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German Pages 513 Year 2014
SEBASTIAN SIGLER (Hrsg.) Corpsstudenten im Widerstand gegen Hitler
Corpsstudenten im Widerstand gegen Hitler
Herausgegeben von Sebastian Sigler
Zweite, durchgesehene Auflage
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildungen: Corps Masovia in Königsberg am 14. Juni 1930 (© Wikipedia) Hakenkreuz-Fahnen am Brandenburger Tor, September 1933 (© ullstein bild – Herbert Hoffmann) Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-14498-3 (Print) ISBN 978-3-428-54498-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84498-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort zur Zweiten Auflage Etwas mehr als 70 Jahre nach dem versuchten Attentat des Grafen Stauffenberg auf Hitler ist die Frage, wie der Widerstand gegen den Nationalsozialismus strukturiert war, aktueller denn je. Nachdem noch in der Nachkriegszeit die Widerstandkämpfer häufig als Verräter angesehen wurden, sind nun Rolle und Bedeutung derjenigen, die gegen Hitler aufstanden, unstrittig. Sie gehören unter anderem zur geistig-ethischen Grundlage der heutigen Bundesrepublik. Die Generation der Enkel fragt heute freier und unbefangener denn je nach dem, was damals, vor 70 Jahren, geschah. Im Netzwerk des Widerstands waren die familiären Bindungen, die gemeinsame Internatszeit oder die Mitgliedschaft im Johanniterorden von großer Bedeutung. Doch auch die zu Studienzeiten erworbene lebensgeschichtliche Klammer durch die gemeinsame Mitgliedschaft in einem akademischen, einem „Kösener“ Corps konnte in individuellen Einzelfällen während der Zeit der NS-Diktatur Wirksamkeit entfalten – gegen eine Mehrheit, die dem Nationalsozialismus nichts entgegensetzte oder ihn sogar begrüßte. So kommt es, daß sich im näheren oder weiteren Umfeld Stauffenbergs einige der Corpsstudenten befanden, denen dieser Band gewidmet ist. Corpsstudenten im Widerstand gegen Hitler – das könnte sogar eine Fallstudie für die Struktur des gesamten widerständigen Milieus im Dritten Reich sein. Die genauere Erforschung der Zusammenhänge im Widerstand gegen Hitler steht indes noch aus. Beim hier vorliegenden Werk handelt es sich um eine Sammlung von Lebensbildern und Kurzbiographien. Diese Art, über Menschen zu berichten, die damals enormen Mut und vorbildliche Zivilcourage bewiesen haben, findet dabei zur großen Freude des Herausgebers und aller Autoren durchaus Anklang. So kann heute die zweite Auflage dieses Werkes in Druck gegeben werden. Einige sachliche Richtigstellungen gegenüber der ersten Auflage waren anzubringen, doch im Wesentlichen hat das Werk Bestand. Der Dank an Autoren, Lektoren, Korrektoren und den überaus umsichtig und hilfreich tätigen Verlag sei hiermit von Herzen erneuert. Steinhagen / München, am 1. August 2014
Sebastian Sigler
Vorwort des Herausgebers Der Widerstand im Dritten Reich, am 20. Juli 1944 schlagartig sichtbar, ist ab spätestens 1937 als dynamisches Netzwerk von Menschen faßbar. Eine der Gruppen in diesem durch die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus getragenen, aber vielfach inhomogenen Verbund bestand, soweit wir wissen, aus 38 Männern, die sich in ihrer Studentenzeit einem akademischen Corps angeschlossen hatten. Im Gesamtnetzwerk des Widerstands gab es dabei eine Vielzahl von Verknüpfungen: Verwandtschaft, Internate, kirchliches Engagement – oder auch ein Corps. Die Mehrzahl derer, die in diesem Band mit einem Lebensbild gewürdigt werden, konnte über zwei, drei oder vier verschiedene Anknüpfungspunkte im Netzwerk des Widerstandes erreicht werden und selber agieren. Die Art und Weise, wie dies geschah, verdient ausführlicher erforscht zu werden, als dies bisher geschah, denn das würde auch die Bedeutungen der sozialen Gruppen wie etwa der Corps noch genauer sichtbar machen. In dem hier vorgelegten Band sollen aber die Personen des Widerstands mit ihren individuellen Motiven vorgestellt werden. Vor allem ist es gelungen, mehrere Widerstandskämpfer, von denen dies bisher unbekannt war, einem Corps zuzuordnen. Dies wertet die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als Motivation zum Widerstand deutlich auf – analog gilt dies weit über das Corpsstudententum hinaus. Der hier vorliegende Band soll Anstoß sein, auch andernorts die Herkunft und Zusammengehörigkeit von Widerstandskämpfern genauer zu beleuchten. Ein herzlicher Dank gilt denjenigen, die zur Entstehung dieses Werkes beigetragen haben. Zunächst seien alle Autoren genannt, die mit viel Mühe und Sorgfalt die Lebensbilder ehrenamtlich erstellt haben und von denen einige Tag und Nacht dem Herausgeber mit Rat und Tat zu Seite standen. Für die Erstellung des Registers und für sorgfältiges Korrektorat sei Eva-Maria Dempf gedankt. Groß war die Geduld des Verlages mit dem Herausgeber und den Autoren, stellvertretend sei hier Heike Frank genannt. Und ohne das Wohlwollen von Dr. Florian Simon hätte es diesen Band wohl kaum gegeben. Schließlich sei, und dies ist dem Herausgeber ein besonderes Anliegen, den Spendern gedankt, die den Druck dieses Werkes ermöglicht haben. An hervorgehobener Stelle sei hier das Corps Palatia Bonn genannt; ebenso die Corps Borussia Bonn, Saxo-Borussia Heidelberg und Saxonia Göttingen. Enorme Hilfe und viel Rückenwind kamen schließlich vom Kösener Senioren-Convents-Verband und vom Verband Alter Corpsstudenten. München / Steinhagen, im Mai 2014
Sebastian Sigler
Vorwort des Ersten Vorsitzendendes Verbandes Alter Corpsstudenten, VAC Corps sind in dem Sinne unpolitisch, daß sie als Körperschaft keine politische Aussage tätigen. Das bedeutet aber nicht, daß der einzelne Corpsstudent unpolitisch wäre. Vielmehr ist er wie jeder sich seiner Verantwortung bewußte Staatsbürger angehalten, sich in den öffentlichen Angelegenheiten seines Landes zu unterrichten und sich seine Meinung zu bilden. Dieser Grundsatz gilt unangefochten seit der Stiftung der ersten Corps vor mehr als 200 Jahren. Ein Corpsstudent ist gemeinhin ein Zoon Politikon im aristotelischen Wortsinne, also ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Wesen. Daher haben Corpsstudenten seit jeher erfolgreich Netzwerke gebildet. Der wohl ausschlaggebende Grund dafür war und ist das tiefe gegenseitige Vertrauen, das durch das Kennen des anderen auch und gerade in besonders fordernden Lebenslagen – wie insbesondere der Mensur – entsteht. Und schließlich heißt Corpsstudent zu sein, sich für das Wohl der Gemeinschaft, des Ganzen, einzusetzen, verbunden mit der Mahnung, ausnahmslos dem eigenen Gewissen und den corpsstudentischen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu folgen. Dies vorausgeschickt, wird es nachvollziehbar, warum so viele Corpsstudenten sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus engagierten und sogar ihr Leben für ein „besseres Deutschland“ wagten. Für den Verband Alter Corpsstudenten stellt die Forschung und Darstellung des Wirkens von Corpsstudenten im Nationalsozialismus ein wichtiges Element dar. Denn nur gesicherte Erkenntnisse um historische Tatsachen – also positives und nicht nur vermutetes Wissen – dürfen die Grundlage für unser immerwährendes, dankbares Gedenken an unsere Widerstandskämpfer bilden und als Ansporn für kommende Generationen dienen, sich ihr Leben lang für corpsstudentische Ideale einzusetzen. Das vorliegende Werk schließt eine Lücke unserer Geschichtsforschung, denn es ist erstmalig gelungen, die Corpszugehörigkeit mehrerer Widerstandskämpfer nachzuweisen. So gilt unser Dank dem Herausgeber und den Autoren für ihre hingebungsvolle Arbeit, mit der sie einen maßgeblichen Beitrag zu dem Selbstverständnis unserer Corps geleistet haben. Möge ihr Werk die ihm gebührende Beachtung finden! Hartung Hubertiae Freiburg, Hasso-Nassoviae, Sueviae Freiburg, Tiguriniae, des Symposion, 1. Vorsitzender des Verbandes Alter Corpsstudenten e.V.
Inhaltsverzeichnis Sebastian Sigler Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Widerstand ab der ersten Stunde Erica von Hagen Erinnerungen 1933 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sebastian Sigler Hans Koch – ein deutsches Schicksal im Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Markus Wilson-Zwilling Prittwitz tritt zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Günter Brakelmann Peter Graf Yorck von Wartenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rund um die Septemberverschwörung von 1938 Sebastian Sigler Eduard Brücklmeier – Netzwerker gegen Hitler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer A. Blasius Hasso von Etzdorf – vom Königlich Preußischen Leutnant zum Botschafter der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Robert von Lucius Speere werfen und die Götter ehren – Nikolaus von Halem . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Wilhelm Girardet Ulrich v. Hassell – ein großer Gescheiterter der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Ulrich v. Hassell Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
Henning Frhr. v. Soden Herbert Mumm von Schwarzenstein Palatiae Bonn IdC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Wolfgang Wippermann Widerstand für Polen und Juden – Rudolf von Scheliha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Wolfgang v. der Groeben Adam v. Trott zu Solz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Die Freiburger Kreise Sebastian Sigler Franz Böhm – wie einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft der Gestapo entkam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Sebastian Sigler Denken und Handeln für Wahrheit und Freiheit – das Lebenswerk Walter Euckens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Widerstand in der Zivilgesellschaft Michael Eggers Wilhelm Abegg – Polizeireformer und Widerstandskämpfer der ersten Stunde
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Henning Aretz „Zu aufrecht und offen, um seine Gesinnung zu verbergen“ – Wilhelm v. ArnimLützlow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Sebastian Sigler und Klaus Gerstein Der einsame Weg des Kurt Gerstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Rüdiger Döhler Hans-Wolfram Knaak – Widerstand als aktiver Senior . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Maximilian Waldherr Die Verfolgung des Oberforstmeisters Josef Planke im Dritten Reich . . . . . . . . 329 Hans Christoph von Rohr „Hauptfeind der Nationalsozialisten in Pommern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Dedo Graf Schwerin v. Krosigk Friedrich-Karl v. Zitzewitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
Inhaltsverzeichnis
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Widerstand im Ausland Christian Prosl v. Chodelbach Karl Burian und das Corps Ottonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Hans Kirchhoff Georg Ferdinand Duckwitz – bewegte Zeit in Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Sebastian Sigler Wilhelm v. Flügge – Doppelspiel in Istanbul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407 Widerstand in der Kriegszeit Horst-Ulrich Textor Eberhard von Breitenbuch – ein verhinderter Attentäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Rüdiger Döhler Der Fall Max Draeger – ein Mord aus Rache? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Christian-Erdmann Schott Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und das Corps Saxonia zu Göttingen . . 437 Sebastian Sigler Ernst Vollert – ein Corpsbruder rettete ihn aus dem Prager Gestapokeller . . . . . 451 Sebastian Sigler Das soziale und das korporierte Umfeld der Corpsstudenten im Widerstand . . . 457 Corpsstudentische Kurzbiographien aus dem Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Abkürzungsverzeichnis AH
Alter Herr; examiniertes Mitglied eines Corps – der Begriff wird unabhängig vom Lebensalter verwandt AHV Altherrenvorstand; Vorstand der examinierten Mitglieder eines Corps, internes Gegenstück zum CC CB Corpsbursch; studierendes, voll vertretungsberechtigtes Mitglied eines Corps CC Corpsburschen-Convent; Entscheidungsgremium der studierenden Mitglieder eines Corps CV Cartellverband; Verband der katholischen, farbentragenden, nicht mensurbeflissenen – also keine Pflichtmensuren fordernden – Verbindungen; alternativ wird die Abkürzung verwendet für eine Einzelverbindung, dann meist: CV-Verbindung DB Deutsche Burschenschaft EM; EB Ehrenmitglied oder Ehrenbursch; besonders verdienter Alter Herr eines Corps F Fuchs; noch lernendes, nicht vertretungsberechtigtes Mitglied eines Corps GRU Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije; Hauptverwaltung für Aufklärung, Zentralorgan des Geheimdienstes der sowjetischen Streitkräfte iaCB inaktiver Corpsbursch; Mitglied eines Corps, das sein Studium noch nicht abgeschlossen, aber alle Pflichten erfüllt hat IdC Inhaber der Corpsschleife; Mitglied eines Corps, das nicht alle Pflichten erfüllen konnte und deshalb kein Band trägt; oft geht es hier um die medizinisch indizierte Unmöglichkeit, die Pflichtmensuren zu fechten KCL Kösener Corpsliste KDStV Katholische Deutsche Studentenverbindung, von den Corps unterschieden unter anderem durch das Fehlen der Pflichtmensur, farbentragend KSCV Kösener Senioren-Convents-Verband; Dachverband der Kösener Corps in Deutschland, Österreich, Belgien sowie – assoziiert – Ungarn und Lettland KStV Katholischer Studentenverein; nicht mensurbeflissene, keine Farben tragende Verbindung KV Kartellverband; Dachverband der KStV MG Münchner Gesellschaft; Mittelding zwischen Verbindung und studentischem Club MKV Mittelschüler-Kartell-Verband; größter österreichischer Absolventenverband NKWD Narodny kommissariat wnutrennich del; Volkskommissariat für innere Angelegenheiten, in etwa das Innenministerium in der stalinistischen Sowjetunion, ab 1946: Ministerium für innere Angelegenheiten NSDStB Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund WSC Weinheimer Senioren-Convent; Dachverband der Corps an Technischen Universitäten W.S.C. Wiener Senioren-Convent; Gremium der legitimistischen, also kaisertreuen Corps in der österreichischen Hauptstadt
Einleitung Von Sebastian Sigler Die Zahl derer, die gegen Adolf Hitler und das NS-Regime aufstanden, ist, absolut gesehen, erschreckend klein. Das gilt für die Gesamtbevölkerung im Deutschen Reich ebenso wie für die korporierten Studenten – und die Corps sind davon mitnichten ausgenommen. Beim genaueren Blick auf Lebenslinien und persönliche Schicksale erschließen sich jedoch erstaunliche und darstellenswerte Zusammenhänge. Einige davon, alle im Zusammenhang mit studentischen Korporationen, bilden den thematischen Rahmen dieses Buches. Als Gruppe, an der die Heterogenität der Motivation zum Widerstand bei vergleichbar strukturierter sozialer Distinktion gut erkennbar wird, sind in der vorliegenden Studie die Angehörigen von Kösener Corps für die einzelnen Aufsätze ausgewählt worden. Jeder Einzelne, der gegen Hitler aufstand, hat Zeichen gesetzt, ist Vorbild geworden. Natürlich ist es klar – in diesem Buch kann nicht die Geschichte einer ganzen Epoche aufgearbeitet werden. Vielmehr sollen die individuellen Geschichten erzählt werden von Menschen, die sich aus eigenem Antrieb dem NS-Regime widersetzten. Ob diese Menschen fehlerfrei agierten und ethisch makellos handelten, muß in manchen Fällen, in denen sich verschiedene Motivationen überlagerten, dahinstehen.1 Der Fokus liegt vielmehr auf einer ungewöhnlich frühen lebensgeschichtlichen Gemeinsamkeit. Sie bildet die Klammer für die hier dargestellten Personen, denn sie alle waren Corpsstudenten. Und die Mitgliedschaft in einem Corps gründet sich auf die Aktivenzeit, die in aller Regel in den ersten Studiensemestern stattfindet; daraus ist die Unterschiedlichkeit der einzelnen Lebenswege zu erklären, zugleich aber erweist sich, wie wirkmächtig die frühe Bindung in sozialen Gruppen ist. Das studentische Mensurwesen ist, das zeigt zumindest die Lebenserfahrung derer, die einer mensurbeflissenen Verbindung angehören, in der Lage, 1 Auch die Frage, ob Hochverrat vorlag oder Landesverrat und wie – gegebenenfalls – letzterer zu werten sei, kann nicht in jedem Fall beantwortet werden. Dort, wo eine faktische Antwort möglich ist, bedeutet dies jedoch immer noch nicht, daß auch eine moralische Wertung möglich ist. Albrecht v. Hagen äußerte dazu: ,,Es ist Zeit, dass jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.“ Vgl. dazu: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 12. Verwiesen sei auch auf Golo Mann, der in diesem Zusammenhang äußert: „Unter der Diktatur des Verbrechens gab es keine Regel, an die man sich halten konnte.“ Vgl. Mann, Golo, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1958, hier verwendete Ausgabe: Frankfurt am Main 1992, S. 949.
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besonders tragfähige Bindungen aufzubauen. Die Corps bilden hier durch Alter und Bekanntheit eine hervorgehobene Rolle. Doch diejenigen, die einer anders zu verortenden Verbindung angehören, sollen auch bedacht sein. In einem weiteren Aufsatz, einer annotierten Reihung, werden sie gewürdigt. Dieses Buch steht dabei nicht ohne Bezüge – die Forschungslandschaft ist vielfältig, und speziell christlich motivierten Widerstandskämpfern oder auch den Diplomaten ist bereits in einigen Sammelbänden gedacht worden.2 Es ist der Wunsch und das Ziel des Herausgebers, den vorliegenden Band dort eingereiht zu sehen. Menschen, die in der Zeit des Dritten Reiches schuldig wurden, können nicht Gegenstand dieses Buches sein. Es sei aber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die thematische Festlegung auf Widerstandskämpfer und Widerstehende nicht als Vergessen, Verschweigen oder die Relativierung von Verbrechen, Zustimmung und Mitläufertum an anderer Stelle mißverstanden werden darf. Die Zahl derjenigen, die in Gesamtgesellschaft und damit auch in den Corps und anderen Verbindungen zu Mitläufern oder gar zu Tätern wurden, ist Legion. Das ist eine absolute Tatsache. Relativ ist lediglich der zeitliche Kontext: zwölf Jahre dauerte die Diktatur des NSRegimes. Angesichts einer Zeitspanne von über 220 Jahren – so lange gibt es bereits Korporationen in der heute bekannten Form – könnte diese Zeit vergleichsweise kurz genannt werden, doch das wäre völlig verfehlt, sind doch die Auswirkungen der NS-Diktatur bis heute in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Das 19. und 20. Jahrhundert sind bis heute für alle Gesellschaftsbereiche in Deutschland enorm prägend; diese Zeitspanne umfaßt vom Ende des Alten Reiches an die gesamten grundstürzenden Veränderungen politischer und kultureller Natur, denen der mitteleuropäische Kulturraum seither ausgesetzt war. Die Korporierten sind Zeitzeugen, und aus vielen Aufzeichnungen ersehen wir, daß sie wache, kundige und bewußte Zeugenschaft ablegten. Ein besonders komplexes Einzelthema in diesem zeitlich weit gefaßten Kontext ist der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Hier kann nur der Versuch unternommen werden, exemplarisch aufzuzeigen, wie die Strukturen dafür, daß es unter Corpsstudenten doch eine nennenswerte Zahl von Widerstandskämpfern geben konnte, angelegt waren. Keinesfalls kann hier auch nur ansatzweise eine Vollständigkeit erwartet werden. Die Namen der hier gewürdigten Widerstandskämpfer stehen damit für viele weitere Persönlichkeiten innerhalb wie außerhalb der Korporationsszene, die sich, oft in kleinen Gesten, aktiv gegen Hitler und seine Helfershelfer engagiert haben. Diejenigen, die sich widersetzten, waren zumeist menschlich sehr isoliert.3 Es kann nicht genug betont werden: unerträglich viel höher, so fühlen und wissen wir 2 Ringshausen, Gerhard, Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus, Lüneburger Theologische Beiträge, Bd. 3, Berlin 2007; Vollmer, Antje mit Keil, Lars Broder, Stauffenbergs Gefährten, Berlin 2013; Käßmann, Margot, Christlicher Widerstand, München 2013; Wala, Michael / Schulte, Jan Erik: Widerstand und Auswärtiges Amt, München 2013. 3 Die Frage, inwieweit ein Buch wie dieses seine Berechtigung hat, wurde mit Ratgebern aus unterschiedlichen Bereichen ausgiebig erörtert. Exemplarisch genannt sei ein Satz aus
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aus heutiger Sicht, war die Zahl der Täter gegenüber den Wenigen, die widerstanden – eine Tatsache, die auch uns heute noch nachdenklich sein lassen muß und die zu großer Aufmerksamkeit Anlaß gibt. Das „Nie wieder!“ ist zentrale Aufgabe. Auch heute. Woher aber kamen die, die sich widersetzten? Gab es ein corpsstudentisch motiviertes Netzwerk, das gegen Hitler konspirierte? Oder gab es, um genauer zu formulieren, ein von Personen, die corpsstudentisch geprägt und erzogen waren, geknüpftes Netzwerk? Die Antwort auf diese spannende Frage sei vorweggenommen. Es gab ein Netzwerk, dem in signifikanter Zahl Angehörige der verschiedenen genannten Gruppen mit kongruenter sozialer Distinktion angehörten – zu nennen sind pars pro toto die Familienverbände, der Johanniterorden, bestimmte Einheiten des preußischen Militärs und das Corpsstudententum. Das ist auch logisch, denn es gab eine – vielfach festgestellte – mentalitätsmäßige Übereinstimmung zwischen preußischem Offizierscorps, den diese Offiziersschicht mehrheitlich tragenden Familien, darin wieder viele Johanniter, und eben den Kösener Corps. Doch die hier genannten Gruppen bildeten vielleicht eine Art Rückgrat des Netzwerks des Widerstands, aber sie waren nicht exklusiv vertreten. Auch eine ganze Anzahl katholischer Gruppen und auch die politische Linke bildeten Strukturen, in und aus denen Widerstand wachsen konnte. Ein wichtiger Aspekt daran ist, daß es vielfache Überschneidungen sind, die die Materie komplex machen. Corpsstudenten, Offizierscorps, Johanniterorden und Familienverbände – diese vier gesellschaftlichen Gruppen verdienen es, mit den Methoden der Netzwerkforschung gründlich untersucht zu werden. Dieses Netzwerk einer korporierten Gesellschaft ist komplex, denn viele andere Gruppen spielten in diesem oder jenem Fall mit hinein. Die Gesamtschau der überproportional häufig – besser: weniger selten – im Widerstand anzutreffenden gesellschaftlichen Gruppen wird zusätzlich erschwert, weil es kaum Kompatibilität zwischen akademischen Berufen und militärischem Dienst gab. Die Abkunft aus einer alten Familie ließ sich mit dem Johanniter- oder dem Malteserorden gut kombinieren – je nach Konfession. Dazu paßte entweder das Corpsstudententum oder der Dienst als Offizier – und zwar, ziemlich streng, nur eines von diesen beiden. Zudem waren katholische Corpsstudenten kaum denkbar, denn seit dem Kulturkampf des 19. Jahrhunderts stand die Exkommunikationsdrohung für gläubige Katholiken, die sich einer scharfen Mensur stellten, im Raum. So waren die Kösener Corpsstudenten fast durchweg evangelisch-lutherisch und – dies zumindest häufig – Reservisten der Reichswehr oder des preußischen Militärs. Dabei ist auch zu bemerken, daß in evangelischen Kreisen die Frage nach der Legitimität des Tyrannenmords, speziell die Diskussion des Römerbriefs, Kapitel 13, großen Raum einnahm und viel Kraft raubte. Auf kathoeiner Nachricht, die Detlef Graf v. Schwerin am 22. Juli 2011 an den Herausgeber sandte: „Ich finde es richtig, daß man den heutigen Korporierten die Männer des Widerstandes aus ihren Reihen als Beispiel politischer und menschlicher Haltung vor Augen führt, aber sie standen in keiner Weise für die Haltung ihrer Verbindungen, sondern waren isoliert und Einzelkämpfer.“ Das sei hiermit unterstrichen.
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lischer Seite, wo sich seit dem späten Mittelalter die Lehre von der Legitimität des Tyrannenmords fest verankert hatte, taten sich die widerständigen, widerstehenden, zum Handeln entschlossenen Frauen und Männer leichter. Dieser Band ist, so gesehen, nur ein Anfang. Für die heutigen Corpsstudenten unter den Lesern ist die hier gefundene Reihung von Lebensbildern indes mehr. Ein neuer Blick darauf, wie die Idee des Corpsstudententums sich in der schwersten Zeit auch bewährte, soll gewagt werden. Dieser Band enthält eine Vielzahl großer und kleiner Geschichten der Hoffnung in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext des Scheiterns, der die Gesamtgesellschaft des Deutschen Reiches betrifft. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß den Corpsstudenten ein charakterliches Merkmal, das sonst fast überall im Widerstand und bei schuldlos Verfolgten zu beobachten ist, fast komplett zu fehlen scheint – die habituelle Selbstverortung als Opfer. Das ist eine wichtige Unterscheidung von anderen Gruppen, denn ihre intrinsische Motivation zum Widerstand, die zweifelsohne vorhanden war, tritt hier nicht so klar zutage wie etwa bei Gewerkschaftern oder katholischen Priestern. Daher sei, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, schon vorab darauf hingewiesen. Wie äußerte sich das aber praktisch? Im Überblick über die hier geschilderten Lebensbilder der Corpsstudenten läßt sich eine Tendenz feststellen, den Widerstand gegen das NS-Regime als selbstverständliche Pflicht zu empfinden. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß das bereits im 18. Jahrhundert zu seiner heutigen Form gebrachte, aber viel ältere Ritual des „Landesvaters“, eine zentrale Weihehandlung unter Korporierten, die von den alten Corps in den Kanon der studentischen Bräuche eingeführt wurde, nicht der Person des jeweiligen Landesherrn, sondern vielmehr der transpersonalen Idee des Gemeinwesens gewidmet ist. Wenn derjenige, der sich als Widerstandskämpfer erhob, an dieses Ritual seiner Studentenzeit anknüpfte, dann konnte er daraus Bestärkung im Entschluß zum konkreten Handeln ziehen. Der Grund für das Fehlen einer habituellen Selbstverortung als Opfer wird jedoch nicht allein in den corpsinternen Ritualen, sondern auch im Erleben der Betreffenden zu suchen sein. Hier kommt der jeweilige soziale Status ins Spiel, zu dem die Erziehung zu Pflichterfüllung, Ritterlichkeit und Tapferkeit gehörte. In jene alten Internate, aus denen die Corps überproportional häufig ihren Nachwuchs zogen und bis heute ziehen, schickten die Familien ihre Söhne, die auf diese Tugenden wert legten. So läßt sich der Schluß wagen, daß diese durch Internat, Militär, Corps und vor allem eine bestimmte Erziehung geprägt waren, die es ihnen ermöglichte, sich selbst gar nicht als Opfer zu sehen. Um zu dieser Sichtweise zu gelangen, waren Vorbilder vonnöten. Sowohl in alten, großen Familien wie in den Offizierscorps bestimmter Regimenter als auch in den alten Kösener Corps fanden sie Menschen, für die diese Attribute galten. Damit schließt sich dieser Kreis. In anderen Dachverbänden konnte die Wahrnehmung erheblich differieren. Dort hatte
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das Bewußtsein, Opfer zu sein, mehr Raum; beispielhaft sind hier die konfessionsgebundenen – und darunter eher die katholischen – Verbindungen zu nennen.4 Gesondert sei erwähnt, daß es in den alten und noblen Corps unüblich ist, von seiner Corpsmitgliedschaft gesellschaftlich Gebrauch zu machen etwa in der Weise, daß Couleur getragen wird, um als Gruppe zu renommieren. Oft saß, um ein Beispiel zu nennen, Peter Graf Yorck v. Wartenburg mit Corpsbrüdern in Berlin zusammen, aber nie trug auch nur einer von ihnen Couleur. Dem Außenstehenden muß es erscheinen, als hätten Yorck und seine Corpsbrüder das Interesse am Corps Borussia Bonn, dem sie angehörten, verloren. Auch in der Forschung hat dies vielfach zu Irritationen geführt, wie das Verhältnis der Widerstandskämpfer zu ihren Corps zu bewerten sei. Die scheinbare Distanz war aber nur Attitüde;5 und dies gilt für die übrigen Corpsstudenten im Widerstand analog. Widerstand im Auswärtigen Amt Unter den Korporierten im Widerstand sticht eine Gruppe hervor: die Diplomaten.6 Adam v. Trott zu Solz, Herbert Mumm v. Schwarzenstein, Ulrich v. Hassell, Hasso v. Etzdorf und Eduard Brücklmeier – sie alle waren Corpsstudenten.7 Bis auf Etzdorf, der unentdeckt blieb, wurden sie alle durch Hitlers Schergen gehenkt. Zwei weitere von ihnen gehörten der Münchner Gesellschaft – kurz „MG“ genannt – an, einem Mittelding zwischen Adelsclub und Studentenverbindung, in etwa nach Art eines Kösener Corps. Es handelt sich um Albrecht v. Kessel und Ulrich Wilhelm 4
Vgl. dazu: Moll, Helmut (Hrsg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Paderborn 20105 ; vgl. für die evangelisch-lutherische Konfession: Schultze, Harald und Kurschat, Andreas (Hrsg.), „Ihr Ende schaut an…“ Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 2006; vgl. weiterhin in diesem Band: Beitrag „Korporierte aller Couleur im Widerstand gegen Hitler“, dort den Abschnitt: „Widerstand im Glaubenszusammenhang“. 5 Noch heute ist es so üblich. 6 Zur Bewertung des Widerstands im Auswärtigen Amt eine immer noch grundlegende Studie: Deutsch, Harold C., Verschwörung gegen den Krieg. Der Widerstand in den Jahren 1939 – 1940, München 19692, passim. 7 In dieser Abhandlung geht es nicht darum, möglichst viele Träger eines Bandes aufzuzählen, sondern es soll insgesamt einer Art und Weise, in der Sozialisierung stattfand, nachgespürt werden. Das soziale Milieu, das den Corps nahestand, reicht durchaus noch etwas weiter, als es die Kösener Corpsliste ausweist. Als Beispiel sei genannt Bernhard Klamroth, der als Oberstleutnant im Generalstab am Stauffenberg-Attentat teilnahm und am 15. August 1944, im selben Prozeß wie Adam v. Trott zu Solz Saxoniae Göttingen, zum Tode verurteilt wurde. Auch sein Vetter zweiten Grades, Johann-Georg, den er in Stauffenbergs Pläne eingeweiht hatte, empfing in diesem Prozeß sein Todesurteil. In der Familie Klamroth war es über Generationen hinweg gute Übung, beim Corps Hansea Bonn aktiv zu werden. Die Bonner Hanseaten nennen Bernhard Klamroth als Spefuchs in jenen Jahren, also jemanden, der sicher das weiß-rot-weiße Band aufgenommen hätte, wenn ihm die Zeit verblieben wäre. Vgl. dazu Altherrenverein des Corps Hansea Bonn e. V. (Hrsg.), Geschichte des Corps Hansea zu Bonn 1929 bis 1999. 70 Jahre seiner Geschichte, Bonn 2006 (Selbstverl.), S. 56; vgl. weiterhin Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Royce, Hans (Bearb.), 20. Juli 1944, Bonn 1969, S. 221.
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Graf v. Schwerin. Kessel überlebte, Schwerin wurde gehenkt. Alle diese Männer konnten sich auf das Stillschweigen von Ernst v. Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, verlassen. Zwar trat v. Weizsäcker nicht im Widerstand in Erscheinung, er wußte aber zweifelsfrei schon früh von der Existenz dieses widerständigen, vielleicht ab 1937 bestehenden, spätestens aber seit dem Frühjahr 1938 einen Staatstreich mit Entmachtung Hitlers planenden Netzwerks.8 Da die meisten von ihnen erst nach dem 20. Juli enttarnt wurden, folgt daraus, daß auch Weizsäcker hier zumindest geschwiegen, möglicherweise aber auch unauffällig und höchstpersönlich seine schützende Hand über diese Widerstandskämpfer gehalten hat.9 Er ließ dabei Vorsicht walten und wirkte nach außen sehr systemkonform – so wie im übrigen auch die Mehrzahl der genannten Widerstandskämpfer, die pro forma in ihrer Mehrheit Mitglieder der NSDAP und teils auch mit einem SS-Rang ausgestattet waren.10 Trefflich mag man darüber streiten, ob dies eine Form der Anpassung oder der Vereinnahmung war. Daß sie so wenig als Vertreter eines manifesten Widerstands sichtbar wurden und vielfach auch nicht voneinander wußten, ist nur mit einer heute fast unvorstellbar dichten Überwachung und Bespitzelung in einem totalitären Deutschen Reich unter dem NS-Hakenkreuz zu erklären. Zeitzeugen berichten davon eindrücklich.11 Immerhin fand über v. Weizsäcker die erste Fühlungnahme von Widerstandsgruppen im Auswärtigen Amt und im Amt Abwehr statt. Hier waren es die bereits genannten Diplomaten, dort Offiziere um Ludwig Beck, Friedrich Olbricht, Henning v. Tresckow und Hans Oster. Die Fühlungnahme geschah über die wechselweise Entsendung von Mitarbeitern.12 Auf diese – später dann vermehrt in enger Abstimmung agierende – Gruppe, die sich im Auswärtigen Amt und im Amt Abwehr auch nach v. Weizsäckers Versetzung nach Rom und der Entmachtung von Wilhelm Canaris noch bis Frühjahr 1943 – genauer: bis zur 8 Weizsäcker, Ernst v., Erinnerungen, München 1950, S. 173 – 177, zitiert bei: Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 87: „Ebenso wie in der Abwehr gab es im Auswärtigen Amt eine Gruppe junger und älterer Mitarbeiter, die konspirativ tätig waren und von ihren Vorgesetzten, in jenem Falle Canaris, in diesem v. Weizsäcker, geduldet und weitgehend gefördert wurden. (…) wie auch v. Weizsäcker selbst in entsprechenden Beziehungen zu Beck, nach dessen Rücktritt zu Halder, und zu Canaris stand.“; Deutsch, Verschwörung gegen den Krieg, S. 43 f. 9 Eher kritisch – und wohl auch etwas kritischer als durch den Autor – wird v. Weizsäcker gesehen von: Blasius, Rainer A., Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Staatssekretär Ernst Frhr. von Weizsäcker in d. Krisen um die Tschechoslowakei und Polen 1938/39, Köln 1981 (Diss.). Hier ist zu überlegen, ob eine Unterscheidung gemacht werden sollte zwischen einem „frühen“ Weizsäcker, der von 1937 bis 1939 entschieden gegen den Krieg und damit für die Opposition gegen Hitler optierte, und einem „späten“ Weizsäcker, der nach und nach resignierte und am Ende sogar Mitwisser des Holocausts wurde. 10 Hier ist wieder das „Gesetz über die Vereidigung der Beamten und der Soldaten der Wehrmacht“ vom 24. September 1935, RGBl., Bd. I, S. 1203 f., zu nennen; ab Anfang 1938, zunehmend 1939 wurde zudem Stück für Stück erzwungen, daß höhere Beamte Parteimitglieder und SS-Mitglieder zu sein hatten. Die Biographien vieler späterer NS-Opfer weisen Parallelen zu diesen beiden Wellen der Selbstradikalisierung des NS-Systems auf. 11 Dönhoff, Um der Ehre willen, S. 13. 12 Ebd., S. 22.
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Verhaftung Hans v. Dohnanyis – halten konnte, wird in diesem Buch verschiedentlich eingegangen, denn in ihr befanden sich zeitweise auch einige Corpsstudenten: Adam v. Trott zu Solz, Rudolph v. Scheliha, Hasso v. Etzdorf und Eduard Brücklmeier; engen Kontakt hielt man mit Ulrich v. Hassell, der als Botschafter natürlich zum Amt gehörte. Gewöhnlich werden die genannten Diplomaten zusammen mit Carl Goerdeler und vielen Anderen dem „nationalkonservativen Widerstand“ zugerechnet. Dies ist eine Pauschalierung, die nicht weiterführt. Einige Widerstandskämpfer, die als „nationalkonservativ“ tituliert werden, verfolgten in Einzelfragen dezidiert sozialistische Ideen, so etwa Moltke, Yorck, teils auch Schulenburg und in bestimmten Fragen auch Trott. Zudem waren die Überschneidungen zwischen dem Kreisauer Kreis und dem Widerstand der Diplomaten auf wenige Personen beschränkt. Es gab einige wenige „Nachrichtenoffiziere“, die Informationen von einer Gruppe zur anderen brachten. Eduard Brücklmeier hatte zum Beispiel aller Wahrscheinlichkeit nach eine solche Verwendung als Übermittler; er sprach in Berlin mit verschiedenen Gruppen, insbesondere mit den Verschwörern aus dem Amt Abwehr und dem Auswärtigen Amt. Er traf sich öfters mit Schulenburg, und er trug Informationen nach Potsdam zu Angehörigen des militärischen Widerstands weiter, darunter Schwerin.13 Die Diplomaten im Auswärtigen Amt und im Amt Abwehr sind eine der wichtigen Wurzeln des bürgerlichen Widerstands – aber nur eine unter mehreren. Sie in einem ungenau, ja, diffus definierten „nationalkonservativen“ Widerstand zu subsummieren, verunklart das Bild. Hier steht eine grundlegende Arbeit aus, die Klärung und Differenzierung schafft. Speziell für Carl Friedrich Goerdeler, einen der führenden Köpfe des Widerstands, der auch derart klassifiziert wurde, ist indes eine Klärung erfolgt. Vielfach wurde gerade auch er als „nationalkonservativ“ und – als wäre dies ein Automatismus – latent judenfeindlich dargestellt, doch Peter Hoffmann hat das so verfälschte Bild in seiner Monographie „Carl Goerdeler gegen die Verfolgung der Juden“ jüngst nachdrücklich geradegerückt.14 Die Frage nach den Netzwerken Sie sind in ihrer Wichtigkeit für den Widerstand im NS-Regime nicht zu überschätzen: soziale Gruppen, die schon vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, genauer: vor dem Tag von Potsdam und der Reichstagswahl vom 5. März 1933, Bestand hatten. Teils sogar, wie der Johanniterorden, damals bereits über acht Jahrhunderte, oder, wie die Korporationen, immerhin anderthalb Jahrhunderte. Diese Netzwerke waren ein unverzichtbares Mittel zum Aufbau der kleinen, höchst konspirativ arbeitenden und gegenseitig manchmal auch nichts voneinander wis13 Interview des Autors mit dem Mitverschwörer vom 20. Juli, dem damaligen Leutnant Heinrich-Ewald v. Kleist-Schmenzin, am 23. September 2009 in dessen Privathaus in München-Menterschwaige. 14 Hoffmann, Peter, Carl Goerdeler gegen die Verfolgung der Juden, Köln / Weimar / Wien 2013, passim.
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senden Gruppen. Die Gemeinsamkeit der Korporationszugehörigkeit war ein Weg unter mehreren zur Bildung des Netzwerks. Man darf sich das aber durchaus bildlich vorstellen: da blätterten Alte Herren von Corps – oder auch Burschenschaften – in ihren Mitgliederverzeichnissen, um zu sehen, wer noch aufgrund seines Charakters und seiner Position für den Widerstand in Frage käme. Das haben übrigens durchaus nicht nur die Corpsstudenten so gemacht, sondern auch Angehörige des Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem. Die Johanniter Erwin v. Witzleben, Friedrich v. Rabenau und Ewald v. Kleist-Schmenzin sowie mindestens zwölf weitere Ritterbrüder wurden durch das NS-Regime hingerichtet. Fünf der hingerichteten Widerstandskämpfer waren zugleich Johanniter und Corpsstudenten: v. Trott zu Solz, v. Hassell, Graf Yorck, Mumm v. Schwarzenstein und v. Hagen; der MGist Schwerin, ebenfalls Johanniter, sei ebensowenig vergessen wie der Überlebende Eberhard v. Breitenbuch, Angehöriger der Corps Silvania Tharandt und Franconia Fribergensis, Rechtsritter des Johanniterordens. Fast durchgehend agierten die Corpsstudenten auch in der Gestapohaft und in Konzentrationslagern souverän und beherrscht. Sie blieben „Herren“, auch unter Folter, vor dem Volksgerichtshof zumal. Und dann, ganz am Ende, auf ihrem letzten Gang. Dieses Fehlen eines Signals an die Um- und Nachwelt, daß sie Opfer seien, hat vielfach den Blick auf ihre wahre Geschichte verstellt. Und wenn schon die Tatsache, daß sie Corpsstudenten, Angehörige alter Familien oder Johanniter waren, nur höchst mittelbaren Einfluß auf ihr Engagement im Widerstand hatte – das Fehlen der Opfer-Attitüde, das ihnen mit ganz wenigen Ausnahmen gemeinsam war, ist sicher mit dieser sozialen Verortung in Zusammenhang zu bringen und es unterscheidet sie sehr trennscharf von anderen Gruppen, die ebenfalls im Widerstand gegen Hitler tätig waren. Dieser Band kann, es wurde bereits erwähnt, keine Aufarbeitung einer Epoche sein. Sogar die abschließende Bewertung auch nur einer Gruppe unter denen, die Widerstand leisteten, kann kaum gelingen. „Es ist irreführend, die Beteiligung an Umsturzplänen zum Kriterium der Zugehörigkeit zum Widerstand zu machen“, stellt Professor Hans Mommsen fest.15 Widerstand war auch der wohlverstandene Ungehorsam gegen menschenverachtende Gesetze, das mutige Entgegentreten oder sogar nur die Bereitschaft, für den Fall des Umsturzes bereitzustehen. Fast durchgängig ist schließlich in der älteren Forschung die Zuschreibung von Personen zum Widerstand davon abhängig gemacht worden, ob ihre Haltung und die Kenntnis ihrer offen erkennbaren oder arkan ausgeführten Widerstandstätigkeit auch an die Nachwelt – also über den Zusammenbruch von 1945 hinaus – übermittelt worden sind. Diese hemmende Barriere galt es in einigen Fällen zu überwinden; beispielhaft sei hier auf Wilhelm v. Flügge, der der Corps Saxo-Borussia Heidelberg angehörte,16 hingewiesen. Auch die Frage, ob die Taten der Gestapo 15 Prof. Dr. Mommsen, Hans, Festvortrag anläßlich der Tagung „Widerstand und Auswärtiges Amt“, Tutzing, 10. September 2011. 16 Gerlach, Otto (Hrsg.), Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, Nr. 66 – 1169.
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bekannt wurden, ob die Widerstandskämpfer also überhaupt verfolgt wurden oder ob schlußendlich ein Todesurteil am Ende stand – all dies ist ebenfalls kein Kriterium für die Zugehörigkeit zum Widerstand. Wie unterschiedlich die Biographien waren, wird in diesem Band niedergelegt; explizit sei auch auf die corpsstudentischen Kurzbiographien verwiesen, in denen Schicksale, in denen der Bereich des Widerstands berührt wurde oder die das Unglück von Opfern des NS-Regimes aufscheinen lassen. Der ganze Band ist in einem bewußt gut lesbaren, einem narrativen Stil gehalten. Die einzelnen Autoren nähern sich den beschriebenen Persönlichkeiten ganz unterschiedlich, und bewußt wurde diese Heterogenität belassen. Angemerkt sei auch, daß es jedem freistand, die neuesten Reformen der Rechtschreibung zu benutzen oder in der Orthographie zu bleiben, die seit Jahrzehnten allen vertraut ist. „Alles ging verloren – die Ehre nicht!“ Diese Parole eint diejenigen, die in diesem Band Aufnahme gefunden haben. Dem gerecht zu werden – das haben sich die hier versammelten Autoren zur gemeinsamen Richtschnur gemacht.
Widerstand ab der ersten Stunde
Erinnerungen 1933 bis 1945 Von Erica von Hagen Der hier vorliegende Text stammt aus der Feder der Witwe des Widerstandskämpfers Albrecht v. Hagen. Es handelt sich um wörtliche Auszüge persönlicher Lebenserinnerungen, die die Autorin speziell für ihren Enkel Helmuth verfaßt hat.1 Lange Passagen rein privater Schilderungen wurden ausgelassen, und nur dort, wo es zum Textverständnis notwendig ist, wurde das angezeigt. So sind einige zeitliche Sprünge zu erklären, doch die thematische Geschichte des Widerstandskämpfers Albrecht von Hagen aus der Sicht seiner Ehefrau ist in sich geschlossen und kohärent. Es sei dem Herausgeber gestattet, einige biographische Worte zur Person Albrecht von Hagen vorauszuschicken. Albrecht von Hagen wurde am 11. März 1904 als viertes von sieben Kindern des Gutsbesitzers und Reserveoffiziers Gerhard von Hagen und dessen Ehefrau Elisabeth aus der Familie von Stülpnagel auf dem hinterpommerschen Rittergut Langen im Kreis Belgard geboren, das seit 1820 der Familie, einem neumärkisch-pommerschen Uradelsgeschlecht, gehörte. Er studierte ab 1922 Rechtswissenschaft an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und belegte einige Semester an der Albertus-Universität Königsberg. Bereits 1922 ist er bei Saxo-Borussia Heidelberg rezipiert worden; bekannt ist aus seiner Aktivenzeit, daß er als Senior einer Forderung auf schwere Säbel nachkam, möglicherweise durch einen österreichischen Burschenschafter. Nach dem Referendariat war v. Hagen als Syndikus bei der Osthilfe und einer Privatbank beschäftigt. Am 29. Mai 1927 heiratete er Erica v. Berg, die auf dem Rittergut Perscheln in Ostpreußen aufgewachsen war. Drei Kinder wurden dem Paar geboren: 1928 Helmuth, der bereits im Januar 1933 an einer Hirnhautentzündung verstarb, 1933 Albrecht Hans Berthold und 1935 Helmtrud-Erica. Bereits 1933 war v. Hagen ein kompromißloser Gegner des Nationalsozialismus, und das war auch bekannt. Ebenfalls seit 1933 war er als Angestellter bei der „Bank für deutsche Industrieobligationen“ in Stettin tätig. Aufgrund falscher Korruptionsvorwürfe zog ihn der Direktor der Bank nach Berlin ab. Wegen seiner standhaften Weigerung, der NSDAP beizutreten, wurde Hagen nur bis zum Handlungsbevollmächtigten befördert. 1935 nahm er an freiwilligen Offizierslehrgängen der 1 Die Erinnerungen sind auch Grundlage eines Buches, das Dagmar Albrecht, geborene v. Hagen, eine Nichte Albrechts v. Hagen, verfaßt hat: Albrecht, Dagmar, Mit meinem Schicksal kann ich nicht hadern … Sippenhaft in der Familie Albrecht v. Hagen, Berlin 2001.
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Wehrmacht teil, nicht zuletzt, um als Offizier nicht Parteimitglied werden zu müssen – „der Partei“ wollte er um keinen Preis angehören. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Hagen als Leutnant der Reserve zur 10. Panzerdivision eingezogen. Er wurde zunächst als Ordonnanzoffizier im Versorgungsstab in Wünsdorf bei Berlin eingesetzt. Später wurde er zur Teilnahme am Frankreichfeldzug und zum Vormarsch in die Sowjetunion befohlen. 1943, bei einer Verwendung während des Afrikafeldzuges lernte er in Tunis Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg kennen und schloß sich unter dessen Einfluß dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten an. Um ihn bei einem Staatsstreich im Zentrum des Geschehens einsetzen zu können, organisierten die Offiziere im Widerstand seine Versetzung zum Oberkommando der Wehrmacht, wo er für den Kurierdienst zwischen den Dienststellen in Berlin und dem Führerhauptquartier Wolfsschanze zuständig war. Sein Vorgesetzter war Generalmajor Hellmuth Stieff, Chef der Organisationsabteilung des Heeres. Im November 1943 vergrub er gemeinsam mit dem befreundeten Major im Generalstab Joachim Kuhn ein Kilogramm Sprengstoff. Der war für den Wehrmachtsoffizier Axel Freiherr von dem Bussche-Streithorst bestimmt, der sich bei einer Uniformvorstellung mit Adolf Hitler in die Luft sprengen wollte. Der vergrabene Sprengstoff wurde von der Geheimen Feldpolizei gefunden, aber Hagen und Kuhn blieben unbehelligt. Im Mai 1944 besorgte Hagen abermals Sprengstoff für ein Attentat auf Adolf Hitler und übergab ihn seinem Vorgesetzten Stieff. Den Sprengstoff, den Stauffenberg am 20. Juli 1944 zündete, beschaffte allerdings Wessel Freiherr von Freytag-Loringhoven. Von Hagen wurde unmittelbar nach dem gescheiterten Umsturzversuch verhaftet. In der Nacht zum 1. August 1944 wurden seine Eltern und seine Ehefrau verhaftet, die beiden Kinder wurden in ein NS-Kinderheim verschleppt. Am 8. August 1944 wurde Albrecht von Hagen vom Volksgerichtshof in einem Schauprozeß zum Tod verurteilt und noch am selben Tag in Plötzensee auf ausdrücklichen Befehl Hitlers durch Erhängen hingerichtet. 1933, Stettin „Deutschland erwache!“ oder (…) ehrgeizige, aufrührerische Sprüche wie „Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt“ und schließlich „Führer wir folgen Dir!“ – Alle diese wilden Lieder hämmerten auf nach politischer Freiheit lechzende Menschen (ein), denn Deutschland war ein mächtiges und geachtetes Land gewesen, bevor es den 1. Weltkrieg verlor. Die Propaganda war raffiniert aufgezogen. Nur wenige Menschen erlagen nicht. Zu ihnen gehörten Albrecht und seine engsten Freunde. Mit Sorge sahen sie (Albrecht von Hagen und seine Frau Erica, d. Hrsg.) den Aufmärschen der SA und den wilden Fackelzügen zu, welche sich durch die Falkenwalder Straße zum Paradeplatz in Stettin hin ergossen, eskortiert von der halben
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Stadtbevölkerung. Die Hakenkreuzfahnen hingen plötzlich ab 1933 aus vielen Fenstern. Es war schon überwältigend. 1935 Im Sommer 1935 meldete Albrecht sich freiwillig zu Wehrmachtslehrgängen in Döberitz, im märkischen Sand von Döberitz. Dort erlebte er den preußischen Militärdrill in Reinkultur. Seine Schilderungen waren sehr komisch, denn Kleider und Schuhe putzen sowie Dielenschrubben gehörten nicht zu seinen Ambitionen. Er wurde dann auch bald Stubenältester. Als solcher erfand er die sehr brauchbare Lehre, daß langweilige Dinge so schnell und so gut zu besorgen seien, daß man erstens fix damit fertig sei und zweitens keine Beanstandungen passieren können, damit man Zeit für nützliche Dinge übrig behielt. Wenn man bedenkt, daß ihm zu Hause jeder Strumpf einzeln von irgendwoher nachgeräumt werden mußte! Zu dieser Zeit erwartete Erica wieder ein Kind.2 Es war ihr während der ersten Monate nicht gut gegangen. Sie hatte viel liegen müssen. So paßte es gut in das Konzept, daß Albrecht bei den Soldaten quasi untertauchte. Er tat dies auch aus politischen Gründen, denn in der Wehrmacht entzog er sich dem Zugriff der SA. Trotz Drängens von Seiten der Partei wurde er nicht PG, weil er den Zwang zur politischen Haltung ablehnte. Er bejahte nach wie vor das Recht auf freie Meinungsäußerung. Im Beruf als Jurist in der Industriebank machte er aus diesem Grunde keine Karriere. Er war jedoch froh, daß er nicht rausflog. Er hatte, ohne davon zu wissen, einen Schutzpatron: Direktor Dr. Boetzkes, der im Vorstand der Bank das Sagen hatte. Der achtete diesen klugen, bescheidenen Mann. Stark waren die Nazis in der Bevormundung bis in die Spitzenpositionen in allen Betrieben. Auch ein Bankdirektor wurde über Nacht abgeholt und in ein Konzentrationslager gesperrt, wenn er nur irgendwie verdächtigt wurde, sich gegen die Partei geäußert zu haben. Die Angst vor dem Nächsten, dem Nachbarn, dem Angestellten, die pure Angst ging um. In drei Jahren hatten die Nazis erreicht, daß die Eltern selbst ihren Kindern nicht mehr trauen konnten. In der Hitlerjugend mußten Kinder über alle Äußerungen ihrer Eltern und Bekannten berichten. 1936 Vor allem Albrecht empörte sich über die diktatorischen Methoden mit solcher Schärfe, daß man ihm vorwarf, die Großstadt Berlin hätte ihm den klaren Blick für die Realitäten getrübt. Auf dem Land hätte man eine klarere Urteilsfähigkeit. Man sähe doch, daß es keine Arbeitslosen mehr gäbe und die Gammler durch die Arbeitsdienstpflicht von der Straße weg seien. Es war vergeblich, daß Albrecht auf die Zwänge der Partei hinwies. 2 Dies war die dritte Schwangerschaft von Erica v. Hagen. Das erste Kind, Helmuth, war 1928 geboren und im Januar 1933 an einer Hirnhautentzündung verstorben, das zweite Kind, Albrecht, war im August 1933 geboren worden.
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Ja, meinte Mutter Duchen,3 wenn er Parteimitglied würde, dann hätte auch er eine bessere und höher bezahlte Position zu erwarten. Albrecht winkte mit einem Lächeln ab. Diese Geste war so bezeichnend für ihn, den Unbelehrbaren. 1937 Das Jahr 1937 verging ohne besondere Vorkommnisse. Albrecht übte im Sommer sechs Wochen weiter in Döberitz bei der Infanterie. Inzwischen war er Unteroffizier. (…) Die Hagens waren beide Lebenskünstler, Sportfreunde und grundsätzlich zufriedene Menschen. Sie gingen bewußt Problemen aus dem Weg. Es fiel nie ein böses Wort, und wenn Erica mal nervös reagierte und gerne mal gezankt hätte, lachte Albrecht sie aus. Nur die Frage, was werden solle, wenn der Naziterror sich weiter zuspitzen würde, erregte im Hause Hagen heftige Diskussionen. 1938 Im Februar hatten die Hagens sich zur Skifahrt nach Hirschegg im Kleinen Walsertal aufgemacht. Sie trafen dort Albrechts Bruder Fritz-Gustav und seine Frau Ada, Adas Bruder Koko Blittersdorff mit Frau Marion und Etti Natzmer. Albrecht stand zum erstenmal auf Skiern. Dank seiner Energie konnte er sehr bald mithalten und hatte großen Spaß an der Sache. In diesen Wochen geisterte der Nationalsozialismus durch ganz Österreich. Das Kleine Walsertal gehörte zu Österreich. Eines Abends sahen sie über die Höhen lange, geisterhafte Fackelzüge ziehen: Großdeutschland war am Erwachen und zog in noch unbekannte Qualen in der nahen Zukunft. Viele im Gasthaus brachen in Jubel aus. Viele aber erbleichten angesichts dieser Fackelzüge. Albrecht und Erica hielten sich an der Hand und verstummten. Sie konnten nur mühsam die Tränen zurückhalten, trugen sie doch das tiefe Wissen in sich, daß durch dieses Regime der Gewalt über den Einzelnen ein Land nicht zu regieren sei. „Wohin geht ihr“, sagte Albrecht vor sich hin, „mein Gott, wohin?“. In Österreich gab es damals wirtschaftliche Not und Arbeitslosigkeit. Nun stürzten sich die Leute den Nazis entgegen, allen großen Versprechungen glaubend und den Sand in den Augen ebenso wenig gewahrend, wie es den Deutschen ergangen war. Was blieb den Menschen am Rande übrig? Stillhalten und durchhalten in dem Hoffen auf bessere Einsichten. Entgegen allen internationalen Zusagen marschierten die deutschen Armeen im Herbst 1938 in die Tschechei ein, Deutschland stand am Rande des 2. Weltkriegs durch das Glücksspiel, das Adolf Hitler veranstaltete: Glücksspiel mit dem ganzen Volk!
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Die Schwiegermutter, in den Erinnerungen später auch als „Omama“ bezeichnet.
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Es gab damals ein bitteres Erwachen. Aber man paßte auf. Viele Zweifler am „Tausendjährigen Reich“ verschwanden in Konzentrationslagern. Das Programm der Judenverfolgung wurde durchgeführt über Hunderttausende von Leben hinweg. Die „Kristallnacht von Berlin“ schockte das ganze Volk. In der „Kristallnacht“ wurden alle Schaufenster von jüdischen Läden zerschmissen und geplündert. Tiefe Scham erfaßte jeden denkenden Menschen. Wer irgendwie konnte, emigrierte. Jedoch keine Warnungen verfingen. Im Gegenteil, die Zeitungen waren voller Schmähungen: Die feigen, vollgefressenen Engländer würden es nicht wagen, sich zu wehren, und die degenerierten Franzosen seien erst recht unfähig, ihr Land zu verteidigen. Die Maginotlinie sei eine lächerliche Schöpfung der törichten Generäle Frankreichs und so fort. Deutschland sei so gut gerüstet, daß es reif sei, die Herrschaft in ganz Europa anzutreten, noch bevor der „Duce“ in Italien bereit sei, dieses Vorhaben zu sanktionieren. So und ähnlich hörte, las und sah man die Propaganda von Goebbels auf die Bevölkerung einhämmern. Die Stiefel der SS dröhnten durch die Straßen von Berlin und allen Orten Deutschlands. Der Blockwart der Gestapo im 2. Stock sagte eines Tages zu Erica, er freue sich, ihr mitteilen zu können, daß eine Überprüfung ihres Mannes gut ausgegangen sei. Beim „Bierchen“ in der Eckkneipe hätte er mal angeklopft, ob der Herr von Hagen auch richtig denke. Nur schade, daß er noch nicht Parteigenosse sei. Er, als Blockwart, könne doch gutsagen für ihn. Sie mußten zukünftig die Fenster schließen und das Telefon zudecken, wenn jemand zu Besuch kam.
Im Winter 1938/39 Albrecht und Erica genossen sehr bewußt Berlin mit den Abwechslungen, die sie haben konnten. Sie sahen öfter die heute noch berühmten Künstler Gustav Gründgens, Marianne Hoppe, Käthe Gold, Mathias Wiemann, Willi Birgel und so weiter … Es waren so viele. Sie erlebten den Anfang von Karajan als 2. Mann neben Furtwängler in der alten Philharmonie. Ganz Berlin strömte zu allen nur möglichen Veranstaltungen geistiger Genüsse. Sie überfluteten die politischen Kabaretts, besonders das „Kabarett der Komiker“, wo Werner Fink seinen Humor und Spott an der Politik ausließ zum Jubel aller Zuschauer. Er vermeinte, Narrenfreiheit zu genießen. Aber Goebbels ließ ihn doch einsperren, eben wegen des Publikumsjubels, der zuviel von der unterdrückten Meinung blicken ließ, die eben ganz anders war. „Das Niveau sinkt immer tiefer, und immer tiefer sinkt das Niveau!“ Dieses Lied zeigte so recht auf, wie niemand sich getraute, seine Empörung auszusprechen über die menschenunwürdige Behandlung der Juden. Die mit dem Stern an der Brust dekorierten Menschen schlichen angstvoll wie scheue Tiere durch die Straßen. Nur die allernötigsten Gänge taten sie öffentlich. Albrecht und Erica litten bis tief ins Herz beim Anblick der gepeinigten Menschen. „Für Juden verboten“ stand an Parkbänken und wer weiß wo überall, an Geschäften, Restaurants und Cafés:
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„Juden unerwünscht“. Und dauernd beherrschten das Straßenbild die Uniformen von SA und SS. Wieviel Gestapo-Leute in Zivil rumliefen, ahnte man nie. Im Grunde war jeder froh, wieder ungeschoren zu Hause angelangt zu sein. Die Furcht ums nackte Leben herrschte überall in den Straßen, in den Familien, kurz überall, wo Menschen beisammen waren. Albrecht und Erica fuhren, sooft es ging, raus nach Alt-Gaul zu Rüdiger.4 Aber auch dort sprach man über Politik. Natürlich, denn es knisterte vor Spannung, ob ein Krieg vermieden werden könnte oder nicht. Alle zitterten davor, daß diese Art des politischen Glücksspiels, das von Hitler betrieben wurde, auf die Dauer friedlich ausgehen würde. Arbeitslosigkeit gab es nicht, weil alle Waffenfabriken auf Hochtouren liefen. Würde es Krieg geben? Mein Gott, wie sehr zitterte Deutschland innerlich vor Angst. Das konnte man kaum ermessen. In der Industriebank arbeitete Albrecht nach wie vor unangefochten, aber auch weiterhin als „Nicht-Parteigenosse“. Ohne Abzeichen wurde er auch nicht befördert. So kam die Weihnachtszeit 1938/39 heran. Sie fuhren mit den lustigen Kindern wieder nach Langen per Auto. Die Kinder waren in Langen nun schon wie zu Hause. Sommer 1939 Es war in den letzten Augusttagen, und es lag eine Gewitterschwüle über dem Land in der Oderniederung. Die Menschen reagierten gespannt und ebenfalls reizbar bis zum Bersten. Am Samstag gab es laute, heftige Streitgespräche zwischen den Brüdern, obwohl sie beim Wein so friedlich am großen, runden Tisch in der Halle saßen. Dauernd lief das Radio mit Meldungen. Und dann, war’s noch am Samstag oder am Sonntag? Die Kriegserklärung gegen Polen! Mobilmachung! Ein aufgeregter Ansager verkündete, daß die deutsche Wehrmacht bereits seit Stunden tief in Polen einmarschiert sei und der Feldzug nur eine Sache von mehreren Tagen sein werde. Von all den Toten und den wirklichen Gewalt- und Greueltaten sagte niemand etwas, wagte niemand etwas zu sagen. Bei dieser Nachricht gingen Albrecht und Erica still hinaus auf die Terrasse. Sie hielten sich an den Händen und weinten beide. Albrechts Worte waren: „Nun ist es geschehen, nun gibt es keine Hoffnung mehr!“ Das sagte dieser Mann, der immer optimistisch war, immer ausgeglichen und zufrieden. Sie packten die Koffer und fuhren zurück nach Berlin. Am nächsten Tag kam für Albrecht der Gestellungsbefehl zur 10. Panzerdivision als Leutnant der Reserve. Er wurde in den Stab übernommen als Ordonnanzoffizier im Versorgungsstab. Die Division lag in der Nähe von Berlin, in Wünsdorf. Zunächst blieben Mutter und Kinder in Berlin. Jedoch setzte sofort die Zwangswirtschaft ein: Rationalisierung aller Lebensmittel und sonstiger Verbrauchsgüter. Erica traf das hart, denn sie hatte nie Sinn und Meinung für Vorratswirtschaft gezeigt. Das Geld war für jeden Monat 4
Jüngerer Bruder Albrechts von Hagen, geboren 1906.
