Das Osmanische Reich: Grundlinien seiner Geschichte 9783863128135

Binnen zweier Jahrhunderte entwickelte sich eines der zahlreichen anatolischen Kleinfürstentümer zu einer Großmacht, die

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Zur Wiedergabe osmanisch-türkischer Eigennamen und Wörter
I. Einleitung
1. Türkentum, Türkei, Osmanisches Reich
2. Der Islam
II. Die Anfänge der Türken
III. Die Seldschukenzeit
1. Großseldschuken und anatolische Seldschuken
2. Die kleinasiatischen Emirate
IV. Entstehung und Anfänge des Osmanenstaates
1. Die Vorgänger der Dynastie Osman
2. Vom Emirat zum Sultanat
3. Timur. Die zeitweilige Auflösung des Osmanenstaates
V. Die osmanische Großmacht
1. Die Konsolidierung des Osmanenstaates
2. Von der Lokalmacht zur Großmacht
3. Vom Sultanat zum Kalifat
VI. Staat und Gesellschaft zur Blütezeit des Osmanischen Reiches
1. Staat, Sultan, Zentralverwaltung
2. Die Territorialverwaltung
3. Das Militärwesen
4. Wirtschaft und Gesellschaft
VII. Die osmanische Weltmacht
1. Die Ära Süleymans des Prächtigen
2. Der Beginn des Verfalls
3. Die Verschärfung der Krise am Ende des 16. Jahrhunderts
4. Der große Celali-Aufstand
VIII. Der Niedergang des Osmanischen Reiches
1. Die Zeit der 'Weiberherrschaft'
2. Konsolidierungsversuch unter den Köprülü-Wesiren
3. Die Niederlage bei Wien 1683 und ihre Folgen
4. Die 'Tulpenzeit'
5. Der Verlust der Großmachtstellung
IX. Die Reformzeit
1. Die Heeresreform, die Beseitigung der feudalen Anarchie und das Ende des Timar-Systems
2. Die 'Neuordnung' (Tanzimat)
3. Die Verfassung von 1876
4. Der Berliner Kongreß und Abdülhamits Alleinregterung
5. Der Staatsbankrott
X. Die Jungtürken
1. Die Anfänge der jungtürkischen Bewegung
2. Die Jungtürken an der Macht
3. Der Tripoliskrieg und die Balkankriege
XI. Der Untergang des Osmanischen Reiches
1. Das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg
2. Das Ende des osmanischen Sultanats – die Anfänge der neuen Türkei
Literaturhin weise
Zeittafel
Übersichten
1. Stammbaum der Osmanensultane
2. Die wichtigsten anatolischen Emirate
3. Die Zentralorgane des Osmanischen Reiches im 16. Jh.
4. Grundbesitzverhältnisse im Osmanischen Reich im 16. Jh.
5. Struktur der osmanischen Landstreitkräfte im 16. Jh.
6. Die Phasen des osmanischen Feudalismus
Karten
1. 'Urheimat' und Ausbreitung der Türkvölker
2. Das Reich der Großseldschuken
3. Die anatolischen Seldschuken
4. Die anatolischen Emirate um 1355
5. Die Expansion des Osmanenstaates bis Timur
6. Die Expansion des Osmanischen Reiches von 1413 bis zum Anfang des 16. Jh.
7. Territorialeinteilung des Osmanischen Reiches zu Beginn des 17. Jh.
8. Das Osmanische Reich um 1800
9. Der osmanische Staat nach dem Vertrag von Sevres 1920
Termini technici zur Geschichte des Osmanischen Reiches
Thematische Verweise
Register
Personen
Ortsnamen, Länder, Völker und geographische Begriffe
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Das Osmanische Reich: Grundlinien seiner Geschichte
 9783863128135

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JOSEF MATUZ

DAS OSMANISCHE REICH Grundlinien seiner Geschichte

7. Auflage

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 7. Auflage 2012 (unveränderter Nachdruck der 4., bibliographisch ergänzten Auflage 2006) © 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Covergestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Coverbild: Süleyman II., der Prächtige. Venezianisches Gemälde um 1530. Foto: picture-alliance/akg-images Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-25350-0 Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Primus Verlag Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Umschlagabbildung: Süleyman II. (der Prächtige) mit Wache, zeitgenössische Miniatur; © akg-images www.primusverlag.de

ISBN 978-3-86312-326-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73090-2 (für Mitglieder der WBG) eBook (epub): 978-3-534-73091-9 (für Mitglieder der WBG) eBook (PDF): 978-3-86312-812-8 (Buchhandel) eBook (epub): 978-3-86312-813-5 (Buchhandel)

Meinem Onkel

J osef Koväcs

INHALT Vorwort

X

Zur Wiedergabe osmanisch-türkischer Eigennamen und XIII

Wörter . I. Einleitung 1. Türkentum, Türkei, Osmanisches Reich

1

2. Der Islam

3

II. Die Anfänge der Türken III. Die Seldschukenzeit 1. Großseldschuken und anatolische Seldschuken 2. Die kleinasiatischen Emirate

IV. Entstehung und Anfänge des Osmanenstaates 1. Die Vorgänger der Dynastie Osman 2. Vom Emirat zum Sultanat .

9 14 14 19 27 27 29

3. Timur. Die zeitweilige Auflösung des Osmanen-

staates V. Die osmanische Großmacht 1. Die Konsolidierung des Osmanenstaates 2. Von der Lokalmacht zur Großmacht 3. Vom Sultanat zum Kalifat . VI. Staat und Gesellschaft zur Blütezeit des Osmanischen Reiches 1. Staat, Sultan, Zentralverwaltung . 2. Die Territorialverwaltung 3. Das Militärwesen 4. Wirtschaft und Gesellschaft

VII. Die osmanische Weltmacht . 1. Die Ära Süleymans des Prächtigen

44 49 49 57 74

84 84 94 98 104 115 115

VIII

Inhalt 2. Der Beginn des Verfalls

132

3. Die Verschärfung der Krise am Ende des 16. Jahr-

hunderts 4. Der große Celali-Aufstand

VIII. Der Niedergang des Osmanischen Reiches 1. Die Zeit der 'W eiberherrschaft' 2. Konsolidierungsversuch unter den Köprülü-Wesiren 3. Die Niederlage bei Wien 1683 und ihre Folgen 4. Die 'Tulpenzeit' 5. Der Verlust der Großmachtstellung IX. Die Reformzeit . 1. Die Heeresreform, die Beseitigung der feudalen Anarchie und das Ende des Timar-Systems 2. Die 'Neuordnung' (Tanzimat) . 3. Die Verfassung von 1876 . 4. Der Berliner Kongreß und Abdülhamits Alleinregterung . 5. Der Staatsbankrott X. Die Jungtürken . 1. Die Anfänge der jungtürkischen Bewegung 2. DieJungtürken an der Macht . 3. Der Tripoliskrieg und die Balkankriege XI. Der Untergang des Osmanischen Reiches . 1. Das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg 2. Das Ende des osmanischen Sultanats- die Anfänge der neuen Türkei

