204 110 14MB
German Pages 390 [392] Year 1971
Roland Ris Das Adjektiv reich im mittelalterlichen Deutsch
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker
Begründet von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Neue Folge Herausgegeben von
Hermann Kunisch Stefan Sonderegger und Thomas Finkenstaedt 40 (164)
w DE
G
Walter de Gruyter Berlin · New York 1971
Das Adjektiv reich im mittelalterlichen Deutsch Geschichte — semantische Struktur — Stilistik
von
Roland Ris
w DE
G Walter de Gruyter Berlin · New York 1971
Gedruckt mit Unterstützung der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft und des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung
I S B N 3 11 0 0 1 8 3 5 7 © Copyright 1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sdie Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit 8C Comp. — Printed in Germany. Alle Redite des Nachdrucks, der photomedianisdien 'Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, audi auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Thormann & Goetsdi, Berlin
Vorwort Eine erste Fassung der vorliegenden Arbeit mit dem Titel „Wortgeschichtliche Untersuchungen über mhd. riche, besonders als Gottesepit he ton" wurde im Herbst 1966 von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen. Sie umfaßte damals — außer einer kurzen etymologischen Einleitung und einer knappen Ubersicht über die Verwendung von ahd. rihhi — im wesentlichen die jetzigen Kapitel 4 und 5, also die Verwendung von riche im Mittelhochdeutschen. Das Schwergewicht lag in der Darstellung des Gebrauches von mhd. riche als Gottesepitheton in Wendungen und Formeln wie got der riche oder der riche got von himele. Diese Verwendungsweisen von mhd. riche bildeten den eigentlichen Anlaß zur Wahl des Themas, zu dem ich midi wegen seines — wie mir schien — begrenzten Umfanges entschloß, nachdem ich einsehen mußte, daß eine unter der Leitung meines verstorbenen Lehrers Prof. Dr. Walter Henzen begonnene Untersuchung über das Wortfeld von ,Macht' und ,Kraft' im Alt- und Mittelhochdeutschen ins Uferlose zu führen drohte. Aus dem zu diesem Zweck gesammelten Material 1 wählte ich daher zuerst die Belege für mhd. riche in der Bedeutung ,mächtig' aus, die sich besonders in der Verwendung von riche als Gottesepitheton bis ins Spätmittelalter halten konnte. Ich wiederholte dann einen großen Teil der Exzerptionsarbeiten, um auch für die übrigen Bedeutungen von mhd. riche genügend Belege zu bekommen, und ergänzte mein Material durch Einbeziehung neuer Quellen und durch die Verwertung der vorhandenen Sekundärliteratur. Nach der Promotion begann ich — ermutigt durch Frau Prof. Dr. Maria Bindschedler (Bern) und durch Herrn Prof. Dr. Stefan Sonderegger (Zürich) — mit der Erweiterung der Arbeit. Fast ganz neu geschrieben wurden die Kapitel über die Etymologie und Vorgeschichte von reich und über die Verwendung von ahd. rihhi, wobei nun auch alle Ableitungen und die übrigen ahd. Äquivalente von lat. dives, divitiae usw. mit einbezogen wurden. Die Kapitel über mhd. riche und über riche als Gottesepitheton wurden überarbeitet und durch Belege aus insgesamt über tausend Quellen ergänzt. 1
Dieses Material wird in späteren Arbeiten verwertet werden.
VI
Vorwort
Durch diese Erweiterungen vergrößerte sich der Umfang der Arbeit um fast das Doppelte. N u r dank namhafter Druckkostenzuschüsse von Seiten der Schweizerischen Geisteswissenschaßlichen Gesellschaft und des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung konnte sie vollständig publiziert werden. Beiden Institutionen möchte ich hier meinen aufrichtigsten Dank aussprechen. Ganz besonders zu danken habe ich Frau Prof. Dr. Maria Bindschedler, die nach dem Rücktritt von Herrn Prof. Dr. Walter Henzen die Leitung der Dissertation bereitwillig übernommen hatte und die mich audi während der weiteren Arbeit in allen Schwierigkeiten in entgegenkommendster Weise unterstützte, und Herrn Prof. Dr. Stefan Sonderegger, der sich anerbot, die Arbeit in die „Quellen und Forschungen" aufzunehmen, und mir manchen wichtigen Ratschlag gab, weiter Herrn Prof. Dr. Ludwig Erich Schmitt (Marburg), der mir einen längeren Aufenthalt am „Forschungsinstitut f ü r Deutsche Sprache, Deutscher Sprachatlas" ermöglichte, und Herrn Prof. Dr. Ulrich Pretzel (Hamburg), durch dessen Freundlichkeit ich anhand des in Hamburg aufbewahrten Zettelmaterials für ein geplantes frühmittelhochdeutsches Wörterbuch meine eigenen Exzerpte auf deren Vollständigkeit kontrollieren konnte, ferner Herrn Christian Hostettler (Bern) für wertvolle Hinweise und den Herren Adrian Hadorn und Dr. Ulrich Wyss (Bern) für die Mithilfe bei den Korrekturarbeiten. Nicht mehr erreichen kann mein Dank meinen Lehrer Prof. Dr. Walter Henzen, der in mir früh die Begeisterung f ü r sein Fach erweckt hat. Seine wissenschaftliche und menschliche Haltung wird mir ein Vorbild bleiben. Bern, im Juli 1971
Roland Ris
Inhaltsverzeichnis Vorwort
V
1. Einleitung
1
2. Etymologie und Vorgeschichte des Adjektivs reich
8
2.0 2.1 2.2 2.3 2.4
Einleitung Die bisherigen etymologischen Erklärungsversuche Das Zeugnis der Personennamen Die Vorgeschichte von reich Die Entlehnungen in die romanischen, baltischen und finnischen Sprachen 2.5 Bemerkungen zur Wortbildung
3. Verbreitung und Verwendung des Adjektivs ahd. rihhi, rtki und seiner Ableitungen
8 9 18 28 33 35 as.