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eingeteilt. Da blieb nichts übrig fürs Hamstern. Diese wahre Krankheit brach sofort aus, vom Strumpf bis zur Butter. Die Leute eilten wie aufgescheuchte Bienen umher. Jeder brauchte plötzlich alles so nötig. Diejenigen, die sowieso alles hatten, wollten mehr und mehr, solche, die wirklich was brauchten, bekamen nichts mehr, nur noch auf Zuteilung, und die war von Anbeginn an knapp. Da Albrechts Einheit unweit von Berlin lag, konnte er zunächst öfter nach Hause fahren. Die Trennung war für Erica wie ein Schock. Sie ging ruhig ihrem Tagewerk nach, aber es war leer im Haus trotz Kinderjubel. Sie fühlte, daß ihr Leben in eine neue, unabänderliche Phase eingetreten war. Noch lastete die Verantwortung für das kommende Dasein nicht auf ihr, aber jeder begab sich zu jener Zeit von der Geborgenheit der Gegenwart in die Unsicherheit der Zukunft. Immer schon lastete auf ihr die Sorge, daß sie schlecht gerüstet war in der Idee, daß man für den Unterhalt selbst sorgen müßte. Aber Albrecht beruhigte sie, daß diese Gedanken überflüssig wären. Nun stand die Zukunft dunkel vor ihr. Zwar überschlugen sich die Siegesmeldungen. Doch gerade, als Albrecht zu Hause war, kam die Nachricht aus dem Radio, daß England den Krieg erklärt hatte. Albrechts Reaktion: „Das ist der Anfang vom Ende Deutschlands! Das schafft die Wehrmacht niemals, und es ist auch nicht zu wünschen, denn stell’ Dir mal vor, die Nazis würden ganz Europa beherrschen.“ Weiter sagte er, indem er, ganz gegen seine Gewohnheit, aufgeregt hinund herlief: „Ich bin gegen den Krieg. Ich werde mich bemühen, niemanden zu töten! Du weißt, daß ich ein toter Mann bin, wenn ich den Kriegsdienst verweigere. Damit ist niemandem geholfen. In dieser Situation gehe ich als Sportsmann in den Krieg. Nur so, indem ich alles um mich her als Sport ansehe, kann ich es bewältigen. Und sollte ich fallen, dann schreibe in den Nachruf nur: Gefallen für das Vaterland, hörst Du, nur für das Vaterland.“ Sie umschlangen einander und hielten sich lange fest. Sie weinten miteinander. Es war wie ein Abschied. Dann hielten sie Rat und beschlossen, auf Albrechts Zureden, Berlin zu verlassen. Albrecht rechnete felsenfest mit der Zerstörung der deutschen Städte durch Luftangriffe. Diese Meinung teilten nur ganz wenige Menschen. Zunächst fragte Albrecht seinen Bruder Rüdiger, ob er Erica und die Kinder aufnehmen wolle. Man versuchte es miteinander, aber es ging nicht so recht. Auch sah Rüdiger die Notwendigkeit nicht ein. Zunächst passierte ja auch nichts, denn es gab weiterhin nur Jubel und Siegesmeldungen. Mit Rußland bestand ein Nichtangriffspakt. Man wiegte sich allgemein in Sicherheit. Von den grauenhaften Kämpfen in Warschau wurde man natürlich durch die Presse falsch informiert. Im Westen wartete man auf eine Auseinandersetzung. Warum sollten Familien Berlin verlassen? Inzwischen hatten sich die Langener5 überlegt, daß es für Erica und die Kinder besser sei, nicht in Berlin zu leben, solange die Zeiten derartig unübersichtlich 5
Familie v. Hagen in Langen, Kreis Belgard, Albrechts Elternhaus.
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seien. Sie überlegten mit Albrecht, ob seine Familie nicht in Langen am besten geborgen sei. Außerdem könnte Erica eine gute Mithilfe darstellen und sich ausgefüllt fühlen. Für Erica war es ein sehr schwerer Entschluß, denn sie gab ihre Selbstbestimmung auf durch diese Übersiedlung auf unabsehbare Zeit. Aber es war ja nicht das erste Mal, daß sie längere Zeit in Langen zugebracht hatte, und es war immer gutgegangen. Die Idee, wieder auf dem Lande zu leben und den Kindern dies freie Landleben in der Kinderzeit geben zu können, fand sie gut. Diese Erwägung erleichterte ihr den Entschluß. So packten sie weitsichtig alle wichtigen Dinge, um sie in Langen sicher zu haben. Sie verstauten, was ging, im Keller des Hauses in Grunewald, immerhin Kisten und Kasten. Man lächelte eigentlich über die Vorsicht. Aber man war nicht allein mit dieser Vorsicht. Erica arbeitete, schleppte und raffte, was alles ganz gegen ihre Natur war. Sie litt. Albrecht kam öfter von Wünsdorf nach Hause in diesem sonnigen September und Oktober 1939. Ganz bewußt genossen sie diese Stunden. Sie spielten nicht mehr Tennis in ihrem kleinen Club am Hohenzollerndamm, sondern auf den beiden Plätzen auf dem Hubertussportplatz an der Hubertusallee. Zunächst lag seine Einheit immer noch im nahen Wünsdorf, so daß er die Möglichkeit hatte, nach Hause zu fahren. Weihnachten 1939 Albrecht konnte sich nach Langen beurlauben lassen. Wie im Traum begingen sie alle die Festtage in einer inneren Anspannung ohnegleichen. Jeder war bereit, so froh und glücklich zu sein wie möglich: Bereitschaft für alle. In Bereitschaft lag das deutsche Heer dem französischen gegenüber: der Westwall der Maginotlinie. Weihnachten 1939, das letzte Weihnachten mit Albrecht. Mehr als früher befaßte er sich mit seinen Kindern. Besonders bemerkte er Helmtruds Entfaltung in ihrem fünften Lebensjahr zu einem bildhübschen Kind mit strahlenden Augen. Man konnte richtig reden mit ihr, denn sie war kein Schreihals mehr. Wie immer seit Helmuths6 Tod gingen Albrecht und Erica mit den Kindern zum Grab bei der Kapelle. Schnee lag über der stillen Stätte. Schnee deckt so vieles zu, was leben möchte. In Albrechts Herz brannte tiefste Hoffnungslosigkeit. Man diskutierte nicht mehr mit ihm über Politik. Man war dankbar für jede Minute des Beisammenseins. Die Haltung der Großeltern war bewundernswert. Sie fühlten sich in der Pflicht des Durchhaltens, komme, was da wolle. Sie verschlossen sich ganz und absichtlich allen durchsickernden Nachrichten über Greueltaten der Nazis in Polen und in den KZ-Lagern. Kam Erica aus Berlin zurück und erzählte von Geschehnissen und was sie gesehen hatte in den Straßen, so wurde sie hart zurechtgewiesen zu schweigen. 6 Erster Sohn der v. Hagens, vierjährig gestorben am 4. Januar 1933 an einer Hirnhautentzündung.
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Sie konnten nicht bestehen, wenn sie zugehört hätten. Sie gingen zur Tagesordnung über. Die verlief gradlinig wie ein Uhrwerk. Mangel litten die Menschen auf dem Lande nicht. Geflügelhaltung und Wild waren frei von der Bewirtschaftung, desgleichen Gemüse und Obst. Solange kein Mangel herrscht, bleibt das Volk ruhig. 1940 Nach der Rückkehr vom Langener Weihnachtsfest beschlossen Albrecht und Erica, einen Teil der Wohnung zu vermieten. Zögernd gab Frau Wiener ihre Einwilligung, aber sie sah dann ein, daß die Rückkehr der Familie in unabsehbare Ferne gerückt war. Münchhausen, ebenfalls Angestellter der Industriebank, übernahm das große Wohnzimmer und die hinteren beiden Zimmer. Nach einer ungemütlichen Kramerei hatte Erica die verbleibenden drei Zimmer wohnlich gemacht, so gut es ging. Noch mehr Sachen wurden im Keller verstaut und noch mehr nach Langen gebracht. (…) Eine Bombe genügte, um das Haus zu zerstören und ihrer Hände Arbeit. Aber das passierte erst im Februar 1944. 1940 war es in Berlin immer noch ruhig. Goebbels schwor, niemals würde ein fremdes Flugzeug sich vorwagen können, eine deutsche Stadt anzugreifen. Die Wehrmacht stand Gewehr bei Fuß. Dann, im März zur Schneeschmelze, wurde es im Westen lebendig. Vati Albrecht kam nicht mehr nach Hause. Die 10. Panzerdivision begann ihren sagenhaften Siegeszug durch Belgien bis zur Küste in Frankreich: Dieppe. Albrecht schickte Briefe und Berichte. Er war und blieb gesund. Die Vorgänge in Dieppe zu schildern, gehört nicht hierher. Die sind Weltgeschichte geworden, Kriegsgeschichte. Der Siegeszug der 10. Panzerdivision führte über Paris bis nach Lyon. Jedenfalls zeigt es die bunte Postkarte auf, die durch alle Geschehnisse gerettet werden konnte. Vati Albrecht berichtete von einem „sehr fröhlichen“ Feldzug ohne große Verluste. Auf seine Art des „kleinen Lords“ und Lebenskünstlers bewältigte er die Schwierigkeiten. Ein Mann erzählte später: „Bei einem Sturmgefecht gegen Morgen um 8 Uhr saß der Herr Leutnant hinter seinem Kübelwagen beim Frühstück, den heißen Kaffee auf einem Spirituskocher und ließ sich nicht stören.“ Erica erinnerte sich an seine Worte, diesen Krieg als „Sportsmann“ mitmachen und niemanden töten zu wollen. – Nach Beendigung dieses Feldzugs wurde die 10. Panzerdivision nach Schlesien in Ruhestellung verlegt. Das war im Juni 1940. Sie (Erica v. Hagen, d. Hrsg.) konnte sogar eine Woche nach Schlesien reisen, nach Sagan. Dort lag die 10. Panzerdivision in Bereitschaft. Guderian bereitete die Armee auf den Ostfeldzug vor. Zwar galt noch der Nichtangriffspakt mit Rußland. Aber General Guderian instruierte seine Panzerdivision: „Ihr werdet Tausende von Kilometern in kurzer Frist bewältigen müssen!“ Niemand sprach vom Krieg gegen Rußland. Jedoch diese Instruktion konnte nur so gemeint sein.
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Erica und Albrecht trafen sich in einem Hotel in Sagan. Sie erlebten die Stunden bewusst als Geschenk in jener Zeit, in der die Ungewissheit über jedem Menschen hing. Erica erfuhr von den Vorbereitungen, in Rußland einzumarschieren. Man fragte sich, ob das gut gehen könne. Nach außen wurde verlautbar, daß die Wehrmacht im Osten zur Abwehr dort zusammengezogen läge, aber in Wirklichkeit lag sie startbereit an der gesamten Ostgrenze. Es ist lange bewiesen, daß Rußland überhaupt nicht zum Überfall auf Deutschland gerüstet war, also dringend des Nichtangriffspaktes bedurfte. So schwelten die Gerüchte im Volk, aber nur im Flüsterton sprach man darüber. Bis zum Sommer 1941 lag die 10. PZ-Division in Schlesien. Albrecht kam ganz selten nach Berlin. Zu solchen Treffs in der Paulsborner Straße rüstete Omama ihre Schwiegertochter mit guten Sachen aus vom Land: Hühnchen, Tauben mit etwas Speck, Eier und Wurst aller Sorten. Erica hatte inzwischen in Langen ihren ersten Wohnsitz, das heißt, daß sie in Berlin keinen Anspruch auf Lebensmittel hatte. So schleppte sie unverdrossen nach Berlin, was sie schleppen konnte. Gute Weine und Cognac hatte Albrecht vom glorreichen Feldzug in Frankreich organisiert. So also gestalteten sich die Wochenenden in Berlin feucht und fröhlich. Die Münchhausens feierten mit und alte Freunde und Kollegen von der Industriebank. 1941 Zu Ostern erschien Albrecht in seinem Wehrmachtsauto in Langen. Die Kinder schwärmten um ihn herum, voller Ehrfurcht, denn Vatilein trug Uniform. Er war zum Oberleutnant befördert worden. Dies freute ihn, denn die Partei-Organe konnten ihn als Offizier der Wehrmacht nun nicht mehr drängen, Parteimitglied zu werden. Die ganze Familie mühte sich, für ihn das Beste zu geben. Omama sorgte für herrliche Mahlzeiten, und Opapa holte seinen besten Wein aus dem Keller. Die Kinder zankten nicht miteinander, und Erica wurde von allen Ämtern in Ställen, Haus und Garten freigestellt, damit sie Zeit hatte für ihren Mann. Danach kam Albrecht nicht mehr nach Langen bis 1942, als die bittere Nachricht eintraf, daß Gerd7 in Rußland vermißt sei. Es bestand kein Zweifel, daß Albrecht seiner Mutter am nächsten von allen Söhnen stand. Wie tröstlich für sie, daß er bei ihr war, als die Nachricht sie so hart traf. Albrecht wußte, was es hieß: „… vermißt in Rußland.“ 1941 war der Sturm auf Rußland losgebrochen. In vier Monaten wollte Hitler diesen Kampf gegen Rußland siegreich durchführen, so hämmerten die Sondermeldungen aus den Radios. Die 10. Panzerdivision rollte siegreich bis vor die Tore Moskaus. Albrecht, als Ordonnanzoffizier im Stab für den Nachschub, erlebte und berichtete, daß bereits ein riesen Sprengstofflager etwa an der Moskauer Ringbahn lagerte, um von dort den letzten Vorstoß zu starten. Den gesamten Nachschub an 7
Gerd von Hagen: älterer Bruder von Albrecht v. H.
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Munition und Verpflegung überhaupt bis dorthin organisiert zu haben, war eine tolle Leistung bei den herbstlich regnerischen Wochen im Oktober. Die Unregbarkeit Rußlands war bekanntermaßen furchtbar. Albrecht erhielt nachträglich das Verdienstkreuz für Tapferkeit vor dem Feind. Er erzählte später, daß er, wie durch ein Wunder, nie getroffen wurde bei seinen Fußmärschen ganz allein entlang eines Schienenstrangs von einem Versorgungslager zum anderen. Die Russen zogen sich zurück, immer tiefer nach Sibirien hin zogen sie sich zurück. Sie hatten treue Verbündete; die Weite, den Winter und die Amerikaner. Und dann kam der Winter im November. Es war nicht zu begreifen, daß das Heer im Osten ohne Winterausrüstung gelassen wurde. Im Führerhauptquartier hieß es, das sei nicht mehr nötig, denn der Sieg, die Einnahme von Moskau, stünde kurz bevor. Ganz etwas anderes passierte: in Stalingrad wurde die 6. Armee basiert. Und nun brach der Winter los mit Eis und Schnee. Der Rückzug begann. Anfang Dezember erfuhr Erica, daß von Böblingen bei Stuttgart aus Versorgung für die 10. Panzerdivision nach Moschaisk gebracht würde. Albrecht hatte natürlich auch keine warmen Sachen mit. So gab Omama einen alten sogenannten Nacktpelz her (naturgegerbt mit weißem Leder außen). Darein wickelte sie Handschuhe, Socken und wollene Unterwäsche. Dies alles wurde mit einem Riemen zu einem kaum tragbar schweren Bündel verschnürt. Hiermit wurde Erica auf die Bahn geladen zu einer abenteuerlichen Fahrt durch fast ganz Deutschland. In Berlin mußte sie umsteigen, vom Stettiner zum Anhalter Bahnhof rüber. Eine Taxe gab es nicht. So schleppte sie um ihr Leben und gelangte per U-Bahn zum Anhalter Bahnhof. Wieviele Stunden sie auf dieser Fahrt in Wartesälen zubrachte, bis sie nach einer Nachtfahrt in Stuttgart ankam, total erschöpft von der Fahrt im überfüllten Zug. Sie hatte es schnell vergessen, denn in der Tat ging bald ein Zug nach Böblingen. Wieder schleppte sie das Pelzbündel bis zu den Kasernen am Stadtrand. Und in der Tat, sie fand zur richtigen Transportstelle und konnte das Bündel abgeben: welch ein Wunder! Der Transport kam am Heiligabend bei der Truppe an. Albrecht schrieb im Feldpostbrief, daß er die Riemen vom Pelz gerissen hätte, alle Dinge hätte auf den Boden fallen lassen, nur, um im Pelz zu verschwinden, der ihn buchstäblich vor dem Erfrieren gerettet hätte. Die Ohren hatte er bereits angefroren und die Hände und Füße ebenfalls. Die Division wurde langsam zurückgezogen. Sie kam in kurze Ruhestellung. Die Fotos zeigten, daß die Offiziere Ski liefen. Aus jener Zeit stammt die Freundschaft mit Klamroth,8 der Albrechts direkter Vorgesetzter war. Ebenfalls in jener Zeit gewann Albrecht die Einstellung zum Widerstandskämpfer. Er wurde Zeuge von Massenhinrichtungen. So sicher er sich immer war, daß das Naziregime Deutschland ruinieren mußte, so sicher war er nun, daß der Krieg niemals mehr zu gewinnen sei: Mit den Mitteln der Menschenvernichtung nimmermehr, mit der Massen8 Bernhard Klamroth, Oberstleutnant, am 15. August 1944 als Widerstandskämpfer hingerichtet.
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vernichtung der Zivilbevölkerung dort und in sämtlichen Lagern. Im Wissen darum kam er zum Widerstand gegen Hitler. Klamroth gehörte schon länger dazu. So war es nur zu natürlich, daß diese Männer sich verbündeten und Freunde wurden. 1942 Per Feldpost bekam Vater Albrecht regelmäßig Berichte aus Langen. Man war so weit getrennt voneinander und unterschwellig dauernd in Angst. Die Division wurde aus dem Osten zurückgezogen, um in Afrika eingesetzt zu werden. So kam Albrecht wieder einige Male nach Berlin und konnte sich mit seiner Frau treffen. Es war 1942 nicht mehr geheuer in allen Großstädten. Bekanntermaßen waren die Amerikaner ebenfalls im Krieg mit Nazi-Deutschland. Ohne ihre Materiallieferungen wären die Russen nicht zum Zurückschlagen imstande gewesen. Albrechts Schilderungen vom Rückzug im Winter 1941/42 aus den Gebieten vor Moskau, zurück durch unwegsame Wälder und kahle Schneeflächen, durch zerschossene, menschenleere Dörfer und Städte, vorbei an Stätten des Grauens und Mordens waren furchtbar. Er selber war nicht mehr derselbe fröhliche Mensch wie früher. Die Entschlossenheit zum Widerstand strahlte er aus. Nur war er damals noch nicht organisiert. Er war in Berlin oft mit Klamroth zusammen. Sie hatten ihr Haus schräg gegenüber von Hagens, aber das hatten sie nie gewußt. Wie es in der Großstadt geht, daß man seine Nachbarn nicht kennt. Klamroth wurde in den Generalstab versetzt: nach Ostpreußen – Angerburg, Wolfsschanze. Albrecht war zu Weihnachten nicht in Langen. Es waren dunkle, stille Tage, nur erhellt von Kinderfreude. Endlich war es soweit, daß die 10. Panzerdivision in Deutschland eine Weile zur Ruhe kam. Unverwundet, aber tief deprimiert kam Vater Albrecht nach Langen. Die Eltern verstanden ihn nicht mehr. Mit Erica verlebte er in Berlin Wochenenden voller Harmonie. Oft waren beide in Alt-Gaul bei Rüdiger und Barbara. Dort hatten sich Freunde hingeflüchtet, die schon damals ausgebombt waren. In jener Zeit begannen die größeren Luftangriffe auf deutsche Großstädte. So hatte sich eine Ostpreußin, Valeska von Kalckstein, in Alt-Gaul eingefunden. Sie war Kunstfotografin und nahm Bilder von Albrecht und Erica auf. Es waren die letzten Bilder von Vater Albrecht. Im Frühling 1942 wurde die 10. Panzerdivision in Tunesien eingesetzt. Als Stabsoffizier für die Versorgung wurde Albrecht im Mai 1942 von Neapel nach Tunis herübergeflogen. Die Truppe wurde übers Meer geschickt. Der Transporter, mit dem Albrecht eigentlich hatte mitschippern sollen, wurde torpediert. Niemand überlebte. Aus der Kriegszeit in Tunis gibt es einige nette Bilder, die aufzeigen, daß es sich im Süden leichter lebte als im winterlichen Rußland, und daß die Südweine oder „vino tinto“ besser schmeckten als Wodka. In Tunis begegnete Albrecht dem Gra-
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fen Stauffenberg. Durch ihn wurde er zum Widerstand berufen. Dort reifte sein Entschluß zur Teilnahme auf Leben und Tod. Januar 1943 Im Mai 1943 wurde Albrecht aus Tunis ausgeflogen und nach AngerburgWolfsschanze versetzt als Kurier von dort zum O.K.H.9 in Berlin-Bendlerstraße. Dort war General Stieff sein Vorgesetzter und dort arbeitete er auch wieder mit Klamroth zusammen. Oberst Graf Stauffenberg war inzwischen aus Tunis ins O.K.H. in die Bendlerstraße versetzt worden. Nun übernahm Albrecht den direkten Kurierdienst zwischen Ostpreußen und Berlin. Diese Situation ergab ein häufiges Treffen von Albrecht und Erica in BerlinGrunewald. Immer richtete Erica es ein, daß sie vor ihm dort eintraf, und immer seitdem gab es eine herzliche Begrüßung an der Tür, worauf Albrecht den Koffer reinstellte und sich mit der Aktentasche unterm Arm aufmachte mit der Erklärung: „Ich muß sofort erst zu Graf Stauffenberg.“ Meistens wartete unten ein Dienstwagen auf ihn. Erica machte sich keine schweren Gedanken. Im Gegenteil, sie war überglücklich und mit ihr die gesamte Familie, daß er zunächst aus unmittelbarer Lebensgefahr gerettet war. So ging das durch das ganze Jahr 1943. Nur die Luftangriffe nahmen an Häufigkeit und Stärke zu. Jede Nacht Fliegeralarm, jede Nacht in ganz Deutschland wurde die Bevölkerung aufgeschreckt. Jede Nacht die Furcht: wann trifft es mich? Eines Abends ging, ohne Alarm, eine schwere Bombe in der Nähe der Paulsbornerstraße nieder. Albrecht riß Erica an der Hand vom Stuhl und zerrte sie die Hintertreppe hinunter zum Luftschutzraum, kreideweiß im Gesicht. Er hatte befürchtet, daß dies nur der Anfang sei. Aber es passierte weiter nichts. Nur Erica begriff, welchen Gefahren er entronnen sein mußte, wenn ihn dieser eine Knall so erregte. Sie war aus dem Langener Behütetsein noch ganz naiv. Niemals zuvor hatte Albrecht für jemand besondere Begeisterung gezeigt. Er hatte Freunde aus der Schul- und Corpszeit und sagte öfter: „Wozu soll ich mich um Freunde bemühen, denn meine besten Freunde bleiben doch meine Brüder.“ Aber seit er Klamroth und Stauffenberg kannte, war er so fasziniert von diesen Männern. Es war befremdlich, wie restlos begeistert er von ihnen war. So etwas hatte sie10 noch nie erlebt. Während der Berliner Treffen hielt er sich merkbar zurück, Berliner Bekannte zu treffen oder anzurufen. Nur Wolffs rief er an und ging auch manchmal kurz dorthin zu Besuch. Er zeigte sich viel ernster und nachdenklicher als früher. Erica fand ihn ihr gegenüber verschlossen. Der Kontakt war irgendwie verkrampft. Sie feierten lustige Abende zusammen mit Münchhausens, gingen zum Sportplatz Tennis 9
Oberkommando des Heeres. Gemeint ist die Verfasserin, Erica v. Hagen.
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spielen und wanderten auch mal zum „Blau-Weiß“ oder „Rot-Weiß“, wo sie früher selten die Meisterschaftsspiele versäumten. Aber der allgemeine Druck der unübersichtlichen Kriegszeit und des Nichtwissens über die Zukunft tat sicher das seine, wie in allen Familien. Im Spätherbst 1943 trafen sie sich wieder für einige Tage in Berlin. Es gab Alarm, und Berlin war eingehüllt im Feuerschein der Brände. Nach der Entwarnung brach Albrecht weinend zusammen. Auf Ericas Frage, warum? sagte er: „Es ist alles so furchtbar und so hoffnungslos!“ „Und, was meinst Du, sollte getan werden?“ Da fuhr er mit dem Arm wütend über den Tisch, daß alles durcheinander fiel und zischte: „ER muß eben weg!“ „Und wie das, denn da kommt doch keiner ran?“ Albrecht darauf mit verzerrtem Gesicht: „Es wird sich schon jemand finden!“ Erica hätten eigentlich die Augen aufgehen müssen, denn sicher war er so fertig, daß er sich ihr hätte anvertrauen wollen. Das war ja eben seine Stärke: sein Schweigen. Das war der entscheidende Augenblick, der später Erica und die Kinder davor bewahrte, von der Gestapo ins KZ gebracht zu werden. Durch sein Schweigen wurde Erica herausgehalten aus der Widerstandsbewegung, der er angehörte, seit er Graf Stauffenberg in Tunis begegnet war. Später lernte Erica Klamroth und seine junge Frau kennen. Insbesondere sie wußte alles und half mit. Sie lebte bei den Eltern Klamroth in Halberstadt, die auch aktiv waren im Widerstand. Erica fühlte sich stark als Außenseiter in diesem Kreis. Es konnte auch nicht anders sein. Vielleicht wäre sie auch nicht stark genug gewesen, solch ein Mitwissen zu ertragen, war sie doch gerade erst genesen nach der Nervenkrise aus Gründen zu schwerer Belastungen. Während der ganzen Dienstzeit in Angerburg fuhr Albrecht niemals nach Perscheln,11 um die Bergs nicht in die Gefahr der Widerstandsbewegung hereinzuziehen, denn Vater Hippel12 war bereits 1933 gefangen, gefoltert und abgestempelt worden als Gegner der Nazis. 1944 Im Februar gelang es Albrecht, mit Erica in St. Anton am Arlberg Skiurlaub zu machen. Es war wie eine unwirkliche Traumfahrt: Sonne und Schnee und abseits aller Gefahren. Sie waren diesmal allein, ohne die Kinder. Zu der Zeit wohnte Albrechts Schwester Roseli in den verbliebenen Zimmern in der Wohnung der Paulsborner Straße in Berlin. Nur noch das Schlafzimmer hatten sie sich reserviert. Im übrigen Teil wohnten Münchhausens. Eines Morgens wurde ein Telegramm durchgesagt: Paulsborner Straße 46 total ausgebombt, alles vernichtet. Das war wie ein Keulenschlag. Alle Menschen in Berlin waren täglich darauf gefaßt, Leben und Habe zu verlieren. Die Tatsache als solche zu erfahren, daß man alle Habe verloren hatte, war doch ein großer Schock. 11 12
Wohnsitz der Eltern von Erika v. Hagen in Ostpreußen. Schwiegervater von Botho v. Berg, Bruder von Erica.
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Sie erfuhren das einige Tage vor der Rückreise. Sie waren so vernünftig, nicht gleich zurückzufahren. Man konnte doch nichts mehr retten oder ändern. An jenem Abend gingen sie aus in St. Anton, fanden noch ein Hotel, in dem man gut essen konnte, und tranken eine Flasche Sekt zusammen. Sie hielten sich an den Händen und Albrecht sagte: „Wir leben, das ist die Hauptsache. Möbel können wir wieder kaufen.“ Berlin war unheimlich verändert. Am Anhalter Bahnhof Trümmerfelder, Straßensperren während der Busfahrt zum Grunewald über Umleitungen. Widerlicher Rauchgeruch und Nebel lagerten über der Stadt. Man sah in allen Straßen Menschen ihre letzten Koffer tragen, Handwagen ziehen, rennen, weinend in der grauen Kälte vor einem Nichts stehend, nicht wissend wohin, nicht wissend, wie Berlin am nächsten Tag aussehen würde. So gelangten Albrecht und Erica zur Paulsborner Straße 46. Nur die Außenmauern standen, und nur der starke Keller hatte all dem Schutt standgehalten. Eine Brandbombe war durchs Dach direkt in das Hagensche Schlafzimmer gefallen und hatte sofort einen unlöschbaren Brand entfacht. Rings in den Straßen sah es ebenso aus: Schlote in Außenmauern, nichts mehr. Die Hagens trafen das Portiersehepaar in der alten Wohnung unten an, wo sie sich notdürftig etabliert hatten. Frau Wiener hatte sich ebenfalls mit ein paar im Keller geborgenen Sachen eingerichtet, aber ohne Fenster. Hagens hatten einige Kisten mit Dingen gerettet. Erica wurde schwarz vor Augen. Sie konnte es nicht ertragen, diese Zerstörung zu sehen. Sachen und Dinge zu verlieren, hatte sie nicht so geschockt, aber diese Ruinen zeigten deutlich das „Nie wieder“, und niemand konnte ermessen: „Was dann?“ Die wertvollsten Sachen lagerten in Langen und Alt-Gaul. Es gelang sogar, eine Schlafzimmereinrichtung anzukaufen und nach Alt-Gaul zu befördern. Wie besessen versuchten sie, wieder Fuß zu fassen. Aber dieses „Was dann?“ lag wie ein Alptraum auf jedem Menschen. Rüdiger und Barbara in Alt-Gaul waren zur Zuflucht geworden, um sich zu treffen – statt in Berlin. Von dort aus sahen sie einem Luftkampf zu, einem Versuch deutscher Kampfflieger, die amerikanischen Angriffsformationen auf Berlin zu stören. An Bezwingen war gar nicht zu denken. Sie zogen mit einer Übermacht so zielsicher dahin, daß die deutschen Kampfflieger wie kleine störende Mücken wirkten. Man konnte einige Abstürze beobachten, aber die Formation dröhnte in großer Höhe davon, als ob es die Deutschen nicht gäbe. Nach zehn Minuten meldete das Radio „Großer Tagesangriff auf Berlin“. Man spürte den Anfang vom Ende. Im Juni 1944 trafen sich Albrecht und Erica wieder in Alt-Gaul. Sie konnten nicht wissen, daß es das letzte Mal war. Eine eigenartige tiefe Ruhe des Herzens nahm beide gefangen. Sie waren wohl das, was man wirklich glücklich nennt, denn Glück gilt nicht für täglich. Über Politik stritten die Brüder nicht mehr. Dieses Wochenende im Juni war in Frieden getaucht, obwohl die Verteidigung Deutsch-
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lands unmittelbar an den Ost- und Westgrenzen begonnen hatte: Verteidigung, die letzte Zerstörung zur Folge hatte. Erica brachte ihren Mann zur Bahn in Freienwalde/Oder. Er hielt ihre Hand so lange fest, bis der Menschenandrang an der Sperre ihn mit fortnahm. Nur ihre Augen hielten einander fest, bis der Zug einlief. Dann kehrte sie zurück nach Langen, zu den Kindern, zu ihren Aufgaben dort. Bereits im September 1943 war Klein-Albrecht, der ältere der beiden HagenKinder, in die Hitlerjugend eingegliedert worden. Das vollzog sich automatisch mit dem 10. Lebensjahr. Die „HJ“ in Langen war ein besserer Pfadfinderverein und war für die Jungens eine herrliche Sache: Viel marschieren an der Luft, viel Sport und Spiele. Albrecht wurde zum Fähnleinführer ernannt und nahm die Sache wichtig und ernst. Sein blonder Haarschopf wippte keck, wenn er die Fahne schulterte. Er war ein echter Junge. Am 20. Juli ritt Erica frühmorgens durch goldene Felder und duftenden Tannenwald. Als sie später heimkam, kreischte die Köchin: „Ein Offizier, ein Graf Stauffenberg, hat versucht, den Führer umzubringen! Da hat man’s, immer die Adligen müssen solche Sachen machen!“ Erica schrie zurück, das sei sicher eine gemeine Verleumdung, und sie solle sofort ruhig sein. Sie schlug der Frau die Tür vor der Nase zu. Dann traf sie die Schwiegereltern in einer Erstarrung an, die sich ebenfalls in großer Empörung Luft machten: Dolchstoß gegen den Führer und die Wehrmacht. Das Radio sendete pausenlos wilde Nachrichten, bis schließlich Hitler seine bekannte Ansprache hielt. Eine Gruppe ehrgeiziger Offiziere hätte ihn umbringen wollen, aber der „Allmächtige“ hätte es nicht zugelassen, daß Deutschland ohne „Führer“ den Feinden in die Hände fiele. Der Führer hätte die Sendung, Deutschland zum Endsieg zu führen. Der Beweis dafür sei dieses dilettantische Attentat. Alles brach in Heilrufe aus – Erica erschrak bis ins Mark: Graf Stauffenberg, Klamroth, Hagen, Stieff! Fieberhaft jagten sich ihre Gedanken. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Sie erlebte nochmal (erinnerte sich, d. Hrsg.), wie Albrecht sich im Winter 1943 in der Wohnung im Grunewald so kurz verabschiedet hatte, seinen Koffer hereinstellte und die Aktentasche nahm. Sie wollte ihn zurückhalten, ergriff die Aktentasche und sagte: „Mein Gott, die ist ja so schwer, als wären Steine darin!“ „Laß nur, gib her. Ich muß sofort zu Stauffenberg!“ Sie rang nach Fassung in ihrem Zimmer. Nach einer Weile stahl sie sich, unbemerkt von Omama, in Schwiegervaters Arbeitszimmer. Er saß am Schreibtisch, ganz vertieft in die Arbeit und wollte nicht gestört werden. Aber Erica sagte: „Ich muß Dir sagen, daß Albrecht als Kurier oft bei Stauffenberg war. Du weißt das ja auch, aber ich fürchte, daß er da mit drinsteckt.“ So vergingen einige wunderbare, klare Sommertage, die Erica in tiefster Bedrückung durchlebte. Sie hatte niemand, mit dem sie ihre Ängste durchsprechen konnte. Am 23. Juli kam eine Postkarte vom 21. Juli mit Grüßen: „Ich muß eine
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kleine Reise machen.“ Mehr stand nicht darauf. Erica wußte nicht, daß Albrecht am 21. Juli verhaftet worden war. Dies war sein letzter Gruß an die Seinen. Schwiegervater triumphierte laut und froh durchs ganze Haus. Aber Erica war mißtrauisch. Ihr fielen so manche Gespräche und Tuscheleien ein, die Albrecht und Klamroth gehabt hatten, bei denen Erica sich immer ausgeschlossen gefühlt hatte. Ja, so war es, da stimmte was nicht. Irgendwas war ihr unheimlich. Klein-Albrecht hatte Ferien und war mit seinen Kameraden in einem Ferienlager für Pimpfe. Helmtrud war in Langen und genoß die Freizeit ohne Munzer-Druck.13 Das Leben ging weiter, als ob nichts geschehen wäre. Noch hörte man keinen Kriegslärm, obwohl die Russen an Ostpreußens Grenzen kämpften, hart und verbissen. In der Nacht zum 1. August 1944 hieb jemand gegen die verschlossene Haustür. Alle schliefen fest, nur Erica war immer noch tief beunruhigt. Sie war sofort hellwach, lief zum Fenster und fragte, was los sei. „Aufmachen, sofort aufmachen! Das ist ein Befehl!“, brüllten Männer aus dem Dunkel herauf. Erica zog den Schlafrock an und ging hinunter. Kaum hatte sie alle Verschlüsse und Laden offen, drängten sich acht Männer brüsk an ihr vorbei und wollten die Treppe hinaus. „Der Alte, daß der Alte nicht entkommt!“ riefen sie. Erica sprang mit einem Satz auf die Treppe und zischte die Männer an: „Wenn Sie meinen Schwiegervater sprechen wollen, so werde ich Sie sofort zu ihm führen. Er ist schwer herzkrank und Sie hätten sein Leben auf dem Gewissen, wenn Sie ihn derartig überfallen. Ich werde ihn erstmal wecken, damit er nicht so erschreckt wird. Bitte warten Sie hier!“ „Warten tun wir nicht, aber Sie können vorangehen!“ Sofort kam die Frage: „Sind Sie Erica von Hagen? Dann packen Sie auch gleich einen Koffer, denn Sie müssen mitkommen!“ „Wohin, mitten in der Nacht?“ Darauf bekam sie keine Antwort. So leise wie möglich trat Erica in Opapas Schlafzimmer. Er war aufgewacht von dem Treiben im Haus. Ein Gestapo-Beamter kam mit ihr herein und an sein Bett. Von da an brüllten die Kerle nicht mehr und benahmen sich normal. Ein Glück, daß Opapa gewarnt war. Nun ging Erica rüber in Omamas Schlafzimmer. Sie saß im Bett, kreideweiß vor Schreck. Auch sie mußte sofort aufstehen und sich anziehen. Sie packte schnell zwei kleine Koffer, nur für einige Tage, so sagten die Männer. Dann verständigte sie Tante Anna Hagen und übergab ihr den Schlüsselkorb. In Ericas Zimmer wühlten die Beamten inzwischen in allen Schubfächern. Sie wollten Briefe von Albrecht sehen und beschlagnahmten sie. In Erica wuchs die Angst um ihn, nur durfte sie sich nichts anmerken lassen. Sie schlich an Helmtruds Bett und sah sie tief schlafend. Sie weckte sie nicht.14
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Frau Munzer: die gestrenge Privatlehrerin. Die Kinder, Albrecht und Helmtrud, wurden wenig später in ein Kinderheim der NSVolkswohlfahrt in Bad Sachsa verschleppt. Dazu wurde ihnen und der im Hause verbliebenen Haushälterin vorgegaukelt, sie dürften die Mutter besuchen; vgl. Albrecht, Mit meinem Schicksal, S. 151 f. 14
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Die arme Tante Anna stand zitternd in der Halle, mit dem Schlüsselkorb in der Hand, ein verschrecktes Weiblein. Nach kaum einer Stunde verließen sie den sicheren Hafen. Omama mit Erica im Fond eines VW und Opapa in einem zweiten Wagen. Omama und Erica hielten sich an der Hand. Sprechen war ihnen verboten. Wohin es ging in der dunklen Nacht – sie wußten es nicht. Erica hatte einen Geburtstagsbrief an Sohn Albrecht ins Ferienlager geschrieben. Nun bat sie, den Brief zu befördern. Es wurde abgelehnt. Nach zwei Stunden Fahrt landeten sie vor den Toren der Haftanstalt Köslin. Nochmal bat Erica, den Brief an ihren Jungen in den Kasten werfen zu dürfen. Da ließ sich ein Beamter erweichen, und, nachdem er den Brief gelesen hatte, durfte sie ihn einwerfen.15 Dann wurde sie mit Omama durch das Tor geschoben, das dröhnend hinter ihnen ins Schloß fiel. Gefangen! Sie wurden sofort getrennt. Erica fand sich in einer Art Plättstube wieder. Sie war so übermüdet, daß sie sich auf einem langen Tisch ausstreckte und einschlief. Morgens um sechs Uhr wurde sie brüsk geweckt. Auf ihre Frage, warum sie hier eingesperrt würde, bekam sie die Antwort: „Alle haben nichts getan, die hier eingeliefert werden. Sie werden schon wissen, warum Sie hier sind!“ Erica hütete sich, ein Wort zu verlieren über die Vorkommnisse bei dem Attentat am 20. Juli. Ihr wurde immer deutlicher, daß sie deshalb im Gefängnis saß, hatte sie doch in Langen schon auf irgend etwas gewartet. Sie wurde in eine Zelle gesperrt, zwei Meter breit, fünf Meter lang, ein Bett, ein Tisch mit lehnlosem Schemel, ein kleiner Kastenschrank und „der Kübel“. Der Schlüssel wurde umgedreht und sie war allein. Von Omama keine Silbe. Erica wurde nicht verhört. Das war unheimlich. Sie bat um Arbeit oder auch um Bücher. Noch war sie in Untersuchungshaft, so daß sie ihre eigenen Kleider anbehalten konnte. Man erlaubte ihr zu lesen. Sie wählte „Mein Kampf“, 1. Auflage. Sie durfte auch schreiben. Aber die Briefe wurden nicht abgeschickt. Man erlaubte ihr zu schreiben, weil man hoffte, man könnte irgendwas gegen sie und ihre Verwandten herauslesen. Sie durchschaute dies Manöver. Sie konnte wirklich nichts schreiben über „den 20. Juli“, was die Gestapo hoffte. Sie ahnte nur nach wie vor, daß sie aus Gründen der Beteiligung von Albrecht am Attentat inhaftiert war. Sie war des Glaubens, daß er inhaftiert wäre und sie beide, wenn auch getrennt, so doch gemeinsam Leiden ertrugen. Das half ihr, diese schwere Zeit durchzustehen. Nach vier Wochen sickerte das Gerücht in ihre Zelle, daß Omama nach Langen entlassen worden sei, daß jedoch Opapa wegen seiner Herzleiden ins KZ nach Oranienburg überführt worden war. Wer weiß, was Warten heißt? Warten auf Dinge, auf Geschehnisse, die nicht zu kalkulieren sind. Warten ist so entnervend. Erica strickte einen grauen Socken nach dem anderen für Soldaten im Feld. Das war eine vernünftige Tätigkeit, aber ablenken konnte sie das auch nicht von dem Ballast der Ungewißheit. 15
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Omama gelang es, für Erica einige Lebensmittel ins Gefängnis zu schicken. Fräulein Munzer übernahm diese Gänge. Diese Liebestaten sind ihr unvergessen. Sprecherlaubnis bekam Erica nie. So wurde es September. Erica hatte ein Papier über den „Spion“ geklebt, um in der Zelle nicht immerzu beobachtet zu werden. Nicht nur die Wärterinnen guckten durch, auch Gefangene beobachteten sie, diese Kalfaktoren. Nun, da keiner mehr gaffen konnte, schob Erica den Schemel unter das Kipfenfenster, schöpfte frische Luft und sah, wie die Zeit verrann. Sie schaute über die Stadtrandfelder und sah die Felder kahl werden, die Kartoffeln geerntet und schließlich gepflügt werden, um in der Stille des Winters hinein brachzuliegen. Brach lag ihr Leben und ungewiß. Es wurde nachts sehr kühl in der Zelle und Erica wurde krank. Von Frost geschüttelt lag sie auf der harten Pritsche, schlaflos. Eines Tages erschien eine noch junge Wärterin. Sie trat an die Pritsche und fragte: „Sagen Sie, hieß Ihr Mann mit Vornamen Albrecht?“ „Ja, was ist mit ihm, haben Sie Nachricht, wo er ist?“ Die Wärterin darauf: „Der? Der ist doch schon längst am Galgen! Das müßten Sie doch besser wissen als ich!“ Erica fuhr vom Lager auf. Die Wärterin bekam einen großen Schrecken, denn ihr wurde klar, daß Erica tatsächlich die Wahrheit nicht wußte. Die Hauptwachtmeisterin kam in die Zelle, empört über die junge Wärterin, denn allen war es verboten, mit Erica zu sprechen. Nun war es heraus! Die Hauptwachtmeisterin zog die Tür von innen zu und fing an zu schimpfen über die Nazis. Erica beschwor sie, stillzuschweigen, denn beide kämen sie in Lebensgefahr, hätte doch im Gefängnis jede Tür Ohren. Sie erfuhr, daß viele der pommerschen Gutsbesitzer ebenfalls dort in Haft seien oder zum Teil bereits weitergeschoben waren in Konzentrationslager. Die beiden Frauen schlossen Freundschaft in der Stille der Zelle. Sie tauschten Adressen aus, wo sie später eventuell Kontakt aufnehmen könnten. Dieser Hauptwachtmeisterin verdankte Erica ihre Genesung. Sie bekam sogar mal einen Cognac aus den Langener Päckchen. Mutter Hilla hatte sich aufgemacht zu einer mühseligen Reise aus Ostpreußen, um ihre Tochter im Gefängnis zu besuchen. Auch sie bekam keine Sprecherlaubnis. Wenigstens vermittelte die Hauptwachtmeisterin Zettel hin und her vom Empfang zur Zelle. So konnte sie beruhigt nach Perscheln zurückreisen, denn sie wußte Erica unter diesen schlimmen Umständen in guter Hand. Erica erholte sich langsam. Das Warten hatte ein Ende genommen. An seine Stelle trat das Nachdenken über die Zukunft. Das ganze Volk stand vor der Ungewißheit. Jeder war nicht sicher zu überleben. Im Nachsinnen über Vergangenes fiel ihr ein Traum ein, den sie in der Nacht zum 8. August im Gefängnis träumte: Sie war mit ihrem Mann und den Eisenhardts in Berlin im Esplanade zum Tanztee. Plötzlich erhob sich Albrecht und ging langsam über die glänzende Tanzfläche. Er drehte sich um, lächelte und winkte, während die Tanzfläche sich senkte, sich senkte, so daß er allen Blicken entschwand.
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Als die Fläche sich wieder hob, war er fort. Ein Traum nur, dachte Erica. Sie hatte gedacht, er könnte vielleicht auf Festung gekommen sein. Aber das Wissen um seinen Tod durch den Strang in Plötzensee, das war so ungeheuerlich. Es wurde zu einer Last für die Zukunft, die ihr niemals mehr jemand würde abnehmen können. Sie träumte diesen Traum in der Nacht zum 8. August. Das war sein Todestag. In den Tagen zu Anfang November (1944, d. Hrsg.) wurde Erica verhört, von demselben Beamten, der sie aus Langen abgeholt hatte. Er sagte: „Von diesem Verhör hängt es ab, ob wir Sie entlassen können.“ Und dann wollte er wissen, ob Erica etwas vom Attentat gewußt habe, ob ihr Mann schlecht über den Führer gesprochen hätte. Ob sie an einen guten Ausgang des Krieges glaube. So und ähnliches wollte er wissen. Sie merkte bald, daß er es gut mit ihr meinte. Alle diese kleinen Beamten versuchten, sich Bekannte und Gutsager für später zu sichern. Das Verhör verlief dann auch in dieser Richtung. Der Mann war fast ängstlich bemüht, Erica nicht ins Negativum zu verwickeln. Noch am selben Tag wurde sie entlassen. Es war ein trüber Novemberabend, als sich das Gefängnistor hinter ihr schloß. Auf dem Langener Hof angekommen, ging sie zuerst zu Valuta (dem geliebten Reitpferd, d. Hrsg.) in den Stall. Sie hatte plötzlich Furcht vor dem Wiedersehen mit den Schwiegereltern. Der Kutscher erstarrte. Ohne Gruß ließ er sie stehen. Aber das kränkte Erica nicht sonderlich. Diese Situation hatte sie gerade in der Bahn hinter sich. Die allgemeine Verunsicherung der Menschen war groß. Da erwartete man vom Kutscher auch kein Mitgefühl. Valuta wieherte wie immer zur Begrüßung. Die Wärme des Pferdes und der Stallduft taten Erica gut. Nach zehn Minuten faßte sie sich ein Herz und ging rüber ins Haus. Der Ofen summte wie immer, es war warm und friedlich. Diener Franz drehte ab in der Halle und ließ Erica grußlos stehen. So ging sie hinüber zum erleuchteten Herrenzimmer. Dort saß der Schwiegervater im großen Lehnstuhl und sann vor sich hin, sehr verändert und gealtert. Er erhob sich und nahm Erica wortlos in die Arme. Einen Moment lang preßte er sie an sich. Dann sagte er: „Armes Kätzchen, komm, wir müssen weiter. Wir wollen Omama suchen!“ Erica wußte nicht, daß er am selben Tage aus dem KZ Oranienburg entlassen worden war. Dort hatte er seinen Freund Graf Hardenberg-Neu-Hardenberg vorgefunden. Der stand im Verdacht der Mitwisserschaft um das Attentat. Man konnte ihm jedoch nichts nachweisen. Seine Nerven hielten aber nicht durch und er verübte einen Selbstmordversuch. Daraufhin holte man ihn ab und brachte ihn in den Krankenbau des KZs Oranienburg. Graf Hardenberg gehörte zum Kreisauer Kreis. Neu-Hardenberg hatte offene Türen für die Widerstandsbewegung gehabt. Es war ein Wunder, daß alle Treffen dort so gut getarnt blieben. Dem Vater Hagen öffnete Hardenberg die Augen, indem er ihm Zeitungen über das Attentat am 20. Juli zukommen ließ. Gewarnt war Vater
Erinnerungen 1933 bis 1945
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Hagen, aber er hatte die bittere Wahrheit nicht wahrhaben wollen und alle Hiobsbotschaften böse von sich fortgeschoben. Umso schwerer war für ihn das Begreifen… Ja – das Begreifen! Erica benutzte der Kinder Abwesenheit16 dazu, nach Berlin zu fahren, um Albrechts Anwalt am Volksgerichtshof zu sprechen, Dr. Schwarz. Sie traf den Anwalt in größter Sorge an. Er wurde vom Volksgerichtshof suspendiert, nachdem er für seinen Mandanten Albrecht von Hagen auf Freispruch plädiert hatte. Das war natürlich für die Nachkriegszeit ein perfektes Alibi für ihn. Jedoch zu jenen Tagen stand er ebenfalls mit einem Bein im KZ, oder was die Nazis sonst mit ihm gemacht hätten. Schwarz berichtete: „Ich war bei Ihrem Mann, als man ihn aus der Zelle des Gefängnisses in der Prinz-Albrecht-Straße abführte nach Plötzensee zur Hinrichtung auf dem Hof der Strafanstalt. Mit einem Lächeln auf den Lippen zog er seine Ringe von den Fingern und übergab sie mir. Dann sagte er: ,Von mir bleibt nichts mehr zu sagen. Mit meinem Schicksal kann ich nicht hadern. Es bleibt mir zu meinem Ende nur noch übrig, die Haltung zu wahren, die ich mein Leben lang als die Grundvoraussetzung des Adels angesehen habe‘!“ Das waren seine letzten Worte.
16 Die Kinder, die im August 1944 verschleppt worden waren, wurden erst im Laufe des November von Bad Sachsa nach Langen zurückgebracht; vgl. Albrecht, Mit meinem Schicksal, S. 155; dort der Hinweis auf einen unveröffentlichten Bericht: v. Hagen, Albrecht (jun.), „Bad Sachsa – weit weg“, nebst der Datumsnotiz „25. November 1996“.
Hans Koch – ein deutsches Schicksal im Widerstand Von Sebastian Sigler Hans Koch, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Rechtsanwalt, Verteidiger Martin Niemöllers, war Kösener Corpsstudent – Königsberger Balte. Diese Erkenntnis verdankt der Autor seinem Kollegen Professor Dr. Rüdiger Döhler Masoviae Königsberg zu Potsdam, dem Mitherausgeber der Neuedition der Geschichte des Corps Baltia zu Königsberg.1 Am 16. August 1893 wurde Hans Koch im ostpreußischen Bartenstein geboren. Sein Vater war dort Gymnasialprofessor. 1903 zog die Familie nach Berlin, denn der Vater war zum Direktor eines Gymnasiums in Berlin-Charlottenburg berufen worden. Aus den Jugendjahren ist wenig Greifbares über Hans Koch erhalten, sicher ist jedoch, daß er sich unmittelbar nach dem Abitur, das er im Frühjahr 1911 am Berliner Prinz-Heinrich-Gymnasium ablegte, an der Königsberger Albertina für die Rechtswissenschaften einschrieb. Im selben Jahr, zum Sommersemester, trat er dem Corps Baltia bei.2 Er wurde dort spätestens am 2. Dezember als Koch V rezipiert3 und am 18. Dezember mit der dritten Charge betraut.4 Als Consenior der Königsberger Balten nahm er im folgenden Semester am Kösener Congress des Jahres 1912 teil und wurde im weiteren Verlauf dieses Semesters inaktiviert. Zuvor hatte er vom CC der Baltia aufgrund seiner Leistungen die Genehmigung erhalten, sowohl die Charge des Conseniors als auch die des Sekretärs zu klammern.5 Nach der Inaktivierung meldete er sich bei Guestphalia Berlin, einem mit den Balten befreundeten Corps, als MC.6 Nach einigen Semestern brach Hans Koch sein Studium in Berlin ab, um die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Seine Enkelin Christiane Koch schreibt, er habe
1 Schindelmeiser, Siegfried, Die Geschichte des Corps Baltia II zu Königsberg i. Pr. (1970 – 1985). Neuausgabe von Rüdiger Döhler und Georg v. Klitzing, zwei Bände, München 2010. Dieses Buch ist ein großartiges Denkmal für die Albertus-Universität, die Alma Mater von Hans Koch, und für ganz Ostpreußen. 2 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten, Kassel 1930 (künftig: KCL), Nr. 84 – 287; Schindelmeiser, Baltia, Bd. 1, S. 541. 3 Schindelmeiser, Baltia, Bd. 2, S. 16. 4 Ebd. Bd. 2, S. 17. 5 Vgl. KCL, Nr. 84 – 287. 6 Schindelmeiser, Baltia, Bd. 2, S. 25.
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nur drei Semester studiert.7 Da er sich aber, aus Königsberg kommend, in Berlin immatrikuliert hatte, ist als wahrscheinlich anzunehmen, daß es sich hier um eine Berlin betreffende Angabe handelt, daß also die ersten knapp drei Semester in Königsberg hinzuzuzählen sind; aus dieser Annahme ergäbe sich rechnerisch, daß er sich im Laufe der zweiten Jahreshälfte 1913 in Berlin exmatrikuliert haben muß, um sich beim Füsilier-Regiment Nr. 36 in Halle an der Saale als Fahnenjunker zu melden. Dazu paßt wiederum, daß er 1914 zum Leutnant befördert wurde. Kochs berufliches Ziel war eine Verwendung in der Kolonialverwaltung.8 Vom ersten Tag an nahm Hans Koch am Ersten Weltkrieg teil. Schwer verwundet geriet er am 9. September 1914 in französische Kriegsgefangenschaft. Im April 1915 gründete er im Offizierslager Châteauneuf bei Saint-Malo mit sieben anderen Corpsstudenten, die er dort traf, einen AHSC. 1917 wurde Koch im Rahmen eines Austauschs von Kriegsgefangenen in die neutrale Schweiz gebracht. Von dort konnte er erst am 12. August 1919 die Heimreise antreten. Nachträglich wurde er mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse dekoriert.9 Nach dem Vertrag von Versailles gab es keine deutschen Kolonien mehr; Hans Koch mußte sich umorientieren. Zum Wintersemester 1919/20 nahm er sein Jurastudium in Königsberg wieder auf. Er bestand am 7. Juli 1921 die Referendarprüfung mit „gut“. Im Mai 1922 verlobte er sich mit Annemarie Kahle, der Tochter eines im Weltkrieg gefallenen Corpsbruders, des Rittergutsbesitzers Alfred Kahle;10 im Jahr darauf war die Hochzeit. Nach wie vor nahm er, obwohl er aufgrund seiner Kriegsverletzung nicht mehr reiten konnte, an militärischen Übungen teil,11 auf wissenschaftlichem Gebiet betrieb er seine Promotion. Zum Dr. iur. wurde er schließlich mit „summa cum laude“ promoviert; 1926 trat er in die Dienste des preußischen Handelsministeriums, zunächst als Börsenkommissar, dann als Regierungsrat. Ende 1927 nahm er ein Angebot an, als Partner in die Berliner Rechtsanwaltskanzlei des Justizrats Meidinger einzutreten. 1932 kam auch das Notariat dazu. Hans Koch war ein bekennender Konservativer, und als solcher war er auch Monarchist. Der Weimarer Republik begegnete er jedoch ohne Vorbehalte.12 Im menschlichen Miteinander und in der Form war er verbindlich, als Jurist trotz 7 Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal im Widerstand, Worms 1983, S. 4. Dem Titel dieses Aufsatzes, geschrieben von der Enkelin Kochs, ist die Überschrift des hier abgedruckten Beitrags entlehnt. 8 Koch, Ein deutsches Schicksal, S. 4. 9 Zu den Kriegsereignissen siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Koch_(Jurist), Abruf am 22. März 2014. 10 KCL, 84 – 225. 11 Koch, Hans, Warum ich nicht geübt habe, handschriftlicher Bericht, wiedergegeben in: Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 7 ff. 12 Ludwig, Hartmut, Rechtsanwalt Dr. Hans Koch als Verteidiger Pfarrer Martin Niemöllers 1938 vor dem Sondergericht II in Berlin, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte (JJZ), 7, 2005/2006, S. 459.
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sachlicher Beweisführung von „schneidender Schärfe“.13 Jedwede totalitäre Tendenz in der Politik, alle Diskriminierung Andersdenkender war ihm zuwider, und so war er schon vor der Machtübernahme Hitlers ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten. Nach der Machtübernahme nahm er mit zunehmender Erbitterung die Verfolgung der jüdischen Mitbürger wahr, und nicht zuletzt unter diesem Eindruck wurde er Mitglied der Bekennenden Kirche. Schon früh, spätestens 1934, hat er das System der Konzentrationslager in seinem menschenverachtenden Ausmaß erkannt.14 Bereits im Herbst 1933 hatte sich die jüdische Industriellenfamilie Simson, in deren Werken im thüringischen Suhl Waffen hergestellt wurden, mit der Bitte um Unterstützung an Hans Koch gewandt. Simson & Co. waren gemäß dem Versailler Vertrag die einzigen konzessionierten Lieferanten für Handfeuerwaffen an die deutsche Reichswehr, und deswegen setzte Gauleiter Fritz Sauckel alles daran, diesen Betrieb unter die Kontrolle des NS-Regimes zu bringen. Zu diesem Zweck beschuldigte er die Familie Simson ungerechtfertigterweise des Steuerbetrugs.15 Koch, vom Heereswaffenamt mit der Lösung des Konflikts beauftragt, fand eine Treuhänder-Lösung, mit der dem Vorwurf, Simson habe dem Staat Geld vorenthalten, Rechnung getragen wurde – so unberechtigt der Vorwurf auch war. Auf der einen Seite hätte die Familie Simson zwar deutlich einlenken müssen, aber ihr Unternehmen behalten. Auf der anderen Seite wären dem Gauleiter Sauckel die Hände gebunden gewesen – wenn der sich an den erzielten Kompromiß gebunden gefühlt hätte. Doch der NS-Gauleiter tat dies nicht und ließ Simson verklagen, zumal auch die eingesetzten Treuhänder ihr Mandat zu Ungunsten Simsons mißbrauchten. Hans Koch gab sich indes nicht geschlagen und agierte derart geschickt, daß Sauckel seinerseits zeitweilig in Gefahr geriet, das Wohlwollen Hitlers zu verlieren. Der Gauleiter trat daraufhin die Flucht nach vorne an und ließ sich vom Führer persönlich die Vollmacht geben, die ebenso lästige wie heikle „Sache Simson“ im Alleingang abzuwickeln.16 Das änderte die Lage dramatisch zu Ungunsten des Unternehmers und seines Anwalts. Kompromißvorschläge, die Koch von nun an machte, wurden ihm als eine angebliche Beleidigung der Partei ausgelegt. Das war der Vorwand für Sauckel, Koch im Oktober 1935 in Schutzhaft nehmen zu lassen, was bedeutete, daß er ohne Prozeß und faktisch ohne rechtliches Gehör für mehrere Wochen in Haft blieb. Erst als er Ende November 1935 das Mandat niedergelegt hatte, kam er wieder auf freien Fuß. Die Familie Simson wurde indes enteignet, ihr Betrieb „arisiert“. Koch war seit dem Abschluß dieses Verfahrens bis zu seinem gewaltsamen Tod „politisch
13 Ehlers, Hermann, Horst Holstein, in: Lebensbilder aus der Bekennenden Kirche, hrsg. durch Wilhelm Niemöller, Bielefeld 1949, S. 51. 14 Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 14. 15 Ludwig, Rechtsanwalt Dr. Hans Koch, JJZ 7, S. 459. 16 Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 5 f.