137 159 165 165 179 183 191 198 209 209 224 232 238 245 249 249 251 254 262 262 269

Literaturhinweise

279

Zeittafel

285

Übersichten

311

1.Stammbaum der OsmanensultaneS. 312.-2. Die wichtigsten

anatolischen EmirateS. 315.-3. Die Zentralorgane des Osma­ nischen Reiches im 16. Jh. S. 316.-4. Grundbesitzverhältnisse im Osmanischen Reich im 16. Jh.S. 318.-5.Struktur der osma­ nischen Landstreitkräfte im 16. Jh. S. 319. - 6. Die Phasen des osmanischen Feudalismus S. 320.

Inhalt

Karten .

IX 321

1. 'Urheimat' und Ausbreitung der Türkvölker S. 323.- 2. Das

Reich der Großseldschuken S. 324. - 3. Die anatolischen Sel­ dschuken S. 325.-4. Die anatolischen Emirate um 1355 S. 326.5. Die Expansion des Osmanenstaates bis Timur S. 327.-6. Die

Expansion des Osmanischen Reiches von 1413 bis zum Anfang des 16. Jh. S. 328. - 7. Territorialeinteilung des Osmanischen Reiches zu Beginn des 17. Jh. S. 329.-8. Das Osmanische Reich um 1800 S. 330.-9. Der osmanische Staat nach dem Vertrag von Sevres 1920 S. 331.

Termini technici zur Geschichte des Osmanischen Reiches

333

Thematische Verweise

341

Register

343

Personen

343

Ortsnamen, Länder, Völker und geographische Begriffe

348

VORWORT Nach dem ersten Erscheinen von Josef Matuz' Buch "Das Os­ manische Reich" bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1985 entwickelte es sich schnell zu einem Standardwerk, das nun seit zwei Jahrzehnten bei Historikern, aber auch in einem breiteren Kreis interessierter Leser ungebrochene Aufmerksamkeit findet. Über Jahre war das Werk eine der wenigen deutschsprachigen Ar­ beiten über das Osmanische Reich. Aber auch im Zuge eines wach­ senden Interesses an der Türkei und ihrer Geschichte- geschuldet der türkischen Migration nach Deutschland und Europa und der EU-Annäherung des Landes- und der Veröffentlichung weiterer Einführungen in die osmanische Geschichte konnte Matuz' Werk seine Stellung als eine der fundiertesten und zugleich lesbarsten Arbeiten zum Thema behaupten. Die nun vorliegende Neuauflage trägt diesem Umstand Rechnung. Die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich ist für den Zugang zur modernen Türkei, zu ihrem Selbstverständnis, zur Ein­ schätzung ihrer politischen und gesellschaftlichen Entwicklungs­ chancen wie auch ihrer Reformblockaden unerlässlich. Die For­ mierung eines türkischen Nationalstaates als Versuch der politi­ schen Einigung einer heterogenen Bevölkerung ist ein Prozess mit einer Reihe von Verwerfungen und bis heute nicht endgültig ge­ lungen. Die Bevölkerung der Türkei ist in ethnischer und religiöser Hinsicht vielfältig. Diese Vielfalt ist größtenteils das historische Erbe des Osmanischen Reiches. In der Türkei leben heute Angehö­ rige beziehungsweise Nachfahren von über zwanzig sprachlichen Minderheiten. Beachtet man, dass sich einzelne Gruppen noch wei­ ter nach religiöser beziehungsweise konfessioneller Zugehörigkeit differenzieren, erhöht sich die Zahl auf über vierzig. Über lange Jahre hat die Angst vor ethnischem und religiösem Separatismus die Entwicklung einer nachhaltig pluralen Gesellschaft in der Türkei behindert. Matuz' Arbeit führt uns aus dem Osmanischen Reich hin zur Entstehung der modernen Türkei und arbeitet die viel­ schichtigen Bezüge zwischen osmanischer Tradition und Bildung eines türkischen Nationalstaates heraus, was sie von vielen anderen Beiträgen zum Thema deutlich abhebt.

Vorwort

XI

Die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich ist aber nicht nur unerlässlich für das Verständnis der modernen Türkei, sondern auch mit Blick auf die türkische Migration nach Deutschland. Ihre ethnisch-kulturelle Heterogenität, eine Reflexion der Bevölke­ rungsmischung der Türkei auf die europäischen Aufnahmestaaten, ist der europäischen Bevölkerung bisher kaum bewusst - "die" Türken gibt es nicht. Die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich ist heute auch deshalb gewinnbringend, weil es als Vielvölkerstaat mit 72 eth­ nisch-kulturellen Gruppen in einiger Hinsicht viele heutige He­ rausforderungen von Entgrenzung und Globalisierung abbildet. Vor der Folie der Debatte um die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa macht Matuz' Werk auch eines deutlich: Das Osmanische Reich als Vorgänger der Republik Türkei war über Jahrhunderte ein europäischer Akteur ersten Ranges. Die Beschäftigung mit der europäischen Geschichte kann nicht ohne Einbeziehung des Os­ manischen Reiches erfolgen, das 620 Jahre auch europäischer Ge­ schichte abbildet, aber in der europäischen Historiographie noch immer weitgehend auf die Belagerung Wiens reduziert wird. Die bis heute große Bedeutung von Matuz' Arbeit dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass er der Entwicklung des Islams im Osmanischen Reich breiten Raum beimisst. Insbesondere nach dem 11. September 2001 und den Kriegen in Afghanistan und dem Irak scheint das Verhältnis von Islam und Westen zunehmend kon­ frontativ- zugleich hat sich in einiger Hinsicht aber auch das In­ teresse der westlichen Öffentlichkeit am Islam und an den Musli­ men gesteigert. Die Nachfrage nach fundierten Informationen zum Islam und seiner Entwicklung ist deutlich gestiegen, und der vorliegende Band leistet einen wichtigen Beitrag zur Befriedigung dieser Nachfrage - und damit auch einen Beitrag zur Verständi­ gung zwischen Islam und Westen. Denn das Osmanische Reich kann nicht zuletzt auch als positives Beispiel für die interreligiöse Koexistenz gedeutet werden. Übrigens ist es auch wünschenswert, dass angesichts der großen Zahl türkeistämmiger Kinder in deutschen Schulen der Ge­ schichtsunterricht in weit größerem Ausmaß auch die Geschichte des Osmanischen Reiches - wie natürlich auch die Historiogra­ phien anderer Herkunftsländer- einbezieht. Für die Unterrichts­ entwicklung wäre der vorliegende Band eine wichtige Grundlage. Josef Matuz war ein intimer Kenner der Türkei und ihrer Ge­ schichte und insbesondere durch seine Sprachkenntnisse wie kaum

XII

Vorwort

ein europäischer Historiker vor ihm befähigt, anhand osmanischer Originalquellen zu forschen. Dies macht bis heute die Stärke seiner Arbeit und die große Qualität des vorliegenden Bandes aus.