37
3.0 Vorbemerkungen
37
3.1 Das althochdeutsche und altsächsische Material
38
3.1.1 Die althochdeutschen Glossen 3.1.2 Die zusammenhängenden althochdeutschen Sprachdenkmäler 3.1.3 Die altsächsische Bibeldichtung 3.2 Interpretation des Belegmaterials
38 39 42 43
3.2.1 Die althochdeutschen Glossen 3.2.2 Die zusammenhängenden althochdeutschen Sprachdenkmäler 3.2.3 Die altsädisische Bibeldichtung
46 49
3.3 Semantischer Einfluß des Lateinischen: Die Lehnbedeutungen ,dives' und ,beatus'
53
3.4 Die übrigen althochdeutschen Entsprechungen für lat. dives und seine Synonyma
62
3.4.1 Das Material 3.4.2 Ahd. ehtig
44
62 64
VIII
Inhaltsverzeichnis
3.4.3 Ahd. welag 3.4.4 Ahd. otag 3.4.5 Die übrigen althochdeutschen Entsprechungen 3.5 Ableitungen von ahd. rihhi 3.5.1 Ahd. richolf Subst 3.5.2 Ahd. rih(hi)lth Adj 3.5.3 Ahd. rihhituom, as. rikidom 3.5.3.1 Die althochdeutschen und altsächsischen Belege für rihhituomj rikidom 3.5.3.2 Die übrigen ahd. Entsprechungen für lat. divitiae und seine Synonyma 3.5.3.2.0 Einleitung 3.5.3.2.1 Ahd. (h)eht st. F 3.5.3.2.2 Ahd. wela/wola st./sw. F. und welojwolo sw. Μ. ,Üppigkeit, Reichtum' und verwandte Wörter 3.5.3.2.3 Ahd. ot, ot-uuala und ot-mahali 3.5.3.2.4 Die übrigen ahd. Entsprechungen
66 68 79 80 81 83 86 88 99 99 103
111 116 118
3.5.4 Ahd. rihhen, as. riken und die übrigen ahd. Übersetzungen von lat. ditare 120 3.5.5 Die übrigen Ableitungen von ahd. rihhi: rihhida, rthhisod, rihhison 124 3.5.6 Anhang: ahd. -rih als Ableitungssuffix 128 3.6 Schlußbetrachtung 4. Die Verwendung von riche im Mittelhochdeutschen
134 144
4.1 Einige Bemerkungen über die absolute und relative Häufigkeit von riche 144 4.2 Romanischer Einfluß auf die Verwendung von mhd. riche? . . 149 4.3 Die einzelnen Bedeutungen von mhd. riche 4.3.1 Die „moderne" Bedeutung ,reich, begütert' 4.3.2 riche ,vornehm, mächtig' als Epitheton bei Personenbezeichnungen 4.3.3 riche in der Bedeutung ,(zauber-)kräftig, wirksam' . . . . 4.3.4 Bedeutungen von riche im Übergangsbereich zwischen ,potens' und ,dives': ,mächtig, groß', reichhaltig, zahlreich' 4.3.5 Die Bedeutung .prächtig, herrlich, stattlich, kostbar' . .
151 152 157 166
168 174
Inhaltsverzeichnis 4.3.6 riebe in Verbindung mit Abstrakta 4.3.7 Die Bedeutung .selig, glücklich' 5. riebe als Epitheton bei Gottesbezeichnungen 5.1 Einleitung
IX 187 199 220 220
5.2 riehe bei Gottesbezeichnungen in nicht-formelhaften Verbindungen 229 5.2.1 riche bei Gott-Vater 230 5.2.2 riche bei Christus 237 5.3 riche als Epitheton bei Gottesbezeichnungen in formelhaften Wendungen 242 5.3.1 Einleitung 5.3.2 Materialsammlung
242 243
5.3.2.1 riebe bei Gott 243 5.3.2.1.1 Die einzelnen Formeln vom Typ der riche got/richer got 243 5.3.2.1.2 Die einzelnen Formeln vom Typ got der riche 252 5.3.2.2 riebe bei Christus 257 5.3.2.2.1 Die einzelnen Formeln vom Typ der riche Kristlricher Krist 257 5.3.2.2.2 Die einzelnen Formeln vom Typ Krist der riebe 261 5.3.3 Besprechung des Materials 5.3.3.1 Einleitung 5.3.3.2 Die zahlenmäßige Häufigkeit der einzelnen Formeln 5.3.3.3 Die einzelnen Formeln 5.3.3.4 Das Verhalten der einzelnen Dichter gegenüber dem Gottesepitheon riche 5.3.3.4.1 Fehlen von riche als Gottesepitheton . . . . 5.3.3.4.2 Vorkommen von riche als Gottesepitheton 5.4 Zusammenfassung 6. Anhang·. Zusammensetzungen u n d Ableitungen 6.1 Einleitung 6.2 Mhd. eben-riebe 6.3 Mhd. über-riebe
262 262 263 270 284 284 288 315 318 318 320 323
X
Inhaltsverzeichnis
6.4 6.5 6.6 6.7
Mhd. un-riche Mhd. eigen-ricbe? Frühnhd. all-reich Mhd. richtHom und ricbeit
Literaturverzeichnis
323 324 325 325 331
Verzeichnis der für Zeitschriften und Reihen verwendeten Abkürzungen 331 I. Quellenverzeichnis
332
II. Abgekürzt zitierte Werke: Wörterbücher, Handbücher, Grammatiken 350 I I I . Wichtigste Literatur Register
354 359
I. Verzeichnis der ausführlicher oder textkritisch behandelten Stellen 359 II. Register zur Sekundärliteratur
359
I I I . Wörterverzeichnis 367 A. Appellative (einschließlich nichtgermanischer Namen) . . 367 B. Namen 379
