = die Dichter / das Göttliche dem Gehör fassbar vorzeigten, so legten auch diese es ihrerseits der weniger erfahrenen Mehrzahl durch die Augen fassbar aus “ Welche Züge sie übernommen haben sollen, und worin der eigene Beitrag bestanden haben soll, erfahren wir nicht, aber es versteht sich von selbst, dass die menschliche Gestalt jedenfalls zum übernommenen Teil gehört, etwas was auch durch den Wortlaut in § 45 impliziert wird, „die Bildkünstler haben gesehen, dass … die εἰδωλοποιία der Dichter die ältere sei“

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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ἡ γῆ τῷ ὄντι μήτηρ, vgl 30; § 31 θηλή) Sofern sie Zeus als gemeinsamen König der Menschen und der Götter, als Herrscher, Leiter und Vater, als Lenker des Friedens und des Krieges vorgestellt haben, werden sie gepriesen (§ 22) 176 Der Abschnitt 42–43 kann als weitere Unterstützung einer solchen Deutung verstanden worden sein Demnach besteht eine Parallelität zwischen der Verehrung des „ersten und unsterblichen Erzeugers“ und der menschlichen Erzeuger Der Wille, die Eltern zu ehren, ist den Menschen angeboren; dies Verhalten wird aber auch von den Dichtern empfohlen und von den Gesetzgebern auferlegt, und Entsprechendes gelte von der Liebe der Menschen zu ihrem göttlichen Vater 177 Wer sich ein solches Bild geformt hat, dürfte zum Schluss gekommen sein, dass die voll anthropomorphisierte Darstellungsweise hier als fehlerhafte Weiterentwicklung der ursprünglichen metaphorischen Ausdrucks- und Denkweise der ersten Menschen gelte (nach dem oben Kap  3 1 1 eingehend beschriebenen Modell) Eine Übereinstimmung mit der ursprünglichen Gotteserkenntnis läge also nur vor, soweit die „Deuter und Lehrer“ die anthropomorphe Metaphorik noch in richtiger Weise pflegen, während die menschliche Gestalt (und ebenso, wie sich versteht, die menschliche Verhaltensweise der Götter im Dichternarrativ178) schon einer degenerierten Stufe angehören müsste Dieser unmittelbare Eindruck wird aber durch die überraschend hinzukommende Auskunft, dass die Bildkünstler ebenfalls zu den Deutern und Lehrern zu zählen seien, gestört worden sein Bis dahin wurde ein Standpunkt suggeriert, nach dem ein anthropomorphes Götterbild keine Wahrheit enthält Nun sollen die Bildkünstler plötzlich doch noch zu den Wahrheitsvermittlern gehören Pheidias und einige andere Meister berühmter anthropomorpher Götterbilder werden namentlich genannt Wodurch üben diese denn ihre wahrheitsvermittelnde Tätigkeit aus, falls nicht gerade durch ihr

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Im Borysthenitikos (or  36) erfahren wir, dass die Dichter an der Wahrheit teilhaben, aber sie nicht voll besitzen, 36,32–34; dort (§ 32) heißt es auch, dass die göttlichen Dichter Zeus von den Musen kennengelernt haben sollen und ihn als Vater der Götter und der Menschen preisen (ὃν οἱ θεῖοι ποιηταὶ μαθόντες ἐκ Μουσῶν ὑμνοῦσιν ἅμα καὶ ὀνομάζουσι πατέρα θεῶν καὶ ἀνθρώπων) Leider bestehen in § 43 schwere textkritische Probleme, die für das Verständnis hinderlich sind, s dazu Russell 1992, 190 Dion spielt in or   53,3 und 11,17 auf die allegorische Deutung des homerischen Götternarrativs an, ohne dazu Stellung zu nehmen, ob sie berechtigt sei oder nicht In 53,3 lehnt er ab, zu entscheiden, „ob Homer damit / d h mit dem weniger lobenswerten Verhalten der Götter, MWS / einen Fehler begangen habe, oder ob er der damaligen Sitte zufolge den Menschen in der Form von Mythen gewisse physische Lehren tradiert habe“ (… πότερον Ὅμηρος ἥμαρτε περὶ ταῦτα ἢ φυσικούς τινας ἐνόντας ἐν τοῖς μύθοις λόγους κατὰ τὴν τότε συνήθειαν παρεδίδου τοῖς ἀνθρώποις), da dies ein umfangreiches und kompliziertes Thema sei Offensichtlich wird hier damit gerechnet, dass die zweite Alternative schon zur Zeit Homers eher Regel als Ausnahme gewesen sei, wobei vorausgesetzt wird, dass Mythen schon von vornherein zum Zweck der Einkleidung philosophischer Lehre geschaffen worden seien, nur dass Dion im Falle Homers keine Stellung beziehen will Im Borysthenitikos (or  36) wird den Dichtern, wie wir soeben gesehen haben, kein vollständiger Zugang zur Wahrheit über die Götter zuerkannt (vgl auch oben Anm  176) Danach zu urteilen ist das dichterische Götternarrativ nicht als verkleidete philosophische Lehre zu verstehen

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Grundmedium, d h durch die anthropomorphe Darstellungsform? Den Dichtern stehen ja eben andere Möglichkeiten zur Verfügung, aber falls die menschliche Gestalt der konkreten anthropomorphen Götterbilder als Fehler gilt, was gäbe es daneben oder darüber hinaus in den Werken der genannten Künstler, wodurch ihr Teil der wahren Lehre über die Götter übermittelt werden könnte? Im Hinblick auf diese Komplikation müssen wir uns fragen, über welche etwaigen Alternativen unser postulierter nachdenklicher Zuhörer verfügt hätte Es wäre nicht ausgeschlossen, dass dem zeitgenössischen Publikum eine solche oder ähnliche Art, die Götterbilder zu betrachten, wie sie dann von Pheidias in § 59 beschrieben wird, vertraut gewesen sein könnte – beim späten Varro (oben 4 1 und 4 2 2 a E ) finden wir Verwandtes vor, und auch bei Cornutus (oben 5 2 ) ist eine ähnliche Grundhaltung vorauszusetzen Dort ist die anthropomorphe Darstellungsweise jedoch nicht für die Unerfahrenen, sondern für die Elite vorgesehen 179 Gerade die Auskunft, dass die Bildkünstler sich an die Unerfahrenen wenden, würde unseren Musterzuhörer also an sich eher in seiner (von mir vermuteten) ursprünglichen Meinung bestätigen, es sei denn, dass ihm ein Modell von der Art vorgeschwebt hätte, wie es Maximos in der zweiten Dialexis vorlegt Demnach wären die anthropomorphen Götterbilder in der Absicht, einfacheren Seelen auf den Weg zu Gott zu helfen, geschaffen worden Freilich scheint bei Maximos, wie wir unten (bes 5 4 2 2 ) sehen werden, die anthromorphe Darstellungsweise erst im Zusammenhang mit Erwägungen zur bildlichen Darstellung aufgekommen zu sein, während hier die Dichter und die Gesetzgeber vorangehen; von diesen müssen die Götter somit (in Worten) in Menschengestalt dargestellt worden sein, schon bevor die Bildkünstler mit ihren konkreten, sichtbaren Bildern aufgetreten sind Nun könnten die Dichter diese Darstellungsform in der Absicht, dadurch Wahres zu vermitteln, geschaffen haben – so muss es sich ja in den Augen des Pheidias verhalten Dieser Unterschied ist also kaum entscheidend Dennoch melden sich sofort Bedenken Erstens ist ein solches Modell in dem uns erhaltenen Textmaterial nur bei Maximos belegt; wir werden es unten 5 4 2 1  ff eingehender studieren Zu einer breiteren Geltung ist es kaum gekommen Wir können nicht davon ausgehen, dass ein solches Verständnis dem zeitgenössischen Zuhörer als natürliche oder überhaupt denkbare Lösung vorgeschwebt haben kann Und zweitens findet sich bis § 44 wirklich nichts, was auf eine andere Haltung der anthropomorphen Gottesvorstellung gegenüber als die herkömmliche, abweisende deutet, geschweige denn Vorstellungen vorspiegelt, wie sie dann dem Pheidias in den Mund gelegt werden Dass Dion dem großen Zeusbild seine Bewunderung bezeugt (§ 25), werden die Zuhörer als natürlich empfunden haben (der Ankläger lobt es ebenfalls, §§ 51–52) Dass er es sorgfältig 179

Nebenbei sei hier darauf hingewiesen, dass die einst in der Wissenschaft teilweise eifrig verfochtene These, die Bilderverteidigung des Pheidias in Dions Olympikos sei von Poseidonios abhängig (s etwa Binder 1905, Geffcken 1916–1919, bes 295–298), nunmehr mit Recht als überholt gilt S Klauck 2000, 123 Anm  128 Vgl auch unten 5 4 2 2 , m Anm  230

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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vermeidet, die anthropomorphe Darstellungsweise als solche zu kommentieren, werden die Aufmerksamsten registriert haben, ohne sich über sein Schweigen zu diesem Punkt gewundert zu haben – etwaige eigene Bedenken hinsichtlich der anthropomorphen Form gerade hier zur Schau zu tragen, wäre fehl am Platze Wenn der Zuhörer mit der Pheidiasszene konfrontiert wird, mag er im Lichte der Möglichkeit, die Pheidias formuliert, hinsichtlich seiner bisherigen Deutung der dem Vorangehenden zugrundeliegenden Position weiter verunsichert worden sein Er wird aber gewiss nicht dazu verfallen sein, die Äußerungen des Pheidias nun auch noch für den ersten Teil der Rede gelten zu lassen – was Pheidias sagt, stimmt ja mit dem dort gezeichneten Bild von der Arbeitsweise, den Motivationen und der Zielgruppe der Bildkünstler gar nicht überein Dass Wortwahl und Gedankeninhalt auf die Rollenfigur zugeschnitten sind, wird er nicht nur erkannt haben, sondern genau dies wird er auch, sobald diese Figur eingeführt worden ist, erwartet haben Schließlich ist es nicht ausgeschlossen, dass er es selbst in seiner Ausbildung erlebt hat, vor die Aufgabe gestellt zu werden, eine historische Gestalt oder mythische Figur in überzeugender Weise redend darzustellen 180 5.4.1.3. Schlussbemerkung zur 12. Rede Dions Alles in allem tritt ein Bild hervor, nach dem Dion seinen Pheidias nicht als ‚Sprachrohr‘ einführt, sondern als selbständige Rollenfigur, der er die Aufgabe anvertraut, unter Wahrung der historischen und charakterlichen Glaubwürdigkeit der Persona, des Schöpfers des beinahe greifbar gegenwärtigen, eindrucksvollen Standbilds, einen interessanten Vorschlag zur Wertung und Sinngebung der anthropomorphen Götterbilder vorzulegen, auf den das Publikum sinnvoll zu reagieren vermag „Pheidias“ spielt nicht die Rolle eines Theoretikers, dem die schwierige Aufgabe zugeteilt worden ist, den Gebrauch anthropomorpher Götterbilder philosophisch einwandfrei zu unterbauen Im Gegenteil formuliert er ‚seinen‘ Vorschlag so, dass er jedem etwas bringt In der vorausgehenden Hälfte der Rede wird andeutungsweise eine Haltung signalisiert, die mit den Aussagen des Pheidias nicht übereinstimmt Diese Signale werden die philosophisch Geschulten unter den Zuhörern nach der Pheidiasszene deutlicher erkannt haben, und umgekehrt werden sie den Versuch des Pheidias auf diesem Hintergrund erst recht zu beurteilen imstande gewesen sein Das Publikum wird sich darüber im klaren gewesen sein, dass die Aussagen aus dem Blickwinkel des Bildhauers formuliert sind und als Äußerungen des spezifischen Berufsstolzes und der spezifischen Rücksichten auf diesen Beruf ihre Glaubwürdigkeit schöpfen, und es wird das Geschick des Deklamators, diese Glaubwürdigkeit zu schaffen, zu beurteilen und zu schätzen vermocht haben

180 Vgl Schmitz 1997, 11 f ; Russell 1983, 11–15

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Nun dürfen wir andererseits nicht der (zum Glück nunmehr im Prinzip überholten) Vorstellung verfallen, dass der Versuch des „Pheidias“ unser Interesse nicht verdiene, weil er vielleicht nicht ‚ernsthaft gemeint‘ sei 181 Als Skizze eines alle Rezipienten (und alle Zuhörer!) mit einschließenden Modells, das die Funktion der Götterbilder je nach Verständnisniveau der Empfänger justiert, ohne zu irgendeiner Seite hin Kritik zu üben, ist der Versuch hochinteressant Als spezifisch für eine fiktive Rede eines philosophierenden Bildkünstlers zugeschnittenes Denkmodell konnte er aber strikt philosophischen Ansprüchen nicht genügen Das war jedoch kaum der Maßstab, mit dem ihn die große Festgemeinde in Olympia beurteilte Es gibt allen Anlass zu vermuten, dass die Idee, gerade Pheidias auftreten zu lassen, und die Rede, die ihm in den Mund gelegt wird, ihren Beifall gefunden haben 5 4 2 Maximos von Tyros Wer von der Dion-Lektüre kommend zu den Dialexeis des vielleicht um ein paar Generationen späteren Maximos von Tyros greift,182 wird ohne Zweifel Dions lebendige persona, die wechselnden und bunten Kontexte und die Einblicke in das öffentliche Leben einzelner Städte, die Dion vermittelt, vermissen Im Wesentlichen bietet Maximos eine Sammlung von Vorträgen über populärphilosophische Salonthemen (wie etwa „Welche Krankheiten sind schwerer, die des Körpers oder die der Seele?“, Nr  7; „Sokrates zur Kunst der Liebe“, Nr  18–21; „Ob Platon daran recht getan hat, Homer aus seinem Staat auszuschließen“, Nr   17), die sich inhaltlich und stilistisch „durch ein hohes Maß an Redundanz und Determiniertheit“ auszeichnen, um eine Formulierung von Thomas Schmitz zu verwenden 183 Überhaupt kann ich mir schwerlich eine bessere Charakteristik des Maximos vorstellen als gerade die, die Schmitz zeichnet und zu der die eben angeführte Bemerkung gehört 184 Die Dialexeis verfolgen nicht, wie so viele Reden von Dion, ein unmittelbares politisches Ziel; sie sind nicht im selben Sinne öffentlich wie Dions Reden an die Tarser, an die Rhodier usf und sind auch nicht an eine bestimmte Gelegenheit und an einen Ort gebunden wie jene oder wie der Olympikos Stattdessen handelt es sich hier um Stücke,

181 182

S dazu oben 5 4 , mit Anm  122 Die Biographie des Maximos ist im Grunde unbekannt – nicht einmal seine Lebenszeit steht eindeutig fest Gemeinhin wird angenommen, dass sein Werk um die Mitte oder in der zweiten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts entstanden ist S Trapp 1997 a, xi–xii Im Folgenden verwende ich bei Zitaten den traditionellen lateinischen Titel Diss(ertationes) Zeilennummerierung nach der Ausgabe von Trapp BT 1994 Die Paragrapheneinteilung ist in den Ausgaben von Hobein, Trapp und Koniaris identisch 183 Schmitz 1997, 223 184 Schmitz 1997, 220–231 Andererseits können die Dialexeis dazu beitragen, das Bild vom zeitgenössischen Platonismus zu beleuchten, wie von Dillon 1996, 399 unterstrichen wird

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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die im Rahmen des Rhetorik- und Philosophieunterrichts (immer wieder) vorgeführt wurden 185 Freilich fällt uns auch so die mechanische Repetitivität sowohl im Inhalt wie im Stil, ja sogar im Vokabular, auf, ebenso wie die Fülle von im Grunde trivialen Beispielen und Exempla und die nahezu manisch wirkende Gewohnheit, jeden auch noch so einfachen Gedanken mit weitschweifigen Aufzählungen und Beispielen, gerne in negativer Form, zu illustrieren 186 Schmitz warnt uns davor, diese Eigenheiten als uninteressant oder als lästige Defekte abzutun Vielmehr sollten wir sie insofern als signifikant und interessant ansehen, als sie Symptome der Kraft der Tradition in der Zeit der zweiten Sophistik sind Die Tradition dominiert und konstituiert das Selbstverständnis der griechischen Elite der Zeit in einer Weise, die u U dazu führt, dass die sprechende Stimme im Interesse der Reproduktion der geistigen und literarischen Vorbilder der klassischen Vergangenheit sich selbst gänzlich aufgibt und mit den rhetorischen Ausdrucksmitteln eins wird 187 Dem sei hier noch hinzugefügt, dass für den Zweck meiner Untersuchung die gedankliche Repetitivität insofern einen Vorteil bedeutet, als Gedankengänge, die in einem Zusammenhang nicht deutlich genug zum Ausdruck kommen oder unterdrückt werden, in ausführlicherer Form in anderen Reden auftauchen und so zu einem vollständigeren Bild beitragen können 188 Kein Zweifel kann darüber bestehen, dass in den Dialexeis des Maximos zugleich mit der Vermittlung der großen hellenischen Kulturtradition auch noch ein bestimmtes Weltbild eingeprägt werden soll 189 Es ist kein Zufall, dass Allusionen und Reminiszenzen aus den platonischen Dialogen Legion sind Ein platonisches Weltbild in vereinfachter Fassung tritt hervor Als selbstverständlich gelten z B die strikte Unterscheidung der intelligiblen Welt von der Erscheinungswelt und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, während kompliziertere Elemente der platonischen Lehre wie

185 186 187 188

189

Vgl Trapp 1997 a, xx–xxii Das Lob auf den menschlichen Körper in diss 2,3 (Text unten 5 4 2 3 ) bietet dafür ein gutes Beispiel Aber die Fälle sind Legion und finden sich in jeder Dialexis Schmitz 1997 ebenda, bes 225 Andererseits ist die Vorliebe unseres Autors für endlose, mehr oder weniger variierte Entfaltung der Gedanken für die wissenschaftliche Diskussion auch eine Belastung Da wortwörtliche Zitate meine Argumentation durch ihre übermäßige Länge zu verdunkeln drohten, mussten sie meist gekürzt werden oder mit Paraphrasen oder Kurzreferaten ersetzt werden Wo es mir wichtig erschien, habe ich den tatsächlichen Text und die dazugehörige Übersetzung möglichst vollständig in den Anmerkungen angeführt In anderen Fällen habe ich darauf verzichtet, oder auch dort gekürzt Ich hoffe, dass diese Verfahrensweise als vertretbar gelten kann; im Endeffekt schien mir keine andere zu funktionieren Es gibt keinen Grund, zu bezweifeln, dass der Autor dieses Weltbild selbst umfasst, aber letztendlich ist die Frage irrelevant Es geht hier selbstverständlich um den im Text übermittelten Stoff, nicht um die etwaige persönliche Meinung des (sowieso völlig anonymen) Autors Vgl oben 5 4 (mit Anm  122) und 5 4 1 3

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

etwa die Theorie von den Ideen ausgeblendet werden 190 Dass komplexe oder kontroverse Fragen vereinfacht oder ganz vermieden werden und die Argumentation oberflächlich ist, dürfte damit zusammenhängen, dass die Rezipienten junge Männer der städtischen Eliten waren, für die ein gewisses Maß an philosophischer Bildung zwar wünschenswert erschien, denen aber ein theoretisches Interesse an den großen philosophischen Fragen fern lag 191 5.4.2.1. Dialexis 2: Status und Funktion von ἀγάλματα Nach einer ausführlichen, zusammenhängend formulierten Theorie zur Frage nach Sinn und Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes suchen wir bei Maximos vergeblich, etwas was im Hinblick auf den oben beschriebenen Charakter der Dialexeis kaum überrascht Nichtsdestoweniger lässt sich daraus ein diesbezügliches Modell in Umrissen rekonstruieren Dieses Modell verdient v a deshalb unser Interesse, weil danach, wie es scheint, das anthropomorphe Gottesbild für einen breiten Empfängerkreis vorgesehen ist, ohne dass vorausgesetzt wird, dass es zur theologischen Wahrheit in Widerspruch steht Darin unterscheidet es sich sowohl von Varros Fassung, nach der die von den Götterbildern vermittelte Wahrheit einer beschränkten Elite vorbehalten blieb, wie andererseits auch von der Theorie des Aurelius Cotta (bei Cicero, nat. deor 1,77), der zwar damit rechnet, dass diese Gottesvorstellung bewusst für die Massen erfunden worden sei, jedoch nicht in der Absicht, die Empfänger Gott näherzuführen, sondern geradezu um ihnen die Wahrheit über die Götter zu verdrehen Es nähert sich in gewisser Hinsicht der Fassung, die Pheidias bei Dion vertritt, weist aber auch signifikante Unterschiede auf 192 Maximos widmet dem Thema „Götterbilder“ und deren Funktion und Wert einen ganzen Vortrag, den zweiten nach der heute geläufigen Zählweise 193 Leider mangelt es

190 S dazu Trapp 1997 a, xxvi–xxx, sowie denselben, 2007, bws 468; 475 und 481 Um noch eine treffende Formulierung von Schmitz anzuführen: „Seine Reden enthalten keinerlei originelle philosophische Ideen; er begnügt sich damit, einen vagen Platonismus immer wieder neu aufzuwärmen “ (Schmitz 1997, 220) 191 Zur ‚enttheoretisierten‘ Philosophie dieser Zeit, s oben 5 4 am Anfang Nur in solch vereinfachter Form konnte die Philosophie ihre herkömmliche Gegensatzposition zur Rhetorik aufgeben, um ihr stattdessen als gleichberechtigtes Element der für einen auch nur leidlich gebildeten Griechen unentbehrlichen παιδεία im Unterricht zur Seite zu treten S dazu Trapp 2007 a, 467 f 192 Oben 4 1 und 4 2 2 (Varro) bzw 3 2 1 1 (Cotta) Zu Dions „Pheidias“ s hier oben 5 4 1 1 Zu einer Synkrisis von Cottas Theorie und dem Modell des Maximos s unten am Ende von 5 4 2 2 Es versteht sich von selbst, dass die Varianten auf die jeweils angesprochenen tatsächlichen Rezipienten zugeschnitten sind 193 Die Reihenfolge der Dialexeis wechselt in den Ausgaben Die Rede über die Götterbilder trägt in den älteren Ausgaben die Nummer 38, dann 8 und, schließlich, 2 (s die Konkordanzen bei Trapp 1997 a, xcvii sowie bei Koniaris 1995, LVI–LVII) Dieser verwirrende Umstand spiegelt Unter-

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der zweiten Dialexis, wie wir sehen werden, in mehr als einer Hinsicht an Klarheit und Einheitlichkeit; jedoch helfen uns Äußerungen in anderen Dialexeis ein gutes Stück weiter Am Ende der zweiten Dialexis setzt sich Maximos für die Berechtigung aller Götterbilder ein, unabhängig von ihrer konkreten Form, und macht geltend, dass sie alle demselben Zweck dienen: Sie sollen die Erinnerung an Gott erwecken und aufrechterhalten Mehr aus anderen Dialexeis als aus dieser geht hervor, dass unter Erinnerung an Gott die Wiederbelebung von Erfahrungen aus der Zeit der Präexistenz der Seele – der ursprünglichen Gemeinschaft mit Gott – zu verstehen ist 194 Der Mensch strebt danach, Gottes Wesen zu begreifen, heißt es im Schlussteil der Rede (2,10); da seine Natur ihm aber unerreichbar ist, nimmt er ersatzweise zu irdischen Dingen Zuflucht – zu Tieren, Bildern aus edlen Metallen, Pflanzen, Flüssen, Berggipfeln und Quellen, die ihm schön vorkommen und ihn dadurch indirekt Gott erblicken lassen 195 Irdische Schönheit hat nämlich, wie wir andernorts bei Maximos erfahren, an der unaussprechlichen und unsterblichen Schönheit, dem Schönen an sich, αὐτὸ τὸ καλόν, Anteil, und so vermag die wahrnehmbare, physische Schönheit die Erinnerung an die übersinnliche Schönheit zu erwecken 196 Warum sollte ich also weitere Prüfungen der Götterbilder unternehmen oder darüber Vorschriften erteilen? Mögen die Menschen das Geschlecht der Götter kennen, mögen sie es bloß kennen! Falls es bei den Griechen die Kunst des Pheidias ist, die die Erinnerung an Gott erweckt, bei den Ägyptern die Ehre, die den Tieren erwiesen wird, bei anderen ein Fluss, bei wieder anderen das Feuer, dann will ich die Vielfalt nicht missbilligen: Mögen sie bloß von ihm wissen, ihn lieben und sich seiner entsinnen,

heißt es abschließend in 2,10 197 Alle die in 2,10 aufgezählten Gegenstände und Erscheinungen, und, wie wir wohl schließen müssen, auch alle sonst in der Rede genannten schiede der Organisation in den Handschriften wider und kann für gewisse Rückschlüsse hinsichtlich der Überlieferung der Reden verwertet werden, s dazu Trapp 1997 a, xiii–xv; lviii–lx 194 S zu diesem Thema besonders diss 41,5 mit dem stark an die Wagenlenkerszene im Phaidros erinnernden Schlussteil, und die ebenfalls an diese Szene anknüpfende diss  10 (10,9) Zur Unsterblichkeit der Seele s dazu noch diss 8; 9; 11 und 21 Vgl Trapp 1997 a, 15 195 Diss 2,10 ll 187–192 Trapp 1994: „Da wir Gottes Wesen nicht erfassen können, nehmen wir unsere Zuflucht zu Wörtern und Namen und Tieren und Bildern aus Gold und Elfenbein und Silber, und zu Pflanzen, zu Flüssen, zu Bergspitzen und Quellen; wir verlangen, ihn intellektuell zu erfassen, aber aus Schwäche weihen wir seiner Natur das Schöne, das wir bei uns haben …“ Οὐκ ἔχοντες δὲ αὐτοῦ λαβεῖν τὴν οὐσίαν, ἐπερειδόμεθα φωναῖς καὶ ὀνόμασιν καὶ ζῴοις, καὶ τύποις χρυσοῦ καὶ ἐλέφαντος καὶ ἀργύρου, καὶ φυτοῖς καὶ ποταμοῖς καὶ κορυφαῖς καὶ νάμασιν, ἐπιθυμοῦντες μὲν αὐτοῦ τῆς νοήσεως, ὑπὸ δὲ ἀσθενείας τὰ παρ’ ἡμῖν καλὰ τῇ ἐκείνου φύσει ἐπονομάζοντες Die Schwäche des Menschen (ein Lieblingsthema des Maximos) macht diese konkreten ‚Andenken‘ notwendig; nur in Ausnahmefällen vermag einer ohne sie auszukommen (s dazu noch 5 4 2 2 a E und bes Anm  229) 196 S dazu eingehender unten 5 4 2 3 , mit Anm  245–248 197 Diss 2,10 ll  196–202: Τί μοι τὸ λοιπὸν ἐξετάζειν καὶ νομοθετεῖν ὑπὲρ ἀγαλμάτων; θεῖον ἴστωσαν γένος, ἴστω‹σαν› μόνον Εἰ δὲ Ἕλληνας μὲν ἐπεγείρει πρὸς τὴν μνήμην τοῦ θεοῦ ἡ Φειδίου τέχνη, Αἰγυπτίους

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

ἀγάλματα, seien es nun nicht-figürliche Artefakte, wie der Sonnendiskus der Paionier oder die weiße Pyramide der Aphrodite auf Paphos,198 oder weitere Naturerscheinungen, wie der Atlasberg und der heilige Hain der Libyer199 und die hohen Bergspitzen, die die ersten Menschen dem Zeus als Bilder geweiht haben sollen,200 wären also grundsätzlich anzuerkennen Und falls sie es alle vermögen, als äußere Anstöße zu funktionieren, durch die im Geist des Menschen die Erinnerung an Gott wach wird, folgt daraus (ohne dass dies ausdrücklich ausgesagt wird), dass alle diese Typen mit der theologischen Wahrheit – die allen Völkern zugänglich ist und über die sich alle Völker im Grunde einig sind201 – vereinbar sind, und dass sie dementsprechend (irgendwie) wahre Kenntnis vom Wesen Gottes vermitteln und wachhalten können Das alles müsste im Prinzip bedeuten, dass den menschlich gestalteten Götterbildern keine Sonderstellung zukommen kann Freilich bestätigt der Text selbst diese Schlussfolgerung nicht Der Schlussteil der Rede enthält einen indirekten Hinweis darauf, dass die verschiedenen ἀγάλματα trotz allem nicht gleich hoch einzuschätzen seien, und aus anderen Dialexeis, die sich spezifisch mit dem Verhältnis von irdischer Schönheit zur ursprünglichen, übersinnlichen Schönheit befassen, erfahren wir, dass der Mensch bei weitem den höchsten Anteil an der wahren Schönheit besitzt, höher als jede andere Erscheinung auf Erden 202 Das verstärkt einen Verdacht, den wir aus dem Abschnitt 2,3 gewinnen, in dem ausdrücklich über die Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes reflektiert wird, nämlich dass Maximos die Meinung vertritt, dass die griechischen anthropomorphen Götterbilder den übrigen ἀγάλματα vorzuziehen seien Dieser Verdacht wird dadurch unterstrichen, dass recht scharfe Kritik an den Bildern nicht-griechischer Kulturen geäußert wird Nichts lässt ahnen, dass die Tiere der Ägypter (§ 5), das Feuer der Perser (§ 4) und die große Schlange, die Alexander dem Großen von den Indern vorgezeigt und von ihnen als Διονύσου ἄγαλμα betrachtet worden sein soll (§ 6), den griechischen Götterbildern auch nur annähernd gleichberechtigt zur Seite stehen sollten Zwar scheint es, als richtete sich die Kritik weniger gegen ihren Gebrauch an sich als gegen ihre falsche Verwendung: Werden sie selbst Gegenstand der Verehrung, so verdient ein solches Verhalten Tadel Das wird jedoch nicht deutlich ausgesagt So wie der Text uns vorliegt, bietet das Ende in 2,10 mit seiner großzügigen Anerkennung aller Götterbilder als vollwertiger Erinnerungshilfe dem Leser eine durch nichts vorbereitete Überraschung Überhaupt leidet die Darstellung an Unklarheit, sowohl was die faktische Verwendung der Bilder wie die ihr zugeschriebene Funktion betrifft Ein Vergleich mit Plu-

198 199 200 201 202

δὲ ἡ πρὸς τὰ ζῷα τιμή, καὶ ποταμὸς ἄλλους, καὶ πῦρ ἄλλους, οὐ νεμεσῶ τῆς διαφωνίας· ἴστωσαν μόνον, ἐράτωσαν μόνον, μνημονευέτωσαν Diss 2,8 141–143 Diss 2,7 123–136 (vgl unten Anm 205) Diss 2,1 11–13 (Text unten Anm  216) Wie aus diss 11,5 76‒83 hervorgeht und auch in unserer Dialexis durchscheint (2,4 71–76) S dazu unten 5 4 2 3

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tarch und seiner Behandlung der ägyptischen heiligen Tiere ist hier am Platze Als Symbole der Gottheit werden diese von Plutarch als sinnvoll und berechtigt anerkannt, und der spezifische übertragene Sinn, den sie vermitteln, wird jeweils erläutert In dem Maße aber, wie die Ägypter dazu verfallen, sie selbst als regelrechte Götter anzubeten, wird ihr Verhalten gebrandmarkt 203 Während bei Plutarch die Distinktion konsequent durchgeführt und ausdrücklich begründet wird, unterlässt es Maximos in der 2 Dialexis, die entsprechende Unterscheidung zu formulieren und aufrechtzuerhalten 204 Gelegentlich hebt er sogar die Distinktion auf, insofern nämlich, als er einigen Völkern indirekt zuschreibt, eine solche Distinktion nicht zu kennen So sei das Feuer den Persern Bild und Gott (2,4 l  82 τούτῳ τῷ ἀγάλματι καὶ τούτῳ τῷ θεῷ), und die Schlange der Inder, die ihnen als Διονύσου ἄγαλμα gedient haben soll, wird gleich darauf noch als θεός bezeichnet (l  118) 205 Diese Eigenheit verleiht der 2 Dialexis eine Unklarheit, die sich beinahe von Anfang an bemerkbar macht Die ersten Menschen hätten Zeus die hohen Berge als Bilder (ἀγάλματα) geweiht, heißt es in 2,1 (ll  11–13) Aber auch Flüsse, fährt der Text unvermittelt fort, „sind verehrt worden“ (der Nil, der Peneios, der Ister u a ) Eine Kritik an dieser Verehrung von Flüssen wird nicht geäußert Ob wir die Information so verstehen sollen, dass die betreffenden Flüsse als ἀγάλματα καὶ θεοί gelten, geht nicht hervor Dass Flüsse jedenfalls die Funktion von ἀγάλματα (im angegebenen Sinne) erfüllen können, erhellt deutlich aus dem oben angeführten letzten Satz der Rede (2,10 200) Eine zweite Unklarheit betrifft die angebliche Aufgabe der Götterbilder Zusätzlich dazu, dass die Götterbilder die Erinnerung an Gott fördern sollen, haben sie noch eine weitere, handfestere Funktion: Sie sind Ausdruck der Verehrung, die der jeweiligen Gottheit zuteil wird Im Gegensatz zur Erinnerungsfunktion, die theologisch bedingt ist und die Fähigkeit der Bilder, wahre Gotteserkenntnis wachzurufen, mit Notwendigkeit voraussetzt, handelt es sich hier selbstverständlich nicht um solche Vermittlung übertragener Inhalte Während die Erinnerungsfunktion den Bildern eine Rolle als Brücken von Gott zu Mensch verleiht, dienen sie nach dieser Sehweise der umge-

203 Plut Is 380a–d; 379d–e S oben 5 1 , m Anm  18–26 204 Trapp weist in der Einleitung zu diss 2 (1997 a, 16) auf De Iside als Paralleltext hin, übergeht jedoch stillschweigend diesen Unterschied 205 Den Libyern dient ein heiliger Hain in einer Schlucht des Atlasgebirges angeblich sogar zugleich als Tempel, Gott, Schwurgarant und Bild (καὶ ἱερὸν καὶ θεὸς καὶ ὅρκος καὶ ἄγαλμα 2,7 135–136), und das Atlasgebirge selbst gilt als Tempel wie auch als Bild (ἱερὸν … καὶ ἄγαλμα 2,7 122–123) Ähnliche Funktion haben für die Kappadozier ein Berg, für die Maiotischen Skythen ihr See und für die Massageten der Tanais (2,8 159–160) Interessanterweise scheint dem Autor der Gedanke an eine regelrechte Verehrung der Bilder gerade im Falle der anthropomorphen griechischen Götterbilder nicht vorzuschweben Es ist, als existiere die Gefahr eines Fehlverhaltens hier gar nicht Auch die übrigen von Menschenhand verfertigten Götterbilder (der Sonnendiskus der Paionier, 2,8 138, der viereckige Stein der Araber, l 139–141 und die weiße Pyramide der Aphrodite auf Paphos, l  141–143) werden nicht als „Götter“ bezeichnet oder selbst als Gegenstand des Kults beschrieben

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kehrten Kommunikationsrichtung, der vom Menschen zu Gott Die Menschen drücken durch die Errichtung von Bildern ihren Dank für erfahrene Hilfe aus (2,1 1–10), oder die Bilder sollen einfach Ehrengaben sein (über deren Weihung als Zeichen der Frömmigkeit die Götter sich wohl freuen mögen206) Man wäre versucht, die Erinnerungsfunktion für die wichtigere zu halten, da sie im Schlussteil der Rede so nachdrücklich hervorgehoben wird Dennoch wird von ihr überhaupt nur in den Paragraphen 2 sowie 9 (gegen Ende) und 10 gesprochen, während die Ehrenfunktion weit häufiger erwähnt wird Ein einziges Mal, am Ende von § 2, werden sie beide zugleich ausdrücklich genannt Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die zweite Dialexis aus (zwei?) ursprünglich nicht zusammengehörigen Teilen zusammengesetzt worden ist, ohne dass eine endgültige Überarbeitung zustandekam Da aber in § 2 beide Funktionen als ursprüngliche Aufgaben der Götterbilder bezeichnet werden, dürfte es erlaubt sein, sie beide durchgehend als komplementär zu betrachten, und nicht als sich ausschließende Alternativen, und dementsprechend den Umstand, dass im für uns wichtigen, unten 5 4 2 3 eingehend zu besprechenden Abschnitt § 3 allein von der Ehrenfunktion die Rede ist, als Effekt der mangelnden Überarbeitung zu betrachten Ich werde es mir also erlauben, davon auszugehen, dass alle Götterbilder als σημεῖα oder σύμβολα in beiderlei Hinsicht zu verstehen sind (§ 2 31–33; vgl § 4 72; § 9 167; 182) Ungeachtet der genannten Unklarheiten lässt sich mit Hilfe der Prinzipien, die meiner Untersuchung zugrundeliegen, und den Erfahrungen, die wir so weit gewonnen haben, aus der zweiten Dialexis mit gewisser Unterstützung von Aussagen in anderen Reden eine annähernd zusammenhängende Theorie zu Sinn und Wert und Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes aufdecken, und zwar, wie ich glaube, ohne der Gefahr einer zu weit getriebenen Systematisierung des Stoffs anheimzufallen 5.4.2.2. Dialexis 2: Zu einem angedeuteten Grundgerüst einer Entwicklungsgeschichte des Gebrauchs von Götterbildern Im Abschnitt § 2 wird geltend gemacht, dass fürsorgliche Politiker (oder ‚Gesetzgeber‘, νομοθέται) früher Zeiten die Götterbilder erfunden hätten, und zwar hätten sie damit den Menschen helfen wollen Denn die Götter brauchen die Bilder selbstverständlich nicht Diese These wird mit einem zweifachen Vergleich illustriert Der erste Vergleich spielt auf das Verhältnis zwischen Schrift und gesprochener Sprache an Für das Sprechen einer Sprache sind die Buchstaben an sich unnötig; sie sind als Gedächtnishilfe erfunden worden

206 So jedenfalls bei Platon, leges 11 931a

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Im zweiten Vergleich, der thematisch an den ersten anknüpft, werden die Erfinder der Götterbilder mit Schreiblehrern verglichen, und die Götterbilder sind pädagogische Gegenstücke zu deren Unterrichtsmethode: Die menschliche Schwäche hat die Schriftzeichen erfunden, mit Hilfe derer sie sich über ihren Stumpfsinn hinwegsetzen kann, indem sie sie dazu nutzt, die Erinnerung wieder wachzurufen 207 In entsprechender Weise gilt, dass die Natur des Göttlichen selbstverständlich keine Verbildlichungen oder Standbilder braucht, sondern dass das Menschengeschlecht, überaus schwach wie es ist und so weit vom Göttlichen entfernt wie der Himmel von der Erde, sich diese Zeichen ausgedacht hat, in denen es die Namen der Götter und ihre Traditionen speichern kann 208 Diejenigen nun, die ein starkes Gedächtnis (μνήμη) besitzen und deswegen dazu fähig sind, sich mit ihrer Seele geradewegs zum Himmel zu erheben und zu Gott zu gelangen, brauchen zweifellos keine Bilder 209 Aber ein solches Geschlecht kommt unter den Menschen nur selten vor, und man würde nie ein ganzes Volk finden können, das sich an Gott erinnert (τοῦ θείου μνήμονι) und diese Hilfe nicht nötig hat Genau wie die Lehrer den Trick verwenden, für die Kinder schwache Buchstabenzeichen (σημεῖα ἀμυδρά) vorzuzeichnen, denen die Kinder nachzeichnend mit der Hand folgen können und sich so daran gewöhnen, die Schreibkunst zu memorieren (ἐθίζονται τῇ μνήμῃ πρὸς τέχνην), genau in der Weise stelle ich mir vor, dass die Gesetzgeber diese Götterbilder für die Menschen wie für eine Kinderschar erfunden haben, um

207 Es findet sich hier keine Spur von einer Polemik gegen die Schrift, wie sie am Ende des Phaidros vorgeführt wird (274d) Dort wendet sich Thamous, König von Theben, gegen den Anspruch des Theuth, mit der Schrift ein μνήμης τε καὶ σοφίας φάρμακον erfunden zu haben, und warnt davor, dass das Schreiben in Wirklichkeit nur die Vergesslichkeit fördern würde 208 Φῆμαι und ὀνόματα der Götter auch 2,9 181 (unten, Anm  222 angeführt) Die Idee von einer Speicherung der ὀνόματα καὶ φῆμαι der Götter mit Hilfe von Götterbildern lässt nicht unmittelbar an Erinnerungshilfe im oben 5 4 2 1 erläuterten Sinne denken Eher würde man auf ein mechanisches Sich-Entsinnen raten, etwa folgendermaßen: Dass Apollon mit einer Leier, Artemis mit einem Hirsch (usf ) dargestellt werden, erweckt die Erinnerung daran, dass Apollon herkömmlich als Musengott und Beschützer der musischen Künste gilt, bzw dass Artemis in den Mythen als Jägerin dargestellt wird und als Schutzgöttin der Jagd und der wilden Tiere betrachtet wird Der sofort eingeführte Hinweis auf diejenigen, die aus eigener Kraft, ohne den konkreten Anstoß, der von den Bildern ausgeht, sich nach dem Göttlichen zu erstrecken vermögen, zeigt jedoch, dass es nicht um so triviale Gedächtnishilfe geht, wenn es auch nicht ohne weiteres einleuchtet, dass die ὀνόματα καὶ φῆμαι für die Wiederbelebung der Erfahrungen aus der Präexistenz der Seele eine Rolle spielen können Philosophisch signifikant sind die ὀνόματα der Götter wie auch die φῆμαι jedenfalls Die Namen sagen etwas über die wahren Eigenschaften der betr Götter aus, und die φῆμαι vermitteln ebenfalls u U wahre Kunde über die Götter in übertragener Weise S dazu diss 8,6 128 (unten 5 4 2 4 , m Anm  254: hier ὀνόματα; φῆμαι 8,6 132 und 8,7 151 heißt offensichtlich „Orakelsprüche“) bzw 22,7 196 (eine φήμη Apollons, die von Homer stammt) 209 Liegt hier vielleicht ein Einwand gegen die Meinung des Pheidias bei Dion 12,60–61 vor, nach der alle Menschen sich nach Nahkontakt mit den Göttern sehnen (oben 5 4 1 1 )? Der Aussage, ebenda, dass niemand behaupten würde, dass es besser wäre, wenn gar keine Götterbilder vorkämen, stimmt die zweite Dialexis dagegen (in ihrer Weise) zu Vgl unten 5 4 2 3 (m Anm  241)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

als Zeichen der Verehrung des Göttlichen und gleichsam als Anleitung und Hilfsmittel der Erinnerung zu dienen 210

Die Götterbilder sind um der Menschen willen eingeführt worden Im Zentrum steht demgemäß hier die Erinnerungsfunktion, wobei die zweite Funktion, wie am Ende hervorgeht, von den Gesetzgebern auch noch mit beabsichtigt gewesen sein soll Ob es sich grundsätzlich um alle Götterbilder handelt, oder nur um die von Menschenhand verfertigten, oder gar nur um die Götterbilder in Menschengestalt, erfahren wir nicht Die Absichtsangabe allein reicht nicht aus, dies zu klären, da im Grunde alle Götterbilder, wie wir gesehen haben, diese Aufgaben erfüllen oder zumindest erfüllen können Jedoch spricht, wie ich meine, einiges dafür, dass Maximos, wenn er die Erfindertätigkeit der Gesetzgeber beschreibt, gerade die anthropomorphen Götterbilder, und keine anderen, im Auge hat Denn aus anderen Aussagen unserer Dialexis können wir schließen, dass es gewiss nicht von jeder Art von Götterbild gilt, dass sie auf die fürsorglichen Bemühungen von Gesetzgebern zurückgeht So z B spricht der einleitende Teil der Rede von solchen ἀγάλματα, die von verschiedenen Gruppen den Göttern als Anerkennung und Dank für erhaltene Hilfe errichtet oder geweiht worden sein sollen – Seeleute haben die Gewohnheit gehabt, Ruder aufzustellen, Hirten haben dem Pan hohe Fichten oder tiefe Grotten geweiht, usf 211 Ferner erfahren wir, dass gewissen Naturerscheinungen die Rolle von ἀγάλματα zugeteilt worden sein soll: Hohe Bergspitzen seien von den ersten Menschen als „Bilder des Zeus“ bezeichnet worden, Flüsse seien (aus verschiedenen Gründen, etwa wegen ihres Nutzens oder ihrer Schönheit) verehrt worden 212 Die nächstliegende Annahme ist die, dass gemeint ist, die Seeleute, die Hirten, die ersten Menschen (usw ) hätten spontan und von sich aus die ἀγάλματα geweiht, die ihnen am natürlichsten vorkamen bzw die durch die besondere Beziehung zum Leben des Weihenden direkt auf die Art der empfangenen Hilfe hinwiesen Dass dazu erst eine Initiative oder Intervention von weisen Nomothetai notwendig gewesen sei, können wir getrost ausschließen Im Falle der ersten Men-

210

211 212

Diss 2,2 ll 30–48: ἀλλ’ ἡ ἀνθρωπίνη ἀσθένεια ἐξεῦρεν σημεῖα ταῦτα, ἐν οἷς ἀποτιθεμένη τὴν αὑτῆς ἀμβλύτητα ἐξ αὐτῶν ἀναμάττεται τὴν αὖθις μνήμην· οὕτως ἀμέλει καὶ τῇ τοῦ θείου φύσει δεῖ μὲν οὐδὲν ἀγαλμάτων οὐδὲ ἱδρυμάτων, ἀλλὰ ἀσθενὲς ὂν κομιδῇ τὸ ἀνθρώπειον καὶ διεστὸς τοῦ θείου ὅσον οὐρανὸς γῆς, σημεῖα ταῦτα ἐμηχανήσατο, ἐν οἷς ἀποθήσεται τὰ τῶν θεῶν ὀνόματα καὶ τὰς φήμας αὐτῶν οἷς μὲν οὖν ἡ μνήμη ἔρρωται, καὶ δύνανται εὐθὺ τοῦ οὐρανοῦ ἀνατεινόμενοι τῇ ψυχῇ τῷ θείῳ ἐντυγχάνειν, οὐδὲν ἴσως δεῖ τούτοις ἀγαλμάτων· σπάνιον δὲ ἐν ἀνθρώποις τὸ τοιοῦτο γένος, καὶ οὐκ ἂν ἐντύχοις δήμῳ ἀθρόῳ τοῦ θείου μνήμονι καὶ μὴ δεομένῳ τοιαύτης ἐπικουρίας· καὶ οἷον τοῖς παισὶν οἱ γραμματισταὶ μηχανῶνται ὑποχαράττοντες αὐτοῖς σημεῖα ἀμυδρά, οἷς ἐπάγοντες τὴν χειρουργίαν ἐθίζονται τῇ μνήμῃ πρὸς τὴν τέχνην, δοκοῦσιν δή μοι καὶ οἱ νομοθέται, καθάπερ τινὶ παίδων ἀγέλῃ, ἐξευρεῖν τοῖς ἀνθρώποις ταυτὶ τὰ ἀγάλματα, σημεῖα τῆς πρὸς τὸ θεῖον τιμῆς καὶ ὥσπερ χειραγωγίαν τινὰ καὶ ὁδὸν πρὸς ἀνάμνησιν Das zweite Gleichnis hat sein Vorbild bei Platon, Protagoras 326d (dort auf die Gesetze bezogen) Diss 2,1 5–10 Diss 2,1 11–19; 2,8 145–159

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

273

schen dürfen wir annehmen, dass dem Autor hier eine vermutete primitive Epoche vor jeder Tätigkeit irgendwelcher Gesetzgeber überhaupt vorschwebt Das Auftreten von ‚Gesetzgebern‘ in einer anfänglichen Epoche ist zwar nicht an und für sich ein unmöglicher Gedanke (wie aus Platon, Kratylos 389a zu ersehen) Maximos scheint jedoch jede Tätigkeit von νομοθέται mit städtischer Kultur zu verbinden 213 Deshalb glaube ich, dass die Erfindertätigkeit der Gesetzgeber erst mit dem Beginn städtisch organisierter Gesellschaftsstrukturen zu verbinden ist Am Ende von § 1 rückt der städtische Kulturkreis ins Blickfeld Dort war die Frage gestellt worden, ob nun, falls alle anderen Menschen ihre besonderen ἀγάλματα haben,214 gerade diejenigen, die in einer Stadtgemeinschaft leben, ihrerseits – in der (durchaus richtigen) Meinung, dass die Götter keine ἀγάλματα oder ἱδρύματα brauchten215 – die Gottheit ungeehrt lassen würden oder sie vielleicht nur mit Worten huldigen würden Was dann am Ende von § 2 über die νομοθέται und ihre Erfindung gesagt wird, wäre gewissermaßen als Antwort auf diese Frage zu verstehen Es führt kaum zu weit, wenn wir den Schluss ziehen, dass die ἀγάλματα, von denen hier die Rede ist, die menschlich gestalteten Götterbilder sind, und keine anderen Der Gedanke an das städtische Leben fördert die Assoziation gerade zu den anthropomorphen Götterbildern als charakteristischem Bestandteil urbaner Kultur Das Pronomen ταυτί (ταυτὶ τὰ ἀγάλματα), dessen Bezug unklar ist, erklärt sich unter solchen Umständen als assoziativ bedingt Die Funktionen, die den ἀγάλματα zukommen, sind überall dieselben, dagegen träfe also die spezifische Entstehungsgeschichte, die hier skizziert wird, nur auf die anthropomorphen zu Wenn meine Vermutung richtig ist, dass die Tätigkeit der Gesetzgeber erst mit städtischer Kultur verbunden ist und die von ihnen eingeführten ἀγάλματα die anthropomorphen sind, tritt in unserer Rede so etwas wie ein Grundgerüst einer Entwicklungsgeschichte des Gebrauchs von Götterbildern hervor Das betreffende Entwicklungsschema wäre etwa folgendermaßen zu rekonstruieren: Die frühesten

Das Wort kommt in den Dialexeis mehrfach vor, s z B diss   4,9 187: βουλεύεται  … περὶ πόλεως νομοθέτης Vgl 17,2 53–54; 32,19 168 In diss  6,5 131 und 36,6 200 auf Gott übertragen 214 Dass unter τέχναι in § 1 l 20, von denen jede angeblich ihre besondere Art von ἄγαλμα hat, die bildenden Künste zu verstehen seien (so Trapp 1997 a, 18 Anm  4), kommt mir höchst unwahrscheinlich vor Vielmehr muss das Wort, wie auch der Hinweis auf Seefahrer und Bauern im unmittelbar Folgenden nahelegt, sich auf diejenigen Gruppen beziehen, deren charakteristische und gar nicht künstlerisch gestaltete ἀγάλματα einleitend erwähnt wurden (Ruder der Seefahrer usf ) Das Wort τέχνη findet sich bei Maximos en masse und in jedem denkbaren Sinne S z  B im eben angeführten Abschnitt 2,2 l  45, dort von mir mit „Schreibkunst“ wiedergegeben; in 2,3 dreimal: l  49, etwa „Technik“; l  52 „Kunst(geschick)“, l  67, von der (erworbenen) Kunst des Schwimmens, im Gegensatz zur angeborenen Fähigkeit der Fische und Wassertiere (unten 5 4 2 3 , m Anm 233 angeführt) S in unserem Zusammenhang bes diss  20,6 96 f : διὰ τέχνης … ποιμενικῆς τε καὶ αἰπολικῆς καὶ βουφόρβου καὶ ἱπποκόμου … „durch die Fachkenntnis der Schafs- und Ziegenhirten, der Kuhhirten und der Pferdeknechte …“ 215 Dieser Gedanke wird, wie wir gesehen haben, dann noch in § 2 wiederholt