Faruk Sen

ZUR WIEDERGABE OSMANISCH-TÜRKISCHER EIGENNAMEN UND WÖRTER Zur Wiedergabe osmanisch-türkischer Eigennamen und Fach­ ausdrücke wird das moderne türkische Lateinalphabet verwendet. Geographische Namen, die im Deutschen eine gängige Form haben, werden in dieser Form wiedergegeben. Die meisten Buch­ staben haben im Türkischen dieselbe Aussprache wie im Deut­ schen, nur die folgenden weichen davon erheblich ab: a c

langes a -



g

t

-

; s

-



u

V

-

y z

=

dt. dsch dt. tsch dt. j in hochvokalischen Wörtern; in tiefvokalischen Wör­ tern verschwindet es in der Aussprache bei gleichzeitiger Verlängerung des vorangehenden Vokals dt. i; erscheint auch als Großbuchstabe, dann geschrieben: i dumpfer i-Laut, gleicht dem russischen hi; als Großbuchstabe geschrieben: I wie in frz. 'journal' dt.ß dt. sch langes u dt. W dt.j stimmhaftes dt. s, wie in 'Hase'

Betont wird meist die letzte Silbe. Die arabischen und persischen Eigennamen werden generell dem Transkriptionssystem des Duden entsprechend zitiert.

I. EINLEITUNG 1.

Türkentum, Türkei, Osmanisches Reich

Ist heute die Rede von 'den Türken'!, so denkt man dabei land­ läufig an die über vierzig Millionen Bewohner der heutigen Repu­ blik Türkei, deren Gebiet Thrazien, den äußersten Südosten Euro­ pas, und Anatolien, auch Kleinasien genannt, umfaßt. Diese Auf­

fassung wird jedoch den ethnischen Gegebenheiten nicht ganz gerecht. Denn Türken, d. h. Bevölkerungsgruppen, die eine Türk­ sprache sprechen, leben auch außerhalb und z. T. sogar von den' heutigen Staatsgrenzen der Türkei sehr weit entfernt. Die meisten außerhalb der Türkei lebenden Türkvölker sind in der UdSSR be­ heimatet: insgesamt über zwanzig Millionen. Eigene Unionsrepu­

bliken bilden die Siedlungsgebiete der Usbeken, der Türkmenen, der Kasachen und der Kirgisen in Zentralasien sowie der Nordaser­ beidschaner in Transkaukasien. Andere Türkvölker der Sowjet­ union 2 leben je nach ihrer Bevölkerungszahl in Autonomen Repu­ bliken, Autonomen Gebieten bzw. Nationalen Bezirken. Eine

größere Anzahl Türken gibt es außerdem in Iran, die meisten von ihnen in der Landschaft Südaserbeidschan; aber auch im südlichen Persien und im Nordosten dieses Landes sind türkisch sprechende Bevölkerungsteile ansässig. In der Volksrepublik China ist der An­ teil der türkisch sprechenden Bevölkerung ebenfalls bedeutend, vor allem in Ostturkestan. Aber auch in Polen, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Griechenland, auf Zypern, in Syrien, im Irak und in Afghanistan gibt es mehr oder weniger bedeutende türkische Mino­ ritäten. Die Sprachen der meisten dieser Türkvölker stehen dem Türkeitürkischen, das die Bewohner der Türkei sprechen, recht 1

Die Etymologie ist unsicher; nach der am meisten verbreiteten An­

nahme ist von einer ursprünglichen Bedeutung 'mächtig'/'stark' auszu­ gehen. 2

Unter ihnen verschiedene Volksgruppen, die mit Bezug auf besondere

sprachliche Verwandtschaft (sie alle gehören der sog. kiptschakischen oder nordwestlichen Gruppe der türkischen Sprachen an) unter dem Namen 'Tataren' zusammengefaßt werden; hierher gehören u. a. die Kasan- und die Krimtataren.

Einleitung

2

nahe; der Unterschied ist nicht größer als etwa derjenige der ver­ schiedenen deutschen Dialekte untereinander.3 Eine häufig angenommene Verwandtschaft der Türksprachen mit den mongolischen bzw. mandschu-tungusischen Sprachen - zu­ sammenfassend werden diese Sprachgruppen als altaische Sprach­ familie bezeichnet -läßt sich kaum nachweisen. Allerdings besteht eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit unter diesen 'altaisch' genann­ ten Sprachen, weil die wichtigsten grammatischen Verhältnisse in ihnen durch Suffixe ausgedrückt werden (Agglutination). Auf noch unsicheren Füßen steht die Hypothese von einer Verwandtschaft der 'altaischen' Sprachen mit den ebenfalls agglutinierenden 'urali­ schen' Sprachen, zu deren wichtigstem Zweig, der finnisch-ugri­ schen Sprachfamilie, u. a. das Finnische und das Ungarische ge­ hören. Es ist nicht unsere Aufgabe, im Rahmen dieses Bandes die Vergangenheit sämtlicher Türkvölker zu berücksichtigen. Wir be­ schränken uns auf die Geschichte des Osmanischen Reiches, des zweifellos bedeutendsten Staatswesens, das ein Türkvolk im Ver­ lauf der Geschichte zustande brachte. Die Geschichte der Türki­ schen Republik, des Nachfolgestaates des Reiches der Osmanen, soll in einem eigenen Band behandelt werden. Im Gegensatz zu der auf nationaler Grundlage organisierten Republik Türkei hat das Osmanenreich nicht nur von Türken be­ siedelte Gebiete umfaßt: Auch eine Reihe von anderen Völkern, namentlich Araber, Balkanslawen, Griechen, Rumänen, Ungarn, Armenier, lebten kürzere oder längere Zeit unter der Herrschaft des Reiches der Osmanen. Es versteht sich, daß diese Völker nur in dem Maße berücksichtigt werden können, als sie für den Geschichtsver­ lauf des Gesamtreiches von Bedeutung sind. Die in Europa früher wie heute häufig verwendete Bezeichnung 'Türkei' für das Osmani­ sche Reich ist daher nicht korrekt, auch die Osmanen selbst haben ihr Reich nie so bezeichnet.