1. Einleitung Eine ausführliche Behandlung des Adjektivs ahd. r i h h i , mhd. r i c h e gab es bis jetzt nicht. Die Wörterbücher2 belegen zwar die meisten Bedeutungen recht eingehend, und auch über die Etymologie ist schon viel geschrieben worden; schließlich ist mhd. riche auch in einer ganzen Reihe von dem Epithetongebrauch einzelner Dichter gewidmeten Arbeiten® mit behandelt worden, so daß es nicht allzu schwer fiele, aufgrund dieser Literatur wenigstens für die klassische mittelhochdeutsche Periode ein in den Hauptzügen richtiges Bild von seiner Verwendung zu bekommen. Wenn hier trotzdem eine ausschließlich unserem Adjektiv gewidmete Arbeit vorgelegt werden soll, so nicht, um längst Bekanntes zu wiederholen. Vielmehr soll all das zurückgestellt werden, was schon gut bekannt und lexikographisch genügend erfaßt ist, um einer Reihe von Spezialproblemen Platz zu machen, über die die bisherige Literatur nur ganz mangelhafte Auskunft geben könnte: 1. Da ist zuerst einmal das Problem der Etymologie, wo man bisher immer an einen Zusammenhang von reich und Reich N. geglaubt hat. Hier ergaben einige in den letzten zwanzig Jahren erschienene Arbeiten wesentliche neue Gesichtspunkte, die es zu diskutieren und anhand von neuem Material zu prüfen galt. 2. Von der Forschung bis jetzt nicht untersucht war die Verwendung des ahd. Adjektivs r i h h i , besonders in den Glossen. Hier mußte das Material gesammelt4 und interpretiert werden, um so eine Grundlage für die Betrachtung der Verhältnisse im Mittelhochdeutschen zu schaffen.
* s 4
Vgl. Anm. 191. 613. Vgl. Anm. 615. D a s Material des Althochdeutschen Wörterbuchs in Leipzig war mir trotz allem Bemühen nicht zugänglich, so daß idi auch die ahd. Glossen vollständig exzerpieren mußte. Unter diesen Umständen ist es möglich, d a ß mir der eine oder andere Beleg — etwa bei den ahd. Entsprechungen für lat. dives oder seine Ableitungen — entgangen ist. D a s Althodideutsdie Glossenwörterbuch von T. Starck und J . C . Wells, dessen 1. L f g . f ü r 1971 angekündigt ist (bei Winter in Heidelberg), wird also möglicherweise einige Ergänzungen bringen können.
2
Einleitung
3. Dabei zeigte sich, daß ahd. rihhi eine bisher nicht erkannte semantisdie Beeinflussung durch lat. dives erfahren hat, durch die es sich in gewissen Verwendungsweisen von seiner ursprünglichen Bedeutung ,mächtig, vornehm1 weg zu ,reich, vermögend' oder zu ,selig, glücklich' weiterentwickelte. Diese Bedeutungsentwicklung mußte vom lateinischen Material her — unter Einbeziehung der übrigen ahd. Entsprechungen von lat. dives — erklärt werden. Es ergab sidi, daß audi ein scheinbar so profanes Wort wie unser reich den Einfluß der lateinischen Kirchensprache erlitten hat. 4. Die von den Wörterbüchern schon erfaßten mittelhochdeutschen Bedeutungen mußten neu interpretiert und durch zusätzliches, vor allem spätmittelalterliches Material belegt werden. 5. Komposita und Ableitungen mußten ergänzend herangezogen werden, wobei ich mich hier sehr beschränkte und nur für das Althochdeutsche und dann für einige wenig belegte mhd. Bildungen wie etwa eben-rtche ein größeres Material ausbreitete. Im Teil über das Althochdeutsche versuchte ich, so vollständig wie möglich zu sein und mein Material nadi allen Gesichtspunkten hin zu interpretieren; im Teil über das Mittelhochdeutsche dagegen ging es mir vor allem darum, die einzelnen Bedeutungen genau gegeneinander abzugrenzen. Dabei mußten nun einige Bedeutungen sehr zurücktreten, besonders die nhd. Bedeutung ,reich'. Ich klammerte sie nicht deswegen aus, weil sie als „moderne" Bedeutung nicht zu interessieren vermöchte (audi ist sie ja schon im Althochdeutschen zahlenmäßig absolut vorherrschend). Vielmehr zeigte sich, daß eine sinnvolle Interpretation der Tausende von Belegen, die sie aufweisen, nur in einer ganz anders angelegten Arbeit möglich wäre: in einer eher kulturgeschichtlich orientierten Untersuchung über Armut und Reichtum und deren Einschätzung durch die mittelalterlichen Theologen und Dichter5. Audi bei den übrigen mhd. Bedeutungen ging es mir mehr um die Herausarbeitung gewisser spezieller Verwendungsweisen (etwa riche bei Gewässerbezeichnungen, bei Abstrakta, in Formeln) als um eine gleichmäßig die Belege ausbreitende Darstellung, die auf weite Strecken hin uninteressant geworden wäre. Ich glaubte mich umso mehr berechtigt, hier Zurückhaltung üben zu dürfen, als die erwähnten Darstellungen zum Epithetongebrauch einzelner Dichter Hunderte von weiteren Bele8
Viel zu knapp und audi sonst unzureichend sind die Bemerkungen bei H. Hess, Ausdrücke des Wirtschaftslebens im Althochdeutschen, Diss. Jena 1940, S. 54 f. — Für arm bringt viel wertvolles Material Α. P. Wirth, Vor- und Frühgeschichte des Wortes ,arm', Diss. Freiburg i. Br. 1966; vgl. audi W. Schröder, Armuot, DVjs 34 (1960), S. 501—526.