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

Menschen erkennen spontan in den hohen Bergspitzen „Bilder“ des Zeus,216 errichten aber keinerlei besonders hergestellte σύμβολα ihrer Götterverehrung Die vorurbane, hauptsächlich agrare Epoche wählt sich dann andere, teilweise bearbeitete, aber noch nicht der menschlichen Gestalt nachgebildete Ausdrucksformen 217 Erst in der sich zu Städtegemeinden zusammenschließenden Gesellschaft kommt die Sitte auf, Götterbilder in Menschengestalt zu verfertigen Freilich gehört, wie es scheint, diese Form der Götterbilder nicht generell einer bestimmten Zivilisationsstufe an, ja, nicht einmal einer bestimmten sozialen Umgebung, sondern ist, wie aus dem folgenden Abschnitt (§ 3) erhellt und wie auch im letzten Satz der Rede durchscheint,218 spezifischer Ausdruck griechischer Religiosität Menschliche Schwäche (l  34; vgl 31: ἡ ἀνθρωπίνη ἀσθένεια; und besonders 2,10 191 ὑπὸ δὲ ἀσθενείας) machen die Bilder notwendig, aber vereinzelt finden sich Menschen, die ohne diese auskommen Das ist die wahre Elite, wie aus der Feststellung im Folgenden hervorgeht: Diejenigen, die ein starkes Gedächtnis besitzen und deswegen dazu fähig sind, sich mit ihrer Seele geradewegs zum Himmel zu erheben und zu Gott zu gelangen, diese brauchen zweifellos keine Bilder Aber ein solches Geschlecht kommt unter den Menschen nur selten vor, und man würde nie ein ganzes Volk finden können, das sich an Gott erinnert (τοῦ θείου μνήμονι) und diese Hilfe nicht nötig hat 219

Hier wird impliziert, dass ein Dasein, wo gar keine Götterbilder nötig sind, letztendlich ideal wäre, ein Gedanke, der auch später in unserer Rede durchschimmert Gegen Ende der Rede wird mit dem Gedanken an ein imaginäres, fremdes Volk gespielt, „außerhalb unserer Himmelsgegend, eben gerade aus der Erde erwachsen oder von irgendeinem Prometheus geschaffen, ohne Erfahrung vom Leben, von Gesetz und von Rechtsprechung“,220 ein Volk also, das zwar nicht zeitlich, aber im Hinblick auf ihr Entwicklungsniveau dem Urzeitstadium zuzuzählen wäre Es wird die Frage gestellt, ob man gegebenenfalls diesem Volk den Gebrauch von Götterbildern wie den sonst in der Rede besprochenen aufzwingen sollte oder nicht Gesetzt den Fall, dass ein solches Volk existierte und wir vor der Aufgabe stünden, ihm Gesetze zu stiften (νομοθετοῦμεν), dann hätten wir wohl genau überprüfen müssen, ob wir es ihm erlauben sollten, bei jenen natürlichen, ursprünglichen Götterbildern zu bleiben, das heißt nicht vor Elfenbein oder Diss 2,1 11–13: ἐπεφήμισαν δὲ καὶ Διὶ ἀγάλματα οἱ πρῶτοι ἄνθρωποι κορυφὰς ὀρῶν, Ὄλυμπον καὶ Ἴδην, καὶ εἴ τι ἄλλο ὄρος πλησιάζει τῷ οὐρανῷ „Auch weihten die ersten Menschen dem Zeus Bergspitzen als Bilder, wie etwa den Olymp und den Ida und auch andere Berge, die bis in den Himmel ragen “ 217 Die Ruder der Seefahrer, die hohe Fichte der Hirten, den Baumstumpf der Bauern, die Täler und Wiesen der Jäger, 2,1 5–10 218 2,10 198–199 (oben, Anm  197 angeführt) 219 2,2 40–42 Text oben Anm  210 220 Diss 2,9 170–172, Text unten Anm  222 216

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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Gold, auch nicht vor einer Eiche oder einem Zederbaum, einem Fluss oder einem Vogel niederzufallen, sondern vor der aufgehenden Sonne, vor dem leuchtenden Mond, dem gestirnten Himmel, der Erde selbst, der Luft selbst, dem Feuer221 und dem Wasser, oder ob wir ihm die Verehrung von Holzbrettern oder Steinen oder Statuen aufzwingen sollten Aber belassen wir es, wo nun dieser Brauch allen gemeinsam ist, beim Status quo, indem wir die Traditionen über die Götter gelten lassen und an ihren σύμβολα / d h den Götterbildern / ebenso wie auch an ihren Namen festhalten 222

Interessant ist hier der Umstand, dass vorausgesetzt wird, dass eine primitive Menschengruppe in ihrem absoluten Anfangsstadium spontan die genannten αὐτοφυῆ ἀγάλματα, und keine anderen, gewählt hätte 223 Kein Zweifel kann darüber bestehen, dass dieses Verhältnis im Grunde als dem Bildergebrauch überlegen betrachtet wird 224 Schon in § 2 fanden wir angedeutet, dass ein Dasein, wo gar keine Götterbilder nötig wären, letztendlich ideal wäre: Vereinzelt finden sich Menschen, die ohne diese auskommen Entwicklungsgeschichtlich gesehen ergibt sich aus der Reflexion über die vom fiktiven Volk wie selbstverständlich verehrten αὐτοφυῆ ἀγάλματα die Implikation, dass in der vorkulturellen Epoche allein diese Art von Götterbildern bekannt gewesen sei Das stimmt zwar nicht ganz zum Bild, das sich aus § 1 ergibt Demzufolge sollen ja, wie wir gesehen haben, die ersten Menschen dem Zeus hohe Bergspitzen als ἀγάλματα geweiht haben Immerhin kann aus beiden Stellen gefolgert werden, dass der Gebrauch von (mehr oder weniger) bearbeiteten Bildern – Rudern der Seeleute, Baumstümpfen der Bauern – einer späteren Kulturstufe angehört, und aus § 2 ergibt sich, wenn meine Deutung oben korrekt ist, dass die menschengestaltigen Bilder in einer erst darauf folgenden Epoche entstanden sind Wenn dem so ist, dürfen wir auch noch annehmen, dass

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πῦρ πᾶν  – „dem Gesamtfeuer“, d h dem Element, im Gegensatz zum verderblichen irdischen Feuer, das von den Persern verehrt wird (§ 4 72–85; vgl unten Anm  224) Entspr ὕδωρ πᾶν 222 Diss 2,9 169–182: εἰ μὲν γὰρ ἄλλοις τισὶν ἐνομοθετοῦμεν ὑπερορίοις ἀνθρώποις ἔξω τοῦ καθ’ ἡμᾶς αἰθέρος, ἄρτι ἐκ γῆς ἀναφυομένοις ἢ ὑπό τινος Προμήθεως πλαττομένοις, ἀπείροις βίου καὶ νόμου καὶ λόγου, δέοι ἂν ἴσως τοῦ σκέμματος, πότερα ἐατέον τουτὶ τὸ γένος ἐπὶ τῶν αὐτοφυῶν τούτων ἀγαλμάτων, προσκυνοῦντας οὐκ ἐλέφαντα οὐδὲ χρυσόν, οὐδὲ δρῦν οὐδὲ κέδρον, οὐδὲ ποταμὸν οὐδὲ ὄρνιθα, ἀλλὰ τὸν ἥλιον ἀνίσχοντα, καὶ τὴν σελήνην λάμπουσαν, καὶ τὸν οὐρανὸν πεποικιλμένον, καὶ γῆν αὐτὴν καὶ ἀέρα αὐτόν, καὶ πῦρ πᾶν καὶ ὕδωρ πᾶν, καὶ τούτους καθείρξομεν εἰς ἀνάγκην τιμῆς ξύλων ἢ λίθων ἢ τύπων; εἰ δέ ἐστιν οὗτος κοινὸς {ὁ} πάντων νόμος τὰ κείμενα ἐῶμεν, τὰς φήμας τῶν θεῶν ἀποδεχόμενοι καὶ φυλάττοντες αὐτῶν τὰ σύμβολα ὥσπερ καὶ τὰ ὀνόματα Zu den φῆμαι der Götter s oben Anm  208 223 Diese sind natürlich nicht nur ἀγάλματα, sondern, platonischer Lehre gemäß, auch θεοί (vgl diss 11,11 261–262 (Text unten Anm  245); 11,12 277 und 292; Platon, Timaios 39e und 41a; Kratylos 397d; apol 26d; leges 10 886 u a ; Plut tranq. an 477c; Alkinoos didasc c  14 a E ; Porph abst 2,32,2 u a 224 Das wird noch durch die Bemerkung in § 4 bestätigt, wo den Persern vorgeworfen wird, dass sie sich nur um das wilde und zerstörerische Feuer kümmern, aber die milde Erde, die leuchtende Sonne, das schiffbare Meer, die ernährende Luft und den Himmel selbst, diese wahrhaft mächtigen ἀγάλματα, ungeachtet lassen (2,4 76–85)

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

gemeint ist, das anthropomorphe Gottesbild sei mit dem Beginn der Sitte, menschlich gestaltete Götterbilder herzustellen, überhaupt erst aufgekommen Diese Vermutung erhält eine gewisse Stütze in § 3 Die einzige denkbare Alternative wäre, dass das anthropomorphe Gottesbild seinen Ursprung in der Dichtung hätte und von dort auf die Götterbilder übertragen worden wäre, wie im Modell, das „Pheidias“ bei Dion skizziert (oben 5 4 1 1 ) Aber die besonderen Überlegungen, die in § 3 denjenigen zugeschrieben werden, die menschengestaltete Götterbilder zuerst aufgestellt haben sollen, erwecken nicht den Eindruck, als wäre das Konzept schon anderswo in Gebrauch gewesen 225 Jedenfalls gilt auch für das mythologische Narrativ, unabhängig davon, wie seine Entstehung sich zeitlich zum ersten Gebrauch anthropomorpher Götterbilder verhalten mag, dass es in übertragenem Sinne zu verstehen sei und von vornherein so gemeint sei 226 Grundsätzlich hat in den Dialexeis das anthropomorphe Gottesbild nichts mit einem Willen, Gott irgendwie ‚abzubilden‘, zu tun Das Thema der Abbildung Gottes kommt in der 2 Dialexis überhaupt nicht zur Sprache Es findet sich keine Spur einer Polemik gegen ein etwaiges buchstäbliches Verständnis der anthropomorphen Götterbilder, nicht einmal eine Andeutung einer Befürchtung, dass die Menschengestalt der Bilder zu einer solchen Deutung Anlass geben könnte 227 Das Ziel der Rede besteht nicht darin, eine Entwicklungsgeschichte des Gebrauchs von Götterbildern vorzulegen; was sich für diese Thematik ergibt, ist gewissermaßen ein Nebenprodukt, das wir mit etwas gutem Willen als rudimentäre Kulturgeschichte

225 Text unten 5 4 2 3 226 Wie aus diss 4 u a hervorgeht (s hier unten in dieser Anm ) Wohlgemerkt folgt nicht unbedingt aus der Akzeptanz der anthropomorphen Götterbilder, dass es sich so verhalten sollte Es wäre möglich, weiterhin das Götternarrativ mit seinem Oberflächensinn gleichzustellen und es dementsprechend als unmoralisch und götterlästernd abzuweisen Wir haben oben gesehen, dass Dions Pheidias, ungeachtet seiner Überzeugung, dass die anthropomorphe Darstellungsform theologisch einwandfrei sei, nicht bereit ist, Homers Götternarrativ als Träger eines tieferen Sinnes zu betrachten (oben 5 4 1 1 , m Anm   151 und 152) Das mag zwar ein Sonderfall sein, da die Wahl der Rollenfigur, wie a E desselben Abschnitts sowie in 5 4 1 2 betont, die Aussagemöglichkeiten beschränkt Nichtsdestoweniger sollten wir aus der Stellungnahme des „Pheidias“ die Lehre ziehen, dass wir sogar bei nachweislicher Bejahung der anthropomorphen Form uns hüten müssen, ohne ausdrückliche Bezeugung kurzerhand davon auszugehen, dass das Götternarrativ als solches nun auch noch als Vermittler philosophischer Inhalte gilt Vgl oben 5 0 (mit Anm  6) Dass umgekehrt die Allegorese des Götternarrativs die Akzeptanz der Menschengestalt der Götter keineswegs voraussetzt, sondern ihr um Jahrhunderte vorausgegangen ist, habe ich in dieser Untersuchung wiederholt und mit Kraft unterstrichen (s bes 1 4 , 3 2 2 , m Anm 212; 5 0 , u a ) M a W berechtigen Aussagen über den übertragenen Sinn des Götternarrativs wie diejenigen in diss 4 (etwa 4,6 100; 4,8 144–172), in diss 18 (18,5 119–124), in diss 26 (etwa 26,4 98; 26,8 189–202) u a , nicht an sich zur Schlussfolgerung, dass auch noch die anthropomorphe Gestalt der im Narrativ auftretenden Götter als sinnvoll und berechtigt gilt Dass dies der Fall ist, dürfen wir nur deshalb folgern, weil wir aus diss 2 und auch aus diss 8 (s dazu unten 5 4 2 4 ) ersehen können, dass den anthropomorphen Götterbildern wahrheitsvermittelnde Funktion zugeschrieben wird 227 S dagegen diss 8,6 und diss 11,3 (hier unten 5 4 2 4 ) Vgl oben 5 0 , m Anm  5, und 5 4 2 1 Anm  205

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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bezeichnen könnten 228 Es ist nicht unbedingt vorauszusetzen, dass Maximos sich ein exaktes Bild vom zeitlichen Verhältnis der mythologischen Dichtung und dem frühesten Gebrauch von anthropomorphen Götterbildern gemacht hat Auch ist z B unklar, wie etwa die Sonnenscheibe der Paionier (2,8 138–139), der viereckige Stein der Araber (139–41) und die weiße Pyramide der Aphrodite zu Paphos (142–143) in das Schema hereinpassen (falls überhaupt), und ebenso wenig lässt sich ermitteln, wie sich das Aufkommen von ἀγάλματα in Form von Tieren dazu verhält Theoretisch müsste eine Entscheidung im Falle des imaginären Volks, das andere Bilder als die Sonne, den Mond und die Elemente nicht gekannt hätte, zugunsten dessen eigener Präferenzen ausfallen Aber in Praxi darf man sich mit dem Status quo abfinden und die σύμβολα ἄττα τῆς θεῶν τιμῆς (2,9 167) gelten lassen Die allermeisten Menschen brauchen die Götterbilder Die wenigen starken Seelen, die mit einem besonders starken Erinnerungsvermögen begabt sind und deshalb die Hilfe, die die Bilder bieten, nicht nötig haben, sind gewiss bewundernswert, sind aber so selten, dass sie nicht als Standard gelten können Anders wäre es, wenn man ein ganzes Volk finden könnte, das imstande wäre, ohne Götterbilder auszukommen, aber wie wir gesehen haben, lässt sich solches nur als Gedankenexperiment vorstellen Die ἀσθένεια des Menschengeschlechts ist trotz allem konstitutionell und muss berücksichtigt werden, oder, richtiger, ihr muss abgeholfen werden 229 Dazu dienen (richtig verwendet) die Götterbilder In diesem, und nur in diesem, Sinne sind die Götterbilder – und zwar, wie wir aus 2,10 erkennen, alle Götterbilder, nicht nur die menschlich gestalteten – ein „Notbehelf “, um an die Terminologie Geffckens anzuschließen Das bedeutet nun freilich nicht, dass sie – in irgendeiner Weise – abgelehnt werden 230 Die Initiative der νομοθέται wird 228 Dass irgendeine ihrer Tendenz nach einigermaßen zusammenhängende generelle Vorstellung von der Entwicklungsgeschichte der Menschheit unserem Autor vorschwebt, können wir a priori voraussetzen Beachte die positive Aufmerksamkeit, die der kynischen Lebensweise zuteil wird (s z B diss  15,9; 32,9; 36,5 f ), und die hohe Einschätzung der Unschuld der frühen Menschen in diss 4, die, wie die hier besprochenen Bemerkungen in diss 2, auf die entwicklungsgeschichtlichen Präferenzen weisen (Zu diss  4 s auch unten 5 4 2 4 ) 229 Die geistige Schwäche des Menschen, die allein in unserer Rede dreimal betont wird (in § 2 zweimal, dann auch § 10,191; s oben 5 4 2 1 ), ist ein bei Maximos häufig wiederkehrendes Thema Diese Schwäche ist eine unvermeidliche Folge der Verbindung der Seele mit dem Körper (s diss 8,7 152– 157), die zu mildern oder zu überwinden nur den allerwenigsten vergönnt ist, und zwar denen, die mit einer „starken Seele“ (s z B 10,9 240–244) und einem „starken Gedächtnis“ (2,2 37) begabt sind Vgl diss 4,5 85; 11,3 56 (wozu s unten 5 4 2 4 a E ); 39,5 159 Vgl auch unten Anm  271 Andererseits ist der Mensch, ungeachtet dieser Schwäche, dadurch ausgezeichnet, dass er allein auf Erden von Gott die Gabe der Vernunft erhalten hat Das erhebt ihn weit über das Niveau anderer Lebewesen (diss 31,4 80–89; 20,6 110–114) S auch oben 5 4 1 1 , Anm  142 230 Geffcken 1916–1918, 297 Geffcken stellte einige Textstellen – Aëtios Plac 1,6,16 Dox p  297,3–10 (= SVF 2 1009 p  300,33–37), Varro bei Aug civ 7,5 p  280,13–21 ≈ RD fr  225 C (dazu oben 4 1 ; Text dort in Anm  12; 4 2 2 ), Varro bei Aug civ 4,31 p  185,18–27 ≈ RD fr  12 C (dazu oben 4 2 1 ; Text dort Anm  44), Max Tyr diss 2,3 52–70 und 2,9 168–173 sowie Dion or 12,59 (dazu oben 5 4 1 1 ) – zusammen und wollte darin eine bestimmte Anschauung, die er Poseidonios zuschrieb, wieder-

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durchaus gutgeheißen, auch vom philosophischen Standpunkt aus gesehen Die Bilder sind eine vollwertige pädagogische und philosophisch anzuerkennende Orientierungshilfe Das ergibt sich ohne jeden Zweifel schon aus 2,2 und 2,3 Sie vermitteln keinen falschen Inhalt, sie sind nicht in der Absicht eingeführt worden, die Rezipienten irrezuführen, und sie stehen somit nicht zur eigenen Gottesvorstellung der Erfinder in Widerspruch 231 Sie haben insofern nichts mit dem Modell des Aurelius Cotta bei Cicero, nat. deor 1,77, das wir oben Kap  3 2 1 1 studiert haben, gemein Die sapientes, denen Cotta die Erfindung der anthropomorphen Gottesvorstellung zuschrieb, waren nicht darauf aus, das Volk auf den rechten Weg zu bringen; im Gegenteil hofften sie, mit ihrem Konzept die Rezipienten manipulieren zu können Gemeint ist, diese sollen die menschliche Gestalt der Götterbilder buchstäblich verstehen Der beabsichtigte Nutzen war also nicht theologischer Art und galt nicht der Zielgruppe, sondern war allein für die Erfinder selbst bestimmt Die anthropomorphen Götterbilder waren mit anderen Worten nach diesem Modell dafür vorgesehen, den Erfindern selbst einen Vorteil politisch-sozialer Natur zu bringen 5.4.2.3. Dialexis 2: Die Begründung der anthropomorphen Darstellungsform und die Theorie des Schönen In § 3 erfahren wir, dass die Griechen sich einst aufgrund der überragenden Schönheit des menschlichen Leibes für die anthropomorphe Form der Bilder entschlossen hätten Hier entsteht ein Eindruck, dass die menschlich gestalteten Götterbilder den übrigen überlegen wären Das muss nicht unbedingt ein Zeichen sein, dass die urbane Kultur als solche im Verhältnis zu primitiveren Entwicklungsstufen als Fortschritt anzusehen ist In Dialexis 36 wird der Primitivzustand nach kynischer Art idealisiert, und auch

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finden, und zwar die folgende: „Die Bilder sind und bleiben ein Notbehelf für die Menschen, die das Wesen des höchsten Gottes nicht darzustellen vermögen und nun zur menschlichen Gestalt ihre Zuflucht nehmen“ (S  297) Poseidonios selbst habe diesen Notbehelf nicht nötig; für ihn sei „natürlich die bündigste Ablehnung der Götterbilder eine ausgemachte Sache“ (295, mit Hinweis auf Cic nat. deor 2,17,75 – Druckfehler für 2,17,45 – und Strabon 16,2,35 f ) An keiner dieser Stellen ist der Name Poseidonios erwähnt Dass jeder Versuch, die unter sich teilweise recht unterschiedlichen Stellen unter einen Hut zu bringen, zum Scheitern verurteilt ist, sollte nunmehr klar sein Die angebliche Funktion des „Notbehelfs“ – in Wirklichkeit trifft der Begriff auf die Vorstellungen von den Götterbildern, wie sie aus den betreffenden Textstellen sprechen, kaum einmal bedingt zu  – als Kriterium einzuführen, kann nur irreführen, wenn die entscheidenden Distinktionen hinsichtlich der vermeintlichen Urheber, ihrer Absichten und der von ihnen vorgesehenen Empfänger unberücksichtigt bleiben Eine Analyse, die diese Punkte mit beachtet, führt unweigerlich zu dem Ergebnis, dass die betreffenden Textstellen so entscheidende Unterschiede aufweisen, dass sie unmöglich einer einzigen Quelle entstammen können (Vgl oben Anm  179 ) S die Erwägungen, die den Erfindern der anthropomorphen Götterbilder in 2,3 zugeschrieben werden (hier gleich unten im nächsten Abschnitt)

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in unserer Rede schimmert, wie wir gesehen haben, eine Tendenz zur Idealisierung einer Lebensart durch, die derjenigen einer vorkulturellen Epoche nahekommt Die relativ gesehen höhere Wertung der menschlich gestalteten Götterbilder hat mit der besonderen Beziehung, die zwischen Gott und Mensch besteht, zu tun Diese soll dazu beigetragen haben, dass die Griechen sich gerade für diese Darstellungsform entschlossen haben Zunächst heißt es in § 3, „es ist griechische Sitte, die Götter durch die schönsten Mittel, die auf Erden zur Verfügung stehen, zu ehren, und zwar durch reinen Stoff, menschliche Form und perfekte Kunst“ 232 Zusätzlich wird dazu noch eine besondere Begründung, die einst für die Wahl der anthropomorphen Form ausschlaggebend gewesen sein soll, angeführt Das Hauptargument in dieser Begründung wird mit einer für die Dialexeis ungewöhnlich komplexen Argumentation dargelegt Da der exakte Gedankengang heutzutage – im Gegensatz zu früher – allgemein verkannt wird, soll er hier eingehend angeführt und besprochen werden Das Urteil derer, die die Götterbilder menschenähnlich gestalteten, war durchaus vernünftig Falls nämlich die Seele des Menschen Gott am nächsten steht und ihm am ähnlichsten ist, wäre es wohl nicht wahrscheinlich, dass Gott das, was ihm am meisten gleicht, mit einem völlig unpassenden Gehäuse versehen hätte, sondern vielmehr (hat er es) mit einem solchen (versehen), das für die unsterblichen Seelen gut zu tragen, leicht und beweglich sein würde Von allen Körpern (σωμάτων) auf Erden trägt nämlich allein dieser seinen Kopf hoch (ἀνατεῖνον = ἀνατεῖνόν ἐστι), er allein ist stattlich gestaltet, stolz und wohlproportioniert, und weder wegen seiner Größe furchterregend, noch durch seine Mähne schrecklich anzusehen; auch nicht durch sein Gewicht schwerfällig, nicht schlüpfrig aufgrund seiner Glätte, nicht widerprallend wegen seiner Härte, nicht wegen der Kälte seines Körpers kriechend, nicht wegen seiner Körperwärme hitzig, nicht wegen seiner mangelnden Festheit schwimmend; keine Wildheit treibt ihn, rohes Fleisch zu essen, er muss nicht aufgrund von Schwäche Gras essen, sondern er ist harmonisch und kunstvoll seinen eigenen Aufgaben gemäß gestaltet; [den Feigen furchtbar, aber den Guten milde]; kraft seiner Natur schreitet er aufrecht, seine Vernunft verleiht ihm Flügel, die Kunst des Schwimmens hat er sich erwerben können; er lebt von Getreide, bearbeitet die Erde, ernährt sich von Früchten, hat gesunde Farbe, ist anständig, hat ein schönes Gesicht und trägt einen schönen Bart Durch Abbildungen eines solchen Körpers beschlossen die Griechen, die Götter zu ehren 233

232

233

2,3 50–52: ἀλλὰ τὸ μὲν Ἑλληνικόν, τιμᾶν τοὺς θεοὺς τῶν ἐν γῇ τοῖς καλλίστοις, ὕλῃ μὲν καθαρᾷ, μορφῇ δὲ ἀνθρωπίνῃ, τέχνῃ δὲ ἀκριβεῖ Da von „perfekter Kunst“ (τέχνῃ ἀκριβεῖ) die Rede ist, dürfen wir vermuten, dass der „reine Stoff “ (ὕλῃ καθαρᾷ) die Edelmetalle, das Elfenbein und den Marmor bezeichnet, ein interessanter und sprechender Kontrast zur Beurteilung dieser Stoffe von Seiten Plutarchs (fr  158, s dazu oben 5 1 , m Anm  29) Diss 2,3 52–70: Καὶ οὐκ ἄλογος ἡ ἀξίωσις τῶν τὰ ἀγάλματα εἰς ἀνθρωπίνην ὁμοιότητα καταστησαμένων· εἰ γὰρ ἀνθρώπου ψυχὴ ἐγγύτατον (55) θεῷ καὶ ἐμφερέστατον, οὐ δήπου εἰκὸς τὸ ὁμοιότατον αὑτῷ περιβαλεῖν τὸν θεὸν σκήνει ἀτοπωτάτῳ, ἀλλ’ ὅπερ ἔμελλεν ψυχαῖς ἀθανάτοις εὔφορόν τε ἔσεσθαι καὶ κοῦφον καὶ εὐκίνητον μόνον τοῦτο τῶν ἐν γῇ σωμάτων ἀνατεῖνον τὴν κορυφὴν ὑψοῦ, σοβαρὸν καὶ γαῦρον καὶ σύμμετρον, (60) οὔτε διὰ μέγεθος ἐκπληκτικόν, οὔτε διὰ χαίτην φοβερόν, οὔτε διὰ

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Lange Zeit galt als selbstverständlich, dass die syntaktische Struktur des Satzes εἰ γὰρ ἀνθρώπου ψυχή usf so zu verstehen sei, wie meine Übersetzung sie voraussetzt Demnach ist τὸν θεόν der Subjektsakkusativ zu περιβαλεῖν; an Stelle von αὐτῷ, wie in den Ausgaben von Hobein 1910 p  21, Trapp 1994 p  15 und Koniaris 1995 p  22, ist αὑτῷ zu lesen Gemeint ist Gott, und τὸ ὁμοιότατον αὑτῷ, das was ihm am ähnlichsten ist, ist die menschliche Seele, vgl ἀνθρώπου ψυχή im Vorsatz εἰ γάρ … Die Phrase ψυχαῖς ἀθανάτοις (augenscheinlich korrekte Lesart der Handschrift U gegenüber ψυχῆς ἀθανάτοις der Haupthandschrift R) im Relativsatz bezieht sich dementsprechend auf die menschlichen Seelen So hat schon Cosimo de’ Pazzi (Cosmus Paccius) in seiner zum ersten Mal im Jahr 1517 gedruckten lateinischen Übersetzung die Struktur verstanden, und diese Fassung wurde von Stephanus in der Editio princeps (1557) vorausgesetzt, etwas was dort sowohl aus dem aspirierten αὑτῷ (p  223) hervorgeht wie auch aus der (im großen Ganzen aus Paccius übernommenen) Übersetzung, p  288 Soweit ich habe ausfindig machen können, hat zuerst Friedrich Dübners Maximosausgabe von 1840 die bis dahin stets und ohne Diskussion gebrauchte Lesart αὑτῷ durch ein unaspiriertes αὐτῷ ersetzt (τὸ ὁμοιότατον αὐτῷ, p  28) Das bedeutete eine radikale Umdeutung der Syntax des betreffenden Satzes Dübners Wahl signalisiert, dass die Rollen in der Phrase sich genau umgekehrt verhalten wie bis dahin vorausgesetzt worden war: αὐτῷ bezieht sich jetzt auf den Menschen (oder möglicherweise in lockerer Weise auf die Seele des Menschen, ἀνθρώπου ψυχή im Vorangehenden), und das was ihm (ihr) am ähnlichsten sei, müsste dementsprechend Gott sein Demzufolge muss die Phrase τὸν θεόν appositiv zu τὸ ὁμοιότατον αὐτῷ verstanden werden und kann nicht mehr als Subjektsakkusativ zum Infinitiv περιβαλεῖν dienen; als solchen müssen wir ein unbestimmtes ‚man‘ oder ‚wir‘ (= die Menschen im Allgemeinen) denken, oder wir müssen ihn aus der Phrase τῶν τὰ ἀγάλματα εἰς ἀνθρωπίνην ὁμοιότητα καταστησαμένων im vorausgehenden Satz ergänzen, da hier die vermeintlichen Überlegungen dieser Männer wiedergegeben werden 234 Für den Referenten der Phrase ψυχαῖς ἀθανάτοις im folgenden Relativsatz (ἀλλ’ ὅπερ …) ergibt sich aus der Änderung eine entsprechende Umkehrung: Diese Phrase bezieht sich nicht mehr, wie so weit als selbstverständlich galt, auf die menschlichen Seelen, sondern bezeichnet nunmehr die Götter Ausdrücklich klargemacht werden diese Konsequenzen der technisch gesehen minimalen Veränderung in der Dübnerschen Ausgabe freilich nicht; ganz im Gegenteil, denn der Änderung wird in der beigegebenen Übersetzung gar nicht Rechnung getragen Dübner reproduziert im großen Ganzen die Übersetzung βάρος δυσκίνητον, οὔτε διὰ λειότητα ὀλισθηρόν, οὔτε διὰ τραχύτητα ἀντίτυπον, οὔτε διὰ ψυχρότητα ἑρπυστικόν, οὔτε ἰταμὸν διὰ θερμότητα, οὔτε νηκτὸν διὰ μανότητα, οὐκ ὠμοφάγον δι’ ἀγριότητα, οὐ ποιηφάγον δι’ (65) ἀσθένειαν, ἀλλὰ κεκραμένον μουσικῶς πρὸς τὰ αὑτοῦ ἔργα· {φοβερὸν μὲν δειλοῖς, ἥμερον δὲ ἀγαθοῖς,} βαδιστικὸν μὲν τῇ φύσει, πτηνὸν δὲ τῷ λόγῳ, νηκτὸν δὲ τέχνῃ, σιτοφάγον καὶ γεωπόνον καὶ καρποφάγον καὶ εὔχρουν καὶ εὐσταλὲς καὶ εὐωπὸν καὶ εὐγένειον διὰ τοιούτου σώματος (70) τύπων τοὺς θεοὺς τιμᾶν ἐνόμισαν οἱ Ἕλληνες 234 Vgl die Bemerkung von Koniaris 1995 im Apparat zur Stelle, p 22 (ll  50–51)

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von Heinsius (1607 und 1614) in leicht bearbeiteter Fassung; an unserer Stelle liegen keine die Syntax betreffenden Änderungen vor 235 Die drei jüngsten Ausgaben, Hobein, Trapp und Koniaris, schließen sich offensichtlich Dübners Textfassung an Hier wird αὐτῷ gedruckt, und zudem ist die Phrase τὸν θεόν durch Einklammerung mittels Kommazeichen als Apposition zu τὸ ὁμοιότατον gekennzeichnet (wie ausdrücklich von Koniaris vermerkt wird) 236 Die Probleme, die sich durch diese Analyse ergeben, treten in Trapps Übersetzung deutlich greifbar hervor – die angenommene syntaktische Struktur spiegelt sich nur annähernd wider, und über die dunklen Punkte wird einfach hinweggeglitten, etwas was nicht überrascht, denn in Wirklichkeit lässt sich unter diesen Voraussetzungen keine sinnvolle Übersetzung herstellen „If the human soul is something very close to God and like him in nature, it is surely not reasonable to clothe what is most similar to it in an entirely foreign covering One needs instead a form that is light and sufficiently easily moved to make a comfortable garment for immortal souls, the only body on earth that lifts its head up high, proud and splendid in its fine proportions …“ (Trapp 1997 a, 21) Wie wir sehen, wird die Apposition (τὸν θεόν) stillschweigend ausgelassen; unter den vorausgesetzten Bedingungen bleibt die Vergangenheitsform ἔμελλεν im Relativsatz ohne Funktion, und τοῦτο in der Phrase μόνον τοῦτο bleibt unberücksichtigt Mutmaßlich ging die Umdeutung von einem Wunsch aus, einen Sinn herzustellen, nach dem der Hinweis auf die Gottähnlichkeit der menschlichen Seele dazu dient, die Entscheidung für eine anthropomorphe Form der Götterbilder direkt zu begründen 237 Die frühere Deutung befriedigt einen solchen Wunsch nicht, lässt andererseits die syntaktische Struktur gelten und ergibt einen weit besseren Gesamtsinn Der früheren Deutung zufolge dient die Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch nicht unmittelbar als Argument für die menschliche Gestalt der Götterbilder; sie dient

Dübner 1840 p  28: … Quoniam enim deo vicina, deo simillima est anima hominum; minime est probabile rem sui simillimam deformi includi corpore voluisse deum, sed eo potius, quod animam facillime circumlaturum erat immortalem, quod leve futurum et motui aptum. Hoc solum omnium, quae in terra sunt, corporum caput in cœlum attollit, agile, elatum, apte compositum … Heinsius 1614 p  380: Siquidem Deo vicina, Deo simillima est anima hominum. Nec aequum videtur rem sui simillimam deformi includere corpori voluisse Deum: sed quod animam facile circumferret immortalem, leve, motui aptum, quodque solum omnium quae in terra sunt corporum caput in caelum attolleret, venustum, alacre, apte compositum … 236 Koniaris zeichnet sich als einziger Herausgeber dadurch aus, dass er von der syntaktischen Analyse, die seine Fassung voraussetzt, Rechenschaft ablegt (Koniaris 1995 p 22 ad ll  50–51) 237 Johan Jakob Reiske scheint der erste zu sein, der sich für diesen Sinn eingesetzt hat 1774–1775 besorgte Reiske eine Neuausgabe der zuerst i J 1703 und dann in bearbeiteter Fassung i J 1740 erschienenen Maximosausgabe des John Davies (s Trapp 1994 p  XLVII Nr  5–XLIX Nr  7) Während im griechischen Text (pars prima p  133) weiterhin αὑτῷ, nicht αὐτῷ, erscheint, wozu die aus den Ausgaben des Heinsius (1607 und 1614) übernommene Übersetzung stimmt, schlägt Reiske in seinen Animadversiones zur Stelle (pars prima p  489) eine Konjektur vor, die zwar nicht von den Späteren angenommen worden ist, die aber die Änderung von αὑτῷ in αὐτῷ mit enthält Diese Bemerkung Reiskes wird im Apparat von Koniaris angeführt 235

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

diesem Zweck erst indirekt, indem sie die Vorzüglichkeit des menschlichen Körpers begründet, die dann ihrerseits den Grund für die Wahl der anthropomorphen Darstellungsweise bildet Eine kurze Paraphrase des Gedankengangs könnte folgendermaßen aussehen: Falls eine besondere Verwandtschaft der menschlichen Seele mit Gott besteht,238 darf vermutet werden, dass Gott sich darum bemüht hat, ihr eine besonders passende und würdige Hülle zu verleihen. Und dass er dies auch wirklich getan hat, dafür bringen die vielen Vorzüge, die den menschlichen Körper vor allen anderen Körpern auf Erden auszeichnen, den Beweis (womit auch das Postulat von der besonderen Verwandtschaft bestätigt wird). Deshalb haben die Griechen beschlossen, Gott durch Abbildungen gerade dieses Körpers zu ehren Es handelt somit davon, dass die menschliche Gestalt auch für die Götterbilder die passendste und würdigste Form sein müsste Diese Deutung ist, wenn auch nicht hundertprozentig überzeugend, auf jeden Fall im Vergleich mit der anderen und den massiven Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, akzeptabel genug Den klugen alten Griechen die Absicht zuzuschreiben, die Götter irgendwie in eine körperliche Hülle einschließen zu wollen, wie die jüngere Deutung es tut, entbehrt aller Wahrscheinlichkeit Das Verhalten der Erfinder der anthropomorphen Götterbilder wäre in solchem Falle nicht viel besser als die von philosophischer Seite mit Verachtung betrachtete angebliche Neigung der Ungebildeten, die Götterbilder mit den Göttern selbst zu verwechseln Das was leicht und beweglich sein muss, ist natürlich die physische Hülle der unsterblichen Seele des Menschen, nicht etwa die äußere Form der Götterbilder 239 Die lange Aufzählung der Vorzüge (bzw der fehlenden Nachteile) des Menschenkörpers (Z  58 ff ) schießt zugegebenermaßen rasch übers Ziel des Vorhabens und ergießt sich in einen gewissen Leerlauf Aber Ähnliches lässt sich bei Maximos immer wieder feststellen (wie oben 5 4 2 schon betont), und als Preis des Menschen ist das Stück immerhin nicht völlig abwegig Als Liste weiterer für die angebliche Hülle der Götter erwünschter Eigenschaften wäre es dagegen vollends absurd Ich verzichte auf eine Diskussion der weiteren Probleme, die sich aus unterschiedlichen Methoden der Interpunktion des Textes Z 58 ergeben Ich halte es selbst für evident, dass nach εὐκίνητον ein voller Satzschluss vorliegt; mit μόνον τοῦτο fängt die 238 Für die Argumentation ist es nicht wesentlich, ob die richtige Lesart εἰ γὰρ ἀνθρώπου ψυχή … (so R, dem alle Ausgaben nach Davies 1740 hier und auch sonst im Wesentlichen folgen) oder ἡ γὰρ ἀνθρώπου ψυχή lautet (so die Handschrift I, die Hauptvorlage der früheren Ausgaben wie der Übersetzung des Paccius) 239 Eine ausgezeichnete Parallele bietet die mythische Schöpfungsgeschichte des Menschen in diss 36,1 7–11: „Zeus ruft Prometeus zu sich und befiehlt ihm, der Erde eine Bewohnerschaft zuzuteilen, und zwar ‚ein Wesen zweifacher Natur, das im Hinblick auf Einsicht uns Göttern am nächsten kommen soll; sein Körper soll feingebaut sein und aufrecht und wohlproportioniert, mit freundlichem Aussehen, flinken Händen und festem Gang ‘“ Καλεῖ δὲ Ζεὺς Προμήθεα, καὶ αὐτῷ προστάττει κατανεῖμαι τῇ γῇ ἀποικίαν, ζῷον διπλοῦν (ἁπλοῦν R διπλοῦν ist eine Konjektur von Trapp) κατὰ μὲν τὴν γνώμην ἐγγύτατα ἡμῖν τοῖς θεοῖς, τὸ δὲ σῶμα αὐτῷ ἔστω λεπτὸν καὶ ὄρθριον καὶ σύμμετρον, καὶ ἰδεῖν ἥμερον καὶ χειρουργεῖν εὔκολον καὶ βαδίζειν ἀσφαλές

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Beweisführung (s oben) an, die zeigt, dass die Vermutung zutrifft, Gott habe der Ausgestaltung des menschlichen Körpers besondere Mühe gewidmet Das Fehlen einer verbindenden Partikel nach μόνον (Koniaris im Apparat p  22: „fors μόνον “) fällt bei Maximos nicht auf – allein unsere Rede weist schon eine ganze Reihe ähnlicher Fälle auf Die Ausgaben von der Editio princeps (1557) an sind bei Trapp 1994 pp  XLII–LII verzeichnet Von diesen habe ich außer Nr 3 (Claudii Lariot, Leiden 1630, in der der Text von Heinsius 1614 reproduziert wird) und Nr 8 (Neophyti Ducae, Wien 1810, auf Davies bauend) alle eingesehen Die Übersetzung des Paccius, zuerst in Rom 1517 erschienen, kenne ich in der Bearbeitung von Beatus Rhenanus (Basel 1519), die dann unbedeutend verändert von Stephanus in die Editio princeps aufgenommen wurde Die handschriftlichen Varianten, die die Ausgaben aufweisen, je nach dem welcher Haupthandschrift sie folgen, sind an unserer Stelle meist unsignifikant und müssen hier nicht besonders kommentiert werden 240 Wir erinnern uns daran, dass in Dions Olympikos der ‚Ankläger‘ des Pheidias seine Zweifel daran äußerte, ob die Form, die Pheidias dem großen Zeusbild gegeben hatte („die Gestalt eines zwar übermenschlich schönen und großen Mannes, aber immerhin die eines Mannes“, § 52), passend und würdig sei Falls Maximos mit dem Olympikos vertraut gewesen ist und darauf anspielt, was nicht unwahrscheinlich ist,241 mag 2,3 als Antwort auf die Bedenken des Anklägers zu verstehen sein „Pheidias“ reagierte, wie wir gesehen haben, in der Weise auf die Einwände, dass er ausdrücklich erläuterte, wie die menschliche Darstellungsform gerade wegen der Verwandschaft des Menschen mit Gott sich besonders dazu eigne, auf Gott hinzuweisen 242 Eine solche ausdrückliche Erklärung fehlt bei Maximos; jedoch liegt es nahe, zu vermuten, dass die passendste Form auch zugleich als die funktionellste zu verstehen ist  – m a W dass die anthropomorphen Götterbilder effektiver als andere die Aufgaben, die den Götterbildern zukommen, erfüllen können Im Hinblick darauf, dass in § 2 die Erinnerungsfunktion im Zentrum stand, hätte man einen Vermerk über eine besondere Fähigkeit der menschengestaltigen Bilder hinsichtlich dieser Funktion erwartet Auch auf dem Hintergrund anderer Aussagen in den Dialexeis, wo hervorgehoben wird, dass zwischen dem Menschen als schönstem Wesen auf Erden und Gott, dem Begriff dess Schönen selbst, eine besondere Verwandschaft besteht, fällt das Fehlen eines solchen Hinweises auf Vollends eigenartig mutet es an, dass in § 3 der Erinnerungsfunktion überhaupt nicht gedacht wird Es ist, als hätten diese Götterbilder mit der eben erst erläuterten Aufgabe, als Anleitung und Hilfsmittel der Erinnerung an Gott zu dienen, gar nichts zu tun Die Erinnerungsfunktion wird erst im letzten Paragraphen der Rede

240 Vgl oben Anm  238 241 Vgl Trapp 1997 a, 16 sowie Anm  209 oben 242 Oben 5 4 1 1

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

(§ 10) wieder aktualisiert Allein die Aufgabe, die darin besteht, die Götter zu ehren, wird in § 3 erwähnt 243 Wenn wir es uns erlauben, etwas zu spekulieren, können wir uns von 2,10 aus im Rückblick auf 2,3 eine Ahnung verschaffen, kraft welcher Vorzüge die anthropomorphen Götterbilder mit mehr Erfolg als alle anderen Bilder die Erinnerungsaufgabe erfüllen können Wie wir gesehen haben, verbindet nach § 10 ein gemeinsamer Nenner alle Götterbilder: All die Tiere, Pflanzen, Flüsse, Berggipfel und Quellen, all die Bilder aus Gold und Elfenbein und Silber, zu denen die menschliche Schwäche in ihrer Sehnsucht danach, Gottes unergründliche und unerreichbare Natur zu begreifen, ersatzweise Zuflucht nimmt, zeichnen sich durch ihre Schönheit aus Sie sind τὰ παρ’ ἡμῖν καλά 244 Als solche haben sie jeweils Anteil an der „unaussprechlichen und unsterblichen Schönheit“, dem „Schönen an sich“ (diss 21,8 159; 21,7 141; 21,8 176; 9,6 146) Denn, wie es in 11,11 heißt, „auch die Schönheit eines Flusses, die des Meeres und die des Himmels, und die der Götter am Himmel / d h der Himmelskörper / ja, alle Schönheit hier in der Erscheinungswelt fließt aus nie versiegender und reiner Quelle von dort herunter “245 Deswegen vermögen sie auch alle, die Erinnerung an diese ewige Quelle zu erwecken Nun signalisiert der Text in 2,10 in subtiler Weise, dass wir doch wohl nicht alle ἀγάλματα als gleichwertig betrachten sollten In unüberhörbarer Anlehnung an eine Bemerkung im Phaidon (73d) wird der Prozess der Erinnerung, der durch die ἀγάλματα ausgelöst wird, mit den Erlebnissen von Liebenden verglichen, die etwas erblicken, was sie an den Geliebten erinnern Es heißt dort (ll  192–196), dass der Anblick von Bildern (τύποι) des Geliebten „am süßesten“ (ἥδιστον) sei, dass aber auch alles andere, was mit ihm irgendwie assoziiert ist, „süße“ Erinnerung erweckt 246 Es kann kaum Zufall sein, dass im einen Falle der Superlativ steht, im anderen nicht Es liegt doch wohl sehr nahe, hier eine Analogie zwischen den τύποι aus Gold und Elfenbein und Silber, den regelrechten Götterstatuen also, und den παιδικῶν τύποι zu ver-

243 S ll 50–51 τιμᾶν τοὺς θεοὺς ἐνόμισαν; 69–70 … τιμᾶν ἐνόμισαν οἱ Ἕλληνες Die hier beschriebenen Verhältnisse verstärken den Eindruck, dass die zweite Dialexis aus (zwei?) ursprünglich nicht zusammengehörigen Teilen zusammengesetzt worden ist, ohne dass eine endgültige Überarbeitung zustandekam Vgl oben 5 4 2 1 244 Text oben Anm  195 245 Diss 11,11 260–263: καὶ ποταμοῦ κάλλος, καὶ θαλάττης, καὶ οὐρανοῦ, καὶ τῶν ἐν οὐρανοῦ θεῶν, πᾶν τὸ κάλλος τοῦτο ἐκεῖθεν ῥεῖν ἐκ πηγῆς ἀενάου καὶ ἀκηράτου 246 Diss 2,10 192–196: „Genau dasselbe erleben die Liebenden, denen nichts süßer ist als der Anblick von Bildern des Geliebten, denen aber auch eine Leier oder ein Speer, ein Sessel oder eine Rennbahn, ja, überhaupt alles was die Erinnerung an den Geliebten anzuregen vermag, süße Gedanken eingibt Warum sollte ich also weitere Prüfungen der Götterbilder unternehmen oder darüber Vorschriften erteilen?“ usw (Forts oben, m Anm  197) Αὐτὸ ἐκεῖνο τὸ τῶν ἐρώντων πάθος, οἷς ἥδιστον μὲν εἰς θέαμα οἱ τῶν παιδικῶν τύποι, ἡδὺ δὲ εἰς ἀνάμνησιν καὶ λύρα καὶ ἀκόντιον καὶ θῶκος που, καὶ δρόμος, καὶ πᾶν ἁπλῶς τὸ ἐπεγεῖρον τὴν μνήμην τοῦ ἐρωμένου Τί μοι λοιπὸν ἐξετάζειν καὶ νομοθετεῖν ὑπὲρ ἀγαλμάτων;

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muten, während die Pflanzen und Flüsse und Berggipfel und Quellen sich auf gleicher Stufe mit der Leier, dem Speer usw befinden sollen Und jeder, der imstande gewesen ist, die Anspielung auf den Phaidon zu verstehen,247 wird auch trotz des Fehlens eines ausdrücklichen Hinweises zur Einsicht gekommen sein, das der Anteil am Schönen, der den Pflanzen und Flüssen usw zukommt, ungleich geringer sein müsste als der des Menschen Darüber kann außerdem auch anderswo in den Dialexeis nachgelesen werden So erfahren wir z B aus diss 21,8: …  die unaussprechliche und unsterbliche Schönheit läuft zunächst durch den Himmel und die Himmelskörper, und wenn sie sich dort ergießt, bleibt sie noch ungeschwächt, ungemischt und vollkommen Aber wenn sie sich vom Himmel zu dieser Welt weiter senkt, wird sie abgestumpft und geschwächt … Von dieser Schönheit mag ein Teil, wenn auch nur ein äußerst unscharfer und schwacher, in einen schönfließenden Fluss, eine wohlsprießende Pflanze und in ein Pferd von der edelsten Rasse einfließen Falls aber darüber hinaus ein bedeutenderer Teil davon auf Erden gekommen ist, dann erkennt man ihn nicht anderswo als im Menschen, dem schönsten und intellektuellsten aller irdischen Wesen, der mit einer Seele begabt ist, die mit dem Schönen an sich verwandt ist 248

So ist nicht nur die menschliche Seele Gott am ähnlichsten und am nächsten – auch die äußere Gestalt des Menschen ist wegen seiner überragenden Schönheit enger mit Gott, der Quelle der Schönheit, als jede andere Erscheinung der Erde verbunden Seine Schönheit ist ein κάλλος νοερόν 249 Kein Wunder, dass die alten Griechen beschlossen,

247 Dieselbe Allusion in kürzerer Form in 10,7 174–175 248 Diss 21,8 159–163; 170–176 (der Text ist in Z  173 verderbt; der Sinn kann nur so sein wie in der Übersetzung oben ergänzt, d h „ein bedeutenderer Teil“ oder dgl ): … τὸ κάλλος τὸ ἄρρητον καὶ ἀθάνατον ἔρχεται μὲν πρῶτον δι’ οὐρανοῦ καὶ τῶν ἐν αὐτῷ σωμάτων, καὶ εἰσπεσὸν ἐκεῖ, ἀκραιφνὲς μένει καὶ ἀμιγὲς καὶ ὁλόκληρον· ἐπειδὰν δὲ ὑπερκύψῃ τοῦ οὐρανοῦ εἰς τὸν δεῦρο τόπον, ἀμβλύνεται καὶ ἀμαυροῦται … Τοῦ δὲ κάλλους τούτου ἔλθοι μὲν ἄν τις μοῖρα καὶ ἐπὶ ποταμὸν εὐροώτατον καὶ ἐπὶ φυτὸν εὐβλαστότατον καὶ ἐπὶ ἵππον γενναιότατον, ἄλλ’ ὅτι περ κάλλους ἀργότατον καὶ ἀμβλύτατον· εἰ δέ τις ἐστὶν αὐτοῦ ἐπιφοιτῶσα τὴν γῆν, ἴδοις ἂν ταύτην οὐκ ἄλλοθι ἢ ἐν ἀνθρώπῳ, τῷ καλλίστῳ καὶ νοερωτάτῳ γηΐνων σωμάτων καὶ τῷ ψυχῆς μεμοιραμένῳ συγγενοῦς αὐτῷ τῷ καλῷ Vgl auch diss 11,11 257–263 249 Die Vernunft, die Gabe Gottes (diss 20,6 113: λόγον δὲ αὐτοῖς θεὸς ἔδωκεν), die der Mensch allein von allen Wesen besitzt, spielt in diss 2 eine untergeordnete Rolle Aber zwischen all den anderen Vorzügen, die in 2,3 aufgezählt werden, wird immerhin darauf hingewiesen, dass der Mensch πτηνὸν τῷ λόγῳ sei (l  67) Dass die Vernunft ein konstitutives Element der Nähe zu und Ähnlichkeit mit Gott ausmacht, geht an vielen anderen Stellen der Dialexeis hervor S etwa diss 6,4 98– 104: … ἡ τοῦ ἀνθρώπου ψυχὴ τὸ εὐκινητότατον οὖσα τῶν ὄντων καὶ ὀξύτατον, κεκραμένη ἐκ θνητῆς καὶ ἀθανάτου φύσεως, κατὰ μὲν τὸ θνητὸν αὑτῆς (so z B Heinsius; αὐτῆς Trapp u a ) ξυντάττεται τῇ θηριώδει φύσει, καὶ γὰρ τρέφεται καὶ αὔξει καὶ κινεῖται καὶ αἰσθάνεται· κατὰ δὲ τὸ ἀθάνατον τῷ θείῳ {καὶ} ξυνάπτει, καὶ γὰρ νοεῖ καὶ λογίζεται καὶ μανθάνει καὶ ἐπίσταται „… die Seele des Menschen ist von allen Wesen das leichtbeweglichste (vgl εὐκίνητον καὶ κοῦφον in 2,3 57–58) und schnellste / oder ‚scharfsinnigste‘ / Sie ist eine Mischung aus sterblicher und unsterblicher Natur: Im Hinblick auf das Sterbliche in ihr gehört sie der Tiergattung an, denn sie ernährt sich, wächst, bewegt sich und besitzt Wahrnehmungsvermögen; im Hinblick auf ihren unsterblichen Teil ist sie mit