3

Nur die Sprachenzweier größerer Türkvölker weisen eine erhebliche

Abweichung vom Türkeitürkischen auf: die der Jakuten und die der Tschuwaschen.

Der Islam 2.

3

Der Islam

Die meisten der gerade erwähnten Türkvölker4- ob in Europa oder Asien - nahmen im Laufe ihrer Geschichte die Religion des Islams an. Das gilt auch für die osmanischen Türken: Ihre historische Entwicklung, der Aufbau ihres Staatswesens, ihre Sozialordnung und Kultur waren vom Islam in hohem Maße geprägt. Es ist daher angebracht, an dieser Stelle vorwegnehmend einige Grundzüge die­ ser Religion in Erinnerung zu rufen, soweit sie zum Verständnis des hier zu schildernden Geschichtsverlaufs erforderlich sind. Die Religion des Islams entstand im 7. nachchristlichen Jahrhun­ dert auf der arabischen Halbinsel. Sie wurde von Mohammed, dem Gatten einer reichen Händlerirr aus Mekka, gestiftet, 5 der hinfort als der Prophet der von ihm verkündeten Religion verehrt wurde. Die Religionsstiftung verlief indessen nicht ohne Widerspruch: Mohammed wurde von seinen 'heidnischen' (genauer: polytheisti­ schen) Mitbürgern in Mekka feindselig behandelt. Daraufhin ent­ schlpß er sich, samt seiner kleinen Anhängerschaft nach Medina zu ziehen; so geschehen am 15. oder 16. Juli 622. Das Jahr dieser Emigration (Hidschra) wurde zum Anfangsjahr der islamischen Zeitrechnung deklariert. DerWeggang nach Medina hatte zur Folge, daß Mohammed und somit auch seine Religion aus den Gegebenheiten des alten Stam­ mesrahmens ausgegliedert wurden, an dessen Stelle nunmehr die Gemeinschaft der islamischen Gläubigen trat. Dieser Umstand be­ deutete für den Islam, nicht auf die Rolle einer nationalen Religion, d. h. einer Religion für nur ein auserwähltes Volk, eingeschränkt zu werden; er eröffnete für ihn die Möglichkeit, sich zu einer Univer­ salreligion zu entwickeln, die sich bis nach Indien, Indonesien, ja bis nach China und zu den Philippinen, aber auch in Nordafrika und Teilen Süd- und Südosteuropas ausbreiten konnte. Hinzu kommt, daß der Islam bei seiner Ausgestaltung als Religion wich­ tige Glaubenselemente aus dem Judentum und Christentum in sich aufnahm, was für seine Verbreitung ebenfalls förderlich war. Die Religion des Islams ist streng monotheistisch; nach seiner 4

Von den bedeutenderen Türkvölkern sind nur die Jakuten und die

Tschuwaschen nicht islamisiert worden. 5

Nach islamischer Auffassung hat Mohammed jedoch keine neue Reli­

gion begründet, sondern lediglich die 'verfälschten' Lehren der Juden und Christen richtiggestellt.

Einleitung

4

Lehre gibt es nur einen einzigen, ewigen, allwissenden und allmäch­ tigen Gott (Allah), der auch die Welt erschaffen hat. Der Islam hält das Christentum für nicht rein monotheistisch, vor allem wegen seiner Trinitätslehre und der Vergöttlichung Jesu Christi. Nichts­ destoweniger wird Jesus als -ein sehr wichtiger -Prophet aner­ kannt, wenngleich er in seiner Bedeutung für den Islam nicht mit Mohammed, dem 'Siegel' der Propheten, d. h. dem letzten und zu­ gleich größten Gottesgesandten, zu messen ist, ohne daß Moham­ med göttliche Eigenschaften zuerkannt würden. Das Weltbild des Islams ist hauptsächlich dem Judentum bzw. Christentum entlehnt: Vorherbestimmung, Auferstehung und Jüngstes Gericht, Paradies und Hölle sind hier die wichtigsten Ele­ mente. Im Ringen zwischen Gut und Böse sind ebenfalls Engel und Teufel vertreten, zu denen sich allerdings gute und böse Geister, die sog. Dschinnen gesellen, welche den vorislamischen Glaubens­ vorstellungen der arabischen Stammeskulte entstammen. Die heilige Schrift des Islams ist der-in Suren ( Kapitel) ein­ geteilte-Koran ( Lesung, Lesestück, das Buch). Er enthält die göttlichen Offenbarungen, die der Prophet Mohammed bei seinen Visionen empfangen haben soll, aber auch Bestimmungen zur isla­ mischen Gesellschaftsordnung sowie zu den Pflichten des einzelnen Gläubigen. =

=

Da der Koran jedoch-schon aus Gründen seines doch begrenz­ ten Umfangs -nicht sämtliche Probleme des tagtäglichen Lebens regeln konnte, wurden bei der Lösung von Zweifelsfällen zusätzlich Mohammeds sonstige Äußerungen und Taten (Sunna) als Vorbilder herangezogen. Diese Sunna des Propheten wurde durch glaub­ würdige Gewährsmänner tradiert, ihre Überlieferung (Hadith) in großen Sammelwerken erfaßt; sie bildet zusammen mit dem Koran die Hauptgrundlage des islamischen Religionsgesetzes. Der starke Konservatismus, der dem Islam innewohnt, ist auf das Prinzip des taklid ('Nachahmung') zurückzuführen. Während in den ersten beiden Jahrhunderten des Islams die Religionsgelehrten die Möglichkeit hatten, Koran und Sunna in eigener Verantwortung zu interpretieren und in bestimmten Fragen eigenständige Meinun­ gen zu vertreten - diese selbständige Meinungsbildung wird als idschtihad bezeichnet-, vertrat bereits im 8. Jh. n. Chr. die Mehr­ zahl der islamischen Religionsgelehrten die Auffassung, die Zeit der selbständigen Koraninterpretation sei vorbei und man habe sich nun an die Entscheidungen früherer Gelehrten zu halten, sich also am taklid zu orientieren. Wurde nun doch eine Lehrmeinung oder