Einleitung
3
gen für alle Verwendungsweisen von mhd. riche bis in die klassische Zeit bringen, die ich in meiner Arbeit nicht wiederholen wollte. Umso mehr fühlte idi mich verpflichtet, diejenigen Verwendungsweisen eingehender zu besprechen und mit einem großen Material zu belegen, über die die bestehende Literatur nur sehr wenig oder nichts ergibt: einmal die unter christlichem Einfluß entstandene „verinnerlichte" Bedeutung ,selig, glücklich, froh', dann die Verwendung von riche als Gottesepitheton vom 8. bis ins 17. Jahrhundert, der ein Hauptteil der Arbeit gewidmet ist. Hier wollte ich so vollständig wie möglich sein und zögerte auch nicht, einen jeden Beleg anzugeben: denn, obschon sich bis jetzt verschiedene Forscher um die Sammlung dieser „theologischen Formeln"' bemüht haben, so umfaßten sie doch alle zusammen nur einen Bruchteil, ca. Ve, des Materials und reichten kaum über die klassische mhd. Zeit hinaus. Hier, in der Behandlung von riche als Gottesepitheton, konnte man wirklich noch Neues sagen und eine Geschichte dieser Verwendungsweise schreiben, die interessanter wurde, als zu erwarten war: ihr Aufkommen steht in bekannten literarischen Zusammenhängen, ebenso ihr Wuchern in der Heldenepik und im Volkslied, genau wie die Ablehnung, mit der ihr eine Reihe von „klassischen" Dichtern und deren Epigonen begegneten. So wäre es denn fast möglich, nur aufgrund des Verhaltens der einzelnen Dichter unsern Formeln gegenüber so etwas wie eine Geschichte der literarischen Stilebenen im Mittelhochdeutschen zu schreiben; jedenfalls reizen die Ergebnisse dazu, die angeschnittenen Probleme in einem größeren Zusammenhang zu verfolgen. Außer den schon erwähnten Lücken könnte man unserer Untersuchung noch einen weiteren Mangel ankreiden: die oft fehlende Detailinterpretation und der Verzicht auf eine eingehendere Besprechung von mhd. riche bei einzelnen späteren Dichtern — für die klassische Zeit haben wir die vorhandenen Arbeiten wenigstens in den Anmerkungen ausgewertet —; man vermißt Angaben über die absolute und relative Häufigkeit von riche bei allen späteren Autoren, über seine syntaktische Stellung usw. Was den letzten Vorwurf betrifft, so kann man nur antworten, daß es keinen Sinn gehabt hätte, statistisches Material nur für ein einziges Adjektiv zu bringen: seine Häufigkeit ist nur dann aufschlußreich, wenn sie mit der anderer Adjektive wie guot, wert, scharte u. a. verglichen werden kann — dasselbe gilt für die syntaktische Stel• Wir gebrauchen diese Wendung im Anschluß an U . Stökle, Die theologischen Ausdrücke und Wendungen im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Diss. Tübingen 1915, und fassen damit alle Wendungen mit riche als Gottesepitheton zusammen.
Einleitung
4
lung —, was nur in einer eigens dem Epithetongebraudi einer Reihe von spätmhd. Dichtern gewidmeten Arbeit geleistet werden könnte. Der andere Vorwurf, die oft mangelnde Einzelinterpretation, wiegt schwerer. Hier galt es, zwischen zwei Darstellungsmöglichkeiten zu wählen: entweder man beschränkte sich auf wenige Quellen und versuchte, diese so eingehend wie möglich zu interpretieren und nach dem stilistischen Wert einer jeden Formel genau zu fragen — das beste Beispiel dafür, wie ergiebig diese Methode sein kann, ist Fr. Maurers ,Leid'Buch7 —, oder man versuchte, aufgrund eines umfassenden Materials einen Querschnitt durdi das gesamte mittelalterliche Deutsch zu ziehen. Damit mußte man notgedrungen auf eine eingehendere stilistische Interpretation verzichten, gewann dafür aber einen Überblick über die Verwendung eines Wortes oder einer Formel durch das ganze Mittelalter hindurch. Gerade die bei dieser Methode zu Tage kommende übergroße Materialfülle kann uns davor warnen, eine einzelne Formel in einem einzelnen Werk allzu genau interpretieren zu wollen, indem man ihr einen vom Autor ganz bewußt gemeinten Sinn unterschiebt. Was bei der stilistisdien Einzelinterpretation eines Dichters als originale Wendung erscheint, entpuppt sich bei einem Gesamtüberblick über die deutsche Literatur des Mittelalters nur allzu oft als weit verbreitetes Allgemeingut — ähnlich wie die topoi —, das ein Dichter oft nur übernahm, um sich eine eigene Formulierung zu ersparen. So kann etwa die weit verbreitete Formel der riche got/Krist von himele bei einzelnen Dichtern noch durdiaus als bedeutungstragendes Element in einem Erzählablauf dienen, während sie bei andern als erstarrte und bedeutungsentleerte Formel überall dort eingesetzt wird, wo ebenso gut eine andere stehen könnte, wie meistens im Volkslied. Hier darf man sie nicht mehr als einzelne interpretieren wollen, sondern nur noch im Zusammenhang mit allen übrigen vorkommenden Formeln. Nur so ließe sich entscheiden — und dies gilt für alle in den volkstümlichen Gattungen so beliebten Gottesanrufungen —, wie weit eine Formel wie die unsrige noch einen Sinn hat und wie weit sie nur noch als Füllsel verwendet wird. Ebensowenig darf die Bedeutung von riche als Gottesepitheton gepreßt werden. Ob damit immer ausdrücklich der m ä c h t i g e Gott angerufen werden soll — in einzelnen Fällen ist es vielmehr gerade der ,reidie, gnädige, freigiebige' Gott —, kann erst entschieden werden, wenn für die übrigen Gottesepitheta wie starc, mähtec, almähtec, 7
Fr. Maurer, Leid. Studien zur Bedeutungs- und Problemgesdiichte, besonders in den großen Epen der staufisdien Zeit, Bern und München 19612.