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diese Gestalt für die Götterbilder zu verwenden Aus 2,3 ist zu schließen, dass diese Art von Götterbildern besser als andere geeignet ist, die Ehrenfunktion zu erfüllen In 2,10 ahnen wir, bei aller Anerkennung der ἀγάλματα fremder Kulturen, dass die τύποι aus Gold, Elfenbein und Silber (d h diejenigen, die mit der schönsten Form ausgestattet sind und aus den schönsten und reinsten Stoffen hergestellt sind) letztendlich auch die Aufgabe, an Gott – das Schöne an sich oder die Quelle aller Schönheit – zu erinnern, effektiver erfüllen 5.4.2.4. Die anthropomorphe Darstellungsweise außerhalb der 2. Dialexis Ein kleiner Abschnitt der 8 Dialexis verdient unsere Aufmerksamkeit, da hier die anthropomorphe Darstellungsweise kurz ins Blickfeld rückt Was uns dabei interessiert, ist der Umstand, dass ausdrücklich klargemacht wird, dass mit der traditionellen Art, die Götter in Menschengestalt darzustellen, ein übertragener Sinn vermittelt wird Auch wenn wir leider nicht erfahren, worin dieser Sinn besteht, bringt uns die Stelle eine Bestätigung dessen, was wir aus der 2 Dialexis herausgelesen haben, nämlich dass die anthropomorphen Götterbilder nicht einfach nur als „Notbehelf “ für einfache Seelen zu verstehen sind, sondern selbst philosophisch signifikant sind 250 Auch in anderer Hinsicht ergänzt diese Stelle diss 2: Hier, in 8,6, wird die buchstäbliche Deutung der menschlich gestalteten Götterbilder ausdrücklich abgelehnt 251 Vom berühmten Daimonion des Sokrates ausgehend untersucht die 8 Dialexis das Wesen und die Aufgaben der Daimones 252 Zu den Daimones werden hier auch diejenigen Götter gezählt, die in den homerischen Gedichten in den Kampf treten oder einzelnen Helden beistehen bzw entgegentreten 253 Bei Homer – so diss  8 – tritt das Daimonion, anders als im Falle des Sokrates, in vielfacher Form und in vielfacher Weise und durch verschiedene Stimmen auf: … bist du der Meinung, dass Athena und Hera und Apollon und Eris und wer sonst bei Homer als δαίμων gilt, existieren? Ja, du sollst nicht glauben, dass meine Frage gilt, ob du dir Athena so vorstellst, wie sie von Pheidias – in keiner Weise schlechter als in den homerischen Gedichten – dargestellt worden ist, d h als eine schöne junge Frau mit blauen Augen, von stattlicher Größe, (l  120) mit der Ägis ausgestattet, Helm auf dem Kopf, Speer dem Göttlichen verbunden, denn sie besitzt Vernunft, überlegt, lernt und versteht …“ Vgl auch 36,1 7–9, oben Anm  239 angeführt 250 Vgl oben 5 4 2 2 a E , m Anm  230 251 Vgl oben Anm 227 und unten Anm 256 a E 252 S dazu Trapp 2007 a, 474 f 253 Diss 8,5–6 Homerischer Sprachgebrauch bietet dafür eine gewisse Stütze: In Il 3,420 wird Aphrodite als δαίμων bezeichnet, und die Phrase μετὰ δαίμονας ἄλλους Il  1,222 dürfte sich auf weitere Olympier (neben Athena) beziehen Zum Begriff δαίμων und seinem Sinn bei Homer s Brenk 1986, 2072–2082

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und Schild in den Händen Glaube auch nicht, dass ich wissen will, ob du meinst, Hera sei so, wie Polykleitos sie den Argeern vorführte: weißarmig, mit Elfenbeinellbogen und holdem Gesicht, schöngekleidet, wie eine Königin auf goldenem Throne sitzend Und auch nicht, ob dir Apollon so sei, wie ihn Maler und Bildhauer darstellen, (125) d h ein junger Mann, bis auf das kurze Oberkleid nackt, mit dem Bogen bewaffnet und mit gespreizten Beinen wie im Rennen Nein, das sind nicht die Fragen, die ich stelle, denn ich glaube nicht, dass du so ungeschickt darin bist, die Wahrheit zu erschließen, dass du nicht imstande wärest, die verhüllte Darstellungsweise (τὸ αἴνιγμα) in Klartext umzuwandeln Vielmehr gilt meine Frage, ob du der Meinung bist, dass diese Namen und diese Figuren (σώματα, „Körper“) in Wirklichkeit auf gewisse göttliche Mächte anspielen (αἰνίττεσθαι), die den glücklichsten Menschen im wachen Zustand wie im Schlaf beistehen 254

Die traditionellen Darstellungsformen gelten als Ainigma, das eine Wahrheit enthält, die in Klartext (λόγος) umzuwandeln ist Sowohl die Namen der Götter255 wie ihre herkömmlichen Formen (σώματα) sind dazu da, um auf bestimmte göttliche Mächte und ihre Wirkungsart hinzuweisen 256 Wie wir gesehen haben, gab die 2 Dialexis zu verstehen, dass die Götterbilder im Prinzip für alle da seien, nur dass einige wenige sie nicht brauchen Die Wortwahl in 8,6 ‒ αἴνιγμα, αἰνίττεσθαι – erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, als wären die ὀνόματα und σώματα der Götter bzw der Götterstatuen eher für eine eingeweihte Elite vorgesehen, da das Wortfeld des Rätsels, das hier zur Verwendung kommt, sonst so häufig einen versteckten Sinn signalisiert, von dem gilt, dass er nicht jedem zugäng-

254 Diss 8,6 114–131: …  ἡγεῖ τι εἶναι τὴν Ἀθηνᾶν καὶ τὴν Ἥραν καὶ τὸν Ἀπόλλωνα καὶ Ἔριν, καὶ ὅστις ἄλλος δαίμων Ὁμηρικός; μή με οἴου πυνθάνεσθαι εἰ τοιαύτην ἡγεῖ τὴν Ἀθηνᾶν οἵαν Φειδίας ἐδημιούργησεν, οὐδὲν τῶν Ὁμήρου ἐπῶν φαυλοτέραν, παρθένον καλήν, γλαυκῶπιν, ὑψηλήν, (120) αἰγίδα ἀνεζωσμένην, κόρυν φέρουσαν, δόρυ ἔχουσαν, ἀσπίδα ἔχουσαν· μηδὲ αὖ τὴν Ἥραν οἵαν Πολύκλειτος Ἀργείοις ἔδειξεν, λευκώλενον, ἔλεφαντόπηχυν, εὐῶπιν, εὐείμονα, βασιλικὴν, ἱδρυμένην ἐπὶ χρυσοῦ θρόνου· μηδέ γε αὖ τὸν Ἀπόλλωνα οἷον γραφεῖς καὶ δημιουργοὶ εἰκάζουσιν, (125) μειράκιον γυμνὸν ἐκ χλαμυδίου, τοξότην, διαβεβηκότα τοῖς ποσὶν ὥσπερ θέοντα οὐ τοῦτο ἐρωτῶ, οὐδὲ ἡγοῦμαί σε φαῦλον εἶναι τἀληθῆ εἰκάζειν, ὥστε μὴ μεταβάλλειν τὸ αἴνιγμα εἰς λόγον· ἀλλ’ εἰ τῷ ὄντι ἡγεῖ ταυτὶ τὰ ὀνόματα καὶ τὰ σώματα αἰνίττεσθαί τινας δαιμονίους δυνάμεις καὶ (130) συνισταμένας τῶν ἀνθρώπων τοῖς εὐμοιροτάτοις καὶ ὕπαρ καὶ ὄναρ 255 Diese Bemerkung bestätigt den in diss 2 vorausgesetzten, aber nie ausdrücklich ausgesprochenen Umstand, dass die Götternamen eine besondere Signifikanz tragen Wie wir gesehen haben (oben 5 4 2 2 , m Anm  208), wird in der 2 Dialexis festgestellt, dass die Götterbilder u a dazu dienen, die ὀνόματα καὶ φῆμαι der Götter festzuhalten (2,2 37; 2,9 181; Text oben Anm  210 und 222) 256 Trapps Bemerkung in der Übersetzung zur Stelle (1997  a,  74, Anm   28) ist verfehlt: „With the scornful view of the artistic representations as a guide to the nature of the divine adopted here contrast Or 2 3 and Dio Or 12 39–83 “ Um eine Geringschätzung der künstlerischen Darstellungen der Götter handelt es sich nicht Was herabsetzend betrachtet wird, ist allein die naive Akzeptanz der anthropomorphen Darstellungsweise als buchstäblich Entsprechendes gilt für den inhaltlich ähnlichen Abschnitt diss 4,4 64–81 (wo es darum geht, dass weder bei Homer noch bei Platon die Götterszenen wortwörtlich zu nehmen sind Zu diss  4 s noch hier im Folgenden; s außerdem diss 11,3 44–55, unten a E dieses Abschnitts)

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lich sei, sondern allein von Experten entziffert werden könne So spricht Cornutus am Ende seiner Epidrome die Hoffnung aus, dass sein Schüler nunmehr imstande sein werde, die scheinbar sagenhaften Traditionen korrekt zu deuten, nachdem diese, in Wirklichkeit die Reste der σύμβολα καὶ αἰνίγματα der Alten, im Vorangehenden erläutert worden seien 257 Nun ist die Lage gerade bei Maximos nicht ganz dieselbe Erstens stehen αἴνιγμα und αἰνίττεσθαι wiederholt bei ihm für jede übertragene oder bildliche Ausdrucks- oder Darstellungsweise So bezieht sich αἰνίττεσθαι in 5,1 17 und 20 auf die moralische Bedeutung der Sage von Midas und dem Gold und in 32,1 4 auf die Moral von Tierfabeln Um komplizierte Inhalte, deren Entschlüsselung philosophische Erfahrung verlangt, handelt es sich hier nicht Dass αἴνιγματα ein für die Dichtung charakteristischer Zug sind, erfahren wir in mehreren Dialexeis; diese gelten jedoch nicht als schwer zugänglich Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht diss 17, in der über die Gründe reflektiert wird, die Platon dazu bewegt haben können, in seinem Staat Homers Dichtung nicht zuzulassen An sich könne die Dichtung, und zwar namentlich das Götternarrativ Homers, in wertvoller Weise die Vielen (τὰς τῶν πολλῶν ψυχάς, l 116) psychologisch beeinflussen, heißt es dort Wir erfahren außerdem, dass diese dazu imstande seien, zu erkennen, dass die Dichtung in Rätseln spreche, und sogar vom eigentlichen Sinne dieser Rätsel eine Ahnung gewinnen könnten Platons Entscheidung sei damit zu erklären, dass in einer genau geplanten Gesellschaft wie derjenigen seiner Politeia kein Bedarf eines solches Heilmittels (φάρμακον) vorliege 258 In der 4. Dialexis, die die Art der Dichter, die Götter darzustellen, mit der der Philosophen vergleicht und in für Maximos typischer Weise, die wir mutatis mutandis aus der 2  Dialexis wiedererkennen, zu dem Schluss kommt, dass sie beide dasselbe Anliegen verfolgen und somit beide anzuerkennen sind, gilt der Mythos mit seinen αἰνίγματα als die frühere, d h vorphilosophische, Methode, Wahrheit über die Götter zu vermitteln Ähnlich wie die Ammen in erzieherischer Absicht den Kleinkindern Geschichten erzählen, habe sich der Mythos als pädagogische Darstellungsweise in früheren Zeiten bewährt, wo die Seelen der Menschen noch unschuldig und einfältig gewesen seien 259 Das mythologische Narrativ sei demnach von den Dichtern deshalb einge257 Cornutus 35,7 1514 ff Vgl oben Kap  4 0 , m Anm 3 258 Diss 17,4 Beachte besonders ll 117–122: Τοῦτο γάρ τοι δύναται ποιητοῦ λόγος ἐμπεσὼν ἀκοαῖς τεθραμμέναις κακῶς, περιβομβεῖν αὐτὰς καὶ μὴ παρέχειν σχολὴν διαπιστεύειν τοῖς εἰκῇ θρυλουμένοις λόγοις, ἀλλ’ εἰδέναι μὲν ὅτι ποιητικὴ πᾶσα αἰνίττεται, καταμαντεύεσθαι δὲ μεγαλοπρεπῶς κατὰ τὴν θεῶν δίκην „Denn wenn Dichtung auf schlecht erzogene Ohren trifft, vermag sie diese mit ihren Tönen zu erfüllen und den Raum dafür, den willkürlich zirkulierenden Vorstellungen Glauben zu schenken, einzuschränken, um stattdessen die Einsicht zu erwecken, dass alle Dichtung in Rätseln spricht, und die eigentliche, erhabene Meinung der Rätsel, wie sie sich für die Götter geziemt, erahnen zu lassen “ (Wie meine Übersetzung deutlich erkennen lässt, ist der Satzbau nicht unproblematisch; er ist auch dementsprechend von mehreren Herausgebern in Frage gestellt worden ) 259 Diss 4,3 51–55  … ἡ ψυχὴ πρότερον μὲν δι’ ἁπλότητα καὶ τὴν καλουμένην ταύτην εὐήθειαν ἐδεῖτο φιλοσοφίας μουσικῆς τινος καὶ πρᾳοτέρας, ἣ διὰ μύθων δημαγωγήσει αὐτὴν καὶ μεταχειριεῖται, καθάπερ αἱ τίτθαι τοὺς παῖδας διὰ μυθολογίας βουκολοῦσιν „… die Seele brauchte früher wegen

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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führt worden, weil es durch seine reizvolle und unterhaltende Form leicht zugänglich sei 260 Nachdem die Menschen aber spitzfindiger und weniger leichtgläubig geworden seien, hätten sie den mythischen Umschreibungen (αἰνίγματα) gegenüber Ungeduld und Misstrauen gespürt und den darin enthaltenen philosophischen Sinn bloßgelegt und diesen nunmehr bar seines früheren Schmucks weitergegeben 261 Aber parallel zu dieser Sehweise, nach der die Dichter deshalb ihr Anliegen in αἰνίγματα gekleidet hätten, weil sie die Aufnahme des zu vermittelnden Inhalts erleichtern wollten, schimmert auch teilweise die entgegengesetzte Vorstellung von der Funktion des Göttermythos durch, nämlich die, dass er dazu da sei, den Zugang zur eigentlichen Wahrheit zu erschweren oder jedenfalls zu verzögern Er soll verfremdend wirken und dadurch die Neugier des Menschen erwecken und ihn dazu anregen, hinter der schwerverständlichen Hülle den wahren Sinn durch Nachdenken aufzuspüren 262 Das

ihrer Schlichtheit und ihrer sogenannten Einfalt eine schönklingende und einschmeichelndere Philosophie, die sie durch Sagen fesseln und anleiten konnte, ähnlich wie die Ammen die Kinder mit Märchen füttern “ Die Märchen, die die Ammen den Zöglingen erzählen, sind natürlich, wie sonst in ähnlichem Zusammenhang (Dion or 4,74; 72,13; Strabon 1,2,8; Plut non posse suav. vivi 1105b), pädagogische Sagen, die durch abschreckende bzw ermunternde Züge wirken sollen Die Kinder sollen in ihrer Einfalt die schreckenserregenden Gestalten und Untiere bzw die Heldentaten, durch die diese überwunden werden, und anderes mehr, was die Ammen ihnen erzählen mögen, für bare Münze nehmen Vgl wie Sokrates bei Platon, Resp 2 377a, urteilt, dass gewisse Sagen „im großen Ganzen lügenhaft sind, aber dennoch einiges Wahre enthalten“ (ὡς τὸ ὅλον εἰπεῖν ψεῦδος, ἔνι δὲ καὶ ἀληθῆ) und deswegen in erzieherischer Absicht zulässig seien; dies im Gegensatz zu den völlig unwahren Göttergeschichten von Uranos, Kronos usw , die er bekanntlich verbieten wollte, gleichgültig ob sie einen Hintersinn hätten oder nicht, ebenda 377e–378e Gemeint ist also mit den Ammenmärchen (l  55) gerade nicht das mythologische Götternarrativ, das ja eben nicht buchstäblich verstanden werden soll Ansonsten handelt es sich aber in diss  4 um das Götternarrativ, den Mythos als μηχανὴ ἐν τοῖς θείοις λόγοις (4,6 101) 260 Diss 4,6 109: δημοτερπῆ τέχνην „eine Kunst, die dem Volk zusagt“ Vgl 4,6 113 f , wonach ein Dichter „anmutig zu hören ist und dem Volk gefällt“, ἄκουσμα ἁβρὸν καὶ δήμῳ φίλον 261 Diss 4,3 55–60: προϊοῦσα δὲ εἰς δεινότητα καὶ ἀνδριζομένη καὶ ὑποπιμπλαμένη ἀπιστίας καὶ πανουργίας, καὶ τοὺς μύθους διερευνωμένη καὶ οὐκ ἀνεχομένη τῶν αἰνιγμάτων, ἐξεκάλυψέν τε καὶ ἀπέδυσεν φιλοσοφίαν τοῦ αὑτῆς κόσμου καὶ ἐχρήσατο γυμνοῖς τοῖς λόγοις „Nachdem die Seele des Menschen aber eine gewisse Gewandtheit erreicht hatte und nun kühn und von Misstrauen und Spitzfindigkeit erfüllt die Sagen zu durchforschen begann und die αἰνίγματα nicht mehr akzeptierte, deckte sie die Philosophie auf und beraubte sie ihres Schmucks und bediente sich der Rede ohne Einkleidung “ 262 Diss 4,5 91–92; 94–96: Τί γὰρ ἂν ἄλλο εἴη μύθου χρεία λόγος περισκεπὴς ἑτέρῳ κόσμῳ  …; θρασεῖα γὰρ οὖσα ἡ ἀνθρωπίνη ψυχὴ τὰ μὲν ἐν ποσὶν ἧσσον τιμᾷ, τοῦ δὲ ἀπόντος θαυμαστικῶς ἔχει· καταμαντευομένη δὲ τῶν οὐχ ὁρωμένων καὶ θηρεύουσα ταῦτα τοῖς λογισμοῖς, μὴ τυχοῦσα μὲν σπεύδει ἀνευρεῖν, τυχοῦσα δὲ ἀγαπᾷ ὡς ἑαυτῆς ἔργον „Welches ist der Nutzen des Göttermythos, falls nicht als fremdartig geschmückte Darlegung zu dienen  …? Die menschliche Seele schätzt in ihrer Verwegenheit das weniger, was ihr vor den Füßen liegt, aber das was fernliegt, betrachtet sie mit Staunen Das, was sie nicht sieht, erahnt sie, und versucht es durch Überlegung zu fangen; hat sie es nicht, ist sie eifrig, es zu finden; wenn sie es hat, liebt sie es als wäre es ihr eigenes Werk “ Vgl 4,6 104–106: καὶ χειραγωγοῦντας (scil τοὺς μύθους) τὴν ψυχὴν ἐπὶ τὸ ζητεῖν τὰ ὄντα, καὶ διερευνᾶσθαι περαιτέρω … „und leiten die Seele dazu an, die Wirklichkeit zu suchen und weiter zu erforschen …“

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

ist eine Definition, die eher zu verstehen gibt, dass nicht jedermann dazu fähig sei, den Sinn in seiner vollen Weite aufzudecken 263 Wie immer auch das αἴνιγμα der anthropomorphen Götterbilder in diss 8,6 zu verstehen ist, dürfen wir also nicht a priori vom Gebrauch des Worts auf eine ‚aussperrende‘ Funktion der Götterbilder schließen Ihre wahre Bedeutung ist nicht mit Notwendigkeit einer beschränkten Rezipientengruppe vorbehalten Dass sie einen gewissen mystischen Inhalt vermitteln sollen, darf ihnen aber nicht abgesprochen werden Vergleichen wir mit diss 2, der zufolge die ἀγάλματα um der großen Menge willen eingeführt worden sein sollen – während die wahre Elite sie nicht braucht! – und zwar in der Absicht, den Kontakt mit der übersinnlichen Welt zu fördern, erscheint der Gedanke eines die Gedankentätigkeit anregenden, aber niemanden exkludierenden αἴνιγμα letztendlich nicht so abwegig 264 Dass Maximos sich in der 2 Dialexis darum bemüht, die Waage zu halten zwischen einer zu elitistischen und einer zu populistischen Behandlung des Themas Götterbilder steht jedenfalls fest Abschließend sei auf eine Stelle hingewiesen, in der ähnlich wie in 8,6 der anthropomorphen Darstellungsweise eine gewisse wenn auch nur kurze Aufmerksamkeit gewidmet wird Es handelt sich um diss 11,3 44–59, bes 55 ff Es wäre lächerlich, sagt der Text, falls wir vor die Frage gestellt, wie wir uns Gott vorstellen, ihn vollen Ernstes in homerischen Wendungen beschreiben würden, und seien sie noch so eindrucksvoll (Hier folgt eine Anspielung auf die Iliasverse 1,528–530, mit denen wir oben 5 4 1 zu tun gehabt haben) 265 Der Hohn, der hier zum Ausdruck kommt (καταγέλαστος ἡ ἀπόκρισις, l  53), trifft, genau wie es in 8,6 der Fall war, das buchstäbliche Verständnis der anthropomorphen Darstellungsweise, und nicht die Darstellungsweise als solche 266 263 Bei Ps Plutarchos, De Homero 2,92, wird den αἰνίγματα καὶ μυθικοὶ λόγοι der Dichter, besonders denen Homers, ausdrücklich eine zweifache Funktion zugeschrieben, insofern als sie einerseits den Lernbegierigen zur Suche nach der Wahrheit anspornen sollen, andererseits aber auch verhindern sollen, dass die Unverständigen dazu Zugang gewinnen (s oben 3 2 1 2 ) In der 4 Dialexis des Maximos wird die doppelte Wirkungsart des Mythos nicht ausdrücklich mit verschiedenen Empfängergruppen verbunden Zur Rolle der Götterbilder bei Ps Plutarch (c  113), die auf den ersten Blick der ihnen von Maximos in diss 2,2 zugeschriebenen Funktion verwandt anmutet, aber nichtsdestoweniger sich wesentlich davon unterscheidet, s ebenda 264 Eine interessante Parallele zu den bildlichen Darstellungen und ihrem αἴνιγμα in diss 8,6 scheint mir Dion or 63,7 zu bieten Dort werden Darstellungen der Tyche mit verschiedenen Attributen (Globus, Füllhorn, Steuerruder, Messer) als τὰ τῶν παλαιῶν αἰνίγματα bezeichnet Nichts deutet darauf, dass die Alten damit den übertragenen Sinn, die Tyche mit ihren jeweiligen Attributen vermitteln sollte, irgendjemandem in irgendeiner Weise hätten vorenthalten wollen Nicht unähnlich liegen die Dinge bei Plutarch: Die rätselhafte oder verschlüsselte Darstellungsform des αἴνιγμα ist bei ihm nicht unbedingt als Aussperrungsmechanismus zu verstehen, wie Hirsch-Luipold betont (2002, 133) 265 Angeführt in Anm  128 S auch 5 4 1 1 , m Anm 154 266 Wie Watson 1994, 4787 irrig meint (Maximos „says (XI 3) that even Homer’s famous description of Zeus in Iliad I 528 (the description which is constantly quoted in the comparison of Homer and Phidias) is ridiculously inadequate“, meine Hervorhebung) Ein kurzer Blick auf diss 41,2 50 (wo

5 4 Sinn und Funktion des anthropomorphen Gottesbildes in der Popularphilosophie

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Leider wird die Aussage in dem unmittelbar folgenden Text durch eine Lücke verdunkelt, und die vorgeschlagenen Ergänzungen vermögen mich nicht zu überzeugen Der betreffende Satz lautet, mit der Ergänzung von Hobein (p  130 f ): Πάντα γάρ που τὰ τοιαῦτα ἀπορίᾳ ὄψεως καὶ ἀσθενείᾳ δηλώσεως καὶ γνώμης ἀμβλύτητι, ἐφ’ ὅσον δύνανται ἕκαστοι ἐξαιρόμενοι τῇ φαντασίᾳ πρὸς τὸ κάλλιστον δοκοῦν καὶ φιλόσοφοι καταμαντεύονται

Es ist nicht möglich, in einer deutschen Übersetzung die Satzstruktur exakt wiederzugeben, aber ein Versuch sei hier gewagt, den Sinn, so wie ich ihn verstehe, zu vermitteln: (Es wäre eine lächerliche Antwort, und solltest du Zeus noch so eindrucksvoll beschreiben, „mit schwarzen Augenbrauen, goldenen Haaren, den Himmel dadurch zum Beben bringend“) Denn alles dieser Art kommt doch irgendwie daher, dass der Anblick Gottes uns verweigert wird, unser Erklärungsvermögen zu dürftig ist und unser Verstand zu stumpfsinnig ist Maler schaffen es, Bildhauer skulptieren es, Dichter machen damit ihre Rätselworte und die Philosophen erahnen es, und zwar nach dem Muster dessen, was ihnen am Schönsten dünkt, indem sie jeweils, so weit sie es vermögen, sich durch ihre Phantasie267 beflügeln lassen

Ich muss gestehen, dass mir unklar ist, worin die Rolle der Philosophen bestünde, wenn wir den Text in dieser Fassung akzeptieren Die MSS zeigen keine Lücke, aber dass eine solche vorliegt, in der (u a ?) ein Hinweis auf Bildkünstler und Dichter gestanden hat, ist so gut wie sicher, da diese Gruppen im Folgenden (ll  60; 62 f ) in einer Weise erwähnt werden, die voraussetzt, dass ihrer schon gedacht wurde Selbst bin ich überzeugt, dass die Lücke umfangreicher ist als die Ergänzung von Hobein – der so weit ausführlichste Vorschlag – es vorsieht 268 Denn dass dasselbe Objekt (πάντα τὰ τοιαῦτα) sowohl für die abschließende Phrase φιλόσοφοι καταμαντεύονται wie für die Tätigkeiten der Bildkünstler und Dichter gelten sollte, halte ich für praktisch ausgerade der genannte Vers angeführt ist und der Wink des Zeus als Ainigma Homers gedeutet wird: ᾐνίξατο δὲ … Ὅμηρος) genügt, um Watsons Charakterisierung bedenklich erscheinen zu lassen (Vgl oben Anm  256 ) 267 Dass φαντασία hier als schöpferische Kraft bei der Schaffung anthropomorpher Götterdarstellungen auftritt, lässt an die berühmte Szene von Philostrats Vita Apollonii (6,19 p   231 Kayser) denken, oben 5 0 Anm  8 Unser Text zeigt – ungeachtet der Lücke – deutlich genug, dass die menschliche Gestalt als grundlegende Form vorgegeben ist Die Phantasie ist bei der jeweiligen Realisierung der anthropomorphen Darstellungsweise behilflich, nicht bei der Wahl dieser Darstellungsform selbst; diese wird ja keineswegs immer wieder neu von ἕκαστοι geschaffen (vgl oben 5 4 1 1 , Anm  140) Watson widmet der Stelle in seiner Übersicht über die Entwicklung des Begriffs φαντασία einen kurzen Kommentar (Watson 1994, 4787, vgl hier oben Anm  266 und unten 271); er hätte die Darstellung noch mit diss 17,4 117 und 18,5 125 ergänzen können 268 Es besteht kein Zwang, die Lücke exakt so anzusetzen, wie Hobein und nach ihm Trapp es tun Koniaris hat sich dafür entschieden, vor δοκοῦν und nach καί Korruptelzeichen zu drucken (πρὸς τὸ κάλλιστον † δοκοῦν καὶ † φιλόσοφοι καταμαντεύονται, Koniaris 1995 p   127) Wie aus meinen Überlegungen im Folgenden hervorgeht, glaube ich nicht, dass ein καί der Phrase φιλόσοφοι καταμαντεύονται unmittelbar vorangegangen sein wird

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

geschlossen Das Verb καταμαντεύεσθαι (von mir in Ermangelung eines Besseren mit „erahnen“ wiedergegeben) hat nicht den erforderlichen Sinn Es ist bei Maximos mit insgesamt elf Belegen vertreten (zwei davon in der elften Dialexis, hier und in Z  90) Das Objekt des Verbs steht nicht für etwas, was erst durch die Verbhandlung zustandekommt, sondern bezeichnet das Ergebnis einer Folgerung, einer Erkenntnis oder einer Deutung 269 Es ist folglich höchst unwahrscheinlich, dass die abschließende Phrase φιλόσοφοι καταμαντεύονται zur selben syntaktischen Einheit gehört wie das (mutmaßliche) Objekt am Anfang des Satzes Die Wahl des Verbs spricht vielmehr dafür, dass im ursprünglichen Text die Philosophen nicht direkt mit der Aussage über die anthropomorphe Darstellungsweise verbunden waren Ich vermute eher, dass etwa folgender Inhalt vermittelt wurde: Während die Bildkünstler und die Dichter – deren Aufgabe es ist, das Göttliche in Bild und Wort (den vielen) zu konkretisieren – keine andere Möglichkeit haben, als ersatzweise auf ihre Phantasie zu rekurrieren und die Götter als Menschen übersteigerter Schönheit darzustellen, besitzen die Philosophen allein die Fähigkeit, aus eigener Kraft das Göttliche zu erahnen Die Philosophen wären m a W dieselben, die nach diss 2,2  38 mit einem starken Gedächtnis ausgestattet sind und sich deswegen im Geiste geradewegs und ohne konkrete Hilfe zu Gott hin erstrecken können, dieselben, die, wie es andernorts heißt (10,9 240), eine starke Seele besitzen, der ein gütiger Daimon zuteilgeworden ist 270 Wenn ich recht habe, besteht also hier derselbe betonte Gegensatz wie in 2,2 zwischen der Stärke der Seele der Elite einerseits und der Schwäche (ἀσθενές, 2,2  34; vgl ebenda l   31; 11,3  56) und Stumpfsinnigkeit (ἀμβλύτης, 11,3 56, vgl 2,2 32) der übrigen andererseits 271 5.5. Abschließende Bemerkungen Im Vorangehenden haben wir anhand einer Reihe von Beispielen die Vorstellung studiert, nach der die anthropomorphe Darstellungsweise eigens zum Zweck der Vermittlung wahrer Gotteserkenntnis erfunden worden sei Der gemeinsame Nenner besteht in der Meinung, dass das anthropomorphe Gottesbild ihre Entstehung einem 269 S die hier oben Anm  258 und 262 angeführten Fälle (diss 17,4 121 bzw 4,5 96), ferner z B 18,5 123; 23,3 54 oder 39,3 114 Das Objekt des Verbs steht bei pronominalen Ausdrücken im Akk , sonst im Genitiv 270 Vgl auch noch in der elften Dialexis selbst, 11,10 216 f (ὀρθῇ τῇ ψυχῇ καὶ ἐρρωμένῃ …), sowie bes 5,8 198–201: „O Zeus und Athena und Apollon, ihr Wächter menschlicher Sitten, ihr braucht Philosophen als Schüler, die eure Lehre (τέχνην) mit starken Seelen (ἐρρωμέναις ψυχαῖς) empfangen und eine schöne und glückbringende Ernte ihres Lebens einbringen können “ 271 Allerdings ist die Schwäche und Unschärfe des menschlichen Geistes, wie wir gesehen haben (s bes oben Anm  229 und 195), sowieso ein Lieblingsthema des Maximos Diese Eigenschaften heften mit wenigen Ausnahmen jedem Menschen an, und ihr Gewicht sollte deswegen in Zusammenhängen wie diesem nicht überbetont werden So vermittelt die Bemerkung zu unserer Stelle von Watson, 1994, 4787, eine etwas vereinfachte Perspektive: „All such pictures are due to weakness of vision, dullness of mind …“

5 5 Abschließende Bemerkungen

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berechtigten, mit dem wahren Gottesglauben übereinstimmenden Willen und Verlangen verdanke, das an sich unabbildbare und unaussprechliche Wesen Gottes irgendwie konkret zum Ausdruck zu bringen Davon abgesehen weisen die angeführten Testimonien recht bedeutende Unterschiede auf, so z B  hinsichtlich der vermeintlich vorgesehenen Empfänger Dass der Umfang der Einzelanalysen meist um ein Wesentliches den der Teilabschnitte im 3 Kapitel übertrifft, liegt v a daran, dass wir es hier, im 5 Kapitel, mit einem vermeintlichen Entstehungsrahmen ungleich komplexerer Art zu tun haben Die zugegebenermaßen auch so etwas unproportioniert anmutende Länge der Abschnitte 5 4 2  ff (zu Maximos) erklärt sich dadurch, dass die Behandlung einer Anzahl Stellen unbedingt eine genaue Diskussion der damit verbundenen textkritischen Probleme erforderte Nebenbei gesagt zeigte sich gerade hier, welch bedeutende interpretative Hilfe dank der besonderen Untersuchungsperspektive meines Gesamtvorhabens nunmehr zur Verfügung steht Hinsichtlich der Verbreitung und Durchschlagskraft der im vorliegenden Kapitel studierten Varianten wage ich mich nur unter Vorbehalt zu äußern Dass die ablehnende Haltung noch lange lebenskräftig blieb, zeigen uns die höhnischen Äußerungen von Plinius und Seneca, und anderes war ja auch nicht zu erwarten 272 Ein Modell, wie es bei Maximos hervortritt, wird auch deshalb in der philosophischen Elite wenig Anklang gefunden haben, weil es nicht elitistisch genug war Belegt ist es auf jeden Fall nur hier Ich habe oben die Vermutung geäußert, dass die Aufwertung des anthropomorphen Gottesbildes für Varro, den so weit ersten bekannten Vertreter, den Ausweg aus einem Dilemma bedeutete Noch mehr kam diese Aufwertung in der polemischen Lage, die durch den wachsenden Einfluss des Christentums entstand, einem Bedarf entgegen Meinem Vorhaben entsprechend habe ich den Textbefund nicht mehr systematisch im Hinblick auf die christliche Polemik und die paganen Gegenreaktionen befragt (s oben Kap  1 2 ) Der Blickwinkel verändert sich, wo die pagane Philosophie in die Defensive gedrängt wird und nun ihrerseits gegen Vorwürfe ankämpfen muss, die sie früher selber der ungebildeten Menge gegenüber geäußert hat Eine neue Argumentationslage entsteht So viel darf aber gesagt werden, dass das Thema der Hinweis- und Erinnerungsfunktion der Götterbilder, mit dem wir im vorliegenden Kapitel immer wieder zu tun hatten, sich gerade in dieser Lage als natürliche pagane Gegenposition anbot Das wird in Fülle sowohl von paganen wie von christlichen Testimonien bezeugt 273 Zu einer Selbstverständlichkeit wurde diese Sichtweise allerdings offen-

272 Plin nat 2, 17; Sen fr  31 und 39 bei Aug civ 6,10 p  267,13 bzw 269,19 Vgl oben 5 0 a A und s auch meine Bemerkungen oben Kap  4 1 gegen Ende 273 S etwa Origenes Cels 6,14 p 391,18 Marcovich; ibid 7,44 p 497,25 ff ; Julian, epist 89b 293a–b p 160 f Bidez: ἀγάλματα γὰρ καὶ βωμοὺς καὶ πυρὸς ἀσβέστου φυλακὴν καὶ πάντα ἁπλῶς τὰ τοιαῦτα σύμβολα οἱ πατέρες ἔθεντο τῆς παρουσίας τῶν θεῶν, οὐχ ἵνα ἐκεῖνα θεοὺς νομίσωμεν, ἀλλ’ ἵνα δι’

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Kapitel 5: Die Ursprungsfrage B

sichtlich nie Wir haben ja oben gesehen, wie noch im 5  Jahrhundert Macrobius in seinem Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis eine ganz andere Meinung vom Sinn und Zweck der anthropomorphen Darstellungsweise äußerte: Weit davon entfernt, dass die Tradition von menschengestaltigen Göttern ihren Ursprung in einer Absicht habe, wahre Gotteserkenntnis zu vermitteln, soll sie geradezu einem Willen, die Wahrheit über die Götter zu verdecken, entsprungen sein Zugleich sehen wir aber in den Saturnalia desselben Autors die Rollenfigur des Vettius Praetextatus als überzeugten Anhänger jeder Art von Verbildlichung der Götter auftreten, deren tiefere Signifikanz er ausgiebig erläutert 274 Besonders häufig wird die Aufgabe der Götterbilder als sichtbare Zeichen der verborgenen Wirklichkeit und Mittel zur Erinnerung daran angeführt und nachdrücklich unterstrichen, wenn es darum geht, dem beliebten christlichen Schlagwort entgegenzutreten, demzufolge die pagane Götterverehrung den Götterbildern selbst oder gar dem Stoff gelte, aus dem diese hergestellt wurden Noch im 6 Jahrhundert sah sich Olympiodoros, der letzte pagane Leiter der neuplatonischen Schule zu Alexandrien, dazu veranlasst, in folgender Weise die Relevanz dieser christlichen Standardbeschuldigung zu bestreiten: Glaubt nicht, dass die Philosophen Steine und die Götterbilder verehren als wären sie göttlich! Aber da wir in der Wahrnehmungswelt leben und deswegen nicht imstande sind, an die unkörperliche und immaterielle Macht heranzureichen, hat man die Götterbilder erfunden, um die Erinnerung daran zu erwecken, damit wir, wenn wir die Bilder sehen und uns davor verbeugen, zur Einsicht in die unkörperlichen und immateriellen Mächte gelangen 275

αὐτῶν θεοὺς θεραπεύσωμεν („Denn Götterbilder, Altäre, die Obhut eines nie gelöschten Feuers und überhaupt alles solcher Art haben die Väter als Kennzeichen der Anwesenheit der Götter eingerichtet, nicht damit wir dieses für Götter halten sollen, sondern damit wir dadurch die Götter verehren sollen “) Aug enarr. in ps 113,2,4 p 41 f Gori: Videntur sibi purgatioris esse religionis qui dicunt: Nec simulacrum nec daemonium colo, sed effigiem corporalem eius rei signum intueor, quam colere debeo („Als Vertreter einer geläuterten Religion betrachten sich diejenigen, die sagen: ‚Ich verehre weder ein Bild noch einen Dämon; vielmehr erkenne ich im materiellen Bild ein Zeichen dessen, was ich zu verehren verpflichtet bin ‘“) S oben Kap  1 2 , mit Anm 30 274 S oben Kap  3 2 2 275 Olympiodoros, In Gorgiam 47,5 p  246 Westerink: Καὶ μὴ νομίσητε ὅτι οἱ φιλόσοφοι λίθους τιμῶσι καὶ τὰ εἴδωλα ὡς θεῖα∙ ἀλλ’ ἐπειδὴ κατ’ αἴσθησιν ζῶντες οὐ δυνάμεθα ἐφικέσθαι τῆς ἀσωμάτου καὶ ἀΰλου δυνάμεως, πρὸς ἀνάμνησιν ἐκείνων τὰ εἴδωλα ἐπινενόηται, ἵνα ὁρῶντες ταῦτα καὶ προσκυνοῦντες εἰς ἔννοιαν ἐρχώμεθα τῶν ἀσωμάτων καὶ ἀΰλων δυνάμεων

Kapitel 6 Die Ursprungsfrage C Das anthropomorphe Gottesbild als historische Tradition und deshalb buchstäblich wahr 6.0. Einleitung Warum verehrt man menschengestaltete Götter? Und warum stellt man sich vor, dass sie wie in einer menschlichen Familie miteinander verbunden sind? In der Hiera Anagraphe des Euhemeros wird eine bestechend einfache Antwort auf diese Fragen gegeben: Es kommt daher, dass sie Menschen waren Die Mitglieder der olympischen Götterfamilie und ihre Vorfahren werden hier systematisch als ursprüngliche Menschen dargestellt, die aufgrund ihrer Stellung oder ihrer besonderen Eigenschaften als Götter verehrt worden seien Man sieht: Wenn es auf evidente Folgerichtigkeit ankommt, kann keine der übrigen Ursprungstheorien es mit dem Euhemerismus aufnehmen Als Erklärung, wie das anthropomorphe Gottesbild entstanden sei, ist er ebenso einfach wie genial Aber als Beitrag zur damaligen theologischen Debatte hatte er nichtsdestoweniger geringe Aussicht auf Erfolg Das lag daran, dass das euhemeristische Modell die gemeinhin praktisierte Methode, den traditionellen Kult philosophisch zu begründen, nicht zuließ Wie schon einleitend besprochen, wurde die Kluft zwischen öffentlich vermitteltem Gottesbild und philosophischer Theologie meist in der Weise überbrückt, dass die traditionellen Kultgötter mit wichtigen (u U den wichtigsten) göttlichen Mächten und Prinzipien der philosophischen Theologie gleichgesetzt wurden 1 Die Überzeugung, dass die Kultgötter im Grunde dieselben seien wie die wahren Gottheiten der jeweiligen philosophischen Theologie, verlieh dem öffentlichen Kult seine philosophische Signifikanz und Berechtigung

1

Oben Kap  1 1 am Anfang Zum Inhalt des Begriffs ‚Euhemerismus‘, wie er von mir verwendet wird, s Kap  1 1 Anm 21, und vgl unten 6 5

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

Der Euhemerismus reißt diese Brücke ab Denn er besagt dieses: Die im Kultus verehrten Götter sind nicht die primären, ewigen Götter Sie sind einstige historische Gestalten, und somit keineswegs ursprüngliche, nie geborene Götter Es ist zwar unklar, wie die Hiera Anagraphe sich zur Frage ihrer Göttlichkeit verhalten hat: Gelten sie als wahre Götter, oder werden sie als bloß vermeintliche Götter betrachtet?2 Aber auf alle Fälle wird ihre Stellung als nie geborene, nie gestorbene Gottheiten bestritten Ohne diese Stellung genügen sie den Ansprüchen der philosophischen Theologie nicht, die zwar nicht durchgehend die Möglichkeit einer Vergöttlichung menschlicher Seelen leugnet,3 die aber – wie sich versteht – niemals gerade diese als Götter im primären, übergeordneten Sinne anerkennen würde Unter solchen Umständen kann es nicht verwundern, dass diese Ursprungserklärung, bei all ihrer logischen Attraktivität, in der Philosophie kaum Nachfolge fand 4 Ganz im Gegenteil wurde Euhemeros zu einem ἄθεος, ein Urteil, das auf diesem Hintergrund verständlich wird 5 Die Hiera Anagraphe dürfte um 300 oder kurz danach geschrieben worden sein 6 Ein Anstoß, Berechtigung und Ursprung der Vorstellung von Göttern in menschlicher Gestalt gerade um diese Zeit neu zu überdenken, dürfte von der eben erst entstandenen epikureischen Lehre ausgegangen sein Mit ihrer innerhalb der Philosophie bisher unbekannten Verteidigung der menschlichen Gestalt der Götter bildete die epikureische Theologie einen scharfen Einschnitt, durch den das Problem zu neuer Aktualität gelangt sein muss 7 Es mag wohl getrost vorausgesetzt werden, dass zu den Faktoren, die die besondere Ausgestaltung des Götternarrativs der Hiera Anagraphe beeinflusst haben, auch die beispiellose Laufbahn Alexanders und die immer mehr um sich greifende Tendenz der griechischen Städte, ihm und seinen Nachfolgern schon während ihres Lebens Kulte einzurichten, zu zählen sind 8 Gerade diese Phänomene könnten Euhemeros die Idee eingegeben haben, die Menschengestalt der Götter in rationalistischer Weise mit einer ähnlichen, in die Frühzeit der Menschheit umgesetzte Gewohnheit, mächtigen Men2 3 4 5 6 7

8

Diese Problematik wird uns unten 6 3 eingehender beschäftigen Das platonische Konzept von der Unsterblichkeit der Seele ermöglicht eine befriedigende philosophische Begründung der seit jeher in der Tradition lebendigen Vorstellung von Sterblichen, die zu Göttern geworden sind S unten 6 1 1 gegen Ende, m Anm  52, sowie 6 5 Der einzige Kandidat gewisser positiver Nachfolge wäre Persaios S dazu unten 6 5 Freilich scheinen mir sowohl Umfang wie Schärfe der Kritik übertrieben worden zu sein S unten 6 3 a E sowie 6 4 S die Diskussion verschiedener Auffassungen zur Lebenszeit des Euhemeros bei Winiarczyk 2013, 1–5 Vgl oben Kap  1 1 (bei Anm  20) Auf diesem Hintergrund dürften gewisse pointierte Äußerungen gegen die Menschengestalt der Götter bei Zenon und Chrysippos zu betrachten sein, s Diog Laërtios 7,147 (SVF 2, 1021 p 305); Philodem piet col 5,28 p  16 Henrichs 1974 (SVF 2, 1076 p  315,17), s oben 1 3 Anm  38 und 3 1 1 1 (m Anm  53) Vgl auch Diogenes von Babylon ibid col 8,24 p  19 (SVF 3 II 33 p  217,13) S oben Kap  3 1 1 (mit Anm  37–38) Wie schon mehrfach von verschiedenen Wissenschaftlern vorgeschlagen, s z B Fraser 1972, 293 f ; R Baumgarten 1998, 183 und 185, Fusillo in DNP 4,1998, 236; Honigman 2009, 29

6 1 Inhalt und Form der Hiera Anagraphe Frühere Deutungsvorschläge

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schen Kulte zu widmen, zu erklären Dagegen kann es ihm schwerlich darum gegangen sein, den Herrscherkult zu unterstützen oder zu begründen Dass dies der Fall gewesen sei, ist zwar wiederholt von der Forschung geltend gemacht worden (wenn auch meist nur in kurzen Worten und ohne dass die Grundvoraussetzungen und Implikationen der These ausgesprochen werden) Ich komme im Folgenden im Zusammenhang mit den früheren Deutungsvorschlägen darauf zurück Wie wir sehen werden, lösen sich die meisten Fragezeichen und Unklarheiten, die mit den bisher vorgelegten Vorschlägen zur Absicht und Intention des Götternarrativs der Hiera Anagraphe verbunden sind, auf, wenn wir es meiner Theorie entsprechend als Stellungnahme zur Frage betrachten, wie das anthropomorphe Gottesbild entstanden sei 6.1. Inhalt und Form der Hiera Anagraphe. Frühere Deutungsvorschläge Obwohl die Hiera Anagraphe uns nicht erhalten ist, können wir uns ein einigermaßen zusammenhängendes Bild ihres konkreten Inhalts verschaffen, da etliche antike Autoren auf sie Bezug nehmen und teilweise sogar recht ausführlich daraus referieren 9 Vor allem der Abschnitt 5,41,4–46,7 des Diodorus Siculus sowie das Kurzreferat aus dem 6  Buch desselben Autors bei Eusebios, Praeparatio evangelica 2,2,52–62, sind hier von Bedeutung Auch Auszüge aus der Sacra Historia, der lateinischen Fassung des Ennius, namentlich im ersten Buch der Divinae Institutiones des Lactanz, tragen zu unserem Wissen bei Die Darstellung hatte offensichtlich die Form einer Ich-Erzählung Der Ich-Narrator erzählt von einer selbsterlebten Reise, während welcher er bis zu einer weit entlegenen, bis dahin unbekannten Inselgruppe des Indischen Ozeans verschlagen worden sei (Diod 6,1,4 = Eus praep. ev. 2,2,55 = test 3 W10) Sowohl Topographie, Natur- und Bodenschätze wie auch Gesellschaftsformen, Ökonomie und Geschichte der Inseln werden beschrieben Die Hauptinsel, Panchaia genannt, sei teils von einer bodenständigen Bevölkerungsgruppe, teils von Nachkommen eingewanderter Gruppen (wie z B Kretensern) bewohnt (Diod 5,42,4 = T 33 W; 5,46,3 = T 35 W) Die Insel sei einst ein beliebter Aufenthaltsort der frühen Weltherrscher Uranos und Zeus gewesen (Diod 5,44,6 = T 50 W; 5,46,3 = T 35 W) Im großen Zeus-Tempel der Insel, angeblich von Zeus selbst errichtet (Diod 5,46,3) und wegen der Dreizahl der wichtigsten

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Neueste Fragmentsammlung: Winiarczyk 1991 Die herkömmliche Einteilung in Testimonien bzw Fragmente ist hier aufgegeben; die gesamte Evidenz wird in Form von ‚Testimonien‘ präsentiert Zur Begründung dieser Verfahrensweise s Winiarczyk 2013, 161 Nach diesem Testimonium sowie nach T 5 (Strabon 2,4,2 = Polybios 34,5,9) soll Euhemeros selbst die Reise unternommen haben; wohl auch so in T 15 (Plut Is 360b) Daher die Annahme, dass es sich um eine Ich-Erzählung handelte Vgl unten Anm  20

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Bevölkerungsgruppen Tempel des Zeus Triphylios genannt, will der Erzähler eine mächtige Stele gesehen haben, deren Inschrift die Taten des Uranos, des Kronos und des Zeus beschrieben habe (Diod 5,46,7 = T 37 W; 6,1,7 = Eus 2,2,57 = T 36 W); letzterer sei persönlich der Urheber sowohl der Stele wie der Inschrift Nachträglich sei die Inschrift noch von Hermes mit einem Bericht über die Taten der Artemis und des Apollon ergänzt worden (Diod 5,46,7 = T 37 W) Es ist den Testimonien nicht eindeutig zu entnehmen, wie viel von der Auskunft, die sie uns über Uranos, Kronos und Zeus, über ihre Taten, ihre Familienverhältnisse und ihre Beziehungen zu Panchaia bzw zu anderen Ländern vermitteln, zur Inschrift der Stele im Tempel des Zeus gehört haben soll, aber jedenfalls verfügt der Erzähler auch über Information zum Schicksal des Zeus, die über den Zeitpunkt der Errichtung der Stele hinausgeht Er weiß z B , dass Zeus auf Kreta gestorben sei und auch dort begraben worden sei (Lact inst 1,11,46 u epit 13,4 = T 69 A–B) Der Erzähler gibt vor, sich mit den Priestern des Zeus Triphylios, die zum Glück ihre kretensische Sprache noch bewahrt hätten, unterhalten zu haben und auch andere Inschriften und Aufzeichnungen gesehen zu haben, die ihm als Quellen gedient haben sollen 11 Leben und Taten nicht nur des Zeus, sondern auch früherer wie späterer Verwandter sind ihm bekannt Die Sitte, Uranos und wohl auch Kronos zu verehren, soll mit Zeus begonnen haben, der sowohl diesen Kult wie den eigenen initiiert haben soll 12 Schon der Umstand, dass der Titel des Werks das Wort „heilig“ enthält, spricht für die Annahme, dass gerade die Schilderung der Taten und Schicksale dieser Gestalten den Kern des Narrativs bildete, so dass es schon deswegen begründet erscheint, das wichtigste Ziel des Werks hierin zu suchen Selbstverständlich kann das Werk zusätzlich auch noch andere Intentionen verfolgt haben, jedoch beschränkt sich meine Darstellung auf die Göttergeschichte Ich verzichte im Folgenden dementsprechend im Prinzip auf eine Diskussion solcher bisheriger Theorien zu Absicht und Funktion des Werks, die den Schwerpunkt anders setzen 13