Der Islam

5

Entscheidung bekannt, die dazu im Widerspruch stand, so konnte sie als bid'a, als 'Neuerung', denunziert und bekämpft werden. Diese Verfahrensweise findet in den islamischen Ländern heute noch vielfach Verwendung. Das Religionsgesetz ist in erster Linie als eine Pflichtenlehre zu verstehen, wobei es für die Gläubigen, die Muslime6, fünf Hauptpflichten gibt, die als 'Säulen' des Islams bezeichnet werden. An erster Stelle steht der Glaubensbekenntnissatz: "Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Gott (Allah), und ich bezeuge, daß Mohammed der Gesandte Gottes ist." Es folgt die Verpflichtung zum Ritualgebet fünfmal am Tag. Zu diesem Ritualgebet, das vor­ zugsweise (jedoch nicht unbedingt) in einer Moschee zu verrichten ist, fordert der Gebetsrufer (Muezzin) vom Minarett her auf. Die Almosensteuer, das Fasten im islamischen Monat Ramadan (türk. Ramazan) und die Pilgerfahrt nach Mekka sind die weiteren 'Säu­ len' der islamischen Religion. Die Pilgerfahrt hat der Muslim min­ destens einmal im Leben auszuführen, soweit ihm die dafür nötigen Mittel zur Verfügung stehen. Nach der Auffassung des Islams ist ausschließlich die islamische Herrschaft rechtmäßig. Demzufolge wird die Erde zweigeteilt: in das Gebiet, das unter der Herrschaft des Islams steht (dar al-Islam, türk. darülislam ausgesprochen - 'Haus des Islams'), und in das Gebiet, in dem Nichtmuslime herrschen (dar al-harb, türk. darül­ harp- 'Haus des Krieges'). Die Muslime sind daher-allerdings kol­ lektiv und nicht als Einzelpersonen - verpflichtet, nötigenfalls mit Waffengewalt dazu beizutragen, das 'Kriegsgebiet' in islamisches Gebiet umzuwandeln. Diese Verpflichtung zum Glaubenskrieg

(Dschihad) stellt eine für expansive Bestrebungen äußerst geeignete Ideologie dar, von der auch der Osmanenstaat eifrig Gebrauch machte. Das Religionsgesetz schreibt indessen die Bekehrung der Nichtmuslime zum Islam nicht unbedingt vor. Lediglich Anhänger rein polytheistischer Kulte müssen gegebenenfalls mit Waffen ge­ zwungen werden, den Islam anzunehmen. Bekenner einer prinzi­ piell monotheistischen Offenbarungsreligion 7 wie Juden oder Chri6 Die in den Massenmedien häufig verwendete Form Moslem(s) ist -überflüssigerweise-dem Englischen entlehnt. Die Bezeichnung Moham­

medaner dagegen wird von den Muslimen selbst abgelehnt, da sie Moham­

med ja nicht vergöttlichen, wie die Christen Jesus. ,-7-Sie werden als 'Schriftbesitzer' (ahl al-kitab, türk. ehlülkitap) bezeich­ net, weil sie jm Besitz einer heiligen Schrift sind und somit zumindest über _

6

Einleitung

sten dürfen nach ihrem Glauben leben, vorausgesetzt, daß sie die Herrschaft des Islams demütig anerkennen und die Kopfsteuer ent­ richten. Wenn ein bislang islamisches Gebiet in die Hände von Nichtmuslimen fällt, so sind die in ihm lebenden Muslime nach dem Religionsgesetz verpflichtet, es zu verlassen. Nach islamischer Auffassung sind sämtliche Muslime vor Gott gleich. Es gab und gibt daher auch keinen Priesterstand, dessen An­ gehörigen eine Mittlerrolle zwischen Gott und den Gläubigen zu­ gekommen wäre. Die Imame, die Leiter der einzelnen Gemeinden, sind keine mit besonderen Weihen ausgestattete Personen, sie fun­ gieren bei den Gottesdiensten lediglich als Vorbeter und Prediger. Da in der Frühzeit des Islams weltliche Macht und geistliche Macht prinzipiell nicht getrennt waren, kam es auch nicht zur Herausbil­ dung einer religiösen Organisation, die den christlichen Kirchen vergleichbar wäre. Auch so gesehen kann nicht von einem islami­ schen 'Klerus' gesprochen werden, wenngleich dieser Terminus in den westlichen Ländern oft für die islamischen Religionsgelehrten gebraucht wird. Die Theologen (ulema) sind - zugleich Rechts­ gelehrte - entweder als Professoren an den theologischen Hoch­ schulen (medrese) tätig oder erstellen als Mufti verbindliche Rechtsgutachten anhand des Religionsgesetzes zu ihnen vorgeleg­ ten, besonders schwierigen Rechtsfällen, ohne dabei richterliche Funktionen wahrzunehmen. Die weltliche Gerichtsbarkeit obliegt den Richtern (kadi), die ebenfalls über eine theologisch-juristische Ausbildung verfügen. In der islamischen Gesellschaft fallen sämtliche Bereiche des Le­ bens unter die Bestimmungen des Religionsgesetzes. So bedeutet ja die Bezeichnung Islam 'Hingabe', nämlich die uneingeschränkte Hingabe der Gläubigen an Gott. Von den Bestimmungen für das Wirtschaftsleben sei hier nur dasWucherverbot genannt. Im priva­ ten Bereich sind das Verbot des Genusses vonWein und Schweine­ fleisch sowie das Verbot der bildliehen Darstellungen besonders hervorzuheben. Wie die islamische Kunstgeschichte zeigt, hielten sich freilich sehr viele, insbesondere schiitische Künstler nicht an diese Vorschrift. Die Eheschließung ist im Islam keine sakrale Handlung, sie wird lediglich vertraglich geregelt. Freie Muslime dürfen gleichzeitig vier Ehefrauen haben und darüber hinaus theoretisch unbegrenzt viele Elemente der Gottesoffenbarung verfügen, wenn diese auch- nach islami­ scher Auffassung - verfälscht wurde.