Einleitung
5
gewaltec, kreftec, guot, süeze, wert, wis u. a. ähnlich vollständige Sammlungen vorliegen werden. Wichtig war mir zuerst einmal herauszufinden, seit wann riche überhaupt als Gottesepitheton verwendet wird und welcher Stilschicht die es aufweisenden Denkmäler angehören. Damit ergaben sich Fragen, wie diejenige nach dem Zusammenhang von „Spielmannsdichtung" und Heldenepik, von Heldenepik und Volkslied, schließlich diejenige nach dem Verhältnis der „höfischen" Dichtung zu den „niederen" Gattungen, d. h., es traten literaturgeschichtliche Fragen in den Vordergrund, wobei vor allem nach den Einflüssen, die einzelne Dichter auf andere ausgeübt haben, gefragt werden mußte. Trotz der erwähnten Lücken versuchte ich, die Arbeit möglichst als eine in sich geschlossene Wortmonographie anzulegen, die durch sich selbst sprechen soll. Wenn sie zeigen kann, wie ergiebig auch scheinbar so anspruchslose Wörter wie unser reich bei ausreichender Quellenexzerption sein können und wenn sie zu vermehrter Erforschung des im Grunde genommen noch so unbekannten mhd. Wortschatzes anregen kann, so hat sie ihren Zweck erfüllt. Zudem hoffe ich, wenigstens für unser Wort das von allen Germanisten dringend gewünschte neue Große mittelhochdeutsche Wörterbuch8 vorläufig ersetzen zu können. Es bleibt noch ein Einwand anderer Art zu entkräften übrig: das Fehlen eines speziellen Kapitels über die Methodologie sprachwissenschaftlicher Forschung im Bereich der Semantik. Ich habe nicht darum auf solche theoretische Erörterungen verzichtet, weil meine Arbeit in erster Linie der Konzeption der p h i l o l o g i s c h ausgerichteten Wortmonographie verpflichtet ist, sondern weil es mir recht müßig erscheint, wenn in einer jeden semantischen Untersuchung die Auseinandersetzung um die 1931 von J . Trier® begründete Wortfeldtheorie immer wieder von neuem aufgerollt wird. Über das hinaus, was in den theoretischen Einleitungen zu den Untersuchungen von E. Oksaar1®, I. Rosengren11 und L. Vgl. darüber U. Pretzel, Die Sammlungen des deutschen Wortschatzes, in: Jahrbuch der deutschen Sprache 2, Leipzig 1944, S. 5 5 — 6 6 ; R. Kienast und U. Pretzel, Das mittelhochdeutsche Wörterbuch, in: Das Institut für deutsche Sprache und Literatur. Vorträge gehalten auf der EröfFnungstagung, Berlin 1954, S. 9 7 — 1 2 3 ; G. Schieb, Eneide-Ausg., Bd. III: Wörterbuch, Einleitung S. I X — X I I . * J. Trier, Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes I (Germ. Bibl. II 31), Heidelberg 1931. 10 E. Oksaar, Semantisdie Studien im Sinnbereich der Schnelligkeit (Stockholmer Germanistische Forschungen 2), Stockholm 1958, S. 1—20. 11 I. Rosengren, Semantisdie Strukturen. Eine quantitative Distributionsanalyse einiger mhd. Adjektive (LGF38),Lund—Kopenhagen 1966, S. 9 — 1 8 . 8
Einleitung
6
Seiffert 12 zusammengetragen ist, hätte ich kaum Neues zu sagen gehabt — außer ich hätte auf die neuesten Bestrebungen auf dem Gebiete der generativen Semantik hingewiesen. Das Beispiel L. Seiffert zeigt zudem überdeutlich die Gefahr, daß die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung ein solches Ubergewicht bekommen kann, daß die Erforschung des gewählten Untersuchungsobjektes letztlich zu kurz kommen muß. Zu den von Marianne Ohly-Steimer 13 vorgebrachten Einwänden gegen die Anwendung der Wortfeldtheorie auf mittelalterliche Spradistufen möchte ich hier nur noch eine Überlegung grundsätzlicher Art zu bedenken geben: Wenn die Wortfeldtheorie verlangt, man müsse jedes Wort im Zusammenhang mit seinen „synonymen" Konkurrenten betrachten, so muß umgekehrt auch betont werden, daß ein einzelnes Wort nicht nur in Beziehung auf seine Bedeutungsverwandten, sondern auch im Hinblick auf seine eigene, oft sehr weit reichende Bedeutungsskala einer Spannung unterworfen ist, die bei der Anwendung der Methode J. Triers einfach nicht genügend deutlich wird, wenn die verschiedenen Synonyma dadurch abgegrenzt werden, daß man ihnen einen möglichst eindeutigen Bedeutungskern zuweist. Dadurch wird die Zahl der potentiellen Bedeutungen, die ein Wort aufweisen kann, naturgemäß eingeengt, und es werden Bedeutungsdifferenzierungen herausgearbeitet, die jeweils nur gerade f ü r die exzerpierten Texte, nicht aber f ü r eine ganze Sprachstufe Gültigkeit beanspruchen dürfen. — Wie könnte etwa eine rein „strukturalistisch" ausgerichtete Betrachtung das Nebeneinander der beiden Hauptbedeutungen von riche, ,dives' und ,potens', erklären, wo doch f ü r den Inhalt .dives' längst nur noch riche galt und f ü r ,potens' nach wie vor eine Menge anderer ,Madit'-Adjektive zur Verfügung stand? Gerade weil wir es mit literarischen Texten zu tun haben — ohne die wir f ü r das mittelalterliche Deutsdi nicht arbeiten können —, stellt sich uns immer die Frage nach den verschiedenen Stilschichten innerhalb eines Werkes, nach den Vorbildern, denen ein Autor nachfolgen wollte usw.: alles Fragen, die bei einer eingehenderen Wortuntersudiung beantwortet werden müssen, wozu aber die synchronisch-strukturalistische Methode nicht ausreicht. Die Sprache eines literarischen Werkes bildet nie ein so festes Bezugssystem, wie wir es etwa im Wortschatz eines rein bäuerlichen Mundartsprechers feststellen können. Es mögen noch einige praktische Hinweise folgen: 12
13
L. Seiffert, Wortfeldtheorie und Strukturalismus. Studien zum Sprachgebrauch Freidanks (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 4), Stuttgart 1968, S. 9—70. Marianne Ohly-Steimer, huldi im Heliand, ZfdA 86 (1955/56), S. 81—119,