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Letzteres jedenfalls nach Lactanz, inst 1,11,33 (T 65 W) Es ist unklar, ob der Text an der Stele mit denjenigen ἀναγραφαί, die nach Diod 5,46,3 (T 35 W) von Zeus zur Zeit des Tempelbaus hergestellt worden sein sollen, gleichzusetzen ist Wir können die Diskussion, welches die korrekte Übersetzung des Titels ist, beiseitelassen (Übersicht über verschiedene moderne Auffassungen in Winiarczyk 1991 p  6, im Apparat zu T 7 A ) Das Wort ἀναγραφή ist an sich mehrdeutig (vgl etwa Diod 5,41, 4 bzw 5,42,5), und selbstverständlich kann Euhemeros in seinem Werk das Wort in verschiedener Bedeutung verwendet haben (vgl Honigman 2009, 5 f ) Ein Argument dafür, dass es im Titel nicht – oder jedenfalls nicht allein – im Sinne von ‚Inschrift‘ zu verstehen ist (auf die Inschrift im Tempel des Zeus Triphylios bezogen), bietet der Umstand, dass Ennius für seine lateinische Fassung den Titel Sacra Historia gewählt hat Diod 5,46,3 (T 35 W); 6,1,6 (Eus 2,2,57 = 36 W); 6,1,10 f (Eus 2,2,61 = 61 W); Lact. inst. 1,22,21 ff und epit 19,4 (64 A–B W) Der Leser kann sich darüber in der generellen Übersicht bisheriger Interpretationen bei Winiarczyk 2013, 99–108 informieren Freilich bleibt Winiarczyk meist bei einer zu oberflächlichen Analyse, die oft zu vorschneller Ablehnung der von ihm besprochenen Thesen führt

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Bislang dominierten in der Forschung drei Theorien zur Intention des Kernnarrativs Die attraktivste von diesen sieht im Euhemerismus eine alternative Mythendeutung Ein anderer Vorschlag besagt, dass Euhemeros eine rationalistische Theorie zur Entstehung der Religion überhaupt habe vorlegen wollen Und schließlich wird geltend gemacht, dass Euhemeros mit seiner Göttergeschichte den zu seiner Zeit aufkommenden Herrscherkult habe unterstützen oder begründen wollen Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit allen Voraussetzungen und Implikationen dieser Erklärungsversuche ist hier weder beabsichtigt noch notwendig Allein die letzte der genannten Theorien verlangt eine eingehende Besprechung, so dass dieser unten ein besonderer Abschnitt (6 1 1 ) gewidmet wird Den wohl systematischsten Versuch, die These von der Hiera Anagraphe als Beitrag zur Mythenerklärung zu begründen, bietet der anregende Artikel von A I Baumgarten (1996) Baumgarten meint, Euhemeros habe eine Alternative zur „allegory/physiology“ vorlegen wollen Darunter versteht er die physisch-allegorische Deutung der Mythen Das Problem, das beide Alternativen, jede in ihrer Art, sich zu lösen vorgenommen hätten, sei die anstößige Göttermythologie Für die Allegoristen war es eben die Überzeugung, dass die traditionellen Kultgötter dieselben wie die göttlichen Prinzipien oder Mächte der philosophischen Theologien seien, die es ihnen erlaubte, das Narrativ anders zu deuten und damit zu rechtfertigen Demgegenüber habe Euhemeros das Problem so gelöst, dass er die anstößigen Mythen auf Sterbliche übertragen habe, wodurch die wahren Götter (d h die οὐράνιοι θεοί, s dazu unten 6 2 ) davon entlastet würden Die Schärfe,

Neuerdings haben De Angelis und Garstad die Hiera Anagraphe, und zwar v a ihre Erzählung von den Reisen und Kultstiftungen des Zeus, als Versuch verstanden, in der neuen politischen und sozialen Lage der hellenistischen Zeit einen positiven Internationalismus und ein Gefühl der Einheit unter den Völkern zu propagieren (De Angelis u  Garstad 2006, vgl auch Garstad 2004) Als zusammenhaltendes und einigendes Element diene dabei gerade der Zeuskult Zeus soll ja auf seinen Reisen durch die Welt an den verschiedensten Stellen seinen eigenen Kult eingerichtet haben (T 64 A–B = Lact inst 1,22,21–27 bzw epit 19,4) Da diese Kulte somit überall demselben Gott gälten, seien sie ein geeignetes Mittel, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit der sonst so unterschiedlichen ethnischen Gruppen zu schaffen (2006, 232 f ; 236) Für De Angelis u Garstad sind Hintergrund und Umfeld der Hiera Anagraphe ebenso wichtig wie ihre Intention V  a wollen sie Euhemeros, dessen Heimatort sie mit dem sizilischen Messene/Messana identifizieren, in einem sizilischen Kontext ansiedeln, und weisen dabei auf eine ganze Reihe von sizilischen Phänomenen und Traditionen hin, die ihrer Meinung nach zum Bild der panchäischen Gesellschaft beigetragen haben (vgl auch hier unten Anm  70) Dieser Versuch – den ich hier nur sehr kurz und unter Unterdrückung zahlreicher interessanter Einzelheiten skizziert habe – besitzt gegenüber früheren Theorien den Vorteil, dass ersichtlich ist, weshalb Zeus in einen Menschen verwandelt worden ist Durch seine Weltreisen wird ein historischer Zusammenhang der vielen Zeuskulte geschaffen, und gerade diese seien also ein wichtiger zusammenhaltender Faktor in einer nunmehr multiethnischen Welt Schwerer zu akzeptieren ist der Anspruch, Euhemeros habe den traditionellen Kult nicht nur nicht abreißen, sondern sogar unterstützen wollen (s bes Garstad 2004, 257) Euhemeros müsste doch wohl fähig gewesen sein, vorauszusehen, dass die radikale Vermenschlichung der Olympier auf keinen Fall so aufgefasst werden würde (vgl unten 6 2 a E)

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mit der nicht nur die Allegoristen die Euhemeristen kritisiert hätten, sondern umgekehrt auch diese jene angegriffen hätten, sei eben dadurch zu erklären, dass es sich um konkurrierende Systeme handele 14 Dass mit der Geschichte von den vergöttlichten Herrschern in der Hiera Anagraphe ein alternatives Mythenerklärungsmodell eingeführt wird, kann nicht bestritten werden, nur ist damit ihre primäre Intention nicht erfasst Vielmehr handelt es sich hier um einen sekundären, automatisch eintretenden Effekt, denn die Vermenschlichung und Historisierung der Kultgötter führt mit Notwendigkeit zur Historisierung der Mythen Die Kultgötter sind ja zugleich Protagonisten der Göttermythen Dass man nicht erkannt hat, dass hinter der Historisierung der Mythen in der HA noch dieses weitere, ursprünglichere Vorhaben liegt, hängt mit der nun schon mehrfach in meiner Darstellung beanstandeten Tendenz zusammen, die Distinktion zwischen der Haltung zu den Göttern einerseits und der Haltung zu den Mythen, die von diesen Göttern erzählen, andererseits, zu übersehen 15 Was den Vorschlag betrifft, dass die Hiera Anagraphe als Beitrag zur Entstehung der Religion (oder des Götterglaubens, oder der Götterverehrung) insgesamt zu verstehen sei, soll hier zunächst auf eine terminologische Ungenauigkeit hingewiesen werden: Wenn von der Entstehung der Religion (oder Entsprechendem) gesprochen wird, ist bei genauerem Zusehen häufig genug in Wirklichkeit nichts anderes als die Entstehung der Verehrung der Kultgötter (d h im Prinzip der Olympier) gemeint 16 14

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Baumgarten 1996, besonders 99–103: „Rival responses to the same issues“, 99; vgl 101 Als Beispiel für die gegenseitige Kritik nennt A I Baumgarten Plutarch und Philon von Byblos (Man sucht allerdings vergeblich nach einem Hinweis auf Plut Is 359d–360a; diese Stelle wäre das wohl stärkste potentielle positive Argument für die These, s dazu unten 6 4 , m Anm  91 ) Baumgartens Vorschlag wird von Winiarczyk 2013 auf S  106 f besprochen (und mit eigenartig unzutreffenden Argumenten abgewiesen) Vgl auch denselben, 2013, 123, wo sich die folgende, allzu kategorische Formulierung findet: „… it is decidedly wrong to term rationalistic interpretations of myths as Euhemerism“ Wie sein Hinweis ebenda auf den Abschnitt III 2 C der eigenen Darstellung (= S  46) zeigt, versteht Winiarczyk hier unter Mythos die Heldensage, deren übernatürliche Elemente man wegzurationalisieren oder historisch umzudeuten pflegte Darin, dass die HA sich nicht mit dieser Form von Mythenhistorisierung beschäftigt, kann man ihm schon Recht geben Nichtsdestoweniger trifft es zu, von einer Historisierung der Mythen in der HA zu sprechen, nur gilt die Historisierung der anderen Mythenkategorie, d h dem Götternarrativ – wenn auch für Euhemeros nicht die Mythen im Zentrum stehen, sondern die Götter selbst (Immerhin ist der Zusatz an der entsprechenden Stelle der deutschen Fassung 2002, 136, „Die Historisierung des Mythos hat mit dem Euhemerismus nichts zu tun“, fallengelassen ) S Kap  1 4 und 1 4 ; 3 1 1 1 , m Anm  49; 3 2 2 , m Anm 212; 5 0 u a Diese ungenaue Terminologie begegnet mehrfach in Winiarczyk 2013 So z B 20; 99; 104; 125; 164 S  104 schreibt er Jacoby die These zu, Euhemeros habe den Ursprung des Götterglaubens erklären wollen, während in Wirklichkeit Jacoby die HA der Tradition zuordnet, die sich „mit dem Wesen der Volksgötter und dem Glauben an sie“ auseinandersetzt ( Jacoby 1907, 967 f ) R  Baumgarten spricht von „Entstehung des Götterglaubens“ (1998, 183) und „Theorie der Religionsentstehung“ (ebenda 192), beschränkt aber die Thematik des Euhemeros auf „die traditionellen Götter“ (182) bzw „die olympischen Götter“ (185) Dabei ist die Distinktion keineswegs gleichgültig Die kultisch verehrten Sterblichen sind in der Hiera Anagraphe nicht als die allerersten Götter, an die

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In solchen Fällen ist der Unterschied zur hier vorgeschlagenen Deutung nicht groß Nur wird die These hier zum ersten Mal präziser formuliert: Im Zentrum steht gerade der traditionelle anthropomorphe Charakter der Kultgötter Oder mit anderen Worten: Nicht so sehr der Glaube an die ‚Volksgötter‘ (d h hier die Olympier), wie der Umstand, dass sie in menschlicher Gestalt dargestellt wurden, bildete den Ausgangspunkt für das Modell der HA Als Theorie zur Entstehung der Religion im eigentlichen, vollen Sinne wird die Hiera Anagraphe u a von Jan Dochhorn verstanden (2001; 2000 noch nicht in diesem Sinne) 17 Dochhorn vertritt die Ansicht, Euhemeros habe mit der Hiera Anagraphe eine Entwicklungsgeschichte der Religion zeichnen wollen Die evolutionistische Perspektive, die er darin erkennt, erscheint mir allerdings nicht durch die Fragmente bestätigt „Schrittweise wird die Menschheit daran gewöhnt, dass es Götter gibt – und mit der Fortentwicklung der Religion werden die Götter immer personhafter “ (2001, 298) Dochhorn identifiziert drei Momente der Entwicklung: 1) Einrichtung des Astralkults durch Uranos; 2) Stiftung eines Kults für den Äther durch Zeus, der diesen Gott nach seinem Großvater Uranos benennt; darin liege schon ein Element der Personalisierung; 3) Selbstvergottung des Zeus Dem ist entgegenzuhalten, dass die zeitliche Folge dieser Momente allein für 1) im Verhältnis zu 2) und 3) feststeht: 1) liegt zwei Generationen vor 2) und 3) Wie das zeitliche Verhältnis von 2) und 3) zueinander dargestellt worden ist, lässt sich den Fragmenten nicht entnehmen Nur so viel steht fest, dass beide in die Zeit der Weltherrschaft des Zeus gehören Zeus könnte sehr wohl seinen Tempel gebaut haben, bevor er den Kult für den Äther einrichtete Dochhorns Argumentation reicht nicht aus, um glaubhaft zu machen, dass eine generelle ‚Religionsgeschichte‘ der Intention der Hiera Anagraphe entspricht Vor allem muss beachtet werden, dass die Historisierung der Olympier allem Anschein nach bei Euhemeros neu ist 18 Es empfiehlt sich auch deshalb, eine Intention (oder jedenfalls eine Hauptintention) zu postulieren, für die die Vorstellung von den Olympiern als ehemaligen mächtigen Menschen zentral ist Die von mir vorgelegte Theorie hat den Vorteil, die Wahl der besonderen literarischen Form des Werks als begründet erscheinen zu lassen, während bei den bishe-

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man überhaupt geglaubt habe, dargestellt; ganz im Gegenteil haben Zeus und seine Vorfahren ihrerseits andere – ewige, nie geborene – Götter verehrt Vgl hier im Folgenden sowie besonders unten 6 2 Ähnlich jetzt Roubekas, demzufolge die Theorie des Euhemeros zwei Götterkategorien unterschieden habe Von diesen seien die Zugehörigen der einen Gruppe (die „himmlischen“ Götter) wahre Götter, während die Göttlichkeit der zweiten Gruppe (der Olympier) bestritten worden sei (Roubekas 2017, 2; 5; 19–27 u a , und vgl denselben, 2014, 32; 34) Vgl unten Anm 71 Die weitverbreitete Auffassung, nach der Euhemeros in Prodikos (84 DK; Mayhew 2011) einen Vorgänger gehabt habe, baut allein auf einer bestimmten Lesung einer Stelle bei Philodem, piet col 2–3 p  13 f Henrichs 1974 (= Mayhew 2011 Text 71), die aller sonstigen Evidenz über Prodikos zuwiderläuft Vgl unten Anm 100 Zu einer eingehenden Analyse dieser Stelle s meinen Artikel ‚Prodikos zur Entstehung des Götterglaubens‘

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rigen Deutungsvorschlägen die fiktive Form ohne Funktion bleibt, ja sogar, wie wir sehen werden, dem Erfassen des Anliegens im Wege stehen könnte Da aber eine einschlägige Diskussion bisher ausgeblieben ist, sind die diesbezüglichen Komplikationen verborgen geblieben Fiktive Form bietet den Vorteil, gewissermaßen als Janusgesicht funktionieren zu können Sie lässt die Möglichkeit offen, bei Bedarf so zu tun, als handele es sich um reine Unterhaltung 19 Euhemerus muss imstande gewesen sein, vorauszusehen, dass sein Vorschlag Anstoß erregen würde, und auch wenn er höchst wahrscheinlich keine offiziellen Maßnahmen zu fürchten hatte, mag er es ratsam gefunden haben, seine These im Rahmen einer Romanerzählung vorzulegen Dabei hat er, wie es scheint, die Rahmenerzählung geschickt dazu genutzt, seine Geschichte nach allen Seiten hin abzusichern Die Ich-Form ist bekanntlich zu allen Zeiten ein beliebtes Mittel fiktionaler Literatur, um dem Leser den Eindruck von Authentizität zu vermitteln 20 Die Entlegenheit des Schauplatzes, sein fabelhafter Reichtum (T 29, T 35,46–47 W), seine exotische Fauna (T 38,13–15; T 39), seine durchorganisierte, aber primitive Gesellschaftsordnung (T 35), der übertrieben reiche Schmuck, der angeblich von Männern wie von Frauen getragen wurde (T 35,19–24 und ebenda, 29–35), signalisieren andererseits Fiktionalität Zugleich helfen aber z T genau dieselben Züge mit, die Konstruktion der ‚Historizität‘ der Göttergeschichte zu untermauern Das von R J Müller gezeichnete Bild zeigt, wie vorerst die örtliche und teilweise zeitliche Entlegenheit des berichteten Geschehens, aber auch sonst praktisch jeder einzelne Zug, sei es der Charakter der Schrift an der Stele (T 36; T 37,9 f ), sei es die beschränkte Bewegungsfreiheit der Priester (T 35,48–50) oder die Primitivität der Gesellschafts-

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Dass die Hiera Anagraphe im Altertum kritisiert wurde und ihr Modell von der Entstehung des geläufigen Gottesbildes als gottlos und gefährlich bezeichnet wurde, ist keineswegs unbedingt als Zeichen dafür zu betrachten, dass man damals die literarische Form des Werks missachtete, indem man sich darüber hinwegsetzte, dass es sich um einen Roman und nicht um ein philosophisches Werk handelte (so Winiarczyk 2013, 99; vgl 12 f ) Der Grund könnte genausogut der sein, dass erkannt worden ist, dass Euhemeros eine ernsthaft gemeinte Theorie vorlegen wollte, die er selbst umfasste Dass fiktive Literatur häufig durchaus ernsthafte Inhalte (jeglicher Art) vermitteln will, ja, dass sie für solche Zwecke u U sogar erzwungenermaßen gewählt wird, ist trivial und wird doch wohl von niemandem bestritten Ebenso wenig dürfen moderne wissenschaftliche Theorien, die von der Überzeugung ausgehen, dass die Hiera Anagraphe ein ernsthaft gemeintes Gedankengut vermitteln wollte, kurzerhand mit dem Einwand abgetan werden, damit werde der literarische Charakter des Werks ignoriert (ebenda 106; vgl Thraede 1966, 886) Soweit mir bekannt, besteht heute in der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass Euhemeros mit der Hiera Anagraphe nicht ausschließlich literarische Ziele verfolgt habe Winiarczyk selbst stellt hier, wie aus anderen Stellen seiner Monographie hervorgeht, keine Ausnahme dar (s z B 108; 125; 164 f ) Bekanntlich wird diese fingierte Authentizität häufig genug von großen Teilen des Publikums als Faktizität ernstgenommen, so dass die Erzählung naiv als Bericht von Selbsterlebtem hingenommen wird Diese heute noch ständig festzustellende Reaktion mag im Altertum noch verbreiteter gewesen sein, da damals die Distinktion zwischen Erzählerrolle und Verfasser, die modernen gebildeten Lesern selbstverständlich ist, nicht in derselben Weise aufrechterhalten oder berücksichtigt wurde (Nünlist 2009, 132 f )

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ordnung, dazu dienen, eine nahezu wasserdichte Geschichte zustandezubringen – wasserdicht in dem Sinne, dass sie nicht nur Historizität vortäuscht, sondern auch die vorgetäuschte Historizität vor dem Zugriff der Überprüfung schützt 21 Der gebildete Leser wird in der Schilderung des gesellschaftlichen und politischen Systems eine ganze Reihe Anklänge an die Verhältnisse in Atlantis und im Ur-Athen entdeckt haben, so wie sie Platon seinen Kritias im Timaios (23c–25d) und im Kritias (108d ff ) schildern lässt,22 und diese Anklänge wirken wiederum nach zwei Seiten hin: Dadurch wird einerseits der ausgefallene, primitive – unrealistische – Charakter der panchäischen Gesellschaft unterstrichen, andererseits könnte die Anlehnung als Signal funktioniert haben, dass ein Gedankenmodell, das durchaus ernstgenommen werden will, hier vorgelegt werde (d h dass insofern „kein erfundenes Märchen, sondern ein wahrer Bericht“, μὴ πλασθέντα μῦθον, ἀλλ’ ἀληθινὸν λόγον, Timaios 26e, präsentiert werde) 6 1 1 Die Hiera Anagraphe als Unterstützung des Herrscherkults Die These, die Hiera Anagraphe sei als Unterstützung, Befürwortung oder Begründung des Herrscherkults zu betrachten, scheint im großen ganzen die meisten Vertreter gefunden zu haben Nichtsdestoweniger ist dieser Vorschlag mit den meisten Problemen verbunden Er taucht überwiegend außerhalb der eigentlichen Diskussion über Euhemeros und die Hiera Anagraphe auf und wird meist beiläufig hingeworfen, so dass der Nicht-Experte leicht den Eindruck bekommen kann, als ginge es um eine Selbstverständlichkeit Meines Wissens ist die These nie sorgfältig formuliert und begründet

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S Müller 1993, 298‒300 So schon Hirzel (1895, Teil 1, 391–393; zu Hirzels Beurteilung der HA s die kurze Würdigung in meinem Artikel 2014, Anm 10 sowie hier unten Anm  55) Die Anlehnungen sind besonders ausführlich und nachdrücklich von Bichler (1984, 191–195) und dann von Honigman (2009, 15–28) ausgearbeitet worden Müller bezeichnet die Atlantiserzählung des Timaios als „Grundmodell für die Panchaiaerzählung“ (1993, 294) Der häufig geäußerte Vorschlag, Euhemeros habe mit seinem Werk eine Staatsutopie zeichnen wollen, knüpft teilweise an diese und andere deutliche Anspielungen auf platonische Staatstheorie an Dass diese Theorie bestimmte Züge der HA überbewertet, um andere zu vernachlässigen, ist von mehreren Forschern gezeigt worden Scharfsinnige Argumente gegen die These finden sich z B bei Dochhorn (2000, bes 288) und bei Zumschlinge (1976, bes 233–240) S auch Bichler 1984 Von unserer Perspektive aus ist v a zu betonen, dass sie die auffällige Vermenschlichung der Olympier ohne hinreichende Funktion belässt Dass die Schilderung der politischen Verhältnisse in der HA eine Reihe deutlich utopischer Merkmale aufweist, die auch als Zeichen einer gesellschaftskritischen Haltung des Verfassers gedeutet werden könnten, soll nicht bestritten werden So z B tendieren fabelhafter Reichtum und mildes Klima in den Schilderungen weit entlegener, mehr oder weniger fiktiver Länder seit der frühgriechischen Dichtung mit der Konnotation überlegener moralischer Qualitäten der Einwohner verbunden zu sein (Romm 1992, 50 f )

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worden 23 Es gibt deshalb allen Grund, sie einer eingehenden kritischen Diskussion zu unterwerfen, freilich ein etwas weitschweifiges Unternehmen, da die These in mehreren Varianten vorliegt, denen jeweils unterschiedliche Grundprämissen zugrundeliegen, ohne dass diese ausdrücklich klargemacht werden So ist es nicht leicht, sich ein klares Bild davon zu verschaffen, worin das angebliche positive Argument für den Herrscherkult besteht und wie es vermeintlich gewirkt haben soll; es wird nicht darüber reflektiert, welche Rolle die besondere literarische Form des Werks für die Vermittlung des Arguments spielt, und ferner vermisst man ausdrückliche Angaben dazu, an welchen Empfängerkreis die Hiera Anagraphe sich richte bzw auf welchen Typ von Herrscherkult sie zu beziehen sei Zwar lässt sich u U eine Antwort auf die zwei letzten Fragen erahnen, dies ist aber kein Beweis dafür, dass bewusst dazu Stellung genommen wurde oder dass die damit verbundenen Implikationen erkannt worden sind Im Gegenteil scheint dies in der Regel nicht der Fall zu sein Die Diskussion im Folgenden wird uns zusätzlich noch eine Reihe weiterer übersehener Probleme aufdecken Christian Habicht hat sich schon längst kraftvoll für die Notwendigkeit einer Distinktion beim Gebrauch des Begriffs ‚Herrscherkult‘ eingesetzt Er fordert dazu auf, zwischen den von den Städten lokal gestifteten Kulten und den etwas später in Erscheinung tretenden, universalen, von oben auferlegten („dynastischen“) Staatskulten zu unterscheiden 24 Die Vertreter der hier zur Diskussion stehenden Theorie scheinen in der Regel vorauszusetzen, Euhemeros habe es auf den dynastischen Eigenkult hellenistischer Herrscher abgezielt, und meist schimmert durch, dass gemeint ist, das Werk sei dazu vorgesehen, das Phänomen des Kults als solches zu rechtfertigen, und nicht einen spezifischen Kult 25 Eine Klarstellung dieser Frage beinhaltet aber keineswegs schon automatisch eine Antwort auf die Frage, für wen das Werk gedacht gewesen sei Es könnte für die Herrscher selber bestimmt sein, in der Absicht, ihnen mit Argumenten und Vorbildern behilflich zu sein Es könnte aber andererseits für die Kultausüber gedacht sein, indem die Untertanen hellenistischer Könige dazu angespornt werden sollten, sich solchen Kulten gegenüber positiv zu verhalten 26

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Ich habe die Theorie nicht über den ältesten von Winiarczyk angeführten Beleg (=  Wellmann 1896, 232) zurückverfolgt Der Wortlaut bei Wellmann zeigt, dass die These schon damals wiederholt vertreten gewesen sein muss („In der Luft des Hofes / d h der Ptolemäer, MWS / entstand die ἱερὰ ἀναγραφή des Euhemeros, bekanntlich eine Tendenzschrift, die ihre Entstehung der Absicht verdankt, den Gedanken der Apotheose des Herrschers dem Verständnis der Griechen näherzubringen “) S auch meinen Artikel 2014 Habicht, erste Auflage 1956, hier 21970, bes 222–229; s auch 201 S auch z B Fraser 1972, 13 f Vgl Walbank 1984, 85 (etwas weniger scharf) Die Forderung ist später mit Nachdruck von Chaniotis unterstrichen worden, s Chaniotis 2003, 436; vgl ebenda 439 Wie weit die von Habicht geforderte Distinktion bekannt ist, lässt sich häufig genug nicht ersehen Eine Vorstellung, dass dies der Fall sei, muss dem Vorschlag von Bietenholz zugrundeliegen Dieser meint, freilich nicht ohne Vorbehalt, dass die Hiera Anagraphe in der Absicht geschrieben worden sei, den Kult zeitgenössischer Herrscher zu popularisieren (1994, 39): „… was a fable written

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Es versteht sich von selbst, dass Inhalt und Methode eines Werks dem Anliegen und dem vorgesehenen Empfängerkreis angepasst sind Mit dieser selbstverständlichen Grundvoraussetzung vor Augen wenden wir uns der Frage zu, wie weit Inhalt und Form der Hiera Anagraphe sich dafür eignen könnten, der einen oder beiden der in Frage kommenden Empfängergruppen das vermutete Anliegen zu vermitteln Die These leidet in allen ihren Varianten an der Schwäche, dass sie an dem eigentlichen Kern des Narrativs vorbeigeht, um stattdessen den Schwerpunkt bei einem sekundären Aspekt anzusetzen Oder, anders ausgedrückt: Damit glaubhaft gemacht werden könnte, dass die Hiera Anagraphe ein sinnvolles Argument für den hellenistischen Königskult liefern wollte, müsste gezeigt werden können, dass die Vergöttlichung der Protagonisten im Zentrum gestanden hat Das scheint jedoch nicht der Fall gewesen zu sein Was durch die Stele und die angeblichen panchäischen Traditionen gezeigt werden soll, ist doch wohl offensichtlich nicht in erster Linie, dass die Protagonisten zu Göttern geworden seien, sondern vielmehr, dass sie einst Menschen gewesen seien Nachweislich steht in der Rezeption der HA die Vermenschlichung im Zentrum, während die Vergöttlichung kein Thema ist Dörrie 1964, 218–230, stellt den wohl ausführlichsten Versuch dar, die Hiera Anagraphe im Sinne einer positiven Unterstützung des Königskults zu verstehen Dörries Standpunkt soll deshalb hier, stellvertretend für viele andere, weniger explizite Fälle, kurz überprüft werden, ungeachtet des Umstands, dass der archäologisch-epigraphische Befund, der den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet, sich inzwischen erweitert hat Dörries Monographie ist dem spezifischen Kult gewidmet, den Antiochos I von Kommagene um die Mitte des letzten vorchristlichen Jahrhunderts für sich selbst stiftete Er will geltend machen, dass die Hiera Anagraphe die Ausgestaltung dieses Kults beeinflusst habe 27 Auch bei Dörrie finden wir keine unmittelbare Auskunft über den vermeintlichen Empfängerkreis, jedoch lässt sich, wie wir gleich sehen werden, ohne weiteres der Darstellung entnehmen, dass die Herrscher selbst (oder ihre nächste Umgebung) gemeint sind Dörrie charakterisiert die Hiera Anagraphe als einen Roman, der mit seinem speziellen Mythos ein Beispiel habe geben wollen (219 f ); insofern sei das Werk doppelsinnig Sein Hintersinn bestehe darin, dass es „als Leitfaden für die Begründung eines Königskultes“ habe verstanden werden können, und zwar in der folgenden Weise: „Was den olympischen Göttern vor langer Zeit möglich war – nämlich von Königen zu Göttern zu werden –, das muss ebenso gut jedem gelingen, der sich nach ihrem offen-

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perhaps with the intent to popularize the cult of contemporary rulers “ Wohl ähnlich Wellmann 1896, s oben Anm  23 Die kommagenische Archäologie hat seit dem Erscheinen von Dörries Buch Fortschritte gemacht; auch weitere signifikante Inschriftenfragmente sind zum Vorschein gekommen Zu den Funden s Waldmann 1991, 31 f ; über die Konsequenzen für Dörries Ergänzungen und Deutung (u a m ) s ebenda 34–36, 38 f ; 46; 49; 72–77, und vgl unten Anm  36 Ausgabe der Inschrift Waldmann 1973, 62–71; Übersetzung ebenda 71–77 und Waldmann 1991, 204–208

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kundig erfolgreichen Beispiel richtet “ (Ebenda ) Diese Äußerung kann nur dahingehend verstanden werden, dass zumindest der Hintersinn für diejenigen gedacht sei, die entsprechende Ambitionen hegen, d h die Herrscher selbst 28 Auch der Kontext, in dem Dörrie sein Bild von der Hiera Anagraphe präsentiert – der kommagenische Königskult – zeigt, dass er so verstanden werden will Nun ist der Erfolg der Olympier ja gar nicht so offenkundig, da keineswegs allgemein feststand, dass sie einstige historische Könige der Frühzeit gewesen seien – ganz im Gegenteil werden sie hier zum ersten Mal als solche eingeführt, wie auch Dörrie selbst betont 29 Auch äußert er sich nirgends dazu, wie der von ihm postulierte Hintersinn des Werks sich zur Literalebene verhalte Diese Frage müsste unbedingt ausdrücklich geklärt werden, schon aus dem Grund, weil im Altertum die Methode, einen versteckten Sinn anzunehmen, vorwiegend in solchen Fällen praktisiert wurde, wo der Literalsinn in der einen oder anderen Weise als anstößig empfunden wurde 30 Dörries Modell setzt jedoch offensichtlich voraus, dass mit dem Hintersinn auch noch die Literalebene voll akzeptiert worden sei, denn es wird ausdrücklich ausgesagt, der Kultus des Antiochos, so wie er in der großen Stiftungsinschrift auf dem Nemrud Dagh hervortritt, sei „nach Theorien gestaltet, die denen des Euhemeros eng benachbart waren,“31 und mit der Theorie oder den Theorien des Euhemeros ist augenscheinlich nichts anderes gemeint als gerade die Historisierung der Olympier, die ja keiner anderen Ebene als der buchstäblichen zugewiesen werden kann Vermutlich ist Dörrie sich der Probleme, die sich aus der literarischen Form der Hiera Anagraphe ergeben, gar nicht bewusst gewesen Persönlich bin ich der Meinung, dass schon die Romanform als solche ausreicht, um die Theorie, dass das Werk dazu vorgesehen gewesen sei, die hellenistischen Herrscher – oder einen hellenistischen Herrscher – mit Argumenten für die Auferlegung des dynastischen Eigenkults zu versehen, umzustoßen Denn in solchem Falle gäbe es ja nicht den geringsten Grund, die Intention nicht ausdrücklich auszusprechen, sondern die Präsentationsweise das Anliegen verdunkeln zu lassen Die fiktionale Form wäre eher hinderlich: Die fiktionalen Züge würden als solche erkannt werden und im Zusammenhang unerwünschte Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Unternehmens aufkommen lassen Die deutliche Anlehnung an klassische Staatstheorie würde eher Gegenwartskritik und Skepsis als einen Willen zur positiven Unterstützung des neuen Konzepts signalisieren; die vorgegebene Historizität würde ihre Wirkung verfehlen

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Dörrie charakterisiert die Hiera Anagraphe als Beitrag zur philosophisch-theoretischen Diskussion um das hellenistische Gottkönigtum (218; vgl auch dens , 1967, 415) An einer philosophisch-theoretischen Diskussion können doch wohl nur Vertreter der gebildeten Elite ein Interesse gehabt haben Dörrie 1964, 219 f Vgl oben 1 4 a E Dörrie 1964, 219

6 1 Inhalt und Form der Hiera Anagraphe Frühere Deutungsvorschläge

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Wie sich bei genauerem Betrachten der großen Stiftungsinschrift vom Nemrud Dagh sowie der von Dörrie vorgeschlagenen Ergänzungen und seiner Deutung davon herausstellt, kann der Vorschlag nicht aufrechterhalten werden Wenn wir Dörries Deutung akzeptieren, macht Antiochos den Anspruch, nicht nur von den großen Göttern abzustammen,32 sondern sogar gewissermaßen schon zu ihnen heraufgestiegen zu sein Grund dieses letzten Anspruchs sei sein angeblicher Katasterismos 33 Aber dieser angebliche Anspruch des Antiochos, ein Gott zu sein, hat mit der für die Hiera Anagraphe charakteristischen Vermenschlichung und Historisierung der Götter nichts zu tun Vielmehr behalten die Götter ihre herkömmliche Stellung, ja, sogar noch mehr, denn nicht einmal Herakles erscheint hier als ehemaliger Mensch 34 Um den Anspruch, den er Antiochos zuschreibt, zu charakterisieren, bedient sich Dörrie einer Terminologie, die dem Kurzreferat des Eusebios aus Diodoros entnommen ist und dort dazu dient, die Distinktion zwischen ewigen und unvergänglichen Göttern einerseits und irdischen Göttern andererseits auszudrücken (T 25 W) 35 Der übersteigerte Anspruch des Antiochos wird von Dörrie folgendermaßen beschrieben: „Er ist nicht mehr ἐπίγειος θεός, sondern er ist ἀίδιος καὶ ἄφθαρτος, im Sinne der Unterscheidung des Euhemeros T 2 bei Diodoros 6,2,2, geworden “36 Nun besteht aber die Pointe der Göttergeschichte der Hiera Anagraphe gerade darin, die vor der Zeit des Euhemeros grundsätzlich als ἀίδιοι καὶ ἄφθαρτοι θεοί betrachteten Olympier insgesamt in ἐπίγειοι θεοί zu verwandeln Es ist also schon aus diesem Grund offenkundig, dass die These von einem Einfluss der Hiera Anagraphe auf den Königskult in Kommagene verfehlt ist Der Kult auf dem Nemrud Dagh kann nicht als Beleg dafür dienen, dass die Theorie des Euhemeros als Rechtfertigung oder Begründung eines Herrscherkults gelesen werden konnte, geschweige denn in dieser Absicht konzipiert worden ist Dörrie dürfte sich über die Widersprüchlichkeit seiner Argumentation nicht im Klaren gewesen sein Was seine Darstellung aber deutlich genug zeigt, ist, dass die Historisierung der Olympier einem hellenistischen Herrscher, der vorhatte, sich selber einen Kult einzurichten, von keinem Nutzen sein konnte

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Dörrie 1964, 185 und bes 187 Dörrie 1964, 202–207 Aufnahme unter die großen Götter ebenda 186–190 Herakles wird hier zu den ‚Hochgöttern‘ gezält – er erscheint in der Stiftungsurkunde als Artagnes Herakles Ares (Waldmann 1973, 64 ll  55 f ) Griechischer Tradition ist Herakles als höherer Gott nicht unbekannt, s dazu unten 6 2 Anm  63 In Kommagene mag die Gleichsetzung mit dem iranischen Gott Artagnes (Verethragna) seinen höheren Rang begünstigt haben (Zu Herakles Artagnes s auch Huttner 1997, 198–202; Bonnet 1992, 185 ) S dazu eingehender unten im nächsten Abschnitt (6 2 ) Dörrie 1964, 26 Gemeint ist Euhemeros fr  2 bei Jacoby, FGrHist 63 = Diod 6,1,2 (d h T 25 W) Zur Terminologie s unten Abschnitt 6 2 Es sei hier hinzugefügt, dass der Befund auf dem Nemrud Dagh seitdem nicht dahingehend gedeutet wird, dass Antiochos darauf Anspruch macht, den Hochgöttern gleichgestellt zu sein; ganz im Gegenteil bringt er wiederholt zum Ausdruck, dass er zwischen ihrem Status und seinem eigenen unterscheidet (Waldmann 1973, 208; vgl 202; 1991, 39)

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

Der Weg, den Antiochos zur Legitimierung seines Kults wählte, war schon von Alexander beschritten worden Die Methode bestand darin, den Herrscher den Göttern anzugleichen Der kanonische Fall ist Alexander selbst Seine Sonderstellung wurde damit begründet, dass er Sohn des Zeus sei Diese Sonderstellung Alexanders wurde vom Ammonorakel in Siwah bestätigt 37 In Kleinasien fand der Anspruch sofort Anklang Die Bereitwilligkeit der jonischen Städte, in Anerkennung der Förderung und der Unterstützung, die sie von Alexander erhielten, ihm göttliche Verehrung anzubieten, wurde durch die Entscheidung des Orakels noch angefacht Diese Bereitwilligkeit zeigte sich auch darin, dass Apollon zu Didyma und die erythräische Sibylle den Anspruch billigten 38 Dies alles ist Euhemeros mit Sicherheit wohlbekannt gewesen Vermutlich hat er auch teilweise miterlebt, wie dieses Modell sowohl in lokalen wie in dynastischen Kulten Nachfolge fand 39 Die Athener begrüßten Demetrios Poliorketes bei seinem vierten Einzug in die Stadt als Sohn Poseidons und der Aphrodite 40 Seleukos I galt als Sohn Apollons 41 Das Modell blieb fortan produktiv Octavian gehört zu den Mächtigen spä37

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Strabon 17,1,43; Plut Alexander 27,5–6 und 9 (Kallisthenes FGrHist 124 fr  14 b); ebenda 33,1, vgl 28,6; de Alex. M. fortuna et virtute, mor 331a; Curtius Rufus 4,7,28–30; 8,1,42; 8,5,5; 8,10,1 u a Mit seinem Anspruch, Sohn des Zeus zu sein, hat Alexander die schon bestehende Tradition von der Herkunft seiner Familie – die natürlich weiterhin ihre Geltung behielt – um einen wesentlichen grundsätzlichen Schritt überboten Denn Herakles, der angebliche Ahnherr der Familie (Arrianos, Anab 3,2; Plut Alexander 2,1), galt als historische Gestalt und konnte somit im Prinzip einer Genealogie an die Spitze gestellt werden, ohne dass die Grenze zwischen Göttlichem und Sterblichem so drastisch verwischt wurde Wie weit die beiden jonischen Orakel vom Urteil Ammons unabhängig gewesen sind (so Habicht 1970, 23) oder vielmehr ihm folgten (Badian 1981, 46 = 2012, 256 und 1996, 18 = 2012, 372) kann hier dahingestellt bleiben Zu den Alexanderkulten kleinasiatischer Städte s Habicht 21970, 17–25 Dagegen mag die Gewohnheit, den König mit einer traditionellen Gottheit zu identifizieren oder, richtiger, den König als irdische Erscheinungsform einer höheren traditionellen Gottheit zu betrachten, erst etwas später aufgekommen sein (vgl Walbank 1984, 85 f ; Aalders 1975, 26) Wir sehen aber hier denselben Grundmechanismus am Werke: Der Sterbliche wird den Göttern angeglichen – er wird auf ihre Ebene erhöht S den berühmten Ityphallikos auf Demetrios (Text bei Athenaios 6,253d–f; Marcovich 1988, 9 f ; Kolde 2003, 380 f ) Zur Datierung (291 oder 290) s z B Kolde 2003, 384–389 Es ist angenommen worden, dass dieser Anspruch ebenfalls von Apollon zu Didyma ausdrücklich gutgeheißen worden ist (Habicht 1970, 86) In einer berühmten Inschrift aus Erythrai, wohl aus dem Jahr 281 (I. Erythrai Nr 205,74 ff S  340), heißt Seleukos I Sohn Apollons Zwar ist neuerdings in Frage gestellt worden, dass diese Tradition bis in die Zeit des Seleukos selbst zurückgehe, s Iossif 2011, 244–248 Iossifs Vorschlag, dass die betreffenden Zeilen der Inschrift nicht auf Seleukos I, sondern auf seinen Urenkel Seleukos II zu beziehen seien, und zwar weil die Phrase Ἀπόλλωνος κυανοπλοκάμου παῖδα ebenso gut als „Diener des … Apollon“ wie als „Sohn …“ gedeutet werden könne (Iossif ebenda 247), muss jedoch als verfehlt gelten Die unmittelbar folgenden Worte der Inschrift zeigen unzweideutig, dass παῖδα hier als „Sohn“ zu verstehen ist: ὃν αὐτὸς γείνατο χρυσολύρας, „den der Spieler der goldenen Leier selbst zeugte“ Dass die Abstammung der Familie von Apollon zu einem festen Bestandteil seleukidischer Tradition wurde, ist epigraphisch gut belegt S z  B I. Ilion 32,26‒27 (S  85) = OGIS 219,27, Ehrendekret für Antiochos I, „bald nach 280“ (s I Ilion S  84); OGIS 227 = Rehm, Didyma Nr 493, Seleukos II

6 1 Inhalt und Form der Hiera Anagraphe Frühere Deutungsvorschläge

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terer Zeiten, von denen Entsprechendes erzählt wurde 42 Wir sollten nicht davon ausgehen, dass dies alles nur als leerer Schein und bloße Rhetorik verstanden worden sei Den besten Beweis für die anhaltende tiefe Überzeugungskraft des Modells bietet sein

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(um 245); I. Iasos 4,54 (S  21) = OGIS 237,5 f , für Antiochos III (195–190 v  Chr , s I Iasos S  23); OGIS 746, Antiochos III (nach 197) Die Legende von der göttlichen Abstammung des Seleukos I wird bei Justin Phil 15,4,3–6 erzählt Suet Divus Augustus 94,4 Det rhetorische Topos der göttlichen Abstammung wurde als konventionelles Herrscherlob institutionalisiert und nicht zuletzt in der Kaiserpanegyrik eifrig benutzt; vgl wie Menander Rhetor (3 Jahrh n  Chr ) es empfiehlt, gerade dieses Thema als festen Bestandteil von Lobreden auf den Kaiser zu verwenden, Men 2,370, 21 ff Russell u Wilson S  80 Der Elite stand die Möglichkeit einer positiven metaphorischen Deutung zur Verfügung, genau wie etwa im Falle des Herakles (Cornutus c  31,1 1260–1265 Nesselrath, s dazu unten Anm  63 gegen Ende; Dion or 4,20–23; Gellius, Noctes Atticae 15,21; Maximos Tyr diss 15,6 146 und 34,8 139; u a ) Eine Fassung wie die des ityphallischen Hymnus auf Demetrios, nach der beide Eltern des Gefeierten, und nicht nur der Vater, Götter seien (oben, Anm  40), mag gewiss vom Dichter selber als Metapher gedacht gewesen sein (Bergmann 1998, 25; vgl dazu Versnel 2011, 453–456), dass er aber von Seiten des breiten Publikums ein metaphorisches Verständnis erwartet haben sollte, halte ich für wenig wahrscheinlich Denn dass von Seiten der Elite und der Herrscher selber im Allgemeinen damit gerechnet wurde, dass breite Schichten der Bevölkerung dazu bereit gewesen seien, den Legenden und Gerüchten von der göttlichen Zeugung der Mächtigen Glauben zu schenken, kann m E nicht bezweifelt werden Dass es sich so verhalten hat, lässt sich zahlreichen Texten entnehmen Vgl z  B Curtius Rufus 8,5,5: „Er / d h Alexander, MWS / wollte nicht bloß, dass man sagen sollte, er sei Jupiters Sohn, sondern auch, dass man daran glauben sollte, ganz als ob er genauso über die Gedanken herrschen könnte wie über die Zungen“ (Iovis filium non dici tantum, sed etiam credi volebat, tamquam perinde animis imperare posset ac linguis) Das Konzept gilt als nützliche politisch-soziale Strategie in einer Weise, die an die oben 3 2 1 und 3 2 1 1 besprochene Haltung erinnert So bemerkt Cicero in rep 2,4, dass die Tradition, Romulus sei Sohn des Mars, von den Vätern „aus klugen Gründen weitergegeben“ worden sei (famae … sapienter a maioribus proditae), ein Wortlaut, der impliziert, dass die Väter auf buchstäbliche Deutung der fama Wert gelegt hätten In anderen Fällen werden die Vorstellungen auf schmeichlerische Dichter oder Geschichtsschreiber zurückgeführt oder als Wundergeschichten oder als falsche Gerüchte bezeichnet, etwas was wiederum darauf hindeutet, dass die Wirkung eher als schädlich aufgefasst wird (Demochares FGrHist 75 fr  2 apud Athen 6,253a–c; Plut de Alex. M. fortuna et virtute, mor 331a; Arrianos, Anab 4,10,2) Livius beschreibt eindrucksvoll die uneindeutige Haltung, die der ältere Scipio den Gerüchten von seiner göttlichen Herkunft (einer Variante der Alexanderlegende) gegenüber gezeigt haben soll (26,19,4–8) Nie soll Scipio – wie es sich ja doch eigentlich für einen Mann seiner Bildung geziemt hätte – von dieser Wundererzählung ausdrücklich Abstand genommen haben; „ganz im Gegenteil habe er sie durch eine raffinierte Art, derartige Gerüchte weder abzuweisen noch zu bestätigen, noch angefacht“ (Liv 26,19,8: … quin potius aucta arte quadam nec abnuendi tale quicquam nec adfirmandi) In all diesen Äußerungen scheint irgendwie durch, dass mit einer gläubigen Haltung des Volks gerechnet wird, die manchmal unterstützt wird, manchmal auch nicht, jedoch immer aus einer geringschätzigen Perspektive beurteilt wird Die meisten diesbezüglichen Aussagen finden sich in Texten späteren Datums Nichts deutet aber darauf, dass die Vorstellungen der gebildeten Elite von der Gläubigkeit des Volks in dieser Hinsicht sich vom 4 /3 vorchristlichen Jahrhundert bis zum letzten sich wesentlich geändert hätten Ob diese Vorstellungen reell begründet gewesen sind oder nicht, ist eine andere Frage, die für uns im Grunde nicht entscheidend ist – es reicht, dass die Gebildeten davon überzeugt gewesen sind, dass es sich so verhalte Persönlich sehe ich jedoch hier keinen Anlass, dies zu bezweifeln

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Triumph in der christlichen Kirche, in der die jungfräuliche Geburt Jesu noch heute gläubige Befürworter findet 43 Ist es vorstellbar, dass Euhemeros auf den Gedanken gekommen wäre, seine Geschichte hätte den Herrschern seiner Zeit ein besseres Argument zur Unterstützung ihrer Kulte bieten können? Für das Kernnarrativ der Hiera Anagraphe charakteristisch ist die Angleichung der Götter an die Menschen Sollen wir glauben, dass die hellenistischen Könige einen Augenblick daran interessiert gewesen wären, ihre göttlichen Väter und Großväter nun plötzlich als ehemalige Menschen zu verstehen, geschweige denn diese Idee zu propagieren? Wer sich für einen Abkömmling des ewigen und unvergänglichen Zeus ausgibt, warum sollte er auf die Aura, die diese seine Abstammung ihm in den Augen seiner Untertanen verlieh, verzichten, und nun seinen göttlichen Stammbaum stattdessen in einen menschlichen verwandeln? Es ist nunmehr im Grunde überflüssig, auf die Form der HA zurückzukommen, um die Frage zu stellen, wie weit diese spezifische literarische Form sich für den alternativen Empfängerkreis – die Untertanen – geeignet hätte So soll dies hier nur noch der Vollständigkeit halber geschehen Zwar muss zugegeben werden, dass eine IchErzählung in Form eines Romans sich besser eignen würde, die Untertanen anzusprechen als ihre Herrscher Es hätte ja in solchem Falle als Vorteil gelten müssen, dass das Werk mit größter Wahrscheinlichkeit von der Mehrheit des Publikums als tatsächliche Dokumentation verstanden werden würde,44 und die pseudodokumentarische ‚Evidenz‘ hätte folglich eine sinnvolle Aufgabe gehabt Aber geeignete Form allein reicht nicht aus – der Inhalt muss ja die postulierte Funktion erfüllen können, und das kann nicht der Fall gewesen sein Wie hätte der Normalkultausüber die radikale Vermenschlichung der Olympier als Beispiel für die Erhöhung menschlicher Herrscher zu den Göttern auffassen können, zumal die zur Zeit gängige Methode geradezu umgekehrt verfuhr? Anstelle der vertrauten Begründung, der Sonderstatus des Herrschers hänge damit zusammen, dass er im Grunde schon irgendwie göttlich sei, fände das Publikum hier ein Modell, nach dem allen gewohnten Denkmustern entgegen die höheren Götter selbst ursprüngliche Menschen seien, die erst sekundär zu Göttern erhoben worden seien Es wäre hier vom Publikum verlangt, nicht nur diese ihm gänzlich unvertraute Art, die Olympier zu betrachten, zu akzeptieren, sondern auch noch darin ein positives Argument für die Verehrung zeitgenössischer Herrscher zu erkennen Aber inwiefern legt eine Annäherung der Götter an die Menschen, wie 43

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Über die Geschichte der Idee vom Anfang bis zum Ende des 20 Jahrhunderts orientiert in handlicher Form Lüdemann 1997 und 1998 Noch im Jahr 2013 entfachte sich in Schweden anlässlich einer Äußerung der neuen Erzbischöfin in den öffentlichen Medien eine heftige Debatte um dieses Thema Etliche Kirchenmitglieder erklärten sich damit nicht einverstanden, dass die höchste Leiterin der Kirche der Meinung sei, die Jungfrauengeburt sei im metaphorischen Sinne zu verstehen, und kündeten ihre Absicht an, deshalb aus der Kirche auszutreten Vgl oben, Anm 20

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sie in der Hiera Anagraphe vorgenommen wird, göttliche Verehrung des Königs nahe? Ich denke, es liegt dann viel näher, darin einen Versuch zur Degradierung der Götter zu erblicken, wie es ja auch tatsächlich geschah Zudem sieht es zumindest im städtischen Bereich nicht danach aus, als hätte ein Bedarf an literarischen Argumenten vorgelegen Lokale Kulte wurden den Mächtigen der Zeit in großer Menge angeboten Sie werden in den zeitgenössischen Dokumenten immer mit Hinweis auf die konkrete Leistung des Betreffenden für das Wohl und Heil der Stadt begründet, die als göttliche Wohltat und Manifestation übermenschlicher Kraft empfunden wurde Ohne diese politischen Vorbedingungen kam kein Kult zustande 45 Wenn Habicht recht hat, haben die kultstiftenden Gemeinden keine Schwierigkeiten gehabt, unter solchen Vorbedingungen Göttlichkeit und menschliches Wesen zugleich in der so verehrten Person kombiniert zu sehen 46 Falls aber der göttliche Status des im Kult verehrten Herrschers überhaupt in den Dokumenten zur Sprache kommt, handelt es sich auch hier um die im Verhältnis zur Göttergeschichte der Hiera Anagraphe umgekehrte Sichtweise: Der sterbliche Herrscher wird den Göttern angeglichen Das Grundargument der HA (Existenz der Götter als sterbliche Könige der Frühgeschichte der Menschheit) wäre mit anderen Worten nicht angekommen, das Argumentationsziel wäre entsprechend weder erreicht noch, wie man vermuten muss, überhaupt erkannt worden Hinzu kommt, dass die jüngsten Ergebnisse der Wissenschaft sowieso die Annahme eines engeren Leserkreises unterstützen Die intensive Erforschung des antiken Romans und seiner Welt in den letzten Jahrzehnten lehrt uns, dass diese Literaturform sich vorwiegend an ein erfahrenes Publikum mit hoher Bildung wendete Die erhaltenen Beispiele sind voll von literarischen und z T auch philosophischen Referenzen und Allusionen, deren Aufschlüsselung für das Verständnis von Handlung, Rollen und Dialog bedeutungsvoll ist 47 Wir können, wie ich glaube, getrost ausschließen, dass das Anliegen  – oder eins der Anliegen – der Hiera Anagraphe darin bestanden hat, auf die hellenistische Welt im Allgemeinen wie auch auf bestimmte Länder, Städte oder Gruppen der hellenistischen Welt zugunsten der göttlichen Verehrung ihrer Herrscher einzuwirken Das Werk stellt kein geeignetes Instrument dar, eine solche Intention zu verwirklichen Und so ist auch interessanterweise gelegentlich vorgeschlagen worden, dass die Hiera Anagraphe umgekehrt als Satire auf den Herrscherkult zu verstehen sei Weit davon entfernt, den Herrscherkult unterstützen zu wollen, habe Euhemeros sich vielmehr da45 46 47

Reiche Dokumentation bei Habicht 21970 im ersten Teil (3‒126); s auch den zweiten Teil passim und bes 160–171 Habicht 21970, 171–173; 195–200 Chaniotis 2003, 433 spricht hier von „the king’s mortal divinity“ S z B mehrere Beiträge in Whitmarsh 2008, bes Hunter 261–271 („Ancient Readers“); Whitmarsh 72–87 („Class“) bzw 1–14 („Introduction“) Dort auch reichhaltige Literaturangaben Die Hiera Anagraphe stellt zwar ein frühes, nur in Fragmenten erhaltenes Beispiel dar, jedoch finden wir in diesen schon genug Anzeichen dafür, dass das Narrativ auch hier in erster Linie initiierte Leser angesprochen haben dürfte (vgl oben 6 1 a E )

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gegen gewendet 48 Im Gegensatz zur Theorie einer positiven Unterstützung entbehrt dieser Vorschlag nicht einer gewissen Plausibilität und Attraktivität V  a ließe sich von einem solchen Vorhaben aus die spezifische literarische Form funktional begründen, denn eine gewisse Einhüllung wäre hier durchaus angebracht S hierzu noch unten am Ende dieses Abschnitts Auffallend ist im Zusammenhang mit der vermeintlichen Funktion der Hiera Anagraphe als Begründung des Herrscherkults der Umstand, dass eine Diskussion, wie weit Zeus und die übrigen Protagonisten des Götternarrativs als tatsächlich göttlich dargestellt worden sind und, falls ja, in welcher Weise, beinahe gänzlich fehlt V  a in den nicht allzu seltenen Fällen, wo ausdrücklich geltend gemacht wird, Euhemeros habe den Herrscherkult theoretisch begründen wollen, hätte man eine Erörterung dieses Problems erwartet 49 Denn worin sollte das Theoretische bestanden haben, falls nicht eben in einer philosophischen Stellungnahme zur Möglichkeit einer Göttlichkeit des Menschen?50 Das Modell, das darauf hinauslief, den sterblichen Herrscher (mehr oder weniger direkt) von einem Gott abstammen zu lassen, kam für die gebildete Elite nicht in Frage Die antike Philosophie hat mit einer Möglichkeit, in leidlich einwandfreier Weise einem Menschen noch während seines Lebens einen reellen göttlichen Status zuzuerkennen, nicht gerechnet Allein eine Vergöttlichung nach dem Tod konnte mit philosophischen Argumenten unterbaut werden, und zwar mit Hilfe des Konzepts von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele Es wäre also für Euhemeros, hätte er nun die Absicht gehabt, die Vergöttlichung der Herrscher theoretisch zu begründen, kaum ein anderes potentielles Gedankenmodell in Frage gekommen als die Vorstellung von einer Vergöttlichung menschlicher Seelen nach dem Tod Daraus ließe sich aber nur eine Unterstützung für einen postumen Kult ableiten Die platonische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele bot die Möglichkeit an, die uralte Vorstellung, dass in der Vorzeit gewisse, besonders tugendhafte oder wohltätige Menschen (Herakles, Asklepios, die Dioskuren, u U Dionysos51) nach ihrem Tod zu – wahren – Göttern geworden seien, philosophisch zu begründen und als generell gültig aufzufassen ‚Unsterblich‘ heißt freilich nicht unbedingt ‚göttlich‘ Es ließe sich denken, dass jene aus späteren Texten bekannte Weiterbildung des Unsterblichkeitsglaubens, die darin bestand, dass mit einer weiteren Aufstiegsmöglichkeit der besonders verdienstlichen Seelen zu wahrer Göttlichkeit gerechnet wurde,52 im Kontext des neuen Phänomens 48 49 50 51 52

S etwa Holzberg 1995, 625 (etwas zögernd) und, neuerdings, Roubekas 2017, 101–107 Wie z B bei Chaniotis 2003, 435, oder bei Dörrie 1964, 218 (s oben Anm  28) Auch Dörrie urteilt so, s oben, bei Anm  28 S unten 6 2 , m Anm  63 und vgl 6 3 Anm  74 S etwa Cicero, leg 2,27: Quod autem ex hominum genere consecratos, sicut Herculem et ceteros, coli lex iubet, indicat omnium quidem animos inmortalis esse, sed fortium bonorumque divinos „Der Umstand, dass das Gesetz uns befiehlt, diejenigen zu verehren, die aus dem Menschengeschlecht zu Göttern erhoben wurden, wie Hercules und die übrigen, zeigt, dass die Seelen aller Menschen unsterblich sind, aber die der tapferen und tugendhaften Menschen göttlich “ Vgl auch z B Cic rep 3,40; nat.