Der Islam

7

Sklavinnen als Konkubinen, sofern die Wirtschaftslage eines ein­ zelnen Mannes dies ermöglicht, was freilich verhältnismäßig selten ist. In den sozial schwächeren Schichten wird eine Zweitfrau in der Regel nur genommen, wenn der Erstehe keine Kinder- der höchste Segen für die gläubigen Muslime- entsprossen sind. Frauen dürfen hingegen zur gleichen Zeit nur mit einem einzigen Mann verheiratet sein. Sie müssen sich ihm völlig unterordnen. Die Initiative für die Ehescheidung liegt normalerweise beim Ehemann und nicht bei der Frau. Sie wird durch einfache Willensäußerung des Ehemannes vollzogen. Allerdings muß in solchen Fällen die sog. Brautgabe, zu deren Zahlung der Ehemann sich im Ehevertrag verpflichtet hat, der verstoßenen Frau zu ihrem Unterhalt ausgehändigt werden. Auch der Islam ist vom Schisma nicht verschont geblieben. Ne­ ben den orthodoxen Sunniten, zu denen auch die Türken gehören, sind als abgespaltene Richtung die Schiiten am wichtigsten. Im Ge­ gensatz zum Sunnitentum, nach dessen Auffassung das jeweils beste Glied der islamischen Gemeinde Nachfolger Mohammeds, alsoKa­

lif8, sein soll, erkennen die Schiiten lediglich die Nachkommen Alis, des Cousins und Schwiegersohnes Mohamineds, 9 als einzig

berechtigte Nachfolger des Propheten an. Die Bezeichnung 'Schii­ ten' (von: Schia, 'Partei') weist auf diese eigene Auffassung und die damit gegebene Parteinahme für Ali hin. Für die Schiiten ist Ali der erste Kalif und zugleich Imam, wie im schiitischen Sprachgebrauch der oberste Leiter der gesamten islamischen Gemeinde genannt wird.10 Seine beiden Söhne, Hasan und Husain, werden als zweiter bzw. dritter Imam verehrt. Die einzelnen Zweige der Schia unter­ scheiden sich nun dadurch, daß sie die Reihe der Imame an unter­ schiedlichen Stellen abbrechen lassen. So hat es nach der Lehre der Fünfer-Schiiten, auch Zaiditen 11 genannt, insgesamt fünf, nach Meinung der Siebener-Schiiten, zu denen die Ismailiten 12 gehören, sieben, den Zwölfer-Schiiten, der größten schiitischen Gemein­ schaft zufolge zwölf Imame gegeben. Die Zwölfer-Schia wurde An­ fang des 16. Jahrhunderts Staatsreligion in Persien und bildete auch für die Herrschaft der Osmanen im östlichen Anatolien eine ernst8

Von arab.

chalifa

'Stellvertreter'/,Nachfolger'.

Ali war mit Fatima, der Tochter des Propheten, verheiratet. 10 In dieser Bedeutung nicht mit den Leitern der einzelnen islamischen

9

Gemeinden zu verwechseln, welche ebenfalls 11

Imame

genannt werden.

So genannt nach ihrem Stammvater, Imam Zaid ihn Ali ihn al-Husain.

12 Die Bezeichnung rührt vom siebenten Imam, Ismail, einem Sohn von Dschafar as-Sadik her.

Einleitung

8

zunehmende Gefahr. Nach schiitischer Lehre wird der jeweils letzte Imam in der Reihe nicht für tot, sondern für 'entschwunden' gehalten und am Ende der Zeiten als Mahdi- eine Entsprechung zur jüdischen Messias- Vorstellung - wiedererwartet. Die landläufige Auffassung, wonach der Hauptunterschied zwischen Sunniten und Schiiten darin bestehe, daß letztere die Sunna nicht anerkennen und sich nur auf den Koran stützen, ist nicht stichhaltig. Nur solche Oberlieferungen erkennen die Schiiten nicht als authentisch an, die ihren Lehrsätzen widersprechen; außerdem wenden sie für die Le­ gitimierung der Sunna eigene Maßstäbe an: Die Oberlieferung muß bei ihnen auf Mitglieder der Familie Mohammeds zurückzuführen sem. Bei den Sunniten gibt es vier Rechtsschulen, die voneinander lediglich in juristischen Einzelfragen sowie im kultischen Bereich hin­ sichtlich der Riten abweichen; sie erkennen sich gegenseitig an. Die Türken gehören im allgemeinen der sog. banefitiseben 13 Rechts­ schule an, während dieschafiitische im syrisch-libanesischen Raum, in Unterägypten, in Südarabien und in Südasien, und die malikiti­ sche Rechtsschule in Oberägypten und in Nordwestafrika vor­ herrscht. Die kleine, aber um so strengere hanbalitische Rechts­ schule ist in Syrien, dem Irak und auf der Arabischen Halbinsel vertreten, wo übrigens auch die aus dem Hanbalitentum hervorge­ gangene wahhabitische Bewegung beheimatet ist. Während die sunnitische Orthodoxie eine vernunftbetonte, nüch­ terne und stark äußerlich und juristisch ausgeprägte Religiosität entwickelt hat, gibt es im Bereich des Islams auch heterodoxe Ten­ denzen. Hierzu gehören außer der Heiligenverehrung und den ma­ gischen Vorstellungen des Volksglaubens die islamische Mystik

(tasawwu[J, die vor allem für die Glaubenswelt der Derwischorden wichtig ist. Wenngleich dieses sog. Sufiturn starke Verwandtschaft zu ähnlichen Tendenzen in der Schia aufweist, wird es selbst von der Orthodoxie als Bestandteil des Sunnitenturns geduldet.

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So genannt nach dem 767 verstorbenen Rechtsgelehrten Abu Hanifa,

der diese Rechtsschule gründete. Die anderen Rechtsschulen sind ebenfalls nach ihren jeweiligen Gründern asch-Schafii, Malik ibn Anas bzw. ibn Hanbal benannt.