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verfolgt“;17 er wurde mit einem Berufsverbot als Anwalt belegt, hielt aber den menschlichen Kontakt zu seinen ehemaligen Mandanten aufrecht.18 Vom Verhalten der inzwischen zur Wehrmacht umfunktionierten Streitkräfte, denen er sich als Offizier verbunden gefühlt hatte, war Koch bitter enttäuscht, denn aus Offizierskreisen war nichts zu seiner Entlastung unternommen worden.19 Hans Koch, der unbestechliche Jurist, arbeitete nun wieder als Rechtsanwalt. Er war „vielgefordert“20 und erzielte Erfolge bei der Verteidigung mehrerer Mitglieder der Bekennenden Kirche.21 Einige Aufmerksamkeit erregte im Juni 1937 der Fall des Pfarrers Gerhard Jacobi, dem Präses dieser kirchlichen Gemeinschaft; Jacobi wurde freigesprochen.22 Im August jenes Jahres wurde er zur Verteidigung des Dahlemer Pfarrers Martin Niemöller zugezogen, einem Prozeß, der großen Widerhall erzeugen sollte. Koch stand ihm nicht nur durch seine Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche, sondern auch durch seinen lebendigen lutherischen Glauben nahe. Niemöller war der wohl schärfste Kritiker der Deutschen Christen, die ihrerseits daran arbeiteten, die Evangelische Kirche ideologisch auf NS-Kurs zu drehen. Koch besuchte Niemöller oft in der Haftanstalt Berlin-Moabit, wo dieser zur Untersuchung einsaß, und verfaßte Haftbeschwerden ebenso wie Entgegnungen auf Vorwürfe. Das blieb nicht ohne Widerhall. Am 6. Januar 1938 schrieb Niemöller aus der Haft an seine Frau, daß ihn „Rechtsanwalt Koch, frisch und fröhlich, mit 18 Atmosphären Kesseldruck“ in seiner Zelle besucht habe.23 Vom 7. bis 18. Februar 1938 fand der Prozeß gegen Martin Niemöller statt. Der Verlauf gestaltete sich skandalös, denn die Staatsanwaltschaft versuchte, das Gericht zu beeinflussen. Niemöller, von seinen Anwälten beraten, gab dagegen zu seinem Leben und seinen Motiven derart beeindruckend Auskunft, daß das Pres17 Schulz, Ulrike, Simson. Vom unwahrscheinlichen Überleben eines Unternehmens 1856 – 1993, Göttingen 2013, S. 140, insbes. Anm. 73. 18 Simson, Arthur, Brief aus Los Angeles an Annemarie Koch, geb. Kahle, am 15. August 1955, über Koch: „Er war eine Verkörperung der besten deutschen Tradition, in der persönlicher Anstand, Respekt für die Rechte anderer“ vereint waren, zitiert nach: Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 6; vgl. Ludwig, Hartmut, Koch, Hans Dr. jur., in: Schultze, Harald / Kurschat, Andreas, „Ihr Ende schaut an …“ – Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 20062, S. 361. 19 Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 15 f. 20 Oehme, Werner, Märtyrer der evangelischen Christenheit, Berlin 1979, S. 242. 21 Es handelte sich unter anderem um Gerhard Jacobi, Hermann Ehlers, Willy Hahn, Wilhelm v. Arnim-Lützlow, Wilhelm Niesel und Horst Holstein; vgl. Oehme, Märtyrer, S. 242; Ehlers, Hermann, Horst Holstein, in: Lebensbilder aus der Bekennenden Kirche, hrsg. durch Wilhelm Niemöller, Bielefeld 1949, S. 51. 22 Landesarchiv Berlin, A Rep. 358 – 02, Nr. 123893 und 114562. Im selben Verfahren konnte Koch einen Freispruch für Hermann Ehlers erzielen, vgl. Oehme, Märtyrer, S. 242. 23 Niemöller, Martin, Briefe aus der Gefangenschaft in Moabit, Frankfurt/Main 1975, S. 183, S. 209; die Belegführung in der causa Niemöller bei: Ludwig, Rechtsanwalt Dr. Hans Koch, JJZ 7, S. 459 ff.
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seecho bis nach Paris reichte. Natürlich blieb derartiges bei der NS-Führung nicht verborgen, und Goebbels notierte am 8. Februar in sein Tagebuch: „NiemöllerProzeß in Gang. Das Gericht versagt vollkommen (…) und läßt Niemöller gleich einen ganzen Tag über sein Leben erzählen. (…) Dieses Schwein von Niemöller sollte ich vor der Flinte haben!“24 Die Verteidigung hatte erreicht, daß der Zweck des Prozesses, einen Geistlichen mit den totalitären Mitteln des NS-Staates mundtot zu machen, niemandem verborgen bleiben konnte – Niemöller stand „als Märtyrer großen Stils“ da, wie ein Prozeßbeobachter aus dem Amt Rosenberg vermerkte.25 Nach zehntägiger Unterbrechung wurde der Prozeß gegen Martin Niemöller fortgesetzt. Die Verteidiger, darunter Hans Koch, hielten am 25. Februar 1938 ihre Schlußplädoyers. Koch argumentierte brillant und erinnerte das Gericht an die Stimmung, die er außerhalb des Gerichtssaales wahrnahm: „Sie werden merken, wenn Sie den Dingen einmal nachgehen, daß unser Volk am Glauben und auch am Kreuz in viel stärkerem Maße hängt, als es hier in Berlin in manchen Kreisen angenommen wird.“26 Juristisch führte er aus, Niemöller bliebe nur die Predigt, weil die Bekennende Kirche durch Unterdrückung und Gleichschaltung der NS-Presse mundtot gemacht worden sei. Weiter habe er keinesfalls die öffentliche Sicherheit gefährdet, denn bei seinen Predigten habe nie die Polizei einschreiten müssen.27 Weiter verglich er, und das nannte er sein argumentatives „Kernstück“, das Ordinationsgelübde des Pfarrers mit dem Fahneneid des Soldaten: „Wie beim alten Soldaten der Fahneneid, beim Beamten der Beamteneid, so beim Pfarrer das Ordinationsgelübde. Das sind eiserne Sätze, über die keiner hinwegkommt.“28 Bei solch einem geschworenen Eid sei es ein schwereres Fehlverhalten, eine notwendige Handlung zu unterlassen, als einen Fehler zu machen: „Unterlassung und Säumnis belasten schwerer als Fehlgreifen in der Wahl der Mittel.“29 Bemerkenswert ist an dieser Stelle, daß Koch – dem Soldatischen offenkundig eng verbunden – hier einen zentralen Satz aus der Führungsvorschrift des deutschen Heeres (HDv) zitiert: „Ein jeder, der höchste Dienstgrad wie der jüngste Soldat, muß sich stets bewußt sein, daß Unterlassen und Versäumnis ihn schwerer belasten als Fehlgreifen in der Wahl der Mittel.“30 24 Reuth, Ralf-Georg (Hrsg.), Joseph Goebbels, Tagebücher 1924 – 1945, München 1992, S. 1204. 25 Buchheim, Hans, Ein NS-Funktionär zum Niemöller-Prozeß, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 4, 1956, S. 312 ff. 26 Bundesarchiv Berlin, Mitschrift Prozeß Martin Niemöller, 8, 5,1 – 466/1, S. 100. 27 Ebd., S. 101. 28 Ebd., S. 107. Diese Sentenz kann auch auf ihren Autor angewandt werden – als Corpsstudent gegenüber seiner Königsberger Baltia. 29 Ebd., S. 108. 30 Führungsvorschrift des deutschen Heeres (HDv) 300/1, Ziffer 14, erlassen am 17. Oktober 1933 durch den als Gegner der Nationalsozialisten ausgewiesenen Chef der Heeresleitung, General der Infanterie Kurt v. Hammerstein-Equord. Später wurde die HDv überarbeitet durch den Chef des Truppenamtes, Ludwig Beck, der am 20. Juli 1944 am StauffenbergAttentat teilnahm und ermordet wurde. Für den Hinweis auf die HDv sowie für den hier
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In seiner Argumentation münzte Koch umgehend die Vorlage aus dem militärischen Bereich auf seinen Mandanten um. Niemöller, der selbst Soldat gewesen sei, habe sich nur an seinen Eid gehalten – in diesem Fall den der Kirche gegenüber.31 Einige seiner Formulierungen von der Kanzel seien überspitzt gewesen, das gab Koch zu, aber er wertete, eine Analogie zwischen kirchlichem und militärischem Bereich ziehend: „Dann sind diese Dinge nicht mehr als ein kleines Fehlgreifen in der Wahl der Mittel, was im ganzen überhaupt nicht ins Gewicht fällt und nur zeigt, um welche Ziele es ging, nämlich darum, seinem Vaterland, seinem Volk den Glauben der Väter zu erhalten.“32 Anschließend an sein Plädoyer – wohl am späten Vormittag des 25. Februar, denn unmittelbar an seine Worte schloß sich die Mittagspause an – lieferte sich Koch mit dem Oberstaatsanwalt einen heißen Disput wegen der in Paris erschienenen Artikel in der causa Niemöller, der insofern klar zu seinen Gunsten ausging, als das Gericht die Staatsanwaltschaft aufforderte, die Artikel aus dem Verfahren herauszuhalten, um die Rechtsfindung nicht unnötig in die Länge zu ziehen.33 Einer dem NS-Staat verpflichteten Staatsanwaltschaft im Jahre 1938 derart unerschrocken entgegenzutreten, erforderte Courage, ja, es konnte denjenigen das Leben kosten, der das wagte. Martin Niemöller wurde zu sieben Monaten Festungshaft und 2.000 Reichsmark Strafe verurteilt. Nachdem er acht Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte, stellte das Gericht fest, daß die Haft und ein Viertel der Geldstrafe verbüßt seien. Adolf Hitler bekam, als er davon hörte, einen Wutanfall und schrie: „Nicht nur Niemöller, sondern auch der Gerichtshof soll ins Konzentrationslager!“34 Dieser Wutanfall des Diktators war von fürchterlicher Logik. Der NiemöllerProzeß war, für sich genommen, ein klarer Sieg für die Verteidigung. „Hier hat das wagemutige Auftreten der Verteidiger und des Angeklagten unerhört viel erreicht“, urteilt Werner Oehme.35 Doch weder der Angeklagte noch seine Verteidiger sollten den Sieg genießen können. Zunächst verzögerte sich die vom Gericht verfügte Entlassung Niemöllers aus der Haft um Stunden und schließlich über den ganzen Tag hinweg, und Koch, unruhig geworden, wollte gegen Spätnachmittag in das nahegelegene Hotel Fürstenhof fahren, wo Frau Niemöller auf ihren Mann wartete. Unterwegs stellte er jedoch fest, daß bei seinem Auto die Radmuttern gelockert worden waren – es stellte sich nach wenigen Minuten heraus, daß dies ein Anschlag folgenden Hinweis dankt der Autor Ulrich C. Kleyser IV Rhenaniae Tübingen, Oberst i.R.: Noch heute findet die schon von Koch in seinem Plädoyer zitierte Vorschrift unverändert Anwendung, siehe: HDv 100/100 VS-NfD, Truppenführung von Landstreitkräften (TF) vom November 2007, Kap. 3, Soldatisches Führen, II. (Soldatische Tugenden), Nr. 3005. 31 Ebd., S. 108, zitierte Koch sogar dem Sinn nach Hitlers mein Kampf wie folgt: „Ein Schuft, der eine Gefahr sieht und dann nicht wagt, einzuspringen und dem Freund zu helfen.“ 32 Ebd., S. 109. 33 Detaillierte Schilderung bei: Ludwig, Rechtsanwalt Dr. Hans Koch, JJZ 7, S. 465. 34 Gisevius, Hans Bernd, Bis zum bitteren Ende, Zürich 1946, München/Zürich 19823, S. 196. 35 Oehme, Märtyrer, S. 243.
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auf sein Leben gewesen war.36 Was Koch zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußte, war, daß Martin Niemöller in diesem Moment bereits auf dem Weg in das KZ Sachsenhausen war. Kurt Gerstein, als Prozeßbeobachter angereist, war der letzte, der Niemöller sah und ihn auf wenige Worte sprechen konnte, der ihm Mut machte.37 Doch dann gab es kein Entrinnen mehr. Niemöller wurde abgeführt und verschleppt. Wie es Hitler befohlen hatte. Kriegsjahre im Widerstand 1939, 1. September. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde Hans Koch eingezogen, oder, um es im Jargon der Zeit zu sagen, als Reservist „aus dem Verkehr gezogen“, denn seit dem Simson-Prozeß galt er dem Regime als „verdächtig“. Durch einige Wehrübungen, an denen er trotz seiner alten Verwundung einerseits und trotz seiner regimefeindlichen Aktivitäten andererseits teilgenommen hatte, hatte Koch den Dienstgrad eines Hauptmannes erreicht. So wurde er im Rüstungsamt des Oberkommandos der Wehrmacht eingesetzt und bald zum Major befördert. Neben seiner militärischen Verwendung nahm er immer wieder Mandate als Anwalt an, soweit ihm dies möglich war. Aller Wahrscheinlichkeit waren diese anwaltlichen Pflichten aber Tarnung für seine Tätigkeit im Widerstand, worauf im folgenden noch einzugehen sein wird. 36 Gisevius, Bis zum bitteren Ende, S. 195 f., vgl. Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 12. Gisevius berichtet a.a.O.: „Ich nehme natürlich an, Koch sei längst im Bilde und habe erst von Niemöller Abschied genommen, dann dessen Frau nach Hause gebracht und wolle sich jetzt aussprechen. Umso größer ist mein Staunen, als Koch lediglich über die Urteilsverkündung berichtet und fortfährt, im Gerichtsgefängnis habe sich die Entlassung unerwartet verzögert, erst um Stunden, dann habe es geheißen, bis zum Spätnachmittag, deshalb sei er ins Hotel zu Frau Niemöller gefahren, die allmählich beginne, unruhig zu werden. Unterwegs habe er bemerkt, daß etwas an seinem Auto in Unordnung sein müsse. Er habe scharf gebremst, und siehe da, an beiden Vorderrädern war die Verschraubung gelöst. So etwas nennt man gemeinhin einen Anschlag auf Leib und Leben. Daß dieser sich nicht gegen Koch allein richtete, dürfte auf der Hand liegen. Früher zeigte man solche Dinge bei der Polizei an. Im Dritten Reich hält man besser den Mund. Sonst sperrt die Gestapo den Anzeigenden wegen Verbreitung eines Greuelmärchens ein. Davon, daß Niemöllers Schicksal seit Stunden besiegelt ist, weiß Koch nichts. Seine Gefühle brauche ich nicht zu beschreiben, als ich ihm von Helldorfs Anruf berichtete.“ Graf Helldorf, der Zeitgenossen nicht als ausdrücklicher Sympathisant Niemöllers galt, hatte Gisevius trotz laufender Abhöraktionen der Gestapo gegen 12 Uhr von der Verschleppung Niemöllers nach Sachsenhausen mit den Worten unterrichtet, „die Ärzte seien sich schlüssig geworden, den Patienten in ein nahgelegenes Sanatorium zu verbringen“. 37 Gespräch Klaus Gerstein V Rheno-Guestphaliae, Rhenaniae Tübingen am 4. Juli 2011. Kurt Gerstein behielt, so dessen Neffe weiter, Niemöller „im Blick“. Unter der Tarnung der SS-Uniform habe er sich immer Informationen über das verschafft, was Niemöller angetan wurde. Zudem habe er sich in praktischen Dingen um die Familie gekümmert – unter anderem kaufte er ein Fahrrad für eines der Kinder und verschaffte Frau Niemöller die finanzielle Möglichkeit, zu reisen. Noch in den Jahren 1943 und 1944 hielt Gerstein diese Unterstützung, nun vor allem mit raren Lebensmitteln, aufrecht; vgl. dazu: Friedländer, Saul, Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten, Gütersloh 1968, S. 144 f.
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Dietrich Bonhoeffer38 war es wohl, der Koch mit den engeren Zirkeln des Widerstands in Kontakt brachte. Dies geschah bereits 1939. Koch wurde „herumgereicht“ und arbeitete bald mit Hans v. Dohnanyi und Hans Oster, führenden Köpfen der Konspiration der Widerstandsgruppe im Amt Abwehr, zusammen.39 Durch ihn kam Dohnanyi mit Goerdeler in Kontakt. Der setzte seinerseits den sehr effizient arbeitenden Berliner Rechtsanwalt Koch im März 1940 auf eine erste Kabinettsliste für eine Regierung nach einem Sturz Hitlers.40 Dies ist ein sehr früher Zeitpunkt. Koch kann damit als durchgängig engagierter Mann des Widerstands gegen das NSSystem angesehen werden. Für eine umfangreiche konspirative Tätigkeit Kochs spricht auch, daß er immer wieder die bereits kurz erwähnten „Dienstreisen“ unternahm, auffällig oft nach Paris und Agram. Insbesondere die französische Metropole ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Reiseziel, denn dort bestand ein wirksames Netz des Widerstands, wie die Ereignisse des 20. Juli beweisen sollten. In Paris war der Umsturz auf örtlicher Ebene geglückt, bevor er durch die Ereignisse in Berlin wieder rückgängig gemacht wurde. Für einen Zusammenhang zwischen diesen Reisen und einer darin ausgeübten Widerstandstätigkeit Kochs gibt es jedoch keine erhaltenen Schriftbelege.41 In die Staatsstreichvorbereitungen des Widerstands war Hans Koch offensichtlich eingeweiht. Er war im Schattenkabinett Beck/Goerdeler, dessen Liste aus verschiedenen Aufzeichnungen der Jahre 1943 und 1944 erhalten ist, als Reichsgerichtspräsident vorgesehen.42 Ist dies schon ein deutlicher Ausdruck dafür, wie stark Koch in den Widerstand eingebunden war, so vertieft sich dieser Eindruck durch die Worte von Hans Bernd Gisevius, der schilderte, was die Verschwörer motivierte: „Um unmißverständlich klarzumachen, wie ernst es uns mit der Säuberung ist, soll Dr. Hans Koch Reichsgerichtspräsident und Oster Präsident des Reichskriegsgerichts werden, beide im Kabinettsrang und mit dem Sonderauftrag, die Säuberung von Justiz und Wehrmacht durchzuführen.“43
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Dietrich Bonhoeffer war ebenfalls korporiert, er gehörte dem „Igel“, also der Akademischen Verbindung Igel in Tübingen an. Siehe dazu: Sigler, Sebastian, Das soziale und das korporierte Umfeld der Corpsstudenten im Widerstand, abgedruckt in diesem Band. 39 Schultze, „Ihr Ende schaut an …“, S. 362. 40 A.a.O. 41 Bei einer ganzen Reihe von Widerstandskämpfern finden sich im Itinerar Koinzidenzen zu Anschlägen gegen Hitler. In den seltensten Fällen sind dazu jedoch Akten erhalten, denn schriftliche Notizen hätten bei einer Verhaftung enorm belastend für den Verhafteten und seine Kontaktleute gewirkt. Als Beispiel sei die Tätigkeit als Nachrichtenübermittler angeführt, die Eduard Brücklmeier ausführte; vgl. Sigler, Sebastian, Eduard Brücklmeier – Mann des 20. Juli, in: ders., Freundschaft und Toleranz. 200 Jahre Corps Bavaria zu Landshut und München, München 2006, S. 257 ff. 42 Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, München 19793, S. 454; Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954, 19552, S. 605. 43 Gisevius, Bis zum bitteren Ende, S. 351.
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Für Kochs aktive Rolle im Widerstand spricht auch, daß sich am frühen Morgen des 21. Juli bei Familie Koch Hans Bernd Gisevius einfand – er erwartete seine unmittelbare Verhaftung aufgrund seiner Widerstandstätigkeit und war auf der Flucht.44 Mit Koch sprach Gisevius in dieser Stunde über Details des – nicht wie geplant laufenden – Walküre-Plans.45 Schon daraus ist abzulesen, daß einer wie der andere bis in Details in den Umsturzplan eingeweiht war. Gisevius blieb für drei Tage bei Familie Koch,46 kehrte aber nochmals kurz in seine Wohnung zurück47 und konnte sich danach noch für Monate durch Flucht in die Schweiz48 dem Zugriff der Gestapo entziehen. Wenige Tage nach dem mißglückten Attentat wurden Koch, seine Frau und eine seiner Töchter für kurze Zeit inhaftiert. Die beiden anderen Töchter und der Sohn waren im Kloster Ettal untergebracht und wurden nicht behelligt.49 Andere Verschwörer, die in Gestapo-Haft waren, verrieten ihn jedoch nicht, so daß er wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Koch hatte damit noch eine kurze Frist. Anders sein Sozius Benecke: der hatte sich unmittelbar nach dem Scheitern des Stauffenberg-Attentats das Leben genommen, weil er höchstwahrscheinlich durch Koch in die Pläne der Verschwörer eingeweiht worden war und mutmaßlich fürchtete, nach Verhaftung und Folter die Mitverschwörer verraten zu müssen.50 Im Januar 1945 wurde Hans Koch als Mitverschwörer Stauffenbergs enttarnt.51 Am 21. Januar wurde er abermals verhaftet, von seinem Dienstschreibtisch weg; zur gleichen Zeit wurde auch seine Frau Annemarie in Gewahrsam genommen. Beide wurden getrennt verhört, alle Schreibtische durchsucht, fast alle Akten beschlagnahmt. An eine Freilassung beider war nicht mehr zu denken. Ob Hans Koch sich bewußt war, wie groß die Gefahr war, in der er schwebte, ist unklar, denn er hat keine Aufzeichnungen geführt, und von den wenigen Briefen, die er schrieb, ist kaum einer erhalten. Daher sind auch seine Erkenntnisse zu den Nachrichten über den Massenmord im Osten und über das Scheitern des letzten Attentatsversuches in Rastenburg unbekannt. Dies hat wiederum dazu beigetragen, daß Koch quasi in Vergessenheit geraten konnte.52 Daß so wenig Schriftliches erhalten ist, hängt we44 Eine sicherlich narrativ ausgeschmückte, aber insgesamt glaubwürdige und plausible Darstellung bei: Gisevius, Hans Bernd, Wo ist Nebe?, Zürich 1966, S. 49 ff. 45 Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 22. 46 Schultze, „Ihr Ende schaut an …“, S. 362. 47 Gisevius, Wo ist Nebe?, Zürich 1966, S. 61. 48 Ebd., S. 115. 49 Oehme, Märtyrer, S. 24. Das Kloster war schon in den Jahren zuvor immer wieder ein Treffpunkt von Koch, Goerdeler und anderen Widerstandskämpfern gewesen, vgl. Schultze, „Ihr Ende schaut an …“, S. 362. 50 Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 22. 51 Der am 16. Januar 1945 verhaftete Arthur Nebe hat wahrscheinlich Kochs Namen unter Folter preisgegeben, vgl. dazu: Schultze, „Ihr Ende schaut an …“, S. 362. 52 Anläßlich des 80. Geburtstages von Annemarie Koch veranstaltete die Familie auf Wunsch der Jubilarin am 20. Juli 1983 eine Gedenkstunde für ihren Ehemann Hans Koch in
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sentlich mit dem allgemein üblichen und von Koch selbst vertretenen Grundsatz zusammen, möglichst wenig persönliche Kontakte aufzunehmen – wobei diese wenigen Treffen den Eingeweihten auch im Nachhinein durchaus erinnerlich waren.53 Koch rief, wenn er bestimmte Signale geben wollte, nicht bei seinen Mitverschwörern an, sondern zum Beispiel bei deren Verwandten. Denen teilte er dann irgendeine Belanglosigkeit mit, woraus zu ersehen war, daß er von einem Treffen zurückgekehrt sei, ohne verhaftet worden zu sein. Diese – scheinbaren – Belanglosigkeiten konnten allerdings auch ein Code sein. Koch galt in seinem sozialen Umfeld als „guter“ und „besorgter“ Mensch.54 Hans Koch war ab dem 21. Januar 1945 in Gestapo-Einzelhaft, auch seine Frau war inhaftiert. Als ein Vierteljahr später, in den Abendstunden des 23. April, sowjetische Truppen bereits erste Stadtteile Berlins erreicht hatten, wurde Koch aus seiner Zelle beordert. Dies dürfte auf ähnliche Weise geschehen sein wie bei Karl Ludwig Reichsfreiherr v. und zu Guttenberg,55 der ebenfalls im Gefängnis Lehrter Straße einsitzen mußte und dem auch mitgeteilt wurde, er werde freigelassen – aber von der Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße aus: eine tödliche Finte.56 SS-Verbände hatten die Berliner Haftanstalten an die Justizbehörden übergeben, wohl, um der formellen Verantwortung zu entgehen, waren aber in nächtlichen Aktionen zurückgekehrt.57 Guttenberg war zusammen mit 15 anderen Gefangenen aus der Haftanstalt Lehrter Straße auf das weitgehend in ein Ruinengrundstück verwandelte Gelände des Universal-Ausstellungs-Landes-Parks geführt worden, wo jeder einzeln von einem SS-Mann per Genickschuß getötet wurde.58 Dem Kommando, das diese Morde beging, gehörten mindestens doppelt so viele SS-Männer wie Häftlinge an. der Kirche in Berlin-Nikolassee. Die Predigt in dieser kirchlich gefaßten Veranstaltung hielt Pfarrer Gerhard Möckel, Schwiegersohn von Hans und Annemarie Koch. Möckel, „Gedenkstunde für Dr. Hans Koch“, privates Typoskript, Berlin 1983, S. 20, äußerte darin folgendes: „Hans Koch, so verstehe ich diesen Mann, hat nicht so wie Alfred Delp oder Dietrich Bonhoeffer über die Maßstäbe seines eigenen Handelns gesprochen. Obwohl sicher ein Meister des Wortes und der scharfen, zugespitzten Gedanken, besitzen wir von ihm keine Reflexion und leider auch kaum eine Aufzeichnung mehr aus den dramatischen letzten Jahre seines Lebens.“ 53 Plassmann, Clemens, Schreiben an Annemarie Koch, 10. März 1947, S. 2, Akte Hans Koch, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin. 54 Plassmann, Brief 10. März 1947, S. 4. 55 Zu Guttenberg war Angehöriger der zum KV gehörigen Verbindung Rheno-Bavaria München, vgl. dazu: Schilling, Gerhard, Sie folgten der Stimme ihres Gewissens, Düsseldorf 1989. 56 Schon in den Tagen zuvor waren auf diese Weise Häftlinge entlassen worden, diese überlebten größtenteils; vgl. Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 654 f.; bei Schilling, Stimme ihres Gewissens, S. 66, wird die Nacht vom 22. auf den 23. April genannt – einen Tag später, 23./24. April, dürfte statt dessen richtig sein. 57 Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 656. 58 Schilling, Stimme ihres Gewissens, S. 67.
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Ob möglicherweise Koch in derselben Gruppe von Häftlingen wie Freiherr zu Guttenberg war, ist offen.59 Auch ihm wurde jedenfalls mitgeteilt, er werde freigelassen, doch bedrohlich standen SS-Männer im Spalier, als er und seine Mitgefangenen aus der Haftanstalt geführt wurden. Auf dem Weg, der angeblich zur PrinzAlbrecht-Straße führen sollte, ging die Gruppe nicht den direkten Weg, und Hans Koch muß geahnt haben, was bevorstand. Denkbar ist ein Szenario parallel zum Schicksal zu Guttenbergs: In Hörweite der russischen Truppen, die ihm zunächst die Befreiung bedeutet hätten, wäre Hans Koch am 24. April 1945 in den ersten Morgenstunden, vielleicht gegen ein Uhr, von einem SS-Mann erschossen worden. Seine Frau Annemarie wurde am 28. April 1945, nach Übernahme des Gefängnisses durch die Rote Armee, freigelassen.60 Sie sollte noch wochenlang auf ihren Mann warten müssen, bevor sie Gewißheit über dessen Schicksal erhielt. Koch gehörte offenbar zu einer Gruppe von Regimegegnern, die aus Sicht der Nationalsozialisten keinesfalls überleben durften. So hatten ihn die Gestapo-Beamten zusammen mit einer Gruppe von Mitgefangenen aus dem Gefängnis auf ein nahegelegenes Trümmergrundstück geführt, weil sie diese Morde möglichst vertuschen wollten. Kochs Mitgefangenem Herbert Kosney verdankt die Nachwelt dabei genauere Angaben über das Geschehen. Kosney entging in der Nacht, bevor Guttenberg und Koch ermordet wurden, um Haaresbreite diesem Schicksal. Er hatte in letzter Minute den Kopf gedreht und war mit einem Schuß durch Backe und Hals davongekommen. Trotz der gräßlichen Verletzung war er bei Bewußtsein geblieben, hatte sich aber geistesgegenwärtig fallengelassen, war still liegengeblieben und daher für tot gehalten worden. Lebensgefährlich verwundet erreichte Kosney seine Wohnung; er sollte knapp überleben. Nach drei Wochen, als er dies wieder konnte, gab er Nachricht vom Tod der Häftlinge; namentlich erwähnt er in seinem Bericht Albrecht Haushofer.61 Kosney, Koch und zu Guttenberg wurden damit allesamt Opfer einer Serie von nächtlichen Mordaktionen, die ab dem 20. April 1945 einsetzten und die erst am 24. April beendet waren.62 Nach Kosneys Angaben über die Mordaktionen in den letzten Tagen vor der Befreiung Berlins wurde schließlich, nach tagelanger Suche, auch die Leiche von Hans Koch gefunden. Sein Ehering ermöglichte die Identifizierung. Die SS-Leute hatten versucht, einen möglichst versteckten Ort für den Mord auszuwählen, um die Leichen ihrer Opfer „verschwinden“ zu lassen, da sie sich ihrer Verbrechen wohl
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Koch könnte in derselben Gruppe der Häftlinge wie zum Beispiel Karl Ludwig Freiherr v. und zu Guttenberg gewesen sein, aber in der äußerst zuverlässigen Darstellung: Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 656, ist sein Name nicht aufgelistet. Allerdings befaßt sich Hoffmann auch an keiner anderen Stelle inhaltlich mit Koch. Ein direkter Widerspruch ergibt sich somit nicht. 60 Gisevius, Bis zum bitteren Ende, S. 419. 61 Kosney, Herbert, The Other Front, in: Boehm, Erich H. (Hrsg.), We Survived. Fourteen Histories of the Hidden and Hunted in Nazi Germany, Yale 1949, Boulder 20032, S. 35 – 52. 62 Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 656.
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durchaus bewußt waren.63 Das ist letztlich nicht gelungen. Kochs Familie und einige enge Freunde beerdigten ihn auf dem Friedhof Berlin-Nikolassee, in der Nähe seines Wohnhauses.64 Auf seinen Grabstein ließen sie einmeißeln: „Das Leben ging, die Ehre nicht verloren, Er hat gekämpft für Freiheit, Ehre, Recht, Getreu der Fahne, der er zugeschworen.“
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Kosney, The other front, S. 48 f. Koch, Christiane, Ein deutsches Schicksal, S. 23.
Prittwitz tritt zurück Von Markus Wilson-Zwilling Seine Erinnerungen an sein diplomatisches Leben beschloss Prittwitz mit dem Satz: „Vielleicht werden dereinst im Zeitalter dieses erhofften großen Friedens alle die Kräfte wieder lebendig werden, an deren Entfaltung so viele von uns in der Zeit des kleinen Friedens umsonst gearbeitet haben.“1 Das ist ein nachdenklicher Schluss, den der Diplomat aus schlesischer Adelsfamilie2 fast siebzigjährig zieht. Denn als 1933 Hitler Reichskanzler wird, erklärt Prittwitz die politische Tendenz der neuen deutschen Regierung als unvereinbar mit seinen eigenen Auffassungen und Wertvorstellungen. Und bittet auf der Höhe seiner diplomatischen Karriere um die Entbindung von seinem Posten als Botschafter des Deutschen Reiches in den Vereinigten Staaten.3 Karl Maximilian Friedrich-Wilhelm von Prittwitz und Gaffron wurde am 1. September 1884 in Stuttgart als Sohn des Königlich preußischen Oberst Arwed von Prittwitz und Gaffron und seiner Gemahlin, Sarah von Prittwitz und Gaffron, geborene Freiin Schott von Schottenstein, als ältester von zwei Söhnen geboren.4 Sein Vater starb 1891 an einer Kriegsverletzung, als Prittwitz sieben Jahre alt war. Die Familie verbrachte wiederholte Male wegen der angeschlagenen Gesundheit von Prittwitz’ jüngerem Bruder längere Zeit in Italien.5 Seine Gymnasialzeit verbrachte Prittwitz, dessen Rufnamen Friedrich oder Friedrich-Wilhelm waren, auf dem humanistischen Gymnasium in Baden-Baden; er legte dort 1902 das Abiturexamen ab.6 Durch einen Verwandten kam für Prittwitz die Universität Bonn in Betracht. Möglicherweise war aber auch die Schilderung des Lebens beim Corps Borussia, den „Bonner Preußen“, ausschlaggebend für seine Wahl der Universitätsstadt, die ihm der Verwandte in höchsten Tönen vortrug.7 Im Jahre 1903 wurde Prittwitz in den engeren Corpsverband der Borussia Bonn rezipiert.8 Prittwitz studierte, mit Unterbre1 Prittwitz und Gaffron, Friedrich von, Zwischen Petersburg und Washington. Ein Diplomatenleben, München 1952, S. 232.; zit.: Prittwitz, Washington. 2 Genealogisches Handbuch der adeligen Häuser, Adelige Häuser A, Bd. VI, auch: Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 29, Limburg a. d. Lahn 1962, S. 307; zit.: Handbuch. 3 Prittwitz, Washington, S. 222. 4 Handbuch, S. 412 f. 5 Prittwitz, Washington, S. 14. 6 Ebd., S. 18. 7 Ebd., S. 21. 8 Gerlach, Otto, Kösener Corps-Listen 1930, Frankfurt a. M. 1930, Nr. S. 73.
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chung durch den Militärdienst bei dem Berliner Garde-Kürassier-Regiment, bis 1906 in Bonn, wo er das Referendarexamen ablegte. Er promovierte in Leipzig zum Dr. jur. und absolvierte seine Referendarzeit am Amtsgericht Frankfurt am Main. Danach meldete sich Prittwitz zum Auswärtigen Dienst, bestand das Eintrittsexamen und wurde als Attaché der deutschen Botschaft in Washington zugeteilt.9 I. Im Auswärtigen Dienst Es folgten Jahre im diplomatischen Dienst. Die Stationen waren Washington von 1908 bis 1910, Berlin von 1910 bis 1911 sowie Petersburg von 1911 bis 1914. Den Ersten Weltkrieg erlebte Prittwitz teils im Frontdienst, teils im Großen Hauptquartier und dann wieder in Berlin.10 Die unverkennbare Sympathie, die Prittwitz für die Demokratie hegte, kann zunächst nicht aus der familiären Struktur erschlossen werden, aus der er entstammte, waren doch beide Elternteile sowie die Großeltern adeliger Abstammung. Er hat dann zur Ehefrau Marieluise Gräfin Strachwitz von Groß-Zauche und Camminetz genommen.11 Dieses adelige Milieu war damals tendenziell monarchisch-konservativ geprägt. Aber er schreibt in seinem Buch „Von Petersburg nach Washington“, dass er früh die „Verschiedenheit der Volkscharaktere und der Sitten“ erkannt hat. Und dass es nicht nützlich sei, „alles über den gleichen Kamm zu scheren“. Diese Erkenntnis und die „vorurteilslose, häusliche Erziehung“, so Prittwitz, habe ihn davor bewahrt, die „Untugenden nationaler Überheblichkeit und partikularistischer Eigenbrötelei“ anzunehmen.12 Das zumindest sind denkbar gute Voraussetzungen für eine Hinwendung zur Demokratie, die dann auch früh und deutlich erkennbar ist. Bereits am 16. November 1918 hat Prittwitz mit 23 weiteren Unterzeichnern den Aufruf „An Deutschlands Jugend!“ veröffentlicht. In ihm wird einer Zweikammerndemokratie das Wort geredet. Der zentrale Satz lautet: „Nicht laute Machtgebärden, sondern zäher Kampf um unser Recht mit den Mitteln des Rechts!“13 Die Unterzeichner und weitere Unterstützer gründeten die „Gesellschaft vom 16. November“, die laut Satzung „bei der Neugestaltung des Deutschen Reiches und der Erneuerung des Volksgeistes in demokratischem Sinne tätig mit[zu]helfen“ sollte. Begleitend erschien eine Monatsschrift, die den Namen „Die deutsche Nation“ trug und von Januar 1919 bis Juni 1925 Bestand hatte.14 Im Demokratischen Jugendverein Großberlin hat sich Prittwitz dann für ihn befriedigend entfalten können. Er erinnert sich: „Freudig habe ich jede meiner freien Minuten in den Jahren 1919 und 1920 der Gesellschaft vom 16. November, der ,Deutschen Nation‘ und den Berliner Jungdemokraten ge9
Prittwitz, Washington, S. 22 f. Ebd., S. 8. 11 Handbuch, 413. 12 Prittwitz, Washington, S. 18. 13 Ebd., S. 238. 14 Ebd., S. 126.
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widmet.“15 Die Tatsache, dass Prittwitz damals bereits auf die Funktionsweise der amerikanischen Demokratie zurückblicken und -greifen konnte, hat sein Demokratieverständnis sicherlich entscheidend geprägt. Zumal er quasi im Wechselbad zwischen aufgeklärter Demokratie amerikanischer Prägung, autokratischem Zarenregime16 russischen Formates17 und dem italienischen Faschismus18 war und – dies war ein eher seltenes Privileg – die Vor- und Nachteile der beiden Staatsformen als mündiger Mensch „vor Ort“ überprüfen konnte. Prägend dürfte für ihn dabei gewesen sein, was sich in den 1920er Jahren in der italienischen Politik abspielte. Wie alle Mitglieder der „Gesellschaft vom 16. November“ war Prittwitz der Deutschen Demokratischen Partei beigetreten. Er kandidierte bei den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 für einen Sitz im ersten Reichstag der Weimarer Republik, doch die DDP verlor im Vergleich zur vorherigen Wahl zur Nationalversammlung drastisch, Prittwitz errang keinen Parlamentssitz. Nach diesem Misserfolg bewarb er sich erneut für einen Auslandsposten. Ende 1920 wurde er als Konsul nach Triest entsandt, aber schon vier Monate später als Stellvertretender Botschaftsrat an die Deutsche Botschaft in Rom beordert. Eine Beförderung zum Botschaftsrat folgte. Während seiner Zeit in Rom erlebte er mit, wie Mussolini die Macht übernahm. Er konnte als Zeitzeuge erleben, wie in Italien der Faschismus den Weg von der legalen Regierungsübernahme bis zur hemmungslosen Diktatur in Etappen zurücklegte.19 1927 kam der in Washington amtierende Botschafter des Deutschen Reiches, Ago Freiherr von Maltzan, durch einen Flugzeugabsturz ums Leben. In der Folge dieses Ereignisses wurde überraschenderweise Prittwitz zu seinem Nachfolger ernannt.20 Seine Ernennung zum Botschafter in den USA erzeugte einen „regelrechten Sturm der Entrüstung“ bei den Parteien und Zeitungen der Rechten in Deutschland. Prittwitz bemerkte dazu: „Diese Entrüstung war insofern komisch, als sie eigentlich darauf beruhte, daß der Reichspräsident von Hindenburg es wagen könne, nach Amerika einen Diplomaten zu entsenden, der als Demokrat bekannt war.“21
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Ebd., S. 130. Prittwitz war zwischen 1911 und 1914 in St. Petersburg als Legationssekretär in der deutschen Botschaft tätig, vgl. Prittwitz, Washington, S. 48 f. 17 Der Zar nannte sich: „Selbstherrscher aller Reußen“, vgl. Linz, Juan J., Totalitäre und autoritäre Regime, Berlin 2009. 18 Prittwitz, Washington, S. 139 f.; Zaun, Harald, Friedrich Wilhelm von Prittwitz und Gaffron Demission als Votum gegen das NS-Regime, in: Nix, Dietmar K. (Hrsg.), Nationalismus als Versuchung. Reaktionen auf ein modernes Weltanschauungsmodell, Zeitgeiststudien, Bd. 2, Aachen 1992, S. 43 – 67, hier: S. 43; zit.: Zaun, Prittwitz. 19 Zaun, Prittwitz, S. 48. 20 Ebd., S. 49 f. 21 Prittwitz, Washington, S. 172. 16
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II. Demission in Washington Bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 hatte Prittwitz die Ansicht vertreten, dass der Nationalsozialismus „unsagbares Leid über Deutschland hereinbrechen lassen musste“.22 Verschiedentlich warnte er in Briefen und Stellungnahmen vor der Reaktion der amerikanischen Bevölkerung auf einen Rechtsruck der deutschen Politik sowie vor einer Beteiligung von Nationalsozialisten an der Regierung. Aber auf diese einsamen Rufe in der Wüste bekam er nirgends befriedigende Reaktionen.23 Am 6. März 1933 dann, sieben Wochen nach Hitlers Machtübernahme, knapp eine Woche nach dem Reichtagsbrand und der Aufhebung von Grundrechten durch die Notverordnung „Zum Schutz von Volk und Staat“, sandte der deutsche Botschafter in den Vereinigten Staaten von Amerika Prittwitz und Gaffron ein kurzes Telegramm nach Berlin. Mit dem Text: „Angesichts der innenpolitischen Entscheidung in Deutschland halte ich es für meine Pflicht, Sie zu bitten, dem Herrn Reichspräsidenten mein bisheriges Amt zur Verfügung zu stellen.“ 24 Die Washingtoner Zeitung Evening Star berichtete über die Demission, die Prittwitz eingereicht hatte. Seiner Ansicht nach war das Blatt wohl durch „Indiskretion von befreundeter journalistischer Seite“ unterrichtet.25 Der Artikel machte auch das Motiv für die Demission in der Überschrift klar: „Von Prittwitz Resigns Post as German Ambassador to U.S. / Enthusiastic Republican Feels He Is Unable to Represent Hitler / Supporter of Weimar Constitution Likley to Leave Washington Soon.“26 An den Reichsaußenminister Konstantin von Neurath schrieb Prittwitz, „er habe nie einen Hehl aus seiner politischen Einstellung gemacht, die in einer freiheitlichen Staatsauffassung und republikanischen Grundsätzen wurzele“. Deswegen könne er „… aus Gründen des persönlichen Anstandes …“ nicht weiter seinen Dienst ausüben, ohne sich „selbst zu verleugnen“.27 Über Prittwitz’ Motivation zum Rücktritt war also weder in seinem Demissions-Telegramm noch in der Öffentlichkeit Unklarheit gehalten worden. Überdies gab es auch Stimmen von Deutschamerikanern in den Vereinigten Staaten, die mit Schreiben an den „Reichsminister des Inneren Dr. Goebbels“ eine Bestrafung Prittwitz’ für seine „Pflichtverletzung“ forderten. „Bessere Menschen“ ließen sich leicht finden. Doch im Auswärtigen Amt wurde das Schreiben, zum Glück für Pritt-
22
Ebd., S. 222. Zaun, Prittwitz, S. 52 f. 24 Moltmann, Günter, Ein Botschafter tritt zurück. Friedrich von Prittwitz und Gaffron, Washington 6. März 1933, in: Finzsch, Norbert / Wellenreuther, Hermann (Hrsg.), Liberalitas, Festschrift für Erich Angermann zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1992, S. 367; zit.: Moltmann, Prittwitz. 25 Moltmann, Prittwitz, S. 367 f. 26 Ebd., S. 368. 27 Conze, Eckard u. a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 37. 23
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witz, mit Anstreichungen zu den Akten gelegt.28 Am 5. Mai 1933 schließlich ließ Hitler den ihm feindlich gesonnenen Prittwitz zu einer Abschiedsaudienz in die Reichskanzlei bitten. Hitler empfing ihn in Zivil und begrüßte ihn mit den Worten: „Sie haben eine schwere Zeit hinter sich!“ Prittwitz konnte nur zustimmen, bestätigten sich doch seine Sorgen um Deutschland und sein Volk zusehends. Bei der Audienz beeindruckte Prittwitz eher eine gewisse Unsicherheit des „Führers“ als seine angebliche Ausstrahlung.29 Prittwitz’ Nachfolger als Botschafter in Washington war Hans Luther, ein Politiker der Weimarer Republik und bisheriger Reichsbankpräsident.30 Obwohl Prittwitz immer wieder Gegenstand nationalsozialistischer Presseattacken geworden war31, konnte er sich vom nationalsozialistischen Regime relativ unbehelligt in Berlin mit Frau und Tochter niederlassen.32 Prittwitz erinnerte sich nach dem Krieg nur an einen ernsteren persönlichen Konflikt mit den Nazis. Und zwar wurde er gewarnt, er werde von der SS verprügelt werden, weil er sich auf einem Empfang eines Automobilclubs, auf dem auch Regierungsvertreter anwesend waren, gezeigt habe. Daraufhin suchte er den Denunzianten, SS-Gruppenführer Erbprinz Josias zu Waldeck und Pyrmont, zu einem offenen Gespräch auf. Daraufhin wurde er nicht mehr belästigt.33 III. Ein Mann des Widerstands? Die Frage, inwieweit Prittwitz’ Demission als Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime einzuordnen sei, hat in jüngster Zeit Michael Wala positiv beantwortet. Er stellt fest, dass zwischen Prittwitz und den Botschaftern Deutschlands in Paris, Roland Köster, und London, Leopold von Hoesch, gemeinsame demokratische Grundüberzeugungen bestanden.34 Darüber hinaus erwähnt Wala auch Bernhard Wilhelm von Bülows, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, nicht abgesandtes Rücktrittsgesuch. In diesem Rücktrittsgesuch nannte Bülow als weitere Kandidaten für einen freiwilligen Rücktritt die Botschafter in Moskau, Herbert von Dirksen, Paris, Köster, und London, Hoesch. Nur war Bülows in dem Rücktrittsgesuch beschriebene Motivation nicht „der Umbau Deutschlands in einen antisemitischen, totalitären Führerstaat“, „sondern dessen Wahrnehmung im Ausland“.35 Hoesch jedoch lehnte einen Rücktritt schließlich ab. Damit fiel der Versuch der „Spitzendiplomaten“, gemeinsam passiven Widerstand gegen das Regime durch Rücktritte zu 28
Moltmann, Prittwitz, S. 369. Prittwitz, Washington, S. 228 f.; Moltmann, Prittwitz, S. 371 f. 30 Prittwitz, Washington, S. 227. 31 Zaun, Prittwitz, S. 53 f. 32 Moltmann, Prittwitz, S. 372. 33 Ebd., S. 377. 34 Wala, Michael, Republikaner ohne Republik, in: Schulte, Jan Erik / Wala, Michael (Hrsg.), Widerstand und Auswärtiges Amt, München 2013, S. 28; zit.: Wala, Republikaner. 35 Wala, Republikaner, S. 32. 29
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üben, in sich zusammen.36 Wala fasst Prittwitz’ Beteiligung wie folgt zusammen: „Prittwitz hatte das Fundament gelegt, aber weder Bülow noch Köster waren offensichtlich bereit, Prittwitz ohne Hoesch nachzufolgen. Möglicherweise auf Anraten Brünings rückten von Bülow und mit ihm Köster und Dirksen von einem Rücktritt wieder ganz ab und verstrickten sich im Laufe der Zeit immer mehr in Schuld.“37 Prittwitz hatte einmal auch an einer Besprechung teilgenommen, an der auch Carl Friedrich Goerdeler anwesend war. Allerdings fiel ihm „der Leichtsinn und die dadurch bedingte Aussichtslosigkeit der besprochenen Pläne auf“. Zudem seien diese Pläne „naiv und unverdaut“ gewesen. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass es den Anwesenden „weniger um demokratische Reformen ging, als um [die] Rettung einer maximalen Machtposition ohne Hitler“. Diese Stoßrichtung der Aktionen ließ sich aber mit Prittwitz’ demokratischer Grundeinstellung und seiner Hoffnung auf ein anderes Deutschland nicht vereinbaren.38 IV. Folgen und Bewertungen Günter Moltmann charakterisiert Prittwitz’ weiteres Leben in der Diktatur folgendermaßen: „Daß ihm diese Heimat [Deutschland] politisch fremd geworden war, ihn zur politischen Enthaltsamkeit zwang, und zwar auf damals nicht absehbare Zeit, ertrug er in stoischer Haltung, weitgehend auf sich allein gestellt, ohne nennenswerten Rückhalt in einer Organisation oder im kirchlichen Glauben. Seine Existenz war die eines vom politischen Tagesgeschehen abgehobenen Bürgers, der sich mit Geduld gewappnet hat, gegenüber dem Unrechtsstaat kompromisslos eingestellt ist, in strenger Selbstdisziplin verharrt, naheliegende Emotionen unterdrückt. Wenn man will, verkörperte er den ,echten Aristokraten‘: in der Gesinnung unbeugsam, für die handfeste Auseinandersetzung zu nobel, persönlichen Gefahren gelassen in die Augen sehend.“39 Harald Zaun kommt zu dem Schluss, dass „Prittwitz mit seinem freiwilligen Rücktritt zweifelsohne ein zum Nachdenken anregendes Beispiel dafür gegeben [hat], daß es auch für einen Spitzendiplomaten damals durchaus möglich war, mit einer Demission seinen Protest zu artikulieren und damit gegen Politik und Ideologie des NS-Regimes auf legitime Art zu votieren“.40 Michael Wala resümiert: „Prittwitz blieb seinem Selbstverständnis treu. Er war Patriot im modernen Sinne, einer, der für den Erhalt der freiheitlich-republikanischen Grundordnung bereit war, alles zu riskieren. Während wir als Widerständler viele feiern, die dem nationalsozialistischen Regime treu dienten, sich andienten, sich ver36
A.a.O. A.a.O. 38 Wala, Republikaner, S. 33. 39 Moltmann, Prittwitz, S. 386. 40 Zaun, Prittwitz, S. 67. 37
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strickten, das Unrechtsregime stützten, ihm lange und willig zuarbeiteten und viel zu spät erkannten, wie fatal ihre Entscheidung gewesen war, war uns der mutige Schritt des ehemaligen Botschafters häufig kaum mehr als eine Fußnote wert. Zur Identitätsstiftung für die demokratische Bundesrepublik Deutschland oder auch nur bei der Neugründung des Auswärtigen Amtes nach 1945 ist der Verfassungspatriot Prittwitz jedenfalls nicht herangezogen worden. Anlass dafür hätte es mehr als genug gegeben.“41 Prittwitz’ Lebensmotto war wohl maßgeblich von dem Satz geprägt, der im Aufruf „An Deutschlands Jugend!“ von 1918 stand: „Nicht laute Machtgebärden, sondern zäher Kampf um unser Recht mit den Mitteln des Rechts!“42 Diese Devise mag ihm die Kraft gegeben haben, seine Geisteshaltung so couragiert gegen alle Angriffe zu verteidigen und aufrechtzuerhalten. Seine Mitgliedschaft im Corps Borussia Bonn hat ihn darin nicht behindert – das immerhin kann gesagt werden.
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Wala, Prittwitz, S. 33. Prittwitz, Washington, S. 18.
Peter Graf Yorck von Wartenburg Von Günter Brakelmann Beginnen wir mit seinem Ende. Am 7. und 8. August 1944 findet in Berlin der erste Schauprozess nach dem Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944 vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz des Präsidenten, Roland Freisler, statt. Unter den Angeklagten befindet sich Peter Graf Yorck von Wartenburg. Die Anklage: Hoch- und Landesverrat.1 Der Oberreichsanwalt Lautz charakterisiert den Angeklagten Yorck: Er sei der „typische Intellektuelle aus versunkener Zeit“. Freisler fragt in seiner Vernehmung, was er sich dabei gedacht habe, sich Stauffenberg zur Verfügung gestellt zu haben. Yorck antwortet: „Herr Präsident, ich habe bereits bei meiner Vernehmung angegeben, dass ich mit der Entwicklung, die die nationalsozialistische Weltanschauung angenommen hatte –“. Freisler unterbrechend: „… nicht einverstanden war. Sie haben, um es konkret zu sagen, ihm (gemeint ist der Vernehmende Dr. Karl Neuhaus, promovierter evangelischer Religionswissenschaftler) erklärt: In der Judenfrage passe Ihnen die Judenausrottung nicht, die nationalsozialistische Auffassung vom Recht hätte Ihnen nicht gepasst.“ Yorck nimmt sich das Wort: „Das Wesentliche ist, was alle diese Fragen verbindet, der Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtungen Gott gegenüber.“ Das dürfte einer der Höhepunkte des Verfahrens gewesen sein – der Angeklagte hat präzise seine Motive zum Widerstand formuliert. Freisler schließt seine Anklage gegen Yorck mit den Worten: „Wir haben ihn gesehen: Peter Graf Yorck von Wartenburg, wie aus seinem Gesicht, aus seinen Reden der Hass, der wirklich abgrundtiefe Hass der Reaktion neben ihrer Dummheit uns entgegengrinste.“ Das Urteil gegen Yorck und alle mit ihm Angeklagten fiel dementsprechend gnadenlos aus – so, wie es der Prozeßverlauf hatte erwarten lassen: „Den Meuchelmord an unserem Führer setzten sie ins Werk. Feige dachten sie, dem Feinde unser Volk auf
1 Grundlegend sind zwei Biographien: Brakelmann, Günter, Peter Yorck von Wartenburg 1904 – 1944, München 2012; ders., Helmuth James von Moltke 1907 – 1945, München 2007; dort ausführliche Literaturangaben.
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Gnade und Ungnade auszuliefern, es selbst in dunkler Reaktion zu knechten. Verräter vor allem, wofür wir leben und kämpfen, werden sie alle mit dem Tode bestraft.“2 Peter Yorck ist am 8. August 1944 um 18.30 Uhr an einem Fleischerhaken in einem Schuppen auf dem Gelände des Gefängnisses von Berlin-Plötzensee verblutet. Heinrich Himmler hatte in seiner Posener Rede vom 3. August verfügt: „Ich habe den Befehl gegeben, dass die Leichen verbrannt wurden und die Asche in die Felder gestreut wurde. Wir wollen von diesen Leuten, auch von denen, die jetzt hingerichtet werden, nicht die geringste Erinnerung in irgendeinem Grabe oder an einer sonstigen Stätte haben. Der Reichsmarschall meinte sehr richtig: Über den Acker ist zu anständig, streuen Sie sie (die Asche) über die Rieselfelder.“3 Wer war nun der Mann, den Freisler als grinsenden, charakterlosen und ehrlosen Reaktionär beschrieb? Wer war Yorck? I. Die Familie der Grafen Yorck von Wartenburg Von 1815 bis 1945 lebte die Familie der Grafen von Yorck auf dem Schloss und Gut Klein Oels, östlich von Breslau gelegen. Es war eine Dotation des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., verliehen für die militärischen Verdienste vor dem und im Befreiungskrieg gegen den „Usurpator“ Napoleon. In der preußisch-deutschen Geschichte berühmt geworden ist der spätere Feldmarschall Ludwig Yorck von Wartenburg durch den Abschluss der „Konvention von Tauroggen“ von 1812, in der er ohne Wissen des Königs das preußische Hilfscorps im Krieg Napoleons gegen Russland für neutral erklärte. Hier wurde ein Grundzug aller späteren Yorcks offengelegt: Man versteht sich als Diener des Königs und des preußischen Staates, aber immer in der Gebundenheit an das eigene durch Gesetz und Evangelium geprägte Gewissen. Die Geschichte der Grafen Yorck beginnt mit dem Generalfeldmarschall Ludwig Yorck, der von 1759 bis 1830 lebte und dessen Werk jedes Schulkind im Preußen des 19. Jahrhunderts gekannt hat. Er lässt sich zusammenfassend so charakterisieren: „Der erste Graf spielte im Gedenken und im Bewusstsein aller späteren Generationen der Yorcks eine große Rolle. Sein preußischer Patriotismus, seine Treue zum Thron der Hohenzollern, verbunden mit selbständigem politischen Denken und dem Mut zu widerständigem Verhalten – Stichwort: Tauroggen – prägten viele der kommenden Yorcks. Ebenso waren sein Familiensinn und seine patriarchalische Verantwortung für das ökonomische und soziale Wohl der Untergebenen ein Erbe, das sich durch Generationen hindurch erhalten sollte“.4 2
Vgl. dazu: Mühlen, Bengt von zur / Klewitz, Andreas von (Mitarb.), Stenogramm der ersten Volksgerichtshofverhandlung vom 7./8. August 1944, in: Die Angeklagten des 20. Juli vor dem Volksgerichtshof, Berlin 2001, dort Anlage, S. 83 ff. 3 Brakelmann, Moltke, S. 361; dort zit.: UF XXI, S. 503. 4 Brakelmann, Yorck, S. 14 f.
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Sein Sohn Ludwig Yorck, 1805 bis 1865, war eine Bibliophiler und Reformer. Seine geistige Prägung hat er sich in Berlin erworben. Die preußische Metropole war für ihn und für alle späteren Yorcks neben Klein Oels so bedeutsam wie Breslau. Ludwig baute im Schloss Klein Oels eine Bibliothek und eine Graphik- und Kupferstichsammlung auf und machte das schlesische Schloss zu einem Begegnungszentrum für Philosophen, Theologen, Historiker, Literaten und bildende Künstler. Aber er war nicht nur ein geisteswissenschaftlich interessierter, sondern zugleich ein Mann mit politischem Engagement. Er gehörte zu der kleinen Gruppe der konstitutionellen Liberalen, war Mitbegründer der altliberalen Partei, er trat ein für die Emanzipation der Dissidenten und Juden, für die Aufhebung der Patrimonialgerichte und der Dominialpolizeigewalt, für die Erweiterung der Selbstverwaltungsrechte und für regelmäßig tagende Landtage. Er war 1848 für eine kurze Zeit Oberpräsident von Schlesien und trat auf gesetzgeberischem Weg für eine Modernisierung der Monarchie ein. „Er suchte die Mitte zwischen politisch-gesellschaftlicher Reaktion und geschichtsvergessenem Revolutionismus. Die konstitutionelle Monarchie war für ihn die Ordnungsform, die beides leisten konnte. Die bürgerliche Freiheit und staatliche Stabilität.“5 Später saß er im Preußischen Herrenhaus, aber er gehörte immer zur parlamentarischen Minderheit. Zusammenfassend lässt sich sagen: „… er war ein Mann mit eigenem Urteil, mit Grundsatztreue und mit selbstlosem Einsatz für sein Vaterland und für die Monarchie der Hohenzollern. Seine Leidenschaft galt dem Zivil-Kulturellen. Das Vaterland zu verteidigen, war ihm selbstverständliche Pflicht, aber Militarismus und aggressiver Nationalismus waren ihm fremd. Die Ehrendoktorwürde der Universität Breslau erfreute ihn mehr als das Angebot des Königs, ihn in den Stand eines Fürsten zu erheben. Diese Auszeichnung lehnte er ab.“6 Auf Ludwig folgt Paul Graf Yorck, 1835 bis 1897, der in der deutschen Philosophiegeschichte einen hohen Rang einnehmen sollte. Dokumentiert und interpretiert hat ihn 1970 Karlfried Gründer.7 Paul lebte nicht nur zurückgezogen als aktiver Großgrundbesitzer und theologischer wie philosophischer Denker in Klein Oels, sondern war auch ein engagierter Politiker. Im Herrenhaus hat er manchen Reformvorschlag eingebracht. Nach der Teilnahme am deutsch-französischen Krieg – übrigens war er am 18. Januar 1871 bei der Kaiserproklamation im Versailler Spiegelsaal anwesend – hat er sich für eine Trennung von Staat und Kirche, von Thron und Altar eingesetzt, natürlich vergeblich. Er war ein guter Kenner Luthers und der reformatorischen Theologie. In die Philosophiegeschichte eingegangen ist er vor allem als Dialogpartner von Wilhelm Dilthey, der von 1833 bis 1911 lebte. Ihr Briefwechsel gehört zu den spannendsten philosophischen Dialogversuchen im 19. Jahrhundert. Zusammenfassend lässt sich über ihn sagen: „Wie sein Vater vertrat Paul Yorck eigenständige von der Mehrheit seiner Standesgenossen abweichende Positionen in der Politik und in der Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche. Er verkörperte ein preußisch-pa5
Ebd., S. 18. Ebd., S. 21. 7 Vgl. Gründer, Karlfried, Zur Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Aspekte und neue Quellen, Göttingen 1970. 6
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triotisches Denken, das gepaart war mit dem Pathos der persönlichen Glaubens- und Gewissensfreiheit.“8 Ein Zwischenergebnis. Man kann hier schon sagen: Das Erbe dieser drei Yorcks war dem Peter Yorck immer gegenwärtig. Ihn verstehen kann man auch in veränderten Zeiten nur, wenn man seine tiefe Verankerung in der geistigen, kulturellen und politischen Tradition seiner Familie sieht. Auf Paul folgte nun der 1861 geborene Heinrich Graf von Yorck, der Vater von Peter, der mit neun Geschwistern aufgewachsen ist. Er starb 1923. Die Mutter war Sophie Freiin von Berlichingen, 1872 bis 1945. Der Vater war ein hart arbeitender Verwaltungsjurist, er engagierte sich als sozialer Patriarch für das Wohl der Gutsleute und für das ökonomische Wohl der Provinz Schlesien. Als exzellenter Kenner der klassischen Antike sowie der deutschen und europäischen Philosophie und Literatur führte er die Tradition seines Vaters und Großvaters fort, das Schloss Klein Oels zu einem kulturellen Mittelpunkt Schlesiens zu machen. Politisch war der überzeugte Monarchist erbitterter Gegner von Liberalismus, Demokratie und Sozialismus: „Yorck war gegen jede strukturelle Veränderung der Bismarckschen Reichsverfassung, gegen jede Änderung des Dreiklassenwahlrechts und gegen ein größeres Gewicht des Reichstags. Die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft war für ihn keine historische Notwendigkeit, sondern das Ende der von Verantwortungs- und Besitzeliten getragenen gegliederten Gesellschaft und eines autoritär-obrigkeitlich verfassten Staates mit einem persönlichen Souverän an der Spitze.“9 Außenpolitisch war er im Weltkrieg Anhänger der Siegfriedenspolitik und innenpolitisch gegen jede demokratische Reformpolitik. Er lehnte die Osterbotschaft des Kaisers 1917 ab, war Gegner der Politik des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg und natürlich war er gegen die Verfassungsreform vom 28. Oktober 1918. Die Tatsache, dass ausgerechnet im Reformationsjubiläumsjahr 1917 das Jesuiten-Gesetz aufgehoben und mit Graf Hertling ein Katholik Reichskanzler wurde, hat ihn politisch und psychisch sehr zugesetzt. Die Novemberereignisse waren für ihn Verrat und Verbrechen und die Weimarer Republik ein illegitimes Kind der deutschen Geschichte im Schlepptau westlichen Denkens. Er blieb bis zu seinem Tod 1923 überzeugter Bismarckanhänger. Versucht man ein Resümee der Familiengeschichte der Yorcks zu ziehen, so kann man sagen: Sie waren nicht nur eine Familie, die auf dem Fundament einer klassischen humanistischen Bildung, auf dem Fundament lutherischer Theologie und zeitgenössischer Philosophie lebte, sondern auch dies gehörte zu ihr. „Alle – ohne Ausnahme – bemühten sich im Sinne eines preußischen Patriotismus darum, politische Zeitgenossen mit besonderer Verantwortung zu sein, die ihrer Heimat, ihrer Provinz, ihrem König und ihrem Kaiser dienten. Auch wenn die einzelnen Yorcks politisch und gesellschaftlich sehr verschieden gedacht und gehandelt haben – der Feldmar8 9
Brakelmann, Yorck, S. 24. Ebd., S. 30.