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des Herrscherkults aufgekommen oder zumindest davon angefacht gewesen sei Das spricht aber weiter nicht dafür, dass die Hiera Anagraphe in diesen Kontext gehöre Denn es müsste – vorausgesetzt, dass wahrscheinlich gemacht werden könnte, dass die reale Vergöttlichung auf der Erzählstufe nicht bestritten worden ist, s dazu gleich unten – begründet werden, inwiefern es ein Vorteil sei, die schon vorhandenen, vollwertigen und evidenten Beispiele für Vergöttlichung von Menschen zu übergehen, um stattdessen einen Umweg zu machen und erst mit einer unerwarteten, ja, gänzlich unerhörten Vermenschlichung von ursprünglichen Göttern zu beginnen, um dann wieder aus diesen Götter zu machen Inwiefern stellen die Historisierung der Olympier und ihre ‚sekundäre‘ Vergöttlichung ein besseres Argument für die Möglichkeit der Vergöttlichung von Menschen dar als die althergebrachten, vertrauten Fälle? Eine in passender Weise entmythologisierte Schilderung der Laufbahn des Herakles, der Taten der Dioskuren oder etwa der Triumphe des Dionysos hätte hier weit bessere Dienste geleistet – und wäre auch verstanden worden Nicht von ungefähr gelten in der Tradition gerade Herakles und Dionysos als Vorbilder Alexanders, denen er nachzuahmen strebte und die er z T auch zu übertreffen versuchte 53 Und wenn in der lateinischen Literatur auf die Möglichkeit der Vergöttlichung als Belohnung für große Taten und übermenschliche Leistungen hingewiesen wird, gelten regelmäßig Herakles oder Romulus als Vorbilder und Beispiele, nicht etwa Jupiter, Neptun, Apollon usw 54

53 54

deor 3,12; Philod piet. col 6,14 p 17 Henrichs 1974 (Chrysippos); Plutarchos, Romulus 28,7 ff ; def. or. 415b; Dion Prus or 3,54 Strabon 15,1,8; Plut fort. Rom 326b; de Alexandri M. fort. et virt 332a; Curtius Rufus 8,5,8; 8,10,1; 9,2,29; Arrianos, Anab 4,8,3; 4,30,4 (vgl 4,28,4); 5,2,1; Pseudokallisthenes 3,30,15 f p 133 Kroll u a Vgl dazu meinen Artikel 2014 (m Anm  23) Cic rep 2,18; ibid 3,40; 6,16; ibid fr  inc 6 Ziegler = Lact inst 1,18,13; Tusc 4,50; pro Sestio 143; nat. deor 2,62; vgl 3,12; 3,50; Hor c 3,3,9–16 u a Vgl Tac ann 4,38 Dass in der Forschung auch in solchen Zusammenhängen von Euhemerismus gesprochen wird, liegt an der unglücklichen Verwirrung hinsichtlich der Verwendung des Begriffs S dazu unten 6 5 Ich kenne nur einen einzigen Fall, wo im Zusammenhang mit einer positiven Mahnung, in diesem Falle zum Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, auf die euhemeristische Grundidee hingewiesen wird Dies ist bei Cic Tusc 1,29 Der Magister versucht, seinen Auditor davon zu überzeugen, dass aus dem römischen Pontifikalrecht und aus den Begräbnissitten hervorgehe, dass die Römer seit alters her damit gerechnet hätten, dass mit dem Tod kein endgültiges Ende des Lebens erfolge Für die bedeutenden Menschen (claris viris et feminis) gebe es den Weg in den Himmel, während die übrigen unter der Erde irgendwie weiterlebten (§ 27) Als Beispiele der clari viri et feminae, denen jenes ehrenvolle Los zuteil geworden sei, nennt der Magister Romulus, Liber (Semela natus, vgl unten Anm  74 a E ), die Dioskuren und Ino/Leucothea (die er mit röm Matuta gleichsetzt), alle zur normalen Kategorie der di facti (unten Anm  63) gehörig (§ 28) Darauf fügt er als neue und besondere Kategorie folgendes hinzu (§ 29): Si vero scrutari vetera et ex is ea quae scriptores Graeciae prodiderunt eruere coner, ipsi illi maiorum gentium dii qui habentur hinc nobis profecti in caelum reperientur. quaere, quorum demonstrentur sepulcra in Graecia … „Falls ich mir vornehme, die alte Überlieferung zu untersuchen und das, was griechische Autoren geschrieben haben, daraus auszugraben versuche, werden wir finden, dass auch jene Götter, die als patrizisch gelten, von unserer Welt in den Himmel gestiegen sein sollen Frage bloß, wessen Gräber in Griechenland gezeigt werden …“ (Mit der Phrase maiorum gentium di knüpft Cicero an die terminologische Distinktion

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Es kommt aber hier noch ein komplizierender Faktor hinzu Die Erörterung der Frage nach der Göttlichkeit der Protagonisten des Kernnarrativs kann nicht ohne Rücksicht auf die besondere Komplikation vor sich gehen, die sich aus der besonderen literarischen Form der Hiera Anagraphe ergibt Dass die Form einer Ich-Erzählung Konsequenzen für das Problem der Göttlichkeit oder Nicht-Göttlichkeit der Olympier in der HA mit sich führt, ist in der wissenschaftlichen Diskussion ebenso übersehen worden wie die Bedeutung derselben für unsere Beurteilung von Funktion und Intention des Götternarrativs überhaupt Wir müssen uns endlich einmal voll bewusst machen, dass die Hiera Anagraphe mit verschiedenen Diskursebenen operiert Was zu klären gilt, ist dementsprechend selbstverständlich nicht, wie weit die als Götter verehrten Sterblichen in der Inschrift der Tempelstele, in anderen etwaigen Dokumenten, mit denen der Erzähler in Kontakt gekommen zu sein vorgibt, und in den Berichten der Priester für tatsächlich vergöttlicht ausgegeben worden sind oder nicht Denn dass dies der Fall gewesen ist, können wir getrost voraussetzen Selbstverständlich haben Zeus und seine Verwandten nicht zugleich die Vergöttlichung propagiert und daran Zweifel geäußert Und dass den panchäischen Priestern eine Rolle als Kritiker der von ihnen selbst gepflegten Tradition zugedacht gewesen wäre, ist wenig wahrscheinlich 55 Unser Blick muss sich darauf richten, wie der Ich-Erzähler sich zu all dem, was ihm angeblich referiert und vorgezeigt worden ist, verhalten hat Wir müssen uns also fragen, ob auf der Erzählstufe die für das Kernnarrativ mit großer Wahrscheinlichkeit vorauszusetzende Göttlichkeit der Hauptpersonen unterstützt und bejaht worden ist,

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zwischen dem alten, ursprünglichen Senatsadel und dem jüngeren, patres minorum gentium, an ) Dass der Magister die Vorstellung nicht selbst umfasst, ist ohne weiteres klar, aber immerhin ist er bereit, sich darauf zu berufen Für uns ist die Stelle v a aus dem Grund interessant, dass die Bemerkung, um im Kontext sinnvoll zu funktionieren, eine tatsächliche Vergöttlichung voraussetzen muss Am ehesten versteht man den Text wohl so, dass die betreffenden scriptores Graeciae diese Position auch selbst vertreten haben (Die Gräber sind natürlich dazu da, das menschliche Wesen, nicht das göttliche, zu beweisen, vgl unten Anm  62 ) Hirzel meinte seinerzeit, die Priester der panchäischen Insel seien dazu da, die Volksfrömmigkeit aufrechtzuerhalten; selbst wüssten sie genau, dass der Glaube an die Götter, die ja nichts als Menschen seien, allein als politisch-soziales Instrument berechtigt sei (Hirzel 1895, 394–397) Ob Hirzel sich vorstellt, dass die Priester dies dem Besucher verraten hätten, oder ob dieser selbst zu diesem Schluss gekommen sei, geht nicht hervor So wie Hirzel die HA betrachtet, ist sie eine Tendenzschrift, die gegen die Ptolemäer gerichtet ist (394); Euhemeros selbst, „in der freieren Luft“ am Hofe Kassanders tätig (vgl T 3 W), habe über die orthodoxere Atmosphäre in Alexandrien ironisieren wollen, und zwar habe er u a zeigen wollen, dass die traditionelle Religion eben nur leerer Schein sei und der Glaube an die angeblichen Götter, die nichts als Menschen seien, „gebildeten Männern nicht zugemuthet werden könne“ (395) Diese Deutung fußt auf einer ganzen Reihe von Prämissen, deren Richtigkeit erst hätte erwiesen werden müssen So wird z B offensichtlich vorausgesetzt, dass das in der HA vorgelegte Modell eine reale Vergöttlichung der Olympier nicht vorgesehen habe, ferner dass dieses Modell am Hofe Kassanders, wo Euhemeros tätig gewesen sein soll, eine etablierte Selbstverständlichkeit sei, und dass die Kritik oder Ironie in Alexandrien nachvollziehbar gewesen sei Vgl auch unten 6 2 Anm  71 (Zumschlinge)

6 1 Inhalt und Form der Hiera Anagraphe Frühere Deutungsvorschläge

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oder ob der Erzähler vielmehr gezeigt oder angedeutet hat, dass aus seiner Sicht den Betreffenden keine reale Vergöttlichung zuteil geworden sei, ja, vielleicht, dass eine solche überhaupt nicht möglich sei Es geht also nicht an, den Umstand, dass in der angeblichen dokumentarischen Evidenz oder in den Berichten der Priester Phrasen wie ‚zu den Göttern aufsteigen‘ o ä vorgekommen sein sollen  – wie es nach Lact inst 1,11,46 zu urteilen der Fall gewesen ist – als Indiz dafür anzuführen, dass ‚Euhemeros‘ die Betreffenden für wirklich vergöttlicht gehalten habe Dieser Wortlaut wird ja berichtet, d h er stammt von anderen Sprechern 56 Dass im Narrativ Zeus selbst und seine Nachkommen seine eigene und der Vorfahren Vergöttlichung als reale Tatsache darstellen, ist ebenso selbstverständlich wie trivial Dass die ‚dokumentarische Evidenz‘ (d h die angeblichen Inschriften) vom Erzähler als tatsächlich existierend und aussagekräftig dargestellt worden ist, liegt ebenfalls auf der Hand Sie ‚beweist‘ die frühere historische Existenz der Protagonisten des Kernnarrativs Vergöttlichung kann nicht in dieser Weise ‚bewiesen‘ werden Hier müsste also gefragt werden, wie weit der Ich-Erzähler auch noch diesen Aspekt der panchäischen Tradition mit akzeptiert und unterstützt hat Vom Standpunkt der hier kritisierten Position wäre eine positive Entscheidung des Narrators erforderlich Denn es wäre doch wohl ein ganz und gar undenkbares Szenario, dass jemand, der einem Herrscher Argumente oder Rechtfertigung eines Eigenkults liefern wollte, seinen Narrator so agieren ließe, dass die als Vorbilder gedachten vergöttlichten Herrscher schließlich nur als vermeintliche Götter hervorträten 57 Umgekehrt setzt der oben kurz angesprochene Vorschlag, nach dem die HA als Satire auf den Herrscherkult konzipiert sei, gerade einen solchen Standpunkt des Erzählers voraus Es müsste also genau dieselbe Frage erst gestellt und geklärt werden, und dabei müsste die Antwort negativ ausfallen In solchem Falle wäre zu erwarten, dass die negative Haltung in einer subtilen, indirekten Weise ausgedrückt worden wäre Die – verhüllte – Pointe wäre dann etwa die folgende: „Menschliche Herrscher können machen was sie wollen, zu Göttern werden sie nie!“58 Aber warum sollte die

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Lact inst 1,11,46  … (Iuppiter) aetate pessum acta in Creta uitam commutauit et ad deos abiit (T 69 A) Dieses Argument wird von Courtney 1999, 37 und von Dochhorn 2000, 279 angeführt Dass die Phrase als solche die Akzeptanz der Vergöttlichung beinhaltet, will ich nicht bestreiten (vgl Cic  Tusc 1,32: abiit ad deos Hercules) Eine praktisch identische Phrase (ad deos pervenire) findet sich in Cic nat. deor 3,41 (Text unten Anm  75) bzw 1,119, an letzterer Stelle gerade auf die Hiera Anagraphe bezogen, eine Stelle, auf die ich unten 6 3 a A , mit Anm 73; 6 3 a E ; 6 4 a A zurückkomme Das Problem wäre genau so aktuell, wenn wir mit Rüpke annehmen möchten, die Absicht des Euhemeros habe darin bestanden, die Kritik am beginnenden Herrscherkult abzuweisen (2007, 123) (Unter ‚Herrscherkult‘ kann wohl in diesem Fall nur der dynastische Staatskult gemeint sein ) Gerade falls die Pointe nicht explizit ausgesprochen wäre, hätte dies für den Umstand mit verantwortlich gewesen sein können, dass unsere Testimonien nichts zur Sache verlauten lassen Umso mehr nimmt es wunder, dass Winiarczyk ausgerechnet dieser modernen Theorie mit dem Einwand begegnet, man hätte das Werk im Altertum nicht so verstanden (Winiarczyk 2013, 100) Ein

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

Vermenschlichung der höchsten Götter eine effektive  – oder überhaupt verständliche – Art gewesen sein, den Herrscherkult zu verspotten? Das Publikum würde doch wohl eher diese Götter selber und ihren Kult als Zielscheibe auffassen Es sei hier vorgreifend vermerkt, dass die hier für beide Thesen als notwendig bezeichnete Entscheidung mit Hilfe unserer Quellen sich kaum treffen lässt (s noch unten 6 3 ) Zuverlässige Information über die Sichtweise des Erzählers fehlt,59 ein weiteres Indiz dafür, dass die Vergöttlichung der Protagonisten des Kernnarrativs für die Hiera Anagraphe von untergeordneter Bedeutung gewesen ist Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass wir für die Hiera Anagraphe eine Hauptintention postulieren müssen, für die die Historisierung der Olympier – d h ihre Umwandlung in frühe menschliche Herrscher – tragende Bedeutung hat Diese Bedingung ist in hervorragender Weise erfüllt, wenn wir annehmen, dass Euhemeros mit der Hiera Anagraphe in erster Linie das Ziel verfolgte, in zusammenhängender und systematischer Weise zu erklären, wie die Verehrung anthropomorpher Götter zustandegekommen ist Und einzig und allein wenn wir diese Intention voraussetzen, erhält die fiktive Form ihre volle und einleuchtende Erklärung Im Bewusstsein dessen, dass die vorgeschlagene Theorie vom menschlichen Ursprung der wichtigsten Kultgötter kontrovers sei und leicht Anstoß erregen könnte, wählte Euhemeros diese Form Die Aussichten, dass die Elite – und wie wir gesehen haben, kann er sich nur an die Elite gewendet haben – dazu fähig wäre, das ernsthafte Anliegen hinter der fiktionalen Form zu erkennen, waren gut Zugleich hat er sich die Möglichkeit abgesichert, die Kritik, die er erwartete, mit Hinweis auf die Fiktionalität der Darstellung abzuschwächen 6.2. Die „ewigen und unvergänglichen Götter“ in der Hiera Anagraphe Im Kurzreferat aus Diodoros 6 bei Eusebios erfahren wir, dass Diodoros „dieselbe Theologie“ (τὴν αὐτὴν θεολογίαν) umfasst haben soll wie Euhemeros, und zwar beinhalte diese Theologie eine angeblich aus alter Zeit überlieferte doppelte Vorstellung von den Göttern (praep. ev 2,2,53 = T 25 W) Einerseits habe man nämlich mit der Existenz von ewigen und unvergänglichen Göttern (ἀίδιοι καὶ ἄφθαρτοι θεοί)

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Einwand dieser Art wird von W , so weit ich habe finden können, nur noch einmal, angeführt, und zwar S  107 gegen Dochhorn (s zu diesem oben 6 1 , m Anm  17) Gewiss deutet die Rezeption der HA darauf, dass niemand daran gedacht hat, das Werk könnte sich gegen die Herrscher richten Wenn wir aber der Rezeption einen Aussagewert im Hinblick auf die Intention der HA beimessen wollen, müssten wir alle anderen von W besprochenen Vorschläge eher abtun als gerade diesen, und zwar zuallererst die Hypothese von einer Verbindung der HA mit dem Herrscherkult (vgl unten Anm  91) Es sei denn, dass wir die negativen Reaktionen der Nachwelt als Zeichen dafür nehmen, dass die reale Vergöttlichung bestritten worden sei Aber wie wir unten 6 3 sehen werden, wäre ein solcher Schluss vielleicht voreilig

6 2 Die „ewigen und unvergänglichen Götter“ in der Hiera Anagraphe

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gerechnet – wie der Sonne, dem Mond, den anderen Gestirnen, dazu noch den Winden „und den anderen Göttern, die an derselben Natur teilhätten wie diese“ (ich vermute, dass hierunter v a die Elemente zu verstehen sind, vgl hier unten zu Lact 1,11,63 und s Diod 1,11,9) Andererseits soll man eine zweite Kategorie von „irdischen Göttern“ vorgesehen haben, die ἐπίγειοι θεοί Diese seien Sterbliche, die wegen der Wohltaten, die sie den Menschen erwiesen hätten, für göttlich gehalten worden seien und göttliche Ehren erhalten hätten Drei Vertreter dieser zweiten Kategorie werden namentlich genannt: Herakles, Dionysos und Aristaios Über die ἐπίγειοι θεοί seien viele wechselnde Geschichten sowohl bei den Historikern wie bei den „Mythographen“ zu finden Von den Historikern habe Euhemeros, der Verfasser der Hiera Anagraphe, in besonderer Weise geschrieben (ἰδίως ἀναγέγραφεν), während wiederum die „Mythologen“ – Homer, Hesiod, Orpheus und „andere dieser Art“ – viele Wundergeschichten über die Götter fabriziert hätten Ich vermute, dass als fehlendes Objekt zu ἀναγέγραφεν eher περὶ θεῶν aus dem folgenden als περὶ τῶν ἐπιγείων θεῶν aus dem Vorangehenden zu ergänzen ist, denn letztendlich schrieb Euhemeros ja über die Olympier, die Kategorie, die die „Mythologen“ behandelten, auch wenn er diese in seiner besonderen Weise (ἰδίως) in ἐπίγειοι θεοί verwandelte Und so fasst auch Eusebios seine Übersicht über die Darstellung des Diodoros folgendermaßen zusammen (praep. ev 2,2,62 = Diod 6,1,11): Ταῦτα καὶ τούτοις παραπλήσια ὡς περὶ θνητῶν ἀνδρῶν περὶ τῶν θεῶν διελθὼν ἐπιφέρει … (scil Diodoros): „Nachdem er dieses und Ähnliches über die Götter erzählt hat, als seien sie sterbliche Männer, fährt er fort …“ Die vielen wechselnden Geschichten der „Historiker und Mythographen“ hatten selbstverständlich die gemeinhin als ἐπίγειοι θεοί betrachteten Götter (etwa die gerade genannten) zum Thema Viel Energie ist auf den Versuch verwendet worden, zu entscheiden, ob die ausdrückliche Einteilung in ewige, unvergängliche Götter bzw irdische Götter aus der Hiera Anagraphe stamme, oder ob sie Diodoros selber zuzuschreiben sei Warum dieser Frage soviel Aufmerksamkeit gewidmet worden ist, ist mir unklar 60 Meiner Meinung nach kann kein Zweifel daran bestehen, dass zwei Götterkategorien im Narrativ der HA vorkamen Die von Eusebios gegebene Charakterisierung der beiden Gruppen trifft somit für die HA zu Aber ebenso wenig lässt sich m E bezweifeln, dass der kurze Abschnitt bei Eusebios, wo die Distinktion besprochen wird und die drei Vertreter der Kategorie der ἐπίγειοι θεοί genannt werden, von Diodoros stammt, und nicht von Euhemeros Die Distinktion ist freilich keine ad hoc-Konstruktion des Diodoros Es handelt sich um dieselbe Unterscheidung, deren Bedeutung in der philosophischen Theologie am Anfang dieses Kapitels unterstrichen wurde, die aber keineswegs eine theoretische Erfindung gewesen ist, sondern einer im allgemeinen Bewusstsein tief

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S etwa die eindrucksvolle Bibliographie zur Frage im Apparat zu T 25 W Richtigstellend zu dieser Frage Roubekas (2012, 324 und 2014; s jetzt auch 2017, bes 19 f )

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

wurzelnden Vorstellung entsprach Zu recht spricht also der Text davon, dass von den παλαιοὶ τῶν ἀνθρώπων Vorstellungen zweifacher Art (διτταὶ ἔννοιαι) über die Götter überliefert worden seien Diesen Vorstellungen zufolge besaßen Zeus, Hera, Poseidon, Apollon, Athena usw als ewige und ursprüngliche Götter einen höheren Rang als Herakles, die Dioskuren und andere ‚sekundäre‘ (d h als Menschen geborene) Götter Zwar sind die Grenzen nicht hundertprozentig festgelegt, insofern nämlich, als gelegentlich über den Status einer Gottheit, die gemeinhin zu den sekundären Göttern gezählt wurde, Unsicherheit besteht 61 Der Status der Mitglieder der eigentlichen olympischen Götterfamilie bleibt dagegen bis in die Zeit des Hellenismus unkontrovers Bekanntlich erzählte die Mythologie allerlei Geschichten von ihren Geburten, aber diese galten als göttliche Geburten Als sterblich wurden diese Götter nicht betrachtet, und dementsprechend erzählt die Mythologie auch nicht davon, dass sie sterben 62 Von Göttern wie Herakles, Asklepios und den Dioskuren galt dagegen, dass sie zwar väterlicherseits Göttersöhne seien, dass sie aber als Menschen von sterblichen Müttern geboren worden seien und dementsprechend auch als Menschen gestorben seien; zum göttlichen Rang seien sie im Prinzip erst nach ihrem Tod gelangt 63

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Die Verwirrung oder die Widersprüche, die moderne Forscher Herodotos in dieser Hinsicht zuschreiben (s Harrison 2000, 158 f ), betreffen die sekundären Götter – s unten Anm  63 – oder aber auch gewisse ‚Heroen‘ (ein Begriff, der ungeachtet seiner wechselnden Verwendung in antiken Texten am besten solchen Gottheiten vorbehalten bleibt, die nicht, wie Herakles, Dionysos oder Asklepios, der Tradition nach zu den höheren Göttern aufgestiegen sein sollen) S die berühmten Zeilen aus dem Zeushymnus des Kallimachos, 6–10: Ζεῦ, σὲ μὲν Ἰδαίοισιν ἐν οὔρεσί φασι γενέσθαι, / Ζεῦ, σὲ δ᾽ ἐν Ἀρκαδίῃ· πότεροι, Πάτερ, ἐψεύσαντο; / ‘Κρῆτες ἀεὶ ψεῦσται·᾽ καὶ γὰρ τάφον, ὦ ἄνα, σεῖο / Κρῆτες ἐτεκτήναντο· σὺ δ᾽ οὐ θάνες, ἔσσι γὰρ αἰεί / ἐν δέ σε Παρρασσίῃ ῾Ρείη τέκεν … „Einige sagen, o Zeus, dass du im Idäischen Gebirge geboren wurdest, andere, dass du in Arkadien geboren wurdest; welche von diesen lügen? ‚Kreter lügen immer!‘ In der Tat, o Herr, denn die Kreter haben dir ja auch ein Grab erfunden! Du stirbst nicht, du bist für ewig! In Parrhasien hat dich Rhea geboren …“ Hier ist der Ort, einige klärende Worte zum verwirrten Thema Göttergräber einzufügen (Die konkrete Evidenz kann bei Winiarczyk 2013, 33–41 nachgelesen werden ) Ein Grab beweist nicht unbedingt, dass der Verstorbene kein Gott ist Dagegen schließt sich aus, dass er ein ursprünglicher Gott ist Das Grab zeigt ja, dass er gestorben ist, und deshalb muss er auch als Mensch geboren worden sein Er hat also als Mensch gelebt und ist als Mensch gestorben Wenn gezeigt wird, dass Zeus ein Grab hat, wird damit nicht an sich seine Göttlichkeit grundsätzlich geleugnet (s noch unten 6 3 ), aber er wird mit Notwendigkeit in die Kategorie der sekundären Götter versetzt Daher die Empörung des Kallimachos Die Überlieferung vom Zeusgrab ist also keineswegs für Kallimachos mit Notwendigkeit mit der Göttlichkeit/Unsterblichkeit des Zeus unvereinbar (wie Dochhorn, 2000, 277 Anm  29, meint), sondern nur mit seinem Rang als primärem Gott Es ist deshalb kein Zufall, dass gerade das Grab des Zeus weit häufiger erwähnt wird als jedes andere Götter- oder Heroengrab Der Gedanke forderte in besonderer Weise zu Widerspruch auf, anders als ein Grab des Dionysos oder des Asklepios (wozu s Stellenangaben bei Winiarczyk 2013, 33 f ) Wie weit ein Grab des Zeus tatsächlich in Kreta gezeigt wurde oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben Die angeführten Verse des Kallimachos werden von vielen Forschern (mit Recht, wie mir scheint) als Reaktion auf die HA verstanden (vgl Winiarczyk 2013, 3 und 35) Wie wir gerade gesehen haben, ist die Systematik allerdings nicht immer so strikt Die mythische Tradition stellt Dionysos als geborenen Gott dar (Hes theog 940–942), der die Länder mit seinem

6 2 Die „ewigen und unvergänglichen Götter“ in der Hiera Anagraphe

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Bei Euhemeros werden nun die wichtigsten der Götter, die bisher grundsätzlich als primär und ursprünglich (d h ἀίδιοι καὶ ἄφθαρτοι) betrachtet worden waren, in sekundäre, als Menschen geborene (d h ἐπίγειοι) verwandelt Aber Zeus und seine Vorfahren werden nicht als die ersten geschildert, die einen Kult genossen hätten: Sie selbst haben ihrerseits andere Götter verehrt, und diese galten ihnen mit größter Sicherheit als wahre, ewige, nie geborene Götter In der Übersicht über die Taten der als Menschen verstandenen Olympier und ihrer Vorfahren, die uns Eusebios aus Diodoros vermittelt, finden wir u a die Auskunft, dass Uranos als erster die himmlischen Götter (οἱ οὐράνιοι θεοί) mit Opfern verehrt haben soll (§ 58: T 49 W) Diesem Umstand habe er seinen Namen (Οὐρανός) zu verdanken 64 Und wenn wir Lactanz glauben dür-

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Gefolge durchstreift und seinen eigenen Kult verbreitet (wie wir aus den Bacchae des Euripides ersehen) Herodotos wundert sich über die weit auseinanderklaffenden Traditionen über Herakles bzw Dionysos und kommt zum Schluss, dass man zwischen den alten (ursprünglichen) Göttern einerseits und den späteren, nach diesen benannten, als Menschen geborenen Göttern andererseits unterscheiden müsse (Her 2,43–44; 2,145–146) In der gelehrten und philosophischen Tradition wird die Kategorisierung systematisiert und vereinheitlicht; s etwa Varro RD fr  32 Cardauns (Servius auctus zu Aen 8,275): Varro dicit deos alios esse qui ab initio certi et sempiterni sunt, alios qui inmortales ex hominibus facti sunt, et de his ipsis alios esse privatos, alios communes; privatos esse quos unaquaeque gens colit, ut nos Faunum, Thebani Amphiaraum, Lacedaemonii Tyndareum; communes universi, ut Castorem, Pollucem, Liberum, Herculem. „Varro sagt, dass es teils solche Götter gibt, die von vornherein bestehen und ewig sind, teils aber auch solche, die Menschen gewesen sind, aber unsterblich (d h hier: göttlich) geworden sind; und von diesen letzteren seien einige lokale (privati), andere gemeinsame Götter (communes) Lokal seien diejenigen, die die einzelnen Völker verehren, so wie wir Faunus, die Thebaner Amphiaraus, die Spartaner Tyndareus verehren, gemeinsam wiederum die, die alle verehren, wie Castor, Pollux, Liber /Bacchus/, Hercules “ Cic leg 2,19: Divos et eos, qui caelestes semper habiti, colunto, et ollos, quos endo caelo merita locaverint, Herculem, Liberum, Aesculapium, Quirinum „Man soll sowohl diejenigen Götter, die von jeher als himmlisch betrachtet worden sind, verehren, wie auch diejenigen, die durch ihre Verdienste einen Platz im Himmel erworben haben “ (Vgl auch oben 3 1 1 m Anm  12 sowie Verf 1997, 78) Eine entsprechende Doppelung wie wir sie bei Herodotos gefunden haben, begegnet in der stoischen Theologie Dort erscheinen Herakles und Dionysos als zwei Manifestationen des göttlichen Pneuma (Plut Is 367c) oder des Logos (Herakles bei Cornutus c  31,1 ll  1254–1257 Nesselrath), was nicht bedeutet, dass die so genannten historischen Gestalten nicht existiert hätten; wie Cornutus erzählt, soll der historische Herakles, der Sohn des Amphitryon, wegen seiner Tugend und seiner Verdienste nach dem ursprünglichen Gott benannt worden sein (Cornutus 31,2 1263–1264 Nesselrath – die Übersetzung dazu auf S  107 ist inkorrekt Vgl Sextus math 9,36; dort § 37 Ähnliches über die Dioskuren) S auch Cic nat. deor 2,62 (Balbus über Liber, unten Anm  74 a E ); Macr Sat 1,20,6 Schon bei Herakleitos 22 DK fr  B 15 / 9 LM D 16 wird Dionysos als ursprünglicher Gott betrachtet, wie dadurch erhellt, dass Hades und Dionysos als identisch gelten Dass Herakles in der epigraphischen Evidenz für den Kult, den Antiochos von Kommagene im letzten vorchristlichen Jahrhundert für sich selbst einrichtete, als höherer Gott erscheint, mag eher mit anderen Faktoren zu tun haben als den gerade genannten, s oben 6 1 1 Anm  34 Eus 2,2,58 = Diod 6,1,8 = T  49  W: μετὰ ταῦτά φησι (sc Euhemeros) πρῶτον Οὐρανὸν βασιλέα γενονέναι, ἐπιεικῆ τινα ἄνδρα καὶ εὐεργετικὸν καὶ τῆς ἄστρων κινήσεως ἐπιστήμονα, ὃν καὶ πρῶτον θυσίαις τιμῆσαι τοὺς οὐρανίους θεούς· διὸ καὶ Οὐρανὸν προσαγορευθῆναι „Danach schreibt er, dass Uranos zuerst König geworden sei, ein gütiger und wohltätiger Mann, der die Bewegungen der

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

fen, soll Zeus dem Äther einen Kult gestiftet haben, ein wichtiger, aber übersehener Umstand, auf den Dochhorn neuerdings aufmerksam gemacht hat Lactanz steht, wie Dochhorn mit Recht betont, zu Eusebios im Widerspruch Denn Eusebios berichtet, wie Zeus seinem Großvater Uranos einen Altar errichtet habe (2,2,61 = Diod 6,1,10 = T 61 W), aber in der Fassung des Ennius (Lactanz inst 1,11,63 = T 62 W) gilt der Kult, den Jupiter stiftet, nicht dem Caelus (d h dem Uranos) selber, sondern dem Äther, den Jupiter nach seinem Großvater Caelus genannt hätte 65 Die weitschweifig ausgelegte Pointe des Lactanz – dass Caelus, der Großvater Jupiters, nur ein Mensch gewesen sei (1,11,57–65) – hat den für uns wichtigen Umstand, dass in der Sacra Historia nicht nur ein menschlicher Caelus vorkam, sondern dass es darin auch einen ewigen Gott dieses Namens gegeben haben muss (der nach dem sterblichen Caelus benannt war), in den Hintergrund gedrängt Lactanz selbst interessiert sich nicht für den Kult des Äthers; allein der Umstand, dass Saturn einen menschlichen Vater gehabt habe (und Jupiter somit einen menschlichen Großvater) ist ihm wesentlich Der von Lactanz zitierte Text ist jedoch in diesem Punkt eindeutig: „Das was über der Welt lag und Äther genannt wurde, hat Jupiter nach dem Namen seines Großvaters ‚Himmel‘ genannt, und er betete zu dem, was Äther genannt wird, und nannte es als erster ‚Himmel‘, und das Opfertier, das er dort weihte, hat er gänzlich verbrannt “66 Es gibt allen Anlass, mit Dochhorn der Fassung bei Lactanz 1,11,63 den Vorzug über die kurze Notiz bei Eusebios 2,2,61 zu geben 67 Es sind also gewiss zwei Kategorien in der Hiera Anagraphe vertreten gewesen, nur bestehen sie nicht aus denselben Göttern wie bislang Das bedeutet nun keineswegs mit Notwendigkeit, dass auf die Einteilung ausdrücklich hingewiesen wurde oder dass sie betont wurde Ob die Terminologie als solche in der Hiera Anagraphe vorlag, halte ich jedoch persönlich für weniger interessant Der Umstand, dass der Unterschied aufgehoben wurde, der sowohl im allgemeinen Glauben wie auch, in anderer Weise, in der philosophischen Theologie zwischen Zeus, Hera usw einerseits und Herakles, Asklepios, den Dioskuren usw andererseits selbstverständlich war, so dass Zeus hier mit Herakles, Asklepios usw auf eine Stufe gestellt wurde, dürfte dafür mitverantwortlich oder vielleicht sogar ausschlaggebend gewesen sein, dass Euhemeros als ἄθεος abgestempelt wurde Sein ‚Verbrechen‘ lag vermutlich nicht darin, dass in seinem Werk ein Standpunkt radikaler Gottesleugnung

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Sterne gut kannte und der auch als erster die himmlischen Götter (d h die Himmelskörper) mit Opfern verehrt hätte; aus diesem Grund sei er Uranos („Himmel“) genannt worden “ Dochhorn 2001, 290 ff Vgl dens 2000, 271 Anm  13 und 275 Anm  22 Lact inst 1,11,63 = T  62  W:  … idque quod supra mundum erat, quod aether uocabatur, de sui aui nomine caelum nomen indidit, idque Iuppiter quod aether uocatur precans primus caelum nominauit eamque hostiam, quam ibi sacrificauit, totam adoleuit Nichtsdestoweniger besteht Lactanz einige Zeilen weiter unten, entgegen seiner eigenen Textevidenz, darauf, dass Jupiters Opfer an den Großvater Caelus gerichtet sei Dochhorn 2001, 294

6 2 Die „ewigen und unvergänglichen Götter“ in der Hiera Anagraphe

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eingenommen worden wäre, obwohl wir streng genommen keine exakte Nachricht darüber besitzen 68 Der Umstand, dass nach dem Modell der Hiera Anagraphe die ewigen, unvergänglichen Götter eben nicht mit den traditionellen Kultgöttern gleichgesetzt wurden, sondern dass letztere nun in die andere Gruppe, die der vergöttlichten Menschen, eingereiht wurden, muss schon allein Anstoß erregt haben, auch wenn der Ich-Erzähler ihre Vergöttlichung voll akzeptiert haben sollte Zeus, den alle, Gebildete wie Ungebildete, verehrten und verehren wollten, durfte kein wenn auch noch so göttlicher ehemaliger Dynast sein Bald hat sich die antike Welt allerdings daran gewöhnt, dass Ähnliches, vielleicht sogar mengenweise, in mythologisch inspirierten Romanen erzählt wurde 69 In der Hiera Anagraphe aber war der Vorschlag neu, Grundstein der Erzählung und zentrales, systematisch durchgeführtes Programm, zudem, wie es scheint, in eine Form gekleidet, die der Verfasser zwar nicht primär für gänzlich ernst zu nehmende, eben erst von ihm selbst entdeckte frühe Weltgeschichte ausgab, von der er sich aber bewusst gewesen sein dürfte, dass sie von vielen so gelesen werden würde 70 68

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Hier ist nochmals zu betonen, dass allein die Sicht des Erzählers von Bedeutung ist – und gerade da lassen uns unsere Quellen im Stich (vgl allerdings unten Anm  72) Dass dem Narrativ zufolge in der Gesellschaft Panchaias wie auch sonst in der dort geschilderten Welt die Göttlichkeit der darin verehrten Götter beider Kategorien akzeptiert war, darf als sicher gelten (oben 6 1 1 gegen Ende) Ein Eindruck vom allgemeinen Inhalt dieser Art von Literatur lässt sich durch Diodoros gewinnen, der zusätzlich zur Hiera Anagraphe auch noch mehrere dieser von ihr inspirierten Werke verwendet hat, wie etwa die Libyschen Geschichten und die Argonautika des Dionysios Skytobrachion (Diodor 3,52; 57–61; 66–73; s bes 3,52,3 und 66,5), vermutlich erst wenige Jahrzehnte nach der Hiera Anagraphe entstanden S bes Rusten 1982 Und sogar auf römischem Boden fand Euhemeros, wie wir gesehen haben, später Nachfolge, indem die Hiera Anagraphe von Ennius übersetzt und/oder bearbeitet wurde (Neueste Sammlung der Fragmente der Sacra Historia des Ennius in Courtney 1999, 27–39) Zur Form der Ich-Erzählung und ihrer Rezeption s oben 6 1 (m Anm  20) und vgl auch Anm  10 Als Beispiel eines naiven Lesers, der die Hiera Anagraphe für bare Münze genommen habe, nennt die wissenschaftliche Literatur häufig Diodoros Diese Auffassung ist insofern korrekt, als Diodoros den Reisebericht als solchen offensichtlich nicht in Frage stellt, sondern die Realität der vom Erzähler der Hiera Anagraphe angeblich entdeckten Inseln und der dortigen Verhältnisse voraussetzt Dagegen hat er den Teil des Narrativs, der die Taten und Abenteuer der als Menschen verstandenen Olympier zum Thema hat, nicht als Geschichte akzeptiert, genauso wenig wie er die entsprechenden Züge ägyptischer Tradition oder der Erzählungen von den Atlantiern als wahre Geschichte hingenommen hat Was die Priester über die Weltherrschaft des Zeus und des Uranos und ihre Besuche in Panchaia erzählt haben sollen, gibt er mit dem Verb μυθολογεῖν wieder (5,44,6 und 5,46,3) Dasselbe gilt von den Traditionen über die Gottkönige in Ägypten, s 1,9,6; 1,44,1; 1,94,1, und von den Abenteuern der Olympier im Atlantiernarrativ, s z B 3,56,1; 3,73,3 Vgl auch 5,65,1; 5,66,1; 5,70,1 u a Bei Eusebios fehlen entsprechende distanzierende Markierungen, was wohl kaum Zufall ist: Der christliche Autor, dem es daran lag, das Werk des Euhemeros insgesamt als regelrechte, wahre Geschichte darzustellen, wird sich gehütet haben, Relativierungen dieser Art wiederzugeben In dem neuerdings erschienenen Artikel von De Angelis und Garstad (2006; s oben Anm   13) setzen sich die beiden Autoren u a für die Meinung ein, dass die Schilderung der Gesellschaftsverhältnisse und der Geschichte Panchaias antiken Lesern u U nicht ganz so ausgefallen und irreal

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

6.3. Der Status der kultisch verehrten Sterblichen in der Hiera Anagraphe: Götter oder nur ‚Götter‘? Wie ich oben 6 1 1 vorausgeschickt habe, ist der Status von Zeus, Kronos, Uranos usw als Götter in der Hiera Anagraphe ein Problem, dem in der wissenschaftlichen Diskussion bisher auffallend wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden ist 71 Die Quellen lassen uns im Stich, wenn es darum geht, zu beurteilen, wie der Ich-Erzähler sich zu all dem, was ihm angeblich referiert und vorgezeigt worden ist, verhalten hat 72 Es wäre

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erschienen sei wie wir es gerne vermuten Die Schilderung von Panchaia bei Diodoros sei teilweise seiner eigenen Beschreibung der Liparischen Inseln so ähnlich, dass man mit gutem Grund annehmen könne, Euhemeros – der als Sohn des sizilischen Messene/Messana zu betrachten sei – habe sich von der Geschichte und der Gesellschaftsform dieser Inseln inspirieren lassen (226) Sollte diese Annahme zutreffen, müssten wir vielleicht zugeben, dass wir Diodoros auch in dieser Hinsicht zu negativ beurteilt haben Selbst Sizilier könnte er in der Schilderung von Panchaia bei Euhemeros Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit den ihm selbst vertrauten Nachbarinseln Siziliens erkannt haben, die ihn dazu hätten verleiten können, die reale Existenz der von Euhemeros erfundenen Inselwelt zu akzeptieren Zumschlinge (1976), Dochhorn (2001) und Roubekas (2017) haben es gewagt, ungeachtet des Schweigens der Evidenz bestimmte Meinungen in der Frage nach der Göttlichkeit der Helden in der Hiera Anagraphe zu formulieren Nach Zumschlinge seien die Olympier nicht zu wahren Göttern geworden, ja, sie seien zunächst nicht einmal als Götter betrachtet worden; dies sei erst in einem allmählichen, sich über die Jahrhunderte entwickelnden Prozess geschehen (239 f , bes 240) Roubekas macht sogar geltend, dass es zum Programm des Euhemeros gehört habe, den Olympiern die Göttlichkeit abzustreiten (2017, 2; 23–24; 26 u a ; s auch 2014, 32 und 34) Dochhorns Standpunkt ist etwas undurchsichtig Er meint, Zeus sei für Euhemeros „also nicht gestorben, sondern zu einem Gott geworden, genauso wie die hellenistischen Herrscher, unter denen Euhemeros wirkte“ Diese Vergöttlichung des Zeus sei nicht erst nach seinem Tod erfolgt, sondern noch während er lebte, und zwar „auf Initiative des Vergotteten“ selber (Dochhorn 2001,  290) Dass jemand sich selbst in einen wahren, unsterblichen Gott verwandeln könnte  – falls dies gemeint ist – hat doch wohl niemand jemals für möglich gehalten Einzig Sext Emp (math 9,17 = T 27 W und vgl ibid 9,51= T 23 W) impliziert, dass eine reale Vergöttlichung nicht vorgesehen gewesen sei: „Euhemeros, der sogenannte Atheist, sagt folgendes: ‚Als das Leben der Menschen noch nicht organisiert war, haben diejenigen, die die anderen an Kraft und Verstand soweit übertrafen, dass alle anderen nach ihren Befehlen lebten, in ihrem Streben nach größerer Bewunderung und Erhabenheit sich mit einer gleichsam übersteigerten, göttlichen Aura umgeben, und deswegen wurden sie von den Vielen für Götter gehalten‘ …“ (Εὐήμερος δὲ ὁ ἐπικληθεὶς ἄθεός φησιν· ‘ὅτ’ ἦν ἄτακτος ἀνθρώπων βίος, οἱ περιγενόμενοι τῶν ἄλλων ἰσχύι τε καὶ συνέσει ὥστε πρὸς τὰ ὑπ’ αὐτῶν κελευόμενα πάντας βιοῦν, σπουδάζοντες μείζονος θαυμασμοῦ καὶ σεμνότητος τυχεῖν, ἀνέπλασαν περὶ αὑτοὺς ὑπερβάλλουσάν τινα καὶ θείαν δύναμιν, ἔνθεν καὶ τοῖς πολλοῖς ἐνομίσθησαν θεοί’ …) Sollte die (als Zitat gegebene) Aussage math 9,17 die Stimme des Narrators wiedergeben, oder etwa einem vom Narrativ selbständigen, einführenden Abschnitt entnommen sein, müssten wir ihr ein hohes Gewicht beimessen Aber wie sich diese Stelle zum Panchaia-Narrativ und zur Ich-Erzählung verhält, ist unklar Die Auskunft scheint mit den im Kernnarrativ vorauszusetzenden Bedingungen schwer vereinbar Bei Sextus wird mit spontaner Vergöttlichung herausragender Männer von Seiten der Vielen gerechnet – und zwar scheint dies als generelles oder jedenfalls nicht einmaliges Phänomen betrachtet zu werden Zwar deutet T 63 W (Diod 6,1,10–11 = Eus praep. ev 2,2,61–62) auf spontane göttliche Verehrung des Zeus – aber nur des Zeus – von Seiten vieler Völker; nach T 64 A–B (Lact inst 1,22–23) soll dieser jedoch auf seinen weltweiten Reisen den eigenen Kult und den seiner Vorfahren selbst begründet haben Dies wird von Lactanz als Neuigkeit

6 3 Der Status der kultisch verehrten Sterblichen in der Hiera Anagraphe

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verlockend, aus den negativen Reaktionen der Nachwelt zu schließen, dass die reale Vergöttlichung abgewiesen worden sei oder gar die Möglichkeit grundsätzlich bestritten worden sei Jedoch ist ein solcher Schluss vielleicht voreilig Für Aurelius Cotta in Ciceros De natura deorum ist eine ausdrückliche Verneinung der Vergöttlichung offensichtlich gar nicht notwendig, um eine Beschuldigung wegen Religionsfeindlichkeit zu provozieren: Schon den Gedanken vermittelt zu haben, die höheren Götter seien einst Menschen gewesen, reicht dazu aus, wie aus seinen Worten 1,119 hervorgeht: Und wie steht es mit denen, bei denen man liest, dass tapfere oder berühmte oder mächtige Männer nach ihrem Tod zu den Göttern gelangt seien, und dass diese es seien, die wir zu verehren, anzubeten und zu feiern pflegen? Stehen sie nicht außerhalb aller Religionen? Diese Theorie ist besonders eingehend von Euhemeros behandelt worden, der v a in unserem eigenen Ennius einen Übersetzer und Nachfolger gefunden hat Von Euhemeros wird sowohl davon berichtet, wie die Götter gestorben seien wie auch wie sie bestattet worden seien Würdest du meinen, dass er die Religion befestigt oder sie gänzlich zerstört hat?73