II. DIE ANFÄNGE DER TÜRKEN Die Geschichte der Türken im weiteren Sinne des Volksnamens läßt sich nur bis zum 6. Jh. unserer Zeitrechnung zurückverfolgen. Hinsichtlich der berichtslosen Zeit davor sind wir einstweilen auf Vermutungen angewiesen. Die gemeinsame 'Urheimat' der türki­ schen Völker dürfte sich auf das mittelasiatische Gebiet erstrecken, das von den Gebirgen Altai und Sajan an der sibirisch-mongoli­ schen Grenze, Tienschan an der Grenze zwischen Sowjetisch- und Chinesisch-Turkestan, Altyn-Tag an der Nordwestgrenze Tibets und Chingan in Nordostchina eingefaßt wird. Von hier aus sollen die verschiedenen Türkvölker zu ihren späteren Wohnsitzen gezo­ gen sem. Hypothesen, wonach die europäischen oder die asiatischen Hunnen, letztere in den chinesischen Annalen unter der Bezeich­ nung Hiung-nu erwähnt, Türken gewesen seien, lassen sich man­ gels Überlieferung nicht nachweisen. Das gleiche gilt für die]uan­ ]uan, die asiatischen und auch für die europäischen Awaren. So beginnt die eigentliche schriftlich festgehaltene Geschichte der Türken- T'u-küe werden sie in der betreffenden Quelle, den chine­ sischen Annalen, genannt- mit dem Jahr 552 n. Chr., als das erste - mit Sicherheit türkische - Staatswesen gegründet wurde. Es han­ delte sich dabei natürlich nur um einen mehr oder weniger losen Verband von Nomadenstämmen. Dieser erste türkische 'Staat' zerfiel jedoch bald nach seiner Gründung in einen östlichen Teil, der das Gebiet der späteren Mongolei umfaßte, und einen westli­ chen, der bis zum Oxus, dem heutigen Amu-Darja, und sogar zum Kaspischen Meer reichend mit Byzanz nicht nur eifrigen Seiden­ handel pflegte, sondern mit dem Kaiserreich regelrechte diplomati­ sche Beziehungen unterhielt. Im 7. Jh. gerieten beide 'Teilstaaten' unter chinesische Oberhoheit. 682 errichteten die östlichen Türken - auc h Kö k türk en 1 genannt- erneut ein Reich, das sich vom chinesi­ schen Einfluß aber nicht ganz befreien konnte. Das Zentrum dieses Staatswesens lag im nördlichen Teil der heutigen Mongolischen 1 D. h.

'blaue'/'himmlische' Türken,

wobei der Bedeutungsaspekt

'himmlisch' zweifellos den Sinn von 'erhaben' hat.

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Volksrepublik, am Orchon2, einem Nebenfluß der Selenga. Dieser alttürkische Staat wurde etwa um die Mitte des 8. Jh. durch den Einfall mittelasiatischer Türkvölker vernichtet. An die Stelle der Köktürken trat 744 ein anderes Türkvolk, die Uiguren, die ersten Türken, die mit einer Hochreligion in Verbin­ dung kamen: 762 nahm dieses bis dahin vermutlichschamanistische3 Türkenvolk den Manichäismus4 an. Der Staat der Uiguren bestand weniger als ein Jahrhundert: 840 wurden sie von den ebenfalls türki­ schen Kirgisen, die zuvor am oberen Jenissei lebten, aus ihrer Hei­ mat verdrängt. Die Uiguren ließen sich dann um 840-860 im Ta­ rim-Becken sowie jenseits der Gobi-Wüste in China nieder, wo sich jeweils ein neuer Staat herausbildete. Der bedeutendere hielt sich im heutigen Ostturkestan- mit Turfan5 als Mittelpunkt-, bis er 1028 von einem tibetischen Volk, den Tanguten, vernichtet wurde. Das andere uigurische Staatswesen wurde in Nordchina, etwa in jenem Gebiet errichtet, wo die heutige chinesische Stadt Kantschou liegt. In China gingen die ursprünglich nomadischen Uiguren zur seßhaf­ ten Lebensweise über. Sie vermischten sich mit der einheimischen Bevölkerung und schufen eine relativ gut entwickelte Agrarkultur. 2 Hier wurden die in spezieller Runenschrift geschriebenen sog. Or­ chon-Inschriften aufgefunden, denen wir unsere Kenntnisse über die Orchontürken zum größten Teil verdanken. 3 Anhänger einer Naturreligion also, in der eine besondere Art von Stammeszauberern, die Schamanen, durch Praktiken wie Ekstase und Gei­ sterbeschwörung versuchen, existentiell einschneidende Ereignisse wie Regen, Krieg, Krankheit, Tod usw. zu beeinflussen. 4 Von dem Perser Mani im 3. nachchristl. Jh. gegründete, heute erlo­ schene Religion, die- synkretistisch- buddhistische, jüdische, christliche und zarathustrische Lehrsätze in sich aufnahm. Der dualistischen Grund­ einstellung dieser Religion entsprechend werden uranfänglich zwei einan­ der entgegengesetzte Substanzen: Licht ( das Gute) und Finsternis ( das Böse) angenommen. Lediglich die Erkenntnis besitzt die erlösende Funktion, obwohl- trotz dieses gnostischen Prinzips - in manichäischen Glaubensvorstellungen mythologische Elemente (Götter, Dämonen) reichlich vorhanden waren. Auch die Wiedergeburt nach dem Tode gab es in der Glaubenswelt der Manichäer. Erlösendes Ziel sollte das Aufgehen im Lichtreich sein. Die Organisationsform der Gläubigen war streng hierar­ chisch. Askese, Fasten und Beichte spielten in der manichäischen Religion eine überaus große Rolle. 5 Für die Geschichte der Uiguren stellen die hier aufgefundenen türki­ =

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schen, chinesischen und iranischen sog. Turfantexte eine wichtige Quel­ lengruppe dar.

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Weltoffen und tolerant, unterhielten sie intensive Beziehungen zu den meist buddhistischen Chinesen sowie zu anderen ebenfalls buddhistischen Völkern. Infolge dieser Kontakte nahm die über­ wiegende Mehrheit bis zum 11. Jh. den Buddhismus6 an, aber auch der Manichäismus konnte fortbestehen. Ein kleinerer Teil der Uiguren bekehrte sich zum nestorianischen 7 Christentum. Die in Nordchina angesiedelten Uiguren wurden im 13. Jh. gezwungen, mit den Mongolen8 ein Vasallenverhältnis einzugehen; ihr Staat löste sich ein Jahrhundert später in Duodezfürstentümer auf, die mit der Zeit verschwanden. Zu den Türkvölkern der Vergangenheit gehören die Chasaren, die zwischen dem 6. und dem 11. Jh. in Südrußland ein bedeutendes Reich errichteten, das insbesondere im Handel zwischen dem Nor­ den und dem Orient eine wichtige Vermittlerrolle spielte. Im Cha­ sarenreich lebten neben der westtürkischen Herrscherschicht die früher dort eingewanderten Ogurenvölker, deren Sprache vermut­ lich zur Gruppe der Türksprachen gehört, die in der wissenschaft­ lichen Literatur heutzutage 'Bulgarisch-Türkisch', nach anderer Auffassung 'Chasarisch' genannt wird. In religiöser Hinsicht waren die Chasaren recht tolerant: Die jüdische Religion, das Christentum und der Islam waren bei ihnen nebeneinander vertreten. 6 Die Lehre dieser auf den meist Gautama genannten indischen Königs­ sohn Siddhartha (um 560-um 480 v. Chr.) zurückgehenden Religion, deren Bezeichnung vom Ehrentitel des Religionsstifters Buddha (der 'Erwachte', der 'Erleuchtete') herrührt, kennt keinen ewigen, allmächtigen Gott, wohl aber zahllose vergängliche Gottheiten, deren Bedeutung allerdings nicht überbewertet werden darf. Die Hauptthese des Buddhismus ist die Ver­ geltungskausalität, d. h. die Macht der Taten (Karma), die die Kette der Wiedergeburten nach dem Tode in Gang hält. Durch Selbstbefreiung von Lastern soll der einzelne sich zu immer größerer Vollkommenheit vorar­ beiten, bis das Nirvana, das Erlöschen individuellen Daseins, erreicht wird. 7 Anhänger des Nestorius (gest. 450), eines Patriarchen von Konstanti­ nopel, der die vollständige Trennung der göttlichen und der menschlichen Person (und nicht lediglich der Natur) in Jesus Christus lehrte. Der Nesto­ rianismus breitete sich bis nach China aus. 8 Es handelt sich um das gleiche, von Dschingis Chan (gest. 1227) ge­ gründete mongolische Weltreich, dessen Truppen 1241 bei Liegnitz und Mohi ihre deutsch-polnischen bzw. ungarischen Gegner und zwei Jahre später die anatolischen Seldschuken vernichtend schlugen. Dschingis Chans Mongolen werden in Europa oft Tataren genannt, obwohl letztere den Türkvölkern angehören.