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schall ein Anhänger des absoluten Königtums, Ludwig ein liberal-konservativer konstitutioneller Monarchist, Paul ein Kämpfer für Rechtsstaatlichkeit und für die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat und Heinrich ein Kreuzzügler gegen Liberalismus und Demokratie –, so einte sie alle das Bewusstsein von der persönlichen Verantwortung für das Wohl des Vaterlandes.“10 II. Peter Yorck: Kindheit und Jugend im Schloss Der am 13. November 1904 geborene Peter wurde die ersten 16 Jahre seines Lebens von Privatlehrern unterrichtet. Latein und Griechisch, Englisch und Französisch mussten gelernt werden. Dazu kam ein Geschichtsunterricht von der Antike bis in die Gegenwart. Gouvernanten erzogen den Jungen im Sinne der pädagogischen Vorgaben der Eltern. Peter liebte und verehrte die Mutter, das emotionale Verhältnis zum Vater blieb unbestimmt und blass. Die Mutter war für alle Kinder die Mitte der Familie. Es war für alle zehn Geschwister ein Kinderleben ohne materielle Einschränkungen. Gekleidet war man nach den wechselnden Kindermoden der Zeit. Wie es im Schloss zuging, hat Joachim Ringelnatz, der einige Zeit Bibliothekar der hier befindlichen, größten Privatbibliothek in Preußen war, anschaulich und liebevoll-kritisch beschrieben: „Herr des Hauses war Graf Heinrich. Er regierte und dirigierte Familie, Gesinde und Landarbeiter mit eiserner Hand, fühlte sich aber gleichzeitig für das leibliche und geistige Wohl des Personals und der Gutsleute mit ihren Familien verantwortlich. Auch war er Patron der ev. und kath. Gemeinden. Das Besitztum der Yorcks mit seinen Außengütern war konfessionell gemischt. Die an das Schloss angebaute Kapelle war katholisch, die evangelische Kirche lag zwei bis drei Kilometer vom Schloss entfernt in Weignitz. Der Schlossherr suchte Pfarrer und Lehrer aus. Antikatholische Komplexe hat es bei den Yorcks nicht gegeben.“11 III. In der Klosterschule Roßleben 1920 wurde Peter auf die evangelische Klosterschule in Roßleben an der Unstrut geschickt. Das war eine alte Stiftung der Familie von Witzleben aus der späten Reformationszeit. Hier ging die klassische humanistische Bildung weiter, ergänzt durch eine Einführung in die lutherische Theologie und in eine evangelische Denk- und Lebenspraxis. Für Peter wichtig wurden Freundschaften mit Söhnen aus anderen Adelsfamilien: mit Wolf von Gersdorff, Nikolaus Christoph von Halem, Egbert Hayessen, Heinrich Graf v. Lehndorff-Steinort, Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, Adolf Graf v. Kielmannsegg, Albrecht von Kessel und Botho von Wussow. Alle sollte er später, im Widerstand, hier oder dort wiedertreffen. Es gilt: „Auf dem Internat von Roßleben erhielten diese späteren Widerstandskämpfer entscheidende geis10
Ebd., S. 42 f. Vgl. dazu: Ringelnatz, Joachim, Mein Leben bis zum Kriege, Hamburg 1966; ders., Sämtliche Erzählungen, Zürich 2003. 11
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tige und politische Impulse, um sich gegen eine totalitäre Weltanschauungsdiktatur aufzulehnen. Etliche Roßlebener Schüler aus alten adligen Herrschaftseliten entwickelten sich in der Republikzeit anders als die Mehrheit ihrer Standesgenossen, die am Untergang der Republik mitarbeiteten und Gefolgsleute Hitlers wurden.“12 Ostern 1923 machte Peter sein Abitur und ging gemäß der Tradition der Familie in die Universitätsstadt Bonn, um in dem berühmten Corps Borussia aktiv sein zu können.13 Dass er in Bonn ernsthaft Rechts- und Staatswissenschaften studiert hat, lässt sich nicht ausmachen. Wichtiger für das weitere Leben wurden auch hier neue Freundschaften: mit August Sylvius Graf von Pückler,14 Alexander von DohnaSchlobitten,15 Dietrich von Dönhoff16 und Gustav Adolf Baron Steengracht von Moyland.17 Politisch wichtig war in Bonn das unmittelbare Kennenlernen der politischen Situation im Rheinland. Die französisch-belgische Besatzungspolitik, die Besetzung des Ruhrgebiets sowie der gemeinsame passive Widerstand von Bevölkerung, Parteien, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften interessierten ihn, auch wenn das Corps für ihn den Mittelpunkt dargestellt haben dürfte: Im Wintersemester 1923/24 wurde sein Name auf den „Fechterpokal“ eingraviert, was bedeutet, dass er besonders aktiv und vor allem erfolgreich am studentischen Fechten teilgenommen hatte. Das lässt auf intensive Beteiligung am Verbindungsleben schließen. Der Ertrag aber seiner Bonner Zeit lag für den immer eher stillen und introvertierten Yorck in erster Linie im Kennenlernen von gleichaltrigen Menschen, die seine Freunde wurden. Die Freundschaften blieben auch erhalten, als man später verschiedene politische Optionen einging. Die einen gehörten ins Umfeld des politischen Widerstands, andere wurden Hitleranhänger. So wurde Baron Gustav Adolf Steengracht von Moyland 1933 Parteimitglied der NSDAP und schaffte es bis zum Nachfolger von Ernst von Weizsäcker als Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Festzuhalten ist auch, dass Peter Yorck nach seiner Zeit als aktiver Corpsstudent keine bisher bekannten sichtbaren Bindungen an die gesellschaftliche Welt und die politische Mentalität einer schlagenden Verbindung gehabt hat. Im späteren Bewusstsein und im Leben dieses Mannes aus preußischem Hochadel hat das Corpsleben keine nachweisbaren Spuren hinterlassen, was jedoch speziell für einen Angehörigen eines „weißen“ Corps, das sich dem Adelsprinzip verpflichtet fühlte, durchaus typisch ist. Die ehemaligen Studenten, die „Alten Herren“, trafen sich zwanglos und machten aus ihrer Corpszugehörigkeit kein Thema – anders als viele bürgerliche oder gar kleinbürgerliche Verbindungen, die sich bewusst „burschikos“ gaben. 12
Brakelmann, Yorck, S. 51. Gerlach, Otto (Hrsg.), Kösener Corpslisten 1960 (künftig: KCL), Kassel 1961, Nr. 9 – 981; vgl. Winkel, G. G., Corpsgeschichte der Bonner Borussia, Bonn 1938. 14 Gerlach, Otto (Hrsg.), Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, (künftig: KCL), Nr. 9 – 982. 15 KCL, Nr. 9 – 976. 16 KCL, Nr. 9 – 975. 17 KCL, Nr. 9 – 978. 13
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Wie sein älterer Bruder Paul, der wie der Vater auch zu den Bonner Preußen gehörte, hat Peter Yorck den Ausschluss von Juden aus dem Verbindungsleben in der Frühzeit des NS-Systems nicht akzeptieren können; es bedeutete einen Bruch mit den Idealen und damit mit dem Corps als Institution. Ungebrochen blieben jedoch die freundschaftlichen Beziehungen sowohl aus der Roßlebener wie aus der Bonner Zeit: aus der Schule wie aus dem Corps. 1923 war Yorcks Vater in Berlin gestorben, wo er einen Tag vor seinem plötzlichen Tod vor der dort teilweise versammelten Altherrenschaft der Borussia eine Rede gehalten hatte. Ab Oktober dieses Jahres setzte Yorck sein Studium in Breslau fort und wurde 1927 zum Dr. iur. promoviert. Sein Dissertationsthema hieß: „Die Haftung der Körperschaften des öffentlichen Rechts für Maßnahmen der Arbeiterund Soldatenräte“. Diese Arbeit zeigt, dass Yorck sich ausführlich mit der deutschen Geschichte befasst hat, das die einen als demokratische Revolution feierten und die andern als Verrat und Verbrechen diffamierten. Diese Dissertation ist als aufregend für eine eigene geistige und politische Entwicklung zu bezeichnen. Yorck kommt in ihr zu dem Ergebnis, dass die durch die Revolution am 9. November 1918 eingesetzten Arbeiter- und Soldatenräte die Träger der Macht gewesen sind und bis zur Verabschiedung der neuen Reichsverfassung ihre faktische Staatsgewalt rechtswirksam ausgeübt haben. Für ihn bedeuten diese Vorgänge, die er in der Dissertation aufarbeitete, dieses: „Für sein politisches Weltbild wurde dieses Verständnis von Revolution und Rätesystem ganz entscheidend. So stimmte er nicht in die Klage und Anklage gegen die ,Novemberverbrecher‘, die Totengräber der Kontinuität der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte, ein. Er nahm diese Revolution als politisches Faktum an und interpretierte sie verfassungsrechtlich. Seiner Meinung nach hatte das Kaiserreich als politisches und gesellschaftliches System sich selbst den Abschied von der historischen Bühne gegeben. Die Gründe für die innere Auflösung und den militärischen Zusammenbruch sah er in vorrevolutionärer Zeit. Die Revolution beendigte die Epoche eines Staats- und Gesellschaftssystems, das zu spät notwendige Reformprozesse vollzogen hatte. Getragen wurde die Revolution von zwei Gruppen, die im Krieg die größte Rolle gespielt hatten und gleichzeitig das reale Kriegselend in der Heimat und an den Fronten hatten aushalten müssen: die Arbeiter und Soldaten. Dass sie mit ihren selbst organisierten Räten die Macht übernahmen und ausübten, war eine politische Konsequenz des widerstandslosen Zusammenbruchs der alten Herrschaftseliten. Für Yorck, der sich diese revolutionäre Szene sehr genau angesehen hatte, war für die Zukunft bedeutsam, dass die Räte nicht selbst die Regierungsverantwortung übernahmen, sondern an den Rat der Volksbeauftragten und an die provisorischen Landesregierungen übergaben. Die Räte beanspruchten nur das politische Kontrollrecht über die neu gebildeten staatlichen Machtorgane, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, und um über die Sicherung und den Ausbau der Errungenschaften der Revolution zu wachen.“
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Festzuhalten ist: „Yorck hatte die geistige und politische Souveränität gewonnen, die neue deutsche demokratische Republik als das Ergebnis deutscher Geschichte grundsätzlich zu akzeptieren. Er gehörte nicht zu den Deutschen, die in ihrer emotionalen Bindung an die Monarchie den blindwütigen Amoklauf gegen die Weimarer Demokratie betrieben und zählte nie zur ,nationalen Opposition‘. Die antidemokratischen Vorstellungen seines Vaters, von denen er geprägt wurde, hatte er mit seiner Doktorarbeit endgültig überwunden.“18 Was zu sehen ist: „Bei Peter setzte schon relativ früh eine langsame politische Umorientierung ein, ohne die tiefe emotionale Bindung an die Herkunft aus alter Tradition je aufzugeben. Er entwickelte ein konstruktiv-kritisches Verhältnis zur republikanischen Wirklichkeit. Nicht, dass er ein überzeugter Demokrat geworden wäre, aber er sah seine Aufgabe nicht mehr in der Restitution alter Lebens- und Rechtsverhältnisse.“19 Dass Yorck sich politisch anders entwickelte als die meisten seiner „Klasse“, die in der Regel zur „nationalen Opposition“ gehörten und antiliberale, antidemokratische und antisemitische Positionen vertraten, zeigt auch seine Teilnahme 1929 an einem „Schlesischen Arbeitslager“ in Löwenberg, Niederschlesien. Der Breslauer Prof. Eugen Rosenstock hatte sich als Erwachsenenpädagoge zum Ziel gesetzt, „die Klassengesellschaft mit ihren schichtenspezifischen materiellen und immateriellen Unterschieden zugunsten einer offenen Gesellschaft mit Elementen der gleichberechtigten Zusammenarbeit aller Bürger zu überwinden“.20 Mit Hilfe der drei Studenten Carl-Dietrich von Trotha, Horst von Einsiedel und Helmuth James von Moltke, alles „Standesgenossen“, organisierte er ein Arbeitslager mit jungen Fabrikarbeitern, Landarbeitern und Studenten, um über Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit zu sprechen. Morgens arbeitete man gemeinsam mit dem Spaten und nachmittags und abends diskutierte man die existentiellen, die sozialen und politischen Probleme durch. Zu Vorträgen lud man unter anderem ein: den Pädagogen Adolf Reichwein, den Landwirtschaftsexperten Fritz Christiansen-Weniger, den Professor Hans Peters und den Oberpräsidenten von Oberschlesien, Hans Lukaschek.21 Und als Diskutant finden wir in den Protokollen Peter Yorck. Es ging in den Vorträgen und Diskussionen vor allem um Reformen in der Bildung, in der Ausbildung, im Schul- und Universitätsbetrieb und in der Erwachsenenbildung. Liest man die erstellten Reformkonzepte durch, so ist es keine Überraschung, dass viele von ihnen in den späteren Kreisauer Widerstandstexten auftauchen. Es sind Tendenzen und Positionen des reformorientierten Zweiges der Jugendbewegung und der Reformpädagogik der deutschen Erwachsenenbildung. Und sieht man auf die Namen, so haben wir hier den späteren Kern des Kreisauer Freundeskreises. 18
Brakelmann, Yorck, S. 59 f. Ebd., S. 61. 20 Ebd., S. 61. 21 Lukaschek war Mitglied der CV-Verbindung Rheno-Palatia Breslau; s. dazu: GGB, Widerstand und Verfolgung im CV, S. 135 ff. 19
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Yorcks Teilnahme am Löwenberger Arbeitslager zeigt, dass er die engen Schranken eines exklusiven Standesdenkens endgültig hinter sich gelassen hat. Er hat keine Berührungsängste mehr, mit Menschen aus anderen Schichten zu diskutieren, um Voraussetzungen für eine reformorientierte Gesellschaftspolitik zu schaffen, die die „Klassengesellschaft“ zugunsten einer „Volksgemeinschaft“ hinter sich lässt. IV. Im Kommissariat für Osthilfe Nach seinem Juraexamen hatte Yorck die üblichen Stationen in der Juristenausbildung durchlaufen, bevor er 1932 in die Staatsbehörde des Kommissariats für die Osthilfe eintrat. Sein Chef war Dr. Krüger, ein sozialdemokratischer Landwirtschaftsexperte. Hier begann die berufliche Laufbahn des Peter Yorck zum Verwaltungsjuristen mit dem Schwerpunkt Landwirtschaftsfragen. Zuvor hatte Peter im Wonnemonat Mai 1930 die bürgerliche Berlinerin Marion Winter geheiratet, die ebenfalls in Breslau zum Dr. jur. promoviert worden war. Unter schlichten Bedingungen haben die beiden bis zum April 1934 in Berlin gelebt. Als befreundetes Ehepaar kannten sie Hermann Josef Abs und seine Frau Ines. In Abs hat Yorck einen ausgezeichneten Fachmann für internationale Finanzfragen gehabt. Später wird Abs auch mit Moltke bekannt und dadurch zum Berater des Kreisauer Kreises. In Berlin lebten seine Schwester Bertha, genannt „Püzze“, die Frau von Friedrich Carl Siemens und zeitweilig seine Schwester Davida, genannt „Dävy“, die Frau des Spitzendiplomaten Hans Adolf von Moltke. Kontakt hatte er auch schon mit Hans Schlange-Schöningen wie mit Ernst von Borsig, die später Berater der Kreisauer in agrarpolitischen Fragen wurden. Was zu beachten ist: Peter lebte seit Roßleben immer in Dialogen mit Freunden und Bekannten, die ihrerseits Experten in verschiedenen Sachfragen sind. Er lernte vieles von ihnen, um sich ein eigenes verantwortbares Urteil erarbeiten zu können. V. Beginn der NS-Zeit und die Zeit in Breslau Den 30. Januar 1933 haben Marion und Peter als Zuschauer die Fackelzüge der „nationalen Parteien und Verbände“ in der Wilhelmstraße erlebt. Wie Yorck das „Wendejahr“ 1933 erlebte und kommentierte, wissen wir nicht, da es keine schriftlichen Zeugnisse aus dieser Zeit gibt. Wie er die Verordnung des Reichspräsidenten „Zum Schutz von Volk und Staat“ mit der Aufhebung der personalen Grundrechte, wie er die Reichstagswahlen vom 5. März, den Tag von Potsdam am 21. März und das Ermächtigungsgesetz vom 23. März, den Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April und das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April, die Zerschlagung der Gewerkschaften und demokratischen Parteien, die politische und kulturelle Gleichschaltung des öffentlichen Lebens sowie das entstehende System der Konzentrationslager beurteilte, entzieht sich unserer Kenntnis. Im Gegensatz zu den meisten seiner späteren Kreisauer Freunde, die von Anfang an Gegner
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Hitlers und seines Nationalsozialismus waren, finden sich bei Yorck über die Verweigerung hinaus, in die Partei einzutreten, keine Hinweise auf eine Resistenz oder gar einen bewussten Widerstand gegen das neue System; diesen Weg ging er erst später.22 Peter nützt die Möglichkeit, im April 1934 Justitiar am Oberpräsidium in Breslau zu werden. Diese Stadt war inzwischen eine „braune Stadt“ geworden. Walter Tausk und Fritz Stern haben das Leben in Breslau anschaulich beschrieben.23 „In diese braune Musterstadt kehrten Marion und Peter Yorck zurück. Sie konnten als Privatleute zunächst ihren alten Leidenschaften frönen: dem Hören von Musik, dem Besuch von Theaterstücken und der Lektüre klassischer und zeitgenössischer Literatur. Allzu Modernem stand Yorck freilich skeptisch gegenüber. Wie er die einsetzende Kulturund Bildungspolitik der Nationalsozialisten und die Bücherverbrennung am 10. Mai beurteilte, ist nicht bezeugt.“24 An der Universität hörten Marion und Peter eine Ringvorlesung mit Viktor von Weizsäcker, Peter Rassow, Friedrich Gogarten und Günter Schmölders. Seine Bekanntschaft mit letzterem sollte später noch eine große Bedeutung bekommen. Yorck nimmt aber auch eine alte Familientradition wieder auf: die Beschäftigung mit theologischen Grundfragen: „In dieser Zeit griff Yorck zu den Werken des Theologen Karl Holl, der gerade viel von protestantischen Laien gelesen wurde. Die in drei Bänden vorliegenden Lutheraufsätze sollten ihn bis zu seinem Lebensende begleiten. Auf diese Weise hielt er die Klein Oelser Tradition lebendig, sich theologisch und in seiner persönlichen Frömmigkeit von Luther (nicht vom konfessionellen Luthertum!) und dessen Interpretation des christlichen Glaubens her zu verstehen. Yorcks Interesse für Theologie entsprach allerdings noch kein kirchliches Engagement. Die Gemeinde als Ort der Verkündigung des Evangeliums und der Feier des Abendmahls entdeckte er erst später.“25 In seiner Breslauer Tätigkeit entwickelt er sich auf seinem Gebiet weiter zu einem Experten: „Schon am 1. September 1934 wurde er als Regierungsassessor Bearbeiter für Landwirtschafts- und Preisfragen. Hier dürften seine Hauptkompetenzen gelegen haben, hatte er doch von Jugend an beobachtet, was praktische Landarbeit ist, welche Rolle die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte auf dem Markt spielen, zudem hatte er realistische Einblicke in die sozialen Probleme der Landarbeiter gewonnen. Seine betriebswirtschaftlichen und agrarpolitischen Kenntnisse hatte er unter Krüger und auf zahlreichen Reisen in den Osten Deutschlands vervollständigen können. An Gesprächspartnern aus der landwirtschaftlichen Tagespraxis hat es ihm dabei nie gefehlt.“26
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Brakelmann, Yorck, S. 70 f. Stern, Fritz, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen, München 2007; Tausk, Walter, Breslauer Tagebuch 1933 – 1940, Berlin 2000. 24 Brakelmann, Yorck, S. 72. 25 Ebd., S. 73. 26 Ebd., S. 74 f. 23
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Im Dezember 1934 wird er unter dem neuen Oberpräsidenten und Gauleiter Josef Wagner, 1899 bis 1945, selbständiger Sachbearbeiter und persönlicher Referent. Wagner war ein alter Nationalsozialist aus Bochum, Gauführer in Westfalen und seit 1928 Reichstagsabgeordneter für die NSDAP. Seine Amtsführung in Breslau wird von vielen überlebenden Beamten gelobt. Auch fiel er dadurch auf, dass er seine katholische Konfession nie verleugnet hat. Er hatte als Behördenchef keine Probleme mit tüchtigen Beamten ohne Parteibuch. Er wird auch von Yorck gewusst haben, warum dieser nicht in die Partei eintrat, was gleichbedeutend war mit Beförderungsstopp. Ihm wird dabei nicht entgangen sein, aus welcher protestantischen Tradition der Graf aus Klein Oels kam. Yorck dürfte Wagner als seinen Chef auch geschätzt haben. Schon in Breslau hat Yorck immer mehr um sein intellektuelles und moralisches Dilemma gewusst. Als Beamter, auf den Führer vereidigt, diente er der Erhaltung und Ausgestaltung des nationalsozialistischen Systems. Aber noch führte ihn das nicht in eine Krise. Er war verstrickt in die Mechanismen eines Systems, das er zu seinem Teil mittragen musste, wenn er nicht seine persönliche Ausschaltung riskieren wollte. Einen Vorteil aber hatte diese Verstrickung: Er lernte das System immer besser kennen. Neben den ewig subalternen Beamten bekam er auch den Blick für ein mögliches resistentes Potential unter ihnen. VI. Im Reichspreiskommissariat in Berlin 1936 war die Zeit in Breslau vorbei. Wagner war von Hitler zum Reichspreiskommissar ernannt worden. Eine Reihe seiner besten Breslauer Beamten nahm er mit nach Berlin zum Aufbau einer neuen Behörde. Hitler hat im August 1936 eine Denkschrift zum zweiten Vierjahresplan herausgebracht. Deutschland, so schrieb der Führer, habe sich auf zwei Ziele zu konzentrieren: auf eine weitgehende Autarkie und auf eine Erweiterung seines rüstungswirtschaftlichen Potentials. Da Lebensmittel und Rohstoffe fehlten, müssten Zwischenlösungen durch die Mobilisierung und Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion und durch die Entwicklung künstlicher Rohstoffe gefunden werden. Aber: „Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoffund Ernährungsbasis unseres Volkes. Es ist die Aufgabe der politischen Führung, diese Frage dereinst zu lösen.“ Und die Denkschrift schloss mit den klaren Sätzen: „Ich stelle damit folgende Aufgabe: I.) Die deutsche Armee muss in vier Jahren einsatzfähig sei. II.) Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.“27 Das hieß: Die Wirtschaft hat sich in den Dienst der forcierten Aufrüstung zu stellen. Die Nation hat die Aufgabe, sich auf den Krieg vorzubereiten. Dem totalitären Staat sollte nun eine „totale Preispolitik“ entsprechen. Das hieß allerdings nicht die 27 Der Text der Denkschrift in: Steitz, Walter (Hg.), Quellen zur deutschen Wirtschaftsund Sozialgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus, Darmstadt 2000, S. 87, S. 89, S. 92.
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Verstaatlichung der Wirtschaft im Sinne der Lenkung aller Produktionsunternehmungen, sondern bei Erhalt der Privatwirtschaft deren Ausrichtung auf die Notwendigkeiten der Rüstung und des vorzubereitenden Krieges. Noch mehr als in Breslau, wo er klassische Verwaltungsarbeit zu tun hatte, wurde Yorck nun in die Mechanismen nationalsozialistischer Wehrpolitik verstrickt. Durch die vielen Kontakte mit anderen Reichs- und Landesbehörden erwarb er sich eine gute Personalkenntnis in den obersten Reichsbehörden. Später war er im Kreisauer Kreis der Mann mit den besten Verbindungen zur Ministerialbürokratie und den in ihr möglichen Mitstreitern für einen Sturz der Hitler-Diktatur. Wie verhielt sich Yorck in dieser Zeit politisch? Oktober 1936 begann sein Vetter Claus von Stauffenberg sein Studium an der Berliner Kriegsakademie. Er war häufig Gast in der Hortensienstraße 50, dem gemieteten Reihenhaus der Yorcks in Berlin-Lichterfelde. Schon in dieser Zeit hatte Yorck Verbindungen zu Männern des sich bildenden militärischen Widerstands: zu Hans Oster, Wilhelm Canaris, Hans von Dohnanyi, Ludwig Beck, Erwin von Witzleben und Paul von Hase. Das Jahr 1938 wurde für Yorck das politische Entscheidungsjahr: „Nach der Entlassung von Reichswehrminister Werner von Blomberg und General Werner von Fritsch im Februar 1938 und vor allem nach dem 9. November 1938 mit der Zerstörung von Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen sowie den folgenden antijüdischen Verordnungen suchte Yorck verstärkt Kontakte zum sich langsam organisierenden Widerstand um Witzleben, Oster, Halder und Beck. Aber er musste die ernüchternde Erfahrung machen, dass der vorgesehene militärische Staatsstreich im Zusammenhang mit der Sudetenkrise und dem Münchener Abkommen von Ende September 1938 scheiterte.“28 Doch nun war Yorck erwacht, empfänglich für Konspiration gegen das System, zugleich aber skeptisch, was deren Möglichkeiten betraf. Das Schweigen der traditionellen deutschen politischen Bildungseliten zur Entrechtung und Ausgrenzung der jüdischen Bürger ließ Yorck immer illusionsloser über ein deutsches Widerstandspotential denken. Waren es am Anfang der NSZeit einzelne Vorbehalte, die er gegen die „Wende 1933“ gehabt hatte, so verdichtete sich seine Ablehnung im Jahre 1938 zu dem Entschluss, konsequent Widerstand gegen das NS-System zu leisten. Die Frage eines alternativen politischen und gesellschaftlichen Systems wurde für ihn moralisch und politisch zentral. Auch die eigene Situation, einem Staatswesen zu dienen, das für ihn im Innern immer totalitärer agierte und nach außen mit der Besetzung der Tschechoslowakei den Schritt in einen europäischen Imperialismus getan hatte, erforderte eine Korrektur des eigenen Selbstverständnisses. Dafür galt es zunächst, einen Kreis von alten Freunden um sich zu sammeln, von denen er wusste, dass sie ebenfalls unter dem Unterdrückungs- und Eroberungsstaat litten. Dazu gehörten Albrecht von Kessel, der Freund aus Roßlebener Schulzeiten und nun junger Diplomat, Caesar von Hofacker, damals Proku28
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rist bei den Vereinigten Stahlwerken in Berlin, Fritz-Dietlof von der Schulenburg, vormals Polizeivizepräsident von Berlin und seit August 1939 Stellvertretender Oberpräsident in Schlesien und damit Stellvertreter des Gauleiters Wagner, Otto Ehrensberger, Ministerialdirigent im Auswärtigen Amt, (…) Nikolaus von Üxküll sowie dessen Neffe, der Völkerrechtler Berthold von Stauffenberg, ein Bruder Claus von Stauffenbergs.“29 Dieser von der Gestapo so bezeichnete „Grafenkreis“ entwickelte Ideen für eine zukünftige Verfassung.30 In den späteren Kreisauer Texten finden sich viele Positionen dieses frühen Freundeskreises wieder. VII. Im Weltkrieg Ende August 1939 wurde Yorck als Leutnant in das Panzerregiment 15, das später in Südpolen operierte, eingezogen. Schon am 9. September 1939 fiel bei Warschau sein Bruder Hans, genannt Hanusch. Seiner tieftraurigen Mutter schrieb er einen Trostbrief. Es sollten in den folgenden Jahren noch viele Wochenendbriefe an sie folgen.31 Ein Trost für alle war, dass Hanusch im Mausoleum des Schlossparks, der Grabstätte aller Yorcks seit des Feldmarschalls Tod, beigesetzt werden konnte. Yorck wurde wegen Bandscheibenproblemen „felddienstuntauglich“ geschrieben. Nach dem Polenfeldzug hoffte er wieder auf einen Militärputsch, „um die politischen Voraussetzungen für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu schaffen und vor allem, um die SS- und Polizeiverbrechen in Polen zu beenden. Überdies war ihm die Abneigung vieler Generäle gegen einen Frankreichfeldzug bekannt, den Hitler gegen den Rat der Experten forcierte. Aber auch diesmal war das widerständige Militär nicht handlungswillig.“32 1940 wurde Günter Schmölders in die Grundsatzabteilung der Wagner-Behörde berufen. Yorck und Schmölders konzipierten eine Schrift über den § 22 der Kriegswirtschaftsverordnung (KWVO). Der Wortlaut dieses Paragraphen war: „Preise und Entgelte für Güter und Leistungen jeder Art müssen nach den Grundsätzen der kriegsverpflichteten Volkswirtschaft gebildet werden.“ Es ist eine komplizierte Materie, die die beiden Autoren behandelten. Man kann so zusammenfassen: „Die beiden Autoren unterstellen sich dem Inhalt und der Logik der KWVO, die die Kriegsproduktion und die Finanzierung des Krieges sichern soll. Da sie aber wissen, dass die gelenkte Wirtschaft nicht die staatliche Planwirtschaft ist, sondern auf das Mitspielen und die Mitverantwortung der Unternehmer und Unternehmen angewiesen ist, streben sie eine größtmögliche Erhaltung marktwirtschaftlicher Gesetz- und Re29
Brakelmann, Yorck, S. 86 f. s. dazu Kessel, Albrecht von, Verborgene Saat. Aufzeichnungen aus dem Widerstand 1933 – 1945, Frankfurt/Main 1992. 31 Brakelmann, Yorck, S. 209 ff. 32 Ebd., S. 94. 30
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gelmäßigkeiten innerhalb der Rahmenbedingungen der Kriegswirtschaft an. Das Schlimmste ist zu verhüten: die totale Unterwerfung der Wirtschaft unter staatsund kriegspolitische Ziele. Die Autoren versuchen, die noch vorhandenen Mechanismen einer sach- und menschengerechten Wirtschaftsordnung argumentativ zu retten. Was sie befürchten, ist die totale Kommando- und Maßnahmewirtschaft, die sich rücksichtslos auf das eine Ziel konzentriert: die Erhöhung der Rüstungsproduktion mit allen Mitteln.“33 Yorck arbeitete in mehreren Arbeitsgemeinschaften von renommierten Volkswirtschaftlern mit. Er lernte Walter Eucken,34 Adolf Lampe und Franz Böhm35 kennen. Es entstand eine von Schmölders herausgegebene Schrift „Der Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung“. Yorck schrieb den Beitrag: „Ansätze zum Leistungswettbewerb in der Kriegswirtschaft“. Eucken fragt in seinem Beitrag „Wettbewerb als Grundprinzip der Wirtschaftsverfassung“, ob die staatliche Wirtschaftslenkung nach dem Krieg noch eine Zukunft habe. Natürlich nicht. Als ordnungspolitische Aufgabe der Zukunft formuliert er: „Es kommt darauf an, dass das Pendeln zwischen vermachteter ,freier‘ Wirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft aufhört und dass es gelingt, eine andersartige Form der Wirtschaftsordnung zu schaffen.“ Ohne Zweifel haben wir hier ein Plädoyer für das, was man später die „soziale Marktwirtschaft“ nannte. Dieses Ordnungsmodell entwickelte sich nicht am praxisfernen theoretischen Reißbrett, sondern aus den Erfahrungen heraus, die man mit einer „gelenkten Volkswirtschaft“ im NS-System gemacht hatte. Die Kreisauer formulierten später in ihren „Grundsätzen für eine Neuordnung“: „Die Reichsregierung sieht die Grundlage des Wiederaufbaus der Wirtschaft in einem geordneten Leistungswettbewerb, der sich im Rahmen staatlicher Wirtschaftsführung vollzieht und hinsichtlich seiner Methoden ständiger staatlicher Aufsicht unterliegt. Wo die vorhandenen Bindungen und Verflechtungen der Wirtschaft (Monopole, Kartelle, Konzerne) diesen Leistungswettbewerb ausschließen, ist es Aufgabe der Wirtschaftsführung, die Grundsätze des geordneten Leistungswettbewerbs zur Geltung zu bringen und die Interessen der Gesamtheit zu wahren.“36 Die Schrift aus dem Jahre 1942 über den Wettbewerb ist „ein kritischer Aufschrei gegen die ideologisch normierte Kommandowirtschaft des NS-Systems. Es ist Widerständigkeit gegen eine Wirtschaftspraxis, die keine Zukunft haben konnte. Verschiedene Nationalökonomen befanden sich hier auf dem Weg zu einem politischen Widerstand gegen das System im Ganzen.“37 Yorck entwickelte mit dem Freiburger Professor Adolf Lampe, der wiederum ständig mit Böhm, Eucken und v. Dietze zusammenarbeitete, einen engeren Kontakt. 33
Ebd., S. 101 f. KCL, Nr. 77 – 177. 35 KCL, Nr. 35 – 893. 36 Brakelmann, Yorck, S. 106. 37 Ebd., S. 109.
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Er kannte die Freiburger Arbeiten und Lampe wusste von den Kreisauer Entwürfen: „Mit der Verbindung von Yorck und Lampe entstand ein intensiverer Kontakt zwischen den Freiburger Ökonomen und den Kreisauern, der nie abgebrochen wurde. Im Februar 1943 schickte Lampe an Yorck und Goerdeler die von ihm verfassten Arbeiten für die Arbeitsgemeinschaft Erwin v. Beckerath. Yorck war auch durch Constantin von Dietze über die wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten der Freiburger und ihrer Kombattanten bestens informiert. Bei der Abfassung der Kreisauer Entwürfe zur Neuordnung Deutschlands dürften auch die Freiburger Denkschriften vom November/Dezember 1938 und vom Januar 1943 bekannt gewesen sein. Ihre Titel lauteten: „Kirche und Welt. Eine notwendige Besinnung auf die Aufgaben der Christen und der Kirche in unserer Zeit“ und „Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit“.38 Festzuhalten ist, dass Yorck den engsten Kontakt zu den Freiburgern gehabt hat. Die Freiburger und Kreisauer Kreise dürften unter den deutschen Widerstandsgruppen das größte intellektuelle Potential bei sich versammelt haben. Sie haben entwickelt, was man später das Modell der sozialen Marktwirtschaft genannt hat. Diese zivilen Widerstandskreise im Schatten des militärischen Widerstands verschwinden zu lassen, dürfte nicht sachgerecht sein. Der deutsche Widerstand ist eben mehr als der Militärputsch am 20. Juli. VIII. Im Wirtschaftsstab Ost Nach der Verhaftung von Josef Wagner im Mai 1940 suchte sich Yorck ein anderes Betätigungsfeld. Schließlich wurde er im Juli 1942 zum Wirtschaftsstab Ost im OKW versetzt. Dessen Aufgaben waren so formuliert: „Nach den vom Führer gegebenen Befehlen sind alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um die sofortige und höchstmögliche Ausnutzung der besetzten Gebiete zugunsten Deutschlands herbeizuführen (…). Die Ausnutzung der neu zu besetzenden Gebiete hat sich in erster Linie auf den Gebieten der Ernährungs- und der Mineralwirtschaft zu vollziehen. So viel wie möglich Lebensmittel und Mineralöl für Deutschland zu gewinnen, ist das wirtschaftliche Hauptziel der Aktion. (…) Die erste Aufgabe ist es, sobald wie möglich zu erreichen, dass die deutschen Truppen restlos aus dem besetzten Land verpflegt werden, um so die Verpflegungslage Europas zu erleichtern und die Verkehrswege zu entlasten. (…) Das Schwergewicht bei der Erfassung von Nahrungsmitteln für die heimische Wirtschaft liegt bei Ölfrüchten und Getreide.“39 Dieser Wirtschaftsstab Ost war also das Organ, das die Ausplünderung des Ostens organisierte. Im Blick auf Yorck ist zu sagen: „An welcher Stelle Yorck in dem Apparat auch gearbeitet haben mag: Er war Mitarbeiter einer Dienststelle, die an den Verbrechen der deutschen Besatzungspolitik beteiligt war. Außer Frage steht, dass 38 39
Ebd., S. 110 f. Ebd., S. 112.
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er genau wusste, was in den Ländern des Ostens an und hinter den Fronten geschah. Die Realität eines Eroberungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungskrieges mit ihren weltanschaulichen Prämissen kannte er genau. Er war Mitwisser des Völkermords durch Einheiten der Einsatzgruppen, der Wehrmacht und verschiedener Behörden. Auf Grund der Arbeit in seiner Behörde, einem Teil des Oberkommandos der Wehrmacht, war er aber gleichzeitig ein Mittäter. Auch wenn er nicht persönlich ein Kriegsverbrechen begangen hat, so war er doch verstrickt in die Verbrechen der deutschen Wehrmacht. Genau hier lag das persönliche moralische Problem vieler Männer im Widerstand. Sie waren Angehörige von Funktionseliten im Dienst eines verbrecherischen Systems, das sie gleichzeitig zutiefst ablehnten, aber nicht kurzfristig aufheben konnten. Sie waren Gefangene in einem System, das sich nicht durch einen einfachen moralischen Aufstand aufbrechen, sondern nur durch eine organisierte politische Konspiration mit dem Ziel der Anwendung militärischer Gegenmacht überwinden ließ. Ihr sittliches Bewusstsein war in dieser Situation zutiefst verletzt. Gerade sie, die sich zum Widerstand entschlossen hatten, wussten um ihre tiefe schuldhafte Verstrickung. Sie wussten um ihre Mitschuld an der Katastrophe und bekannten sie sich untereinander. Auch wenn sie sich im einen oder anderen Fall widerständig verhielten oder Einzelmaßnahmen boykottierten, waren sie im Ganzen in ein System ,kalkulierter Morde‘ integriert. Und sie wussten, dass die angestrebte Befreiungstat eines Attentats und eines gelungenen Staatsstreichs nicht die nachträgliche Exkulpation für ihre Mitverantwortung am deutschen Irrweg bedeutet hätte. Die blutigen Hände waren nicht reinzuwaschen. Alles schrie nach Vergebung und Neuanfang. Im Falle Yorcks wird man in aller Vorsicht vermuten dürfen, dass sein persönlicher Weg zu einem immer bewussteren Glauben an den vergebenden Gott und seine Öffnung zum Abendmahl als Vergebungsmahl mit der Erkenntnis seiner Mitschuld zusammenhing. Diesem mea culpa entsprang seine Bereitschaft, sich für ein radikal Neues gegen das radikal Böse einzusetzen.“40 IX. Im Kreisauer Kreis Am 16. Januar 1940 trafen sich in der Hortensienstraße 50 die beiden Yorcks mit Helmuth James von Moltke zu einem ersten Gespräch. Daraus sind dann hunderte geworden. Die erste Gesprächsrunde zwischen ihnen, bald ergänzt durch Otto Heinrich v. der Gablentz, ging über das Wesen des Staates. Der Briefwechsel zwischen diesen Drei dürften entscheidende Fragen der Ethik des Politischen verhandelt haben. Er zeigt aber auch, wie kompliziert es war, eine gemeinsame Position zu finden. Dieser Briefwechsel, der am Anfang des Kreisauer Kreises steht, dürfte aufregend genannt werden.41 Schon dieser erste Verständigungsprozess zwischen Yorck 40
Ebd., S. 133 f. s. dazu Brakelmann, Günter, Der Kreisauer Kreis. Chronologie, Kurzbiographien und Texte aus dem Widerstand, Münster 2004, S. 118 ff. 41
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und Moltke zeigt, was in den kommenden Jahren Methode geworden ist: Man steht in einem ständigen Dialog, formuliert Zwischenergebnisse und schließlich steht am Ende ein Konsenspapier. Alle späteren Kreisauer Dokumente sind Gemeinschaftsprodukte. Moltke und Yorck haben in der Regel die Endredaktion. Vor allem das letzte große Dokument über die Neuordnung vom 9. August 1943 ist in einer Reihe von Diskussionen zwischen den Freunden in verschiedenen Zusammensetzungen am Ende von den beiden Freunden in die Letztgestalt gebracht worden.42 Was nun besonders wichtig wurde, war die allmähliche Vergrößerung des Kreises nach dem Januar 1940. Es kamen zu den beiden Protestanten andere Protestanten hinzu: Adam von Trott, Hans Bernd von Haeften, Theodor Steltzer, Harald Poelchau, und Eugen Gerstenmaier. Es folgten Sozialdemokraten und Gewerkschafter: Adolf Reichwein, Carlo Mierendorff, Theodor Haubach, Wilhelm Leuschner, Hermann Maaß und später noch Julius Leber. Es kamen Katholiken hinzu: Ludwig Freiherr v. und zu Guttenberg,43 Hans Lukaschek, Hans Peters, Paulus van Husen und die drei Münchener Jesuiten Augustin Rösch, Lothar König und Alfred Delp.44 „Kopf“ und „Herz“ dieses Freundeskreises waren Moltke und Yorck. „Innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung hat es keinen anderen Kreis gegeben, in dem alle traditionellen weltanschaulichen und politischen Lager vertreten waren: junge Adelige aus dem protestantischen Umfeld, katholische Laien und Jesuiten, evangelischen Laien und Theologen, Gewerkschafter und Sozialdemokraten. Die Protestanten unter ihnen hatten in der Republikzeit für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) oder Deutsche Volkspartei (DVP) optiert, die Katholiken für das Zentrum. Zur deutschnationalen Volkspartei (DNVP), zur NSDAP oder zur Gruppe der ,Konservativen Revolution‘ oder zur völkischen Bewegung hatte niemand gehört. Die im Kreisauer vertretenen Sozialdemokraten zählten zum revisionistischen Flügel der Partei. Neben von der Gablentz und Poelchau gehörten Haubach, Mierendorff und Reichwein zur Gruppe der Religiösen Sozialisten um die von Paul Tillich gegründete Zeitschrift ,Neue Blätter für den Sozialismus‘. Was die Berufssparten anging, so fanden sich unter ihnen Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte, Hochschullehrer, Erwachsenenpädagogen, Industrieangestellte, Kaufleute und Männer in kirchlichen Diensten. Die meisten von ihnen waren promoviert. Berufsoffiziere fehlten zwar, aber viele waren Reserveoffiziere, und die Sozialdemokraten Mierendorff, Haubach und Leber waren hochdekorierte Offizieren des Ersten Weltkriegs. Versammelt war also ein gerüttelt Maß an Fachkenntnissen und Berufserfahrungen aus verschiedenen Wirtschafts- und Lebensbereichen. Einige, wie Leber, Leuschner, Mierendorff und Haubach, waren bereits in Konzentrationslagern interniert gewesen. Sie alle kamen aus einer Zeit, in der die politischen Großlager von ihren zumeist aggressiven Antistimmungen lebten: Die Protestanten waren antikatholisch, die Katholiken antiprotestantisch und beide überwiegend antiaufklärerisch und antisozia42
Ebd., S. 307 ff. Mitglied der KV-Verbindung Rheno-Bavaria München. 44 Ebd., S. 118 ff. 43
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listisch. Das industrielle Besitzbürgertum war zumeist antirepublikanisch und antidemokratisch, ähnlich verhielt es sich mit dem konservativen landbesitzenden Adel. Die Einstellung des Proletariats war antibürgerlich, antikapitalistisch und weithin antikirchlich. Und alle diese Schichten und Klassen durchzog mehr oder weniger stark ein antiliberaler Geist. Eine demokratische Dialogkultur hatte es nur in Anfängen gegeben. Alle Kreisauer hatten die für sie schmerzhafte Erfahrung der Selbstauflösung der Weimarer Republik und ihrer Zerschlagung durch den Nationalsozialismus und seine deutschnationalen und völkischen Verbündeten gemacht. Von Anfang an hatte die Gruppe einen politischen Grundkonsens: Bei der Errichtung eines neuen Staatsgefüges kann es weder um eine Restitution des kaiserlichen Obrigkeitsstaates noch um eine formale Übernahme der verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Strukturen der Weimarer Republik gehen. Angesichts des gemeinsamen politischen Ziels der Überwindung des Nationalsozialismus begann man einen Dialog über die geistigen Grundlagen eines ,anderen Deutschland‘, über verfassungspolitische, kulturpolitische und kirchenpolitische Grundfragen und über wirtschafts-, gesellschafts- und ordnungspolitische Strukturfragen. In einer ersten Gesprächsrunde mussten die Teilnehmer ihre Positionen und Ziele vor den anderen formulieren. Was wussten Protestanten und Sozialdemokraten über die katholische Soziallehre, was die Sozialdemokraten über die beiden Großkirchen und ihre Bekenntnis- und Lehrunterschiede, und was wussten Katholiken und Protestanten über die Positionen eines demokratischen Sozialismus? In einer zweiten Gesprächsetappe verglich man die Positionen und versuchte, Gemeinsamkeiten zu entdecken, ohne die zurückbleibenden Differenzen zu überdecken. Die dritte Etappe bestand schließlich in der Formulierung gemeinsamer Überzeugungen. Das ging nicht ohne harte Diskussionen, die bis an den Rand des Scheiterns führen konnten. Aber immer fand man Möglichkeiten, den Verständigungsprozess wieder aufzunehmen. Hier zeichnete sich vor allem Yorck als Vermittler aus.“45 Ohne Yorcks Fähigkeiten zum Vermitteln in den Gesprächen wäre der Kreis in vielen Konfliktsituationen auseinandergebrochen. Von besonderer Wichtigkeit waren für Yorck die Gespräche mit den Jesuiten, vor allem mit König und Delp über die Katholische Soziallehre. Mit dieser gab es für eine evangelische Ethik des Politischen und Sozialen die größten Übereinstimmungen. Es gab zwei Bischöfe, zu denen enge Dauerkontakte geknüpft wurden: zu Theophil Wurm, evangelischer Bischof von Württemberg, und zu Konrad Graf v. Preysing, katholischer Bischof in Berlin. Zwischen Moltke und Preysing gab es von 1941 bis 1943 rund 25 (!) Gespräche, über die er jeweils seine Freunde unterrichtete. Sie nahmen engsten Anteil an dem Kampf Preysings gegen die NS-Praxis und die NS-Ideologie. Seine zahlreichen Hirtenbriefe waren den Kreisauern bekannt. Durch Preysing bekamen sie auch Kenntnis über die Weihnachtsbotschaften und andere Verlautbarungen von Papst Pius XII., die hoch geschätzt wurden. Natürlich er45
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fuhren sie auch von Kardinal Bertram und seiner Politik, die anders war als die von Preysing und einigen süddeutschen Bischöfen. Für Yorck und Moltke war der Katholizismus mit seiner Theologie, seiner Soziallehre und seiner geprägten Kirchlichkeit resistenter gegenüber dem Nationalsozialismus als die evangelische Kirche, die es nur noch in ihren unterschiedlichen kirchenpolitischen Gruppen gab. So hatten die Kreisauer auch keine Beziehungen zur Berliner evangelischen Kirche. In der Tat – wen hätten sie da ansprechen können? Die Bekennende Kirche lehnte die Irrlehren der Deutschen Christen und die Kirchenpolitik der Nazis ab, aber sie stand nicht gegen die Innen-, Außen- und Kriegspolitik des Volkskanzlers Hitler. Bischof Wurm war, vermittelt durch Eugen Gerstenmaier, der Einzige, der für sie mit seiner Kritik an der sich radikalisierenden NS-Politik Bedeutung hatte. Durch das Erleben der Kriegswirklichkeit und durch die Begegnung mit Katholiken vertieften sich bei Yorck und Moltke das eigene Religions- und Kirchenverständnis und sie entwickelten eine eigene religiös-kirchliche Praxis. Sie erkannten beide die Bedeutung des sonntäglichen Gottesdienstes mit seiner Liturgie, seinen Liedern und Gebeten wie mit schriftgebundenen Predigten. Als unverwechselbare Person mit eigener schöpfungsgegebener Würde und mit eigener ethischer Entscheidungsfähigkeit und Verantwortung angesprochen zu werden und mit anderen zusammen das Abendmahl als persönliche Zusage des Heils in Christus und als Gemeinschaftsmahl der Brüder und Schwestern zu feiern – das gab Yorck neue Kraft für das alltägliche Leben und für die Widerstandsarbeit. Für beide Freunde wurde das tägliche stille Lesen der Bibel die große Hilfe in der Hektik und in den Wirren der Tage. Yorck entwickelte in den Jahren 1942/43 unter den Bedingungen eines totaler werdenden Krieges eine eigengeprägte Theologie und Frömmigkeit. Man kann diesen Prozess so charakterisieren: Sein schon immer vorhandenes Gottvertrauen wurde erweitert und vertieft durch einen persönlichen Christusglauben. In der Leidenszeit des Krieges entdeckte er neu den leidenden Christus der Evangelien. Christi Passion, die eindeutig auch politische Dimensionen gehabt hat, wird Spiegelbild der eigenen Situation. Jesu Kreuzigung durch politische und religiöse Gegenmächte wurde als historisches Ereignis unmittelbar aktuell durch die Gegenwart einer erbarmungslosen Todesmaschinerie, die an den Fronten, bei Bombenangriffen und in den Vernichtungslagern am Werke war. Die Kreuzigung hatte nicht mehr den Schleier des Ästhetischen, sondern war brutales Alltagsgeschehen. Die Hölle mit ihrem ganzen Personal und mit ihren Tötungsinstrumenten war längst auf die Erde gekommen: Die Apokalypse als Vernichtung von Mensch und Welt war gegenwärtiges Ereignis geworden. Teuflische und dämonische Mächte suchten, wen sie verschlingen konnten. Die mühsam aufgebaute Zivilisation brach zusammen. Jahrhundertealte Städte und Dörfer wurden in Minuten ein Raub der Flammen, Menschen erstickten, verkohlten oder wurden erschlagen. Man musste nicht mehr an die Bilder und Symbole des jüngsten Gerichts glauben, es war aktuell anwesend. Yorck erlebt die Gegenwart als eschatologisches, also endzeitliches Ereignis, als Einbruch der losgelassenen Gegenwelt zu Gottes ursprünglich guter Schöpfung, als
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Einbruch des Widermenschlichen, das im Zerstören seine Wonne hat. Und das alles als Folge der Selbstinthronisation des Menschen, der selbst bestimmen will, was gut und böse ist, der sich nicht mehr gebunden weiß an die menschenfreundlichen Gebote Gottes, der selbst bestimmt, wer leben darf oder sterben muss. Dem realen Selbstzerstörungsprozess zugrunde liegt für Yorck die bewusste Selbstentlassung des Menschen aus göttlicher Ordnung, die den Menschen Mensch und Mitmensch sein lassen will. Widerstandspolitik wird in dieser Zeit der selbst inszenierten Enthumanisierung des Menschen der Versuch, diesem Prozess auf die Katastrophe hin Einhalt zu gebieten und ihn vielleicht zu beenden. Aber dazu bedarf es nach Yorck zweier fundamentaler Voraussetzungen: die Rückkehr zum Glauben an den Gott, wie er in Jesus zur Geschichte und zur Sprache geworden ist. Die Rückkehr zu dem Gott, der die Verantwortung für eine humane Welt in die Hände seiner Geschöpfe gelegt hat, und die Rückkehr zu dem Gott, der den Menschen als unverwechselbare Person und zugleich zur Gemeinschaft mit seinesgleichen geschaffen hat. Yorck war wie viele seiner Freunde der Auffassung, dass eine radikale Bewusstseinsveränderung die Grundlage für ein neues Gemeinwesen sein muss. Und dieser Umkehr des Herzens und des Kopfes entsprang der Wille zum politischen Engagement, zur Veränderung der Lebensund Rechtsstrukturen. Oder anders: Das barbarische Deutschland bedarf der Revolution des Geistes und gleichzeitig der Revolution seiner Strukturen. Dies beides in Sprache und Aktion zu bringen, war die Aufgabe der Kreisauer Tagungen mit ihren Texten. – Wichtig bleibt, dass Yorck in den Diskussionen und in den Formulierungen eine entscheidende Rolle spielte. Nach der dritten Kreisauer Tagung im Juni 1943 änderte sich die militärische und politische Lage dramatisch. Wieder einmal erwarteten die Kreisauer auf Grund ihrer Kontakte zum militärischen Widerstand für August 1943 einen Staatsstreich und arbeiteten Tag und Nacht – meistens bei Yorck – an der „Neuordnung“. Hier vollzogen sie den bewussten Schritt von der konzeptionellen Arbeit in die praktische Politik. Yorck ist es gewesen, der Ende 1943 den Kontakt zu Stauffenberg intensivierte. Am 17. September 1943 fanden sich im Beisein von Moltke Claus von Stauffenberg und Henning von Tresckow bei Yorck ein und am 16. November kam es wieder in der Hortensienstraße zu einem Gespräch zwischen Stauffenberg, Werner von Haeften, Moltke und Gerstenmaier. Und am 30. Dezember trafen sich Moltke und Stauffenberg. Für beide gab es inzwischen einen neuen Gesprächspartner: Julius Leber. Es ist einfach spannend zu sehen, wie sich durch das Hinzukommen des politischen Schwergewichts Leber im Kreisauer Freundeskreis die Kontroversen über die zukünftige Politik verstärken. Selbst Moltke konnte sich der politischen und auch moralischen Argumentationskraft von Leber und Stauffenberg nicht entziehen. Die Frage sei erlaubt: Was wäre geworden, wenn sich die Trias Stauffenberg – Leber – Moltke gebildet hätte? Nach der Verhaftung Moltkes am 19. Januar 1944 war es nicht nur Yorck, sondern fast alle Kreisauer, die als zivile Widerstandskämpfer den Schulterschluss mit Stauf-
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fenberg vollzogen haben. Yorck wurde am Abend des 20. Juli zusammen mit Gerstenmaier in der Bendlerstraße verhaftet, durch Dr. Neuhaus verhört, in verschiedene Gefängnisse gebracht und am 8. August hingerichtet. Als Lektüre in den letzten Tagen hat er noch einmal den 1. Band der Lutherstudien von Karl Holl erbeten; er schreibt darüber: „Die lutherische Auffassung ist wohl auch die einzige, mit der man eine positive Einstellung zu den Ereignissen solchen Krieges, solcher Zerstörung und solcher Rechtlosigkeit erringen kann. Darüber hinaus muss man sich fragen, ob nicht auch die uns aufgetragene Nächstenliebe in dieser starken Form geübt werden soll, was ich immer letztlich für geboten gehalten habe. Es erweist sich deshalb als Trost und Stärkung, auf solche Fundamente zu stoßen, die tragende Grundsteine für die eigenen Anschauungen werden können.“ Zur Interpretation dieser Zeilen sei folgender Text zitiert: „Was Peter Yorck an Luthers Theologie so überzeugt hat, ohne dass er je Lutheraner im konfessionalistischen Sinne war, ist zunächst der in ihr enthaltene Realismus in der theologischen Bewertung des Menschen. Nach der Erklärung des Ersten Gebots durch Luther im Großen Katechismus ist die Ursünde des Menschen, sein zu wollen wie Gott, das heißt selbst zu bestimmen, was gut und böse ist. War die nationalsozialistische Weltanschauung mit ihren Normen und Zielen und ihrer politischen Praxis nicht die historische Illustration, wohin es führt, wenn eine Bewegung oder eine Partei oder ein Staat sich autonom selbst bestimmen, wenn man sich von jeder verbindlichen Tradition trennt und einen Menschen bilden will ohne Anbindung an außerhalb seiner selbst liegende Gebote und Gesetze? Konnte man bei Luther nicht lernen, wohin eine obrigkeitliche Praxis führt, wenn sie nicht nur den zivilen Gehorsam einfordert, sondern die Gewissen der Menschen autoritativ binden will, und dass jede politische oder gesellschaftliche Macht immer der Versuchung eigener Pervertierung in der konkreten Machtausübung unterliegt? Konnte man bei ihm nicht lernen, dass der Tyrann immer eine Möglichkeit der Geschichte ist und dass das Gewissen eine labile Sache sein kann, wenn man der Korruption eine Chance gibt? Konnte man bei Luther nicht lernen, dass die Bindung des Glaubenden an die Gebote Gottes und an das Evangelium Jesu Christi eine Voraussetzung bildet, selbst Mensch zu werden und auch in Anfechtungen Mensch zu bleiben? Und konnte man bei ihm nicht lernen, dass der Christ seinen Glauben umsetzt in die Verantwortung für den Nächsten und in die Mitverantwortung für ein humanes und gerechtes Gemeinwesen? Aber man konnte bei ihm auch lernen, dass obrigkeitliches Handeln des Schwertes bedarf, um dem immer existierenden und auf seine Chance wartenden Bösen zu widerstehen, um dem Chaos zu begegnen. Man konnte bei ihm lernen, dass es auch den Zorn Gottes gibt gegen die, die ihn verachten oder für ihre Zwecke gebrauchen wollen. Man konnte lernen, dass Gott der Schweigende sein kann, der den Menschen seinen zerstörerischen, unmenschlichen Fähigkeiten überlässt. Dass Menschen und Völker sich selbst zugrunde richten können, ohne dass Gott spektakulär eingreift, ist eine bittere Erfahrung, der allerdings die andere Erfahrung entsprechen kann, dass
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Menschen und Völker die Chance der Buße, der Umkehr haben. An der zentralen Christusbotschaft zerbricht nach lutherischer Lehre die Macht der selbst gefertigten Götzen und der sich selbst proklamierenden Abgötter. Diese können ihre Zeit haben, aber sie haben keine Ewigkeit. Irgendwann demaskieren sie sich selbst. Und es gibt die Realität eines Heiligen Geistes, der die Geister der Hölle, die auf die Erde gekommen sind, vertreiben wird. Yorck gehört zu denen, die das Kriegsgeschehen als Höllengeschehen verstehen, für das die braunen und grauen Akteure die Verantwortung tragen. Es ist die Schuld der Befehlsgewaltigen und ihrer Unterführer, wenn die letzten Tötungshemmungen fallen. Das alles hat Gott so nicht gewollt, er ist nicht verantwortlich. In Yorcks persönlicher Frömmigkeit ist kein Platz für die Anklage gegen Gott. Von der radikalen Letztverantwortung aller Zeitgenossen, die an den Morden beteiligt sind, ist er überzeugt. Andererseits besteht immer die persönliche und gemeinsame Chance, in die persönliche und gemeinsame Bindung an Gott und seinen menschenfreundlichen Willen zurückzukehren.“46 X. Die letzten Briefe Yorcks letzte Briefe vor seiner Hinrichtung gehen an den Bruder Paul, an seine Frau Marion, die selbst lange und entschieden im Widerstand aktiv gewesen war, und an seine Mutter. Sie zeigen noch einmal einen Menschen außergewöhnlichen Formats und Geistes. An seine Frau schreibt er: „Mein Tod, er wird hoffentlich angenommen als Sühne aller meiner Sünden und als Sühnopfer für das, was wir alle gemeinschaftlich tragen. Die Gottesferne unserer Zeit möge auch zu einem Quäntchen durch ihn verringert werden. Auch für meinen Teil sterbe ich den Tod fürs Vaterland. Wenn der Anschein auch sehr ruhmlos, ja schmachvoll ist, ich gehe aufrecht und ungebeugt diesen letzten Gang, und ich hoffe, dass Du darin nicht Hochmut und Verblendung siehst, sondern ein bis zum Tode getreu! ,Des Lebens Fackel wollen wir entzünden, ein Flammenmeer umgibt uns, welch ein Feuer‘.“47 Und an die Mutter schreibt er: „Dich darf ich versichern, dass kein ehrgeiziger Gedanke, keine Lust nach Macht mein Handeln bestimmt hat. Es waren lediglich meine vaterländischen Gefühle, die Sorge um mein Deutschland, wie es in den letzten zwei Jahrtausenden gewachsen ist, das Bemühen um seine innere und äußere Entwicklung, die mein Handeln bestimmten. Deshalb stehe ich auch aufrecht vor meinen Vorfahren, dem Vater und den Brüdern. Vielleicht kommt doch einmal die Zeit, wo man eine andere Würdigung für unsere Haltung findet, wo man nicht als Lump, sondern als Mahnender und Patriot gewertet wird. Dass die wunderbare Berufung ein Anlass sein möge, Gott die Ehre zu geben, ist mein heißes Gebet.“48 46
Ebd., S. 227 f. Ebd., S. 291. 48 Ebd., S. 292.
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XI. Nachwort Am 22. November 2002 hat die „Forschungsgemeinschaft 20. Juli“ zusammen mit polnischen Vertretern von Staat und Kirche eine Gedenktafel in polnischer und deutscher Sprache am Schlosseingang von Klein Oels angebracht: „In Memoriam Peter Graf Yorck von Wartenburg Geboren am 13. 11. 1904 in Klein-Öls Hingerichtet am 8. 8. 1944 in Berlin Sein Bekenntnis vor dem Volksgerichtshof: Gegen den Totalitätsanspruch des Staates gegenüber dem Staatsbürger unter Ausschaltung seiner religiösen und sittlichen Verpflichtung Gott gegenüber.“
Wir Heutige haben gute Gründe, Peter Graf Yorck von Wartenburg als Kämpfer gegen den nationalsozialistischen Ungeist und als Vorkämpfer für personale und soziale Menschenrechte zu den Vätern unseres heutigen demokratischen Rechts- und Sozialstaats zu rechnen.