S. 81 f.
Einleitung
7
1. Bei der Angabe von Belegstellen in den Formelsammlungen stehen solche aus demselben Text zwischen Punkten. Zwischen Belegstellen aus verschiedenen Texten steht ein Strichpunkt, außer dann, wenn für eine im unmittelbar vorangehenden Text zitierte erweiterte Wendung zusätzliche Stellenangaben gegeben werden sollen. In diesem Fall setzen wir auch nur einen Punkt zwischen die einzelnen Stellen. Vom nächstfolgenden Strichpunkt an beziehen sich die Belege wieder nur auf die in der Uberschrift stehende einfache Formel. 2. Bei den Quellenangaben wurde aus Gründen der leichteren Lesbarkeit auf stärker abkürzende Sigeln verzichtet. Die verwendeten Abkürzungen entsprechen dem Fachgebrauch und lassen sich anhand des Literaturverzeichnisses leicht auflösen. 3. Mnd. (und mndl.) Belege sind nicht immer von den mhd. getrennt, da sich bei unserem Wort keine großen dialektgeographische Unterschiede zeigen. 4. Kapitel 4 (Die Verwendung von riebe im Mittelhochdeutschen) und 5 ( r i c h e als Epitheton bei Gottesbezeichnungen) enthalten zu einem schönen Teil Belege aus frühneuhochdeutschen Quellen, besonders aus dem 14. und 15. Jahrhundert, häufig aber auch aus späterer Zeit. Eine gesonderte Behandlung von mhd. riche und frühnhd. reich hätte Zusammengehörendes auseinandergerissen und die Kontinuität in der Bedeutungsentwicklung nur schwer erkennen lassen. Unter .Mittelhochdeutsch' wird also in dieser Arbeit aus praktischen Gründen immer die mittelhochdeutsche Sprachepoche im engeren Sinn (ca. 1050—1350) und die erste Hälfte der frühneuhochdeutschen (ca. 1350—1500) verstanden.
2. Etymologie und Vorgeschichte des Adjektivs reich 2.0 Einleitung Die Etymologie wohl keines deutschen Wortes ist bis heute noch so umstritten wie diejenige von Reido Subst. und reich Adj. Gilt für das Adj. reich die Herkunft aus dem Keltischen im Allgemeinen als sicher, so hat man für das Subst. Reich dagegen in jüngster Zeit wieder eine rein germanische Etymologie in Erwägung gezogen, womit denn freilich die beiden Homonyma etymologisch zu trennen wären. Ganz verschieden ist auch die Grundbedeutung der beiden Wörter bestimmt worden: für das Adj. reich allein finden wir bald ,König', ,königlich', ,mächtig' oder gar .reich', und schließlich erblickte man in unserem Wort nur ein aus keltischen Personennamen abgetrenntes Element, das dann im Germanischen wieder zum Substantiv und Adjektiv aufgewertet worden sei. Die einschlägige Literatur zu unserem Problem ist außerordentlich reich, aber zu einem schönen Teil an abgelegener Stelle erschienen: so finden wir denn oft in jüngeren Publikationen Meinungen als neu vorgetragen, auf die man bei einigem Suchen auch schon bei früheren Autoren hätte stoßen können; noch häufiger sind einmal vorgetragene Erklärungsversuche einfach übernommen und so bis in die jüngsten Lehrbücher tradiert worden. Unsere Aufgabe wird so zunächst sein, die bisherigen Deutungsversuche kritisch zu sichten. Unter Einbeziehung des bis jetzt viel zu wenig berücksichtigten Namenmaterials soll anschließend versucht werden, die Vorgeschichte des Adj. reich auf der Grundlage der von führenden Historikern erarbeiteten geschichtlichen Zusammenhänge zu sehen. Ein Abschnitt über die Ausstrahlung unseres Wortes in die romanischen, baltischen und finnischen Nachbarsprachen wird uns zusätzliche Hinweise auf seine ursprüngliche Verwendung geben. Am Schluß folgen einige Bemerkungen über die Wortbildung.