Es darf wohl vorausgesetzt werden, dass die zunächst von Cotta erwähnten Gewährsleute dieser gottlosen Idee (qui … tradunt) die von ihnen vermittelte Theorie einschließlich der Vergöttlichung persönlich unterstützen Dass dasselbe von Euhemeros gilt, lässt sich nicht unzweideutig dem Wortlaut entnehmen Das, was dann folgt, gilt gewiss spezifisch für Euhemeros und seinen Beitrag, aber gerade hier ist ja nicht mehr vom Weg in den Himmel die Rede, sondern allein von den Todesfällen und Bestattungen Was Cotta so empörend findet, ist die Vermenschlichung der höheren Götter Er äußert sich nicht explizit über eine etwaige Stellungnahme der Hiera Anagraphe zu ihrer Vergöttlichung Erst wesentlich später, im 3 Buch, hält Cotta es für begründet, in einem ähnlichen Zusammenhang eine diesbezügliche Klärung einzuführen Dort suchen wir aber vergeblich nach einem ausdrücklichen Hinweis auf Euhemeros oder auf die Hiera Anagraphe, und es fragt sich nun, warum ein solcher fehlt Cotta setzt sich hier mit der von Lucilius Balbus im 2  Buch dargelegten stoischen Gotteslehre auseinander, mit der wir im Vorangehenden nun schon mehrfach zu tun gehabt haben, und kommt in diesem Zusammenhang auch auf die „sogenannten Theologen“ und ihre Ansichten zu sprechen Hier

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verstanden Zeus setzt damit, wie er es ausdrückt, ein exemplum ceteris ad imitandum (inst 1,22,26) Da bei Sextus ausdrücklich von einer Primitivphase die Rede ist (ὅτ’ ἦν ἄτακτος ἀνθρώπων βίος), können wir die Stelle nicht gut auf eine Zeit beziehen, in der das Verfahren schon institutionalisiert worden ist Zeus selbst bereitet in der HA als weltweit tätiger Gesellschaftsstifter und Gesetzgeber den primitiven Sitten der Menschheit ein Ende (T 66 W = Lact inst 1,13,2) Cic nat. deor 1,119 (Cotta zu Velleius dem Epikureer): Quid? qui aut fortis aut claros aut potentis viros tradunt post mortem ad deos pervenisse, eosque esse ipsos, quos nos colere precari venerarique soleamus, nonne expertes sunt religionum omnium? Quae ratio maxime tractata ab Euhemero est, quem noster et interpretatus est et secutus praeter ceteros Ennius Ab Euhemero autem et mortes et sepulturae demonstrantur deorum. Utrum igitur hic confirmasse videtur religionem an penitus totam sustulisse? Dass in Cottas Augen die zweite Alternative zutrifft, ist ohne weiteres klar

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

haben wir es, so wie Cotta die Sache darstellt, mit einer Grundvorstellung zu tun, die mit meiner Definition von Euhemerismus übereinstimmt: Hinter den verschiedenen Göttern der griechischen Tradition, den primären wie den sekundären, finden wir nach diesem Modell ehemalige Menschen Diese Theologen haben nun, wenn auf Cottas Worte Verlass ist, eindeutig die Realität der Vergöttlichung bestritten Cotta fordert nämlich Balbus dazu auf, sich mit ihm gegen diejenigen zu wenden, die behaupten, die höheren Götter seien Menschen, die in den Himmel versetzt worden seien, und zwar nicht wirklich, sondern nur der Meinung nach 74 Der Wortlaut lässt keinen Zweifel daran, dass hiermit die Position der „Theologen“ erfasst werden soll Zwar zeigt Cotta an mehr als einer Stelle seiner langen Rede persönliche Abneigung gegen jede Idee einer Vergöttlichung von Menschen 75 Dass es aber hier nicht davon handelt, sondern vom Standpunkt 74

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Cic nat. deor 3,53 (Cotta:) Dicamus igitur Balbe oportet contra illos etiam, qui hos deos ex hominum genere in caelum translatos non re sed opinione esse dicunt, quos auguste omnes sancteque veneramur Principio Ioves tres numerant ii qui theologi nominantur; ex quibus primum et secundum natos in Arcadia … „Wir müssen deshalb, lieber Balbus, auch gegen jene einwenden, die behaupten, dass diejenigen Götter, die wir alle mit besonderer Achtung und heiliger Ehrfurcht verehren (auguste sancteque veneramur), vom Menschengeschlecht in den Himmel versetzt worden seien, und zwar nicht wirklich, sondern nur der Meinung nach Vorerst werden von den sogenannten Theologen drei verschiedene Jupiter aufgezählt; von diesen sollen der erste und der zweite in Arkadien geboren worden sein …“ (Im Folgenden erfahren wir u a , dass der dritte Jupiter, der Sohn Saturns, aus Kreta stamme, wo sein Grab noch gezeigt werde ) Die Phrase auguste sancteque venerari bezeichnet offenbar den Kult der höheren Götter, vgl die Worte des Balbus in nat. deor 2,62: … hinc Liber etiam (hunc dico Liberum Semela natum, non eum quem nostri maiores auguste sancteque Liberum cum Cerere et Libera consecraverunt) „… zu dieser Gruppe / d h den Göttern, die als Menschen geboren worden seien und wegen ihrer besonderen Wohltaten vergöttlicht worden seien, MWS / gehört auch Liber, und zwar meine ich Liber, Semeles Sohn, und nicht denjenigen Liber, dem unsere Vorfahren zusammen mit Ceres und Libera mit besonderer Achtung und heiliger Ehrfurcht einen Kult eingerichtet haben “ Balbus unterscheidet hier zwischen zwei Göttern namens Liber, einem, der als Mensch geboren sei und (in Wirklichkeit, nicht nur der Meinung nach) vergöttlicht worden sei, bzw einem anderen, der zu den ursprünglichen, nicht geborenen Göttern gehört (Vgl dazu oben Anm  63 ) S nat. deor 3,39 f : iam vero in Graecia multos habent ex hominibus deos, Alabandum Alabandis, Tenedi Tenen, Leucotheam, quae fuit Ino et eius Palaemonem filium cuncta Graecia – Herculem Aesculapium Tyndaridas Romulum nostrum aliosque compluris, quos quasi novos et adscripticios cives in caelum receptos putant. haec igitur indocti; quid vos philosophi, qui meliora? „In Griechenland verehrt man viele Götter, die Menschen gewesen sein sollen, Alabandus in Alabanda, den Tenes auf Tenedos, in ganz Griechenland Leucothea, die einst Ino hieß, und ihren Sohn Palaemon – ferner Hercules, Aesculapius, die Dioskuren, unseren Romulus und viele andere, die, wie man denkt, gleichsam als neue und in die himmlische Bürgerliste extra eingetragene Bürger aufgenommen worden seien Das heißt so sehen es die Ungebildeten, aber ihr Philosophen, inwiefern bietet ihr Besseres an?“ Vgl etwas weiter unten, § 41 (auf 2,62 bezogen, vgl oben 3 1 1 , m  Anm 12 und unten 6 5 , m Anm  105): nam quos ab hominibus pervenisse dicis ad deos (beachte die Phrase!), tu reddes rationem, quem ad modum id fieri potuerit aut cur fieri desierit, et ego discam libenter … „Denn was diejenigen betrifft, von denen du sagst, sie seien von den Menschen zu den Göttern gelangt, sollst du mir erklären, wie so etwas überhaupt hat geschehen können und weshalb es aufgehört hat, zu geschehen; deiner Erklärung will ich gerne zuhören …“ Die Sitte, dem Andenken hervorragender Männer göttliche Ehren zu erweisen, hält Cotta für ein politisches Manöver (§ 50); damit wollen die Staaten ihre besten Bürger dazu ermutigen, gegebenenfalls gefährliche Aufgaben mit Zuversicht auf sich zu nehmen

6 3 Der Status der kultisch verehrten Sterblichen in der Hiera Anagraphe

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der Theologen, geht nicht nur daraus hervor, dass er diesen die betreffende Ansicht ausdrücklich zuschreibt, sondern erhellt auch dadurch, dass er sich gegen ihre Vertreter wendet (vgl auch § 60) Sollen wir damit rechnen, dass Euhemeros von Cotta zu den sogenannten Theologen gezählt wird? Im Hinblick auf die Art, wie Cotta das Wort verwendet, wäre dies vielleicht nicht a priori von der Hand zu weisen 76 Falls dem so ist, hat Cotta allerdings die für Euhemeros bezeichnende historisierende Methode zugunsten der von den „Theologen“ gebrauchten verschwiegen Wir erkennen in den von Cotta mit einem reichen Vorrat an Beispielen illustrierten Lehren der Theologen eine Verfahrensweise, die in erster Linie bei den Unstimmigkeiten der Überlieferung ansetzt Aus den verschiedenen Traditionen über Götter und Helden, die sich häufig massiv untereinander widersprechen, haben die „Theologen“ die mangelnden Übereinstimmungen chronologischer und örtlicher Art aus alter Überlieferung zusammengestellt  – atque haec quidem eiusmodi ex vetere Graeciae fama collecta sunt (§ 60) – und daraus gefolgert, erstens, dass die geschilderten Gestalten grundsätzlich Menschen gewesen seien, und zweitens, dass unter demselben Namen sich häufig mehrere Gestalten verbergen, die zu weit verschiedenen Zeiten und in weit auseinanderliegenden Gegenden gelebt und gewirkt hätten Euhemeros arbeitet dagegen auf eine entgegengesetzte Schlussfolgerung hin: Das Modell der Hiera Anagraphe sieht einen einmaligen historischen Vorgang vor, und entsprechend bezeichnet jeder Name immer nur eine historische Gestalt Der Umstand, dass die Tradition viele Zeusvarianten kannte, wird dahingehend gedeutet, dass Zeus, der eine historische König dieses Namens, die Welt bereist habe und überall, wo er zu Besuch gewesen sei, befohlen habe, ihm einen Tempel zu bauen Diese Zeustempel seien regelmäßig auch mit einer zusätzlichen, vom Namen seines jeweiligen Gastgebers abgeleiteten Bezeichnung benannt worden (Lact inst 1,22,22 f = T 64 A: Iuppiter Ata-

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Zu beachten ist, dass alle diese Äußerungen nicht mit der euhemeristischen Theorie der sog Theologen verbunden wird, sondern davon getrennt behandelt wird Diese rückt erst in § 53 mit deutlichem Neuansatz (dicamus igitur oportet contra illos etiam) ins Zentrum Zur Geschichte des Worts θεολόγος s z B Jaeger 1967, 4 f (m Anm  13–19) Cotta verwendet das Wort theologus als wäre seine Bedeutung eindeutig und festgelegt (ii, qui theologi nominantur 3,53) Dem widerspricht das Bild, das sich aus unserer Überlieferung ergibt Danach zu urteilen ist das Wort durchgehend in mehreren Bedeutungen verwendet worden, und zwar auch synchron, und dies sogar von einzelnen Autoren, namentlich von Aristoteles In Cottas Augen sind die theologi, wie es scheint, nicht zu den Philosophen zu zählen (etwas was im Hinblick auf die Geschichte des Worts nicht selbstverständlich ist, vgl Jaeger wie oben diese Anm ) Für Philosophen gezieme es sich nämlich nicht, die Götter zu leugnen (wie es diese theologi tun), nat. deor 3,44: … haec (die vorangehende Argumentation) Carneades aiebat, non ut deos tolleret (quid enim philosopho minus conveniens) sed ut … „So pflegte Karneades zu sagen, und zwar nicht, um die Götter abzuschaffen  – denn was wäre für einen Philosophen weniger passend?  – sondern vielmehr um …“ Die theologi tun jedoch gerade dies: Sie heben die Götter ganz und gar auf, denn sie stellen sie nicht nur insgesamt als geborene Menschen dar, sondern sie erkennen sie nicht einmal als sekundäre Götter an Sie seien ja non re, sed opinione unter die Götter aufgenommen worden Es ist also nicht ganz zutreffend, gerade nat. deor 3,53 f als Beleg dafür anzuführen, dass unter theologi „Philosophen, die sich mit der Erforschung des Göttlichen … beschäftigen“, gemeint seien, wie dies bei Zimmermann, DNP 12/1, 2002, 371, geschieht

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

burius, Iuppiter Laybrandius, Casius usw ) 77 Ansonsten haben die mangelnden Übereinstimmungen der Traditionen bei der Konzeption des Modells der Hiera Anagraphe, wie es scheint, keine tragende Funktion gehabt Hier spielten Faktoren wie mortes et sepulturae, von Cotta selbst 1,119 als charakteristisch für Euhemeros hervorgehoben, eine wichtigere Rolle Aus diesem Grund glaube ich nicht, dass Euhemeros selbst zu den Theologen Cottas zu zählen ist Es handelt sich um Euhemeristen in dem von mir postulierten Sinne, und sie sind gewiss von Euhemeros angeregt worden, denn sie verwenden eine historisierende Methode; diese ist aber nicht mit der des Euhemeros identisch, und außerdem verfolgen sie ein anderes Ziel So können wir wohl mit Pease annehmen, dass Cottas sogenannte Theologen als „the antiquarians, scholiasts, and mythographers who were such an important product of Alexandrian scholarship“ zu verstehen sind 78 Sie sind zwar Nachfolger des Euhemeros, aber ihre Tätigkeit erlaubt nicht an und für sich Rückschlüsse auf die Verhältnisse in der Hiera Anagraphe Wir müssen uns wohl damit begnügen, die Frage, wie die Göttlichkeit der Protagonisten des Kernnarrativs, und damit die Göttlichkeit der wichtigsten griechischen Kultgötter (οἱ νομιζόμενοι θεοί) auf der Erzählstufe – explizite oder implizite – beurteilt wurde, in der Schwebe zu lassen Nur so viel können wir sagen: Der Ich-Erzähler unterstützt mit Sicherheit ihre Vermenschlichung, d h ihre historische Existenz Das ist die dokumentarisch überlieferte ‚Tatsache‘, die er entdeckt haben will 79 Für meine Theorie zur Intention der Hiera Anagraphe spielt das Thema der Beurteilung der Göttlichkeit der Götter des Kernnarrativs keine entscheidende Rolle Im Gegensatz zu anderen Theorien lässt sie die Möglichkeit zu, dass die Frage unangesprochen geblieben ist oder dass eine ausdrückliche Stellungnahme gefehlt hat Im 77 78

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Vgl Müller 1993, 289 f Pease 1958 Bd  2, 1051 zu nat. deor 3,42; dass die an dieser Stelle genannten ii, qui interiores scrutantur et reconditas litteras mit den theologi in 3,53 und 54 identisch seien (Pease ebenda 1094), halte ich für glaubwürdig: Der Kontext in 3,42, nämlich die Mehrzahl der Hercules genannten Gestalten, zeigt (wie auch einige Beispiele in der späteren Aufzählung 3,53–60), dass es den Theologen nicht allein um die höchsten (primären) Götter ging Dass Cotta hier seiner späteren eingehenderen Auseinandersetzung mit den Theologen vorgreift, hängt damit zusammen, dass er an dieser Stelle gerade die Kategorie der di ex hominibus in caelum translati behandelt (unmittelbares Beispiel: Hercules) Dagegen trage ich Bedenken, die von Cotta 3,44 genannten genealogi antiqui mit diesen theologi gleichzusetzen (Pease zu 3,42); hier möchte ich eher an Dichtung im Stil von Hesiods Theogonie denken Vergöttlichung kann nicht in derselben Weise ‚bewiesen‘ werden Wo ein Bedarf solcher Evidenz vorliegt, müssen andere Zeugnisse als epigraphische Quellen erfunden werden Folgende – teilweise gattungsbedingte  – ‚Beweise‘ kommen vor: regelrechte Himmelfahrt oder Entrückung, Offenbarungen (Visionen) des Verstorbenen/Verschwundenen, das Grab oder der Sarg des Verstorbenen stellt sich als leer heraus Die Entrückung fand in die hellenistische panegyrische Dichtung Eingang (Theokr 17,45–52, Berenike; Kallim fr  228 p 218 ff Pfeiffer 1, Arsinoe u a ) und blieb ein beliebtes ideologisches Werkzeug römischer Kaiserapotheosen Das Motiv wird (wie sich versteht) von der gebildeten Elite in der Regel zur Kategorie μυθῶδες gezählt und ist dem philosophischen Diskurs fremd S meine Darstellung 1997, 89–92, mit dort angegebener Literatur In unseren Testimonien zur Hiera Anagraphe findet sich nichts, was dafür spricht, dass ‚Beweise‘ dieser Art angeführt wurden, sei es im Kernnarrativ, sei es auf der Erzählstufe

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Hinblick darauf, dass in unseren Testimonien nichts Ausdrückliches darüber verlautet, sollte diese Möglichkeit ernsthaft erwogen werden Die hier von mir angenommene Intention des Euhemeros ließe sich auch so verwirklichen Wie ich unten (6 4 ) etwas eingehender darlegen will, sollten wir vielleicht aus der Art der Kritik, die Euhemeros zuteil wurde, den Schluss ziehen, dass sein Vorschlag jedenfalls nicht als grundsätzliche Leugnung der Möglichkeit der realen Vergöttlichung verstanden worden ist Ob der Ich-Erzähler die Göttlichkeit der von Zeus und seiner Familie verehrten ursprünglichen Götter (andeutungsweise oder ausdrücklich) kommentiert hat oder nicht, ist eine von der obigen Argumentation getrennte und im Prinzip unabhängige Frage Einige Testimonien schreiben Euhemeros die Auffassung zu, es gebe gar keine Götter: (καθόλου) μὴ εἶναι θεούς 80 Damit eine solche Möglichkeit sollte bestehen können, müssten zwei Bedingungen erfüllt sein: Einmal muss die im Kernnarrativ propagierte Göttlichkeit der sterblichen Fürsten bestritten worden sein; zum anderen muss eben auch die Göttlichkeit der ursprünglichen, ewigen Götter – deren Existenz, wie wir gesehen haben, im Kernnarrativ als vorausgesetzt geschildert wird – (ausdrücklich oder implizite) abgelehnt oder in Frage gestellt worden sein Dass Letzteres der Fall gewesen sein sollte, halte ich jedoch für weniger wahrscheinlich, und zwar selbstverständlich nicht, weil es unmöglich gewesen wäre, die Göttlichkeit der Himmelskörper, der Elemente usw zu bestreiten oder in Zweifel zu ziehen – bekanntlich haben die Epikureer sie systematisch bestritten, und auch von skeptischer Seite ist Einspruch erhoben worden81 – sondern weil durch die Historisierung der Olympier diese in den Mittelpunkt rücken und damit die Gesamtfrage in den Schatten tritt Mit anderen Worten wäre eine andere Argumentationsweise nötig Ich glaube deshalb eher, dass ein solches Bild von Euhemeros erst sekundär aus einer schon etablierten Tradition seiner Religionsfeindlichkeit hervorgegangen ist, unabhängig von einem Kontakt mit der Hiera Anagraphe selbst 82 Für eine korrekte Beurteilung der Vorstellung von Euhemeros als ἄθεος ist die Frage, ob in der Hiera Anagraphe die Existenz der ewigen, ungeborenen Götter vom Ich-Erzähler anerkannt wurde oder nicht, wie ich meine, ohne Bedeutung Ich glaube sogar, dass es gleichgültig wäre, ob solche Götter überhaupt im Kernnarrativ als vorausgesetzt geschildert wurden – wenn ich auch nicht sehe, wie wir die diesbezügliche positive Evidenz der Testimonien disqualifizieren könnten (vgl oben 6 2 ) Von phi-

80 81

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Aëtios, plac 1,7,1 Dox p 297 (T  16  W)  – davon abhängig Ps Galenos, hist. phil Dox p   618,1–3 (T 18 W), vgl Dox p  13 und 253, und Theodoretos, Graecarum affectionum curatio 2,12 und 3,4 (T 17 A und 17 B) – sowie Sextus math 9,50 f (T 23 W); dazu noch Theoph Ant Autolyc 3,7 (T 19 W) Vgl Cottas Einwände gegen die stoische Gottesauffassung in nat. deor 3,26 f und 3, 37 Bei Sextus math 9,52 zählt Prodikos (wie Euhemeros) zu denjenigen, die die Existenz der Götter bestreiten, und zwar wegen seiner Vorstellung zur Entstehung des Götterglaubens, nach der, wie er selbst angibt, die frühen Menschen (u a ) die Sonne und den Mond als Götter verehrt haben sollen Vgl dazu meinen Artikel ‚Prodikos zur Entstehung des Götterglaubens‘ Thraede nennt die Vorstellung, Euhemeros habe die Existenz von Göttern überhaupt bestritten, die „skeptisch-akademische Reduktion“ (Thraede 1966, 886)

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

losophischer Seite her dürfte, wie schon betont, die Degradierung der bedeutendsten Kultgötter von ewigen, nie geborenen Göttern zu vergötterten Sterblichen für ein solches Urteil ausgereicht haben Für die Elite lag hierin gewiss schon ein Akt des religionem tollere (Cic nat. deor. 1,119), unabhängig davon, ob das Modell der Hiera Anagraphe mit der Existenz anderer Götter als dieser rechnete oder nicht Das Bestreben, zwischen der philosophischen Theologie und dem öffentlichen Kult zu vermitteln, gründete sich, wie ich oben am Anfang dieses Kapitels unterstrichen habe, auf die selbstverständliche, allen gemeinsame Grundvoraussetzung, dass die wichtigsten Kultgötter zur ersten Gruppe zählten Falls nun in der Hiera Anagraphe die zu Göttern erhobenen Sterblichen des Kernnarrativs als nur vermeintliche Götter beurteilt worden sein sollten,83 folgt daraus natürlich ein Modell, das noch radikaler ist als im Falle der Anerkennung ihrer realen Vergöttlichung: Die Verehrung dieser ‚Götter‘ wäre letztendlich zu einem leeren historischen Konstrukt deklassiert, einer Pseudotätigkeit ohne religiösen Inhalt; die selbstverständliche Grundvoraussetzung, dass im Kultakt (irgendwie) mit dem Göttlichen kommuniziert werde, wäre aufgehoben Im einen wie im anderen Fall würde eine Anerkennung der Existenz von anderen Göttern – die nicht mit den Kultgöttern zu identifizieren wären – die Beurteilung nicht beeinflussen Es ist deshalb wichtig, sich klarzumachen, dass die gut bezeugte Vorstellung von Euhemeros als gottlos und religionsfeindlich nicht an sich zu Schlüssen darüber berechtigt, wer in der Hiera Anagraphe als Gott gegolten hat und wer nicht, bzw ob (auf der Erzählstufe) Götter anerkannt worden sind oder nicht 6.4. Reflexionen zum Charakter und Umfang der Kritik an Euhemeros Über den ‚Atheismus‘ des Euhemeros ist viel geschrieben worden 84 Es ist nicht an und für sich meine Absicht, zu dieser insgesamt recht unfruchtbaren Diskussion beizutragen, nur möchte ich gegen gewisse Tendenzen, die Schärfe und den Umfang der Kritik an Euhemeros zu übertreiben, Einspruch erheben 85 Bei genauerem Zusehen stellt sich heraus, dass von paganer philosophischer Kritik am Modell des Euhemeros sehr wenig erhalten ist, und was davon erhalten ist, ist kaum mit einer nennenswerten Argumentation unterbaut Vergleichen wir mit der Kraft und der Ausführlichkeit sowie der Explizität der Gegenargumentation, die der Theologie Epikurs zuteil wurden, stellen wir sofort fest, dass die Kritik an Euhemeros weit hin-

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Wie von Hirzel 1895 (oben Anm  55) bzw Zumschlinge 1976 (Anm  71) angenommen Vgl Winiarczyk 2013, 99 f , mit Literaturangaben Zu den Begriffen ἄθεος und ἀθεότης und ihrer Verwendung im Altertum gibt es eine beinahe unübersehbare Menge wissenschaftlicher Literatur Ich empfehle die kluge und sensible Darstellung von Obbink 1996, 1–4 ≈ Obbink 1989, 189–194 Zuweilen gilt Euhemeros als der meistgescholtene Atheist des Altertums, s z B Nilsson 41988, 288: „Euhemeros rangierte im Altertum als erster unter den Atheisten “

6 4 Reflexionen zum Charakter und Umfang der Kritik an Euhemeros

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ter der an Epikur zurückbleibt Was Häufigkeit, Intensität und Umfang der Angriffe betrifft, kann in Wirklichkeit keiner der sonstigen notorischen ‚Atheisten‘ der antiken Welt es mit Epikur aufnehmen Es ist nicht ohne Pointe, dass das älteste uns erhaltene negative Urteil philosophischer Provenienz, das dem Modell des Euhemeros gilt, nämlich die oben besprochene Aussage des Aurelius Cotta in Ciceros De natura deorum 1,119, in Wirklichkeit einen kleinen Teil einer umfangreichen, sehr scharfen kritischen Auseinandersetzung mit der epikureischen Gottesvorstellung ausmacht 86 In der Isolierung der Fragmentsammlungen mag Cottas Äußerung eindrucksvoll genug erscheinen Im Kontext reduzieren sich ihr Gewicht und ihre Proportionen beträchtlich Die lange Auseinandersetzung mit Epikur erstreckt sich ununterbrochen von § 61 bis zum Ende des Buchs in § 124 87 An der Stelle, wo Cotta seine (rhetorische) Frage stellt, ob nicht Euhemeros die Religion ganz und gar aufhebe, nähert sich sein Vortrag seinem allerletzten Teil, der endgültigen Verurteilung Epikurs Hier wird nicht mehr gefragt, sondern kategorisch behauptet: „Epikur hat die Religion mit den Wurzeln aus den Herzen der Menschen ausgerissen, indem er den unsterblichen Göttern sowohl die Macht wie den Dank genommen hat!“88 Epikurs Lehrsatz, dass die Götter frei von jeder Anteilnahme am Weltgeschehen und am Wohlergehen der Menschheit seien, galt als Gottesleugnung de facto Kein Teil der auch als Ganzes heftig kritisierten epikureischen Theologie wurde so eifrig bekämpft; immer wieder wurde dagegen argumentiert Die potentiellen Gefahren dieser Doktrin beschäftigen Cotta weit mehr als die Konsequenzen der Göttergräber der Hiera Anagraphe Wenn die Götter sich nicht kümmern, warum soll man sie verehren?89 Wie anhaltend und intensiv die Epikureer mit solcher Kritik zu kämpfen hatten, geht aus Philodems Bemühungen, die Lehre und ihren Gründer gegen Angriffe und Argumente dieser Art zu verteidigen, zur Genüge hervor 90 Plutarch äußert seinerzeit ein ähnliches Urteil über Euhemeros wie Cotta 91 Er ist wortreicher als Cotta, aber auch dieser Fall rückt in ein anderes Licht, wenn wir ihn 86

87 88

89 90 91

T 14 W Oben 6 3 , m Anm  73 angeführt Die entrüstete Bemerkung im ersten Jambus des Kallimachos (T 1 A W) und seine (wie ich annehme) gegen Euhemeros gerichtete Abweisung des Grabes im Zeushymnus (oben Anm  62) gehen also der Kritik philosophischen Ursprungs, soweit uns ersichtlich, weit voraus, wobei allerdings zu bedenken ist, dass der größte Teil des frühhellenistischen philosophischen Schrifttums verlorengegangen ist Zum Kontext s oben 3 2 1 1 , Anm  119 Cic nat. deor 1,121: … Epicurus vero ex animis hominum extraxit radicitus religionem, cum dis inmortalibus et opem et gratiam sustulit Vgl schon § 115 … eum (= Epicurum) qui sustulerit omnem funditus religionem, im gleichen Kontext In der Einleitung zu Buch 1 bekundet Cicero sein eigenes, damit übereinstimmendes Urteil (nat. deor 1,2 f ) S Cotta ibid § 115; 116; 121–124 Philodemos, De pietate (= Obbink 1996), bes 1138–1216; 1412–1461 Plut Is 359f–360a = T 15 W Der gesamte Abschnitt 359–360 ist insofern besonders interessant, als hier ausnahmsweise eine gewisse Diskussion der Glaubwürdigkeit der euhemeristischen Grundthese vorliegt Gesamtthema des Abschnitts ist das Problem, wie zu erklären sei, dass der ägyptische Mythenvorrat um Isis und Osiris so viel Anstößiges und Abscheuliches enthalte Plutarch referiert einen Vorschlag zur Lösung des Dilemmas, nach dem in Wirklichkeit die Hauptpersonen

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

auf dem Hintergrund des Umstands sehen, dass Plutarch an anderer Stelle seitenweise gegen die epikureische Gotteslehre argumentiert 92 Im Zentrum steht dabei derselbe Lehrsatz vom Unberührtsein der Götter, von dem es hier heißt, dass seine Folgen kein geringeres Übel sei als die ἀθεότης Für den normalen Kultausüber sei die Furcht vor den Göttern, von der Epikur mit dieser Doktrin die Menschheit habe erretten wollen, ein unbedeutendes Problem; Hoffnung, Freude und Glück würden die Furcht weit überwiegen, aber dieser positiven Dinge werde er ja zusammen mit der Furcht beraubt Gerade wenn die Seele empfinde, dass Gott anwesend sei, vermöge sie Trauer, Furcht und Sorgen zu vergessen (1101e) Nicht der viele Wein und das Fleisch bereiten bei den Festen die Freude, sondern die Hoffnung und der Glaube, dass der Gott wohlwollend zugegen sei und die Gaben gefällig entgegennehme (1102b) Den Aulos und den Kranz könne man entbehren, wie diese ja auch bei mehreren Festen nicht gebraucht würden; falls Gott aber bei der Opferfeier nicht anwesend sei, dann sei der Rest gottlos (ἄθεoν), gänzlich unfeierlich und ohne Geist (1102b) Wer wahrhaft von Furcht ergriffen sei, seien die Epikureer selber, denn sie nähmen allein aus dem Grund am öffentlichen Kult teil, dass sie Angst hätten, offen zu zeigen, dass sie im Grunde genommen unehrliche Betrüger seien (1102c) Euhemeros war ein ‚Atheist‘, Epikur ebenfalls Beide heben sie die Religion angeblich auf Warum war Epikur ein so viel schlimmerer Atheist, und warum hat man es nicht für nötig gehalten, Euhemeros mit entsprechenden Argumenten entgegenzutreten?

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der Mythen einstige Könige und Tyrannen gewesen seien Kein Tadel träfe in solchem Falle die Götter (359d–e), da hier nur menschliche Taten geschildert würden Plutarch findet diese bequeme Lösung zwar nicht unattraktiv, will sie jedoch aus dem Grund nicht anerkennen, weil dadurch den trügerischen Ideen von Gottesleugnern wie Euhemeros die Tür geöffnet würde (360a) Dem fügt Plutarch zwei Argumente hinzu, die seiner Meinung nach gegen solche Modelle sprechen Erstens weist er darauf hin, dass soweit bekannt die Könige früher Kulturen wie der Assyrier, der Ägypter, der Phryger und der Perser eben nicht als Götter verehrt worden sind, ja, er meint, dass nicht einmal Alexander einen Kult erhalten habe Mit anderen Worten sei eine Vergöttlichung wie die in der Hiera Anagraphe postulierte als historisches Phänomen der Urzeit wenig glaubhaft Das zweite Argument knüpft an den hellenistischen und römischen Herrscherkult an: Es sei weniger wahrscheinlich, dass der Kult seit so alter Zeit fortbestanden hätte, denn erfahrungsgemäß seien Kulte, die für mächtige Sterbliche eingerichtet worden seien, nie langlebig gewesen (Ein ähnliches Argument wird von Sextus Emp math 9,34–38 gegen eine euhemeristisch anmutende Grundthese – ohne Nennung des Euhemeros – angeführt, wobei die These hier ausdrücklich im Rahmen von Theorien zur Entstehung des Götterglaubens besprochen wird) Auf diese Argumentation gestützt lässt Plutarch den erörterten Vorschlag endgültig fallen und befürwortet stattdessen eine andere Lösung des Problems (360d) Dies sind nebenbei gesagt die einzigen Stellen in der antiken Literatur, wo eine Verbindung zwischen Euhemeros (oder einer euhemerisierenden Vorstellung) und dem Herrscherkult etabliert wird In Plutarchs Augen liefert der Herrscherkult ein Argument gegen den Euhemerismus Sollte dieser ursprünglich geschaffen worden sein, um selbst als Argument für den Herrscherkult zu dienen, scheint Plutarch sich dessen nicht bewusst zu sein, und Entsprechendes darf wohl im Falle des Sextus angenommen werden Plut Non posse suaviter vivi sec. Epicurum 1100e–1103 f Vgl auch Adv. Coloten 1119e

6 5 Exkurs über den „Euhemerismus im weiteren Sinne“

331

Ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen Epikur und Euhemeros (sowie auch den anderen notorischen ‚Atheisten‘ des Altertums) besteht darin, dass Epikur eine systematische philosophische Lehre anbot, die auch zugleich Lebensphilosophie war Dass Euhemeros nicht darauf aus war, eine Schule zu begründen, dürfte sofort erkannt worden sein Er stellte also auf der philosophischen Bühne keinen Konkurrenten dar Da es ihm nicht darum ging, eine Schule zu bilden und seine Thesen als Lebensweisheit zu predigen und zu verbreiten, mag man in der Philosophie das Gefühl gehabt haben, man könne sich damit begnügen, ihn kurzerhand als ‚Atheisten‘ abzutun Dass der eine und der andere, oder vielleicht sogar viele, literarisch in seinen Spuren folgten, konnte aus denselben Gründen hingenommen werden 93 Hier sei noch hinzugefügt, dass der Umstand, dass die Kritik an Euhemeros relativ gesehen mäßig gewesen ist, möglicherweise Licht auf die Frage der Vergöttlichung wirft, die uns oben (besonders in 6 3 ) beschäftigt hat Denn hier hätte man, so wie ich die Lage betrachte, das einzige einigermaßen schlüssige positive Argument dafür, dass die vergöttlichten Gestalten des Kernnarrativs vom Ich-Erzähler als wirkliche Götter dargestellt worden wären Falls nämlich das Gegenteil zuträfe, d h wenn die Göttlichkeit der Olympier de facto bestritten worden wäre, müssten sich ja aus der Göttergeschichte der Hiera Anagraphe ähnliche und sogar noch drastischere potentielle Konsequenzen ergeben als aus der Theologie Epikurs Niemand könnte sich mehr mit Zuversicht und Hoffnung an diese Götter – die normalen Götter des öffentlichen Kults – wenden; niemand könnte die Anwesenheit der Gottheit im Kult empfinden und erleben Ich denke, es ist schwer vorstellbar, dass in solchem Falle ausdrückliche Reaktionen derselben oder ähnlicher Art wie im Falle der epikureischen Doktrin von der Unberührtheit der Götter ausgeblieben wären Meine oben geäußerte Vermutung, dass die Frage der Göttlichkeit offengelassen worden sei, kann jetzt noch präzisiert werden: Gerade wegen der mangelnden Reaktionen liegt der Schluss nahe, dass das Publikum die Hiera Anagraphe so verstanden hat, dass reale Vergöttlichung der Olympier auch auf der Erzählstufe akzeptiert worden sei Bei fehlender ausdrücklicher Stellungnahme im Text läge eine spontane Reaktion dieser Art gewiss am nächsten 6.5. Exkurs über den „Euhemerismus im weiteren Sinne“ Leider hat sich, trotz der Proteste bedeutender Gelehrter,94 eine Sitte eingebürgert, den Begriff ‚Euhemerismus‘ nicht nur für die Vermenschlichung der Olympier, son-

93 94

Vgl oben 6 2 a E Nilsson 41988, 284; Pépin 1958, 271; Boyancé 1955, 61 u a S dazu Verf 1997, 78 f Auch Winiarczyk gibt zu, dass der erweiterte Gebrauch nicht allzu treffend ist (2013,  123), hat aber die für seine eigene Darstellung höchst wesentlichen Konsequenzen daraus nicht gezogen S zuletzt Roubekas 2017 (vgl hier unten Anm 110)

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

dern auch noch für die Vergöttlichung solcher Gestalten, die ohnehin schon als geborene Menschen galten, zu verwenden In der Verlängerung hat diese Ausdehnung des Begriffs dazu geführt, dass jede Vorstellung von Apotheose oder Vergöttlichung von Menschen (Herrscherkult, Euergeteskult u ä ) schlechthin als Euhemerismus bezeichnet wird Wer sich in Worten oder Taten für die Vergöttlichung eines Wohltäters oder Gönners einsetzt oder auch eine Gestalt der Vergangenheit als vergöttlicht schildert, gilt demgemäß als ‚Euhemerist‘ Es hilft wenig, dass hier und da betont wird, dass es sich hier nicht um Euhemerismus ‚im eigentlichen Sinne‘ handele, sondern um einen ‚erweiterten‘ Gebrauch des Worts – diese Kautel geht sehr leicht verloren, und so stehen wir unversehens da mit einer Menge vermeintlicher Anhänger des Euhemeros, von denen die allermeisten dies jedoch mit aller Wahrscheinlichkeit nicht gewesen sind, eine ganze Reihe sogar nachweislich nicht Die Nachteile der Verwirrung treten bespielhaft im Falle des ‚Euhemerismus‘ des Persaios zutage Persaios war Stoiker, Schüler Zenons und (vermutlich) jüngerer Zeitgenosse des Euhemeros 95 Sein Werk ist verlorengegangen, aber wir besitzen noch Zeugnisse über seine Lehre, die dahingehend gedeutet werden könnten, dass er – als einziger Philosoph des Altertums – gewisse Impulse von Euhemeros empfangen haben mag Kaum an einer Stelle, wo in der modernen Wissenschaft seine Theorie über die Ursprünge der Religion besprochen wird, lässt sich ermitteln, ob man nun Persaios als Euhemeristen ‚im engeren (strikten) Sinne‘ oder ‚im breiteren‘ versteht Velleius, der epikureische Sprecher in Ciceros De natura deorum, kommt in seiner kritischen Übersicht über philosophische Gottesvorstellungen auch auf Persaios zu sprechen (1,38): Aber Persaios, auch er /wie Kleanthes/ ein Schüler Zenons, macht geltend, dass diejenigen, von denen irgendetwas erfunden worden sei, was für die Lebensführung von großem Nutzen gewesen ist, für Götter gehalten worden seien, ja, dass die nützlichen und heilbringenden Sachen selbst mit Götternamen benannt worden seien; er begnügte sich also nicht damit, zu sagen, dass dies Erfindungen der Götter seien, sondern behauptete, dass die Dinge selber göttlich seien Was könnte absurder sein, als niedrigen und formlosen Dingen göttliche Ehren zu erweisen oder Menschen, die der Tod schon vernichtet hat, unter die Götter zu versetzen; für diese gäbe es ja keine andere Verehrung als Trauer 96

Es ist dem nachfolgenden Urteil des Velleius nicht unbedingt zu entnehmen, ob die Theorie des Persaios beinhaltete, dass die deifizierten Erfinder und die göttlich benann-

95 96

Zu den Lebensdaten des Persaios s Steinmetz 1994, 555 f Cic nat. deor 1,38 (Velleius): At Persaios, eiusdem Zenonis auditor, eos dixit esse habitos deos, a quibus magna utilitas ad vitae cultum esset inventa, ipsasque res utilis et salutaris deorum esse vocabulis nuncupatas, ut ne hoc quidem diceret, illa inventa esse deorum, sed ipsa divina. quo quid absurdius quam aut res sordidas atque deformis deorum honore afficere, aut homines iam morte deletos reponere in deos, quorum omnis cultus esset futurus in luctu?

6 5 Exkurs über den „Euhemerismus im weiteren Sinne“

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ten nützlichen Dinge für wahre Götter gehalten worden seien; für die Erfinder ist dies jedoch a priori vorauszusetzen;97 mit den vergöttlichten Dingen mag es sich anders verhalten 98 Diese Information deutet noch gar nicht auf euhemeristischen Einfluss (im wahren Sinne des Worts) Erst wenn wir Ciceros mutmaßliche epikureische Quelle, Philodems Über Frömmigkeit, heranziehen, lässt sich ein solcher möglicherweise ahnen 99 Dort erfahren wir folgendes: Es ist offenbar, dass Persaios das Göttliche in Wirklichkeit abschafft und vernichtet oder jedenfalls keine Einsicht darin zeigt, wenn er in seinem Werk Über die Götter sagt, dass das, was zuerst von Prodikos geschrieben worden ist, nämlich, dass die nährenden und nützlichen Dinge für Götter gehalten und verehrt worden seien, ihm nicht unglaubwürdig erscheine, dass aber nach dieser Phase die Erfinder von Nahrungs- und Schutzmitteln oder den anderen Kunstfertigkeiten, wie etwa Demeter und Dionysos (?) und die Dioskuren (?) 100

Der Impuls, Demeter in eine menschliche Gestalt umzudeuten, könnte vom Mythos ausgegangen sein, demzufolge diese (ewige, nie gestorbene) Göttin auf ihren Wanderungen in der Welt den Menschen das Leben erleichtert haben soll und vor allem für die Verbreitung des Ackerbaus gesorgt haben soll Da aber die Hiera Anagraphe in der Jugendzeit des Persaios entstanden sein dürfte, lässt sich nicht ausschließen, dass sie die Idee mit angeregt hat So oder so berechtigt uns die Umwandlung der Demeter in eine sekundäre (als Mensch geborene) Gottheit dazu, Persaios in gewissem Ausmaß als Euhemeristen (im eigentlichen Sinne) zu betrachten Im Falle des Dionysos – wenn wir der seit Gomperz gängigen, durchaus glaubwürdigen Rekonstruktion folgen – liegen die Dinge anders: Wie ich schon erwähnt habe, wurde sein Status ohnehin unterschiedlich verstanden 101 Welche etwaigen weiteren Götternamen sich noch in der Lücke verstecken, lässt sich natürlich nicht ermitteln, jedoch können wir vermuten, dass kein Zeus dabei gewesen ist, dagegen mögen z B Asklepios, Aristaios, Tripto-

97 98

Vgl Algra 2003, 158; Effe 1970, bes 179 Der Wortlaut deorum esse vocabulis nuncupatas lässt an den metonymischen Gebrauch der Götternamen denken, vgl Lucilius Balbus ebenda 2,60 f (oben 3 1 1 ) 99 Zur Quellenfrage s oben 3 1 1 , Anm  35; 3 1 1 1  Anm 53; 3 2 1 Anm 115 100 Philodemos, De pietate PHerc 1428 = col 2–3 p 13–14 Henrichs 1974: Περσαῖος δὲ δῆλός ἐστιν [ἀναιρῶν ὄντως καὶ ἀφανί]ζων τὸ δαιμόνιον ἢ μηθὲν ὑπὲρ αὐτοῦ γινώσκων, ὅταν ἐν τῷ Περὶ θεῶν μὴ ἀπίθανα λέγηι φαίνεσθαι τὰ περὶ τοῦ τὰ τρέφοντα καὶ ὠφελοῦντα θεοὺς νενομίσθαι καὶ τετειμῆσθαι πρῶτον ὑπὸ Προδίκου γεγραμμένα, μετὰ δὲ ταῦτα τοὺς εὑρόντας ἢ τροφὰς ἢ σκέπας ἢ τὰς ἄλλας τέχνας ὡς Δήμητρα καὶ Δι[όνυσον] καὶ το[Hier folgt eine Lücke von 10 Zeilen Ergänzungen des griechischen Texts wie im Apparat der Ausgabe von Henrichs Schober 1923/1988 col  III p  117 ergänzt die Lücke am Ende mit τοὺς Διοσκούρους Meine Übersetzung entspricht dem Verständnis der Theorie des Prodikos durch Jaeger 1967, 179, Barnes 1996, 456–458, Long 1999, xxv, u a S dazu meinen Artikel ‚Prodikos zur Entstehung des Götterglaubens‘ und vgl oben 6 1 Anm 18 101 S dazu oben 6 2 Anm  63 (und vgl 6 3 Anm  74, a E )

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Kapitel 6: Die Ursprungsfrage C

lemos und andere Gestalten, die normalerweise als menschlich geborene, sekundär vergöttlichte Götter betrachtet wurden, dazu gehört haben Demnach wäre Persaios, insofern er für Demeter menschliche Herkunft postuliert hat, ein Euhemerist im eigentlichen, engeren Sinne Insofern er unter die vergöttlichten Erfinder auch solche wie etwa Asklepios, Aristaios oder Triptolemos oder auch Dionysos aufgenommen haben mag, wäre er ein ‚Euhemerist im weiteren Sinne‘ Thraede (1966) trägt bei aller Bereitwilligkeit, die beiden Verwendungen des Begriffs auseinanderzuhalten und zu definieren, selbst zur Verwirrung bei, u a weil er Persaios als Euhemeristen im weiteren Sinne zunächst ausdrücklich von Euhemeros trennt (881), dann aber dennoch einen direkten Einfluss des Euhemeros auf die Stoa voraussetzt: „Die Stoa vermag Euhemeros positiv im Sinne der Apotheose-Theorien zu werten und zu begrenzen “ Demnach verwendet er also „den späten und unzutreffenden Begriff E “ (ebenda) so, als wäre der Euhemerismus im weiteren Sinne doch irgendwie als Wirkung und Nachfolge des Euhemeros zu betrachten Eine Konsequenz davon wäre, dass nicht nur Persaios, sondern auch etwa Chrysippos (s zu diesem im Folgenden) als Euhemerist (im weiteren Sinne) zu betrachten sei Nun: Um die „Realität der Apotheose“ (die Phrase nach Thraede 882) von Göttern wie Herakles oder den Dioskuren, von denen normalerweise und seit jeher galt, dass sie einst als Menschen geboren worden seien und erst nach ihrem Tod zu den Göttern erhoben worden seien, zu begründen, bedurften die Stoiker ebenso wenig wie andere der sehr spezifischen, im Grunde auf das Umgekehrte hinauslaufenden Theorie des Euhemeros Denn darin ging es ja eben nicht darum, aus ursprünglichen Menschen Götter zu machen, sondern umgekehrt darum, aus ursprünglichen Göttern Menschen zu machen Was man nötig hatte, um die „Realität zu begründen“, war vielmehr eine Doktrin, die die Unsterblichkeit der Seelen beinhaltete und zugleich mit einer gewissen Aufstiegsmöglichkeit der unsterblichen Seelen rechnete Diese fand man fertig vorgeformt im Platonismus (besonders an Phaidon anknüpfend), ebenso wie die Überzeugung, dass für den Aufstieg allein die persönliche Tugend qualifiziere Auf diesem Hintergrund entstand allmählich mit den notwendigen Anpassungen und Auslassungen eine stoische Doktrin von der Göttlichkeit gewisser Seelen Ausgangspunkt ist die Vorstellung von der Fortdauer individueller Seelen nach der Trennung vom Körper 102 Eine über Zeit gleichbleibende Doktrin hat es hier (wie so oft bei den Stoikern) nicht gegeben Äußerste Grenze der Fortdauer ist mit Notwendigkeit die Ekpyrose Begriffe wie ‚unsterblich‘ und ‚ewig‘ sind also in diesem eingeschränkten Sinne zu verstehen 103 Chrysippos setzte sich dafür ein, dass die Seelen der Weisesten, und nur diese, bis zu dieser Grenze fortlebten (Diog Laërtios 7,157 = SVF 2, 811) Diese Seelen, und die anderer tugendhafter Menschen, sind für die Stoiker Götter in 102 103

S SVF 2, 809–822 und Hoven 1971, 44–65 Hoven 1971, 45 und vgl Frede 2005, 230 f Frede erklärt hier (S  231) in vorbildlich präzisen Worten, was der Begriff ‚göttlich‘ in Zusammenhängen wie diesem für einen Stoiker beinhaltet hat

6 5 Exkurs über den „Euhemerismus im weiteren Sinne“

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dem von Frede erläuterten Sinne Lucilius Balbus, der Stoiker in Ciceros De natura deorum, begründet die Göttlichkeit von Hercules, Castor und Pollux, Aesculapius, Liber (und zwar Liber Semela natus)104, Romulus/Quirinus in folgender Weise (nat. deor 2,62): „Weil die Seelen dieser Männer fortbestanden und Ewigkeit erreichten, sind sie mit Recht für Götter gehalten worden, da sie sowohl vorzüglich wie ewig waren“ (wobei „ewig“ im Sinne von ‚bis zur Ekpyrose fortlebend‘ zu verstehen ist, und das Wort „Ewigkeit“ entsprechend) 105 Diese Stelle wird von Thraede (882) als Beispiel für „stoisch beeinflussten Euhemerismus“ angeführt Schon dieser letzte Fall zeigt, wie die unglückliche Wucherung der breiteren Verwendung des Begriffs zu beinahe absurden Verdrehungen führt, da letztendlich das, was als Euhemerismus im weiteren Sinne bezeichnet wird, zur Theorie der Hiera Anagraphe im Gegensatz steht Lucilius Balbus, der ‚Euhemerist‘, ist nachweislich kein Euhemerist Er hätte nie davon geträumt, zu behaupten, Jupiter oder Juno oder Apollon usw hätten einst als Menschen gelebt; er ist mit Sicherheit bereit, Cotta zu folgen, wo dieser ihn dazu auffordert, gegen solche Lehren einzuwenden 106 Bei Gale (1994, 77) gilt Varro als ‚Euhemerist‘, und zwar gerade aufgrund des Fragments 32 Cardauns,107 das auf den ersten Blick zeigt, dass er – wie wir schon wussten108 – kein Euhemerist gewesen ist, denn in der Gruppe di qui inmortales ab hominibus facti sunt zählt er nur ursprüngliche Menschen auf Und laut Gale ebenda  – die allerdings bemüht ist, ausdrücklich zwischen „Euhemerism in its strict sense“ und „Euhemerism in the broadest sense“ zu unterscheiden – sei sogar Scipio Africanus in Ciceros Somnium Scipionis ein ‚Euhemerist‘ 109 Der einzige Ausweg aus der Verwirrung wäre der, die erweiterte Verwendung des Begriffs Euhemerismus restlos abzuschaffen 110

104 S oben 6 3 Anm  74 a E sowie 6 2 Anm  63 105 Cic nat deor 2,62: quorum cum remanerent animi atque aeternitate fruerentur, rite di sunt habiti, cum et optimi essent et aeterni Vgl Seneca, cons. ad Marciam (dial 6) 26,7 106 Oben 6 3 , mit Anm  74 107 Varro RD fr  32 Cardauns = Servius auct zu Aen 8,275, s oben Anm  63 108 S dazu besonders Verf 1994 109 Und zwar auf Grund seiner Aussage, dass alle, die zur Errettung, Erhaltung und Erweiterung des Vaterlandes beitragen, auf einen Platz im Himmel rechnen können, wo sie ewig weiterleben (Cic  rep 6,13) 110 Das wäre um so dringender, als der erweiterte Gebrauch als solcher keineswegs einheitlich ist, sondern eine ganze Reihe von Varianten aufweist Roubekas bietet eine reichhaltige Beispielsammlung der wechselnden Inhalte des Begriffs in der modernen Wissenschaft (Roubekas 2017, bes ch  8, 155–178) Freilich kann ich der Beschreibung des ursprünglichen Euhemerismus durch Roubekas nicht durchgehend zustimmen (vgl hier oben Anm 17 und 71) und somit seine Abgrenzung späterer „euhemerisms“ vom Ursprungsmodell nicht uneingeschränkt akzeptieren