Rund um die Septemberverschwörung von 1938
Eduard Brücklmeier – Netzwerker gegen Hitler Von Sebastian Sigler Viele haben die Notwendigkeit gesehen, Hitler zu beseitigen, doch nur eine Handvoll Menschen hatte Zugang zu seinen Räumen – sei es vor dem Krieg in der Reichskanzlei, sei es ab Kriegsbeginn an den jeweiligen militärisch abgeschirmten Aufenthaltsorten. Eduard Brücklmeier gehörte nicht dazu, doch er war ein umtriebiger Netzwerker im Zentrum des Widerstands gegen Hitler. Eine Biographie über ihn, an der der Verfasser dieser Zeilen arbeitet, wird neue Details dazu enthalten und eine Einordnung in den Gesamtkontext ermöglichen. Eduard Brücklmeier war im Jahr 1938, in dem der erste Staatsstreich gegen Hitler geplant wurde, Mitarbeiter im Ribbentrop’schen Ministerbüro. Diese Untersuchung soll zeigen, daß er mit weiteren Verschwörern gegen den Kopf des NSRegimes, gegen Hitler, immer in Kontakt stand und später zum engeren zivilen Umfeld um die militärisch gesteuerte Verschwörung gehörte, die in das Attentat vom 20. Juli 1944 mündete.1 Brücklmeier tat alles, was in seiner Macht stand, um den Diktator zu beseitigen. Die Zeit ab seiner ersten Verhaftung durch die Gestapo am 6. Oktober 1939 bis zu seiner Verhaftung am 27. Juli 1944 hat er zu großen Teilen diesem Ziel gewidmet. Er ist einer von den Widerstandskämpfern, die vielerorts bislang nur marginal namentlich erwähnt werden und ansonsten in den Fußnoten von Aufsätzen und Abhandlungen Erwähnung finden, und die es verdienen, in neuem Licht und mit größerem Einfühlungsvermögen als bisher untersucht zu werden.2 I. Ein großbürgerliches Leben Eduard Brücklmeier kam am 8. Juni 1903 in München als zweites von sieben Kindern zur Welt. Seine Eltern waren der Rechtsanwalt und Justizrat Bruno 1 Brakelmann, Günther, Die Kreisauer: folgenreiche Begegnungen, Münster 2004, S. 237, formuliert: „Schulenburg, Brücklmeier, Schwerin und Yorck arbeiten engstens mit Stauffenberg zusammen. Diese Männer bilden den engeren zivilen Kreis um den militärischen Kopf.“ 2 Drei Ausnahmen: Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, München 19793, insbes. S. 87, S. 464; Schulte, Jan Erik, Gestapo und nationalkonservative Opposition bei Kriegsbeginn. Der Fall Eduard Brücklmeier, in: Schulte, Jan Erik / Wala, Michael, Widerstand und Auswärtiges Amt. Diplomaten gegen Hitler, München 2013, S. 135 – 149; Sigler, Sebastian, Brücklmeier – Bavarias Mann in der Verschwörung des 20. Juli, in: ders., Freundschaft und Toleranz – 200 Jahre Corps Bavaria zu Landshut und München, München 2006, S. 229 – 246.
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Brücklmeier und Albina, eine Tochter des seinerzeit berühmten Kammersängers Franz Nachbauer. Eduard wird die bayerische Landeshauptstadt, in der er geboren wurde, kaum bewußt erlebt haben. In Leipzig wuchs er in gesellschaftlich bestens gestellten Verhältnissen auf. Er besuchte dort die III. Höhere Bürgerschule und das traditionsreiche Thomas-Gymnasium. Als eher still und träumerisch veranlagter Junge, der gerne Bücher mit historischem Inhalt las und „ausgesprochen empfindsam“ war, sollte er kurz nach seiner Hinrichtung von seiner Witwe Klotilde beschrieben werden. Kaum zwölfjährig wurde Eduard in ein Kadettenkorps in Karlsruhe geschickt; hier und in zwei weiteren derartiger Anstalten – in Naumburg und Berlin-Lichterfelde – wurde er ab 1915 erzogen. Das Abitur legte Eduard zu Ostern 1923 an der Hauptkadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde ab. Er kam zum Sommersemester, am 1. Mai 1923, nach München und wurde zum Wintersemester 1923/24, seinem zweiten Studiensemester, von den Münchner Bayern als Fuchs akzeptiert. Für 1924 ist seine Rezeption vermerkt,3 im Mai 1925 wurde er inaktiv. Am 10. Oktober 1927 wurde Brücklmeier in Würzburg promoviert; sein Thema war „Die geschichtliche Entwicklung der Konsulargerichtsbarkeit und ihr Stand im Anschluß an den Weltkrieg“. Diese Thematik hatte er sich wohl wiederum bewußt ausgewählt, denn er strebte sehr zielgerichtet eine Diplomatenlaufbahn an. Der Vater hatte bis zuletzt versucht, ihn von diesem Berufswunsch abzubringen, und ihm dazu sogar die Finanzierung einer einjährigen Reise rund um die Welt angeboten.4 Am 2. Mai 1928 begann Eduard Brücklmeier seine Laufbahn als Diplomat. Er wurde beim Auswärtigen Amt in Berlin im Dienstrang eines Attaché angestellt, die Einberufung datiert vom 28. April. Am 21. Dezember 1929 wurde Brücklmeier vom Auswärtigen Amt bescheinigt, daß er seine konsularisch-diplomatische Prüfung mit der Note „genügend“ bestanden habe.5 Die erste Station des frischgebackenen Diplomaten war Bagdad, das damals der Gesandtschaft in Teheran zugeordnet war;6 am 26. Juni traf er dort ein.7 Brücklmeiers Zeit in Bagdad endete am 5. Dezember 1930.8 Teheran war sein nächster Einsatzort. Am 9. Dezember 1930 trat er seinen Dienst dort an.9 Es war offenbar seine größte Sorge, wie er seine Pferde, die er zum Polospiel benötigte, dorthin 3 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961 (künftig: KCL), Nr. 104 – 1690, S. 1199. 4 Brücklmeier, Klotilde, kommentierte Lebenslauf 1947, Nachlaß Brücklmeier, London, S. 1. 5 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1896. 6 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1896; Geldakten: Aus den in diesem Aktenordner verwahrten Schriftstücken sind auch alle weiteren finanziellen Transaktionen ersichtlich. Ihr Inhalt entspricht, wenn nicht anders vermerkt, dem Regelfall. 7 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 095. 8 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 104, 105. 9 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 103.
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transportieren könne.10 In Teheran war sein Vorgesetzter Werner Graf v. der Schulenburg, später ebenfalls ein führender Mann des Widerstands gegen Hitler. Am 4. März 1932 wurde Brücklmeier von Teheran nach Colombo auf Ceylon beordert,11 um den dortigen Konsul Wilhelm v. Pochhammer zu vertreten.12 Bald war Brücklmeier – wie schon in Bagdad und Teheran – sehr bekannt: Er spielte mit zunehmender Begeisterung sein geliebtes Polo, fehlte auf kaum einem Empfang und fiel durch sein glänzendes Talent zur Konversation auf. Im Januar 1933 endeten Brücklmeiers südostasiatische Jahre. Kattowitz, die erst wenige Jahre zuvor unter polnische Herrschaft gekommene oberschlesische Stadt, war sein nächster Einsatzort.13 Mit Albrecht v. Kessel, dem Studienfreund, teilte er sich dort eine Wohnung.14 Kessel sprach von einer „Kampfgemeinschaft“ der beiden, und er fährt fort: „Da wir in vielem die gleichen Anlagen und Auffassungen hatten und alle Erlebnisse teilten, so standen Brücklmeier und ich bald unzertrennlich in einer Front.“15 Beide erkannten schon damals den „Krebsschaden“, den Hitler dem Reich zufügte. Kessel schreibt in seinen Memoiren: „Jetzt wurde mir bedeutet, das Wort Recht sei nur ein Synonym für den persönlichen Nutzen und Vorteil Adolf Hitler’s und seiner Spießgesellen, was man propagandistisch geschickt, aber darum nicht weniger eindeutig mit der Formel ,Recht ist, was dem deutschen Volk nützt‘ ausdrückte – oder besser: camouflierte.“16 Kessel schreibt für seine Person vom „Entschluß, die Gewaltherrschaft der Nazis mit allen Mitteln zu bekämpfen. Ich wußte, daß dieser Entschluß lebensgefährlich war, wußte auch, daß meine Möglichkeiten minimal waren. Trotzdem handelte es sich dabei um ein persönliches Anliegen, um etwas, was aus den Tiefen meines Blutes aufstieg, (so) daß ich mich ihm mit einem, wenn man so will, überheblichen Optimismus hingab.“17 Anschließend erwähnt Kessel noch einmal ausdrücklich, daß seine Freunde dieselbe Entwicklung wie er gemacht hätten – von der Skepsis gegenüber Hitler hin zur totalen Ablehnung. Er habe, so Kessel, in dieser Beziehung keine Enttäuschung erlebt. Von Eduard Brücklmeier ist diese Haltung expressis verbis bekannt. Seine Gegnerschaft zu allem, was den Nationalsozialismus ausmachte, war derart entschieden, daß er die Lebensgefahr, in die er jederzeit geraten konnte, in Kauf nahm. Seine Verlobte Klotilde v. Obermayer-Marnach, von der noch die Rede sein wird,
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So berichtet es seine Tochter, Contessa Monika Antonelli, geborene Brücklmeier: Interviews mit ihr am 3., 4. und 5. Dezember 2007 in London. 11 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 123 – 124. 12 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 136. 13 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 162. 14 Brücklmeier, Klotilde, kommentierte Lebenslauf 1947, Nachlaß Brücklmeier, London, S. 2. 15 Kessel, Albrecht v., Verborgene Saat – Aufzeichnungen aus dem Widerstand 1933 – 1945, Berlin / Frankfurt am Main 1992, S. 61. 16 Kessel, Saat, S. 63. 17 Kessel, Saat, S. 68.
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fragte er, ob sie mit ihm die Ehe eingehen wolle in der „fast sicheren Gewißheit, in wenigen Jahren wahrscheinlich Witwe zu sein“.18 Am 15. Februar 1934 stellten Brücklmeier und Kessel parallel ihre Aufnahmeanträge in die NSDAP. Dies geschah wohl nicht ohne Druck von älteren Kollegen im Auswärtigen Amt; viele altgediente Diplomaten waren bereits im Laufe des Jahres 1933 der Ansicht, wenn sie nur zahlreich genug in der Partei einträten, würde dies die Möglichkeiten des Außenamtes, in der NSDAP Einfluß zu nehmen, in gewissem Umfang stärken. Monatelang zögerten Brücklmeier und Kessel,19 doch schließlich siegten taktische Überlegungen über inhaltliche Bedenken. In den Herbst 1935 fiel die Entscheidung, Brücklmeier von Kattowitz nach London zu versetzen.20 Ungefähr zur selben Zeit geriet der vom Commonwealth durchaus geprägte Diplomat erstmals in einen ernsthaften Konflikt mit Parteikreisen der NSDAP. Nationalsozialistische Funktionäre der ortsansässigen deutschen Minderheit bedrängten ihn nun, die für sozial Schwache und Notleidende bereitgestellten Mittel zweckfremd – also im Sinne nationalsozialistischer Agitation – auszuschütten. Doch er weigerte sich rundweg und warf anläßlich eines solchen Treffens sogar eigens aus dem Reich angereiste Parteifunktionäre aus seinem Büro. Prompt beschwerten sich diese am 22. November 1935 bei der NSDAP-Auslandsorganisation in Breslau-Carlowitz.21 Die Folgen für Brücklmeier waren unangenehme Verhöre, doch im Auswärtigen Amt ließ man ihn nicht fallen. London hieß die nächste Station für Brücklmeier. Für ihn war es gut, daß er bald nach der Kattowitzer Denunziation aus Oberschlesien weggehen konnte, erstens wegen der Repressalien und zweitens aufgrund seines guten Drahtes und seiner persönlichen Affinität zu den Engländern. In die Hauptstadt des Britischen Empire wechselte er übrigens nach zweieinhalb Jahren, die er in Kattowitz eingesetzt war, etwa turnusgemäß. Am 18. Dezember traf er dort ein, am 3. Januar 1936 trat er seinen Dienst unter Botschafter Leopold v. Hoesch an.22 Im folgenden Frühjahr lernte Eduard Brücklmeier auf einer Abendgesellschaft in London seine spätere Frau kennen, die Österreicherin Klotilde v. Obermayer-Marnach, eine junge Dame aus bestem Haus. Am 16. Oktober 1936 teilte Brücklmeier bereits seinem Arbeitgeber mit, daß er beabsichtige, sich mit Fräulein Klotilde Maria Violetta Idenka 18 Interviews mit Contessa Antonelli am 7. März 2005 in München und am 3., 4. und 5. Dezember 2007 in London. 19 Schwerin, Detlef Graf v., Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt – Die junge Generation im deutschen Widerstand, München 19942, S. 82. 20 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 201: Am 30. September war ein Nachfolger für Brücklmeiers Position in Kattowitz gefunden; vgl. ebd., Dok. 200: Der Personalstelle im Auswärtigen Amt war es durchaus nicht recht, daß er eine Militärübung ableistete, da dies seinen Dienstantritt in London verzögerte. Vgl. ebd., Dok. 203, in dem als gewünschter Termin für den Dienstantritt der 31. Oktober 1935 genannt wird. 21 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 207. 22 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 217.
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Gabriele Olga v. Obermayer-Marnach zu verloben,23 die entsprechende Genehmigung wurde am 24. November erteilt.24 Im Oktober 1936 traf ein neuer deutscher Botschafter in London ein: Joachim v. Ribbentrop. Der äußerte kurz nach seinem Amtsantritt in einem öffentlichen Interview, daß die Basis einer deutsch-britischen Verständigung in der Notwendigkeit zu einer gemeinsamen anti-bolschewistischen Haltung liege. Doch die Resonanz in England war äußerst negativ, was Ribbentrop sehr verbitterte.25 Später sollte er, der ursprünglich sehr anglophil eingestellt war, sich überaus rachsüchtig gegenüber Großbritannien gebärden – mit desaströsen Folgen. Brücklmeier wurde schnell einer der wichtigsten Mitarbeiter des Botschafters. Der neue Chefdiplomat in der deutschen Vertretung am Eaton Square schätzte – ganz im Gegensatz zu der ihm durch Brücklmeier entgegengebrachten Reserve – seinen Mitarbeiter sehr.26 Zwei beantragte Versetzungen – nach Kairo und Athen – waren bereits genehmigt, wurden jedoch von ihm als Vorgesetztem verhindert. Lediglich Urlaub wurde gewährt, denn die Hochzeit von Eduard „Peter“ Brücklmeier und Klotilde „Amschy“ v. Obermayer-Marnach stand an. Sie fand am 14. März 1937 in Zagreb im Palais Vranyscany statt.27 Laut Parteiausweis der NSDAP wurde Brücklmeier am 1. Dezember 1937 unter der Nummer 4.789.475 in die Partei aufgenommen.28 Seine Witwe schrieb später, er sei nicht als Parteigenosse anzusehen, denn er habe den Verwaltungsakt zur Aufnahme, also die formelle Zustimmung, nie vollzogen, geschweige denn selbst um eine Aufnahme in die Nazi-Partei gebeten.29 Dafür, daß seine Aufnahme in die Partei nicht aus Gründen der Gesinnung geschah, findet sich ein Indiz darin, daß der erste Antrag vom 15. Februar 1934, also über drei Jahre früher, datiert. Joachim v. Ribbentrop wurde am 4. Februar 1938 von Hitler zum Reichsaußenminister ernannt, und das bedeutete eine große Änderung in Brücklmeiers Leben. Schon wenig später beorderte Ribbentrop den von ihm sehr geschätzten Eduard Brücklmeier als Mitarbeiter in die Presseabteilung des Auswärtigen Amtes; der Erlaß ist datiert auf den 23. März 1938.30 Mit Hilfe der Personalabteilung versuchte Brücklmeier nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub, nun doch in London 23
Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 221. Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 223. 25 Schwerin, Köpfe, S. 87. 26 Ende Januar oder Anfang Februar 1937 schrieb Brücklmeier an seine Verlobte: „Bin zur Zeit wieder sehr beschäftigt. R. war besonders freundlich und hat mir sein besonderes Vertrauen ausgedrückt.“ Brief an Amschy v. Obermayer-Marnach, Nachlaß Brücklmeier, London. 27 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 230. 28 Die entsprechende Seite des Parteibuches liegt als Kopie vor. Nachlaß Brücklmeier, London. 29 Dziembowska, Klotilde v., verw. Brücklmeier, Lebenslauf Eduard Brücklmeier, datiert 1946, Nachlaß Brücklmeier, London. 30 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 236. 24
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bleiben zu können, um dem NS-Apparat und vor allem Ribbentrop aus dem Wege gehen zu können. Doch wiederum gab es keine Alternative. Ab 30. Mai 1938 wurde Brücklmeier zunächst kommissarisch für drei Wochen im Ministerbüro in Berlin beschäftigt,31 der Reichaußenminister schrieb am 1. Juni an seine Personalabteilung: „Ich habe Legationssekretär Brücklmeier zu dienstlichen Besprechungen nach Berlin berufen.“ Der Vermerk trägt in grün den übergroßen und überaus großspurig wirkenden Schriftzug „Ribbentrop“.32 Am 11. Juli 1938 mußte Eduard Brücklmeier schließlich befehlsgemäß seinen neuen Posten im Büro des Reichsaußenministers Joachim v. Ribbentrop antreten. Er wurde formal der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes zugeordnet, und zwar dem Referat I, das für Völkerbund, Militär und Rüstungsfragen zuständig war.33 Einer der Vermerke, die Brücklmeiers Dienstantritt belegen, trägt die Unterschrift des Konsuls und Widerstandskämpfers Hasso v. Etzdorf.34 Ribbentrop hatte ab seinem Amtsantritt als Außenminister begonnen, das Auswärtige Amt, das vor allem durch das Wirken des Staatssekretärs Bernhard Wilhelm v. Bülow vergleichsweise lange der völligen Gleichschaltung durch die NSDAP widerstanden hatte, deutlicher auf einen totalen Hitler-Kurs zu trimmen.35 Damit hatte er einigen Erfolg. Auch Brücklmeier wurde von dieser Entwicklung direkt betroffen, denn ungefragt schlug ihn Ribbentrop für die SS-Mitgliedschaft ehrenhalber vor – wohl, um sich gegenüber Himmler, mit dem er im System des NSRegimes konkurrierte, dadurch zu profilieren, daß er sich mit möglichst vielen SSLeuten umgab. Rückwirkend zum 31. Dezember 1937 wurde Brücklmeier in die SS aufgenommen. Er erhielt die Nummer 310.351 und wurde mit dem Rang eines Obersturmführers „bei gleichzeitiger Ernennung zum SS-Führer beim Stab des SSHauptamtes“ versehen36 – gegen seinen ausdrücklichen Willen und ohne sein Zutun.37 Er ging, als ihm die Urkunde ausgehändigt worden war, umgehend zu einem SS-Obergruppenführer namens Lorenz, der ihm für diese heikle Frage empfohlen worden war, und bat ihn um Hilfe für seinen umgehenden Wiederaus31
Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 241, vgl. ebd.: Dok. 243. Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 242. 33 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 246. 34 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1893, Dok. 247. 35 Zu diesem Thema ist eine vielversprechende Promotionsschrift von Annette SchmidtKlügmann, Marburg, in Arbeit; vgl. auch: Graml, Hermann, Europa zwischen den Kriegen, München 1969; ders., Europas Weg in den Krieg. Hitler und die Mächte 1939, München 1990; ders., Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher, München 2001; ders., Hitler und England. Ein Essay zur nationalsozialistischen Außenpolitik 1920 bis 1940, München 2009; ders., Bernhard von Bülow und die deutsche Außenpolitik. Hybris und Augenmaß im Auswärtigen Amt, München 2012, passim; KCL. Nr. 45 – 655. 36 Ernennungsurkunde zum SS-Obersturmführer, Bundesarchiv Berlin, Außenstelle Berlin Document Center, SS-Offiziersakte, als Kopie: Nachlaß Brücklmeier, London. 37 So äußerte sich die Witwe mündlich in ihren persönlichen Erinnerungen; Interview mit Contessa Antonelli, 3. / 5. Dezember 2007, London. 32
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tritt. Doch Lorenz antwortete auf sein Austrittsgesuch nur: „Dies werde ich nicht tun, denn ich bin froh, so anständige Leute wie Sie in der SS zu haben.“38 Für Brücklmeier sollte die Versetzung in die Reichshauptstadt eine schicksalhafte Berufung sein, denn er wurde, kaum in Berlin eingetroffen, in die Staatsstreichpläne eingebunden, die unter maßgeblicher Mitwirkung von Hans Oster, Wilhelm Canaris und Erwin v. Witzleben geschmiedet wurden – in die „Septemberverschwörung“. Von großer Bedeutung ist hier die Schnelligkeit, mit der Brücklmeier, kaum aus London eingetroffen, unmittelbar in den engen Kreis der Verschwörer eingebunden wurde. Es ist davon auszugehen, daß über seine Haltung schon zuvor im Freundeskreis Klarheit bestand. Daß dies ganz ohne das Wissen des Staatssekretärs Ernst v. Weizsäcker geschehen sein könnte, ist unwahrscheinlich.39 Ob es aber Weizsäcker persönlich war, der eine Zahl von Verschwörern in einem ansonsten mehr und mehr gleichgeschalteten Auswärtigen Amt aktiv sowohl vor Entdeckung schützte als auch geschickt plazierte, muß dahingestellt sein. Gewichtige Publikationen verneinen dies.40 Doch Peter Hoffmann, der bedeutende Widerstandsforscher im kanadischen Montreal, bescheinigt: „Ebenso wie in der Abwehr gab es im Auswärtigen Amt eine Gruppe junger und älterer Mitarbeiter, die konspirativ tätig waren und von ihren Vorgesetzten, in jenem Falle Canaris, in diesem Weizsäcker, geduldet und weitgehend gefördert wurden. (…) wie auch Weizsäcker selbst in entsprechenden Beziehungen zu Beck, nach dessen Rücktritt zu Halder, und zu Canaris stand.“41 Der Gruppe im Auswärtigen Amt gehörten Albrecht v. Kessel und Hans Bernd v. Haeften ebenso an wie Hasso v. Etzdorf, mit dem Brücklmeier dienstlichen Kontakt hatte,42 und die Brüder Theo und Erich Kordt; auch Gottfried v. Nostitz, den Brücklmeier und die anderen Freunde mit dem Spitznamen „Gogo“ riefen, wird zu dieser Gruppe zu zählen sein. Im September kam schließlich noch als Verstärkung Botho v. Wussow hinzu, für den Brücklmeier eine Stelle in der eben gegründeten Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes gefunden hatte, worüber sowohl er selbst als auch Wussow „selig waren“.43 Zu nennen sind in diesem Zu38
Schwerin, Köpfe, S. 90. Klemperer, Klemens v., Die verlassenen Verschwörer, Berlin 1994, S. 33. 40 Blasius, Rainer, Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Staatssekretär Ernst Frhr. von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen 1938/39, Köln 1981 (Diss.), passim, verneint eine aktive Mitwirkung Weizsäckers im Widerstand und zieht eine indirekte Unterstützung in Zweifel; Müller, Klaus-Jürgen, Zu Struktur und Eigenart der nationalkonservativen Opposition bis 1938. Innenpolitischer Machtkampf, Kriegsverhinderungspolitik und Eventual-Staatsstreich-Planung, in: Schmädecke, Jürgen / Steinbach, Peter (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 19862, S. 330. 41 Hoffmann, Widerstand, S. 87. 42 Auswärtiges Amt, P.A., Personalakte 1893, Dok. 247, Dok. 248; Zeller, Eberhard, Geist der Freiheit – der zwanzigste Juli, München19655, S. 83 f. 43 Brief am 16. September 1939 aus Berlin an seine Frau, Nachlaß Brücklmeier, London. 39
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sammenhang sicher auch Otto Kiep und Albrecht v. Bernstorff. Erst später, 1939, sollte Adam v. Trott zu Solz hinzukommen. Als Koordinator dieser „Aktivisten“44 im Auswärtigen Amt ist am ehesten Erich Kordt zu nennen.45 Die „Septemberverschwörer“ versuchten vorsichtig, aber bei jeder Gelegenheit, Mitstreiter zu gewinnen. Sie orientierten sich dabei an den schon bestehenden Netzwerken. So notiert etwa Claus v. Heydebreck in seinen Lebenserinnerungen, daß er von Fritz-Dietlof v. Schulenburg angesprochen worden sei mit der Frage, ob sich Adam v. Trott zu Solz schon bei ihm gemeldet habe – es sollte dabei um die Frage gehen, ob Heydebreck bereit sein würde, in den Kreis derjenigen einzutreten, die sich für einen Umsturz gegen Hitler und eine aktive Mitarbeit an einem Aufbau Deutschlands nach Hitler engagieren wollten.46 Das Interessante daran: Die drei handelnden Personen waren allesamt Göttinger Sachsen, also Mitglieder des Corps Saxonia Göttingen. Und dieser Fall der „Akquise“ von Mitverschwörern unter Corpsbrüdern, Ritterbrüdern oder Logenbrüdern war kein Einzelfall. Brücklmeier war über herkunftsmäßig-familiäre Bindungen, wohl befördert durch seine Distinktion als Corpsstudent, Mitglied eines Netzes von Menschen, die ein Attentat gegen Hitler planten, und die, um es genauer zu fassen, dazu erstens willens und zweitens in der Lage waren. Dieses Netzwerk sollte bis 1944 Bestand haben, und Brücklmeier war nicht nur ein Mitwisser, wie das Fehlen schriftlicher Äußerungen nahelegen könnte, sondern eine wichtige, zentrale Figur darin.47 Joachim Fest spricht für 1938 von zwei Schwerpunkten des Widerstandes, die sich „jenseits der vielen zwischen allen Gruppen sich bewegenden Einzelgängern“ im Widerstand bildeten: der eine im Auswärtigen Amt, der andere in der Armee.48 Der Schwerpunkt im Auswärtigen Amt hatte sich, so schreibt es Joachim Fest, „um Adam v. Trott zu Solz, Otto Kiep, Eduard Brücklmeier, Hans Bernd v. Haeften und die Gebrüder Kordt“49 gebildet. Diese Gruppe wurde geschützt und gefördert von Staatssekretär Ernst v. Weizsäcker, der seinerseits aber augenscheinlich, wie Klemens v. Klemperer klug bemerkt, „gesellschaftliche Verweigerung“ betrieb.50 Unbestritten dürfte sein, daß sein Stillschweigen über die „Septemberverschwörung“ ein wichtiger Grund dafür war, daß die radikale und zur physischen Ausschaltung Hitlers entschlossene Gruppe im Auswärtigen Amt ihre Fäden so spinnen konnte, wie sie es tat. Daß diese Gruppe der „Aktivisten“ als Teil des Netzwerks aus Mili44 Bereits 1946 übernahm Huch, Ricarda, diesen Begriff und nennt Kessel als Urheber; siehe dazu: dies., „In einem Gedenkbuch zu sammeln“, Leipzig 1997, S. 201. 45 Wheeler-Bennett, John W., Die Nemesis der Macht, Düsseldorf 1954, S. 440 f., nennt sowohl die Widerstandszelle und ihre Mitglieder als auch die Gebrüder Kordt als deren treibende Kraft. 46 Heydebreck, Claus v., Lebenserinnerungen unseres Vaters bis 1945, nach dem Tode des Verfassers hrsg. von seinen Kindern, Privatdruck, 1986. 47 Kessel, Saat, S. 247. 48 Fest, Joachim, Staatsstreich, München 1996, S. 72. 49 Ebd. 50 Klemperer, Verschwörer, S. 101.
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tärs und Zivilisten in ihrer Zeit bedeutend war, wird aus den 1950 niedergeschriebenen Erinnerungen Erich Kordts deutlich: „Es gab daher auch 1938 keine andere Gruppe als unsere, die Aussicht haben konnte, Hitler zu stürzen.“51 Im September 1938 überschlugen sich die Ereignisse. Der Einmarsch deutscher Truppen in das mehrheitlich deutschsprachig besiedelte Sudetenland löste eine Krise aus. Hitler, der einen Krieg bewußt in Kauf nahm, steuerte augenscheinlich einem großen außenpolitischen Erfolg entgegen. Doch das Reich war näher an einem Umsturz, als es die nationalsozialistische Propaganda, deren beschwörerische Wirkung durch erhaltene Bild- und Tondokumente auch heute noch auf düstere Weise nachvollziehbar ist, Glauben macht. Große Teile der Bevölkerung sahen einem möglichen Krieg mit Ablehnung und Furcht entgegen,52 für die Widerstandskämpfer war die Lage vergleichsweise günstig. Dennoch war große Eile geboten, denn die Sudetenfrage stand offenkundig auf der Tagesordnung der NSFührung ganz obenan. Die Spannung für diejenigen, die das Attentat auf Hitler planten, war offenkundig groß. Brücklmeier versuchte in einem Brief vom 10. September 1938 seine Frau zu beruhigen: „Hier hat sich inzwischen das Wetter gebessert. Es ist wieder warm u. die Sonne scheint. Heute nachmittag will ich wenigstens eine Stunde spazieren gehen, um etwas frische Luft zu schnappen.“53 Daß er mit dem „Wetter“ nicht das spätsommerliche Berliner Klima meinte, ist evident, denn zwischen seinen verklausulierten Zeilen ist ablesbar, daß die Attentatspläne weiter verfolgt wurden: „Immer, wenn alles unabwendbar ist, finde ich in einer Krise meine Nerven u. völlige Ruhe wieder. Ich fühle mich besser als die ganzen verflossenen Monate. Du kannst also meinetwegen völlig beruhigt sein.“54 Was Brücklmeier hier meint, ist klar: Eine Nachricht, die Kordt an seinen Bruder Theo nach London gesandt hatte, und zwar über die Kordt-Cousine Susanne Simonis – diese Nachricht war am 9. September angekommen,55 und die Opposition gegen Hitler dachte in diesen Tagen kollektiv mit großer Hoffnung in die Themse-Metropole. Die Erwartung, britische Regierungsstellen würden positiv auf die Aktivitäten des deutschen Widerstands reagieren, waren damals noch nicht zerstoben.56 Gleich am nächsten Tag, einem Sonntag, schrieb Brücklmeier schon den nächsten Brief an seine Frau, wieder einmal aus dem Büro. Die Stimmung der potentiellen Attentäter beschreibt
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Kordt, Erich, Nicht aus den Akten, Stuttgart 1950, S. 252. Klemperer, Verschwörer, S. 104 f.; Witzleben, Georg v., „Wenn es gegen den Satan Hitler geht…“ Erwin v. Witzleben im Widerstand, Hamburg 2013, S. 121; vgl. auch Erinnerungen Erica v. Hagen, abgedruckt in diesem Band. 53 Brief am 10. September 1938 aus Berlin an seine Frau (wohl nach Grundlsee), Nachlaß Brücklmeier, London. 54 Ebd. 55 Kordt, Akten, S. 252 – 254; Hoffmann, Widerstand, S. 90. 56 Vgl. Klemperer, Verschwörer, S. 103 – 110. 52
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erstaunlich klar der Satz: „Man muß warten, warten u. warten u. dabei die Ruhe bewahren.“57 In der Sudetenkrise zeichnete sich ein Entgegenkommen des britischen Premiers Chamberlain ab. Das minderte die Möglichkeiten der Verschwörer, Unschlüssige zu motivieren. Erschwert wurden die Attentatspläne zudem durch die häufigen Ortswechsel, die Hitler vornahm. Der „Hofstaat“ des Führers befand sich bereits ab dem 16. September wieder in der Gegend rund um den Berghof auf dem Obersalzberg, denn Chamberlain machte Hitler dort seine Aufwartung. Außenminister v. Ribbentrop belegte immer dann, wenn Hitler sich im Berchtesgadener Land aufhielt, Schloß Fuschl im Salzburger Land mit Beschlag und quartierte seine Mitarbeiter in Gasthöfen und Hotels ringsum ein. Brücklmeier war ausweislich eines Briefes vom 19. September mitgereist,58 ein Bild, das ihn beim Wasserskifahren mit Bettina v. Ribbentrop, der Tochter des Reichsaußenministers, auf dem Fuschlsee zeigt, ist erhalten. Bereits am 20. September reisten alle, auch Ribbentrop und sein Stab, im Troß des Führers nach Bad Godesberg bei Bonn,59 Chamberlain reiste ebenfalls an. Doch die Verhandlungen stockten. Hitler residierte im Godesberger Rheinhotel Dreesen und „Chamberlain saß schmollend am anderen Rheinufer, die beiden europäischen Unglückskinder konnten nicht zueinander finden“, wie Hans Bernd Gisevius formuliert.60 Am 28. September 1938 morgens schien dann, wiederum in Berlin, die Stunde für ein Attentat gekommen. Hitler hatte Sir Horace Wilson erklärt, er werde an jenem Tag losschlagen.61 Zudem hatte er einen beleidigenden und absolut unversöhnlichen Brief an Chamberlain geschrieben, die zum Widerstand Entschlossenen waren im Besitz einer Kopie. Alle Vorschläge der Westmächte für einen Kompromiß bezüglich der Tschechoslowakei wurden von Hitler abgelehnt, die in München geplante Konferenz zur Lösung der Sudeten-Frage schien zu kippen. Witzleben forderte, nachdem er den Brief gelesen hatte, Halder zur Revolte auf.62 Alle Verschwörer waren in höchster Anspannung. Das Attentat lag in der Luft, sogar der zögerliche, aber sehr um den Frieden bemühte Generalfeldmarschall Walther v. Brauchitsch schien nun als Mitverschwörer zu gewinnen zu sein, denn er war 57
Brief vom 11. September 1938 an seine Frau, Nachlaß Brücklmeier, London. In einem Brief vom Montag, den 19. September 1938, an seine Frau, Nachlaß Brücklmeier, London, schreibt Brücklmeier: „Immerhin hatte ich ein sehr schönes Apartment (sic) nach dem Süden mit einem großen Balkon, wo ich in der Sonne sitzend arbeiten konnte. Aber natürlich hatte ich nicht sehr viel Zeit, am Schreibtisch zu sitzen, sondern die meiste Zeit verging in Gesprächen usw. Ich habe unbeschreiblich viel u. Interessantes erlebt u. frage mich oft, wieso ich dazu kam.“ 59 Ebd. 60 Gisevius, Hans Bernd, Bis zum bitteren Ende, Zürich 1946, München / Zürich 19823, S. 249. 61 Kordt, Akten, S. 265. 62 Witzleben, „Wenn es gegen den Satan Hitler geht…“, S. 122; Wheeler-Bennett, Nemesis, S. 444. 58
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speziell in dieser Sache aufs Äußerste über das Vorgehen des Führers empört. Tatsächlich war – und dies war der äußere Anlaß für die „Septemberverschwörung“ und das geplante Attentat – stündlich mit einem Kriegsausbruch wegen der Sudentenfrage zu rechnen. Brücklmeier hatte Besuch von seiner Schwester Traudl bekommen – ob sie zur Unterstützung für den Fall einer Verhaftung angereist war, bleibt ungeklärt.63 Der Wille zur Beseitigung Hitlers war an diesem 28. September groß. Allerdings wiesen die Planungen erhebliche Eventualitäten auf, was möglicherweise später ursächlich für ihr Scheitern sein sollte. Erich Kordt hatte sich bereit erklärt, in die Staatskanzlei zu gehen – als Büroleiter Weizsäckers hatte er Zugang – und die Türen für ein militärisches Kommando, das Witzleben anführen wollte, von innen zu öffnen. Hitler sollte im Handstreich und mit Waffengewalt zum Rücktritt gezwungen und dann an einen militärisch gesicherten Ort gebracht werden. Eine befristete Militärdiktatur oder sogar die Rückkehr des Hauses Hohenzollern schienen als Mittel geeignet, um die innere Lage, die höchst unsicher werden würde, unter Kontrolle zu halten.64 Witzleben rechnete fest mit einem Eingreifen der SS, falls ein Staatsstreich versucht würde.65 Abwehrgeneral Hans Oster und Oberst Friedrich Wilhelm Heinz, der eigentlich aus dem nationalsozialistischen Lager kam, planten eigenmächtig ein Pistolenattentat auf Hitler im Rahmen der Witzleben-Aktion.66 Das mit allerlei Alternativen geplante Attentat mußte indes verschoben werden. Unruhig saß Witzleben an diesem 28. September in seinem Büro und wartete verbissen auf den Anruf, mit dem der Aufstand ausgelöst werden sollte,67 denn er war davon überzeugt, daß gehandelt werden müsse, und hatte das auch Halder und Brauchitsch mitgeteilt, und Halder schien zunächst auch zu reagieren, bewegte sich dann aber doch nicht.68 Dann begab sich Brauchitsch zur Reichskanzlei, aber wieder geschah nichts.69 Stunde um Stunde wurde die Aktion verlegt, schließlich bis in die frühen Morgenstunden des Folgetages hinein. Kessel berichtet, er habe, aus Weimar kommend, Brücklmeier an Folgetag um neun Uhr morgens „nach schlafloser Nacht gereizt und verzweifelt an seinem Schreibtisch“70 im Auswärtigen Amt 63
Brief am 3. Oktober 1938 aus Berlin an seine Frau, Nachlaß Brücklmeier, London. Meinl, Susanne, Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000, S. 291 f.; Zarusky, Jürgen, Die deutsche Opposition gegen den Nationalsozialismus, in: Zarusky, Jürgen / Zückert, Martin, Das Münchner Abkommen von 1938 in europäischer Perspektive, München 2013, S. 237 f. 65 Witzleben, „Wenn es gegen den Satan Hitler geht…“, S. 121. 66 Ebd., S. 118. 67 Schlabrendorff, Fabian v., Offiziere gegen Hitler, Berlin 1984, S. 168; vgl. Witzleben, „Wenn es gegen den Satan Hitler geht…“, S. 122. 68 Gisevius, Bis zum bitteren Ende, S. 251. 69 Gisevius, Bis zum bitteren Ende, S. 252, überliefert Witzlebens Ausruf an ihn: „Doktor, gleich ist es soweit!“, als Brauchitsch sich tatsächlich zur Reichskanzlei aufgemacht hatte und alles auf einen Beginn des Staatsstreichs hindeutete. 70 Kessel, Saat, S. 122. 64
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vorgefunden. Die Parallele zu Witzleben, der ebenfalls die Nacht in seinem Büro verbracht hatte, ist unübersehbar. Eben waren über Oster die neuesten Vorschläge Chamberlains bekanntgeworden, aus denen das Einknicken der Alliierten überdeutlich wurde.71 Generäle und Diplomaten waren gleichermaßen angespannt. Im Laufe des 29. September 1938 vereitelte schließlich das überraschende Zustandekommen der Münchner Konferenz die Pläne des Widerstands für ein Attentat auf Hitler endgültig. Daladier und Chamberlain hatten ihr Kommen zugesagt, und „wie ein elektrischer Schlag“ desillusionierten sie die Verschwörer. Brücklmeier überbrachte die Nachricht an Weizsäckers Büroleiter Kordt.72 Niemand dachte mehr an ein Losschlagen.73 Dabei wirkte die Information, die Briten hätten um das Gespräch gebeten, besonders demotivierend für den Widerstand.74 Chamberlain war Hitler entgegengekommen, der Einmarsch ins Sudetenland blieb ohne innenpolitische Folgen.75 Die zivile Gruppe, die sich im Auswärtigen Amt gebildet hatte, war ebenso in diese „Septemberverschwörung“ eingebunden wie das Militär im Amt Abwehr und in der Heeresleitung. Bereits 1940 wäre das so nicht mehr möglich gewesen, und 1944 sollte sich dieses Bild unter dem Eindruck des „totalen Krieges“ komplett in Richtung des Militärs gedreht haben.76 Das Münchner Abkommen war in der Nacht zum 30. September 1938 unter Dach und Fach. Hitler und Ribbentrop reisten eilig nach München, mit dem Außenminister reiste dessen Bürochef, Erich Kordt. Brücklmeier, der Kordt im Ministerbüro zuarbeitete, hielt die Stellung in Berlin, sollte dann aber nach Ende der Konferenz nach München nachkommen.77 Die Spannung, unter der die potentiellen Attentäter gestanden hatten, ließ spürbar nach. Brücklmeier hatte schon am 29. September an seine Frau geschrieben: „Liebes, gestern gab es keinen Brief. Ich hatte einfach zu viel zu tun u. die Hitze war zu groß. Du kannst es Dir wohl denken.“ Nachdem um die Wende vom September zum Oktober 1938 nicht von meteorologisch verursachter Hitze gesprochen werden kann, ist klar, daß Brücklmeier hier einen verklausulierten Bericht von seiner direkten Beteiligung an den 71
Gisevius, Bis zum bitteren Ende, S. 251. Kordt, Akten, S. 271. 73 Rothfels, Hans, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Zürich 1994, S. 129 f.; Kessel, Saat, S. 123 f.; Schlie, Ulrich (zugl. Hrsg.), Albrecht v. Kessel, in: Kessel, Albrecht v., Gegen Hitler und für ein anderes Deutschland. Als Diplomat in Krieg und Nachkrieg, Wien / Köln / Weimar 2008, S. 15; Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler, S. 297. 74 Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, S. 168. 75 Zur Wertung der „Septemberverschwörung“: Zarusky, Der deutsche Widerstand, S. 242. 76 Ger van Roon spricht für die Verschwörung von 1938 von einer „Goerdeler-Gruppe“, doch damit faßt er den Kreis der Akteure nicht wirklich, denn einerseits erwähnt er nicht alle, andererseits ist die Rückführung auf Goerdeler für diesen Zeitpunkt nicht ausreichend. Vgl.: Roon, Ger van, Widerstand im Dritten Reich, München 19987, S. 123 – 140. 77 Brief am 29. September 1938 aus Berlin an seine Frau (wohl nach Grundlsee, Österreich), Nachlaß Brücklmeier, London. 72
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Anschlagsversuchen gibt – und daß seine Frau informiert war. Brücklmeier setzt fort: „Es war der erste Tag, an dem man mit einiger Berechtigung ruhig schlafen gehen konnte.“78 Dieses direkte Zeugnis legt nahe, daß die Attentatspläne der Septemberverschwörer nicht aufgegeben waren, wie es Wheeler-Bennett ausgeführt, sondern daß der Funke der Hoffnung zumindest bei einigen Nicht-Militärs noch vorhanden gewesen war. Brücklmeier gehörte zu denen, die sich nicht beirren ließen. Er hielt trotz des Münchner Abkommens ein Attentat auf Hitler für unumgänglich.79 Zu seiner Haltung trug bei, was er von Hitler selbst hörte. Zufällig war er Ohrenzeuge folgender Bemerkung des Diktators: „Das Volk muß, ob es will oder nicht, zu seiner Bestimmung gezwungen werden. Erst wenn das deutsche Volk bis an die Knie in Blut watet, wird es erkennen, was seine wirkliche Bestimmung ist.“80 Die „Aktivisten“, zu denen Brücklmeier auch nach der Septemberverschwörung gehörte, plazierten weiter unermüdlich Warnungen vor einem Krieg, der – so war ihnen klar – nicht zu gewinnen sein würde. Wichtigstes Ziel war die Reichskanzlei. Brücklmeier war unaufhörlich tätig. Er agierte unauffällig und so geschickt, daß man in der Reichskanzlei zwar von Defaitismus im Ribbentrop-Umfeld zu reden begann, zunächst aber keine Namen zu nennen wußte, wie intensiv man auch forschte. In der besonders sensiblen Atmosphäre nach dem Bekanntwerden des versuchten Pistolenattentats des französischen Studenten Maurice Bavaud in München vom 9. November 1938 geriet aber Brücklmeier dann doch in Verdacht. Es sei, so Kordt, aufgefallen, „daß unsere dort postierten Vertrauensleute, vor allem Albrecht v. Kessel und Eduard Brücklmeier, alles daransetzten, um die Friedenspartei zu stärken, indem sie Nachrichten aus London und Paris über eine wahrscheinliche Intervention der Westmächte bei einem deutschen Angriff auf Polen verbreitet hatten.“81 Walter Hewel informierte Erich Kordt darüber, daß man in der Reichskanzlei über „eine Gruppe von Defaitisten im Auswärtigen Amt“ zu sprechen beginne.82 Und obwohl Kessel und Brücklmeier mit ihren indirekt gespielten, aber nachdrücklichen Warnungen im Ausland Nachdenklichkeit ausgelöst hatten,83 obwohl sie alles versuchten, um in Berlin eine ablehnende Haltung einem Krieg gegenüber zu verstärken, blieben faßbare Ergebnisse völlig aus. Weder hatte das Auswirkungen auf die Linie, die die NS-Führung fuhr, noch führte es zu negativen Konsequenzen für die Verdächtigen. Vorläufig blieben die Widerständler unbehelligt, und das blieb auch bis ins Jahr 1939 hinein so. Naturgemäß war im Auswärtigen Amt im Frühjahr und Sommer 1939 die Spannung mit Händen zu greifen. Brücklmeier arbeitete als Mitarbeiter Kordts im 78
Ebd. Interview in London mit Contessa Antonelli am 3. / 5. Dezember 2007. 80 Wussow, Botho v., Erinnerungen 1935 – 39, Lissabon 1945, S. 79. 81 Kordt, Akten, S. 341 f. 82 Kordt, Akten, S. 342. 83 Beispielhaft: Klemperer, Verschwörer, S. 119 f.
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Vorzimmer Ribbentrops, Kessel saß in vergleichbarer Position bei Weizsäcker, alle arbeiteten auf eine Verhinderung des Krieges hin. In die Stimmung der Bedrohung durch Krieg und NS-Staat hinein wurde dem Ehepaar Brücklmeier am 5. Juli 1939 eine Tochter geboren. Die Eltern gaben ihr die Vornamen Monika, Maria, Amschy, Idenka, Albina, Edeline, Daisy, Vera und Pia84 – sehr wohl wissend, daß nach NSLesart nur ein Vorname pro Kind erwünscht war. Dies war ein klarer Protest im Kleinen gegen den Zeitgeist. Sehr bald nach der Geburt wurde das Kind von Berlin ins österreichische Grundlsee gebracht, wo die Familie ein sehr idyllisches Bauernhaus mit der Adresse „Am Archkogel Nr. 14“ angemietet hatte und erwerben wollte – was schließlich auch gelang.85 Auch für Brücklmeier selbst gab es gute Gründe, um seine Sicherheit zu fürchten, und mit jeder Woche wurden sie drängender. Er mußte mit sofortiger Verhaftung und unabsehbaren Folgen rechnen, falls seine aktive und augenscheinlich nicht unbedeutende Rolle im Widerstand gegen Hitler der Gestapo bekannt geworden wäre. Entsprechend groß war seine Sorge um die Familie, zumal wahrscheinlich ist, daß seine Tochter in ihren ersten Lebenswochen kränkelte. In einem Brief vom 10. August 1939 schrieb er, er sei „sehr beunruhigt, weil ich (…) nicht weiß, ob Monika nun definitiv auf den Beinen ist. (…) Es ist diese Unsicherheit ein verdammtes Gefühl. Liebes, schreibe mir etwas mehr. Telephonieren können wir ja nicht mehr, und ohne Nachricht ist man ja immer unruhig.“86 Wahrscheinlich war das Telephonieren von Fuschl aus nur schwer möglich, in jedem Fall schwingt im diesbezüglichen Satz aber mit, daß auch aus Sicherheitsgründen der Fernsprecher tabu war. Brücklmeier hatte, wie bereits erwähnt, über seine Londoner Kontakte – vor allem ist hier Hans Herwarth v. Bittenfeld, der in Moskau arbeitete, zu nennen – bereits 1938 und wieder im August 1939 Warnungen vor einem durch Hitler geplanten Krieg gegen Polen lanciert und dazu bemerkt, die Westmächte, allen voran London, müßten unmißverständlich klarmachen, daß sie Hitlerdeutschland den Krieg erklären würden, wenn 1938 eine Besetzung des Sudetenlandes und 1939 nach dem Überfall auf Polen ein Angriff auf die Westmächte stattfinde. Nur dann könne ein Krieg eingedämmt oder beendet werden, überdies entstehe eine Lage, in der es möglich sei, einen Putsch zu wagen. Man war sich darin einig, daß es zwar einen siegreichen Feldzug gegen Polen geben könne; Brücklmeier war sogar der Meinung, daß Polen „militärisch kein Problem darstelle“,87 insgesamt sei die außenpolitische Lage für Hitler zudem günstig. Das werde sich jedoch bei einer Ausweitung des Krieges dramatisch ändern, da sich im Westen nach erfolgter Kriegserklärung sofort eine machtvolle 84
Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894, diese ist unpaginiert. Brief am 7. September 1939 aus Berlin an seine Frau, Nachlaß Brücklmeier, London. 86 Brief am 10. August 1939 aus Berlin an seine Frau, Nachlaß Brücklmeier, London. 87 Gestapo-Protokoll vom 8. September 1939, Nachlaß Brücklmeier, London; vgl. Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894. 85
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Koalition aus Frankreich, Großbritannien und den USA bilden werde, die ein erfolgreiches Vorgehen deutscher Truppen an einer neu eröffneten Westfront von vornherein unmöglich machen und überdies das NS-Regime wahrscheinlich zum Zusammenbrechen bringen werde.88 Ein Friede könne nur zwischen Völkern geschlossen werden, nicht aber zwischen Hitler und den von ihm bekämpften Staaten. So sei klar, daß Hitler das Hindernis auf einem Weg zum Frieden sei und beseitigt werden müsse. Am 8. September wurde Brücklmeier durch seinen Hausarzt Dr. Karnitschnig und einen weiteren Freund, Rittmeister Kurt v. Schneller, aufgrund zweier Gespräche denunziert. Karnitschnig war Österreicher; er behandelte Brücklmeier spätestens seit Januar 193989 und wurde vielleicht wegen seiner Nationalität von Frau Brücklmeier auch bei kleineren Komplikationen mit ihrer Schwangerschaft zu Rate gezogen.90 Auch v. Schneller war aus Österreich, mit ihm, einem Versicherungsmakler, war Brücklmeier über seine Frau in Kontakt gekommen. Zu den beiden Denunzianten stand das Ehepaar Brücklmeier in freundschaftlichem Verhältnis, so zumindest bekundeten es die beiden später gegenüber dem Chef der Sicherheitspolizei und dem SD, Reinhard Heydrich.91 Karnitschnig war indes, wie Kessel schreibt, „einer jener verkappten österreichischen Nazis, die für ihre Tücke und Verlogenheit bekannt waren“.92 Dies wird bestätigt durch das Protokoll, das am 8. September von der Gestapo angefertigt wurde und in dem beide ihre Denunziation Brücklmeiers schriftlich fixierten. Karnitschnig wird hier als SS-Hauptsturmführer tituliert: Kessel hatte Recht, der Denunziant führte diesen Titel offenbar im Verborgenen.93 Das erste Gespräch, auf dem die Denunziation Brücklmeiers beruhte, muß um die Jahresmitte 1939, vielleicht Mitte Juni, mit Kurt v. Schneller stattgefunden haben. Brücklmeier hatte ihn möglicherweise im Zusammenhang mit einem möglichen Verkauf zweier Häuser am Altstädter Ring in Prag, die den Brücklmeiers gemeinsam zu zweit Fünfteln gehörten, um Rat gefragt. Bei dieser Gelegenheit hatte Brücklmeier geäußert, daß die Brennstoffvorräte des Reiches in acht Tagen erschöpft wären, wenn keine Lieferungen von außen mehr möglich seien. Weiter sagte er, daß dem Führer zuzutrauen sei, daß er Dinge tue, mit denen kein Mensch vorher gerechnet habe.94 Brücklmeier, im Büro v. Weizsäcker im Juni 1939 noch in die diskreten diplomatischen Bemühungen zur Verhinderung eines Krieges eingebunden, äußerte sich insgesamt äußerst pessimistisch zu den Aussichten eines Krieges, der an mehreren Fronten ausgefochten würde. Ob sich v. Schneller unter 88
Vgl. Schwerin, Köpfe, S. 194. Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894. 90 Interview mit Monika Antonelli, geb. Brücklmeier, am 3. und 4. Dezember 2007. 91 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894. 92 Kessel, Saat, S. 186. 93 Gestapo-Protokoll vom 8. September 1939, Nachlaß Brücklmeier, London. 94 Gestapo-Protokoll vom 8. September 1939, Nachlaß Brücklmeier, London. 89
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dem Vorwand, ihm wegen der Häuser in Prag helfen zu können, in Brücklmeiers Vertrauen geschlichen hat oder ob er wirklich in dieser speziellen Immobilienfrage sachkundig war, muß dahinstehen. Als wahrscheinlich kann gelten, daß das NSRegime versuchte, den bereits 1935 in Kattowitz stark in Mißkredit und durch einen Wortwechsel mit Ribbentrop im August 1938 erneut in Verdacht geratenen Brücklmeier auszuhorchen. Brücklmeier hatte zur großen Empörung Ribbentrops wohl in Hitlers Gegenwart verlauten lassen, Mussolini werde dem Reich im Konfliktfall nicht beistehen – und damit Recht behalten. Das zweite Gespräch muß kurz vor dem Tag der ersten Denunziation stattgefunden haben, wohl in den ersten Septembertagen. Am 7. September 1939 befand sich Brücklmeier jedenfalls in Berlin und schrieb an seine Frau, hatte also nicht vor, tags darauf wieder zuhause zu sein.95 An diesem zweiten Gespräch war das Ehepaar Karnitschnig ursächlich beteiligt. Ob es nun aus Freundschaft war oder ob es ein eben doch nicht ganz zufälliges Treffen – Brücklmeier war jedenfalls bei dem verkappten SS-Offizier Karnitschnig, der äußerlich ganz harmlos tat, Anfang September zu einem Abendessen eingeladen. Karnitschnig äußerte dazu, man habe Brücklmeier sein „Strohwitwerdasein“ etwas „erleichtern“ wollen.96 Eduard Brücklmeier äußerte seine Ansichten speziell über den eben ausgebrochenen Krieg und die Politik Hitlers im Allgemeinen zwar frei, aber nicht detailliert. Ein völliger Zusammenbruch Deutschlands, so sagte er, sei das einzig denkbare Ergebnis des eben begonnenen Krieges. Der einzige Ausweg sei, mit Polen rasch Frieden zu schließen, vielleicht noch Danzig und den Korridor besetzt zu halten, aber die Tschechei wieder zu räumen. Nur so könne ein Krieg gegen England verhindert werden. Im Gestapo-Protokoll wird Brücklmeier dann wie folgt zitiert: „Für England ist es ein Leichtes, uns einzukreisen und in 6 Monaten sieht die Lage ganz anders aus. Ich weiß es durch meine guten englischen Freunde, daß England gewillt ist, den Krieg durchzustehen, England war schon 8 Tage vor Kriegsanbruch fest zum Krieg gegen uns entschlossen. Unser Führer wurde durch die Kriegserklärung überrascht, er hatte nie daran geglaubt, daß England tatsächlich den Polen Beistand leistet. Überhaupt wird der Krieg gegen England in Deutschland katastrophale Folgen haben, es ist selbstverständlich, daß englische Bomber in großer Höhe über Berlin Bomben abwerfen werden, wobei man nicht erwarten darf, daß sie sich auf die Bombardierung militärischer Ziele beschränken werden, (…). Eine Abwehr dieser englischen Bomber über Deutschland ist völlig aussichtslos, denn wir können weder durch Horchgeräte noch sonst irgendwie ein Flugzeug, das über 6.000 Meter hoch fliegt, feststellen, geschweige denn abschießen.“97 Göring, so äußerte Brücklmeier weiter, habe zu diesen Befürchtungen zustimmend geschwiegen, und Ribbentrop fehle die Übersicht – trotz seiner aus London mitgebrachten Erfahrungen. 95
Brief am 7. September 1939 aus Berlin an seine Frau, Nachlaß Brücklmeier, London. Aussage Schneller vom 30. September 1939, BAB/BDC, SSO Brücklmeier, Abschrift. 97 Gestapo-Protokoll vom 8. September 1939, Nachlaß Brücklmeier, London.
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In der Gestapo-Zentrale wurden die Denunziationen gegen Brücklmeier vom 8. September gegen Ende des Monats bearbeitet, Karnitschnig und v. Schneller wurde nochmals zur Aussage gebeten und bestätigten ihre Ausführungen am 30. September.98 Am Abend des 6. Oktober 1939 ging dann im Auswärtigen Amt ein Anruf der Gestapo ein. Brücklmeier, der noch arbeitete, wurde aufgrund der Denunziation seines Hausarztes aufgefordert, aus dem Büro direkt im GestapoHauptquartier zu erscheinen. Kordt und andere, die ebenfalls noch anwesend waren, wußten, was dies bedeuten konnte. Und zunächst schien eine Katastrophe heraufzuziehen: Brücklmeier wurde, kaum eingetroffen, durch die Gestapo verhaftet. Man hatte ihn wegen der Italien-Äußerungen und schon wegen seines beherzten Vorgehens 1935 in Kattowitz auf der Rechnung, und nun zögerte man nicht. Die Verhaftung schlug bei den Mitverschworenen ein wie eine Bombe. Sein direkter Vorgesetzter, Erich Kordt, schreibt in seinen Memoiren von einem Zwischenfall, der ihm den Atem habe stocken lassen: „Was war geschehen? Waren unsere Bestrebungen verraten worden? Für Brücklmeier blieb keine andere Wahl, als der Aufforderung nachzukommen.“99 Der gesamte Apparat, der zusammengezogen worden war, um Hitler zu beseitigen, wurde angehalten. Die Verschwörer im Militär und im Auswärtigen Amt mußten fürchten, daß Brücklmeier in Wirklichkeit verhaftet worden war, weil die Gestapo die gesamten Vorbereitungen zum Staatsstreich, die ganze „Septemberverschwörung“, kannte. In diesem Falle wäre eine große Verhaftungswelle zu erwarten gewesen. Dies illustriert einerseits, wie entschlossen und durchorganisiert der Widerstand gegen Hitler gerade 1938 war.100 Andererseits zeigt es, wie zentral Brücklmeier in die Vorbereitungen für einen Staatsstreich eigebunden war. Nachdem er selbst seine Erinnerungen nie zu Papier bringen konnte, läßt genau dies scheinbar so kleine Detail, also die Reaktion der Mitverschwörer auf seine Verhaftung, einen neuen und wesentlich genaueren Rückschluß auf Brücklmeiers Bedeutung im deutschen Widerstand gegen Hitler zu. Brücklmeier wurde im berüchtigten Gestapo-Gefängnis in der Prinz-AlbrechtStraße festgehalten, allerdings nicht in den Kellerräumen, sondern im ersten Stock. Vernommen wurde er durch den Chef persönlich: Reinhard Heydrich. Die beiden 98
Ebd. Kordt, Akten, S. 341. 100 Schulte, Fall Brücklmeier, S. 143, bemerkt dazu, daß es für die Gestapo schwer war, in bürgerliche soziale Netzwerke einzudringen, sie sei auf Denunziation angewiesen gewesen; vgl. dazu: Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1962, S. 682; Broszat, Martin, Politische Denunziation in der NS-Zeit. Aus Forschungserfahrungen im Staatsarchiv München, in: Archivalische Zeitschrift, Bd. 77, 1973, S. 221 ff.; Gellately, Robert, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933 – 1945, Oxford 1990, dt. Paderborn 1993, S. 82, S. 158; Diewald-Kerkmann, Gisela, Politische Denunziation im NS-Regime oder die kleine Macht der „Volksgenossen“, Bonn 1995, S. 290, stellt zudem die Notwendigkeit speziell der Denunziation für das NS-System bei der Verfolgung bestimmter Delikte klar; darunter fielen auch diejenigen, die Brücklmeier zur Last gelegt wurden. 99
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kannten sich vom Obersalzberg, wo Brücklmeier erst wenige Wochen zuvor dem Führer ins Gesicht gesagt hatte, daß von Italien keine Unterstützung für das Reich im Falle einer Kriegserklärung Englands und Frankreichs kommen werde. Doch Brücklmeier verteidigte sich geschickt, gab die Vorwürfe teilweise zu, beklagte sich jedoch darüber, daß er in entscheidenden Passagen sinnentstellt zitiert worden sei. Seine Version gegenüber Heydrich, die er sich zurechtgelegt hatte, lautete dann: „Es ist falsch, diesen Krieg als ein Kinderspiel zu betrachten und gerade wir als SSFührer müssen uns klar darüber sein, daß wir sehr ernsten Zeiten entgegensehen und die Ohren steif halten müssen.“ Heydrich entließ Brücklmeier am 9. oder 10. Oktober aus der Haft.101 Damit verlief die Angelegenheit für diesen relativ glimpflich, denn: „Die Gestapo hatte also bereits zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einen umtriebigen Netzwerker der Opposition in ihren Fängen, ließ ihn aber laufen.“102 Immerhin: mit Datum vom 10. Oktober schlug Heydrich v. Ribbentrop vor, Brücklmeier für sechs Wochen in die „Erziehungsabteilung“ – also die SS-Strafkompanie – des KZ Sachsenhausen einzuweisen und zudem den Ausschluß aus der SS zu erwirken. Weizsäcker versuchte dagegen, Brücklmeier im Auswärtigen Amt zu halten und ihn auf einen unpolitischen Posten weitab von Berlin zu bugsieren. Staatssekretär v. Weizsäcker versuchte am 13. Oktober, Brücklmeier für den diplomatischen Dienst zu erhalten, indem er vorschlug, nur einen Verweis auszusprechen und den Beschuldigten dann „an einem abgelegenen unpolitischen Auslandsposten“ zu verwenden.103 Dies ist eine klare Positionierung v. Weizsäckers für Brücklmeier und gegen Ribbentrop. Widerständiges Verhalten im Auswärtigen Amt war also möglich, aber die Grenzen dafür waren eng gesteckt. Der Reichsaußenminister reagierte am 27. Oktober. Er verfügte zunächst die Entlassung Brücklmeiers aus dem Auswärtigen Dienst, die Heydrich interessanterweise nicht verlangt hatte, und bat die Personalabteilung seines Amtes um Vorschläge für die Durchführung der vom Chef des Reichssicherheitshauptamtes vorgeschlagenen Maßnahmen.104 Die von Heydrich ausgesprochene Empfehlung zur sechs Wochen dauernden Einweisung in eine „Erziehungsabteilung“ des Konzentrationslagers Sachsenhausen verwarf Ribbentrop dann selbst, doch er setzte den Prozeß der Entlassung durch eine sofortige Beurlaubung Brücklmeiers in Gang105 und leitete seine Entfernung aus dem Auswärtigen Amt ein. Später verbat er sich 101 So berichtet Contessa Antonelli am 7. März 2005; ebenso: Schwerin, S. 196 und S. 198, bestätigt dies nach den Angaben seines Vaters Ulrich Wilhelm Graf v. Schwerin. Kessel, „Saat“, S. 187, schreibt dagegen – vielleicht irrtümlich? – in seinen Erinnerungen, daß Brücklmeier nach nur 24 Stunden wieder freigelassen worden sei. 102 Schulte, Fall Brücklmeier, S. 135. 103 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894. 104 A.a.O. 105 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894: Brücklmeier teilt am 20. Januar 1940 mit, seine Urlaubsadresse sei „Grundlsee bei Bad Aussee, Gau Oberdonau, Archkogel 14“.