Die bisherigen etymologischen Erklärungsversuche
9
2.1 Die bisherigen etymologischen Erklärungsversuche Nach der traditionellen Annahme 14 sind sowohl germ. *rik-s j *rikja- (vgl. got. reiks M. und ahd. rthhi Adj.) wie germ. *rtk-)a- N . (vgl. got. reiki, ahd. rthhi) .Reich' in der Zeit vor der Medienverschiebung 15 von den kelt. Wörtern für ,König', *rig-s (vgl. air, π , Gen. ng l e ), und .Königsherrsdiaft', *rigiom (vgl. air. rige17) übernommen worden. Eine direkte Verbindung mit den von der idg. Wurzel '"reg'- .herrschen, regieren'18 gebildeten Wörtern für .König' (vgl. lat. rex, ai. räj-) und für .Königsherrschaft' (vgl. ai. räjya-) ist aus lautlichen Gründen — an eine einzelsprachliche Ablautentgleisung wird man kaum denken können" — nicht möglich: idg. e hätte im Gotischen e, im Althochdeutschen ä ergeben müssen, wogegen sich die Vertretung ϊ nur im Keltischen findet20. 14
Vgl. etwa Fr. Kluge, Urgermanisch, Straßburg 1913, S. 6; Fr. Seiler, Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen Lehnwortes, Bd. I, Halle 1913s, S. 41; H . Hirt, Etymologie der nhd. Sprache, München 19212, S. 136; Walde-Pokorny II 365; Paul-Euling S. 414; H. Krähe, Sprache und Vorzeit, Heidelberg 1954, S. 137 f.; A. J6hannesson, Isländisches etymologisches Wörterbuch, Bern 1956, S. 1136; A. Bach, Geschichte der deutschen Sprache, Heidelberg 19658, S. 50 f.; Seebold S. 369 f.; usw. 15 An Lenition dachte nur S. Feist, Ausbreitung des idg. Sprachstammes über Nordeuropa in vorgeschichtlicher Zeit, WuS 11 (1928), S. 29—53, S. 47. Abgelehnt wurde diese Ansicht von J. Pokorny, Keltische Lehnwörter und die germ. Lautverschiebung, WuS 12 (1929), S. 303—315, S. 303. — An Lautsubstitution dachte E. Wessen, Nordiska namnstudier, UUÄ 1927, Nr. 3, Uppsala 1927, S. 36, Anm. 2 (mit weiterer älterer Lit.). " Vgl. A. Holder, Alt-celtischer Sprachschatz, Bd. II, Leipzig 1904, S. 1186; — man vgl. dazu auch kelt. O N wie Remagen < Rtgo-magus, vgl. A. Bach, Dt. Namenkunde II, 2, Heidelberg 1954, S. 47. " Vgl. A. Holder, ib. 18 Vgl. Kluge-Mitzka, S. 591. — Daß idg. ''reg'- nicht einfach ,herrschen, regieren', sondern mehr ,aufrichten, sorgen für, helfen' bedeutete, der idg. *reg'-s also auch nicht einfach als ,Monarch' im heutigen Sinne, vielmehr als ,Beschützer und Helfer, der als „mediator" auch die Beziehung mit den Göttern herstellt' aufzufassen ist, hat J. Gonda in zwei gehaltvollen Aufsätzen gezeigt: Semantisdies zu idg. reg'- „König" und zur Wurzel reg'„(sich ausstrecken", ZfvglSpr. 73 (1956), S. 151—167, und: The sacral character of ancient Indian kingship, in: The sacral kingship (Studies in the history of religions 4), Leiden 1959, S. 172—180, bes. S. 179 f. 19 So H. Hirt, vgl. Α. Walde — J. Β. Hofmann, Lat. etymologisches Wörterbuch, Bd. II, Heidelberg 1954®, S. 432 s.v. rex. — Ebensowenig wird man mit J. Franck und N. van Wijk, Etymologisch Woordenboek der Nederlandsdie Taal, s'Gravenhage 1949s, S. 548, an die Möglichkeit einer Entlehnung von got. reiks aus dem lat. rex (vgl. got. Rütna < lat. Roma) denken dürfen. 20 Eine von S. Bugge aufgestellte Gleichung lat. (nihilo) setius·. an. (ekke) sidr .(nichts desto) weniger'wird mit Recht von A. Noreen, Abriß der urgerm. Lautlehre, Straßburg 1894, S. 15, als zu vereinzelt abgelehnt.