Kapitel 7 Rückblick Haben sich die Gebildeten der alten Welt darüber Gedanken gemacht, wie das im öffentlichen Kult vermittelte Gottesbild sich historisch zu ihren eigenen – davon radikal abweichenden – Vorstellungen vom wahren Wesen der Gottheit verhalten habe? Haben sie darüber reflektiert, wie es dazu gekommen sei, dass dieses unterlegene Gottesbild sich derart hatte durchsetzen können? In der modernen Wissenschaft ist dieser Frage meines Wissens keine Aufmerksamkeit gewidmet worden Das darf uns nicht dazu verleiten, zu glauben, dass sie mit einem Nein zu beantworten wäre Im Vorangehenden ist mit aller Deutlichkeit gezeigt worden, dass antike Denker sich mit der Frage auseinandergesetzt haben; nachweislich haben die Intellektuellen der alten Welt sich darum bemüht, zu verstehen, wie die Sitte aufgekommen sei, die Götter in menschlicher Gestalt zu repräsentieren – mit der mächtigen Stimme des Xenophanes als eindrucksvollem Beginn (Kap  3 1 3 ) – und welche Beziehung zwischen dieser Sitte und ihren eigenen Gottesvorstellungen bestehe Die Spuren der diesbezüglichen Reflexion enthüllen sich freilich nicht immer auf den ersten Blick Das liegt nicht zuletzt daran, dass lange Zeit eine bestimmte Auffassung praktisch alleinherrschend gewesen sein dürfte (Kap  3 1 1 ) Sie brauchte also nicht jedes Mal ausdrücklich präsentiert und erörtert zu werden, sondern konnte in der Regel vorausgesetzt werden Dem modernen Wissenschaftler fehlt der unmittelbare Zugang zu den nicht explizit ausgesagten Grundvoraussetzungen Anders als dem antiken Empfängerkreis, bleibt ihm der Kontext leicht genug unklar und das Gesamtbild entsprechend verzerrt Und so mag er den Schluss ziehen, dass die Diskrepanz zwischen öffentlichem und philosophischem Gottesbild den Vertretern des letzteren überhaupt nicht beschäftigt habe, zumal ja wohlbekannt ist, dass grundsätzliche Abstandnahme oder Fernhaltung vom Kult fast nie vorkam Am religiösen Leben des Gemeinwesens beteiligte sich bekanntlich die gebildete Elite genauso wie alle anderen Bürger 1 Dass gerade dieses Verhältnis nicht als Zeichen von Gleichgültigkeit der 1

Die Auffassung, nach der antike Religion im Wesentlichen als mechanischer Ritualismus zu verstehen sei und deshalb mit Glaubensfragen nichts zu tun habe, mag dazu beigetragen haben, Schlussfolgerungen der genannten Art zu fördern Vgl oben Kap  1 1 Anm  12

Kapitel 7: Rückblick

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Gebildeten gedeutet werden darf, wird erst deutlich, wenn erkannt wird, dass die Versuche, die Frage zu beantworten, so konstruiert wurden, dass die Antworten eine Brücke zum öffentlichen Kult schufen Das Teilnehmen daran erhielt dadurch eine gewisse philosophische Begründung 2 An diesen Antworten manifestiert sich in exemplarischer Weise die jeweilige Grundhaltung zum anthropomorphen Gottesbild als solchem „Anthropomorphes Gottesbild“ bedeutet hier die Sitte, die Götter in menschlicher Gestalt und als Mitglieder einer Familie zu repräsentieren Das allzu menschliche Agieren der so gestalteten Götter im mythologischen Narrativ ist nicht mit einbezogen 3 Es ist mit Kraft zu unterstreichen, dass dies ein anderes Thema mit anderen Grundvoraussetzungen ist Wie aus meiner Untersuchung zur Genüge hervorgeht, müssen die beiden Bereiche strikt auseinandergehalten werden Antike Denker fanden schon sehr früh einen Weg, das mythologische Narrativ philosophisch zu domestizieren Die philosophische Akzeptanz der anthropomorphen Darstellungsweise als solcher ließ noch lange auf sich warten und hat sich, wie es scheint, nie voll durchgesetzt Dem Vorgang und den Ergebnissen dieses Prozesses nachzugehen, wird hier zum ersten Mal versucht Für die Haltung zum anthropomorphen Gottesbild ist die Grundfrage nach seinem Wahrheitsgehalt konstitutiv Solange antike Denker noch keinen Weg sahen, diese Art, die Götter zu repräsentieren, mit einem theologisch annehmbaren Inhalt zu verbinden, wurde sie von allen grundsätzlich abgelehnt Dies änderte sich in der Zeit um 300 v  Chr insofern, als mit dem Auftreten Epikurs der Glaube, die Götter seien tatsächlich von menschenähnlicher Gestalt, innerhalb der Philosophie Unterstützung fand Dieses Dogma gehört zu den Punkten der epikureischen Lehre, die stets den Spott aller übrigen am intellektuellen Leben Beteiligten hervorriefen Buchstäbliches Verständnis galt als naiv und als typisches Merkmal der ungebildeten Menge 4 Nicht lange nach dem Auftreten Epikurs wurde von ganz anderer Seite ein Versuch gemacht, das anthropomorphe Gottesbild als buchstäblich wahr zu erweisen Im Roman des Euhemeros wurde geltend gemacht, dass die Olympier durchaus mit Recht in menschlicher Gestalt dargestellt würden, denn sie seien nichts anderes als einstige historische Gestalten – mächtige Könige und andere einflussreiche Personen früher Zeiten Die Götter in Menschengestalt darzustellen, sei mit anderen Worten eine wohl begründete, historisch bedingte Sitte Ob neben der historischen Wahrheit hier auch noch das Kriterium theologischer Wahrheit erfüllt gewesen ist (wie in der epikureischen Lehre), bleibt unklar, oder, anders ausgedrückt: Es lässt sich nicht sicher

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Wie oben Kap  1 1 dargelegt S dazu Kap  1 1 So spricht Lucilius Balbus der Stoiker in Ciceros De natura deorum 2,45 in diesem Zusammenhang von den vulgo imperiti et similes philosophi imperitorum, „den Ungebildeten insgemein und den Philosophen, die den Ungebildeten ähnlich sind“ (d h den Epikureern)

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Kapitel 7: Rückblick

entscheiden, ob die vergöttlichten Gestalten im Roman des Euhemeros als wahre Götter dargestellt wurden oder nicht Die Theorie des Euhemeros wurde philosophisch nicht rezipiert Der Standpunkt der Epikureer blieb in der Philosophie eine isolierte Erscheinung Die ablehnende Haltung, nach der die anthropomorphe Darstellungsweise grundsätzlich falsch sei und somit keinen theologischen Sinn und Wert trage, blieb sonst alleinherrschend, bis erst sehr viel später ein neues Modell präsentiert wurde Danach ist die anthropomorphe Darstellungsweise zwar selbstverständlich in buchstäblichem Sinne falsch, aber nichtsdestoweniger ist sie theologisch einwandfrei und sinnvoll, weil sie dazu erfunden worden ist, in indirekter Weise wahre Einsicht in das Wesen Gottes zu vermitteln Mit anderen Worten sei das anthropomorphe Gottesbild in übertragenem Sinne wahr Der früheste Beleg für diese Vorstellung begegnet erst im letzten vorchristlichen Jahrhundert Wie oben am Anfang von Kap  4 dargelegt, spricht vieles dafür, dass diese Möglichkeit tatsächlich erst so spät erwogen worden ist, so dass wir es hier nicht einfach mit einer Überlieferungslücke zu tun haben Diese Position hat die ältere Sichtweise offensichtlich nie ganz verdrängt, wenn sie auch in der Zeit der Auseinandersetzung mit der christlichen Polemik zu einer breiten Verwendung kam De facto kommen als Stellungnahmen zum Wahrheitsgehalt nur die drei genannten Alternativen in Frage, d h grundsätzlich falsch, buchstäblich wahr und wahr in übertragenem Sinne Die theoretisch denkbare Möglichkeit, das anthropomorphe Gottesbild als wahrheitsneutral zu betrachten, habe ich nicht belegen können Zu beachten ist, dass wer geltend macht, das anthropomorphe Gottesbild sei theologisch unvertretbar, nicht mit Notwendigkeit der Meinung ist, dass es völlig unberechtigt sei, die Götter in dieser Weise darzustellen Ganz im Gegenteil wird dies u U befürwortet, auch wenn dem Konzept als solchem jede Wahrheit abgestritten wird So soll nach einem Ursprungsmodell die menschliche Gestalt der Götter eine schlaue Erfindung früher Staatsmänner gewesen sein, die damit rechneten, mit Hilfe dieser leicht verständlichen Gottesvorstellung das Volk besser in Schach halten zu können 5 Der Wahrheitsaspekt des anthropomorphen Gottesbildes bildet das notwendige grundlegende Gliederungsprinzip meiner Untersuchung, dem die Analyse der einzelnen Entstehungstheorien untergeordnet ist Hinter jeder Ursprungstheorie steht immer ein bestimmter Standpunkt in der Grundfrage nach dem Wahrheitsgehalt, der die Wahlmöglichkeiten diktiert und einschränkt

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Oben 3 2 1 1 Das bedeutet, dass wir mit dem einfachen Einteilungskriterium ‚positiv‘ gegenüber ‚negativ‘, wie es zuweilen in der Forschung etwa im Zusammenhang mit Studien zur Wertung der Götterbilder verwendet worden ist, nicht arbeiten können Die schlauen Politiker, die das anthropomorphe Gottesbild angeblich eingeführt haben sollen, haben ihrer Erfindung selbstverständlich keine theologische Wahrheit zuerkannt, und so wäre dieses Gottesbild ‚negativ‘; wegen seines sozialen und politischen Nutzens gilt es ihnen natürlich als ‚positiv‘

Kapitel 7: Rückblick

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Die einzelnen Entstehungstheorien werden oben unter der Hauptaxis ‚grundsätzlich falsch‘ (Normalposition; Kap  3) bzw ‚in übertragenem Sinne wahr‘ studiert (Kap  4–5) Diesen zentralen Teil der Arbeit umschließen zwei Kapitel über die Alternative ‚buchstäblich wahr‘: Dem epikureischen Standpunkt ist das 2  Kapitel gewidmet, und der Theorie des Euhemeros gilt das 6 Kapitel Die Kürze des 2  Kapitels spiegelt den Umstand wider, dass für die Epikureer die Sitte, die Götter in menschlicher Gestalt darzustellen, unproblematisch ist Eine Theorie zum Ursprung des anthropomorphen Gottesbildes haben sie nur insofern, als sie sich dafür interessieren, wie die Menschen zur Einsicht gekommen seien, dass die Götter so gestaltet seien Diesen ihrer Überzeugung nach notwendigen und unausweichlichen Vorgang meinen sie, mit Hilfe ihrer materialistischen Weltauffassung und ihrer daraus abgeleiteten Perzeptionslehre nachweisen zu können Die Länge des 6  Kapitels ist dadurch bedingt, dass Form und Zweck der Hiera Anagraphe des Euhemeros bislang nicht korrekt beurteilt wurden, so dass eine breit angelegte Analyse unbedingt erforderlich erschien 6 Der Gliederung der Theorien nach ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu den Hauptkategorien ‚grundsätzlich falsch‘ bzw ‚in übertragenem Sinne wahr‘ wird die Bestimmung des Entstehungsmodus zugeordnet Hier wird die Frage gestellt, ob die Theorien eine spontane Entstehung vorsehen, oder ob das anthropomorphe Gottesbild vielmehr als bewusst erfunden gilt Hier enthüllt sich sofort ein interessantes, asymmetrisches Distributionsmuster: Spontane Entstehung ist nur in der Gruppe ‚falsch‘ vertreten und wird assoziativ mit ‚der Menge‘, ‚dem Volk‘ usw verbunden Unverständnis und Unreife prägen den vermeintlichen Entstehungsrahmen, der je nach entwicklungsgeschichtlichem Standpunkt zeitlich verschieden, jedoch immer in einer fernen Vergangenheit angesiedelt wird Dagegen findet sich die Meinung, dass das anthropomorphe Gottesbild bewusst erfunden worden sei, unter beiden Hauptkategorien, wobei, wie wir sehen werden, auch hier bestimmte Asymmetrien auffallen Jede Theorie, die mit bewusster Erfindung rechnet, setzt mit Notwendigkeit einen komplexeren Entstehungsrahmen voraus als ein Modell, das spontane Entstehung behauptet Sie verlangt (mehr oder weniger explizite) Stellungnahmen in folgenden zusätzlichen Punkten: Wer hat das anthropomorphe Gottesbild erfunden? (Urheberfrage); für wen wurde es erfunden? (Empfängerfrage); und schließlich, in welcher Absicht oder zu welchem Zweck wurde es erfunden? (Absichtsfrage) Dieser Fragenkomplex bleibt selbstverständlich konstant, unabhängig davon, ob das anthropomorphe Gottesbild als unwahr gilt (und somit von den vermeintlichen Urhebern bzw vom Sprecher selber nicht umfasst wird), oder ob es als wahr in übertragenem Sinne gilt (d h mit der eigenen Überzeugung der vermeintlichen Urheber bzw des Sprechers in Einklang steht) Das Distributionsmuster ist wieder aufschlussreich So gehören

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Der Roman des Euhemeros ist erstmals in seiner Rolle als Vorschlag zur Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes in meinem Artikel von 2014 gewürdigt worden

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Kapitel 7: Rückblick

die vermeintlichen Urheber stets höheren Schichten an Dafür können die vorgesehenen Empfänger sowie auch die Intention wechseln, selbstverständlich nicht von ungefähr, sondern in bestimmtem Verhältnis zur Wahrheitsfrage Falls die Urheber sich angeblich mit ihrem Konzept an ihresgleiche wenden, vermittelt das anthropomorphe Gottesbild, wie sich versteht, wahre – allein dem vorgesehenen Empfängerkreis zugängliche – Gotteserkenntnis 7 Heißt es dagegen, dass sie sich an die Menge wenden wollen, kommen zwei Modelle vor: Entweder geht es darum, dass das anthropomorphe Gottesbild unwahr sei, aber ein buchstäbliches Verständnis beabsichtigt sei, oder es wird vorausgesetzt, dass das anthropomorphe Gottesbild dafür vorgesehen sei, wahre Gotteserkenntnis zu vermitteln, und dass dieser Inhalt auch im Prinzip jedem zugänglich sei 8 Die auf den ersten Blick unerwartet positive Beurteilung des allgemeinen Fassungsvermögens im zweiten Fall erklärt sich dadurch, dass die Texte, die uns die Belege dieser letzten Theorie vermitteln, sich an breitere Kreise wenden als die sonst untersuchten Testimonien 9 Das hat die Gestaltung des Modells selbstverständlich mitgeprägt Es wäre höchst ungeschickt, die intradiegetische Zielgruppe in einer Weise darzustellen, die für einen beträchtlichen Teil der tatsächlichen Rezipienten beleidigend wäre Anders als man es vielleicht erwartet hätte, wird die Verantwortung für die Entstehung des falschen Gottesbildes nirgends eindeutig den Dichtern zugeschrieben, wenn sie auch zuweilen beschuldigt werden, mit ihrer Fabulierfreude das Missverständnis unterstützt und verschlimmert zu haben Der besondere Fall meiner Untersuchung, in dem geltend gemacht wird, Homer habe die anthropomorphe Darstellungsweise erfunden, bildet hier nur scheinbar eine Ausnahme, da Homer in dem betreffenden Text nicht in erster Linie als Dichter gewürdigt wird Ihm wird eine Rolle als Begründer aller Wissenschaften und Künste zugeschrieben Er tritt somit als Repräsentant der Elite par préference hervor 10 Zu den nicht unwichtigen Ergebnissen der Arbeit zähle ich die Berichtigung in der wissenschaftlichen Literatur verbreiteter Missverständnisse und Fehldeutungen Im Laufe der Arbeit konnte eine ganze Reihe solcher Ungenauigkeiten ausgeräumt werden, sowohl in den größeren Perspektiven wie in einzelnen Texten 11 Auch wurde mir mit der Zeit klar, welche Faktoren dafür mitbestimmend gewesen sind, dass die Thematik als Forschungsgegenstand nicht wahrgenommen worden ist, einmal von dem schon erwähnten Umstand abgesehen, dass die in der antiken Gesellschaft fast hundertprozentige Beteiligung am öffentlichen Kult leicht fälschlich als Zeichen entweder der Akkommodierung oder der Gleichgültigkeit gedeutet werden kann So

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Diese Testimonien werden dementsprechend in Kap  4 und 5 besprochen Das bedeutet, dass die erste Alternative im 3  Kapitel behandelt wird, die zweite dagegen im 5 S die Kap  5 4 1 und 5 4 2 (Dion und Maximos) Kap  3 2 1 2 (Ps Plutarchos, De Homero 2) Hier sei nur auf die durchgreifende Umdeutung des Euhemerismus in Kap  6 hingewiesen

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sind z B signifikante Distinktionen überdeckt worden, weil gewisse Problembereiche unzureichend abgegrenzt werden, mit oberflächlichen Generalisierungen zur Folge Besonders tendiert das rege Interesse der Forschung für die Bemühungen der Philosophen, der Dichtung (d h dem mythologischen Narrativ) einen philosophischen Sinn abzugewinnen, zu unrecht die Debatte zu monopolisieren Der Eindruck entsteht, als sei antike Reflexion über das anthropomorphe Gottesbild eine Unterabteilung der Dichterkritik Das ist selbstverständlich nicht der Fall Die philosophischen Bedenken dem öffentlichen Gottesbild gegenüber bestanden natürlich unabhängig von den Auseinandersetzungen mit den Dichtern im Allgemeinen oder mit Homer im besonderen, etwas was nebenbei gesagt auch dadurch bestätigt wird, dass die Dichter, wie wir gesehen haben, in den Überlegungen zur Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes nur eine sehr marginelle Rolle spielen Ferner werden Reflexionen zum Aufkommen des anthropomorphen Gottesbildes gerne einem in Wirklichkeit davon zu trennenden Kontext zugeordnet, indem sie nämlich fälschlich als Überlegungen zur Entstehung von Religion im Allgemeinen definiert werden Noch weitere Verwischungen ergeben sich aus einer verbreiteten Gewohnheit, antike Urteile des Gebrauchs von Götterbildern als selbständigen Problembereich zu isolieren Ich brauche jetzt kaum mehr zu unterstreichen, dass für jedes (nicht rein künstlerische) Urteil über ein anthropomorphes Götterbild die jeweils zugrundeliegende grundsätzliche Haltung zu Wahrheitswert und Sinn der Sitte, die Götter in anthropomorpher Gestalt darzustellen, ausschlaggebend ist Diesen selbstverständlichen Umstand nicht zu berücksichtigen, führt unweigerlich irre Die laufende Arbeit an den Texten gemäß den gerade zusammengefassten Prinzipien eröffnete ein überaus reiches Spektrum an Einsichten und Einblicken Denkmuster traten hervor, die uns neue wertvolle Einblicke in die Vorstellungswelt der antiken intellektuellen Elite gewähren Ihre Theorien zur Entstehung des anthropomorphen Gottesbildes zeichnen sich durch ein hohes Maß an Folgerichtigkeit aus Das gilt nicht zuletzt von dem in Kap  3 1 1 genauer dargelegten Hauptmodell Dieses Modell baut auf der Grundvoraussetzung, dass menschliches Denken auf einer frühen Entwicklungsstufe sich vorzugsweise in Metaphern artikuliert Die geniale Vorstellung vom metaphorischen Charakter uralter, überlegener Reflexion über die Götter und ihre Wirkung im Kosmos verleiht dieser Theorie eine fast packende innere Logik Wegen der größeren Gottesnähe der frühen Menschen  – so die Theorie  – müssten ihre Beobachtungen und Überlegungen der Wahrheit näher gekommen sein als die späterer Generationen, nur hätten sie keine Möglichkeit gehabt, ihre Erkenntnisse anders als in bildhafter Weise zu formulieren, da sie nur über einen sehr beschränkten, elementaren Wortschatz verfügten So kam es, dass sie Teile des vorhandenen Vokabulars für die göttlichen Kräfte des Kosmos, ihre Beziehungen zueinander, ihre Wirkung und Manifestationen verwendeten, wobei sie von gewissen Ähnlichkeiten der Erscheinungen mit dem menschlichen Leben und mit grundlegenden menschlichen Erfahrungen ausgingen, die sie meinten, feststellen zu können Das war eine sinnvolle Darstellungs-

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weise, die bei aller Beschränkung sowohl anschaulich wie flexibel war Solange jeder noch wusste, dass die anthropomorphe Götterfamilie eben bildlich zu verstehen sei, erweckten die mannigfaltigen wörtlich genommen widersprüchlichen oder abstoßenden Beziehungen derselben Mächte zueinander – Inzest, Promiskuität, Kastrierung, Zank und Kriege – keinen Anstoß Um ein Beispiel zu nennen: Es leuchtete ein, dass Zeus und Hera sich in einer Hinsicht zueinander wie ein Liebespaar verhalten können, in einer anderen aber eher wie Geschwister erscheinen Problematisch wird das alles erst nachdem die Einsicht, dass es sich um metaphorische Ausdrucksweise handelt, verlorengegangen ist Wie zwangsläufig verwandeln sich die Götter in eine Art Supermenschen, die zudem noch in einer gelinde gesagt unkonventionellen Familie leben Die olympische Geschwisterehe u a m tritt auf die Bühne

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8 Indices 8.1. Allgemeines Register Aberglaube, superstitio, δεισιδαιμονία: 100, 104 f , 105 A 144, 107 f , 110 f Aesculapius/Asklepios: 52, 136 A 223, 158, 312, 318, 319 A 63, 320, 324 A 75, 333, 334, 335 Agahd, R : 188, 194–196 Ägypten – ägyptische Götter/Götterbilder: 104  A 142, 105, 116, 118, 136, 161  A 59, 204  A 8, 228, 229, 236, 239, 321 A 70 – heilige Tiere: 116, 144, 205, 206–208, 210, 248 A 144, 255 A 159, 256, 269 Aïdoneus: 13 A 11, 86 m  A 99 αἴνιγμα; αἰνίττεσθαι: 118, 140  A 3, 215 Α 44, 216 Α 48, 217 Α 53, 226 A 84, 287–291 Aisa: 216 A 49 Alexander der Große: 256  A 162, 296 f , 308, 312, 313, 330 A 91 Alexander von Aphrodisias: 87 A 102 Allegorese: 12  A 7, 30, 32, 34–36, 63, 67–72, 76, 77, 80, 122 A 180, 139, 154 A 38, 172 A 92, 211 A 33, 218–220, 251 A 150, 258 A 170, 276 A 226, 299 – Definition: 31 f , 70 A 49, 219 f „Allegorese“ der Kultgötter: 12, 30, 31, 34 f Allegorie: 30–32, 68, 122 A 180, 212 Allegorisierung: 13, 35, 62, 68, 172 Ammon: 116, 308 Ammonorakel: 308 Ammonios: 24 A 31, 28 A 41, 57 f , 87 A 101 Anaxagoras/Anaxagoreer: 63, 80, 82, 83 Anikonismus: 177 A 113, 179, 183 A 132

anthropomorphe Darstellungsweise/-form – buchstäbliche Deutung: 15, 109, 112, 121, 290, 337 – übertragener Sinn: 14, 16, 18, 100 f , 200, 238, 286, 338 – Wahrheitsgehalt/-vermittlung: 15  A 14, 16–21, 22, 44, 119, 121, 138, 141, 144, 151, 154, 165, 199, 201, 205, 215, 220, 231, 250, 261 f , 286, 287, 292, 294, 337, 338 f – Zielgruppe/Empfängergruppe: 17, 18, 118, 131, 134, 220, 235, 264, 266, 278 A 293, 340 anthropomorphe(s) Gottesbild / Gottesvorstellung, Definition: 15 A 14, 337 anthropomorphe Metaphorik (s auch Verwandtschafts- bzw Geschlechtsmetaphorik): 15, 48–51, 53, 59–61, 69, 62, 66, 70, 71, 76, 84 f , 88, 133 A 211, 134, 136, 152, 202, 213, 216, 236, 238, 260, 261, 341 f – buchstäbliche Deutung: 15, 48 f , 61, 64, 78, 88, 121, 152, 213, 342 Antiochos: Antiochos I und III: 308 f  A 41 Antiochos von Kommagene: 305–308, 319  A 63 Antisthenes: 25, 257 A 167 Aphrodite/Φιλότης (kosmisches Prinzip): 88–90 Apollon zu Didyma: 308 Apollon = Sonne: 13 A 11, 52 A 15, 65, 103 A 140, 213, 215 Apollonios von Tyana: 105, 204 A 8 Aristoteles: 12, 20 m  A 22, 23, 43 m  A 15, 46 A 1, 49, 57, 88 A 104, 129 A 201, 325 A 76

364

Indices

Artemis/Diana = Mond: 13 A 11, 52 A 15, 65, 214, 215 Asebie: 82 m  A 84 Aszendenz: 92 Atheismus/Gottesleugnung: 105  A 144, 320, 327 f , 328–331 Athena (s auch Minerva) – Geburt: 64, 65–67, 70–72, 214 – Athena = νοῦς und διάνοια: 36 A 61 – Athena = Phronesis: 66, 195, 214 Äther: 54, 59, 60, 61, 66, 81, 83, 103, 186 f , 191, 193, 195, 196, 214, 229 f , 236, 301, 320 Atome, Atomkonglomerate: 38–40 Augustus/Octavianus, göttliche Abstammung: 308 f Balbus (Lucilius Balbus): 28 f , 43 A 16, 51–57, 58–61, 151, 169 A 80, 213, 216, 323 f , 335 Baumgarten, A I : 299 f Beatus Rhenanus: 283 „Bilder“ (εἴδωλα): 39 f , 41 Boys-Stones, G R : 67, 77–79, 104, 139–141, 142, 143, 210 A 28, 212, 217 A 51, 218–219 „Bürgertheologie“: 171 A 89, 173 Caelus/Caelum (Uranos): 53, 59 A 26, 61, 132, 160 f , 163, 191, 192, 194–196, 197, 320 Castor/Kastor s Dioskuren Ceres: 52, 54, 158 A 49, 163, 192, 324 A 74 Chairemon: 223 A 76, 225 christliche antipagane Polemik: 23, 73  A 58, 222, 229 f , 294, 338 Chrysippos: 26 f , 31 A 48, 53, 59 A 26, 64, 65, 66 f , 70–77, 296 A 7, 313 A 52, 334 Ciceros De natura deorum, Gliederung der MSS: 51 A 11, 97 A 131, 111 A 157 Cornelius Labeo: 188, 190 Cornutus: 31, 47 A 2, 68 A 45, 70 A 49, 122, 139, 195, 211–220, 262, 288, 319 A 63 Cosmus Paccius / Cosimo de’ Pazzi s Paccius Cotta (Aurelius Cotta): 40 A 9, 69 A 48, 95 f , 96–100, 105–114, 151, 323–326, 329 Dämonen/δαίμονες: 286 u  A 253, 286 u  A 253 Davies, J : 281 A 237, 283 Dekadenzvorstellungen (s auch Entartung des Gottesbildes): 34, 47 f , 57 m  A 21, 94 A 126

Demeter: 48, 54, 65, 116, 333 f Demetrios Poliorketes: 308, 309 A 42 Demokritos: 40 A 8, 43 A 14, 85, 97 A 131 Derveni-Papyrus: 33, 35 f , 48, 63 f , 70 A 49, 80, 122 A 180, 134, 233 A 105 di ab initio certi ac sempiterni: 319 A 63 di facti: 235, 313 A 54, 319 A 63, 335 di praecipui atque selecti: 52 A 14, 142, 147, 158 f , 163 f , 176, 192 Diogenes von Apollonia: 63, 82 Diogenes von Babylon / Seleukeia: 64 f m  A 35, 195, 296 A 7 Diogenes von Sinope: 27, 256 A 162, 257 Dionysios Skytobrachion: 321 A 69 Dionysos: 82, 117, 213, 217, 312, 313, 317, 318 f m  A 62 u 63, 333, 334 Dioskuren: 52, 158, 205, 312, 313, 318 f m  A 61– 63, 320, 324 A 75, 334 f Dochhorn, J : 301, 320 δόκανα: 205 Dörrie, H : 305–307 Dübner, Fr : 280 f δυνάμεις: 232 Ekpyrose/Weltbrand: 45, 334 Empedokles: 13 A 11, 46 u  A 1, 47 A 2, 63, 79, 82, 85–90, 91, 103 A 141, 133 Ennius, Sacra Historia: 297, 298  A 11, 320, 321 A 69 Entartung/Degeneration des Gottesbildes: 15, 27, 31, 33 f , 47 f , 53, 91, 134, 138, 150 f , 152, 162, 213 Entrückung (Himmelfahrt): 326 A 79 Epikur – Beschuldigung der Gottlosigkeit: 103  A 141, 329–331 – Erkenntnistheorie: 38–40 Epikureer: 12, 18 f , 37–43, 52, 96 A 129, 97 A 130, 98 A 132, 102 A 139, 103 A 141, 106 A 146, 327, 329 f , 338, 339 Etymologisierung / etymologische Spekulation: 48, 50 f , 53, 64, 69, 79–81, 162, 212, 216, 219 Euhemerismus: 19, 295–335 – Definition: 19 A 21 Euhemeros: 12 A 7, 19, 223 A 77, 294–335, 337

8 1 Allgemeines Register

Fabel: 125 A 193, 126, 288 fabula: 61, 64, 125–134 Faunus: 158, 163 A 67, 319 A 63 figmenta: 133 A 213 Fiktion/Fiktionalität: 20 m  A 23, 125, 302, 306, 316 Fragmentsammlungen – Prinzipien der Auswahl: 158 A 51, 186–198 generatio: 150, 152–154, 174 genus civile, genus mythicum, genus physicum / naturale: 165, 167–176 Geschlechtsmetaphorik: 17, 28, 58 f , 61, 238 m  A 116 Gesetzgeber/νομοθέται: 120, 121  A 179, 199, 258, 260, 262, 270, 272 f , 277 f Götter: primäre u sekundäre: 310 f , 313, 317– 327, 333 f Götterbilder – buchstäbliche Deutung: 18  A 18, 24–26, 109, 119, 120, 121, 132, 144, 166, 205, 211, 229, 278, 286, 286 A 256 – halbanthropomorphe (nicht voll anthropomorphe) Götterbilder: 205, 206, 229 – Materialien: 210, 229–231, 279 A 232 – übertragener Sinn: 16 f , 120, 209 f , 228– 239, 286 – verborgener/verhüllter Sinn: 136, 144, 211, 228 – Wahrheitsgehalt/Wahrheitsvermittlung: 16, 101, 121, 131 f , 136, 143 f , 200, 203, 209, 220 f , 226, 227, 250, 253  A 154, 254, 259, 261 f , 266, 269, 276 A 226 – Zielgruppe (Empfängergruppe): 118, 121, 124, 135, 136, 148, 166, 201, 203, 204, 211, 220, 228, 232 f , 241, 254–257, 258, 262, 264, 266, 278, 287, 290 Götterfurcht/Gottesfurcht: 40–43, 102–105, 107, 108, 155 f , 157 Göttergräber: 318 A 62, 326 Götternamen: 53, 55, 59, 63, 69, 80, 81–85, 157, 161–163, 164, 171, 212, 219 A 60, 271 A 208 Gottesbeweis: 43, 51, 81 A 81 Gotteserkenntnis: 14, 18, 37–40, 43, 46, 211, 257 f , 269, 292, 294, 340

365

Gottesnähe der frühen Menschen: 47 f , 56, 67 f , 79, 140, 341 f Gottessohnschaft: 308 f Habicht, Chr : 304, 311 Hades: 82, 86 Heinsius, D : 281, 285 A 249 Hephaistos: 82, 86 A 99 Hera – Gattin und Schwester des Zeus: 214 – als Luft: 103 A 140, 214 – als Materie: 73 „Herakleitos“ der Allegorist: 122 Herakleitos v Ephesos: 81 A 83, 82–85, 133, 170, 208 Herakles/Hercules: 52, 216  A 47, 307, 308  A 37, 309  A 42, 312, 317, 318 m   A 61 u 62, 319 A 63, 320, 324 A 75, 326 A 78, 334 f Herrscherkult: 297, 299, 303–316, 330 A 91 Hesiod: 32 f , 70 f , 95, 115 f , 126, 133, 184, 217 A 55, 317, 326 A 78 Hestia: 82 Himmelserscheinungen/Himmelskörper als Götter: 82 A 84, 153 A 36, 158 A 50, 189 A 157, 222, 225 f , 231, 245 A 135, 246, 275 A 33, 284, 317, 320 A 64, 327 Himmelfahrt (Entrückung): 326 A 79 Hobein, Fr : 280, 291 Homer: 20 A 23, 32 f , 95, 114–123, 133 A 213, 151, 217, 226 A 84, 242, 244, 251–253, 261 A 178, 276  A 226, 286, 288, 290  A 263, 317, 340, 341 Homerausleger/Homerexegese/Homerallegorese: 32 f , 34–36, 71 A 51, 133 A 213, 251 A 150, 261 A 178 Ich-Erzählung/Ich-Erzähler: 297, 302 f , 310, 314–316, 321 A 70, 322, 326 f , 331 Idealzeit: 47 A 2 Ideen/Ideenlehre: 194 ff , 232, 234 f , 266 – Ideen als Gedanken Gottes: 194–196, 235 A 107 Intellekt (νοῦς): 127 f , 137, 207, 226 f m  A 86, 231 f , 233, 234, 245 f u  A 135, 249 Isis: 116, 169 A 59

366

Indices

Jamblichos: 136, 236 A 109 Juno – Schwester und Gattin Jupiters: 54, 60, 62, 191, 214 – als Luft: 54, 159 A 51, 187, 192, 193, 214 – als Erde: 159 A 51, 161, 187, 191 f , 194 Jupiter Capitolinus (Bildnis): 177 Jupitertempel auf dem Kapitol: 148, 186, 197 Kapitolinische Trias als Penaten: 52  A 14, 186–197 Kastor/Castor s Dioskuren Kleanthes: 52 A 14, 53, 332 Konvention/Konventionalität (der anthropomorphen Form): 20 f , 238, 249 A 147 „Kritiasfragment“: 42, 101 m  A 136 Kronos: 53, 215 u  A 45, 220, 298, 322 Kulturentstehung/Kulturentstehungslehren: 47 A 2 Kult, bildloser: 147 ff , 154–156, 157, 177–182, 182–185 Kultgötter, ihre Rolle in der Philosophie: 12, 30 f , 34 f , 47, 70, 81, 82–85, 295, 299 Kyniker: 78 Kypris: 87 Labeo (Cornelius Labeo): 188, 190 Lakoff & Johnson, Metapherntheorie: 49 A 9 Lavinium: 184 A 138, 185 Liber u Liber pater: 52, 136 A 223, 324 A 74 Liber Semela natus: 313 A 54, 324 A 74, 335 Logoi spermatikoi: 73, 234, 235 Logos/λόγος: 12, 13 A 9, 31, 53, 59 A 26, 65, 134, 135, 208, 214, 236 A 109, 319 A 63 Long, A  A : 62 A 32, 67–77, 218 f Macrobius – Identität: 123 A 185 Marso, Pietro: 51 A 11 Metapher, Metapherntheorie (s auch Lakoff & Johnson): 49 f Metaphorik, s anthropomorphe Metaphorik sowie Geschlechts- bzw Verwandtschaftsmetaphorik Metonymie: 52, 333 A 98

Minerva: 159 A 51, 193–196 – Geburt: 64–66, 191, 196 A 192 – Minerva = Ideen: 194–196 Moira: 33, 216 A 49 Müller, Fr M : 15 f  A 15 mundus: 158, 162 Mysterien: 126, 130, 171 A 87 Mysterien: Samothrake: 148, 171 A 87, 186, 197 Mythendeutung/Mythenallegorese/Mythenverständnis (s auch Allegorese bzw Götternarrativ): 201 f , 211, 215, 299 – Historisierung der Mythen: 300 – pädagogischer Zweck der Mythen: 288 f mythologisches Narrativ / Götternarrativ – Sinn und Funktion: 32, 33 f , 35 f , 114 f , 117 f , 119, 122, 124, 133, 201 f , 207, 217, 220, 276, 288 f , 337 – Wahrheitsgehalt: 33, 35 f , 122  A 196, 127, 133, 134, 154, 174, 201, 202, 217, 218 f , 250, 288, 289 Mythologisierung: 28, 61 Namengeber/Sprachschöpfer: 28, 50 f , 56–60, 63 A 33, 69 m  A 48, 79, 80, 83, 160, 162, 174 narratio fabulosa: 126–132 Naturtheologie (theologia naturalis): 168, 170 A 86, 173, 174, 175 f Nemrud Dagh: 306 f Nestis: 86, 88 A 104 nicht-figürliche Artefakte (s auch δόκανα): 178 A 113, 183, 185, 239, 268, 277 νοητός, νοερός: 231 f , 234, 236 A 109 νομοθέτης/νομοθέται s Gesetzgeber Nous/νοῦς: 31  A 49, 80  A 77, 135, 207, 208, 226 f , 231, 232 m   A 100, 233, 234, 235, 236, 245 A 135, 247, 249 Numa Pompilius: 179–181, 184 Numenios: 130 f Olympische Götter, philosophische Signifikanz, s Kultgötter, ihre Rolle in der Philosophie Opfersitten: 87, 89, 222 f , 225 Ops: 161, 197 Orakel: 238 A 113 Orakelstätten: Ammon, Didyma: 308

8 1 Allgemeines Register

Orpheus: 33, 34, 36, 63 f m  A 33, 126, 133, 139, 233, 237, 317 Orphik, orphische Tradition: 225, 233 Osiris: 117, 239 A 116, 329 A 91 Paccius, Cosmus (Cosimo de’ Pazzi): 280, 283 Panchaia: 297 f , 303, 321 A 68 u 70, 322 A 72 Palladium: 182–185 Penaten, Penatenbilder: 52 A 14, 182–185, 185– 198 Persaios: 296 A 4, 332–335 Personifikation/Personifizierung: 13, 26–30, 31 f , 32, 212 u  A 37 phantasia/φαντασία: 204 A 8, 291 m  A 267, 292 Pheidias: 20 A 23, 145, 166, 201, 203, 241–257, 261, 262, 263 f , 276 A 226, 283 Philolaos von Kroton: 82 Philon von Byblos: 223, 300 A 14 Philosophie: Entstehung, Entwicklung, Aufgabe: 77 f , 139 f , 146, 154 A 37, 212 phronesis/φρόνησις: 66, 195, 214, 245  A 135, 247, 249 φύσει und θέσει: 57 f Physis: 28, 29 A 44, 53, 59 A 26, 60, 61, 64, 104, 156, 164, 212, 215 A 145, 216 Platon: 23, 50, 125, 127 A 196, 133 A 211, 141, 223 A 79, 270, 272 A 210, 273, 288, 289 A 259, 303 Plotinos: 128 A 198, 135 A 217, 136 A 220, 203, 221 A 69, 232 A 101, 233 A 104, 235 A 107 Pollux s Dioskuren Porphyrios: 24, 125 A 192, 128 A 198, 133 A 211, 137, 141, 220–239 Poseidonios: 77 A 68, 125, 139, 146 A 18, 262 A 179, 277 f  A 230 Präexistenz der Seele: 121, 267 Praetextatus s Vettius Praetextatus Price, S : 13 f  A 12, 20 f Prodikos: 301 A 18, 327 A 81, 333 A 100 psyche/ψυχή (anima), Hypostase, s Seele Pythagoras, Pythagoreer: 79  A 73, 82  A 86, 126, 133, 139, 170, 257 A 167 Quirinus (= Romulus): 52, 181, 313 A 54, 319 A 63, 335

367

Reiske, J J : 281 A 237 ῥιζώματα, s Wurzelwerke Romulus s Quirinus Sabiner/Sabinerland: 160, 179 u  A 119 Saturnus: 53 f , 60, 127  A 196, 132, 136  A 222, 160 A 54, 161, 163, 174 u  A 101, 197, 320 Scaevola (Quintus Mucius): 25, 168 f , 172  A 92, 174 A 101 Scipio d Ä : 309 A 42 Scipio d J : 335 Seele (Hypostase): 127, 128, 129, 133, 236 A 109 Seleukos I: 308 f m  A 41 Seleukos II: 308 f  A 41 sigillum: 183 A 132 „Sisyphosfragment“ s „Kritiasfragment“ Sokrates: 50 A 10, 57, 58, 79 f , 256 A 162, 257 Sprachschöpfer, s Namengeber Stephanus, H : 280, 283 Sterngötter, s Himmelserscheinungen/Himmelskörper Tarquinius Priscus: 148 f , 155 f , 177, 178 f , 181 f , 183, 184, 186 f , 197 „theologia tripertita“: 167 A 76, 258 A 170 Θεολόγος/theologus: 201 A 3, 209, 213, 323–326 θέσει/φύσει: 57 f Theophrastos: 12 A 4, 223 Theriomorphismus: 116, 205, 239 A 119, 248 Tierverehrung: 205 A 13, 206, 223, 248 A 143, 269 Tyche: 200 A 3, 290 A 264 Übertragung/Übertragungsgebiete (s auch anthropomorphe Metaphorik sowie Verwandtschafts- bzw Geschlechtsmetaphorik): 48, 59, 60, 61, 70 A 48, 80, 153 Uranos (s auch Caelus/Caelum): 216  A 48, 297, 298, 301, 319 f Urweisheit: 17, 140 f , 142, 164, 165, 200 f Van Nuffelen: 124, 134–136, 142, 145–149, 207 A 18 Varro: 29  A 44, 52  A 14, 105, 108  A 150, 137, 138–198 passim, 199 f , 203, 205, 231, 249, 255, 257 A 167, 258 A 170, 262, 266, 277 A 230, 293, 319 A 63, 335

368

Indices

Velleius: 64, 96 f , 105, 107 A 149, 332 Venus, Geburt: 163, 174, 196 A 192 Vergöttlichung: 52 u  A 13, 296, 305, 312 f , 314– 316, 321, 322–328, 330 A 91, 331–335 Verwandtschaft Gott–Mensch: 16, 100, 120, 165, 203, 231, 247 f m  A 142, 251, 254, 281– 283, 285 m  A 249 Verwandtschaftsmetaphorik (Familienmetaphorik): 27 f , 35 f , 48, 59 f , 64, 84 f , 136 A 223, 142, 213 f , 238, 250, 254, 262, 342 Vestatempel: 184 Vettius Praetextatus: 123 A 187, 124, 134 A 213, 135–137, 294 „Volksgötter“: 12 f , 31, 300 A 16, 301 Vulca: 177 A 111 Weltbrand, s Ekpyrose Weltseele: 66, 143, 156, 158 A 50, 164, 165, 175 Wissowa: 183, 188–198 Wurzelkräfte/Wurzelwerke: 13 A 11, 82 A 85, 86 f , 89

Xenokrates: 12 Xenophanes: 16, 33, 45 f , 90–96, 336 Zenon (v Kittion): 52  A 14, 53, 257  A 167, 296 A 7, 332 Zeus/Jupiter – als Äther/Himmel: 54, 81, 94 A 126, 133 A 213, 187, 191, 192, 194, 214 – als Feuer: 86 A 99, 213 – als Kosmos: 65 f , 237 – als Logos u /o Pneuma: 12, 31, 65 – als Nous: 80 A 77, 234–239 – als Weltseele: 65, 156 Zeus, Etymologie: 80 A 77, 83 Zeusbild in Olympia: 203 f , 232 f , 241 f , 244, 248 A 142, 253, 258, 262, 263 zyklisches Denken: 45 f m  A 1, 86–89, 129 A 201

8.2. Stellenregister Aëtios (Diels, Dox ) 1,6,4–8 p 293–295: 43 A 15 1,6,11 p 296: 48 A 4, 60 m  A 30 1,6,16 p 297,3–10: 277 A 230 1,7,1 p 297: 327 A 80 1,7,2 p 298: 101 A 136; 102 A 138; 1,7,30 p 304: 12 A 3 Alkinoos Didaskalikos c 9: 194 c 14: 275 A 223 Ammonios (CAG 4:5) 87 A 101 p 34,15–20: 57 m  A 22 p 35,15–17: 58 m  A 24 p 35, 16 ff : 58

p p p p

35,24–30: 58 m  A 25 36,1 f : 58 36,10 f : 58 36,22 ff : 57 f

Anaxagoras 59 DK / 25 LM A 1 § 12 / P 23: 82 A 84 A 17 / P 25 a: 82 A 84 A 19 / – : 82 A 84 A 20 / 43 Dram T 25: 82 A 84 A 20 b / Dram T 48 c: 82 A 86 A 55 / D –: 80 A 71 / D 36: 82 A 84 A 73 / R 7: 82 A 84 Antisthenes (Giannantoni) fr 181: 25 m  A 35, 257 A 167

Apostelgeschichte 17,29: 23 A 30 Aristoteles Nikomachische Ethik 10,9 1179b7: 104 m  A 143 De interpretatione 16a19: 20 A 22 16a20: 57 m  A 22 16a27: 20 A 22 Metaphysik Λ 8: 12 Λ 8 1073a33: 46 A 1 Λ 8 1074a38–1074b8: 104 m  A 142 Λ 8 1074b10: 46 A 1

8 2 Stellenregister

Poetik 1459a5: 49 A 7 Rhetorik 1404b33 f : 49 A 8 1405a9: 49 A 7 fr (Gigon/Rose) 17/70: 88 A 104; 829/22: 46 A 1 916 / 19–21: 46 A 1 947 u 948 / 10 u 11: 43 A 15 Arnobius 3,40: 187–190 m  A 149 u 157; 4,21: 153 A 35 6,24–26: 109 A 153 Arrianos Anabasis 3,2: 308 A 37 4,8,3: 313 A 53 4,10,2: 309 A 42 4,28,4: 313 A 53 4,30,4: 313 A 53 5,2,1: 313 A 53 Asconius (Stangl/Clark) Scaurus p 24/21: 185 A 140 Athanasios (Thomson) Contra gentes 11 ff : 23 A 30 Athenaios 6,253a–c: 309 A 42 6,253d–f: 308 A 40 Augustinus De civitate dei (Dombart u Kalb 1928–1929) 4,9 p 157,9 ff : 155 A 39 4,10: 195 4,10 p 157,16 ff : 62 4,10 p 157,17: 159 A 51, 191 m  A 165, 193 A 176

4,10 p 158,12: 159 A 51, 196 A 191 4,10 p 158,10 ff : 191 m  A 166 4,10 p 158,18: 62, 196 A 192 4,10 p 159,27: 62 4,23: 167 A 67 4,24 p 176,14: 29 m  A 44 4,24 p 176,29: 29 m  A 44 4,27: 168 f m  A 80, 174 A 101 4,27 p 179,24: 172 A 92; 25 m  A 37 4,27 p 180,1: 25 A 37 4,27 p 180,5: 168 A 80 4,27 p 180,9: 169 A 80 4,31 p 185,18: 169 A 80 4,31 p 185,18–27: 277 A 230 4,31 p 185, 21: 156 A 44 4,31 p 186,2: 150 A 32 4,31 p 186,11: 157 m  A 46 4,31 p 186,13: 156 m  A 45 4,31 p 186, 21 ff : 147 m  A 21, 155 m  A 39, 185 4,31 p 186,24: 147 A 22 4,31 p 186,26: 105 m  A 145 4,32 p 187,20–23: 150 m  A 31, 174 6,2 p 248,11: 184 A 138 6,3 p 249,2: 176 A 109 6,4 p 251,13: 171 A 87 6,5 p 252,17: 167 m  A 76 6,5 p 252,25: 167 f m  A 77 6,5 p 252,27: 170 m  A 84 6,5 p 253,4: 172 A 91 6,5 p 253,12: 154 A 37, 157 m  A 46, 170 m  A 85 6,5 p 253,17: 172 A 91 6,5 p 254,14: 171 m  A 87 6,6 p 257,2–13: 172 f m  A 94 6,6 p 257,10: 174 A 97 6,6 p 257,20: 154 A 38 6,9 p 263,20: 108 A 150 6,10 p 267,13: 200 A 1, 292 A 272 6,10 p 269,19: 200 A 1, 292 A 272 6,11 p 270,10: 171 A 89 6,16 p 271,5: 168 A 77

369 7,1: 52 A 14 7,1 p 273,8: 172 A 93 7,1–4: 147 7,2: 52 A 14 7,2 p 274,9: 158 A 49 7,5 p 280: 142–144, 147 7,5 p 280, 8: 165 7,5 p 280,13–21: 277 A 230 7,5 p 280,23 ff : 166 A 71 7,5 p 281,9: 175 m  A 104 7,5 p 281,13: 175 m  A 103 7,5 p 281,15: 175 A 102 7,6 p 281,31: 158 A 50, 175 m  A 105 7,6 p 282,17: 176 m  A 107 7,7–24: 158 7,9 p 287,3: 169 A 80 7,9 p 287,5: 154 A 36 7,11 p 288,29: 154 A 36 7,14 p 291,20: 158 A 50 7,15 p 293,21 158 A 50 7,16: 159 A 51, 195 7,16 p 294,19: 193 A 177, 196 A 191 7,16 p 294,26: 158 A 50 7,16 p 294,34: 159 A 51, 192 f m  A 172 7,16 p 295,1: 193 m  A 177 7,17 p 295,12: 169 A 80, 193 7,17 p 295,23: 175 A 103 7,17 p 295,27: 164 A 68 7,18: 163 7,18 p 296,24: 174 A 101 7,19: 163 7,19 p 297,4: 174 A 101 7,19 p 298,5: 174 A 101 7,20: 163 7,20 p 288,23: 171 A 87 7,22 p 300,25–30: 158 A 50 7,23 p 301,5: 158 A 50 7,24: 192 7,24 p 304,10 u 28: 161 A 60 7,26 p 308, 21: 176 A 108 7,27 p 309,25: 159 A 52 7,28 p 310,25: 175 A 102 7,28 p 311,3: 161 7,28 p 311,7: 171 A 87

370 7,28 p 311,8: 194 7,28 p 311,10: 194 m  A 179 7,28 p 311,13: 194 7,28 p 311,14: 187, 192 7,28 p 311,18: 196 A 190 7,28 p 311,22: 194 7,28 p 312,1: 175 A 102 7,29 p 312,11: 176 A 108 7,33 p 316,12: 159 m  A 52, 175 A 102 7,34 p 317,5: 169 A 80 7,35 p 318,12: 181 A 126 8,1 p 321,9: 176 A 108 8,5 p 327,13: 159 A 52 15,12 p 80,27: 168 A 79 21,5 p 495, 25 21,6 p 498,8: 168 A 79 De doctrina christiana 2,27: 184 A 136 Enarrationes in psalmos (Dekkers u Fraipont bzw Gori) 96,11 p 1362 D & Fr: 23 A 30 113,2,4 p 41 f G: 294 A 273 Chrysippos SVF 2 811: 334 1021: 296 A 7 1071–1074 1076: 296 A 7 Cicero De oratore 3,155: 49 A 8 De divinatione 2,42:43 A 14 u 15 2,70: 42 A 11 2,114: 113 A 162 2,148: 43 A 16 De legibus 2,15: 42 A 11 2,19: 52 A 13, 319 A 63

Indices

2,27: 47 A 2, 52 A 13, 312 A 52 2,28: 28 A 42 2,35:47 A 2 De natura deorum 1,2 f : 329 A 88 1,36–41: 64 1,38: 332 f m  A 96 1,39: 52 A 13 1,41: 53, 64 m  A 35, 67 1,45: 97 A 131 1,46–48: 98 1,46: 40 1,47 f : 95 1,49: 40 1,49 f : 96 1,54–56: 107 A 149 1,54: 43 A 16 1,57: 96 1,60: 98 1,61 f : 106 1,61–124: 329 1,76: 98 1,77: 95 f , 96–100, 105–114, 151, 250 A 149, 266, 278 1,81 f : 95, 98 A 133 1,85: 40 A 9, 97 A 131, 183 A 132 1,91: 98 1,92: 95, 98 A 133 1,100: 43 A 16 1,101: 24 A 32 1,115: 329 A 88 u 89 1,116: 329 A 89 1,117: 108 A 150 1,118: 42 A 12, 105 A 146, 107 A 148 1,119: 315 A 56, 323 m  A 73, 328, 329 1,121: 97 A 131, 329 m  A 88 1,121–124: 329 A 89 1,124: 96 2,3: 51 2,4: 43 A 16 2,14: 43 A 14 2,15: 43 A 15