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die bloße Erwähnung des Namens „Brücklmeier“ in seiner Gegenwart,106 verzichtete jedoch auf weiter gehende Maßnahmen, insbesondere andere Arten der Inhaftierung.107 Aber er gab den Vorgang „zwecks weiterer Bearbeitung“ an das Innenministerium, und zwar direkt an den „Herrn Reichsminister und Chef der Reichskanzlei“, ab.108 Das war für Brücklmeier das Ende der diplomatischen Karriere. Am 23. April 1940 erging Mitteilung aus der Reichskanzlei: „Der Führer hat die Versetzung des Legationsrates Dr. Brücklmeier in den Ruhestand auf Grund des § 71 des Deutschen Beamtengesetzes (…) verfügt.“109 Mit dem 27. April 1940 wurde das Disziplinarverfahren gegen Brücklmeier abgeschlossen; er schied nach Paragraph 71 des Deutschen Beamtengesetzes aus dem Dienst aus. Seine Bezüge, allerdings ohne Zulagen, blieben ihm so erhalten. Am 7. Mai 1940 bestätigte er mit Schreiben aus Grundlsee den Erhalt dieses Bescheids.110 Brücklmeiers Verhaftung und Demission blieben nicht ohne internationalen Widerhall. Ausländische Zeitungen schrieben im Oktober 1939, daß die Opposition in Deutschland gegen die Nationalsozialisten an Stärke gewonnen haben müsse, da ein hoher Beamter aus der unmittelbaren Umgebung des Außenministers wegen politischer Unzuverlässigkeit verhaftet worden sei. Verschiedene Zeitungen und Dienste anderer Länder bezogen sich in ihren Nachrichten auf diese Meldung, denn Schweden war neutral, und Meldungen aus Stockholm konnten als unparteiisch gelten. Diese Meldung könnte auch auf das Vorhandensein der Widerstandsgruppe der „Aktivisten“ im Auswärtigen Amt gemünzt sein, die immerhin sowohl im Herbst 1938 als auch fast ein Jahr später fest zu einem tödlichen Attentat auf Hitler entschlossen waren und nur jeweils durch äußere Ereignisse an der Ausführung gehindert wurden – beim ersten Mal durch das Münchner Abkommen, beim zweiten Mal durch das Attentat des Georg Elser in München.111 Die Planungen wurden jeweils im letzten Moment obsolet. Für die Freunde aus dem Widerstand war die Verhaftung Brücklmeiers indes eine sehr ernstzunehmende Warnung. Geplante Treffen wurden verschoben, auf die Geheimhaltung wurde noch genauer geachtet. 106 Kessel, Saat, S. 187, bemerkt dazu: „Von Ribbentrop war natürlich kein Eintreten für seine Untergebenen zu erwarten.“ 107 Kordt, Akten, S. 342. 108 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894. 109 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894. 110 Auswärtiges Amt, P. A., Personalakte 1894. 111 Vgl. Roon, Widerstand, S. 123 – 140, Kapitel 8 „Die Gruppe Goerdeler“; van Roon sieht Goerdeler als einzigen Mittelpunkt eines zivilen Widerstands bis 1939. Das ist ein Beispiel dafür, daß die Gruppe der „Aktivisten“ im Auswärtigen Amt in ihrer Bedeutung bisher kaum erkannt ist. Entweder wird nur Erich Kordt genannt oder auch Staatssekretär Ernst v. Weizsäcker, aber die gefügte Struktur, zu der auch Brücklmeier zentral gehörte, bedarf noch der genaueren Beschreibung.
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II. Prozeß und Verhaftung Bleierne Sommerhitze lag am 20. Juli mittags über der in typisch ostpreußischer, leicht dunstiger Luft daliegenden Wolfsschanze. Fast unwirklich die Ruhe. Die Detonation zerriß die bleierne Stille um 12.42 Uhr. Endlose Sekunden gespenstischer Stille folgten, dann gellten in Rastenburg die Sirenen. Nur Stunden später nahmen die Ereignisse des 20. Juli dort ihren bekannten tragischen Lauf. Brücklmeier hörte durch das Radio von dem fehlgeschlagenen Attentat. Ihm waren die Folgen sofort klar; er besprach die neue Lage mit seiner Frau, so wie er das nach Erinnerung seiner Tochter bei jeder wichtigen Entscheidung tat. Er wußte, daß dies wahrscheinlich sein Todesurteil bedeuten würde. Klotilde beschwor ihn, über die Grenze in die Schweiz zu fliehen. Die Gestapo hatte bereits am Tag nach dem Attentat eine 400-köpfige „Sonderkommission 20. Juli 1944“ gebildet. Bereits am 20. und 21. Juli waren 28 Personen verhaftet worden; insgesamt sind, so wird geschätzt, in den folgenden Wochen rund 600 Festnahmen erfolgt. Am 25. Juli war Brücklmeier in Berlin und besprach mit Freunden die Möglichkeiten einer Flucht und verwarf entsprechende Pläne erneut. Er hatte eine Vorladung des Vormundschaftsgerichts in Prag, denn er war zum Vormund des eben geborenen Sohnes seines im April 1944 an der Ostfront gefallenen älteren Bruders Werner bestellt worden. So reiste er nach Prag weiter, wo ihm auch der Rechtsanwalt der Familie ein Versteck anbot – doch Brücklmeier lehnte wiederum ab. Er wurde am 26. oder am 27. Juli in der tschechischen Hauptstadt verhaftet. Fast scheint es, als ob wissend und in innerer Ruhe er einen Weg ging, von dem er zutiefst wußte, daß er ihm bestimmt sei. Bald folgten die Verurteilungen der Widerstandskämpfer des 20. Juli nach nur ein- oder zweitägigen Schnellverfahren vor dem Volksgerichtshof. Brücklmeier mußte zusammen mit Wilhelm Friedrich Graf zu Lynar, Karl Freiherr v. Thüngen, Otto Herfurth, Fritz v. der Lanken und seinem Freund Joachim Meichßner im neunten Teil der Verräterprozesse zum Stauffenberg-Attentat am 28. und 29. September vor den Präsidenten des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, treten. Am 21. September war er bereits aus dem Verhältnisse eines Beamten im Ruhestand ausgestoßen worden, was unter anderem die Streichung seiner Rente bedeutete. Der Prozeß fand statt im sogenannten „großen Saal“ des Berliner Kammergerichts statt, da der Volksgerichtshof bei Luftangriffen schon Wochen zuvor beschädigt worden war.112 Kurz waren die Befragungen vor dem 1. Senat; der Verteidigung war keine aktive Rolle zugemessen. Auch Brücklmeier wurde am 28. September nur höchst marginal zur Sache vernommen. Freisler unterbrach ihn immer wieder, echauffierte sich und gab dem Prozeß den Charakter eines Schauprozesses – was er auch war. Den Angeklagten wurde ein Schlußwort zugebilligt. Brücklmeier äußerte sich. Es ging ihm darin um seine Ehre. Er sagte mit seiner 112 Hett, Ulrike / Tuchel, Johannes, Die Reaktionen des NS-Staates auf den 20. Juli 1944, in: Steinbach, et al., Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur, Bonn 20042, S. 524.
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recht hohen und sehr klaren Stimme, ihm sei vorgeworfen worden, ein Kriegsgewinnler zu sein und ehrlos gehandelt zu haben. Dazu habe er sich noch nicht umfassend äußern können; er wolle dies, wenn möglich, nun tun. Freisler ließ ihn vor die Richterbank kommen und befragte ihn zunächst zu seinem Verdienst während der Jahre, dann seinem beruflichen Werdegang; dabei ließ er sich nicht auf die von Brücklmeier intendierten Fragen ein, sondern fragte nur, den Angeklagten immer wieder im Stakkato unterbrechend, Stationen seiner beruflichen Laufbahn ab. Als die Rede auf die Brücklmeier ab 1939 zur Last gelegte „politische Unzuverlässigkeit“ kam, brüllte er ein bestätigendes „Eben! Ihre politische Unzuverlässigkeit!“ in den Raum.113 Dieses Stichwort war für ihn offenkundig genügend, um Brücklmeier als Kriegsgewinnler und damit – aus seiner Sicht – der Ehrlosigkeit zu beschuldigen. In völliger Ruhe, mit unbewegter Miene hat Brücklmeier dann tags darauf sein Urteil angenommen.114 Freisler begründete es mit folgenden Worten: „Eduard Brücklmeier, ein Drückeberger ganz besonderen Ausmaßes, arbeitete mit den schon gerichteten Verrätern Graf Schwerin und Graf v. der Schulenburg an der Vorbereitung des Verrats vom 20. Juli mit. Selbst entwarf er den Aufruf, der unsere Kriegsschuld anerkennen und unseren Feinden unterwerfen sollte.“115 Das ist ein höchst wichtiger Satz, denn das entsprechende Schriftstück ist nicht erhalten. Am 29. September war Brücklmeier zum Tode verteilt worden. Doch er mußte im Hausgefängnis der Gestapo noch auf seine Hinrichtung warten. Amschy Brücklmeier versuchte, ihren Mann zu sehen. Es gelang ihr nicht. So brachte sie jeden Tag vormittags die Verpflegung für ihn an das Gefängnistor. Am Morgen des 20. Oktober bekam sie in ihrer Küche plötzlich das Gefühl, daß sie die Brötchen, die sie für ihren Mann hatte bekommen können, umsonst mit Wurst und Käse belegen würde. Brötchen gab es wegen der Lebensmittelrationierung nicht oft, und sie tat alle, die sie bekommen hatte, in eine Tüte. Als sie am Eingangsposten des Gefängnisses ankam, wurde ihr die Tüte nicht abgenommen. Da wußte sie, daß sie an diesem Tag Witwe werden würde. Die Hinrichtungen der Widerstandskämpfer, die der Volksgerichtshof der Nationalsozialisten nach dem Attentat des 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt hatte, waren an Grausamkeit schwer zu überbieten. Das NS-Regime strafte nicht, wofür denn auch – es nahm Rache. Das Ritual war immer gleich. Unter den Gefangenen war es bekannt: Der Tod durch Erhängen kam hier nicht schnell. Vielmehr wurden die Delinquenten, die bis auf die blau-weiße Sträflingshose entkleidet waren, der Reihe nach langsam aufgehängt. Der schnelle Tod durch Genickbruch, so wie er beim Fall aus größerer Höhe in ein Seil eintritt, etwa durch Öffnen einer Klappe, auf 113
Film „Verräter vor dem Volksgericht“, II, Bundesarchiv, Berlin, TC 2:19:20 bis 2:23:17. Ebd., TC 2:19:20 ff. und 2:27:30 ff. 115 Ebd., TC 2:27:30 bis 2:27:50; Freislers Sätze sind – ungeachtet des Inhalts – grammatikalisch nicht korrekt; die hier wiedergegebenen Worte lassen den Sinn indes ohne weiteres erkennen. 114
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der der Delinquent vorher stand – sie war von der SS-Schergen nicht gewollt.116 Vielmehr wurde zunächst der erste Häftling an einer dünnen Schlinge hängend erdrosselt, die ihm der Scharfrichter um den Hals gelegt hatte. Während er mit dem sicheren Tod rang, hängten sich sadistisch die Peiniger an seine Beine und zogen ihm die Hosen aus.117 Seine Mitgefangenen, die auch der Tod erwartete, mußten zusehen. Die Häftlinge langsam zu erdrosseln war eine ausdrückliche Anweisung seitens der SS-Führung. Ebenso, sie volle 20 Minuten hängen zu lassen. Der 20. Oktober 1944 war es also, daß Klotilde Brücklmeier die Brötchentüte wieder nach Hause tragen mußte. Wie schwer diese Tüte zu tragen war – das ist kaum zu ermessen. An diesem Tag, wahrscheinlich gegen Mittag, mußte ihr „Peter“, denn diesen Kosenamen hatte sie ihm gegeben, mußte also Eduard Brücklmeier in Berlin-Plötzensee seinen letzten Gang antreten. Er wurde Opfer des unmenschlichen und schauerlichen Hinrichtungsrituals, das sich Hitler persönlich für die Attentäter des 20. Juli, ihre Mitarbeiter und Mitwisser ausgedacht hatte. Auch seinen letzten Weg – vom Gerichtssaal bis zum Galgen – ließ Freisler von Anfang bis Ende filmen,118 Pressephotographen des Heinrich-Hoffmann-Verlages nahmen jedes Details auf.119 Dies geschah nicht nur auf persönlichen Befehl Hitlers, sondern die Hinrichtungen wurden dem Diktator am selben Abend im Kinosaal der Reichskanzlei auch vorgeführt.120 Brücklmeier war einer der wichtigen Netzwerker, die den militärischen Arm des Widerstands mit den zivilen Kräften bekannt und vertraut machten. Daß er keine Position mehr bekleidete, die ihn durch Protokoll oder dienstliche Überwachung hinderte, erleichterte dies; Offizieren und Diplomaten, die sich im Dienst befanden, war genau dies oftmals unmöglich. Brücklmeier arrangierte diskrete Treffen und trat eben nicht als Verfasser von Traktaten in Erscheinung. Die überlieferten schriftlichen Quellen geben daher keinen faßbaren Beleg. Nicht unterschätzt werden darf zudem die Tatsache, daß Brücklmeier ab seiner Verhaftung im Oktober 1939 im Sinne einer Konspiration gegen das NS-Regime „verbrannt“ war. Tunlichst wurde sein Name in Widerstandskreisen vermieden, wann immer es um Personalien ging. Generell wurden nur dann, wenn es nicht anders ging, Namen schriftlich fixiert. Ulrich v. Hassell, der mit seinen Tagebüchern eines der wenigen Zeugnisse aus dem Widerstand hinterlassen hat, erwähnte spätestens ab dem Februar 1940 die wichtigen Protagonisten nur noch unter 116
Bruhns, Wibke, Meines Vaters Land – Geschichte einer deutschen Familie, Berlin 2005, S. 381 f. 117 Ebd., S. 382. 118 Sequenzen aus dem Verfahren vor dem Volksgerichtshof sind, wie bereits erwähnt, enthalten in: „Verräter vor dem Volksgericht“, TC 2:19:20 bis 2:23:17 und 2:27:30 bis 2:27:50. Die Bilder von der Hinrichtung Brücklmeiers sind jedoch in der erhaltenen Version nicht verwendet worden. 119 Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Royce, Hans (Bearb.), Das Schauspiel des Entsetzlichen, in: „20. Juli 1944“, Bonn 1969, S. 226. 120 Ebd., S. 227.
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Pseudonym.121 Das ist zu bedenken, wenn speziell für die folgenden Jahre eine deutliche Diskrepanz auffällt: Brücklmeier wird als Gastgeber einer signifikanten Zahl von Treffen innerhalb des Widerstands genannt, in anderen Quellen – etwa bei den erhaltenen Plänen zur Neugestaltung Deutschlands – fehlt sein Name jedoch fast völlig. Andererseits war er für die Schatten-Kabinettsliste, die 1944 endlich feststand, wohl zeitweilig als Staatssekretär im Gespräch, doch es gibt Hinweise darauf, daß er lieber in die Personalabteilung des Auswärtigen Amtes wechseln wollte – um dort mit den Nationalsozialisten aufzuräumen.122 Auch dies ist wäre übrigens für sich genommen ein bemerkenswerter Wunsch gewesen. Der scheinbare Widerspruch um die Rolle Brücklmeiers im Widerstand löst sich bei näherer Betrachtung also zusehends auf. Es entsteht ein kohärentes Bild, nachdem ihm die sittlich-moralische Haltung, die ihn ganz zielgenau in den Widerstand führte, durch sein politisch konservatives Elternhaus in die Wiege gelegt worden war. Von diesem Weg wich er nicht ab. Im übrigen gilt für ihn, daß ihm die „grundsätzliche Ablehnung jedes totalitären Systems“ zu eigen war – Hans Rothfels kennzeichnet dies als das vordringliche Motiv der Mitglieder des Kreisauer Kreises.123 Zwei ganz unterschiedliche Zeugen belegen allerdings eindeutig Brücklmeiers überaus aktive Tätigkeit im Widerstand – sie könnten nicht aus diametralerer Richtung kommen. Zunächst bestätigte der letzte, damals noch lebende Verschwörer des 20. Juli, Ewald Heinrich v. Kleist, dem Verfasser im Gespräch, daß der ihm persönlich bekannte Brücklmeier enorm rührig und hochwirksam war in seinem Kampf gegen das NS-Unrechtregime.124 Der ebenso schreckliche wie der Einflußnahme zugunsten Brücklmeiers naturgemäß völlig unverdächtige Richter Roland Freisler hat ihn schließlich unwidersprochen bezichtigt, eine Erklärung zur Kriegsschuld Deutschlands abgefaßt zu haben – dafür hat er ihn, unter anderem, zum Tode verurteilt.
121 Hassell, Ulrich v., Vom anderen Deutschland. Aus den nachgelassenen Tagebüchern 1938 – 1944 des als führendes Mitglied der deutschen Widerstandsbewegung im September 1944 hingerichteten ehemaligen Botschafters von Hassell, Stuttgart 1950, durchgehend ab genanntem Datum, in verwendeter Ausgabe S. 126. 122 Interview des Autors mit Monika Antonelli am 3., 4. und 5. Dezember 2007 in London. 123 Rothfels, Die deutsche Opposition, S. 258. 124 Interview des Autors mit Ewald Heinrich v. Kleist-Schmenzin am 23. September 2009.
Hasso von Etzdorf – vom Königlich Preußischen Leutnant zum Botschafter der Bundesrepublik1 Von Rainer A. Blasius Das Auswärtige Amt habe – so die Begründung des Aachener Karnevalsvereins zur Wahl des 30. Ritters „wider den tierischen Ernst“ – ein „außerordentliches Beispiel von Humor im Dienst“ gegeben, indem es den im Jahre 1937 in Rom erfundenen Ministerialdirigenten Dr. h. c. Edmund F. Dräcker „bis heute am Leben erhalten und auf seinem skurrilen Weg als Phantom-Geheimdiplomat in alle Welt begleitet hat“. Stellvertretend für das Auswärtige Amt konnte Bundesminister Hans-Dietrich Genscher auf der Festsitzung vom 27. Januar 1979 die mittlerweile traditionsreiche und von Politikern begehrte Auszeichnung entgegennehmen. Auch Hasso von Etzdorf war im großen Eurogreß-Saal zugegen, um sich kurz und prägnant zu der „Erfindung“ Dräckers zu äußern – denn niemand anderes als er war dessen Erfinder. Dräcker, so führte Etzdorf aus, „hat, wie man auf Neu-Deutsch sagt, Denkanstöße gegeben, er ist sogar gruppenbildend geworden. Und doch: Er ist ein edler Einfall, ein Homunkulus geblieben. Heute Abend ist nun sein Trachten und Tun durch einen Orden gekrönt worden, der in der Welt nicht seinesgleichen hat. Humor ist Freiheit des Herzens. Hierfür hat die Aachener Karnevalsgesellschaft […] ein Beispiel gesetzt. Mein Sprößling wird es Ihnen danken.“ Als Etzdorf zehn Jahre später, am 7. Juli 1989, starb, lautete die Artikelüberschrift eines bekannten Boulevard-Blatts: „Dr. Dr. h.c. Edmund F. Dräcker. Der lachende Diplomat. Jetzt starb sein Vater.“ Durch viele Anekdötchen über den Phantom-Beamten gerät leicht in Vergessenheit, daß Etzdorfs glanzvolle Karriere alles andere als eine Anekdote war. Höhen und Tiefen der deutschen Diplomatie im 20. Jahrhundert spiegeln sich in seinem Leben wider, zumal er Kaiser Wilhelm II., dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, dem „Führer und Reichskanzler“ Adolf Hitler sowie den Bundeskanzlern Konrad Adenauer und Ludwig Erhard nicht nur dienen mußte und durfte, sondern ihnen sogar persönlich begegnet war – „dienstlich“ mit ihnen zu tun hatte. * 1 Dieser Text ist die Einleitung zu dem Erinnerungsband: Blasius, Rainer A. (Hrsg.), Hasso von Etzdorf. Ein deutscher Diplomat im 20. Jahrhundert, Zürich 1994. Er wird hier erstmals in unveränderter Form nachgedruckt. Der Herausgeber dankt dem Autor ebenso wie Dr. Ignaz Miller vom Haumesser Verlag Zürich für die Erlaubnis.
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Geboren wurde Hasso Heinrich Wilhelm Irmfried von Etzdorf am 2. März 1900 in Elbing/Westpreußen als vierter Sohn des Landrats Rüdiger von Etzdorf und seiner Ehefrau Agnes, geborene Lorenz. Die Familie stammte aus Etzdorf bei Eisenberg in Thüringen und wurde im Jahr 1215 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Nach der 1907 erfolgten Versetzung des Vaters ins Preußische Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten besuchte Hasso von Etzdorf zunächst das Schiller-Gymnasium in Groß-Lichterfelde und ab 1911 das Königliche FriedrichWilhelm-Gymnasium in der Reichshauptstadt – „eine Pflanzstätte des preußischen Humanismus Berliner Prägung“, so der langjährige Leiter des Politischen Archivs im Auswärtigen Amt, Johannes Ullrich. Rüdiger von Etzdorf stand neben seiner Funktion im Ministerium zugleich im persönlichen Dienst Kaiser Wilhelms II. als Generalbevollmächtigter für die Herrschaft Cadinen in Westpreußen. Er bekleidete zuletzt den Rang eines Wirklichen Geheimen Rats mit dem Titel Exzellenz und schied 1919 aus dem Staatsdienst aus. Er besaß die Güter Wogenap im Kreis Elbing und Neumark im Kreis Merseburg/Provinz Sachsen. Durch seinen Vater kam Hasso von Etzdorf also mit dem Hause Hohenzollern in Berührung; mit den Prinzen August Wilhelm und Louis Ferdinand verband ihn seit Kindertagen das vertraute Du. Im Mai 1917 bestand Etzdorf das Not-Abitur und am 18. Mai trat er als Fahnenjunker in die zweite Eskadron des Königlich Preußischen Kürassier-Regiments Herzog Friedrich Eugen von Württemberg Nr. 5 in Rosenberg in Westpreußen ein – der Stab, die erste, vierte und fünfte Eskadron des Regiments lagen in Riesenburg, die Garnison der dritten Eskadron war Deutsch Eylau. Chef des Regiments, in dem einer der älteren Brüder – Hans-Ulrich von Etzdorf – bereits als Oberleutnant Dienst tat, war Wilhelm II., König von Württemberg. Bereits im August 1917 kam Etzdorf an die Front zu seinem Regiment, das nach Abgabe der Pferde im Verband der VII. Kavallerie-Schützendivision an der Westfront in den Vogesen lag. Nach vorübergehender weiterer Ausbildung in der Heimat machte er die Kämpfe seines Regiments in den Vogesen, in Lothringen und in Flandern mit. Am 24. Juli 1918 erfolgte die Ernennung zum Königlich Preußischen Leutnant der Reserve. Im September 1918 nahm er dann an den Abwehrkämpfen im Raum Bapaume-Cambrai teil, die ihren Höhepunkt am 27. September mit dem Durchbruch britischer Truppen am Kanal von Mœuvres (Bourlon-Wald) erreichten. Das Regiment wurde nahezu aufgerieben; auch der damalige Kommandeur, Major von Randow, fiel an der Seite Etzdorfs, der an jenem Tag als Ordonnanzoffizier eingeteilt war. Wenige Stunden später wurde der junge Leutnant selbst durch einen Granatsplitter-Steckschuß in die rechte Schulter schwer verwundet. Nach einer Notoperation in einem Feldlazarett wurden Etzdorf im Luisen-Hospital in Aachen die eingedrungenen Granatsplitter herausoperiert. Am selben Tag, es war der 29. September 1918, der „schwarze Tag des deutschen Heeres“, gab der I. Generalquartiermeister, Erich Ludendorff, den Krieg verloren und forderte nach Rücksprache mit dem Chef der dritten Obersten Heeresleitung, Paul von Hindenburg, die sofortige Aufnahme von Waffenstillstands-
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verhandlungen. Damit schoben die Militärs die Verantwortung für den Ausgang des Krieges den zivilen parlamentarischen Kräften in Deutschland zu. Schließlich unterzeichnete Matthias Erzberger am 11. November 1918 den Waffenstillstandsvertrag. Die schwere Niederlage des Deutschen Reiches und die Abdankung des Hauses Hohenzollern erlebte Etzdorf im Elisabeth-Krankenhaus in Berlin; dorthin war er in der zweiten Oktoberhälfte 1918 von Aachen aus verlegt worden. Für den Träger des Eisernen Kreuzes I. und II. Klasse stürzte sicherlich eine Welt ein. Trotzdem nahm er unmittelbar nach der Entlassung aus dem Krankenhaus noch Ende November 1918 zielstrebig sein Jura-Studium an der Berliner Universität auf. Über das Wintersemester 1918/19 hielt er einmal fest: „Als beim Ausbruch der Berliner Januar-Straßenkämpfe die Schließung der Universität erfolgte, trat ich bei dem in Berlin gebildeten Freiwilligenkorps Abteilung Lüttwitz als Ordonnanzoffizier ein und verblieb in dieser Stellung während der Winterunruhen bis zur Beendigung der Märzkämpfe am 11. März 1919.“ Nach den Freikorps-Erfahrungen verbrachte Etzdorf drei Semester an der Universität Göttingen, jetzt gemeinsam mit Gotthard Freiherr von Falkenhausen – einem Freund, den Etzdorf zeitlebens bewunderte – und Adolf von Carlowitz. Er trat in das Corps Saxonia Göttingen ein, eine Verbindung, in der weiterhin der Adelskanon des 18. Jahrhunderts, „Tapferkeit und Ehre“, gepflegt wurde sowie Unterordnung und Gehorsam gegenüber den älteren Corpsbrüdern selbstverständlich waren. Schon bald stieg er zum Fuchsmajor und Ersten Chargierten auf. Etzdorf schloß dann zwei weitere Semester an der Universität Halle an. Neben Vorlesungen der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften besuchte er historische Lehrveranstaltungen und zwei philosophische Seminare. Am 2. Juli 1921 bestand er die Referendarprüfung für Preußen vor der Prüfungskommission des Oberlandesgerichts in Naumburg, am 1. September 1921 wurde er für den Preußischen Staatsdienst vereidigt. Anschließend war Etzdorf als Referendar in Merseburg, Halle und Königsberg eingeteilt. Während seiner Referendarzeit wurde er 1922 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen zum Dr. iur. promoviert mit einer Dissertation über „Die Stellung des Reichspräsidenten auf Grund der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919“. Am 22. Juni 1925 legte Etzdorf vor dem Juristischen Landesprüfungsamt in Berlin die zweite juristische Prüfung ab. Bereits als Jura-Student war Etzdorf 1919 der Deutschnationalen Volkspartei beigetreten. Die DNVP stand dem parlamentarischen System bekanntermaßen ablehnend gegenüber. Etzdorf konnte mit den neuen politischen Verhältnissen – „Lex statt Rex“ – wenig anfangen, weil die Republik aus seiner Sicht „die Lücke nicht schließen“ konnte, die die nun fehlende Monarchie „mit ihrer symbolischen Kraft gegeben hatte“. Für ihn blieben die zwanziger Jahre gekennzeichnet durch eine „Flucht aus der Not der Gegenwart in die Vergangenheit“, besonders in die golden glänzenden Kindheits- und Jugendjahre vor dem Krieg. Außerdem hielt er die als Frontkämpfer gewonnenen Erfahrungen für so entscheidend, daß er das Erlebnis
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von Kampf und Kameradschaft in den „Stahlgewittern“ (Ernst Jünger) zu bewahren und mit anderen Kriegsteilnehmern zu teilen versuchte. Daher trat er nicht nur dem „Stahlhelm“ bei, sondern gehörte 1924 sogar zu den Gründern der Ortsgruppe Königsberg des „Bundes der Frontsoldaten“. Vom 4. August bis zum 4. September 1925 arbeitete Etzdorf als Vertreter eines Notars in Mehlsack in Ostpreußen. Anschließend war er Hilfsrichter beim Amtsund Landgericht Königsberg. In diese Zeit fiel sein Entschluß, Diplomat zu werden; darin wurde er durch seinen Freund und Kollegen Falkenhausen bestärkt. Am 10. Oktober 1927 stellte er das Gesuch auf Zulassung als Anwärter für den höheren Dienst in der Wilhelmstraße. Daß er schließlich zum 1. Mai 1928 „unter dem Vorbehalt des Widerrufs behufs Vorbereitung für die höhere auswärtige Laufbahn“ in das Auswärtige Amt einberufen wurde, verdankte Etzdorf unter anderem der Intervention eines väterlichen Freundes, der schon seit 1905 an seinem Leben Anteil nahm: Elard von Oldenburg-Januschau sprach bei seinem Nachbarn zugunsten von Hasso von Etzdorf vor. Dieser war kein anderer als Paul von Hindenburg, Generalfeldmarschall und Sieger von Tannenberg, seit April 1925 Reichspräsident und zwischenzeitlich längst schon eine Art „Ersatzkaiser“. Der Herr auf Januschau und der Herr auf Neudeck, beides alte Offiziere, die die Niederlage von 1918 zur Mär von dem im Felde unbesiegten deutschen Heer verklärt hatten und durch großagrarische Interessen verbunden waren, besuchten sich des öfteren, vornehmlich in den Sommermonaten. Oldenburg-Januschau erteilte damals mehrfach Hindenburg Ratschläge, die getreu seiner „alten Linie auf eine Beseitigung des Parlamentarismus und Herstellung einer Diktatur“ abzielten, drang allerdings damit beim Reichspräsidenten nicht durch. Crew-Kameraden während der Attaché-Ausbildung in Berlin waren Erich Kordt und Rudolf Rahn. Schriftliche Arbeiten mußte der junge Attaché vorlegen zur „Stellung Italiens im Dreibund“ und zum „Problem der Goldverknappung. Darstellung, Mittel und Wege zur etwaigen Behebung“. Am 27. Februar 1931 bestand er vor einer Prüfungskommission unter dem Vorsitz des Reichsaußenministers Julius Curtius die diplomatisch-konsularische Prüfung mit der Note „gut“. Nach einer kurzen Beschäftigung in der Abteilung IV (Ostasien) wurde Etzdorf der Deutschen Botschaft in Tokyo zugeteilt. Am Pfingstsonntag, dem 24. Mai 1931, verabschiedete er sich in Cadinen von seinem alten Vater, um am folgenden Tag von Genua aus mit der „Saarbrücken“ Europa zu verlassen. Am 13. Juli 1931 meldete er sich zum Dienstantritt in Tokyo. Auf der Botschaft war man – wie Etzdorf am 13. August an Falkenhausen schrieb – „ganz solide, vielleicht zu sehr“. Das lag sicherlich an Botschafter Ernst-Arthur Voretzsch, einem großen Kenner und Sammler ostasiatischer Kunst und Verfasser kunsthistorischer Bücher, der sich in erster Linie um die kulturellen Kontakte zwischen dem Deutschen Reich und Japan bemühte. Überhaupt war das Auswärtige Amt zu Beginn der dreißiger Jahre noch traditionell pro-chinesisch eingestellt. Dies sollte sich auch nicht ändern, als am 18. September 1931 japanische Militärkreise den Mandschurischen Zwischenfall inszenierten, der Japan den Vorwand zur Besetzung von Mukden und der gesamten Mandschurei
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lieferte. Diese Herausforderung des internationalen Systems erfuhr mit der Errichtung des Satellitenstaats Mandschukuo im März 1932 eine weitere Zuspitzung, wenn sich Japan auch mit einer offiziellen Anerkennung bis zum September 1932 zurückhielt. Von einem „fast idyllischen Posten“ – so Herbert von Dirksen – aus beobachtete Etzdorf den allmählichen Untergang der Weimarer Republik, relativ gut unterrichtet durch seinen Freund Carlowitz, der in verschiedenen RegierungssprecherFunktionen zu den engsten Beratern Kurt von Schleichers gehörte, des Reichswehrministers und, vom Dezember 1932 bis Januar 1933, kurzzeitigen Reichskanzlers. Mit Eugen Ott, einem anderen Schleicher-Vertrauten, schloß Etzdorf nach der „Machtergreifung“ vom 30. Januar 1933 Freundschaft. Der Oberstleutnant kam im April 1933 nach Japan, abkommandiert zum 3. Artillerieregiment in Nagoya. Im Dezember 1933 wurde er nach Berlin abberufen, kehrte aber bereits im März 1934 als Militärattaché nach Tokyo zurück, um dann 1938 zum Botschafter zu avancieren. Den 1. Mai 1933, den „Feiertag der nationalen Arbeit“, beging die Botschaft mit einem Empfang der deutschen Kolonie – „große Beteiligung, aber keine Juden“, hielt Etzdorf in seinem Tagebuch fest: „Hakenkreuz und schwarz-weiß-rotes Banner hängen von der Decke im großen Saale. Botsch.[after Voretzsch] hält eine Ansprache: Hitler, der Gottgesandte.“ Noch im Mai 1933 wurden in der japanischen Hauptstadt Pläne zur Gründung einer Ortsgruppe der NSDAP erörtert, die im Juni unter Leitung des ehemaligen Hauptmanns Scharf – „der seinem Namen alle Ehre macht“ – gegründet wurde. Zur Ortsgruppenversammlung vom 12. Juni schrieb Etzdorf auf: „Scharf richtet flammenden Aufruf an mich, der Gruppe beizutreten. Wer sich noch nicht zum Eintritt gemeldet hat, bekommt ein Formular zum Ausfüllen“. Zwei Tage später – nach Rücksprache mit Botschaftsrat Otto von Erdmannsdorff – meldete sich Etzdorf zum Eintritt in die NSDAP, nachdem sich in Deutschland der „Stahlhelm“ bereits Ende April 1933 der nationalsozialistischen Führung unterstellt hatte und die Selbstauflösung der DNVP, die in den ersten beiden Kabinetten Hitler noch mehrere Minister stellte, unmittelbar bevorstand. Etzdorf versprach sich von einer Parteimitgliedschaft auch, den „verbalen Entgleisungen“ einzelner Parteigenossen gegen die Deutsche Botschaft ein Ende setzen zu können. Im August 1933 wurde ihm in der Ortsgruppe das „außenpolitische Referat aufgehängt“; alle vierzehn Tage mußte er über die weltpolitische Lage referieren. Am 15. August 1933 schilderte er das Ortsgruppen-Milieu in einem Brief an Falkenhausen: „Kleinbürger toben unter patriotischem Vorzeichen ihre Ressentiments aus.“ Noch glaubten allerdings viele, daß der „Führer“ besser sei als seine Partei. So bekannte Oldenburg-Januschau in einem Brief vom 8. September 1933 an Etzdorf, er sei „zu alt, um da mitmachen zu können“, gab aber gleichzeitig der Hoffnung Ausdruck, „daß die bedeutende Persönlichkeit Hitlers sich durchsetzt seinen Untergebenen gegenüber“ – wahrscheinlich wirkte hier der Tag von Potsdam nach, als der „böhmische Gefreite“ am 21. März 1933 dem greisen Feldmarschall von Hindenburg die Reverenz erwiesen hatte und das alte Preußen vom Nationalsozialismus
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in einer „Rührkomödie“ – wie Joseph Goebbels zynisch formulierte – zunächst einmal vereinnahmt worden war. Was den Attaché in Tokyo sorgte, war die außenpolitische Isolierung Deutschlands, die er Mitte August 1933 als „nahezu vollkommen“ einschätzte, „wenn man Italien ausnimmt“. Daneben beurteilte er die internationale Resonanz auf die antijüdische Politik in Deutschland als „ungeheuer“ und sah nur eine Möglichkeit, die im Ausland sich immer stärker entwickelnden „antideutschen Antipathien“ zu durchbrechen, nämlich durch ein „wiederholtes eindeutiges Eintreten Hitlers für die loyalen deutschen Juden“. Schon bald bemerkte Etzdorf, daß die nationalsozialistische Rassendoktrin sogar die deutsch-japanischen Beziehungen überschattete; dabei hatte Hitler in „Mein Kampf“ den Japanern als einzigen Asiaten immerhin noch eine „kulturtragende“ Rolle attestiert – im Gegensatz zu den nach seinem pervers-verquollenen Weltbild viel höher stehenden „kulturschöpfenden“ Deutschen. Unter dem Datum des 23. Oktober 1933 trug Etzdorf in sein Tagebuch ein, daß Staatssekretär Bernhard Wilhelm von Bülow und Reichsaußenminister Konstantin Freiherr von Neurath dem japanischen Botschafter in Berlin „beruhigende Erklärungen“ abgegeben hätten, daß die „Japaner nicht unter die diskriminierten ,Gelben‘ fielen“. Zu den neu in Japan gewonnenen Freunden zählte neben Ott, mit dem Etzdorf hin und wieder Beethoven-Konzerte des jungen Dirigenten Hidemaro Konoye besuchte, auch der für die „Frankfurter Zeitung“ in Tokyo tätige Korrespondent Richard Sorge. Mit ihm unternahm Etzdorf zahlreiche Reisen, durch die er Land und Leute kennenlernte, ohne jemals Verdacht zu schöpfen, daß der trinkfeste Journalist und Bohemien ein Doppelleben führte und Kommunist war. Der „Kundschafter des Friedens“, der Stalin im Frühjahr 1941 über die deutschen Angriffsvorbereitungen gegen die UdSSR auf dem laufenden hielt, wurde im Herbst 1941 enttarnt, drei Jahre später in Tokyo hingerichtet und im November 1964 in Moskau posthum mit dem Orden „Held der Sowjetunion“ ausgezeichnet. Mit Erreichen der Altersgrenze ging Ernst-Arthur Voretzsch Ende 1933 in den Ruhestand. Sein Nachfolger, der bisherige deutsche Botschafter in Moskau, Herbert von Dirksen, traf am 15. Dezember 1933 in Tokyo ein. Über ihn schrieb Etzdorf im Frühjahr 1934 an Falkenhausen: „Denn unser neuer Chef hat sich und uns mit wildem Eifer in die Arbeit gestürzt. Ihm schwebte eine größere Aktivierung unserer Japan-Politik vor. Das Auswärtige Amt hat sich ihm hierin nicht angeschlossen. Das mit Recht, denn Dirksens Ideen müßten in einer Anerkennung Mandschukuos einmünden, die wir uns sowohl im Hinblick auf unsere China-Interessen wie auf unsere Europa-Politik nicht leisten können. Gerade in Europa müßten wir wohl zur Zeit alles vermeiden, was anstoßen könnte. Nach einem Wort Blombergs [des Reichswehrministers] zu Ott hält man dort unsere Lage für so gespannt, daß sie auch nicht ein Gramm zusätzlicher Belastung mehr vertrüge.“ Ostern 1934 machte Etzdorf einen Ausflug zu den Gräbern der „Schar der weißen Tiger“ in Aizu Wakamatsu. Die Geschichte von den tapferen Samurai, die als
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14- bis 16-jährige im Jahr 1868 durch Selbstopfer aus dem Leben schieden, um ihre Treue zum Tenno zu beweisen und nicht ihre Ehre durch Gefangenschaft zu verlieren, berührte ihn so sehr, daß er sich entschloß, den Rittern einen Gedenkstein setzen zu lassen. Dazu kam es während Etzdorfs Zeit in Tokyo nicht mehr; im Mai 1934 wurde er in das Auswärtige Amt nach Berlin zurückbeordert: „Ich bin vom japanischen Himmel auf die deutsche Erde gefallen“ – notierte er sich. Am 11. September 1934 reiste er ab und kehrte über Amerika am 12. Oktober 1934 nach Deutschland zurück, wo zwischenzeitlich während des sogenannten RöhmPutsches nicht nur hohe SA-Führer ermordet worden waren, sondern auch die Generale von Schleicher und von Bredow sowie der Rechtsanwalt und Publizist Edgar Jung und der Publizist Herbert von Bose, Mitarbeiter des ehemaligen Reichskanzlers und Noch-Reichsministers von Papen. Als persönlicher Sekretär des Reichsaußenministers erhielt Etzdorf im Dezember 1934 einen Brief des deutschen Botschafters in Tokyo. Dirksen berichtete, wie der Leiter der NSDAP-Ortsgruppe in der japanischen Hauptstadt „gegen die Verwendung des Eisernen Kreuzes“ auf dem geplanten Gedenkstein „Sturm gelaufen“ sei. Der primitive Nationalsozialist Scharf lehnte es schlichtweg ab, die japanischen Ritter von Aizu durch ein Symbol deutscher Tapferkeit ehren zu lassen. Dazu schrieb Richard Sorge am 17. Januar 1935 an „Etzdorf-San“: „Ja, da haben Sie mir was eingebrockt. Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß Scha.[rf] versetzt worden ist. Traurige Entdeckungen mußte er dabei machen. Abgesehen davon verfiel er auf den Gedanken, mich zu seinem Nachfolger machen zu wollen. Blut habe ich fünf Tage lang geschwitzt. [Legationssekretär] Ha.[as] ist vor Schadenfreude beinahe zersprungen. Und meine Bitte um Intervention durch die Behörde von Ha.[as] wurde mehr grinsend als höflich abgelehnt. Man hoffte auf jeden Fall, nicht mehr ,Gedenkstein-Angelegenheiten‘ zu haben, wenn ich die Sache am Hals hätte.“ Schließlich konnte im Juni 1934 der schlichte Granitstein mit dem Eisernen Kreuz gesetzt werden, neben einem prunkvoll großen Denkmal, das bereits die Stadt Rom für die 19 jugendlichen Samurai gestiftet hatte. Ausgerechnet die italienische Hauptstadt wurde Etzdorfs nächster Auslandsposten. Am 4. Februar 1937 meldete er sich bei Ulrich von Hassell, einem der nationalsozialistischen Außenpolitik und insbesondere der deutsch-italienisch-japanischen Annäherung gegenüber skeptischen Botschafter. Hassell konnte jedoch nicht verhindern, daß sein Londoner Kollege und Gegenspieler, der ehemalige Hauptmann und Hitler-Vertraute Joachim von Ribbentrop, mehr und mehr ein auf den ersten Blick antisowjetisches, in Wirklichkeit aber globales antibritisches Bündnissystem durchzusetzen vermochte. Am 6. November 1937 vollzogen der italienische Außenminister, der japanische Botschafter in Rom und der eigens aus London in die italienische Metropole gereiste Ribbentrop den Beitritt Italiens zum deutsch-japanischen Antikominternpakt – ein böses Spiel, zu dem Hassell nur noch gute Miene für die offiziellen Fotos machen konnte. Die feierliche Unterzeichnungszeremonie hatte für Etzdorf die Konsequenz, daß der Botschafter ihm keinen Urlaub gewährte, und zwar „mit der schmeichelhaften Bemerkung, er könne bei der
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augenblicklichen Geschäftslage seine beste Arbeitskraft nicht entbehren“ – so an Falkenhausen am 11. November 1937. Im Zuge des großen Revirements vom 4. Februar 1938 nach dem BlombergSkandal und der Fritsch-Krise wurde Ulrich von Hassell in Rom durch Hans-Georg von Mackensen, den Schwiegersohn Neuraths, abgelöst, während Neurath selbst durch Ribbentrop ersetzt wurde. In jenen Monaten wurde auch die offizielle deutsche Zurückhaltung in der chinesisch-japanischen Auseinandersetzung aufgegeben, indem die deutschen Militärberater aus China zurückgezogen und Mandschukuo offiziell anerkannt wurde. Ab 15. Juni 1938 wurde Etzdorf, der noch am 12. Dezember 1937 einen Antrag auf Aufnahme in die SA gestellt hatte und mittlerweile zum Sturmbannführer – Obersturmbannführer ab 27. Januar 1941 – zur Verwendung im Stabe der Obersten SA-Führung ernannt worden war, wieder in der Berliner Zentrale eingesetzt: für kurze Zeit im Protokoll, dann in der Personal- und Haushaltsabteilung mit besonderer Zuständigkeit für den Nachwuchs im höheren Auswärtigen Dienst. Am 2. September 1938, dem „68. Jahrestage von Sedan“, so Johannes Ullrich zum 60. Geburtstag von Etzdorf, wurde er zum Legationsrat I. Klasse ernannt, um am 20. April 1939 – an Hitlers 50. Geburtstag – zum Vortragenden Legationsrat befördert zu werden. Nachdem Hitler im Sommer 1939 der Diplomatie keinerlei Chancen gelassen, sie vielmehr zur Täuschung des In- und Auslandes benutzt hatte und in der von Berlin aus geschürten Krise um Danzig und den „Korridor“ zum Krieg gegen Polen entschlossen blieb, wurde Etzdorf nach 22 Jahren wieder zu den Fahnen gerufen. Der nach Wehrübungen 1935 und 1937 zum Oberleutnant der Reserve Aufgerückte wurde als Rittmeister eingezogen und – wie aus einem Erlaß des Staatssekretärs des Auswärtigen Amts, Ernst Freiherr von Weizsäcker, vom 14. September 1939 hervorgeht – „zur Dienstleistung für Propagandaaufgaben zur 14. Armee befohlen“. Zwei Wochen später übertrug ihm Weizsäcker dann die Aufgabe, die er mehr als fünf Jahre wahrnehmen sollte: Vertreter des Auswärtigen Amts beim Oberkommando des Heeres. Das in Zossen zu übergebende persönliche Schreiben des Staatssekretärs, der sich im Sommer 1939 mit allen Kräften um eine Revision der deutschen Ostgrenzen ohne Waffengang und damit um die Verhinderung des von ihm befürchteten „großen Krieges“ gegen die Westmächte bemüht hatte, an Generalstabschef Franz Halder lautete: „Lieber Herr General, der Überbringer dieses Briefes ist Vortragender Legationsrat, Rittmeister der Reserve, Herr von Etzdorf, der gemäß einer Abmachung zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Oberkommando der Wehrmacht, jedoch wie ich gehört habe, in Ihrem vollen Einverständnis zu Ihrem Stabe treten soll. Ich darf Herrn von Etzdorf hierdurch bei Ihnen einführen und Sie bitten, ihm volles Vertrauen zu schenken. Er wird Ihnen gern auch zur Verfügung stehen, wenn Sie gelegentlich an mich Bestellungen zu machen haben. Heil Hitler! Ihr Weizsäcker.“
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Anfang Oktober meldete sich Etzdorf im Hauptquartier und ließ sich „büro- und kasinomäßig“ der Dienststelle des Majors im Generalstab Helmuth Groscurth angliedern. Groscurth war vor Kriegsbeginn Abteilungschef beim Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht gewesen und leitete nun die „Abteilung z.[ur] b.[esonderen] V.[erwendung]“ beim Generalstab des Heeres, zuständig für die Verbindung zwischen Zossen und dem Tirpitzufer. Der Abwehr-Offizier hielt am 5. Oktober 1939 über den Neuling aus der Wilhelmstraße fest: „Sehr ordentlicher Mann unserer Linie.“ Darunter verstand Groscurth die oppositionellen Kräfte in und um Berlin, die sich nach dem schnellen Sieg über Polen formierten und einer Ausweitung des Krieges entgegentreten wollten, der im Westen zwar am 3. September 1939 von Großbritannien und Frankreich gemäß Beistandsverpflichtung für Polen offiziell erklärt, aber nicht effektiv geführt wurde. Hitlers Generalen steckte der Schrecken des Weltkrieges in den Knochen, sie konnten sich aus eigenem Erleben noch an das Ausbluten vor Verdun erinnern und standen dem Gedanken eines Westfeldzugs fast ausnahmslos ablehnend gegenüber. Manche versuchten deshalb, über den Heeresoberbefehlshaber Walther von Brauchitsch ihre Einwände vom fehlenden strategischen Konzept bis hin zum erwarteten schlechten Wetter infolge der fortgeschrittenen Jahreszeit zu artikulieren. Hitler wollte jedoch die Westmächte niederzwingen, zumal der britische Premierminister Chamberlain sein „Friedensangebot“ vom 6. Oktober 1939 – inklusive der Anerkennung der vollzogenen Eroberung und Teilung Polens! – am 12. Oktober abgelehnt hatte: der deutsche Friedenswunsch sei nicht von entsprechenden Taten und wirklichen Friedensgarantien begleitet. Damit besaß der „Führer“ einen Vorwand, gegen das von seinen Militärs in der Kampfkraft überschätzte Frankreich vorzugehen, und zwar ohne Rücksichtnahme auf die belgische und niederländische Neutralität. Fühlten sich die Militärs jetzt erst recht an 1914 erinnert, so boten ihre Kritik und ihre Angst vor einer Niederlage Deutschlands vielleicht einen Ansatzpunkt für einen Schlag gegen das Regime und gegen „Emil“, wie Hitler despektierlich von einigen seiner Gegner genannt wurde. Das jedenfalls glaubte Groscurth, der zu Etzdorf sofort Vertrauen faßte – waren sie doch beide mit entschiedenen HitlerGegnern befreundet, die sich schon im September 1938 vor Abschluß des Münchener Abkommens aktiv um einen Umsturz bemüht hatten und nun wieder zur Tat drängten: Erich Kordt, Chef des Ministerbüros des Reichsaußenministers von Ribbentrop, und Oberst Hans Oster, Leiter der Zentralabteilung im Amt Ausland/Abwehr am Tirpitzufer. Ohne die Heeresführung ließ sich aber nach Etzdorfs und Groscurths Meinung kein erfolgreicher Staatsstreich durchführen; denn außer Hitler waren beispielsweise auch Ribbentrop, Goebbels, Himmler, Heydrich sowie andere Gestapo- und SS-Führer auszuschalten. Am einfachsten wäre es für die Verschwörer gewesen, wenn sie Brauchitsch auf ihre Seite hätten bringen können; das schien allerdings nur über Halder möglich, der wiederum keine Kommandogewalt besaß, weil Hitler den sich ursprünglich durch unmittelbare Unterstellung unter das Staatsoberhaupt und durch formelle und faktische Mitverantwortung auszeichnenden, hochangesehenen Posten des Generalstabschefs auf eine reine
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Beraterfunktion des Oberbefehlshabers des Heeres zusammengestutzt hatte. Darüber hinaus war Halder rührselig und nervenschwach, machte sich stets Sorgen um die politische Fundierung eines Staatsstreichs, schätzte die jüngeren Offiziere und die große Mehrheit der deutschen Soldaten und der deutschen Bevölkerung als pronationalsozialistisch ein und befürchtete im Umsturzfall sogar einen Bürgerkrieg, den die Alliierten zum Angriff nutzen und damit dem deutschen Heer in den Rükken fallen könnten. Den Generalstabschef plagte eine Schreckensvision: die Deutschen als „Helotenvolk“ Englands. Halders Vorgänger Ludwig Beck, eine der zentralen Gestalten des Widerstandes bis zum 20. Juli 1944 und während der Sudetenkrise im August 1938 aus Protest gegen Hitlers Kriegsabsichten auf die Tschechoslowakei zurückgetreten, bezeichnete im Herbst 1939 „Brauchitsch und Genossen […] als Sextaner in bezug auf ihre Urteilsfähigkeit über den engsten militärischen Zusammenhang hinaus“ – eine Meinung, die Groscurth durchaus teilte. Denn um den 17. Oktober regte der Abwehr-Offizier den Verbindungsmann zwischen Zossen und der Wilhelmstraße zu einer Denkschrift an und steuerte gleichzeitig die militärischen Informationen bei. Innerhalb von zwei Tagen fertigte Etzdorf in enger Zusammenarbeit mit Kordt das Schriftstück an, dessen Schwerpunkte auf der außenpolitischen Analyse lagen und ein Versuch waren, die gegen einen Umsturz sprechenden Argumente schlüssig zu widerlegen. Die beiden Diplomaten stellten nachdrücklich den Erfolg einer Invasion Frankreichs in Frage und erörterten die Konsequenzen der Neutralitätsverletzungen: Anschluß der übrigen neutralen Staaten an die Gegner Deutschlands und Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika. Gleichzeitig bezweifelten sie die Verläßlichkeit des neuen Bundesgenossen UdSSR und nannten als Kriegsfolgen für Deutschland: „Zerbrechen der militärischen und inneren Front – Zerfall – Bolschewismus – oder bestenfalls Partikularismus und Loslösung.“ Nach dieser Beschreibung des „drohenden Unheils“ widmeten sich Etzdorf und Kordt dem „Gebot der Stunde“. Der Sturz der nationalsozialistischen Herrschaft wurde als einzige Möglichkeit bezeichnet, um einen Befehl zum Einmarsch in Belgien zu verhindern. Allerdings sei ein Staatsstreich auch deshalb erforderlich, weil Hitler selbst erkannt habe, „daß seine Regierung zu keinem Vergleichsfrieden mit dem Gegner kommen kann. Daher sollen die Schiffe verbrannt, die Brücken abgebrochen werden.“ Einer solchen fast prophetischen Prognose Hitlerscher Kriegspolitik ließen die Verfasser unter der Überschrift: „Keine Bedenken!“ eine eingehende Kritik der angeblichen „Unfehlbarkeit des Führers“ und seiner außenpolitischen „Scheinerfolge“ folgen sowie eine Bilanz der Innen- und Wirtschaftspolitik als System von „Willkür und Korruption“, die in dem Urteil gipfelte: „Noch nie war Deutschland dem Chaos und dem Bolschewismus näher als jetzt, nach sechs Jahren des HitlerRegimes, das es in den letzten Wochen fertigbrachte, 20 Millionen Menschen dem Bolschewismus zu überantworten.“ Dieser Satz dokumentiert eine deutliche Mißbilligung des deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vom
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28. September 1939, mit dem der rote und der braune Diktator die beiderseitigen Interessensphären am Bug abgegrenzt hatten; damit war fast ganz Litauen dem sowjetischen Interessengebiet zugeteilt und die staatliche Existenz Polens ausgelöscht worden. Hingewiesen wurde natürlich auf die „relative Unpopularität“ einer Aktion gegen Hitler, die „mit dem nötigen Maß an Zivilcourage hingenommen werden“ müsse. Anschließend habe man der deutschen Bevölkerung die Augen über die Ziele des „Besessenen“ zu öffnen und werde sicherlich auf Verständnis stoßen. Zudem dürfe man einen weit verbreiteten Friedenswunsch einkalkulieren und „last not least auch mitberechnen, wie sehr der Sturz des Hitler-Regimes ,an sich‘ von vielen und nicht den schlechtesten Deutschen herbeigesehnt wird“. Schließlich kamen die beiden Verfasser auch auf das Problem des Fahneneides zu sprechen. Seit Hindenburgs Tod am 2. August 1934 schworen die deutschen Soldaten – auf Vorschlag des damaligen Reichskriegsministers von Blomberg – nicht mehr „Volk und Vaterland“ Treue und „redlichen“ Dienst, sondern dem „Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler“, ihren „unbedingten Gehorsam“. Dieses Eides – so Etzdorf – sei der deutsche Soldat „ledig“, und zwar aufgrund der nationalen Pflicht, dem „deutschen Vaterland gegen dessen Verderber die Treue zu halten“. Auf den Aufruf zum Hochverrat folgten der Entwurf einer künftigen monarchischen Verfassung – mithin ein Anknüpfen an die Welt des kaiserlichen Deutschlands – und Vorschläge für die ersten beim Regimewechsel zu treffenden Maßnahmen. Daran schlossen sich Bemerkungen über einen „ehrenhaften Frieden“ an, das Hauptanliegen der Umsturzgruppe. Ein „peace with honour“ sei nur zu erreichen, wenn ein Deutschland ohne Hitler den Westmächten eine Mitsprache bei der Neugestaltung der „Rest-Tschechei“ (unter Beibehaltung einer selbständigen Slowakei und abzüglich der bei Deutschland zu verbleibenden Sudetengebiete) und „Rest-Polens“ einräume. Unverzichtbar erschienen den Verfassern allerdings eine Landverbindung durch den „Korridor“ nach Ostpreußen und eine Abtretung des oberschlesischen Industriegebiets um Kattowitz an das Deutsche Reich. Etzdorf kam es darauf an, mit dem Aufruf zum Staatsstreich der „überhandnehmenden Lauheit“ unter den Generalen entgegenzuarbeiten und sie „zur Tat anzuspornen“, wie er nach dem Kriege formulierte. Zur Reaktion der hohen Offiziere notierte Kordt in seinen Memoiren lapidar, daß sie „die Gedanken der Denkschrift billigten“. Mit den Konsequenzen taten sie sich aber offensichtlich schwer, sie warteten auf einen Befehl von „oben“, obwohl bereits Nachrichten über die grausamen Verbrechen der SS in Polen und Hitlers „Polenpläne“ in die einzelnen Hauptquartiere drangen; Halder beispielsweise wurde am 18. Oktober durch Groscurth und den Oberst im Generalstab Eduard Wagner informiert. Halder schwankte Ende Oktober 1939 zwischen der Furcht, die Armee durch einen politischen Mord zu diskreditieren, und der verzweifelten Flucht nach vorn, indem er selbst eine Pistole zu den Besprechungen mit „Emil“ mitnahm. Aber er brachte es nicht fertig, auf den „wehrlosen“ Hitler zu schießen. Außerdem konnte
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der Generalstabschef bei Staatsstreichvorbereitungen nur auf ganz wenige Generale wie den Oberquartiermeister Carl-Heinrich von Stülpnagel sowie die Armee- bzw. Armeegruppen-Oberbefehlshaber Erwin von Witzleben, Erich Hoepner und Wilhelm Ritter von Leeb zählen. Trotzdem erteilte Halder am 3./4. November dem seinerseits wenig geschätzten Oster und dem ebenfalls eher als störenden „Heißsporn“ empfundenen Groscurth den Auftrag, die Umsturzpläne von 1938 zu rekonstruieren. Als auslösender Faktor für eine Aktion sollte wieder einmal der Angriffsbefehl Hitlers dienen – um die psychologischen Voraussetzungen zu schaffen. Hitler lieferte während eines hochdramatischen zwanzigminütigen Gesprächs mit Brauchitsch am Mittag des 5. November 1939 die gewünschte Ausgangsbasis für einen Umsturz, eben weil er sich von der für den 12. November avisierten Westoffensive nicht abbringen ließ. Außerdem konfrontierte der wütende „Führer“ den kreidebleichen Brauchitsch mit schweren Vorwürfen und Anklagen über den defätistischen „Geist von Zossen“. Als Halder davon hörte, war er aufs höchste alarmiert, glaubte die Staatsstreichplanung verraten und blies die gesamte Aktion ab. „Der Vorwurf der Feigheit hat die Mutigen wieder feige gemacht“, meinte Oster zu Kordt, während sich Groscurth einfach angewidert fühlte. Sicherlich hatte der Abwehr-Offizier von einer symptomatischen Äußerung Brauchitschs gehört: „Ich tue nichts, aber ich werde mich auch nicht dagegen wehren, wenn es ein anderer tut.“ In diesen Tagen hatte Kordt schon „mit seinem Leben abgeschlossen“, um sich „durch eine einsame Tat für die gute Sache zu opfern“ – so Etzdorf 1970. Durch seine Funktion als Chef des Ministerbüros hatte er jederzeit Zutritt zur Reichskanzlei. Daher bot er sich für ein Sprengstoff-Attentat an. Am 11. November wollte Kordt in Osters Privatwohnung eine fertige Höllenmaschine übernehmen; Etzdorf hatte sich bereit erklärt, den Attentäter auf seinem letzten Gang bis vor die Reichskanzlei zu begleiten, um es ihm leichter zu machen. Allerdings kam der mutige Kunstschreiner und Einzelgänger Johann Georg Elser dem Diplomaten am 8. November 1939 im Bürgerbräu-Keller in München zuvor. Nur ganz knapp entkam Hitler diesem Anschlag – mit der Folge, daß die Abwehr durch verschärfte Wachsamkeit und durch die Tätigkeit der Fahndungskommission Probleme mit der Sprengstoffbeschaffung hatte. Daraufhin stellte sich Kordt für ein Pistolen-Attentat zur Verfügung. Eine solche „Wahnsinnstat“ lehnte Oster kategorisch ab, nicht zuletzt, weil er starke Zweifel an der Treffsicherheit des völlig ungeübten Schützen hegte. Außerdem wurde der Termin für die militärischen Operationen gegen Frankreich um 14 Tage verschoben. So überlebte der „Führer“ auch den 11. November 1939, und bis zum Mai 1940 konnte er noch siebenundzwanzigmal die geplante Westoffensive verschieben, ohne den „Geist von Zossen“ je fürchten zu müssen. Dort wußte man sich unliebsamer kritischer Staatsstreich-Geister zu entledigen, selbst wenn sie zuvor gerufen worden waren: Halder schimpfte am 13. Januar 1940 nicht nur „auf alle Leute, die an Putsch dächten“, sondern sorgte bei Abwehrchef Canaris dafür, daß der unbequeme Groscurth versetzt wurde. Canaris, der sich hinter seine engsten Mitarbeiter stellte, machte Halder am 13. Fe-
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bruar 1940 darauf aufmerksam, Groscurth und Oster „hätten nur im Auftrag gehandelt. Die Pläne für Berlin usw. seien mit Etzdorf zusammen hier in Zossen ausgearbeitet. Hier hat Halder seine Unkenntnis beteuert und alles auf Stülpnagel geschoben! Ein starkes Stück!“ So Groscurth in seinem Tagebuch. Die Erfahrungen des Winters 1939/40 und die Auflösung von Groscurths Abteilung im Februar 1940 ließen Etzdorf – bei aller harschen Regime-Kritik im Freundes- und Kameradenkreis – fortan vorsichtiger werden: von konkreten Aktionen hielt er sich fern. Statt dessen sah er seine Hauptaufgabe darin, die sich aus seiner Dienststellung als Verbindungsmann ergebenden Informations- und Reisemöglichkeiten zu nutzen und für eine ungeschminkte Unterrichtung über die außenpolitische und militärische Lage zu sorgen, und zwar sowohl bei Halder und Weizsäcker als auch bei den Regime-Gegnern. Davon profitierte insbesondere Ulrich von Hassell, der mittlerweile mit Beck und dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler zu den führenden Persönlichkeiten des national-konservativen Widerstandes zählte. Ein gemeinsamer Spaziergang mit Etzdorf im Januar 1940 fand einen Niederschlag in Hassells Tagebuch: „Er sieht ganz klar, hat aber kein Zutrauen zu den Generalen. Von den drei Oberbefehlshabern sei Bock eitel, denke an seine künftige Dotation, Rundstedt ramolli, und Leeb der einzige, mit dem etwas zu machen sei.“ Aus der Enttäuschung über die Generalität zog Oster sicherlich die drastischste Konsequenz: Er gab die immer wieder angesetzten und plötzlich wieder verschobenen Angriffstermine des Diktators dem niederländischen Militärattaché in Berlin, Major Saas, preis. Damit beging Oster Landesverrat, ohne allerdings dafür von einer ausländischen Macht irgendwelche finanziellen Gegenleistungen zu erhalten; er handelte mit dem – nach Reichsstrafgesetzbuch zu ahndenden – „Vorsatz, das Wohl des Reiches zu gefährden“, weil er das Wohl des deutschen Volkes noch höher einstufte. Sein Tun faßte er als Widerstandshandlung auf, um einen Weltkrieg zu verhindern und ein als hochgradig verbrecherisch erkanntes Regime zu stürzen. Dies ging vielen Hitler-Gegnern, die damals nichts davon wußten, entschieden zu weit, selbst rückblickend lehnten sie Osters Aktion ab. Für Etzdorf hieß die „patriotische Pflicht“ einzig und allein Hochverrat – ohne jede Hilfestellung potentieller oder tatsächlicher gegnerischer Mächte, ohne irgendeine Weitergabe militärischer Geheimnisse an die „Gegenseite“. Zu einem Staatsstreich fand sich während der weiteren Vorbereitungen des Frankreich-Feldzuges niemand mehr bereit, und nach dem Sieg vom Juni 1940, nach dem Einmarsch in Paris, stand Hitler auf dem Höhepunkt seines Ansehens. So konnte er sich von der nationalsozialistischen Propaganda feiern lassen als „größter Feldherr aller Zeiten“, und das deutsche Volk samt seiner Generale glaubte sogar daran. Trotz aller Freude über die Revanche für die Niederlage von 1918 und für die Demütigungen in Versailles drängte Etzdorf den Oberbefehlshaber des Heeres, „die Bande im Führerhauptquartier“ mit Hilfe eines Offiziers-Bataillons zu verhaften. Daraufhin schwieg Brauchitsch allerdings, reagierte nur „mit den Lippen“ – so ist