10
Etymologie und Vorgeschichte des Adjektivs reich
Nach dieser Annahme hätten die Germanen — ähnlich wie die Balten und Slawen — nach ihrer Loslösung aus dem indogermanischen Stammesverband mit der Institution des Königtums auch die entsprechende Terminologie aufgegeben21 — und erst viel später hätten sie nach der Berührung mit den ihnen in kultureller Hinsicht überlegenen keltischen Nachbarn das Königtum wieder eingeführt und den Begriff des Königs als „etwas Neues und Imponierendes" 22 übernommen. Dabei ist nach den neueren Forschungen 23 anzunehmen, daß das keltische Königtum ursprünglich stark sakrale Züge aufgewiesen hat. Neben dieser seit dem 19. Jahrhundert allgemein anerkannten keltischen Etymologie gibt es — wenigstens für das Subst. Reith — eine andere, die Reich mit dem Verbum reichen verbindet: Schon 1691 erklärt uns Kaspar Stieler24 bei der Behandlung von reich·. „Volunt esse vocab. Reich «L verbo Reichen pertingere, exhibere, satis esse, qvod non improbamus; censemus tarnen, optim£ dici posse & regno Reich. Qvid enim eo opulentius et ditius est?" Die Zusammengehörigkeit von Reich und reich wurde also noch nicht als so offensichtlich empfunden, als daß sie Stieler nicht erst gegen die Ableitung vom Verbum reichen hätte verteidigen müssen25. 21
22 23
24
25
Vgl. O. Schräder — A. Nehring, Reallexikon der idg. Altertumskunde, 2 Bde., Berlin und Leipzig 1917—1929 2 , I S. 621. — Völlig absurd ist die weiterreichende Interpretation, ib. II S. 229: „An dem altgallischen Völkerschaftskönig erfuhren also die Germanen zuerst, was Macht und Reichtum bedeutet". — Ganz falsch ist besonders, auf Grund der Übernahme von kelt. x rig- zu schließen, die Germanen hätten vorher den R e i c h t u m nicht gekannt, da wir ja zu seiner Bezeichnung eine ganze Reihe einheimischer Ausdrücke nachweisen können, s. u. S. 99 ff. Vgl. Fr. Seiler, a . a . O . , S. 41. Vgl. J . Weisweiler, Das altorientalische Gottkönigtum und die Indogermanen, Paideuma 3 (1944), S. 112—117, bes. S. 115; M. Draok, Some aspects of kingship in pagan Ireland, in: The sacral kingship, Leiden 1959, S. 651—663; M. Dillon und Ν. Κ. Chadwick, The celtic realms, London 1967, S. 93 ff. (mit früherer Lit.). Kaspar Stieler, Der teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs, Nürnberg 1691 (Neuausg. hrsg. von St. Sonderegger, München 1968), S. 1581. Solche Bemerkungen früherer Lexikographen sind für die wortgesdiichtliche Forschung nie wertlos: zu sehr sind wir noch im Bann der im 19. Jh. von den Junggrammatikern nach rein lautgesetzlichen Gesichtspunkten aufgestellten Etymologien, die semantisch oft nicht zu befriedigen vermögen. Eine dem Lautlichen gegenüber etwas freier — und oft allzu frei! — eingestellte, dafür sachgeschichtlich so gut untermauerte etymologische Forschung, wie sie J. Trier in der Nachfolge R. Meringers seit Jahrzehnten betreibt, war als Gegenbewegung gegen die erstarrte, um eine genaue Bedeutungsentwicklung unbekümmerte Etymologie unbedingt notwendig. Sie wird vielleicht die eine oder andere im letzten Jahrhundert belächelte, weil lautlich ungenaue Etymologie wieder rehabilitieren können, und vermehrt wird
Die bisherigen etymologischen Erklärungsversuche
11
Später finden wir dann die Verbindung von Reich mit dem Verbum reichen wieder bei J. Kehrein26 und bei H. Colli tz27, der das Verbum reichen, ahd. reihhan, zuerst als Faktitivum zu ahd. rihhan erklärt und auf das Nebeneinander von nhd. Bereich und Reid} hingewiesen hat, schließlich bei K. Brugmann28, der auch got. reiks direkt aus dem Indogermanischen ableiten möchte unter der Annahme einer idg. Ablautdublette *re(i)g'- (so lat. und ai.) und *rig'~ (so germ.). Ohne seine Vorgänger zu kennen, versuchte dann audi J. Trier2', das Wort Reich in germanische Zusammenhänge einzuordnen: Die idg. Wurzel *reg'~ ,Zaun, zäunen', ,Basis mit Gerüst- und Zaunsinn'30 habe im Germanischen zahlreiche Verwandte: die alte Bedeutung sei noch ziemlich durchsichtig in ae. reced, as. racad, ahd. rachat .Gebäude, Haus', mnd. reke 1. ,Ordnung', 2. ,die im Freien sich hinziehende Hecke' (vgl. dazu lat. regio ,Grenzlinie, regere fines ,eine Grenze abstecken'); schließlich gehörten auch dazu ahd. rahha ,Rede', ahd. ruohha ,Sorge' (vgl. nhd. geruhen, ruchlos); nur westgerm. ist die Weiterentwicklung von *reg'~ zu ,rechnen, zählen'31, vgl. auch ahd. rechenon .rechnen' und »herrschen', mndl. recken auch ,herrschen, beherrschen, verwalten'32. Wenn man mit Trier33 zu der idg. Wurzel *reg'~ noch eine Dublette * r e k a n n i m m t , kann man sogar noch die Sippe von an. regin, PI. rggn ,die herrschenden Götter', ae. regn »mächtig', got. ragin ,Ratschluß' und ahd. regan- in Zusammensetzungen anschließen34. In diese im Germanischen also gut ausgebaute Gruppe hätte sich dann das kelt. *rtk- eingefügt: „Das Vorhandensein der Gruppe
28 27
28
29
30 31 32 33
34
sich die Forschung audi wieder auf die alten, v o r der „wissenschaftlichen" Periode liegenden Wörterbücher stützen, die zudem erst noch oft Belege aufweisen, die man in den späteren Wörterbüchern nicht mehr findet. J. Kehrein, Onomastisches Wörterbuch, Wiesbaden 1 8 4 7 — 1 8 5 2 , S. 330. H. Collitz, Die drei indischen Wurzeln ksi und ihre Verwandten im Griechischen, BB 18 (1892), S. 218. K . Brugmann, Grundriß der vergleichenden Grammatik der idg. Sprachen, Bd. I, Straßburg 1897 2 , S. 504 und Anm. 1 ; — übernommen von FalkTorp II 898 s. v. Rig. J. Trier, Vorgeschichte des Wortes ,Reich', Nachr. d. A k a d . d. Wiss. in Göttingen 1943, S. 535—582. Vgl. J. Trier, a. a. O., S. 544. Ib., S. 548. Ib., S. 565. Nach J. Trier, a. a. O., S. 561 f., wäre die Bedeutung ,Zaun, zäunen' schon in der idg. Wurzel 32er- (in der Formulierung E. Benvenistes) enthalten. Vgl. dazu J . Weisweiler, in: Maurer-Stroh, Dt. Wortgeschichte I, S. 76; von Walde-Pokorny wird regin usw. zu asl. rokt ,bestimmte Zeit, Ziel' (vgl. russ. rok ,Schicksal, Jahr, Termin') und asl. rek