2,19: 43 A 16 2,45: 24 A 32, 52, 278 A 230, 337 2,45 ff : 51 2,49 f : 52 A 15 2,57–58: 53 A 16 2,59: 52 A 12 2,60: 52, 57 A 21 2,60 f : 333 A 98 2,61: 52 2,61 f : 28 A 42 2,62: 52, 57 A 21, 313 A 54, 319 A 63, 324 A 74, 335 m  A 105 2,63: 28 f m  A 43, 60, 151 2,63–67: 53–57 m  A 18 2,63–71: 51–57 2,64: 48 A 5, 53 A 17, 59 u  A 26, 215 2,66: 60 m  A 29, 159 A 51, 214 2,67: 48 A 5, 2,67–69: 55 2,68 f : 52 A 15 2,69: 57 A 21 2,70: 28 f m  A 43, 60, 151, 213 2,70–71: 55 m  A 19 u 20 2,71: 57 A 21, 59 A 26, 65 2,73 ff : 52 A 12 2,75: 43 A 16 2,79: 28 m  A 42 2,88: 52 A 12 2,97: 43 A 16 2,153: 43 A 16 3,6: 51 3,7: 106 3,10: 106 3,12: 313 A 52, 313 A 54 3,15: 106 3,26 f : 327 A 81 3,37: 327 A 81 3,39 f : 324 A 75 3,41: 315 A 56, 324 A 75 3,42: 326 A 78 3,44: 106, 325 A 76, 326 A 78 3,50: 313 A 54, 324 A 75 3,53: 324 A 74, 325 A 75 u 76

371

8 2 Stellenregister

3,53–60: 326 A 78 3,60: 325 3,63: 69 A 48 3,95: 114 A 164

Clemens Alexandrinus protrept 4,46,4: 181 m  A 127 50,4: 23 A 30

Pro Murena 24: 113 A 162

Stromateis 1,71,1: 180 A 121 5,50,1: 84 A 94

Orator 9: 247 A 140 9 f : 203 f m  A 7; 81: 49 A 8 De republica (Ziegler) 2,4: 309 A 42 2,18: 313 A 54 2,28 f : 180 A 126 2,34: 177 A 112 3,40: 312 A 5, 313 A 542 6,13: 335 A 109 6,16: 313 A 54 rep fr 6 Ziegler (= fr inc sed 3 Powell): 313 A 54 Pro Quinctio 12: 113 A 162 Pro Scauro. 48: 184 A 138 Pro Sestio 143: 313 A 54 Tusculanae disputationes 1,26: 47 A 2 1,27: 313 A 54 1,28: 313 A 54 1,29: 313 A 54 1,32: 315 A 56 1,62: 79 A 73 1,68–70: 43 A 16 4,50: 313 A 54 In Verrem II 4,46 u 95: 183 A 132

Clemens Romanus (= Pseudoklementinen) hom 5,18,5–6: 72 f , 76 Cornutus (Nesselrath 2009 a) c 1,1 9: 216 A 48 1,2 ll 21–24: 43 A 15 1,2 l 32: 80 A 77 2,1 l 27 f : 213 3,1 39–43: 214 m  A 40 3,2 48–50: 215 A 45 6,5 98–114: 215 A 45 6,6 108: 215 m  A 45 9,1 137: 213 9,4 162: 213 13,1 206 ff : 216 A 49 14,4 258: 215 A 44 16,10 427 ff : 214 m  A 43 17,3 514 ff : 217 A 55, 218 m  A 56 17,12 588 ff: 217 f u  A 55 17,12 591: 215 A 46 19,1 630: 213 20,1 670–680: 195 m  A 188 20,4 695–698: 214 m  A 42 20,10 739: 216 A 48 20,14 765 ff : 47 A 2 30,17 1241: 217 A 53 30,18 1247: 217 m  A 52 31,1 1254–1257: 319 A 63 31,1 1260–1265: 309 A 42 31,3 1267: 215 A 46 32,1 1296: 215 m  A 44 35,5 1514: 288 u  A 257 35,7 157: 140 m  A 3 25,1 923: 213 28,6 1075: 218 A 57

30,8 1192: 213 31,4 1280: 216 A 47 32,1 1296: 214 32,4 1323: 214 34,2 1432: 218 A 57 34,2 1453: 218 A 57 Curtius Rufus Historiae Alexandri Magni 4,7,28–30: 308 A 37 8,1,42: 308 A 37 8,5,5: 308 A 37, 309 A 42 8,5,8: 313 A 53 8,10,1: 308 A 37, 313 A 53 9,2,29: 313 A 53 Demetrios Lakon PHerc 1055 col 14 sq : 98 A 132 Demochares FGrHist 75 fr 2: 309 A 42 Demokritos 68 DK A 75: 43 A 14 Derveni-Papyrus (Kouremenos et al ) col 7,4 ff : 63 9,2: 64 9,2–3: 64 9,10: 63 10,11: 63, 64 12: 63 A 33 13: 63 A 33 13,4 u 9: 64 13,5 f : 63 14,3: 64 16,1: 64 17,13: 63 17,4: 64 17,10: 64 17,12: 233 A 105 18,4–7: 33 18,5 f : 64 18,10–12: 64 18,10–15: 33

372

Indices

18,13: 64 18,14 f : 64 20,13 ff : 64 21: 63 A 33 21,4–9: 64 21,9 f : 48 A 5 21,13: 64 22,8–10: 64 23,1 ff : 63 26,1: 64 26,8 f : 64 26,9 f : 64

Diogenes von Apollonia 64 DK / 28 LM A 8 / – (T 6 Laks): 35, 82 A 86 B 5 / D 10: 35

Dikaiarchos (Wehrli/ For tenbaugh u Schütrumpf) fr 49 / 56 A: 47 A 2

Diogenes Laërtios 1: 139 7,147: 66, 80, 296 A 7 7,157: 334 7,187 f : 74 m  A 63 7,188: 74 A 63 8,56: 90 A 112 8,57: 88 A 104 10,38: 38 10,50: 39 A 6

Diodorus Siculus 1,9,6: 321 A 70 1,11,1: 43 A 15 1,44,1: 321 A 70 1,94,1: 321 A 69 3,52: 321 A 69 3,56,1: 321 A 69 3,57–61: 321 A 69 3,66–73: 321 A 69 3,73,3: 321 A 69 5,41,4: 298 A 11 5,42,4–5,46,7: 297 5,42,5: 298 A 11 5,44,6: 297, 321 A 69 5,46,3: 297, 298 m  A 11 u 12, 321 A 69 5,46,7: 298 5,65,1: 321 A 69 5,66,1: 321 A 69 5,70,1: 321 A 69 6,1,2: 307 6,1,6: 298 A 12 6,1,7: 298 6,1,10 f : 298 A 12, 320, 322 A 72 6,1,11: 317 6,1,14: 297

Diogenes von Babylon/ Seleukia (SVF 3 II Diogenes) fr 33 p 217: 65 A 38, 195, 296 A 7 fr 34 p 217: 64 A 35

Diogenes von Oinoanda (Smith) fr 56: 103 A 141 Dion von Prusa Orationes 1,12–14: 253 A 154 1,42: 247 A 142 2: 253 A 154, 256 A 162 3: 256 A 162 3,54: 313 A 52 3,6 ff : 246 A 135 4: 256 A 162 4,20–23: 309 A 42 4,74: 289 A 259 4, 85: 27 8: 256 A 162 9: 256 A 162 10: 256 A 162 11: 253 A 154 11,17: 260 A 178 12: 20 A 22, 241–264 12,12: 258 A 171

12,21: 258 A 171 12,22: 260 12,25: 262 12,25–26: 253 A 154, 258 A 171 12,26: 242 12,27: 259 12,27 f : 247 A 142 12,27–32: 47 A 2 12,27–39: 258 12,28–29: 258 12,29: 260 12,31: 260 f 12,32: 247 A 142, 258 12,34: 43 A 16, 258 12,39: 247 A 142, 259 12,39–40: 258 12,40: 259 m  A 173 u 174 12,40–43: 151 f , 258 12,42–43: 260 12,43: 256 A 164, 260 A 177 12,44: 260 12,45: 259 f m  A 175 12,46: 255 A 160, 258 m  A 172, 259 12,47: 258, 259 12,48: 257, 259 u  A 174 12,49–84: 242, 243–25 12,51–52: 262 12,52: 249, 252 A 153, 283 12,56: 250 12,57–61: 244–251 12,58–61: 204 12,59: 205, 228 A 89, 259, 277 A 230 12,60–61: 259, 271 A 209 12,62: 252 A 152 12,63: 204, 252 m  A 153, 253 A 156 12,66–73: 252 12,69–74: 204 12,70 f : 247 A 140 12,71: 250 12,73–74: 252 12,74–77: 253 A 155 12,77: 247 A 142 12,78–79: 242, 252, 253 A 154

373

8 2 Stellenregister

12,79: 242, 253 A 154 18,8: 253 A 154 30,26: 247 A 142 36,19: 247 A 140 36,22: 245 A 135 36,23: 247 A 142 36,31: 247 A 142 36,32–34: 260 A 176 36,33: 253 A 154 36,38: 247 A 142 36,39 ff : 201 A 3 44,1: 253 A 154 53,3: 260 A 178 53,11: 253 A 154 55,11: 253 A 154 63,7: 200 A 3, 290 A 264 71,8: 246 A 135 72,13: 125 A 193, 289 A 259 Dionysios von Halikarnassos 1,14: 179 A 119 1,31,2–3: 179 A 119 1,57: 185 A 142 1,60,2: 179 A 119 1,67,4: 183 A 132, 185 1,68,1–2: 185 A 141 1,69,4: 184 A 138 2,66,1: 184 A 138 3,46,5: 177 A 112 Empedokles 31 DK / 22 LM A 33 / R 92: 86 A 99 B 2 / D 42: 90 B 3 / D 44,9–13: 90 B 4 / D 47: 88 A 105; 90 B 6 / D 57: 82 A 85 u 87, 86 m  A 99, 88 A 104 B 17 / D 73: 88–90 B 17,3–14 / D 73 p 410: 87 A 101 B 17,21–26 / D 73, 252–257: 82 A 87 B 17,24–25 / D 73, 255 f : 86 B 17,25 / D 73, 256: B 18 / D 25 B 20 / R 79: 88 A 107

B 22,5 / D 101: 86 B 23 / D 60 B 23,11 / D 60: 88 A 105 B 25 / D 18 B 27,2 / D 96: 88 A 104 B 29 / D 92: 87 A 101 B 31 / D 95: 88 A 104 B 55 / D 147 a: 88 A 104 B 71,5 / D 61: 86 B 75 / D 200: 88 A 104 B 86 / D 213 & R 70: 86 B 87 / D 214: 86 B 95 / D 217: 82 A 87, 88 A 104 B 96 / D 192: 82 A 87, 86 A 99, 88 A 104 B 98 / D 58 a & D 190: 82 A 87, 86 A 99 B 112,4 / D 47: 88 A 105 B 112–114 / D 4–6: 88 A 105 B 114 / D 6: 90 B 128 / D 25: 47 A 2; 79, 87 f , 89 f B 130 / D 26: 79, 87, 90 B 134 / D 93: 82 A 87, 87 A 101 B 134,4 f / D 93,4 f : 90 m  A 112 B 151 / D 64: 86 PStraßb Gr Inv 1665 & 166: 85, 89 A 109 Ennius (Vahlen / Warmington 1) Epicharmus fr 7 / 10–14: 192 m  A 169 Epikuros Brief an Herodotos (Diogenes Laërtios 10,35–83) §§ 38–40: 38 50: 39 A 6 Brief an Menoikeus (Diogenes Laërtios 10,122–135) § 123: 43

Euhemeros (Winiarczyk) T 1 A: 329 A 86 T 5: 297 A 10 T 7 A: 298 A 11 T 14: 329 A 86 T 15: 297 A 10, 329 A 91 T 16: 327 A 80 T 17 A: 327 A 81 T 17 B: 327 A 81 T 18: 327 A 81 T 19: 327 A 81 T 23: 322 A 72, 327 A 81 T 25: 307, 316 f T 27: 322 A 72 T 29: 302 T 33: 297 T 35: 297, 298 m  A 11 u  A 12 T 35,19–24: 302 T 35,29–35: 302 T 35,46–47: 302 T 35,48–50: 302 T 36: 298 u  A 12, 302 T 37: 298 T 37,9–10: 302 T 38,13–15: 302 T 39: 302 T 49: 319 m  A 64 T 50: 297 T 61: 298 A 12, 320 T 62: 320 m  A 66 T 63: 322 A 72 T 64 A : 325 T 64 A-B: 298 A 12, 299 A 13, 322 A 72 T 65: 298 A 11 T 66: 323 A 72 T 69 A: 315 T 69 A-B: 298 Euripides (Nauck/ Kannicht) fr 941: 60, 81 Eusebios Demonstratio evangelica 3,6,39–71: 225 A 82

374 4,9,10 f : 223 A 77 4,9,11: 222 A 75 Praeparatio evangelica 1,5: 222 A 74 1,5,14: 222 A 75 1,6,1–3: 223 A 77 1,6,2: 223 A 79 1,6,8: 222 A 75 1,7,19: 222 A 74 1,9,6: 224 A 82 1,9,7–11: 222 f , 225 1,9,12: 223 1,9,13–18: 223 A 77 1,9,14: 222 A 75 1,9,15: 223 A 79 1,9,20–22: 223 A 78 2 prooem 2–3: 224 A 80 2,2,52–62: 297, 316–321 2,2,53: 316 2,2,55: 297 2,2,57: 298 u  A 12 2,2,58: 319 A 64 2,2,61: 298 A 12, 320 2,2,61–62: 322 A 72 2,2,62: 317 2,4; 222 A 74 2,4,5: 224 A 81 2,4,6: 224 A 80 2,5,1: 222 A 74 u 75 2,6,12 ff : 223 A 79 2,6,13–15: 223 A 77 2,6,16–22: 224 A 80 2,6,22: 224 A 81 2,7,8: 222 A 74 3: 221 3 prooem 1: 222 A 75 3,1: 231 A 95 3,2,3–5: 224 A 81 3,3,13–21: 223 A 77 3,4,1–2: 223, 225 3,4,3–5: 223 A 79 3,4,6–14: 223 3,6,1–4: 224 A 81 3,6,7: 224, 226 f m  A 86, 237 3,7,1: 227 f m  A 88 3,7,2: 225, 228

Indices

3,7,2–4: 229 f m  A 92 3,7,5: 230 A 93 u 94 3,8,1: 231 A 95 3,9,3–5: 234 m  A 106 3,9,6: 237 f m  A 113 3,9,6 ff : 236 f 3,9,6–15: 237 3,9,13,–15: 237 3,9,14: 237 3,10,1–2: 237 3,10,13: 237 3,10,15: 230 A 93 3,10,18: 237 3,10,19: 230 A 93 3,11,17: 226 A 85 3,11,21: 226 A 85 3,11,45: 239 A 119 3,13,3: 222 A 74, 226 A 85 3,13,4: 230 A 93 3,13,5: 232 3,13,8: 225, 232 3,13,9: 232 3,13,22: 232 3,13,23: 230 A 93 3,14,4: 238 A 113 3,14,4–12: 237 f  A 113 3,14,9–10: 238 A 113 4,6,1–2: 22 A 75 4,6,2: 225 A 82 5,1,9: 225 A 82 5,3,3: 224 A 80 5,5,5: 225 A 82 5,5,5–6: 222 A 75 5,13,1–2: 238 A 113 5,14,3: 225 A 82 7,1,1: 222 A 74 10,9,11: 225 A 82 11,8: 223 A 79 11,21: 223 A 79 Festus (Lindsay) p 424,31: 179 A 119 p 464,18: 179 A 119

Galenos de placitis Hippocratis et Platonis (De Lacy) 3,5,17 p 204,14: 66 3,8 p 222 ff : 66 3,8,16 f p 226: 66, 71 4,6,6 p 270,29–33: 49 A 8, 66 A 41 [Galenos] (Dox ) p 618,1–3: 327 A 80 Gellius 3,11: 184 A 136 4,14: 27 m  A 40 15,21: 309 A 42 Herakleitos 22 DK / 9 LM B 5 / D 15: 23 A 30 B 15 / D 16: 82 A 86, 319 A 63 B 32 / D 45: 82 A 86, 83 ff B 41 / D 44: 208 A 20 B 50 / D 86: 84 B 53 / D 64: 84 B 120 / D 93: 82 A 86 B 123 / D 35: 129 A 202, 133 A 211 Hermogenes (Patillon) progymn p 180–183: 125 A 193 Herodotos 1,131: 25 m  A 36, 94 A 126, 257 A 167 2,23: 116 A 170 2,41,2: 116 2,42,2: 117 2,42,3–6: 116 2,42,3–6: 116 2,43–44: 319 A 63 2,46: 25 A 36 2,46,2: 116 2,51,1: 116 2,53: 115–117 2,59,2: 117 2,63,4: 116

375

8 2 Stellenregister

2,65,4: 116 2,72: 116 2,74: 116 2,76,3: 116 2,122,1: 116 2,145–146: 319 A 63 Hesiodos Erga 106 ff : 78 Theogonia 940–942: 318 A 63 Hippolytos phil /ref 7,29,5–6: 86 A 99 9,4: 84 9,9,1: 84 19,2: 194 m  A 182 Homeros Ilias 1,222: 286 A 253 1,423–425: 133 A 213 1,528–530: 242 m  A 128, 253 A 154, 290 3,420: 286 A 253 5: 36 6,273: 117 A 171 6,87–92: 117 A 171 6,130–139: 217 6,303: 117 A 171 9,502 ff : 217 A 54 14,159 ff: 36, 74 20: 36 21: 36 Horatius carmina 3,3,9–16: 313 A 54 IGSK: I Erythrai 205,74 ff p 340: 308 A 41 I Iasos 4,54 p 21: 309 A 41 I Ilion 32,26–27 p 85: 308 A 41

Isokrates Orationes 9,9: 49 A 6 Jamblichos Vita Pythagorae 82: 79 A 73 De mysteriis 8,1: 225 A 83 Julianos Contra Heraclium cynicum 206c–d: 130 A 204 216c–d: 130 A 204 Epistulae (Bidez) 89 b 293a–b: 293 A 273 89 b 193c–295: 23 A 30 In matrem deorum 170a–b: 130 A 204 In Solem 135: 235 A 109 140d–141a: 236 A 109 Justinus epitoma historiarum Philippicarum 309 A 41 Kallimachos fr (Pfeiffer) 228: 326 A 79 Hymni 1,6–10: 318 A 62 318 A Iambi 1: 329 A 86 Kallisthenes FGrHist 124 fr 14 b: 308 A 37

Ps.Kallisthenes (Kroll) 3,30,15 p 133: 313 A 53 „Kritias-Fragment“ 42; 101 m  A 136 Lactantius Divinae institutiones 1,11,33: 298 A 11 1,11,46: 298, 315 m  A 56 1,11,57–65: 320 1,11,63: 320 m  A 66 1,13,2: 323 A 72 1,18,13: 313 A 54 1,22,13 109 A 153 1,22,21 ff : 298 A 12 1,22,21–27: 299 A 13 1,22–23: 322 A 72, 325 f 2,2: 23 A 30 epitome 13,4: 298 19,4: 298 A 12, 299 A 13 Livius 1,34: 177 A 112 5,52,7: 184 A 138 26,19,4–8: 309 A 42 26,27,14: 184 A 138 Lucilius (Marx) fr 484–489: 109 A 153 Lucretius 4,129–142: 39 A 6 4,722–751: 39 A 6 5,55 ff : 40 5,71–90: 40 5,74 f : 40 A 9 5,148–50: 39 5,1161–1168: 41 m  A 10 5,1169: 40 5,1169–1182: 37 f , 40 A 8 5,1218–1240: 41 6,58–67: 41 6,75–78: 40 A 8 6,76 f : 40 A 8

376

Indices

Macrobius Saturnalia 1: 124 1,7,18: 131 A 208 1,7,28: 163 A 67 1,8,6: 136 A 222 1,8,9: 136 A 223 1,8,11: 136 A 222 1,9,7: 135 A 219 1,9,10: 135 A 219 1,9,12 f : 135 A 219 1,11,49: 183 A 132 1,17 ff : 124 1,17–23: 134, 135–137 1,17,2 ff : 136 A 221 1,17,2–23,22: 123 A 187 1,17,65: 130 A 205 1,17,70: 125 A 192 1,20,4: 136 A 223 1,20,6: 319 A 63 1,21,14 f : 136 1,23,5 f : 132 A 209 1,24,1: 135 3,4,6: 188 A 150 3,4,7: 182 A 129, 183 A 134 3,4,7–8: 187 m  A 148, 189 m  A 156 3,4,8: 196 3,4,11: 185 A 140

1,2,17: 132 1,2,18: 130 m  A 203 1,2,19: 24; 130 f 1,2,20: 123–136 1,2,21: 124, 126 A 194, 133 m  A 211 1,3,17: 125 A 192 1,5,1: 127 A 198 1,6,7–9: 128 A 198 1,10,8–16: 129 A 200 1,10,9: 129 A 200 1,11–12: 130 A 205 1,11,8: 129 A 200 1,12,11: 129 A 200 1,14,5–12: 128 A 198 1,17,12 f : 128 A 198 2,3,15: 125 A 192 2,10: 129 A 201 2,10,10 f : 133 A 213;

Commentarii in somnium Scipionis 1,2: 141, 144 1,2,3: 125 1,2,4: 125 1,2,6–13: 125 1,2,6–21: 124 1,2,7: 126 1,2,9: 126, 129, 130, 132 f m  A 210 1,2,11: 124, 127 A 196, 132, 133 A 213, 136 A 222 1,2,12: 127 1,2,13 f : 127 m  A 198, 129 A 202 1,2,14–15: 128 1,2,16: 124, 134 f 1,2,16–17: 128–132

Maximos von Tyros (Trapp) Dissertationes 2: 201, 266–286 2,1 ll 1–10: 270 2,1 5–10: 272 m  A 211, 274 A 217 2,1 ll 11–13: 268, 269, 274 m  A 216 2,1 11–19: 272 m  A 212 2,1 20: 273 A 214 2,2: 270, 277 A 229, 283 2,2 31–33: 270, 292 2,2 34: 292 2,2 30–48: 271–274 2,2 37: 277 A 229, 287 A 255 2,2 38: 292 2,2 40–42: 274 m  A 219

Makarios von Magnesia (Goulet) Monogenes/Apokritikos 4,21 b4 p 312,10: 239 A 118 Malalas (Thurn/Dindorf) lib 2 p 39,45 /p 55,17: 210 A 28

2,2 45: 273 A 214 2,3: 205, 265, 270, 274, 276 2,3 49: 273 A 214 2,3 50–70: 278–286 2,3 50–52: 279 m  A 232 2,3 52: 273 A 214 2,3 52–70: 279–70, 279 f m  A 233 2,3 52–80: 277 A 230 2,3 54–58: 280–286 2,3 67: 273 A 214, 285 A 249 2,4: 268 2,4 71–76: 268 A 201 2,4 72: 270 2,4 72–85: 275 A 221 2,4 76–85: 275 A 224 2,4 82: 269 2,4 118: 269 2,5: 268 2,6 11–13: 268 2,7 122–136: 269 A 205 2,7 123–136: 268 2,7 135–136: 269 A 205 2,8 138: 269 A 205 2,8 138–139: 277 2,8 139–141: 269 A 205, 277 2,8 141–143: 268, 269 A 205 2,8 142–143: 277 2,8 145–149: 272 m  A 212 2,8 159–160: 269 A 205 2,9: 270 2,9 162: 270 2,9 167: 27 2,9 168–173 2,9 169–182: 274 f m  A 222 2,9 181: 271 A 208, 287 A 255 2,9 182: 270 2,10: 268, 270, 284, 286 2,10 187–192: 267 u  A 195 2,10 191: 274, 277 A 229 2,10 192–196: 284 m  A 246 2,10 196–202: 267 f m  A 197, 274 m  A 218 2,10 200: 269 4: 276 A 226, 277 A 228 4,3 51–55: 288 f u  A 259 4,4 64–81: 287 A 256

377

8 2 Stellenregister

4,5 85: 277 A 229 4,5 91–92: 289 A 262 4,5 94–96: 289 A 262 4,6 55–60: 289 A 261 4,6 100: 276 A 226 4,6 101: 289 A 259 4,6 104–106: 289 A 262 4,6 109 u 113 f : 289 A 260 4,8 144–172: 276 A 226 4,9 187: 272  A 213 5,1 17 u 20: 289 5,8 198–201: 292 A 270 6,4 98–104: 285 A 249 6,5 131: 273 A 213 7: 264 8: 201 A 5, 267 A 194, 276 A 226 8,6: 286–290 8,6 114–131: 286–290 8,6 128: 271 A 208 8,6 132: 271 A 208, 276 A 227 8,7 151: 271 A 208 8,7 152–157: 277 A 229 9: 267 A 194 9,6 146: 284 10,7 174–175: 285 A 247 10,9 240: 292 10,9 240–244: 277 A 229 11: 201 A 5, 267 A 194 11,3: 276 A 227 11,3 44–59: 290–292 11,3 55–59: 290 f 11,3 56: 277 A 229, 292 11,4 60 u 62 f : 291 11,5: 43 A 16 11,5 76–83: 268 A 201 11,5 76–83: 20 11,5 90: 292 11,10 216 f : 292 A 270 11,11 257–263: 285 A 248 11,11 260–263: 284 m  A 245 11,11 261 f : 275 A 223 11,11 272: 275 A 223 11,11 292: 275 A 223 15,6 146: 309 A 42 15,9: 277 A 228 17: 264

17, 2 53–54: 273 A 213 17,4 117: 291 A 267 17,4 117–122: 288 m  A 258 17,4 121: 292 A 269 18, 5 119–124: 276 A 226 18,5 123: 292 A 269 18,5 125: 291 A 267 18–21: 264 20,6 96 f : 273 A 214 20,6 110–114: 277 A 229 20,6 113: 285 A 249 21: 267 A 194 21,5: 47 A 2 21,7 141: 284 21,8 159: 284 21,8 159–163: 285 m  A 248 21,8 174–175: 285 m  A 248 21,8 176: 284 23,3 54: 292 A 269 26,4: 276 A 226 26,8: 276 A 226 31,4 80–89: 277 A 229 32,1: 125 A 193 32,1 4: 288 32,9: 277 A 228 32,19 168: 272 A 213 34,8 139: 309 A 42 36: 278 36,1 7–9: 286 A 249 36,1 7–11: 282 A 239 36,5: 277 A 228 36,6 200: 273 A 213 39,3 114: 292 A 269 39,5 159: 277 A 229 41,2 50: 290 f  A 266 41,5: 267 A 194

Metrodoros von Lampsakos 61 DK Text 3, Text 6: 82 A 86

Menander Rhetor (Russell u Wilson) 1,333 p 6,12–15: 103 m  A 140 1,337 p 12,30–14,19: 103 m  A 140 2,370 p 80,21–28: 309 A 42

Papyrus von Derveni s Der veni-Papyrus

Numenios (Des Places) fr 55: 130 f  A 205 OGIS 227 (= Rehm, Didyma 493) 308 A 41 237: 309 A 41 746: 309 A 41 Olympiodoros In Platonis Gorgiam (Westerink) 47,5 p 246: 294 m  A 275 Origenes Contra Celsum 1,5: 23 A 30 3,40: 23 A 20 4,48: 73 m  A 61 6,14: 293 A 273 7,44: 293 A 273 7,62: 23 A 30 Orphica (Bernabé) Fr 14: 233 A 105 fr 243: 233 u  A 105 Ovidius Ars 1,407: 183 A 132 Fasti 6,257 ff : 184 A 137

Papyrus Herc. 1428 s Philodemos piet (Henrichs) Papyrus Herc. 1055 s Demetrios Lakon

378 Papyrus Strasb. Inv. Gr. 1665–1666 s Empedokles Parmenides 18 DK / 19 LM B 8,42–44 / D 8,47–49: 235 A 108 Philodemos piet (Henrichs 1974) col 2–3: 301 A 18, 333 f m  A 100 col 4,12–20: 65 m  A 39, 80 A 77 col 5,28: 296 A 7 col 5,28–32: 71 m  A 53 col 5,28–6,1: 26 A 39 col 6,14: 313 A 52 col 6,16–26: 67 A 42 col 6,26 ff : 59 A 26 col 8,14–9,9: 65 m  A 38, 195 A 186 col 9,15–27: 66 col 13,9–15: 103 m  A 141 piet (Obbink 1996) col 32 ll 911 f : 41 A 9 col 40–42 1138–1216: 329 A 90 col 42 1190–1216: 43 A 13 col 49–51 1412–1461: 329 A 90 col 71 ll 2043–2060: 103 A 141 col 81 ll 2343–2362: 103 A 141 piet (Schober 1923) fr 16: 43 A 14 fr 18: 35 A 58 Philolaos von Kroton 44 DK / 12 LM A 16 / D 19: 82 A 86 Philostratos Vita Apollonii 6,19: 105, 204 A 8, 291 A 267

Indices

Platon Apologia 26d: 275 A 223

Philebos 16c: 47 A 2 18b–d: 79 A 74

Hippias maior 282a: 47 A 2

Politikos 271d: 47 A 2

Kratylos 57 384c–d: 20 A 22 389a: 79 A 74, 273 396a: 80 A 77 397c: 225 f 397c–d: 223 397d: 275 A 223 398a: 47 A 2 401a–b: 79 A 74 401a–408d: 80 402d–e: 79 A 74 404b9: 48 A 5 407a: 71 A 51 413c: 80 A 77 422a–427d: 50 A 10 426d: 50 A 10 436c: 79 A 74 438c: 79 A 74 467a–b: 36 A 61

Politeia/respublica 2 377a: 290 A 259 2 377a–378d: 127 A 196 2 377e–378e: 289 A 259 10 617b ff : 125, 132

Kritias 108d ff : 303 120de–121a: 47 A 2

epinomis 982e: 245 A 135

leges 3 677 ff : 46 A 1 10 886: 275 A 223 10 886a: 43 A 16 11 931a: 270 A 206 12 955e–956a: 231 A 96 Phaidon 73d: 284 f Phaidros 246e ff : 132 274d: 271 A 207

sophista 242c–d: 85 Timaios 23c–25d: 303 26e: 303 33b: 235 34a: 245 A 135 39e: 275 A 223 40d–e: 12 40e–41a: 133 A 211 41a: 275 A 223 53 ff : 239 A 120 55d–56b: 239 A 120

Plinius maior 2,17: 200 A 1, 293 u  A 272 2,26: 42 A 11 2,27: 22 m  A 28 34,33: 177 A 111 35,152: 177 A 112 35,157: 177 A 111 Plotinos Enneaden 1,3 [20] 4,9–15: 232 A 101 1,6 [1] 9,34–36: 232 A 101 3,6 [26] 19,25 f : 235 A 107 3,8 [30] 2,25–34: 235 A 107 4,3 [27]11: 135 A 217, 136 A 220 4,4 [28] 10: 233 A 104

379

8 2 Stellenregister

4,4 [28] 39,5 ff : 235 A 107 5,1 [10] 3,12: 232 A 101 5,1 [10] 10,6: 231 A 98 5,1 [10] 10,8: 235 A 108 5,1 [10] 10,12: 232 A 101 5,8 [31] 1: 204 A 7

De defectu oraculorum 415b: 313 A 52 436d: 209 A 27, 215 A 46

Plutarchos Vitae: Alexander 2,1: 308 A 37 27,5–6 u 9: 308 A 37 28,6: 308 A 37 33,1: 308 A 37 Camillus 7: 209 Coriolanus 37 f : 209 38,2–3: 209 Numa 1,3–7: 181 A 126 8,5–21: 180 8,12–14: 257 A 167 8,13 f : 180 A 121, 206 A 14 8,14: 180 A 120 u 123, 185 11,1: 184 A 137 Perikles 32: 82 A 84 Romulus 28,7 ff : 313 A 52

De fortitudine Romanorum 326b: 313 A 53

Moralia: Adversus Coloten 1119e: 330 A 92 De Alexandri magni fortuna aut virtute 331a: 308 A 37, 309 A 42 332a: 313 A 53 De animae procreatione in Timaeo 1030a–b: 209 f m  A 27 1030c: 215 A 46

De facie in orbe Lunae 926e: 88 A 104

De fraterno amore 478a: 205 A 12 De Iside 355c: 105 A 144 359d–360a: 300 A 14 359f–360a: 329 f u  A 91 360b: 297 A 10 360d: 209 A 27, 215 A 46 363f: 205 A 12 364a: 84 A 94 368e: 205 A 12 370d: 84 A 93 371c: 205 A 12 376e: 208 A 21 379a: 23 A 30 379a–d: 269 u  A 203 379c: 109 A 153, 110 A 156 379d: 206 m  A 16 u 17 380a–d: 269 u  A 203 380e: 208 380f–381a: 208 m  A 23 381a–c: 248 u  A 144 381b: 208 f m  A 24 381d: 205 A 12 382a: 208 382b: 208 m  A 22 382b–c: 208 m  A 20, 210 Non posse suaviter vivi secundum Epicurum 1100e–1103f : 330 1105b: 289 A 259 Platonicae quaestiones 1004c: 235 A 108

De superstitione 165b: 105 A 144 167d: 104 f m  A 144, 109 A 153, 110 A 156, 205 A 10; 144 A 13 De tranquillitate animi 477c: 275 A 223 477c–d: 207 m  A 19 fr (Sandbach) 46: 206 A 14 158: 210 u  A 29 190: 210 A 28 Lampriaskatalog (Sandbach) Nr 204 u 227: 248 A 144 Ps.Plutarchos De Homero 2,1,1: 118 2,4,3: 122 A 182 2,4–6: 115 2,5: 122 A 182 2,5,2: 120 A 176 2,6: 122 A 182 2,92: 18 A 18, 115, 118 ff , 122, 290 A 263 2,93–112: 118 2,113: 110 A 155, 114–123, 151, 250 A 148 2,114–121: 118 ff 2,115: 120 A 176 2,118,2: 120 A 176 2,218,1: 115 Polybios 6,56,9–12: 42 A 11 34,5,9: 297 A 10 Porphyrios De abstinentia (Nauck) 225 1,29 p 107,9: 232 A 101 1,29–31: 232 1,30 p 108,18: 232 m  A 101 2,5 p 135,3–136,8: 222 2,5–7: 47 A 2

380 2,7 p 138,3: 222 2,18: 226 A 84, 231 A 95 2,37: 231 A 99 3,16: 239 A 119 4,9: 239 A 117 4,9 p 241–243: 223 De antro nympharum (Nauck) 226 A 84 Fragmenta (Smith) fr 318: 238 A 113 fr 351: 225, 227–229, 236 fr 352: 135 A 218, 226 A 84, 229–232, 236 fr 352,18: 240 A 120 fr 354: 31 A 49, 135 A 218, 225, 231, 232–239 fr 354 a: 221 A 67 fr 357,8–10: 238 A 115 fr 357 a 2–5: 238 A 115 fr 358,12 f : 239 A 119 fr 358,39–40: 238 A 115 fr 358,42–44: 235 A 107 fr 359,11–121: 239 A 119 fr 359, 16–19: 238 A 115 fr 359,87 f : 238 A 115 fr 359,99 f : 238 A 115 fr 359,108–110: 235 A 107 fr 359,113: 238 A 113 fr 359,116 f : 238 A 115 fr 360: 228, 239 fr 360,3–5: 239 A 119 fr 360,5–8: 236 A 109 fr 360,20: 228 fr 360,30–44: 239 fr 360,45–46: 239 A 116 fr 360,51 ff : 239 A 119 fr 360 a: 221 A 67 Contra Christianos (Harnack/Becker) fr 41 a/10: 223 u  A 78 fr 76,23/ – : 239 A 118

Indices

Epist. ad Anebontem (Saffrey u Segonds) 225 fr 79: 225 A 83 fr 81: 223

Scholia Veronensia (Servius Thilo 3:2) ad Aen 2,717: 182 A 129, 183 A 132 u 134 10,183: 179 A 119

Sententiae 19: 232 A 102 42: 232 A 102

Seneca dialogi dial 6 Consolatio ad Marciam 26,7: 335 A 105

Vita Plotini 14 l 4 ff : 221 A 69 Vita Pythagorae 41: 84 A 94 Prodikos (Mayhew) Text 71: 301 A 18 Proklos In Platonis rem publicam (Kroll) vol 2 p 105 ff : 125 A 192; vol 2 p 107,5–72: 133 A 211 vol 2 107,6 f : 129 A 202 In Platonis Timaeum (Diehl) 206a vol 2 p 215,2–3: 235 A 108 292de vol 3 p 174: 236 A 109 Theologia Platonica 5: 236 A 109 Quintilianus 8,6,4: 49 A 8 Rhetorica ad Herennium 4,34,45: 49 A 6 Salloustios (Nock) c 3 p 4,4–8: 130 A 204 c 3 p 4,11–15: 18 A 18;

Epistulae morales 65,7: 195 A 189 90: 139 90,8–19: 47 A 2 90,36–46: 47 A 2 90,44: 47 A 2 Naturales quaestiones 2,42,3: 42 A 11 fragmenta (Haase) 31 u 39: 200 A 1, 293 u  A 272 Servius ad Aen. 1,47: 60 A 28 3,12: 182 A 128 4,638: 59 m  A 26 5,704: 182 A 130 Servius auctus ad Aen. 1,378: 182 A 128, 183 A 132 2,166: 182 A 130 2,325: 188 A 150 2,296: 185 A 140, 186 f , 189 A 155, 196 2,636: 182 A 129 3,1: 185 A 142 3,12: 182 A 128 3,118 f : 188 A 150 3,148: 182 A 128 u 129, 183 A 132 u 134 8,275: 319 A 63, 335

381

8 2 Stellenregister

Sextus Empiricus Adversus mathematicos 8,63: 39 A 6 9,14–16: 42 A 12 9,17: 322 A 72 9,19: 40 A 8 9,22: 43 A 15 9,24: 43 A 14 9,25: 39 9,26 f : 43 A 15 9,34–38: 330 A 91 9,36 u 37: 319 A 63 9,43: 39 9,50 f : 327 A 80 9,51: 322 A 72 9,52: 327 A 81 9,54: 42 A 12, 101 A 136 Simplikios CAG 10 p 1124, 2–3: 87 A 102 1124, 9 ff : 88 A 107 Stobaios (Wachsmut) Anthologium 1,1,25 vol 1 p 31,7: 221 A 67 1,25,2 vol 1 p 209,16: 221 A 67 Strabon 1,2,8: 289 A 259 2,4,2: 297 A 10 15,1,8: 313 A 53 16,2,35: 257 A 167, 278 A 230 Suda (Adler) 2 p 503: 236 A 109 Suetonius Augustus 94,4: 309 A 42 SVF 1, 269: 73 A 58 1, 160: 12 A 5 1, 162: 12 A 5 1, 527: 12 A 5 2,809–822: 334 A 102 2, 811: 334

2, 937: 12 A 5 2, 1009 p 300,17 ff : 48 A 4, 60 A 30 2, 1017: 12 A 5; 2, 1021: 12 A 5, 66, 80 A 77, 296 A 7 2, 1024: 12 A 5 2, 1062–1064: 12 A 5 2, 1066: 60 A 28 2, 1070: 12 A 5, 59 A 26 2, 1071–1074: 72–77 2, 1076: 12 A 5, 80 A 77, 296 A 7 2, 1093: 12 A 5; 3,4: 12 A 5 2, 1109 p 300,33–37: 277 A 230 3, 473 p 123,20–26: 49 A 8 3, 743–747: 73 A 59 3 II 33: 12 A 5, 65 A 38, 296 A 7 3 app 2 p 197 f : 27 A 40 Tacitus Annales 4,38: 313 A 54 Historiae 5,5,4: 257 A 167 Tertullianus Apologeticum 25,12: 180 A 123 Ad nationes 2,1,8: 153 A 36 2,2,19: 153 A 36 2,3,11: 153 A 36 2,17,12: 180 A 123 2,36 f : 153 A 35 u 36; Theodoretos Graecarum affectionum curatio 2,12 u 3,4: 327 A 80 Theokritos 17,45–52: 326 A 79

Theon progymn (Spengel) p 72,27 ff : 125 A 193 Theophilos Antiochenos Ad Autolycum 3,7: 327 A 80 3,8,2: 74 m  A 62 Theophrastos piet (Fortenbaugh et al / Pötscher) fr 581 / – : 12 A 4 fr 584 A / 2: 47 A 2 Timaios von Tauromenion FGrHist 566 fr 59: 183 A 132 Varro De lingua Latina 5,1–3: 160 5,3: 160 A 56 5,7: 160 5,45: 163 A 67 5,53: 163 A 67, 179 A 119 5,54–74: 160 5,57: 161 A 59 5,58: 161, 197, 198 5,61: 161 m  A 61, 171 A 87 5,63: 163 m  A 66, 174 5,64: 59 A 26, 161 A 58 u 61 5,65: 161 5,74: 160 A 54, 163 A 67 5,144: 185 A 139, 197 5,158: 197 m  A 195 6,13: 159 A 53 6,18: 159 A 53 7,1: 160 7,2: 160 7,36: 163 A 67 7,109: 160 7,110: 160 8,1: 160 8,7 f : 160 A 56 10,53: 160

382 Logistoricus de cultu deorum (Cardauns 1960) fr 2: 154 A 36 fr 5: 25 m  A 37, 168 A 80 Antiquitates rerum divinarum (RD Cardauns) fr 1: 168 A 77 fr 2 a: 184 A 138 fr 5: 171 A 87 fr 7: 167 f m  A 76 u 77, 170 m  A 84, 174 fr 8: 154 A 37, 157, 170 m  A 85 fr 9: 171 m  A 87 fr 11: 154 A 38, 173 m  A 94 fr 12: 148 A 26, 157, 162, 167 A 74, 171, 277 A 230 fr 13: 157 A 46 fr 18: 177, 145, 147–149, 157, 165, 178–182, 185, 186, 257 A 167 fr 19: 150–157, 165, 167, 173 f , 179–181 fr 21: 150 m  A 32, 155, 167 fr 24: 153 A 36 fr 28: 159 A 51, 191 A 165, 193 A 176 fr 32: 319 A 63, 335 fr 35–42: 163 A 67 fr 36: 163 A 67 fr 47: 108 A 150 fr 189: 29 A 44 fr 205: 148, 159 A 51, 185–197 fr 206: 171 A 87, 187, 191, 192, 194, 195

Indices

fr 225: 142–144, 145–147, 148, 149, 158 A 50, 158 A 50, 164–166, 186, 203, 249, 277 A 230 fr 226: 158 A 50, 175 m  A 105, 191 fr 228: 164 m  A 68 fr 229: 52 A 14, 158 A 49 fr 241: 163, 174 A 101 fr 242: 163, 174 A 101 fr 245: 163, 174 A 101 fr 254: 157, 180 A 123; 181 f fr 268: 192 fr 271: 163, 171 fr 272: 193 A 175 fr 277: 193 A 177 fr 278: 159 A 51, 191 A 166, 196 Antiquitates rerum humanarum (RH Mirsch) lib 2: 187–189; lib 2 fr 2: 163 A 67 lib 2 fr 9: 182 A 129 lib 3 fr 1: 179 A 119 De re rustica 3,1,6: 179 A 119 Vergilius Aen 3,148: 182 A 128 georg 2,325–326: 59 Vita Persi Persius p 43,33 (Kißel) 73 A 60

Xenokrates (Heinze) fr 15: 12 A 3 fr 18–20: 12 A 3 Xenophanes 21 DK / 8 LM A 32 / D 23: 92 A 119 A 33 / D 22: 45 A 33 / D – : 92 A 119 B 8 / D 66: 94 A 125 B 11 / D 8: 33, 95 B 12 / D 9: 33, 95 B 13 / D 14: 95 B 14 D 12: 92–95 B 15 / D 14: 25 A 34, 93 m  A 123 B 16 / D 13: 25 A 34, 92 f m  A 122 B 14–16 / D 12, 14, 13: 33, 92–95 B 18 / D 53: 91f B 22 / D 54,5: 94 A 125 B 23 / D 16: 33, 90 m  A 113 B 23–26 / D 16–19: 93 f  A 124 B 24 / D 17: 85 B 25 / D 18: 90 A 112 B 34 / D 49: 90 A 112, 91 f m  A 117 Zenon von Kittion SVF 1,264: 257 A 167

p o t s da m e r a lt e rt u m s w i s s e n s c h a f t l i c h e b e i t r äg e

Herausgegeben von Pedro Barceló, Peter Riemer, Jörg Rüpke und John Scheid.

Franz Steiner Verlag

ISSN 1437–6032

38. Christiane Nasse Erdichtete Rituale Die Eingeweideschau in der lateinischen Epik und Tragödie 2012. 408 S., kt. ISBN 978-3-515-10133-2 39. Michaela Stark Göttliche Kinder Ikonographische Untersuchung zu den Darstellungskonzeptionen von Gott und Kind bzw. Gott und Mensch in der griechischen Kunst 2012. 360 S. und 32 Taf. mit 55 Abb. ISBN 978-3-515-10139-4 40. Charalampos Tsochos Die Religion in der römischen Provinz Makedonien 2012. 278 S. und 44 Taf. mit 58 Abb., 5 Ktn. und 3 Plänen, kt. ISBN 978-3-515-09448-1 41. Ioanna Patera Offrir en Grèce ancienne Gestes et contextes 2012. 292 S. mit 22 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10188-2 42. Vera Sauer Religiöses in der politischen Argumentation der späten römischen Republik Ciceros Erste Catilinarische Rede – eine Fallstudie 2012. 299 S., kt. ISBN 978-3-515-10302-2 43. Darja Šterbenc-Erker Die religiösen Rollen römischer Frauen in „griechischen“ Ritualen 2013. 310 S., kt. ISBN 978-3-515-10450-0 44. Peter Eich / Eike Faber (Hg.) Religiöser Alltag in der Spätantike 2013. 293 S. mit 24 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10442-5

45. Nicola Cusumano / Valentino Gasparini / Attilio Mastrocinque / Jörg Rüpke (Hg.) Memory and Religious Experience in the Greco-Roman World 2013. 223 S. mit 24 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10425-8 46. Veit Rosenberger (Hg.) Divination in the Ancient World Religious Options and the Individual 2013. 177 S. mit 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10629-0 47. Francesco Massa Tra la vigna e la croce Dioniso nei discorsi letterari e figurativi cristiani (II–IV secolo) 2014. 325 S. mit 23 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10631-3 48. Marco Ladewig Rom – Die antike Seerepublik Untersuchungen zur Thalassokratie der res publica populi romani von den Anfängen bis zur Begründung des Principat 2014. 373 S. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10730-3 49. Attilio Mastrocinque Bona Dea and the Cults of Roman Women 2014. 209 S. mit 16 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10752-5 50. Julietta Steinhauer-Hogg Religious Associations in the Post-Classical Polis 2014. 189 S. mit 18 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10646-7 51. Eike Faber Von Ulfila bis Rekkared Die Goten und ihr Christentum 2014. 300 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10926-0 52. Juan Manuel Cortés Copete / Elena Mun ˜ iz Grijalvo / Fernando Lozano Gómez (Hg.) Ruling the Greek World Approaches to the Roman Empire in the East 2015. 192 S., kt. ISBN 978-3-515-11135-5

53. Mirella Romero Recio (Hg.) La caída del Imperio Romano Cuestiones historiográficas 2016. 220 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10963-5 54. Clifford Ando (Hg.) Citizenship and Empire in Europe 200–1900 The Antonine Constitution after 1800 years 2016. 261 S., kt. ISBN 978-3-515-11187-4 55. Valentino Gasparini (Hg.) Vestigia Miscellanea di studi storico-religiosi in onore di Filippo Coarelli nel suo 80° anniversario 2016. 786 S. mit 136 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10747-1 56. James J. Clauss / Martine Cuypers / Ahuvia Kahane (Hg.) The Gods of Greek Hexameter Poetry From the Archaic Age to Late Antiquity and Beyond 2016. XIV, 458 S., kt. ISBN 978-3-515-11523-0 57. Katharina Waldner / Richard Gordon / Wolfgang Spickermann (Hg.) Burial Rituals, Ideas of Afterlife, and the Individual in the Hellenistic World and the Roman Empire 2016. 264 S. mit 25 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11546-9 58. Jessica Schrader Gespräche mit Göttern Die poetologische Funktion kommunikativer Kultbilder bei Horaz, Tibull und Properz 2017. 314 S., kt. ISBN 978-3-515-11700-5 59. Timo Klär Die Vasconen und das Römische Reich Der Romanisierungsprozess im Norden der Iberischen Halbinsel 2017. 290 S. mit 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11739-5 60. Hans-Ulrich Wiemer (Hg.) Kulträume Studien zum Verhältnis von Kult und Raum in alten Kulturen 2017. 307 S. mit 68 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11769-2

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Christopher Degelmann Squalor Symbolisches Trauern in der Politischen Kommunikation der Römischen Republik und Frühen Kaiserzeit 2018. 364 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11784-5 Lara Dubosson-Sbriglione Le culte de la Mère des dieux dans l’Empire romain 2018. 551 S. mit 52 Abb., kt. ISBN 978-3-515-11990-0 Daniel Albrecht / Katharina Waldner (Hg.) „Zu Tisch bei den Heiligen …“ Askese, Nahrung und Individualisierung im spätantiken Mönchstum 2019. 122 S. mit 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12087-6 Katharina Degen Der Gemeinsinn der Märtyrer Die Darstellung gemeinwohlorientierten Handelns in den frühchristlichen Martyriumsberichten 2018. 347 S., kt. ISBN 978-3-515-12153-8 Roberto Alciati (Hg.) Norm and Exercise Christian asceticism between late antiquity and early middle ages 2018. 202 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12154-5 Isolde Kurzmann-Penz Zur literarischen Fiktion von Kindheit Überlegungen zu den apokryphen Kindheitsevangelien Jesu im Rahmen der antiken Biographie 2018. 232 S., kt. ISBN 978-3-515-12152-1 Tanja Susanne Scheer (Hg.) Natur – Mythos – Religion im antiken Griechenland / Nature – Myth – Religion in Ancient Greece 2019. 297 S. mit 13 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12208-5 Javier Andreu Pintado / Aitor Blanco-Pérez (Hg.) Signs of weakness and crisis in the Western cities of the Roman Empire (c. II–III AD) 2019. 232 S. mit 42 Abb., kt. ISBN 978-3-515-12406-5

Die Auffassungen vom Göttlichen, welche antike Philosophen entwickelten, wurden bekanntlich nur von einer verschwindend geringen Minderheit geteilt. Das traditionelle Gottesbild, von dem sie fast ausnahmslos Abstand nahmen, prägte demgegenüber voll­ ständig das öffentliche Leben. Marianne Wifstrand Schiebe stellt erstmals die Frage, ob sich die Philosophen Gedanken darüber machten, wie es dazu kommen konnte – ein in der Forschung bislang übersehener Zusammenhang, der ge­ läufige Ansichten zum Selbstverständnis antiker Denker und zu ihrer Auffassung von der breiten Bevölkerung und deren Fähigkeiten herausfordert.

ISBN 978-3-515-12419-5

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Wifstrand Schiebe kann eine ganze Reihe von Theorien zur Entstehung der Vorstellung von menschengestalteten Göttern in der antiken Überlieferung nachweisen. Sie alle weisen ein hohes Maß an Folgerichtigkeit auf, so auch das am häufigsten auftretende Modell, dem­ zufolge das falsche Gottesbild des öffent­ lichen Kults ein Ergebnis buchstäb­ licher Deutung eines ursprünglichen metaphorischen Diskurses über die Götter sei. Vor dem Hintergrund des Ansatzes von Wifstrand Schiebe erschei­ nen Themen wie die philosophische Beurteilung der Götterbilder und das Phänomen des sog. „Euhemerismus“, die in der Forschung seit jeher kontro­ vers diskutiert werden, in einem neuen Licht.

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