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es von Walter Bußmann aufgrund der Aussage des bei diesem Gespräch anwesenden Majors im Generalstab Bleicken überliefert. Daß sich bei Etzdorf Anzeichen von Resignation bemerkbar machten, fiel auch der jungen russischen Prinzessin Marie Wassiltschikow auf, die in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amts arbeitete und am 17. Juli 1940 ein langes Gespräch mit ihm über Frankreich führte. Anschließend vertraute sie ihrem Tagebuch an: „Er steht im Ruf, ein sehr guter Mann zu sein, aber diese Was-geht-es-mich-an-Einstellung statt offener Kritik, die selbst einige der besten Deutschen als eine Art Selbstschutz an den Tag legen, während sie sich zugleich von den gegenwärtigen Herren des Landes und deren Taten distanzieren, beängstigt mich zuweilen. Denn wenn sie nicht für ihre Überzeugungen einstehen, wo soll dann alles enden?“ Etzdorf sah für sich persönlich in diesen Wochen nur einen Ausweg: den goldbetressten „Josephs“ im Oberkommando des Heeres und dem „entfesselten Proletheus“ Hitler zu entfliehen in die geliebte asiatische Welt. Für den Gesandtenposten in Mandschukuo ins Gespräch gebracht, wandte sich Etzdorf im August 1940 an den Dirigenten der Personalabteilung, den Gesandten Helmuth Bergmann: „Meine Entsendung nach Hsinking würde zweifellos – dies glaube ich ohne Unbescheidenheit sagen zu können – bei den japanischen Stellen als Geste von Entgegenkommen unsererseits gewertet werden, denn man hält mich für fähig, die japanische Politik zu verstehen.“ Auch Weizsäcker unterstützte den Versetzungswunsch, der jedoch am heftigen Einspruch Ribbentrops scheiterte. Während sich Erich Kordt im folgenden Jahr an die Botschaft Tokyo absetzen konnte, hatte Etzdorf die „verdammte Pflicht“ – so einmal Alexander Stahlberg – zu erfüllen. Unmittelbar vor Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ suchte er zusammen mit Hans Bernd von Haeften, der damals Vortragender Legationsrat in der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts war, Ulrich von HasseIl auf. Sie beratschlagten, wie sie den ehemaligen Botschafter an Brauchitsch heranbringen könnten, dem die politische Lage klargelegt und der gegen den geplanten Angriff auf die UdSSR aktiviert werden sollte. Schon bald nach dem Gespräch mußte Etzdorf, wie im Hassell-Tagebuch überliefert, seinem alten Chef mitteilen, „daß es wieder nichts geworden sei“ – Brauchitsch wollte den Ex-Botschafter gar nicht erst sehen. Der rassenideologische Vernichtungskrieg gegen die UdSSR brachte es mit sich, daß das Oberkommando des Heeres nicht mehr in Zossen, sondern weiter ostwärts am Mauersee in Ostpreußen – nahe dem Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ – untergebracht wurde. Als das Führerhauptquartier von August bis Ende Oktober 1942 vorübergehend in die Nähe von Winniza in der Ukraine verlegt wurde, nutzte Etzdorf einen Aufenthalt im „Werwolf“ zu einer Reise in den Kaukasus – auf den Spuren des großen russischen Dichters Michail Jurjewitsch Lermontow. Dessen Roman mit dem ironisch gemeinten Titel „Ein Held unserer Zeit“ schätzte der deutsche Rittmeister ganz besonders: Petschorin, ein junger Offizier, hat sich selbst zu Untätigkeit und Resignation verdammt, weil er allen Genuß und alle Erkenntnis als schal empfindet. „In mir sind zwei Menschen: der eine lebt im vollen Sinn des Wortes, der andere überdenkt und beurteilt ihn“, sagt Petschorin von sich selbst. In
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dem festen Glauben, am Lauf der Welt nichts ändern zu können, ist er ständig auf der Suche nach Zerstreuung und ständig im Kampf gegen die Langweile – fühlt sich also selbst als ein überflüssiger Mensch. Das Wohnhaus Lermontows, der zweimal in den Kaukasus strafversetzt worden war, besuchte Etzdorf am 16. Oktober 1942, um sich aus dem wunderschönen Garten einige Blätter von dem Nußbaum mitzunehmen, „der schon damals vor Lermontows Fenster stand“. Anschließend ließ er die Stätte in Pjatigorsk auf sich einwirken, wo der siebenundzwanzigjährige Dichter und Offizier am 27. Juli 1841 bei einem Duell ums Leben gekommen war. Von der Weltschmerz-Poesie zurück zum Weltkriegs-Alltag: Auf Etzdorfs Beförderung zum Major am 17. Oktober 1942 meldete sich Helmuth Groscurth – zwischenzeitlich Chef des Generalstabs des XI. Armeekorps, das der 6. Armee unterstand – mit einer Anspielung auf die geflochtenen silbernen Schulterstücke des frischgebackenen Stabsoffiziers: „In den Personalveränderungen las ich heute zu meinem Erstaunen, daß man Sie nun auch schon für würdig gehalten hat, Sie in die Klasse der Raupenschlepper einzureihen. Ob das heute noch eine besondere Ehre ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Immerhin erlaube ich mir, Ihnen meine herzlichsten Glückwünsche auszusprechen. Ihre militärischen und diplomatischen Fähigkeiten haben es ja leider auch nicht vermocht, die Amerikaner von Afrika fernzuhalten. Sie werden sich über dieses Versagen vermutlich trösten auf einem ausgiebigen Besuch im bisher unbesetzten Frankreich. Schade, daß man sich nicht mal sieht, der Osten hat ja für Sie keine Reize, was ich durchaus verstehe. Mir wäre auch wohler im Westen. Wir warten auf neue russische Angriffe. Der Winter ist mit aller Macht eingebrochen. Es ist schon verteufelt kalt, minus 208 und ein eisiger Steppensturm. Die russischen Flieger machen einem das Leben weiter schwer. Unsere [rumänischen] Verbündeten sind keine beruhigende Nachbarschaft, da auf sie sich wohl der Hauptangriff richten wird.“ Wenige Tage nach Abfassung dieses Briefes trat das von Groscurth Befürchtete mit dem Beginn der sowjetischen Großoffensive ein; am 22. November wurde die 6. Armee nach Vereinigung der gegnerischen Stoßkeile bei Kalatsch eingeschlossen. Noch vor dem Debakel an der Ostfront trat für den Verbindungsmann zwischen Auswärtigem Amt und Oberkommando des Heeres eine erste dienstliche Veränderung ein. Ende September 1942 wurde Halder entlassen und durch Kurt Zeitzler ersetzt, den Etzdorf als vollkommen Hitler-hörig einschätzte. Nach der Tragödie von Stalingrad, die Groscurth Kriegsgefangenschaft und frühen Tod brachte, kam es im Frühjahr 1943 zu einem größeren Revirement im Auswärtigen Amt, nachdem der Leiter der Deutschland-Abteilung, Unterstaatssekretär Martin Luther, bei dem Versuch einer groß angelegten Intrige gegen Ribbentrop gescheitert war. Auch das blieb für Etzdorf nicht ohne Folgen, denn Weizsäcker wurde an den Vatikan versetzt. Zum neuen Staatssekretär der Wilhelmstraße ernannte Ribbentrop am 31. März 1943 Gustav Adolf Baron Steengracht von Moyland. Der 41-jährige Jurist, Landwirt und ehemalige Kreisbauernführer war 1936 bis 1938 Landwirt-
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schafts-Attaché unter Ribbentrop in London und seither im Persönlichen Stab des Reichsaußenministers gewesen. In einem Brief an seinen langjährigen Mitarbeiter Jacobus Reimers kommentierte Etzdorf die Vorgänge im Auswärtigen Amt in unnachahmlicher und der für ihn charakteristischen plastischen Weise: „Die Personalveränderungen sind in der Tat bemerkenswert. Die Gegenreformation hat auf der ganzen Linie gesiegt, der Reformator sitzt im KZ, wie er es aufgrund des schmählichen Treubruchs an seinem allzeit gütigen Herrn nicht anders verdiente. Der neue Meister bringt außer dem Schwergewicht seiner Persönlichkeit genaueste Kenntnisse in der Führung eines seigneuralen Haushalts mit, und das ist heute wichtiger denn je. Allseits anerkannt war seine Tätigkeit im Rangieren der Autokolonnen bei An- und Abfahrt von distinguished foreigners. Man könnte seiner steilen Lebenskurve das Motto voran setzen: ,Vom Wagenmeister zum Staatssekretär‘. Im übrigen: Jugend soll durch Jugend geführt werden! Im Grunde genommen finde ich das alles aber nicht (mehr) sehr erheblich. Viel mehr beschäftigt mich die Frage, wie ich mich elegant von diesem Affenstall lösen kann, um ein eigenes majorennes Leben zu führen. Wenn die guten Leute nur realisierten, wie gering heute die vis attractiva des AA ist!“ Daß Verstrickung in Verbrechen und Ablehnung des nationalsozialistischen Regimes einander nicht ausschlossen, wurde Etzdorf durch den ihm seit 1939 bekannten und 1941 zum Generalquartiermeister ernannten Eduard Wagner bewußt. Der General der Artillerie war zunächst einer der „Väter“ der berüchtigten „Einsatzgruppen“ gewesen, wandte sich dann aber mehr und mehr von Hitler ab. Etzdorf gehörte zu den wenigen Offizieren, mit denen der etwas genießerisch und caesarisch veranlagte Wagner, der dem gemeinsamen Kasino im Hauptquartier in der Regel fernblieb, auch außerdienstlich Kontakt pflegte, weil er ihm besonderes Vertrauen schenkte. So war der Verbindungsmann am 10. Juli 1944 zugegen, als ein Himbeerbowle-Abend durch einen Anruf von Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatzheeres in Berlin, gestört wurde, der die lange erwartete Aktion ankündigte. Darauf Wagner zu Stauffenberg: „Gut, dann müssen wir für den Schutz von Zossen sorgen. Sie können meine Maschine kriegen.“ Nach dem Angebot des Dienstflugzeugs des Generalquartiermeisters, das Stauffenberg die schnelle Rückkehr aus der „Wolfsschanze“ in die Reichshauptstadt ermöglichen sollte, fragte Wagner: „Sollen wir es wirklich machen? Die Sache ist doch nicht populär.“ Darauf Etzdorf: „Man muß den Mut haben, unpopulär zu sein. Wenn es populär ist, ist es zu spät.“ Schließlich Wagner: „Sie haben recht!“ Als Stauffenberg erneut anrief, bestätigte ihm Wagner: „Es bleibt also dabei …“ (nach einer Schilderung gegenüber Helmut Krausnick). Am nächsten Tag führte Stauffenberg das Attentat auf Hitler nicht aus, weil SSReichsführer Himmler bei der Lagebesprechung im Führerhauptquartier nicht anwesend war; als einer der präsumtiven Nachfolger sollte er einem Anschlag auf keinen Fall entkommen dürfen. Den 16. Juli 1944 verbrachte Etzdorf auf Gut Steinort. Heinrich Graf von Lehndorff hatte eingeladen: „Wir aßen im Garten und genossen die trügerische
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Stille des Abends, an dem keiner der wenigen anwesenden Gäste viel sprach. Auf dem Hausherrn lastete neben der Sorge um die Zukunft seiner Heimat die Sorge um den ,Dienst an einer Idee‘, von der er glaubte, ,daß sie Rücksicht auf Familie und Privates nicht rechtfertigt‘ […] Auch General Fellgiebel, von der Verantwortung, die er auf sich genommen hatte, und dem inneren Kampf, der dieser Entscheidung vorausgegangen sein mußte, sichtbar gekennzeichnet, war still und in sich gekehrt. Unser aller Gedanken galten den kommenden Tagen …“ – so erinnerte sich Rittmeister der Reserve Ferdinand Prinz von der Leyen in seinem „Rückblick zum Mauerwald“. Der Stab des Generalquartiermeisters verlud am 17. Juli 1944, um nach Zossen zurückzukehren, nachdem die russische Front sich bereits auf 100 Kilometer genähert hatte. Etzdorf selbst reiste am 20. Juli ab. Am Nachmittag dieses Tages warnte der Chef des Wehrmacht-Nachrichten-Verbindungswesens im Oberkommando der Wehrmacht, Fellgiebel, der für die völlige Nachrichtensperre aus dem Führerhauptquartier nach der um 12.42 Uhr erfolgten Bombenexplosion zu sorgen hatte, die Verschwörer in der Bendlerstraße in Berlin per Telefon und bewußt doppeldeutig formuliert, daß sich „etwas Furchtbares“ ereignet habe: „Der Führer lebt.“ Etzdorf hörte in Angerburg „durch Radio vom Anschlag auf Fü(hrer)“ und traf erst am 21. Juli in der Wilhelmstraße ein: „Im Amt alles im Zeichen des Mordanschlags.“ Die späte Ankunft bewahrte ihn vor der ersten Verhaftungswelle und lenkte auch anschließend keinen unmittelbaren Verdacht auf ihn. Obwohl er nicht direkt in die Umsturzvorbereitungen involviert gewesen war und die Erfolgschancen als sehr gering eingestuft hatte, war er durch vielfältige persönliche Verbindungen – wie Marie Wassiltschikow treffend festhielt – „schwer kompromittiert“. Wenige Tage später bestätigte er ihr gegenüber das „Gerücht, daß Fritzi Schulenburg Listen der Verschwörer und der für sie vorgesehenen Posten aufbewahrt habe. Wahnsinn!“ Um Hilfe für den verhafteten Adam von Trott zu Solz gebeten, erwiderte er der Prinzessin, „das Schlimmste sei, daß kein Mann in einflußreicher Stellung mehr übrig sei, an den man sich wenden könne“. Marie Wassiltschikow „hatte das Gefühl, daß er damit rechnete, jeden Augenblick selbst verhaftet zu werden; er blickte sich ständig um und hielt im Sprechen inne, sobald er ein Geräusch hörte“. Während Stauffenberg und dessen Adjutant Werner von Haeften noch am Abend des 20. Juli 1944 füsiliert worden waren und General Wagner sich am 23. Juli seinen Häschern durch Freitod entzogen hatte, wurden – um nur einige aus Etzdorfs Bekanntenkreis zu nennen – im August Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, Hans Bernd von Haeften, Adam von Trott zu Solz und Carl-Heinrich von Stülpnagel, im September Heinrich Graf von Lehndorff, Erich Fellgiebel und Ulrich von Hassell, im Oktober Eduard Brücklmeier und im Dezember Caesar von Hofacker hingerichtet. Hofacker war ein Vetter der Stauffenberg-Brüder und der Motor des Widerstandes in der französischen Metropole gewesen, übrigens unterstützt von
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Etzdorfs altem und während des Krieges in Paris oft besuchten Studienfreund Gotthard von Falkenhausen, dem kommissarischen Verwalter mehrerer französischer Banken und Industriefirmen. Auch Falkenhausen wurde vor Freislers Volksgerichtshof gestellt, aber im Januar 1945 freigesprochen. Der Schmerz über den Verlust der Freunde während der größten Menschenjagd des nationalsozialistischen Regimes und die ständige Angst um das eigene Leben griffen Etzdorfs Gesundheit an. Ab 5. September mußte er sich für mehrere Wochen in einem Lazarett in Dresden wegen Herzmuskelschadens behandeln lassen. Danach setzte er alles daran, den Absprung aus Berlin zu schaffen. Staatssekretär Steengracht und dem Leiter der Personalabteilung, Hans Schroeder, war es zu verdanken, daß Etzdorf im Januar 1945 mit der kommissarischen Leitung des Generalkonsulats in Genua beauftragt wurde. Als Egmont Zechlin, der Historiker und Freund seit Ende der zwanziger Jahre, den neuen Posten ein „Himmelfahrtskommando“ nannte, entgegnete Etzdorf, „er würde entweder von den Partisanen totgeschlagen oder ,Kippe machen‘“. Ein Grund zum Feiern war also auf jeden Fall gegeben: am 11. Februar 1945 veranstaltete Etzdorf in seiner halb ausgebombten Berliner Wohnung eine Abschiedsparty. Für erstklassige Unterhaltung sorgte sein „ewig gegenwärtiger Leibtrompeter“, der sich beim „Hochmeister wahrhaft edlen Küchentums“ und Propagandisten des Sinnspruchs „Viele Hasen sind des Jägers Tod“ (Ullrich über Etzdorf) immer besonders wohl fühlte: „Melancholischer Abend in völlig chaotischer Wohnung. Ein Freund […] aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, eine Figur, die E. T. A. Hoffmann ersonnen haben könnte, hielt im Luftschutzstahlhelm und Russenpelz mit düsterer Stimme eine Ansprache nach der anderen, in wohlgewählten, aber völlig sinnlosen Worten. Der reinste Surrealismus“ – so die Journalistin Ursula von Kardorff in ihren „Berliner Aufzeichnungen“ über den Auftritt des „Polarchibalds“ Johannes Ullrich. Am 15. Februar 1945 traf Etzdorf in der ligurischen Hafenstadt ein, deren Einzugsgebiet über die norditalienischen Industriezentren Mailand und Turin bis in die Schweiz und nach Süddeutschland reicht. 13 Jahre zuvor war er von hier zu seinem ersten Auslandsposten nach Tokyo aufgebrochen. Gleich nach der Ankunft ließ er die Berliner Freunde wissen: „Nun sitze ich am Mittelmeer – und habe keine Mittel mehr!“ Über ein besonderes Kapital für den schwierigen Posten verfügte er allerdings: Seine persönlichen Beziehungen zu dem Himmler-Intimus und „Höchsten SS- und Polizeiführer in Italien“, Obergruppenführer Karl Wolff, einem Fahnenjunker-Kameraden aus dem Jahr 1917, und zu dem deutschen Botschafter in Mussolinis norditalienischer Rest-Republik von Salò, Rudolf Rahn, dem Crew-Kameraden aus dem Jahr 1928, der jetzt seinen Dienstsitz in Fasano am Gardasee hatte. Gemeinsam machten sie es sich zur Aufgabe, einen „Führerbefehl“ von Ende Dezember 1944 über die Häfen von Triest und Genua nicht zur Ausführung kommen zu lassen, der unmißverständlich und zynisch lautete: „Führer habe eindeutig entschieden, daß im Bedarfsfall beide Häfen völlig zu zerstören seien. Halbe Arbeit, wie z.[um] B.[eispiel] nur Lähmung, würde kein Resultat haben. Italiener sollen sich klar darüber sein, daß dieser Kampf um ihre Existenz ginge. Würde Krieg
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verloren, so sei sowieso ihr wirtschaftlicher Ruin besiegelt. Häfen würden ihnen dann nichts nützen. Würde Krieg gewonnen, so könnten auch Häfen bald wieder aufgebaut werden. Es gäbe dann so viel Arbeit zu leisten, daß Italiener keine Angst vor Arbeitslosigkeit zu haben brauchten“ – soviel aus dem Telegramm von Rahn vom 31. März 1945 an Etzdorf, mit dem der Generalkonsul über die Weisung aus Berlin vom 1. Januar 1945 informiert wurde. Umfangreiche Vorbereitungen für die Sprengung der riesigen Hafenanlagen, der großen Mole und der Ansaldo-Schiffswerke waren bereits von deutschen Marinedienststellen getroffen worden, um die „Königin des Mittelmeers“ in Schutt und Asche zu legen. Erst nach intensivem und wiederholtem Vorstelligwerden bei Generaloberst Heinrich von Vietinghoff, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Italien/ Oberbefehlshaber Südwest, und beim Oberkommando der deutschen Kriegsmarine konnte Rahn schließlich am 18. April 1945 Etzdorf mitteilen: „Großadmiral Dönitz hat sich unserer Auffassung angeschlossen und Beschränkung auf sparsamste Lähmungsmaßnahmen angeordnet. Größere Zerstörungen werden nur vorgenommen, wenn wir in den Hafengebieten unmittelbar angegriffen werden, also nicht im Fall einer Absatzbewegung. Bitte diese Mitteilung vorsichtig auswerten und amtliche und industrielle Kreise dafür gewinnen, daß auf Rebellenorganisation und Arbeiterschaft eingewirkt wird, nicht durch törichte Provokationen unnötige Zerstörungsmaßnahmen auszulösen.“ Am 22. April 1945 erfuhr Etzdorf, daß sich die deutschen Truppen in Genua zum baldigen Abmarsch vorbereiten sollten. Am nächsten Tag ermächtigte ihn der Kampfkommandant, Generalmajor Meinhold, „den bevorstehenden Abzug in geeigneter Form italienischen Stellen mitzuteilen, nachdem ohnehin das allgemeine Packen dies der Bevölkerung vor Augen führt“. Von Kapitän Berninghaus, dem deutschen Seekommandanten in Nervi, erhielt Etzdorf zudem die Erlaubnis, den Italienern zu eröffnen, „daß wir Hafen und Ansaldo nicht zerstören, sondern nur Hafen lähmen würden“. Daraufhin arrangierte Etzdorf umgehend ein Treffen zwischen dem Seekommandanten und Direktor Rosini von den Ansaldo-Werken. Dabei bediente sich der Generalkonsul der Vermittlung durch den Koadjutor des Kardinals von Genua, Bischof Guiseppe Siri. Den hohen geistlichen Würdenträger in einer Stadt, deren erster Bischof für das Jahr 381 bezeugt ist, hatte Etzdorf im Salon der Marchesa Cattaneo Spinola kennengelernt, einem wichtigen Treffpunkt während der Kriegswirren: „Ich erkläre den Herren folgendes: Die deutsche Truppe beabsichtige, Ligurien zu räumen; letzte Soldaten würden aber G.[enua] nicht vor 4 – 5 Tagen verlassen haben. Mit Abfahrt der fasch.[istischen] Autoritäten sei zu rechnen. Da wir solange unsere Truppe noch nicht fort sei, ein Interesse daran hätten, daß in G.[enua] Ruhe und Ordnung herrsche, bäte ich Bischof zu überlegen, wer wohl für einen provisorischen Verwaltungsausschuß in Frage käme. Ich dächte an Persönlichkeiten ohne colore politica, die Vertrauen genössen. Wiederholung Hafenmaßnahmen, Hinweis, daß wir sprengen würden, wenn man uns angriffe, daß wir auch starke Batterien auf den Höhen um Monte Naoro hätten.“ Darüber hinaus machte Etzdorf deutlich, daß dringend auf das Comitato di Liberazione Nazionale
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(CLN) eingewirkt werden müsse, „still zu halten bis Truppe abgezogen sei“. Daran hielten sich die Partisanen allerdings nicht, und so kam es noch am Abend und am folgenden Tag zu einer „allgemeinen Knallerei“ in der Stadt und besonders im Hafen. Etzdorf führte daraufhin am Nachmittag des 24. April Dr. Giovanni Savoretti vom Befreiungskomitee vor Augen, „daß Artillerie schießen müsse, wenn man Beschießung [der deutschen] Hafenbesatzung fortsetze. Erwartet würde vor allem kriegsrechtgemäße Behandlung unserer Gefangenen.“ Durch ein wenige Stunden später von Savoretti überbrachtes Schreiben des CLN wurde dem Generalkonsul zugesichert, daß sich ergebende Deutsche als Kriegsgefangene behandelt werden würden. „Im übrigen“ – so notierte sich Etzdorf – „hätten sich soeben 400 Seesoldaten bei Foce ergeben; sie würden in ihrer Unterkunft belassen werden und ,latte e marmelata‘ erhalten.“ Gegen 21 Uhr teilte Savoretti „namens Comitato mit: Parlamentär sei zu Gen[eral] M[einhold] unterwegs mit folgendem Ultimatum: 12.000 Partisanen mit engl.[ischer] Führung und Waffen marschieren auf G.[enua]; Giovi bereits besetzt. Im Hinblick auf Stärkeverhältnis sei weiterer d[eutscher] Widerstand zwecklos, Ausweichen sei unmöglich. Aufforderung Übergabe zu erklären, die con onore delle arme angenommen werden. Gelte aber nur für NichtItaliener. Bei weiteren Zerstörungen in Hafen und Stadt Behandlung [der deutschen] Truppe als Kriegsverbrecher.“ Trotz Hitlers Befehl, daß niemand sich in Gefangenschaft begeben dürfe, mußte der aussichtslosen militärischen Lage und dem Mangel an Verpflegung und Munition Rechnung getragen und auf mittlerweile 100 schwerverwundete deutsche Soldaten Rücksicht genommen werden. Etzdorf sah nur eine Möglichkeit: mit Unterstützung von Bischof Siri den Kampfkommandanten General Meinhold und Vertreter der CLN zu Verhandlungen im Hause des Kardinals Boetto zusammenzubringen. Weil Meinhold auf Etzdorfs Teilnahme bestand, ließ er sich am 25. April 1945 von Savoretti mit dem Auto abholen: „Stürmische Fahrt durch die Stadt mit aufgeregten Menschen mit und ohne Waffen. Die meisten tragen rote Embleme (Mützen, Halstücher, Binden). Überall knallt es. Im Haus des Kardinals treffe ich drei Vertreter [des] CLN (Vors.[itzender] Kommunist), Kardinal [Boetto] selbst, Bischof [Siri], commandante piazza nebst verwegen kostümierter Wache. Nach 10 Minuten Eintreffen M.[einhold]s (begrüßt a la Chef d’Etat: Sekretär am Wagen, Bischof auf der Treppe, Kardinal am Hauseingang). Er erklärt mir: Er sei gekommen, um Übergabe (resa) anzubieten, formal um über freien Abzug zu verhandeln. Dieser würde aber keinesfalls gewährt werden, andererseits sei, wie er sich bei seiner Fahrt noch besonders überzeugen konnte, weiterer Widerstand nutzlos. Also bleibe nur resa übrig. Ich erkläre, daß ich an Verhandlungen nicht teilnehmen würde, da es sich um einen rein militärischen Vorgang handele, ich würde aber draußen im Garten warten und stünde dort zu Beratung und Aussprache zur Verfügung. […] Schließlich um 19.00 [Uhr] Unterzeichnung des Protokolls der Übergabe. Bedingungen: Behandlung als Kriegsgefangene nach Kriegsrecht, besond.[ere] Betonung [des] Eigentumrechts [der] Soldaten an eigenen Sachen, spätere Abgabe an Alliierte. Inkrafttreten am nächsten Morgen um 9.00 [Uhr].“
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So konnte der deutsche Generalkonsul vor dem Einmarsch der alliierten Truppen am 27. April 1945 durch diplomatisches Verhandlungsgeschick und couragiertes Verhalten dazu beitragen, das seit dem „drohenden Unheil“ von 1939 weit überzogene Konto der deutschen Verbrechen nicht noch mit der Zerstörung Genuas und einem größeren Blutvergießen zu belasten. Nachdem die deutschen Armeen in Italien unter Vietinghoff gegenüber den alliierten Streitkräften unter dem britischen Feldmarschall Sir Harold Alexander kapituliert hatten, wurde Etzdorf am 3. Mai 1945 in Salsomaggiore interniert – fünf Tage vor der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht, dem totalen Zusammenbruch des „Dritten Reiches“, der vollständigen Besetzung Deutschlands und damit der unleugbaren Niederlage. * Aus der Perspektive der Sieger mußte Etzdorf auf Grund seiner Herkunft und seiner Karriere als typischer Vertreter des Preußentums, das ganz pauschal mit Junkertum und Militarismus gleichgesetzt wurde, erscheinen. Und weil die „Entpreußung“ Deutschlands als vorrangiges Kriegsziel der anglo-amerikanischen Mächte galt und die unvorstellbaren Untaten aus der Zeit des „Dritten Reiches“ keine Unterscheidung mehr zwischen „guten“ und „bösen“ Deutschen, sondern eine Identifizierung zwischen Deutschen und Nazis und eine deutsche Kollektivschuld nahezulegen schienen, hatte das Kriegsende 1945 für ihn zweieinviertel Jahre hinter Stacheldraht zur Folge – erst in britischem, dann in amerikanischem Gewahrsam. Etzdorfs Humor blieb dennoch ungebrochen: wenn der ehemalige Major und Generalkonsul zum „Revierreinigen“ der Flure und Toiletten der Unterkunft eingeteilt war, begrüßte er die Mitgefangenen mit „Putz Blitz!“ Ohne etwas „verbrochen“ zu haben, war er nun gezwungen, sich zu rechtfertigen: er fertigte Berichte über seine Tätigkeit beim Oberkommando des Heeres beziehungsweise in Genua an und bemühte sich um entlastende Zeugenaussagen. Ilse von Hassell, die Witwe Ulrich von Hassells, bestätigte ihm am 19. Dezember 1946: „[…] aus den Tagebüchern meines Mannes geht Ihre Tätigkeit als Gegner Hitlers und als Nachrichtenübermittler für meinen Mann klar hervor. Ich glaube, daß Sie gerade als Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes zu militärischen Dienststellen meinem Mann besonders nützliches Nachrichtenmaterial bringen konnten, und wundere mich, daß Sie der Gestapo entgingen.“ Unter dem Datum des 5. Februar 1947 bescheinigte Ernst von Weizsäcker, mittlerweile aus Lindau-Reutin am Bodensee: „Hasso v.[on] Etzdorf hat mich im Herbst 1939 über die Einzelheiten des von der Widerstandsgruppe Beck-Goerdeler-Canaris beabsichtigten Putsches laufend unterrichtet. Etzdorf hatte mit dieser Gruppe enge Fühlung, und ich betrachtete seine Tätigkeit bei dem Oberkommando des Heeres in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Erkundung und Förderung der genannten Pläne. Etzdorf war durch die Abwehr von der Überwachung der Gestapo gegen ihn vertraulich unterrichtet und hat mir seine Besorgnisse wegen Verhaftung wiederholt zum Ausdruck gebracht.“
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Ernst-Arthur Voretzsch, Chef auf Etzdorfs erstem Auslandsposten und zwischenzeitlich der gefürchtete Vorsitzende der Spruchkammer Ansbach-Land, schilderte am 21. Januar 1947 seine Sicht der Umstände, die zum NSDAP-Beitritt führten: „In Tokyo bildete sich verhältnismäßig spät nach der sogenannten Machtergreifung hauptsächlich unter den kleinen Angestellten und nicht reüssierenden Kaufleuten eine Art provisorische Ortsgruppe der NSDAP, die mit viel Geschrei und Gerüchte-Verbreitung die Politik der Botschaft und ihre Mitglieder angriff. Mitglieder der Botschaft gehörten ihr zunächst schon deshalb nicht an, weil ihnen u.[nter] a.[nderem] der Vorwurf des Verkehrs mit den jüdischen Mitbürgern der deutschen Gemeinde gemacht wurde. Als sich der Kreis jener Ortsgruppe bedenklich vergrößerte und die Gefahr politischer Verwicklungen erkennbar wurde – es wurde schon damals von japanischer Seite zweimal wegen eines japanisch-deutschen Bündnisses sondiert, von uns aus gesehen mit negativem Erfolg – und Etzdorf der Beitritt zu der Ortsgruppe angetragen wurde, habe ich, auf Anfrage von Etzdorf, mich dahin geäußert, daß es mir aus politischen Gründen wünschenswert erschiene, daß er sich tarne und das Angebot annehme, weil ich auf diese Weise erfahren würde, was von jenen unreifen Burschen und Nichtskönnern in der Ortsgruppe gespielt und der Botschafter so in die Lage versetzt würde, durch persönliche Korrespondenz mit gleichgesinnten Freunden in der Zentrale politische Entgleisungen und eine nach unserer Auffassung unglückliche Außenpolitik rechtzeitig zu verhindern. Etzdorf sah das ein und opferte sich daraufhin schweren Herzens und aus Pflichtgefühl durch seinen Beitritt für die Politik des Anstandes und der Vernunft. Irgendeine Tätigkeit aber für den Nationalsozialismus hat Etzdorf auch in dieser Tarnung niemals ausgeübt, er war vielmehr beständig Angriffen und auch persönlichen Mißhelligkeiten ausgesetzt; ich selbst habe leider Etzdorf nicht mehr decken können, da Hitler mich 1933 unter dem Deckmantel des Erreichens der Altersgrenze auf die Liste der zu Entlassenden setzte.“ Bis zum 7. August 1947 war Etzdorf im Lager Hohen-Asberg bei Ludwigsburg interniert. Laut Entlassungsschein war er angewiesen, sich „14-tägig beim öffentl.[ichen] Kläger der Heimatspr.[uch]-Kammer zu melden“. Dem Lagerleben folgte erst einmal das Leben auf Schloß Waal bei Buchloe, das sich seit 1820 im Besitz der Familie seines Kriegskameraden und Freundes Ferdinand Prinz von der Leyen befand. Dort konnte er sich auf die Verhandlung vor der Spruchkammer in Kaufbeuren vorbereiten, die ihn am 28. Mai 1948 in die Klasse V „entlastet“ einstufte. Wichtig war übrigens in diesem Zusammenhang das Zeugnis von Voretzsch, so daß für Etzdorfs Parteizugehörigkeit „nur der Begriff des Mitläufers zutreffen konnte“. Die Spruchkammer kam zu dem Schluß, daß er sich „nicht nur passiv verhalten, sondern nach Maß seiner Kräfte aktiven Widerstand geleistet“ und „dadurch Nachteile erlitten“ habe; letztere erkannte die Kammer darin, „daß der Betroffene seelisch dauernd unter Druck stand“. Über sein Verhalten in Genua wurde schließlich festgestellt, daß Etzdorf „menschliche Gedankengänge vor nazistischen Starrsinn“ gestellt und versucht habe, „vom deutschen Ansehen im Ausland zu retten, was noch zu retten war“.
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Im Juli 1948 sagte der – nach dem Eindruck der Prozeßbeobachterin Margret Boveri – „strahlend liebenswürdige“ Etzdorf im „Wilhelmstraßenprozeß“ in Nürnberg zugunsten seines alten Chefs Weizsäcker aus. Ursula von Kardorff war für die „Süddeutsche Zeitung“ im Gerichtssaal zugegen, als sich Etzdorf „am klarsten“ zu den Zielen der Hitler- Gegner im Auswärtigen Amt ausdrückte: „Was wir in der Opposition getan haben, geschah unter dem Druck eines revoltierenden Gewissens. Wir haben Deutschland nicht an das Ausland verkauft. Hitler und sein System sollten von innen heraus beseitigt werden. Hierfür hat Weizsäcker sein Leben aufs Spiel gesetzt, denn er war ja nicht mehr Herr seiner selbst, nachdem er sich der aktivistischen Opposition in die Hand gegeben hatte.“ Damit umschrieb er treffend die Rolle des Staatssekretärs, der einerseits von den Vorbereitungen für einen Staatsstreich wußte, andererseits den Regimesturz nicht selbst betrieb. Weizsäcker war darin Etzdorfs eigener Einstellung seit dem vergeblichen Versuch, im Oktober/November 1939 den Aufstand der Generale herbeizuführen, durchaus ähnlich – jedenfalls, bis er seinem stets unerbittlichen Urteil über die nationalsozialistischen Machthaber auf seinem Posten in Genua wieder den Willen zur Tat folgen ließ. Welch nachhaltigen positiven Eindruck Etzdorf als Generalkonsul hinterlassen hatte, erfuhr Egmont Zechlin, der auf der internationalen Fünfhundertjahrfeier des Geburtstages von Christoph Columbus gleich bei der Eröffnungsveranstaltung Guiseppe Siri, seit 1947 Erzbischof, vorgestellt wurde: „Er läßt Sie grüßen und nannte Sie ,un diplomat magnifique‘ und zugleich ,gentilhomme‘. Er freut sich, daß Sie wieder Diplomat sind“ – so Zechlin am 16. März 1951 auf einer Postkarte an Etzdorf, die natürlich den Hafen von Genua abbildete. Als die Grüße in Bonn eintrafen, war Etzdorf, der von 1948 bis 1950 im „Deutschen Büro für Friedensfragen“ in Stuttgart als Stellvertretender Leiter tätig gewesen war und mit Wirkung vom 1. Juli 1950 in das Bundeskanzleramt, Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten übernommen worden war, wieder im Auswärtigen Amt. Denn der 15. März 1951 war der offizielle „Gründungstermin“, nachdem die Alliierte Hohe Kommission mit Beschluß vom 6. März 1951 der Bundesregierung das Recht zugestanden hatte, ohne vorherige Rücksprache diplomatische Vertretungen zu errichten. Etzdorf wurde nun Stellvertretender Leiter der Länderabteilung. Die Neugründung des Auswärtigen Amts, insbesondere die Personalpolitik von Wilhelm Haas, den Etzdorf schon aus seiner Zeit in Tokyo kannte, wurde von Teilen der Presse äußerst kritisch aufgenommen. „Die Tat“ überschrieb am 9. Juni 1951 einen Artikel: „Adenauer-Diplomaten mit braunem Klecks!“, während die „Frankfurter Rundschau“ Anfang September in der fünfteiligen Artikelserie des Journalisten Michael Heinze-Mansfeld, übertitelt „Ihr naht Euch wieder…“, beweisen wollte, daß in der Koblenzer Straße in Bonn der Geist der Wilhelmstraße in Berlin fahrlässig wiederheraufbeschworen werde: „Die Vertreter der deutschen Bundesrepublik im Ausland geben ihre Visitenkarten als Repräsentanten eines Volkes ab, das aus seiner Vergangenheit gelernt haben sollte. Eine Entwicklung, wie
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sie uns jetzt zu drohen scheint, ließe im Ausland böse Rückschlüsse auf die innerdeutsche Lage zu.“ Das negative Presseecho führte zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses Nr. 47 des Deutschen Bundestages, der zwischen dem 16. November 1951 und dem 8. Oktober 1952 vierzig Sitzungen abhielt. Als sich am 17. März 1952 der Bayerische Rundfunk mit scharfen Vorwürfen gegen den diplomatischen Dienst der Bundesrepublik einschaltete und grundsätzliche Zweifel an der Existenz einer Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime in der Wilhelmstraße äußerte, griff Egmont Zechlin zur Feder. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 27. März 1952 veröffentlichte er den Artikel „Keine Widerstandskämpfer im AA? Der Zossener Staatsstreich-Plan – Zur Vorgeschichte des 20. Juli“, um einem größeren Publikum die Etzdorf-Kordt-Denkschrift vom Oktober 1939 bekanntzumachen, die übrigens in Teilen 1950 in Erich Kordts Buch „Nicht aus den Akten“ veröffentlicht worden war. Wie nötig für das Auswärtige Amt in diesen Monaten eine positive Image- und Traditions-Pflege war und mit welchen Vorurteilen die Diplomaten „alter Schule“ zu kämpfen hatten, geht aus der Äußerung des Bundeskanzlers Adenauer während eines „Teegesprächs“ mit Journalisten im April 1952 hervor: „Ich bin nicht gerade glücklich über die Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes, keineswegs, aber – verstehen Sie das bitte jetzt nicht falsch – es gibt ein rheinisches Sprichwort, das besagt: ,Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat!‘ Deshalb will ich nicht sagen, daß es dreckiges Wasser ist, aber ich möchte damit sagen, daß ich natürlich ein Instrument brauche, um die Arbeit zu tun, und daß ich, solange ich kein besseres Instrument habe, mich eben eines Instrumentes bedienen muß, so wie es da ist.“ Durch den „Schriftlichen Bericht gemäß Antrag der Fraktion der SPD betreffend ,Prüfung, ob durch die Personalpolitik Mißstände im Auswärtigen Dienst eingetreten sind‘“, wurde Adenauer offensichtlich eines Besseren belehrt. So hatte der Ausschuß beispielsweise gegen Etzdorf „nicht nur keine Bedenken, sondern erklärt ausdrücklich, daß er ihn für geeignet zur Weiterverwendung hält“ – wie überhaupt von den einundzwanzig angegriffenen Diplomaten nur drei aus dem Amt ausscheiden mußten. Am 22. Oktober 1952 stellte sich Adenauer ausdrücklich hinter die Koblenzer Straße in Bonn, die „in steigendem Maße wertvolle Arbeit geleistet“ habe; durch die Presseangriffe werde allerdings das „Instrument der deutschen Außenpolitik in seiner Wirksamkeit behindert“: „Der Auswärtige Dienst darf die Kritik nicht scheuen. Er darf aber auch Verständnis beanspruchen.“ Zunächst einmal wurde Etzdorf nicht mehr mit der jüngsten Vergangenheit und Mißverständnissen über seine eigene Rolle konfrontiert. Am 17. November 1953 wurde er Stellvertretender Leiter der Deutschen Delegation beim Interimsausschuß für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft in Paris, am 1. Juni 1955 Stellvertreter des Generalsekretärs der Westeuropäischen Union in London, am 5. September 1956 Botschafter in Ottawa und am 26. August 1958 als Ministerialdirektor Leiter der für die Vereinten Nationen, NATO und Verteidigung, Abrüstung und
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Sicherheit, Großbritannien und Commonwealth, USA und Kanada, Mittel- und Südamerika und schließlich Afrika südlich der Sahara zuständigen Abteilung „West II“ im Auswärtigen Amt. Vier Tage nach dem Bau der Berliner Mauer, die die Teilung und damit den Status quo zwischen beiden deutschen Staaten bis zum Jahr 1989 zementieren sollte, wurde er zum Botschafter in London ernannt, begleitete dann aber noch seinen Minister Heinrich von Brentano am 20. August 1961 in die alte Hauptstadt, in der er vor 1945 viele Jahre seines Lebens verbracht hatte. Schon am 9. August 1961 machte Staatssekretär Karl Carstens in einem Runderlaß an die Auslandsvertretungen darauf aufmerksam, daß durch die bevorstehende Ernennung Etzdorfs zum Botschafter in London „mit einer Pressekampagne der Ostblockstaaten zu rechnen“ sei. Daher zitierte er aus dem Spruchkammerbescheid von Kaufbeuren und aus dem Bericht des Untersuchungsausschusses Nr. 47, machte zusätzlich auf die Denkschrift vom Herbst 1939 aufmerksam, mit der Etzdorf „zum Sturz des nationalsozialistischen Regimes und zur Beseitigung Hitlers“ aufgefordert habe: „Sowohl Spruchkammer als auch der Bundestags-Ausschuß stellten im übrigen fest, daß die SA-Ränge von Herrn von Etzdorf lediglich als sogenannte Angleichungsränge an seinen jeweiligen Beamtenrang zu betrachten sind.“ Als erstes meldete sich der von Ost-Berlin gesponserte und in Großbritannien durchaus verbreitete „Democratic German Report“ mit dem Artikel „Nazi Storm Troop Ambassador to London“ zu Wort, während die „Izvestija“ vom „SA-Mann im Zylinder des Botschafters“ sprach. Englische Zeitungen wie „Tribune“, „New Statesman“ and „Daily Express“ folgten, letztere mit der Schlagzeile: „The new German Ambassador – NSDAP-member No. 3.286.356“. Der „Daily Worker“ konstatierte: „Adenauer sends a Model Prussian as Envoy“ – was natürlich böse gemeint war, aber Etzdorf nicht besonders getroffen haben dürfte. Am 22. September 1961 kam er in London an, um als Preuße von Geburt und innerer Einstellung die junge Bundesrepublik in dem Land zu vertreten, dessen Kriegspremier Winston Churchill Preußen „als Wurzel allen Übels“ bezeichnet hatte und dessen langjähriger Staatssekretär im Foreign Office, Sir Robert Vansittart, in der auflagenstarken Broschüre „Black Record“ während des Zweiten Weltkriegs die Deutschen als neidisch, selbstmitleidig und grausam charakterisiert und Preußenturn und Nationalsozialismus gleichgesetzt hatte. Sowohl Churchill als auch Vansittart war Etzdorf erstmals im Januar 1936 anläßlich der Trauerfeierlichkeiten für König Georg V. persönlich begegnet. Der neue Botschafter am Hofe von St. James, der am Belgrave Square über einen Stab von 140 Mitarbeitern verfügte, ließ es sich nicht nehmen, bei der Übergabe des Beglaubigungsschreibens an Königin Elisabeth II. am 26. Oktober 1961 zu Frack und Zylinder neben dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern auch an einer Ordensspange das Eiserne Kreuz I. Klasse anzulegen, das ihm nach den Abwehrkämpfen gegen britische Truppen im September 1918 verliehen worden war. Damit stieß er in London nicht nur auf Zustimmung, obwohl sich gerade die Engländer über den Verlust der Weltmachtposition im 20. Jahrhundert stets durch nostalgische Erinnerung an den Waffenstillstand vom November 1918, an die „Finest Hour“ – als Großbritannien
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1940/41 nach dem Fall Frankreichs und vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR allein gegen das nationalsozialistische Deutschland stand – und an den „D-Day“ hinwegtrösteten. Etzdorf repräsentierte das „other Germany“, das Deutschland von vor 1933 und ab 1949. Dabei war ihm stets bewußt: „Der Schatten, den Hitler auf den deutschen Namen geworfen hat, wird niemals ganz verschwinden.“ In diesem Zusammenhang erinnerte er im Freundes- und Bekanntenkreis hin und wieder daran, daß Hitler eben kein Preuße, sondern Österreicher gewesen war. Nicht in den vom „Führer“ pervertierten und zum Kadavergehorsam ausgearteten Sekundärtugenden, sondern in Anstand und Ehre zeichnete sich nach Etzdorfs Auffassung das wahre Preußentum aus, und das berühmte und oft zitierte „mehr sein als scheinen“ war seine Lebensmaxime. Dies wurde nicht immer verstanden und dagegen standen manche Vorurteile, und so kam es während eines Vortrags über „Berlin and the Future of Germany“ am 20. Februar 1962 in Oxford zu einem kleinen Tumult, der durch ein Flugblatt mit der Überschrift „Good German – or Hitler Profiteer?“ angeheizt worden war; ein gegen den Botschafter erhobener Vorwurf lautete: „The Prussian virtues have always been his model.“ Drei Premierminister – Harold Macmillan, Sir Alexander Frederick DouglasHome und Harold Wilson – erlebte Etzdorf während seiner Amtszeit, genauso wie beispielsweise die Auswirkungen des gescheiterten britischen Beitritts zur EWG und die endlosen Diskussionen um die multilaterale Atomstreitmacht der NATO. Vom 7. bis 9. März 1965 war er anläßlich des Wilson-Besuchs zum letzten Mal dienstlich in Bonn, um anschließend für zwei Wochen zu Abschiedsveranstaltungen, Abschiedsbesuchen und Umzugsvorbereitungen nach London zurückzukehren. Am 21. März nannte er in einem Zeitungsinterview als wichtigste Aufgabe eines Botschafters, „Vertrauen im Gastland zu erwerben“. Daß ihm dies gelungen war – besonders unter den vor dem Nationalsozialismus nach Großbritannien geflohenen Juden –, wurde unter anderem auf dem Abschiedsessen der EnglischDeutschen Gesellschaft in London am 26. März 1965 deutlich, an dem unter Vorsitz von Feldmarschall Earl Alexander of Tunis, der von 1952 bis 1954 im dritten Kabinett Churchill noch Verteidigungsminister gewesen war, über 300 Gäste teilnahmen. Als der 74-jährige englische und der 65-jährige deutsche Veteran während eines längeren Gesprächs die Zeit der Weltkriege und des deutsch-britischen Gegensatzes Revue passieren ließen, stellten beide zu ihrer Überraschung fest, daß sie nicht nur bei Kriegsende 1945 in Italien jeweils auf der anderen Seite gestanden hatten, sondern auch am 27. September 1918 in Frankreich am Kanal von Mœuvres bei Cambrai: Alexander als Captain bei den Irish Guards, Etzdorf als Königlich Preußischer Leutnant bei den Kürassieren.
Speere werfen und die Götter ehren – Nikolaus von Halem Von Robert von Lucius Nikolaus von Halem war eine Ausnahmepersönlichkeit, auch unter den Corpsstudenten im Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, die ja schon eine Ausnahme bildeten. Er war ein Einzelgänger und Einzelkämpfer, weder Beamter noch Offizier wie so viele im Widerstand, und nicht einer der Gruppen zuordenbar. Als umgänglicher und umtriebiger Mensch verfügte er über Kontakte in mehrere der Widerstandsgruppen hinein, bildete eine Brücke zwischen ihnen. Viele bekannte Namen aus dem Widerstand und dessen Umfeld gehörten zu seinen Freunden oder Vertrauten: Fabian von Schlabrendorff, der Göttinger Sachse Adam von Trott zu Solz, sein früherer Heidelberger Corpsbruder Rudolf v. Scheliha, Herbert Mumm von Schwarzenstein, Hans von Dohnanyi, Karl von Winckler, Justus Delbrück. Dank seines breiten Kontaktnetzes vermittelte er im Ausland wie auch zwischen den sich bildenden Widerstandsgruppen. Er hatte und pflegte Kontakte zur Militäropposition, zu einer kommunistischen Gruppe, zu regimekritischen Beamten im Auswärtigen Amt, zum Ausland. Er war Mitglied des Solf-Kreises in Berlin, in dem Gleichgesinnte sich offen austauschten. Gerade weil er so breit angelegt und „vernetzt“, aber schwer zuordenbar war, ist er in öffentlichen Würdigungen und Schriften weniger präsent, als es seinem Einfluss und seiner Bedeutung entspräche. Halem war nicht wie manch andere ein Spätbekehrter. Er war von frühauf ein vehementer Gegner des Regimes, weitsichtig wie wenige, dem eine reine Gesinnungsethik nicht reichte. Dabei stand er nationalem und konservativem Denken nahe. Er zählte zu den wenigen im nationalkonservativ-bürgerlichen Widerstand, die nicht erst nach jahrelangem Beobachten der Verbrechen des NS-Regimes deren Natur erkannten; rasch war er dazu bereit, dem mit allen Mitteln entgegenzutreten. Schon vor der Machtergreifung 1933 sammelte er, ein Menschenfänger im besten Sinn, Zweifler und Gegner Hitlers um sich, unterstützte sie und suchte sie zum Aufstand gegen Hitler zu bewegen, den er „die Unperson“ zu nennen pflegte. Diesen erkannte er früh als „Boten der Hölle“ und als „Postboten des Chaos“. Er war mutig, zeigte frühen Bekennermut und eine starke Ausstrahlkraft, die andere in seinen Bann zog. Er wurde nicht, wie es von seinem Studium und seiner Lebensplanung her vorgegeben war, Beamter: Wiewohl er trotz zögerlichen Studiums als herausragender Jurist galt, brach er im Sommer 1933 den Referendardienst ab, um den verpflichtenden, für ihn aber undenkbaren Beamteneid auf den Reichskanzler zu vermeiden: sein erstes sichtbares Zeichen des Widerstands.
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Sein Mut zeigte sich nicht zuletzt in den zweieinhalb Jahren, in denen er bis zur Hinrichtung im Oktober 1944 in zehn Haftanstalten und Konzentrationslagern saß. Trotz Folter gestand er nichts und verriet niemanden. Halem kannte viele Namen von Mitverschwörern, hielt aber dicht. Schlabrendorff, Delbrück, Dohnanyi, Winckler, Carl Wolfgang Graf Ballestrem sagten später, ihnen sei ein Rätsel, wie er unter schwerer Folter ihre Namen hütete und sie so rettete. Selbst seiner Familie hatte er von seinen vielfältigen Kontakten und Aktivitäten im Widerstand nichts, und seiner Frau nur wenig berichtet, er wollte sie nicht gefährden. Vor seiner Hinrichtung aber schrieb er, seine beiden Söhne sollten später wissen, dass ihr Vater ein Vorbild ehrenhaften Verhaltens gewesen sei, der Anstand und Gerechtigkeit zur Geltung bringen wollte. So ist dank seiner Vorsicht die „Quellenlage“, auch zu seinen Jahren im Corps Saxo-Borussia in Heidelberg, knapper als sonst. Vieles ist bis heute nicht mit Gewissheit aufgeklärt, auch nicht, warum er in den Zwanzigern als Inaktiver sein Band verlor. Auch die CC-Protokolle der Göttinger Sachsen, des Kartellcorps der Sachsenpreußen, aus jenen Jahren sind verschollen. Offenbar war das eine Folge „wiederholten studentischen Übermuts“ während seiner Jahre in Göttingen. Möglicherweise tat er etwas Unbedachtes unter Alkoholeinfluss; eine Quelle spricht von „Ärgernis in der Öffentlichkeit wegen Trunkenheit“. Auf politische Zusammenhänge jedenfalls gibt es keine Hinweise. Nach seinem offenbar als vorübergehend gedachten Bruch mit dem Corps brach er auch mit konventionellen Strukturen und Gedanken und suchte Kontakte zu Künstlern, Freigeistern und Weltverbesserern linker wie auch rechter Couleur. Seinem verstorbenen Corpsbruder Klaus von der Groeben – als Staatssekretär in Kiel hatte dieser das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht beeinflusst und sich in vielen Schriften der Verwaltung in Ostpreußen zugewandt – ist eine Biographie zu verdanken,1 der auch diese Zeilen vieles verdanken. Erst durch Groebens wunderbare Biographie wurde er den Ansätzen von Vergessen entrissen, auch im Corps, das ihm 1986 auf Initiative seines Consemesters Groeben 1986 posthum das Band zurückgab. Auch wenn Halems Sohn, wie andere Halems ein Bonner Pfälzer, schon in den Fünfzigern Gast auf dem Riesenstein war, dauerte es viele weitere Jahre, bis seiner auch für alle sichtbar gedacht wurde mit einer Bronzeplakette am Eingang des Riesensteins, des traditionsreichen Corpshauses der Saxo-Borussia an der FriedrichEbert-Anlage in der Heidelberger Altstadt. Zur Einweihung kamen vier Angehörige der Halem-Familie aus Ostfriesland wie auch der anderen beiden auch in diesem Buch geehrten aktiven Widerständler in den Reihen der Saxo-Borussia, Albrecht von Hagen und Rudolf von Scheliha. Die von der Straße aus sichtbare Tafel trägt die Inschrift „Sie wurden von den Nationalsozialisten als politische Gegner hingerichtet“. Bei ihrer Einweihung sagte der Vorsitzende des Altherrenvereins, Peter
1 Groeben, Klaus von der, Nikolaus Christoph von Halem. Im Widerstand gegen das Dritte Reich, Wien/Köln 1990.
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von Jagow, das Corps sei dankbar, dass es sie gegeben habe; sie gaben ihr Leben hin und hinterließen so auch ihrem Corps ein kostbares Vermächtnis. I. Freundschaftsbande Nikolaus Christoph v. Halem wurde am 15. März 1905 in Schwetz an der Weichsel (Westpreußen) geboren als Angehöriger einer alten ostfriesischen und Oldenburger Adelsfamilie. Er war das vierte von sieben Kindern. Seine Eltern waren Gustav Adolph von Halem (1870 – 1932), damals Königlich Preußischer Landrat in Schwetz, und Hertha, geborene von Tiedemann (1879 – 1959); ihr Vater war als erster Chef der Staatskanzlei enger Mitarbeiter Otto von Bismarcks. Parteipolitisch standen so beide Elternteile Halems freikonservativem Denken – eine Mischung konservativnationaler und liberaler Elemente – nahe, was sich auf den jungen Nikolaus auswirkte. Sein Vater war als Freikonservativer Abgeordneter im Reichstag und im Landtag, sein Großvater Halem ebenso Parlamentarier, der Urgroßvater oldenburgischer Minister – Staatsnähe und dem Gemeinwohl dienen war ihm so vorgegeben. Der Großvater Halem war zudem wie andere Familienangehörige ein bremischer Verlagsbuchhändler. Die Nähe zu Wort, Buch und Gedanken wird also in der Familie ausgeprägter vertreten gewesen sein als bei manch anderer adeliger Beamtenfamilie. Später wurde der Vater, der sich nach dem Zusammenbruch der Monarchie „aus Gewissensgründen“ in den Ruhestand versetzen ließ, Hofmarschall2 des letzten Fürsten Schwarzburg-Rudolstadt und Sondershausen, Günther Viktor, und Fürstin Anna Luise. Nikolaus erhielt Hausunterricht im nordthüringischen Sondershausen. Er besuchte dann das Gymnasium in Schwetz und nach dem Umzug der Eltern nach Berlin von 1918 an die Klosterschule Roßleben im Nordosten Thüringens, an der viele Schüler des schlesischen und preußischen Landadels lernten. Im März 1922, also noch mit 16 Jahren, legte Halem das Abitur ab. Er galt in Roßleben als begabt, aufgeweckt, belesen, aber als wenig fleißig und körperlich zart. Woher sein in der Familie wie auch von Freunden auch jener Jahre genutzter Nickname „Kietz“ kommt, der noch weit später genutzt wird – etwa, um seine Verhaftung vertrauten Dritten mitzuteilen –, ist nicht nachgewiesen. Mehrere seiner um zwei, drei Jahre älteren Mitschüler, die in Roßleben an der Unstrut zur gleichen Zeit Klosterschüler waren, kamen ebenfalls zum Widerstand – Ulrich Wilhelm Graf von Schwerin von Schwanenfeld, Botho von Wussow, Albrecht von Kessel sowie der ein Jahr jüngere Ernst von Borsig (Kreisauer Kreis). Wie eng die Freundschaftsbande aus Schulzeiten hielten und sich in den Widerstandsjahren bewährten, ist nicht verbrieft. Sicher ist, dass Schwerin, er zählte als Verbindungsglied zwischen dem zivilen und dem militärischen Widerstand zum Kern des 20. Juli, sein Vetter Kessel – einer der wenigen jungen regimekritischen Diplomaten – und Wussow, der Widerständler mit Informationen aus dem Auswärtigen 2
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Amt versorgte, miteinander eng befreundet waren. Mit Kessel legte Nikolaus zusammen die Reifeprüfung ab. Kessel nennt in seinen Erinnerungen3 Halem einen Schulfreund, dessen Tod zusammen mit anderen Widerständlern ihn eines der wichtigsten Pfeiler seiner Existenz beraubt habe. Er weist darauf, dass Halem in seinen Jahren „in den Klauen der Gestapo“ deren wiederholtes Foltern „in größter Seelenstärke ausgehalten“ habe; er habe immer erklärt, dass Hitler eine inferiore Erscheinung sei, der im rechten Augenblick auf der Bildfläche erschienen sei. In der Einführung zu den Kessel-Erinnerungen weist der Widerstandsforscher Peter Steinbach auf den engen Zusammenhang von Konfrontation und Kooperation, von Anpassung und Widerstand, und nennt als Ausnahme Halem, der schon früh die Unterstützung der wichtigsten Regimekritiker im Zentrum der Macht einforderte, statt in Regimegegnerschaft und gleichzeitiger Staatsloyalität zu verharren. II. Heidelberger Jahre Als Siebzehnjähriger begann Nikolaus v. Halem im Sommersemester 1922 sein Jurastudium in Heidelberg. Er wurde Mitglied des Corps Saxo-Borussia. Dort fanden sich auch andere – spätere – aktive Widerständler wie Albrecht von Hagen und Rudolf von Scheliha sowie viele spätere Regimekritiker.4 Auch in den beiden im „Weißen Kreis“ eng verbundenen Kartellcorps Borussia Bonn – hier Peter Graf Yorck von Wartenburg, Friedrich von Prittwitz und Friedrich-Karl von Zitzewitz – und Saxonia Göttingen – dort Adam von Trott zu Solz, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und Hasso von Etzdorf – waren Widerständler des 20. Juli. Jene Studienjahre Halems in Heidelberg waren gezeichnet von der Weltwirtschaftskrise und dem Währungsverfall, von Reparationsdebatten und der Kriegsschulddebatte. Die Atmosphäre jener Jahre bei den Saxo-Borussen, die auch Halems Denken beeinflusste, schildert der Schriftsteller Carl Zuckmayer, der in den frühen Zwanzigern „mit den Angehörigen des vornehmsten und exklusivsten Heidelberger Corps, den Saxo-Borussen, auf bestem Fuß“ stand. Ob er dabei Halem begegnete, ist nicht verbürgt. Über sie und damit Halems Aktivenjahre schreibt er „Von den plumpen Radaubrüdern und Schreihälsen des völkischen Klüngels unterschieden sich diese Kreise durch Erziehung und Qualitätsgefühl – es gab auch später unter ihnen wenig Überläufer zu den Nazis; selbst wenn sie nicht gerade Philosemiten waren, gab es bei ihnen nicht die sturen Rassefanatiker, desto mehr passiven und aktiven Widerstand.“5 1967 verwies Zuckmayer bei der Ehrung als Ehrenbürger der 3 Kessel, Albrecht von, Verborgene Saat. Aufzeichnungen aus dem Widerstand, Frankfurt/ Berlin 1992, S. 87, S. 220. 4 Lucius, Robert v. (Hrsg.), Weiß-Grün-Schwarz-Weiß. Beiträge zur Geschichte der SaxoBorussia zu Heidelberg, Band 2: 1934 – 2008, Heidelberg 2008, S. 16 ff.; zu Regimekritikern und Widerstandskämpfern in den „weißen“ Corps: Schwerin von Krosigk, Dedo Graf von, in: Beiträge zur Geschichte des Corps Borussia zu Bonn, Bonn 2007, S. 230 ff. 5 Zuckmayer, Carl, Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt 1969, S. 258 f.