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Eine wichtige historische Rolle spielten auch die Türken, die beim arabischen Vormarsch nach Transoxanien 9 in Gefangenschaft gerieten und als Beute bzw. Tribut nach Bagdad kamen, wo sie Sklaven der abbasidischen Kalifen 10 wurden. Aus diesen Türken, die sich als tüchtige Krieger erwiesen, wurden nun seit Anfang des 9. Jh. Sklaventruppen gebildet, die - ähnlich den Prätorianern in Rom - sich einen immer größeren Machtanteil sicherten. Das erste türkische Volk, das in seiner Gesamtheit den Islam an­ nahm, waren die sog. Karachaniden. DieserName ist von einem der Titel ihrer Herrscher abgeleitet, nämlich von Kara Chan, 'schwar­ zer Chan, schwarzer Herrscher'. Das ursprüngliche Siedlungs­ gebiet der Karachaniden lag am Fluß Talas in Innerasien. Nach der Annahme des Islams Anfang des 10. Jh. dehnten die Karachaniden ihr Staatsgebiet immer mehr aus, und es gelang ihnen, im Jahre 999 Buchara, die Hauptstadt der hochkultivierten iranischen Samani­ den, zu erobern. Trotzdem kann man die Karachaniden nicht schlechthin als Kulturzerstörer ansehen, denn ihnen verdanken die Türken neben anderen Kulturleistungen das älteste islamisch-türki­ sche Sprachdenkmal, einen Fürstenspiegel mit Namen 'Kutadgu

( Glücklichmachendes Wissen'). Auch der früheste türkische Philologe, der Karachanide Kaschgari, mit seiner 'Diwan'11 ge­

Bilig'

'

nannten lexikographischen Glanzleistung ist hier zu nennen. Die Karachaniden gerieten bald in Konflikt mit den Ghasnawi­ den 12, einer ursprünglich türkischen Dynastie, die später fort­ schreitend iranisiert wurde. Der bedeutendste Herrscher des Ghas­ nawidenstaates, Sultan Mahmud (997-1030) war nicht nur ein gro­ ßer Mäzen der persischen Literatur- der größte Epiker persischer 9

Zentralasiatisches Gebiet zwischen dem antiken Oxus (heute Amu­

Darja) und dem Jaxartes (heute Syr-Darja). 10

Die Herrschaftszeit der abbasidischen Kalifendynastie währte von

749 bis 1258, dem Jahr der Eroberung Bagdads durch die Mongolen. Zwar

gab es formell noch rund zweieinhalb Jahrhunderte abbasidische Kalifen in Ägypten; sie wurden jedoch völlig von den Mamluken bevormundet. Die­ sem abbasidischen Scheinkalifat setzte Selim I. mit der Eroberung Ägyp­ tens 1517 ein Ende.

11 Der Terminus Diwan hat in der islamischen Welt zwei Hauptbedeu­ tungen: 1. 'Sammlung der Gedichte eines Dichters oder der Schriften eines

Philologen' und 2. 'oberstes Verwaltungsorgan', meist Ratsversammlung eines Staatswesens oder einer Provinz.

12 So bezeichnet nach der Hauptstadt Ghasna in Afghanistan, südwest­ lich von Kabul.

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Zunge, Firdausi (gest. um 1020), hielt sich zeitweilig an seinem Hof auf -, er trug als eifriger Muslim den heiligen Krieg sogar bis nach Indien hinein. Mahmud von Ghasna hielt die Karachaniden im Zaum, bis diese von den Kara Kitai, einem mongolischen Noma­ denvolk aus China, in der ersten Hälfte des 12. Jh. unterworfen wurden.

III. DIE SELDSCHUKENZEIT 1.

Großseldschuken und anatolische Seldschuken

Die Vorgänger der Türken im Gebiet der heutigen Türkei stan­ den mit den zuletzt genannten Völkerschaften in keinerlei Verbin­ dung. Sie stammten von den Oghusen ab, einem nomadisierenden Türkvolk, das noch im 10. Jh. größtenteils in der heutigen Kasa­ chensteppe (nördlich vom Kaspischen Meer, dem Aral- und Balchasch-See) umherzog. An der Spitze eines oghusischen Stammesverbandes namens Kznzk, der weiter südlich, am unteren Lauf des Syr-Darja, nomadi­ sierte, stand ein Häuptling namens Selcuk. Dieser nahm um 970 samt seinen Untertanen den Islam an, trat in den Dienst der persi­ schen Samaniden in Buchara- ihr Staat erstreckte sich auf Ostper­ sien- und ließ sich mit seinen Leuten in der Gegend der Hauptstadt nieder. Mit der Bekehrung dieser oghusischen Kmtk zum Islam war eine Grundentscheidung für die Herausbildung des späteren Osmanenstaates getroffen. Als die Macht der hochkultivierten Samaniden durch die Kara­ chaniden im Jahre 999 gebrochen wurde, war die Zeit für die Nach­ kommenschaft des genannten Häuptlings Selcuk, für die Sel­ dschuken gekommen. Die Brüder