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Heidelberger Universität in der Aula6 nochmals auf Widerständler unter den SaxoBorussen: „Später, in der Zeit des deutschen Widerstands gegen die braune Diktatur, vertieften und verstärkten sich solche Beziehungen.“ Erst später habe er auch durch seine Kontakte zur Saxo-Borussia gelernt, dass „das konservative Element nicht blindlings mit dem reaktionären gleichzusetzen ist und dass die Erhaltung von Werten, auch Traditionen, ebenso zeitbedingt und zukunftsweisend sein kann wie der Abbau des Vermorschten und Brüchigen“. Halem war also aktiv zusammen mit anderen, denen Zuckmayer „das erstaunlichste Verständnis für unsere Einstellung zu moderner Kunst, Musik, Literatur“ bescheinigte, die damals als Aktive eine eigene Vereinigung für neue Musik unterhielten und künstlerische Veranstaltungen besuchten. Zu Halems Consemestern zählte neben seinem Biographen Klaus von der Groeben der mit 18 Jahren ebenfalls junge Albrecht von Hagen, der nach dem 20. Juli hingerichtet wurde, weil er den Sprengstoff zum Attentat lieferte. Trotz der politischen Debatten jener Jahre und der Suche nach einer neuen Identität in der jungen Republik galten beide als passionierte Fechter. Halem focht eine Säbelpartie; bei dieser traf ihn ein Hieb so unglücklich am Unterkiefer, dass das auf den überlieferten Fotos deutlich sichtbar ist. Sein Motiv, Corpsstudent zu werden, schildert die in den Widerstand eingebundene Dichterin und Historikerin Ricarda Huch, die wie Halem nach der Machtergreifung eine Loyalitätserklärung an die neuen Machthaber verweigerte und nach deren Gleichschaltung als erstes Mitglied aus der Preußischen Akademie der Künste aus Protest austrat. Sie schrieb „Auf den Wunsch seines Vaters, der konservativ auch in Bezug auf standesgemäßes Studentenleben war, trat er frühzeitig den Saxo-Borussen bei, fand aber kein Vergnügen dabei. Er war sich stolz seines Adels bewusst, aber einer anderen Art als üblich war.“7 Adel: Der hohe Anteil Adliger nicht nur im Corps und im Weißen Kreis fällt auf, sondern auch unter jenen, die eine aktive Rolle im Widerstand spielten. Adlige Familien, in der Bevölkerung etwa 0,1 Prozent, stellten im engeren Kreis der Verschwörer fast 50 Prozent und unter den Todesopfern der Vergeltungsaktionen ein Drittel – keine andere Gesellschaftsgruppe war stärker vertreten.8 Groeben berichtet dagegen, Halems Vater habe Vorbehalte gehabt gegen das Verbindungsleben. Zudem habe er seinen Sohn dafür als zu jung eingestuft. Dafür spricht, dass Halem seiner innig geliebten Mutter weit näher stand als dem „erstarrten“ Vater, dessen Einfluss er sich früh zu entziehen trachtete. Dass seine Heidelberger Aktivenjahre ihm nahe blieben, zeigten nicht zuletzt seine ergreifenden Briefe aus der Haft. In einem Schreiben an seine Mutter erinnerte er an seine erste Mensur. 6
Ders., Scholar zwischen gestern und morgen. Anlage zur „Ruperto Carola“, Zeitschr. XIX. Jg., Bd. 42, Dezember 1967, S. 12. 7 Huch, Ricarda, Gesammelte Werke, Bd. 5, Köln/Berlin 1971, S. 1018 f., zit. nach: Sahm, Ulrich, Rudolf von Scheliha 1897 – 1942, München 1990, S. 119 f. 8 Malinowski, Stephan, Es war kein Aufstand des Adels, in: Cicero, 7/2004, S. 129 f.
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Zu seinen Corpsbrüdern in Heidelberg, deren Haltung und Einbettung ihm Sicherheit gegeben haben dürften, zählten neben den Hingerichteten – Albrecht von Hagen, der vor dem 20. Juli in Absprache mit Claus Graf Schenk von Stauffenberg dreimal Sprengstoff für Attentate transportierte, und dem Pazifisten und Diplomaten Rudolf von Scheliha, der dem Internationalen Roten Kreuz in der Schweiz den Befehl zur „Endlösung der Judenfrage“ verriet – weitere, die für ihre mutige Haltung Unbill und Einkerkerung auf sich nahmen – Karl von Dewitz, Hansjoachim von Rohr, Hanns-Gero von Lindeiner, Bruno von Siebert, Max von Ruperti, Oskar von Dewitz, Friedrich-Karl von Zitzewitz. Zu dem Verlass aufeinander – niemand wurde aus den eigenen Reihen heraus verraten – trug die klare Haltung des damaligen Vorsitzenden des Altherrenverbandes, Botho-Wendt Graf zu Eulenburg, bei. Er unterließ die übliche nationalsozialistische Diktion, auch das erwartete „Heil Hitler“, in seinen Rundbriefen und nutzte stattdessen schon 1939 damals gefährlich-deutliche Formulierungen zum „Krieg von anscheinend längerer Dauer“. Ob und wie weit die Heidelberger Zeit und die Einbettung in eine Gruppe des Vertrauens seine Gesinnung und Tatkraft beeinflussten, wird kaum nachzuweisen sein. In einer Studie zu Halems Kartellcorpsbruder Schulenburg, der in Göttingen zwei Jahre vor Halem aktiv wurde, zeigen sich einige Parallelen, auch wenn der Autor9 befindet, einen beweisbaren oder zwingenden Zusammenhang zwischen der Aktivität und dem Widerstand gebe es nicht. Er beschreibt aber einen Wandel der Persönlichkeit Schulenburgs in seinen Aktivensemestern, die auch für Halem gelten dürften: Er sei keck geworden, übermütig, verwegen, geistreich, habe viele Freunde gefunden, zugleich aber die Befähigung, sich eine Maske anzulegen, um andere irrezuführen. In der Erziehung im Corps habe er Selbstbeherrschung und Mut erlernt, Stehvermögen und Überzeugungskraft – alles Eigenschaften, die auch Halem zugeschrieben werden. III. Staatsdienst und Wirtschaft Halem setzte sein Jurastudium fort an den Universitäten München, Göttingen, Halle und Leipzig, unterbrochen von einigen Monaten bei der Schwarzen Reichswehr in Greifswald und in Gumbinnen. Seine ausgedehnten Studienjahre, in denen er die Grundlage legte für seine gediegene Bildung wie auch sein weites „Kontaktnetz“, werden als „stürmisch bewegt“ bezeichnet.10 Bevor er seinen Referendardienst – das Referendarexamen bestand er in Jena – abbrach wegen seiner Weigerung zum Beamteneid auf Hitler, arbeitete er in Mitteldeutschland am Amtsgericht Eckartsberga und am Landgericht Naumburg. Während sein jüngerer Bruder Hanno ins Ausland ging, um dem Dritten Reich zu entgehen, blieb Nikolaus Christoph in Deutschland, nahm aber mit dem Abbruch des Referendardienstes trotz feh9 Schott, Christian-Erdmann, Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg und das Corps Saxonia in Göttingen, in: Sigler, Sebastian (Hrsg.), Freundschaft und Toleranz. 200 Jahre Corps Bavaria zu Landshut und München, München 2006, S. 229 ff.; ders., Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und das Corps Saxonia zu Göttingen, in diesem Band. 10 Leber, Annedore, Das Gewissen steht auf, Berlin 1984, S. 375.
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lenden Vermögens einen Verzicht in Kauf auf, dank seiner Befähigung glänzende und sichere, Berufsaussichten – und das, obwohl er mittlerweile eine Familie zu ernähren hatte und nach dem Tod des Vaters 1932 Familienoberhaupt wurde. Er hatte 1931 als junger Rechtsreferendar nach sechs Jahren Verlobungszeit die Industriellentochter Victoria Maria Garbe geheiratet. Der erste seiner zwei Söhne, Friedrich (Fritz), wurde 1933 geboren, Wilhelm Emanuel – wie Friedrich später ein Rechtsanwalt – erst 1941. Der 2003 verstorbene Friedrich von Halem war wie sein Vater ein Wanderer zwischen zwei Welten und als Rechthistoriker und breit interessierter Philosoph ein Brückenbauer zwischen Deutschland und Russland. Halem wechselte in die Industrie, anfangs die Lederindustrie. Rasch kam er mit den Nationalsozialisten in Konflikt. 1936 wurde er verhaftet, weil einem jüdischen Berliner Künstlerfreund, dem er zur Flucht in die Tschechoslowakei half, die Nerven durchgingen und er mit Halem als Beifahrer durch die Grenzsperren brach. Hier zeigte sich Halems Fähigkeit, sich mit geschickten Ausreden aus der Schlinge zu winden – wie anfangs nach seiner Festnahme 1942. Für alles hatte er eine Erklärung, die man ihm nicht widerlegen konnte. Hier war er an die Grenze zurückgekehrt und sagte, er habe den Flüchtling erst als Mitfahrender kennengelernt und habe nur einen Bekannten, der nahe der Grenze lebte (das zumindest stimmte), mit einem Besuch überraschen wollen. Schließlich wurde er freigelassen, ein Verdacht blieb. Nach einigen Jahren als freiberuflicher Wirtschaftsberater war Halem zwischen 1937 und 1940 angestellt beim Reichskommissar für Preisbildung und dann bei der „Reichsgruppe Industrie“. Dabei kreuzten seine Wege weiterhin Widerständler. Beim Reichspreiskommissar war zeitgleich der Bonner Preuße Peter Graf Yorck von Wartenburg tätig. 1940 wechselte er in die Privatindustrie, blieb aber in Berlin. Er vertrat dort die Interessen des schlesischen Familienkonzerns der Grafen Ballestrem, der Eisen, Kohle und Holz gewann und damit handelte. Es gibt Hinweise, dass die Brüder Nikolaus und – der dem Widerstand verbundene – Hubertus Graf Ballestrem Halem in einer Scheinbeschäftigung angestellt haben, um ihm seine gegen das Regime gerichteten Tätigkeiten zu ermöglichen, ohne dass das direkt auf den Konzern zurückfiel. Als Repräsentant erlaubten Auslandsreisen zu Verhandlungen ihm politische Gespräche. Auch hier gab es „zufällige“ Überschneidungen: In seinem Büro am Pariser Platz direkt neben dem Brandenburger Tor – getrennt vom Büro des Ballestrem-Konzerns, was ihm ungestörte Begegnungen ermöglichte – war das Anwaltsbüro von Helmuth Graf von Moltke, des Koordinators des Kreisauer Kreises. Privat wohnte Halem im Berliner Hansaviertel am Tiergarten in der Händelallee – ebenso wie der Auslandskorrespondent der Londoner „Times“ für Deutschland, James Holborn, zu dem er einen engeren Kontakt aufbauen konnte. Als dieser kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Moskau versetzt wurde, riskierte Halem eine Reise nach Moskau, um ihn zu warnen vor dem in seiner Sicht unausweichlichen Krieg. Im Hansaviertel dürfte Halem Beziehungen zu jüdischen Nachbarn gepflegt haben. Eine Studie über
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den Widerstand in Berlin-Mitte11 befindet, das Hansaviertel habe sein Gepräge durch zahlreiche, dem assimilierten Mittelstand angehörende jüdische Bewohner erhalten – es gebe dort kaum ein Haus, in dem nicht mehrere jüdische Familien lebten. Die Händelallee galt mit einem extrem hohen Quadratmeterpreis als besonders erlesen. Für stille Hilfe Halems an jüdische Verfolgte spricht auch seine Begleitung bei der Flucht des Malers Bleichröder in die Tschechoslowakei 1936 sowie seine Mitgliedschaft im Solf-Kreis, dem eine Hilfe an bedrängte Juden ein besonderes Anliegen war. Karl von Winckler berichtet von Hilfen Halems auch für andere Inhaftierte, etwa Polen – er habe zu diesem Zweck geschickt Gauleiter und Gestapo-Obere überzeugt oder gegeneinander ausgespielt und so „viele Menschen vor dem Untergang“ bewahrt. IV. Brückenbauer im Widerstand Warum ging Nikolaus von Halem – großgewachsen, blond, kräftig, mit weiter Stirn und blauen Augen – früh und entschlossen in den Widerstand, obwohl er damit Familie und Freunde gefährdete? Groeben schreibt das weniger politischen Überzeugungen oder ideologischen Zielen des weltoffenen Konservativen zu, der sich dem Gespräch auch mit Anhängern linker Auffassungen nicht verschloss und Wesentliches von Unwichtigem zu scheiden wusste. Es ging ihm, dem Unbestechlichen, vor allem um „Gesittung und Moral“, um Anstand und Ehre – um ein von seiner Mutter und von Freunden geprägtes Weltbild. Zu diesen Freunden zählte der Kölner Carl von Jordans, wie Halem ein Menschenfänger und Freigeist. Er sah ebenso früh die Katastrophe vorher und rettete viele Menschen vor dem Tod. Er brachte Halem in Kontakt zum katholischen Widerstand. Karl von Winckler berichtet in seinen direkt nach dem Ende des Weltkrieges verfassten unveröffentlichten Aufzeichnungen, es habe keine einheitliche und organisierte Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus gegeben, sondern verschiedene Persönlichkeiten, die Kräfte anzogen, an sich banden und so Kreise bildeten, die sich dann des Öfteren überschnitten. So sei es auch gewesen mit dem Kreis Halem: Weil dieser „Mut und überlegene Geschicklichkeit“ verband, habe er sich im Gesprächskreis um Jordans eine besondere Position geschaffen – daher hätten sich die aktivsten Kräfte um Halem versammelt. Zudem beeinflusste ein vom Österreicher Othmar Spann geprägter Kreis, der ständestaatlichem Denken nahe war, Halem. Geistig stand Spann sich vielfach überschneidenden konservativen, antirepublikanischen und antiparlamentarischen Kreisen nahe, die indes allesamt den Nationalsozialismus ablehnten. Der Rechtshistoriker Michael Stolleis nennt Carl von Jordans, Heinrich von Gleichen-Rußwurm,12 Ernst Niekisch, Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg, der „Die weißen Blätter“ herausgab; den TAT-Kreis um die Monatszeitschrift „Die Tat“; den „Herren11
Sandvoß, Hans-Rainer, Widerstand in Mitte und Tiergarten, Berlin 19992, S. 287 f. Zu ergänzen ist hier: der Kreis rund um die jungkonservative politische Zeitschrift „Der Ring“. 12
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Klub“, ein jungkonservatives Sammelbecken von Großgrundbesitzern, Bankern und Beamten; die Astra-Gruppe in Wien.13 Antiegalitäre und antiliberale Strömungen der konservativen Revolution unterstützte Halem nicht nur in Gedanken: Er beteiligte sich als junger Student im November 1923 am Marsch zur Münchner Feldherrnhalle. Stärker als andere setzte Halem auch ab 1933 auf „die Tat“, mehr als auf das Nachdenken, wie es nach dem Tod des Diktators aussehen werde. Er suchte nach Regimegegnern und suchte Schwankende zu bekehren. Sein wohl wichtigster, aber schwer messbarer Einfluss auf den Widerstand war es, dass er Brücken baute zwischen Meinungsträgern und zwischen sich bildenden Widerstandsgruppen, auch zwischen Armee und Zivilisten. Er war eingebunden in vorbereitende Gespräche zum Widerstand oder auch zu Umsturzplänen mit dem Militär, etwa mit dem Generalstabschef Franz Halder und mit Generaloberst Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord. Nach dem frühen Rücktritt Hammersteins als Chef der Heeresleitung hatte die Armee über ihn einen inoffiziellen Boykott verhängt. Über Halem hielt Hammerstein aber bis zu seinem Tod 1943 Kontakt zum Widerstand – Halem war offenbar unbekümmerter, mutiger, aber auch vorsichtiger als andere. Das bestätigte sich, als Halem nach der Ermordung des Diplomaten Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler in Wien 1938 seinen Einsatz verstärkte, als andere resignierten. Winckler berichtet von beständigen Reisen Halems in alle Winkel Deutschlands, wobei er sich wieder „als der Eifrigste und Tüchtigste“ erwiesen habe. Er habe sich nicht wie viele andere von den „Erfolgen“ Hitlers blenden lassen. Seine Kontakte zum Militär nutzte er beim Versuch, wie bei Österreich auch beim Sudetenland und bei der „tschechischen Frage“, das Vorgehen Hitlers zu unterlaufen. Bei Generaloberst Ludwig Beck, nach einem gelungenen Attentat als Staatsoberhaupt vorgesehen, hatte Halem eine „offene Tür“. Zu seinen soldatischen Bekannten, um die er für eine Abwehrfront warb, zählten Offiziere der Heeresgruppe Mitte sowie Abwehrmitarbeiter wie Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg und Justus Delbrück. Sein Freund Fabian von Schlabrendorff würdigt die Rolle Halems als Brücke zum und im Militär in seinem Werk „Offiziere gegen Hitler“. Dabei scheute Halem – der das elegante Leben und schmucke Kleidung ebenso genoss wie spätnächtliches Umherschweifen in Berliner Kneipen – nicht das Gespräch mit der extremen Linken. Dazu zählte der Nationalbolschewist Ernst Niekisch, mit dem ihn Schlabrendorff bekannt gemacht hatte. Niekisch nannte Halem den „energischsten Mann im Mittelpunkt der deutschnationalen Verschwörung gegen Hitler“. Halem stand kommunistischen Gedanken fern, suchte aber Verbündete im Kampf gegen Hitler gleich wo. So fand er auch Kontakt zu kommunistischen Untergrundgruppen und zum früheren Hauptmann Josef („Beppo“) Römer, Leiter einer Widerstandsgruppe, der möglicherweise Halem später unter Folter verraten sollte.
13 Stolleis, Michael, „Wie eine Sternschnuppe verglüht“ – Das Leben des Widerstandskämpfers Nikolaus von Halem, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 1990, S. 40.
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Ein weiterer Kreis neben Armee, Wirtschaft, Diplomaten wie Adam von Trott zu Solz sowie Herbert Mumm zu Schwarzenstein, neben der Linken und dem SolfKreis, denen Halem als Brückenbauer, Anreger und Informationsbeschaffer diente, war das Ausland. Neben seinen Kontakten zu Journalisten und Diplomaten in Berlin nutzte er Geschäftsreisen, vermutlich verdeckten sie oft den wirklichen Zweck, nach Schweden, Russland, Italien, Frankreich, Ungarn, vor allem aber Österreich. Er wollte seine Gesprächspartner über Verbrechen in Deutschland informieren, aber auch über den Willen zum Widerstand. Das meiste von seiner Arbeit im Ausland beim Aufbau oder der Stärkung von Kreisen, die sich gegen Nationalsozialismus und Faschismus richteten, sei nicht bekannt, so von Winckler, auch nicht seinen Freunden. In Moskau berichtete er der englischen Botschaft von Hitlers Angriffsplänen gegen Russland. Nicht immer fand er Gehör. Im Jordans-Kreis berichtete er in den späten Dreißigern, ausländische Journalisten glaubten seinen Mitteilungen nicht. An Dokumenten, die Halems Vertrauter Ketteler aus Wien in die Schweiz bringen ließ und die im Banksafe seines Bruders Hanno von Halem gesichert wurden, zeigten 1938 weder Winston Churchill noch Allen Dulles, damals amerikanischer Geheimdienst-Resident in Bern, Interesse.14 Historiker bekunden, die einzigen, die sich auf reichsdeutscher Seite ernsthaft dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 entgegenzustellen versuchten, seien Ketteler und Halem gewesen. Ein von Ketteler geplanter Anschlag auf Hitler wurde verraten, Ketteler direkt nach dem Anschluss ermordet. Halem wurde zwar des Widerstands verdächtigt, beweisen konnte man ihm aber nichts. V. Der Weg zur Tat Zunehmend kam Halem zur Überzeugung, ein Anschlag werde erschwert, weil viele seiner Gesinnungsfreunde religiöse Skrupel hatten, sich an den Treueid gebunden sahen, die Gesamtlage zuversichtlicher beurteilten. Ihn selber bestärkten der Einmarsch in Österreich, die Ermordung seines Freundes Ketteler, seine eigene Verhaftung und Befragung. So trennten sich die Wege Nikolaus von Halems und vieler seiner Weggefährten im Widerstand. Im Januar 1941, direkt nach seiner Rückkehr von einer Romreise, traf er sich mit Schlabrendorff, Carl von Jordans und dem Geschäftsmann Karl von Winckler aus dem Jordans-Kreis – in jenen Jahren Privatsekretär von Nikolaus Graf von Ballestrem – in Berlin in der Wohnung eines Bekannten. Winckler schildert das in einem im Sommer 1945 verfassten Bericht, der in der – dem Verfasser zugänglichen, nicht veröffentlichten – „Handakte“ zu Halem in der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ im Bendlerblock in Berlin aufbewahrt wird: „Halem entwickelte damals mit besonderem Nachdruck den Gedanken, es wäre falsch zu glauben, dass überlegtere und ruhigere Elemente, vor allem führende Offiziere und Wirtschafter, sich durchsetzen könnten, um dem Krieg ein Ende zu bereiten und den Nationalsozialismus zu überwinden. Es gibt für Deutschland nur eine Lösung: Hitler muss 14 Brief des Saxo-Borussen Hannibal Graf von Lüttichau an den Verfasser vom 8. Dezember 2008.
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verschwinden! Wir alle, die wir damals versammelt waren, waren uns einig, dass in Zukunft unsere Tätigkeit ausschließlich diesem Ziele dienen müsse. Schlabrendorff trug diesen Gedanken an seine Freunde in der Wehrmacht weiter und es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass an diesem Januartage 1941 der Grundstein zum 20. Juli 1944 gelegt worden war.“ Winckler entsinnt sich zahlreicher Besprechungen „mit den verschiedensten Persönlichkeiten“, die sie danach einzeln oder gemeinsam führten. Den Beteiligten an dem Januargespräch aber war klar, dass die Hauptlast des Künftigen nun bei Nikolaus von Halem liege. Halem suchte nach einem entschlossenen Attentäter und fand ihn in dem Regimegegner Josef „Beppo“ Römer, den Groeben eine „skrupellose Landsknechtnatur“ nennt, aber auch eitel und unüberlegt.15 Schon einmal, 1934, hatte Römer gemeinsam mit Halem und Paul Joseph Stuermer ein Attentat auf Hitler geplant, nach der Festnahme Römers im Juni 1934 verlief das aber im Sande. Römer, nach dem Ersten Weltkrieg als Hauptmann entlassen, hatte 1921 im Freikorps „Oberland“ – einem Teil der „Schwarzen Reichswehr“ – an der Erstürmung des St. Annaberges in Oberschlesien teilgenommen und am Niederschlagen der Münchner Räterepublik. Später schloss sich der promovierte Jurist, der die Zeitschrift „Aufbruch“ herausgab, den Nationalbolschewisten an. Römer sammelte nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus 1939 Widerständler aus seinen Kämpfertagen und aus der kommunistisch eingestellten Arbeiterschaft etwa im Umfeld der Osram-Werke. Römer fand aber auch Zugänge zu ehemaligen Diplomaten, darunter Albrecht Graf Bernstorff und Richard Kuenzer – beide gehörten dem Solf-Kreis an, beide wurden von der SS in Berlin-Moabit Ende April 1945 ermordet. Sicher scheint, dass Römer den festen Willen hatte, den von ihm gehassten Hitler zu töten – ob und wie weit er dazu konkrete Vorbereitungen traf, ist weniger gesichert. Er ließ sich von einem Bekannten beständig über Hitlers Reisepläne informieren; der Diktator aber hielt sich aus Furcht vor Anschlägen nicht an diese und änderte sie beständig kurzfristig. Wie und warum es zur Verhaftung Römers am 4. Februar kam und kurz darauf auch Halems, am 23. Februar 1942, und von Herbert Mumm von Schwarzenstein, ist nicht gesichert. Möglicherweise wurde er festgenommen im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen die kommunistische Untergrundbewegung um den im Februar 1942 verhafteten Werkzeugmacher Robert Uhrig, mit dem Römer eng zusammenwirkte. Uhrig, Mittelpunkt des kommunistischen Widerstands in Berlin, wie auch Römer wurden im September 1944 hingerichtet. In der Anklageschrift gegen Römer ist nirgends die Rede von einem Anschlagplan. Die Festnahme Halems kann mit der Anstellung Römers im Ballestrem-Konzern auf Dringen Halems zusammenhängen; oder auch damit, dass Römer – wiederum auf Betreiben Halems, der ein Scheitern von Römers Vorhaben sah – im Herbst 1941 von Ballestrem wieder entlassen wurde. Es gab Mutmaßungen, dass Römer in der Nacht seiner Festnahme unter Alkoholeinfluss und aus Enttäuschung über die verlorenen Festeinkünfte auf Halem 15
Groeben, siehe Anm. 1, S. 44.
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und dessen Pläne wies – wie vieles ist das aber nur Spekulation. Dagegen spricht, dass anfangs unkonkrete Vorwürfe gegen Halem erst Monate nach seiner Festnahme einen Attentatsplan erwähnten. VI. Folter und Prozess Die Gestapo nahm Nikolaus von Halem am 23. Februar 1942 in seinem Büro am Pariser Platz fest. Sie verlegte ihn nach und nach in mindestens zehn Haftanstalten, darunter das Reichssicherheitshauptamt in der Prinz-Albrecht-Straße und ein Gestapo-Gefängnis, ein Straflager, das „Todeslager“ Wuhlheide, und das Konzentrationslager Sachsenhausen. Ein Vetter von Nikolaus, der Diplomat Gustav Adolph von Halem, kam nach der Verhaftung rasch aus Mailand, wo er Generalkonsul war, obwohl er seinem jüngeren Vetter nicht nahe stand und politisch in die nationalsozialistische Bewegung und die SS eingebunden war. Er versuchte bei zahllosen Behördenvorsprachen vergeblich, seinem Namensträger zu helfen. 32 Monate Haft, Folter, Hunger und Kälte konnten Nikolaus von Halem nicht brechen. Freunde berichteten von schweren Kopfverletzungen, ausgerissenen Fingernägeln, blutiger Wäsche, einem Nierenriss. Mitgefangene berichteten später, er habe sie in jenen Jahren fast verklärt mitgerissen und ihnen Mut gegeben. Vielen gab er Rat für ihre Verteidigungsstrategie oder für Behördeneingaben. Woher er diese Kraft nahm, wird ersichtlich aus seinen Briefen aus der Haft, die Glauben, Zuversicht und tiefgründiges Denken verbinden, aber auch aus den Sätzen eines undatierten Briefes an eine Freundin: „Du weißt, dass es von jeher mein Ziel war, die störenden kleinen Eingriffe, wie zum Beispiel körperliche Schmerzen, in eine ihnen zukommende Souterrain-Waschküche zu manövrieren. Ich habe in dieser Kunst seither vieles gelernt und bin mir auch für das, was noch kommen mag, meiner selbst einigermaßen sicher“.16 Seiner Frau schrieb er, „nur wer klagen muß, hat wirklich etwas verloren“. Der Journalist Ernst Friedlaender umschrieb diese Seelenstärke in einem Brief an Hanno von Halem nach der Ermordung seines Bruders: „Auf ihn lauerten Martern besonderer Art. Denn ihm sollte etwas entrissen werden, bevor er starb: die Namen der Freunde; so wurden Folterungen unvorstellbarer Tücke erdacht und angewandt, um aus Helden Verräter zu machen. Hier wurde der Nichtverräter erneut zum Helden, da er sich nicht loskaufte von seiner Qual, um den Preis der Preisgabe anderer. Und hier wurde er zugleich zum Dulder, als Herr seines Leidens, als Zeuge für den letzten Sieg des Geistes über alle irdischen Niederungen. Man kann nicht höher steigen.“ Der Volksgerichtshof verurteilte Nikolaus von Halem zusammen mit dem Diplomaten Herbert Mumm von Schwarzenstein am 16. Juni 1944 zum Tode. Ihnen wird – ein gezieltes Zusammenwirken beider wird ihnen dabei nicht nachgewiesen – Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens vorgeworfen und Wehrkraftzersetzung, weil sie von der wahrscheinlichen Niederlage der Wehrmacht sprachen; dabei hätten sie Kriegsfeinde begünstigt. Halem, so die Anklageschrift, sei „ein 16
Ebd., S. 96.
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Staatsfeind aus anglophiler Einstellung und aus Haß gegen den Nationalsozialismus“. Das Todesurteil, das seinen Freundeskreis deprimiert hatte, mag manchen den letzten Anstoß gegeben haben zum Attentatsversuch am 20. Juli, fünf Wochen später. Das Urteil nach neun Stunden Verhandlung – eine Ausfertigung gibt es ebenso wenig wie bei Rudolf von Scheliha – stützte sich offenbar fast ausschließlich auf belastende Aussagen durch den bereits zum Tode verurteilten Römer, der behauptete, Halem habe ihn zu einem Attentat auf Hitler anstiften wollen. Manches spricht dafür, dass dem ein Zerwürfnis zwischen Halem und Römer vorherging. Es heißt, der Präsident des Volksgerichtshofes Roland Freisler sei vom Geschick Halems bei seiner Verteidigung und seinen ausweichenden, aber nicht unglaubwürdigen Aussagen beeindruckt gewesen, aber auch von der Haltung von Halems Mutter und der Schwester Ise, die am Verfahren teilnahmen. Sie berichteten von den letzten Worten im Prozess: Auf die Vorhaltung Freislers, er sehe, was er angerichtet hatte, antwortete Halem: „Ein Schiff kann untergehen, aber es braucht nicht die Flagge zu streichen.“ Halem gelang es auch unter Folter, zu schweigen. Daher habe offenbar selbst das Gericht nicht erkannt, dass es – so Groeben – über einen „der gefährlichsten Feinde des Nationalsozialismus“ urteilte. So erscheint fast schicksalhaft, dass in dem Moment, als ein nach einem Bombenangriff herabstürzender Balken während des Prozesses gegen Schlabrendorff Freisler, die Personifizierung des nationalsozialistischen Justizterrors, am 3. Februar 1945 tötete, die „Akte Halem“ vor ihm lag. Vier Monate zuvor wurde Halem am 9. Oktober 1944 um 12 Uhr 58 im Zuchthaus Brandenburg-Havel-Görden mit der Guillotine ermordet, wie mehr als 2000 weitere politische Gegner der Diktatur im damals größten Zuchthaus des Deutschen Reichs. Dass er nicht schon kurz nach dem Todesurteil hingerichtet wurde wie die meisten politischen Häftlinge, sondern erst nach fast vier Monaten, lag offenbar an einem Gnadengesuch für ihn aus dem Militär. Aus der Haft schrieb Halem bewegende Briefe an seine Mutter, seine Frau, an eine Freundin und einen Freund17 sowie an seinen Sohn Friedrich:18 Worte voller poetischer Kraft, die statt zu jammern oder zu verzweifeln anderen Mut geben sollten. Mehrfach nutzt er dabei einen Satz, der ihm Leitsatz gewesen sein mag: Speere werfen und die Götter ehren. VII. Was bleibt? Gemessen an der Wirkkraft, dem Mut, der Breite seines Einsatzes, ist es erstaunlich, dass Halem in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent, in Darstellungen zum Widerstand weniger gewürdigt wird als viele andere Namen. In der Gedenkstät-
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Ebd., S. 91 ff. Brief abgedruckt in: Luks, Leonid (Hrsg.), Recht oder Gerechtigkeit?, Köln/Weimar/ Wien 2004. 18
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te Deutscher Widerstand im Bendler-Block findet man sein Foto und seinen Namen eher versteckt im Abschnitt zum Solf-Kreis. Es gibt über ihn relativ wenige schriftliche Würdigungen neben der Biographie Groebens von 1990, eher beiläufigen Erwähnungen in zahlreichen Biographien und wenigen Zeitungsbeiträgen19 und knappen lexikalischen Darstellungen.20 In vielen Studien zum Widerstand, die sich auf den 20. Juli konzentrieren, wird er ganz unterschlagen – da war er ja schon mehr als zwei Jahre lang in Haft. Allenfalls verstohlen und namenlos gibt es Hinweise auf Halem und andere „frühe“ Widerständler etwa mit dem Satz: „Hitler hatte Gegner. Aber von denen, die ihn am 20. Juli 1944 zu beseitigen suchten, waren 1933 allenfalls Einzelgänger gewillt, ihn auf Leben oder Tod zu bekämpfen.“21 Halem war eben trotz seiner Kontaktfreude und seiner zahllosen Kontakte im Widerstand ein Einzelgänger, der preußische Tugenden wie wenige verkörperte. Zeitweise schien es, als werde der Nationalkonservative in der DDR eher geehrt als in der Bundesrepublik, die überlange brauchte, mit dem Erbe des Widerstands angemessen umzugehen. Das belegen zwei Briefe des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker an den älteren Sohn Halems, Friedrich, von 1985. Dort weist er ihn, auf eine Nachfrage des Sohnes, auf vorhandene Quellen im Zentralen Parteiarchiv der SED hin – die Anklageschrift des Volksgerichtshofes, Berichte über und Erinnerungen an ihn bis unmittelbar vor der Vollstreckung des Todesurteils. Sie belegten, so der ZK-Generalsekretär,22 dass Halem „bis zu seinem Tode ein standhafter, der Sache des Widerstandes treu ergebener Kämpfer“ war. Honecker äußerte seine „tiefempfundene Anteilnahme für den schweren Verlust“ des Vaters. Auch in seinem Corps wuchs die Kenntnis über ihn erst dank Klaus von der Groeben. Immerhin gibt es neben Bronzeplaketten, nicht nur in Heidelberg, einige weitere Ehrungen. Mehrere Straßen sind nach ihm benannt – so in der Stadt seiner Jugend, Sondershausen, in Brandenburg an der Havel sowie in Berlin. Die Benennung des Halemwegs in Berlin – an ihr liegen die „Stadtbibliothek Halemweg“ und eine Oberschule – beruhte auf der Nähe zur Gedenkstätte Plötzensee. Die Nikolaus-von Halem-Straße in Brandenburg gibt es, weil Halem hier im Zuchthaus hingerichtet wurde. Auf dem Friedhof in Sondershausen wurde eine Gedenktafel für Halem errichtet. Wo nach seiner Einäscherung die Asche verblieb, weiß die Familie nicht. Die Stiftung Klosterschule Roßleben erinnert in einer Ausstellung, aufgestellt zu19 Dönhoff, Marion Gräfin, Ein unbedingt Wagender. Über Leben und Sterben des Nikolaus Christoph von Halem, Die Zeit, 8. Februar 1991; Lucius, Robert von, Schon früh Hitler zu stürzen versucht. Vor hundert Jahren wurde der Widerständler Nikolaus von Halem geboren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. März 2005, S. 13. 20 Vgl. Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes, Lexikon des Widerstandes 1933 – 1945, München 1994, S. 76: Hier wird Halem, wie übrigens auch in der zweiten Auflage von 1998, zum Grafen gemacht. 21 Scheurig, Bodo, Deutscher Widerstand 1938 – 1944, München 19842, S. 7. 22 Briefe Erich Honeckers an Friedrich von Halem vom 3. Mai 1985 und vom 24. Mai 1985, zu finden in der Handakte Halem in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin.
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sammen mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Stiftung 20. Juli 1944, an ihn, an zehn Mitschüler und an ein Mitglied der Stifterfamilie von Witzleben, die im Widerstand eingebunden waren – sieben wurden hingerichtet. Auch unter ihnen dürfte Halem der bedeutendste und wirkkräftigste gewesen sein. Er wirkte, stärkte, ermutigte, half, verband allerorten. Da er aber zum Schutz anderer auch seinen Vertrauten nur berichtete, was nötig schien, ist ein geschlossenes Bild zu Lebensleistung und bleibenden Wirkungen von Nikolaus Christoph von Halem, einem der Großen im deutschen Widerstand, nicht umfassend möglich.
Ulrich v. Hassell – ein großer Gescheiterter der Geschichte Von Wilhelm Girardet Ulrich v. Hassell war eine der markantesten Persönlichkeiten des deutschen diplomatischen Dienstes in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nach 1933 geriet er zunehmend in Widerspruch zur Politik des nationalsozialistischen Regimes. 1938 wurde er von seinem Posten als Botschafter in Rom abgelöst und zunächst in den Wartestand versetzt. 1942 wurde er endgültig in den Ruhestand geschickt. Nach dem mißlungenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde Hassell verhaftet und in einem zweitägigen Prozeß vor dem Volksgerichtshof am 8. September 1944 zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. Der Ausspruch, er sei „ein großer Gescheiterter der Geschichte“, stammt von ihm selbst. Christian August Ulrich v. Hassell wurde am 12. November 1881 in Anklam, Pommern, als einziges Kind des Offiziers Ulrich v. Hassell und seiner Ehefrau Margarethe, geb. v. Stosch, geboren. Die Vorfahren und Verwandten beider Eltern waren Gutsbesitzer, Offiziere und Beamte, von denen einige in höchste Staatsämter gelangt waren. Aber auch jene Henriette Vogel, die 1811 zusammen mit dem Dichter Heinrich v. Kleist in den Freitod gegangen war, gehörte in die Ahnenreihe seiner Mutter. 1882 siedelte die Familie v. Hassell um nach Frankfurt an der Oder und von dort 1890 nach Berlin. 1896 mußte der Vater wegen eines Gehörleidens aus dem aktiven Offiziersdienst ausscheiden. Er war fortan als Journalist für konservative Zeitschriften tätig. Ulrich v. Hassell besuchte in Berlin das Prinz-Heinrich-Gymnasium und legte dort im September 1899, noch nicht achtzehn Jahre alt, die Reifeprüfung ab. Hassell war in den schlichten Verhältnissen eines wenig vermögenden deutschen Offiziershaushaltes aufgewachsen. Nur mit Hilfe eines Stipendiums der BremischVerdenschen Ritterschaft, der seine Familie angehörte, war es ihm möglich, das Studium der Rechtswissenschaften aufzunehmen. Er ging zunächst für ein Semester nach Lausanne, vor allem, um dort Französisch zu lernen. Aus seinen Erinnerungen wissen wir, daß diese Zeit erfüllt war von fröhlicher Geselligkeit und einem unbekümmerten Studentenleben. Danach wechselte er an die Universität Tübingen und wurde bei dem Corps Suevia aktiv. Vor ihm war schon ein Vetter, Carl v. Hassell, Tübinger Schwabe geworden. Über seine Aktivität erzählt Hassell selbst ausführlich in seinen Erinnerungen, nachzulesen im zweiten Teil des ihm gewidmeten Kapitels in diesem Band.
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Von Tübingen ging Ulrich v. Hassell weiter nach Berlin, wo er 1903 sein Referendarexamen mit der Note „gut“ bestand und zum Preußischen Referendar ernannt wurde. Es folgte darauf 1903/04 die Ableistung des Militärdienstes als EinjährigFreiwilliger beim 2. Garderegiment zu Fuß. Von 1904 bis 1908 absolvierte er den Vorbereitungsdienst auf die Assessorprüfung beim Königlichen Landgericht I in Berlin. Unter anderem nahm er als Gerichtsschreiber an der Verhandlung gegen den Schuster Wilhelm Voigt teil, der als „Hauptmann von Köpenick“ in die Geschichte eingegangen ist. Eine Referendarstation verbrachte er von Juni 1905 bis Juni 1906 am Kaiserlichen Gericht in Kiautschou/China. Während dieses Jahres ließ er sich mehrfach beurlauben für Reisen nach Peking, Shanghai und nach Japan. Schon während dieses Vorbereitungsdienstes begann er mit seiner schriftstellerischen Betätigung, die in seinem späteren Leben eine so herausragende Bedeutung bekommen sollte. Im Dezember 1908 legte er, wiederum mit der Note „gut“, seine Assessorprüfung ab. Im Januar 1911 heiratete Ulrich v. Hassell Ilse v. Tirpitz, eine Tochter des Großadmirals und Staatssekretärs im Reichsmarineamt, Alfred v. Tirpitz. Aus der Ehe sind vier Kinder hervorgegangen, unter ihnen Wolf Ulrich v. Hassell, der später ebenfalls Tübinger Schwabe wurde. Ilse v. Hassell hatte Courage, eine zupackende Art und organisatorisches Talent – ideale Voraussetzungen für das Leben einer Diplomatenfrau. Kurz vor seinem Tode nannte Hassell sie „die, der ich alles verdanke, die Sonne meines Lebens“. Der Schwiegervater Alfred v. Tirpitz war für Hassell nach seinen eigenen Worten „der Meister, das unerreichte Vorbild“. Er hielt engen, ständigen Kontakt zu ihm, den er für den „ersten aktiven Weltpolitiker unter den deutschen Staatsmännern“ hielt. Er wurde immer als überzeugter Gefolgsmann des Großadmirals angesehen, mit allen positiven wie auch negativen Auswirkungen. Nach der Assessorprüfung hatte Ulrich v. Hassell sich um die Aufnahme in den Auswärtigen Dienst beworben. Im April 1909 konnte er seinen Dienst antreten. Im Februar 1911 begann er seine Tätigkeit als Vizekonsul in Genua. Am 1. August 1914 wurde er auf eigenen Wunsch zur „militärischen Verwendung“ abgestellt. Er nahm am Westfeldzug teil und wurde schon am 8. September 1914 in der Marneschlacht östlich von Paris durch einen Herzschuß schwer verwundet. Damit war er kriegsuntauglich und „auslandsverwendungsunfähig“ geworden. Im September 1915 wurde er in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Ab Januar 1917 bekleidete er den Posten eines Direktors des Verbandes der preußischen Landkreise in Berlin. Nach dem Ende des Kaiserreiches fand Ulrich v. Hassell seine politische Heimat in der konservativen Deutschnationalen Volkspartei. Er wurde in den Vorstand gewählt und spielte eine sehr aktive, programmatische wie auch publizistische Rolle. In diese Zeit fallen erste Berührungen mit Carl Goerdeler, dem Oberbürgermeister von Leipzig. Im Dezember 1919 kehrt er zurück in den diplomatischen Dienst. Seine erste Station ist Rom, die Amtsbezeichnung lautet Botschaftsrat.
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Nach dem plötzlichen Tod des deutschen Geschäftsträgers wird er schon bald darauf mit der einstweiligen Leitung der Botschaftsgeschäfte betraut. Im März 1921 erfolgt die Ernennung zum Generalkonsul in Barcelona, eine Art „Abschiebung“, wie es heißt, wegen Differenzen mit dem neu ernannten Botschafter. Fünf Jahre später erfolgt dann die Berufung auf einen einflußreicheren Posten: Hassell wird Gesandter I. Klasse in Kopenhagen. Das deutsch-dänische Verhältnis war nicht ungetrübt in jener Zeit, wegen der Gebiete in Nordschleswig, die nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland an Dänemark abgetreten werden mußten, und wegen des Umgangs mit der deutschen Minderheit in diesen Gebieten. Hassell hat sehr erfolgreich für eine Verbesserung des politischen Klimas zwischen Kopenhagen und Berlin gewirkt. Am 1. April 1930 wird Ulrich v. Hassell wiederum versetzt: als Gesandter I. Klasse wechselt er nach Belgrad, in die Hauptstadt des Königreichs Jugoslawien. Nur wenig mehr als zwei Jahre bleibt er in diesem schwierigen Land, dann folgt im September 1932 die Ernennung zum Botschafter des Deutschen Reiches in Italien, wo Benito Mussolini, der „Duce“, zu der Zeit innenpolitisch unangefochten regierte. Nur drei Monate später wird in Berlin Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Ulrich v. Hassell, ein Konservativer, dessen Denken stark von der Kaiserzeit geprägt war, stimmte wohl anfangs partiell durchaus mit den außenpolitischen Vorstellungen der Nationalsozialisten überein, zumal was die Revision der Versailler Verträge betraf. Am Rande mag für seine Einstellung zu der neuen deutschen Regierung eine Rolle gespielt haben, daß der Außenminister, Konstantin Frhr. v. Neurath, ein Corpsbruder war. Mit ihm teilte er die Illusion, daß der „Führer“ von konservativen Kräften in seiner Umgebung kontrolliert werden könnte, was außenpolitisch zu Stabilität führen würde. Jahre später erklärte Hassell, daß er 1933 den Nationalsozialismus prinzipiell begrüßt habe, da er mit dem Weimarer System nicht einverstanden gewesen sei. Folgerichtig trat er im November 1933 der NSDAP bei. Kein Zweifel: Ulrich v. Hassell hat nach 1933 zunächst wenigstens eine Zeit lang die Politik der NSRegierung in Berlin ohne größere Vorbehalte vertreten. Und er wurde von Hitler geschätzt. Es heißt, daß er auf seine Berichte aus Rom großen Wert legte. Bis 1938 war Hassell der am häufigsten zur Berichterstattung nach Berlin zitierte Botschafter. Was zweifellos auch an dem besonderen Verhältnis Hitlers zu Mussolini lag. Schon früh allerdings kam es zu Spannungen zwischen dem Botschafter und der Ortsgruppe der NSDAP in Rom und auch der örtlichen SA-Führung. Einer der SAFührer forderte bereits 1933 Hassells Ausschluß aus der Partei, mußte dann aber seine Vorwürfe zurücknehmen. Das „Außenpolitische Amt der NSDAP“ unter seinem Leiter Alfred Rosenberg verfolgte Hassells Tätigkeit mit Mißtrauen. Ein Mitarbeiter der Botschaft Rom sandte regelmäßig diskreditierende Berichte an dieses Amt. Darin hieß es, Hassell sei „innerlich kein Nationalsozialist“. Tatsächlich wurde dieser zunehmend skeptischer über den Kurs der nationalsozialistischen Außenpolitik. Spätestens seit 1936 stand er dem Nationalsozialismus äußerst distanziert gegenüber.
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Das deutsch-italienische Verhältnis war in dieser Zeit von immer neuen Belastungen gestört. Über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund waren selbst die deutschen Diplomaten nicht informiert. Mussolini reagierte sehr verärgert. Zu weiteren schweren Verstimmungen führten die Ermordungen politischer Gegner nach der „Röhm-Revolte“ im Juni 1934 und schließlich der nationalsozialistische Putschversuch in Österreich mit der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß im Juli 1934. Mussolini ließ demonstrativ italienische Truppen am Brenner aufmarschieren. Als im März 1935 Deutschland die allgemeine Wehrpflicht einführte, war das Klima zwischen den beiden Staaten endgültig ruiniert. Italien wandte sich von Deutschland ab und suchte Anlehnung an England und Frankreich. Das mühsam errichtete Gebäude der Hassellschen Diplomatie war zusammengebrochen. Weitere Zerreißproben ergaben sich aus dem im Oktober 1935 eröffneten italienischen Krieg in Abessinien und dem Einmarsch deutscher Truppen in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes im März 1936. Zu einer gewissen Annäherung der beiden Staaten kam es, als Deutschland die Annexion Abessiniens durch Italien anerkannte und als beide Regierungen beschlossen, im spanischen Bürgerkrieg, der im Juli 1936 ausgebrochen war, die Putschisten zu unterstützen. Hassells Position wurde jedoch schwer erschüttert, als der Außenpolitiker der NSDAP und Botschafter in London, Joachim v. Ribbentrop, offizielle Gespräche in Rom führte, zu denen Hassell nicht hinzugezogen wurde und die vor ihm auch absichtlich geheim gehalten wurden. Den Vertrag über den Beitritt Italiens zum deutsch-japanischen Antikominternpakt wurde im November 1937 wiederum von Ribbentrop unterschrieben, nicht vom deutschen Botschafter in Rom. Hassell war offensichtlich kaltgestellt worden. Er konnte in dieser Situation die deutsche Außenpolitik nicht länger vertreten. Seine Kritik wurde immer lauter. Schließlich wurde er im Januar 1938 auf Grund einer Verfügung Hitlers in den Wartestand versetzt. Zugleich wurde Konstantin v. Neurath als Außenminister entlassen. Auf ihn folgte Joachim v. Ribbentrop. Ulrich v. Hassell zog sich in sein Haus in Ebenhausen im Isartal zurück. Von hier aus verfolgte er den Fortgang der verhängnisvollen Politik bis zum Kriegsausbruch. Über ein dichtes Netz politischer Freunde erfuhr er mehr über das ganze Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten, mehr jedenfalls, als auf dem Außenposten Rom zu ihm gedrungen war. Er kam in Kontakt zu der sich formierenden Widerstandsgruppe um Carl Goerdeler und den ehemaligen Generalstabschef des Heeres Ludwig Beck. Die drei konservativen Politiker bildeten dann die „Goerdeler-Beck-v.-Hassell-Gruppe“, auch die „Honoratioren“ genannt. Beck wurde in dieser Gruppe der aktive Kopf, eine Art Zentrale, bei der alle Fäden zusammenliefen. Von ihm erhoffte man sich vor allem, daß er „die Generäle“ zu einer aktiven Unterstützung bewegen könnte. Die Vorstellungen der drei „Honoratioren“ von einer Staatsform nach einem gelungenen Staatstreich gegen Hitler unterschieden sich deutlich von denen anderer, jüngerer Widerstandsgruppen, vor allem von denen des „Kreisauer Kreises“ um
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den Grafen Helmuth James v. Moltke. Hassell selbst schwebte ein starker Rechtsstaat vor, der in seinen Grundzügen eher dem untergegangenen Kaiserreich als der Weimarer Republik ähnelte. Selbst eine Restauration der Hohenzollern-Monarchie hielt er für denkbar. Hassell führte 1941 längere Gespräche mit den wichtigsten Vertretern des „Kreisauer Kreises“, ohne daß es zu einer wirklichen Annäherung kam. Es folgten weitere Zusammenkünfte, bei denen man sich nur einig war in dem Wunsch, den Staatsstreich möglichst bald herbeizuführen. Hassell erlebte bei diesen Gelegenheiten, daß die Jüngeren ihn hoch respektierten und großes Vertrauen zu ihm hatten. 1940 war Hassell in den Vorstand des „Mitteleuropäischen Wirtschaftstages (MWT)“ berufen worden, dessen Tätigkeit auf die Vertretung deutscher Wirtschaftsinteressen in Südosteuropa gerichtet war. Drei Jahre lang bekleidete er dieses Amt. Dann war er aber schließlich so sehr in die Verfolgung durch Auswärtiges Amt und Gestapo geraten, daß er für den MWT zu einer schweren Belastung geworden war. Diese Tätigkeit hatte für Hassell die Möglichkeit häufiger und weiter Auslandsreisen eröffnet. So konnte er sich insbesondere in der Schweiz und in Spanien um Kontakte zur britischen Regierung bemühen, mit dem Ziel, herauszufinden, wie Großbritannien sich zu einem „anderen Deutschland“ nach einem erfolgreichen Staatsstreich verhalten würde. Bei der britischen Regierung stießen diese Versuche, die über einen falsch eingeschätzten Mittelsmann liefen, auf taube Ohren. Das Argument lautete, daß die Anführer des Widerstandes gegen Hitler offensichtlich „keinen Einfluß“ besäßen. Vielfältige andere Versuche, Kontakte zu den Westmächten, insbesondere den USA, zu finden, blieben ebenfalls ergebnislos. Es wurde überdeutlich: der Krieg wurde gegen Deutschland geführt, nicht etwa nur gegen das Hitlerregime. Kriegsziel war auch die Zerschlagung der „preußisch-deutschen Militär- und Politikerkaste“, der natürlich auch Hassell zugerechnet wurde. Ulrich v. Hassell war an den direkten Vorbereitungen für den Staatsstreich selbst nicht beteiligt, vermutlich schon auf Grund seines Alters nicht. Er wurde allerdings lange Zeit als Außenminister des nach dem Coup d’état zu bildenden Kabinetts betrachtet. Er wurde am 28. Juli 1944 verhaftet und in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Von dort wurde er einen Monat später nach Berlin zurückgeholt und von der Gestapo verhört. Der Prozeß vor dem Volksgerichtshof fand am 7. und 8. September statt. Hassell wurde zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tage in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Ein Ersuchen Mussolinis an Hitler persönlich, v. Hassell zu begnadigen, war abgewiesen worden. Der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt war durch „Kommandierung“ Zeuge des nicht öffentlichen Prozesses geworden. Im Juni 1946 schrieb er an die Witwe Ilse v. Hassell von der „schlechthin vorbildlichen Haltung“ ihres Mannes in dem Prozeß, der „ausschließlich auf menschliche Entwürdigung und seelische Vernichtung“ ausgerichtet gewesen sei. Nachschrift: An einem Wochenende im Frühjahr 1956, ich war damals 20 Jahre alt, hat Frau Ilse v. Hassell mich zweimal in ihrem Haus in Ebenhausen, südlich von
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München im Isartal gelegen, empfangen. Ausführlich hat sie mit mir über ihren Mann gesprochen. Diese Begegnung hat sich lebenslang meinem Gedächtnis eingeprägt und sie hat auch – 55 Jahre später – den Anstoß gegeben für diesen Beitrag. Als Quelle habe ich die Biografie „Ulrich v. Hassell 1881 – 1944“ von Gregor Schöllgen herangezogen.
Tübingen Von Ulrich v. Hassell Proömium des Herausgebers In den letzten Tagen seines Lebens, schon in Gestapo-Haft, schrieb Ulrich v. Hassell eilig seine Lebenserinnerungen nieder. Er wußte, daß sein Urteil vor dem Volksgerichtshof bereits sicher war, bevor der Prozeß begonnen hatte, denn er hatte aktiv darum gekämpft, die NS-Diktatur zu beseitigen und den Krieg zu beenden. Er hatte sich Stauffenberg zur Verfügung gestellt. Diese letzten Erinnerungen sind 1994 unter dem Titel „Der Kreis schließt sich“ erschienen,1 aber seitdem nicht wieder aufgelegt worden. Hassells ältester Sohn Wolf Ulrich hatte die engbeschriebenen Blätter nach dem Tod des Vaters aus dem Gefängnis gerettet.2 Hier erfolgt der zweite Abdruck der Hassell’schen Studienerinnerungen,3 und zwar in dem Ausschnitt, der Tübingen und seine aktive Zeit im Corps betrifft;4 der Herausgeber dankt Malve v. Hassell, New York, recht herzlich für die freundliche Genehmigung. Dieser Text wurde ausgewählt, weil er sehr viel über die Art der Sozialisierung in einem Corps verrät; er ist im Grunde gültig für alle Corpsstudenten, die in diesem Band beschrieben werden. Tübingen Am 19. September 1899, noch nicht achtzehn Jahre alt, bestand ich das Abiturientenexamen, recht und schlecht, obwohl ich Primus omnium war, immerhin zu meiner Erleichterung „so grade“ vom Mündlichen befreit. Ich hielt in der Aula eine schön ausgefeilte, auswendig gelernte Abschiedsrede, in der ich stecken blieb und nur mit durch die in warmem Mitgefühl auf mich gerichteten Augen des „Direx“ gerettet wurde. Dann gab es einen Abschiedskommers, den ich präsidieren mußte. Mein, die Lehrer ganz gehörig mitnehmender, humoristischer Beitrag zur Abiturientenzeitung wurde unter großem Jubel verlesen. Es ist für mich damals vielleicht 1
Hassell, Ulrich v., Der Kreis schließt sich, Berlin 1994, passim. Ebd., S. 9. 3 Anders als beim ersten Abdruck durch den Propyläen-Verlag sind hier einige wenige Glättungen im Text vorgenommen, die aber lediglich Abkürzungen und die Schreibweise des Begriffs „Corps“ betreffen – Hassell verwendet hier noch das zu seiner Aktivenzeit übliche „Korps“. 4 Ebd., S. 63 und S. 71 – 88; vgl. Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961 (künftig: KCL), Nr. 129 – 587. 2
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bezeichnend, daß der „blaue Emil“ nachher zu meinem Vater sagte: „Alles mögliche habe ich Ihrem Sohn zugetraut, aber nicht, daß er solchen Humor hätte!“5 (…) Inzwischen hatte Rudi6 sein Abiturexamen bestanden. Schon lange war schriftlich beraten worden, was nun zu unternehmen sei. Gelegentlich hatten wir als Jünger der Politik an den „Verein deutscher Studenten“ gedacht, der damals die betont nationale Studentenschaft zusammenführte. Aber beherrschend blieb der Gedanke, Corpsstudent zu werden. Für die Auswahl des Corps, die unter allen Umständen gemeinsam erfolgen sollte, ergab sich, daß wir beide gute Beziehungen zu den Tübinger Schwaben hatten. Mein Großvater Hassell war Göttinger Bremenser – dort noch vor der eigentlichen Corpszeit – gewesen, Onkel Karl Heidelberger Vandale,7 während Onkel Leopold nach dem Tod seines Vaters aus Mangel an Mitteln mit einem Schulkameraden zu den etwas billigeren Münchener Franken ging.8 Vetter Carl dagegen war dank allerhand Beziehungen zu den Schwaben nach Tübingen gegangen9 und warb lebhaft für sie. Das gleiche tat bei Rudi ein junger Tübinger Schwabe, Sohn des Generals von Manthey, der dem Hause Reibnitz befreundet war. Die Schwaben gehörten nicht zum feudalen „Weißen Kreise“ – Bonner Preußen, Heidelberger Sachsenpreußen, Göttinger Sachsen –, waren auch erheblich weniger „aufwendig“. Sie wurden zum sogenannten „Grünen Kreis“ gerechnet und hatten ein altes Kartell mit den Heidelberger Westfalen, ohne daß im Grunde mit diesen sehr wohlhabenden Leuten ein innerer Kontakt bestand, während die Tübinger Schwaben sich eigentlich mit den Heidelberger Vandalen viel besser verstanden. Befreundet war die Suevia mit den Göttinger Bremensern, Münchener und Jenenser Franken, Straßburger Rhenanen, Freiburger Hessen-Preußen, Breslauer Preußen und Würzburger Rhenanen. Die Zusammensetzung [der Schwaben] war insofern ideal, als sie neben württembergischem und preußischem, hannoverschem, holsteinischem, und pommerschem Adel, der im Durchschnitt etwa ein Viertel, oft auch weniger, gelegentlich mehr ausmachte, sich aus bestem Bürgertum aus dem ganzen Reich, besonders auch aus den Hansestädten rekrutierte. Die Frage des „Wechsels“ war für beide Elternpaare recht belastend; die meisten Schwaben hatten 250 Mark monatlich, einige nur 200, andere mehr, vor allem durch beneidenswertes Durchzahlen während der Ferien. Wir bekamen, ich mit Hilfe des Stipendiums und vielleicht Onkel Karls, 250 Mark, aber leider nicht „durchge5
Hier folgen Hassells Erinnerungen an seine Zeit in Lausanne. Sie sind hier ausgespart. Alle folgenden, nicht gesondert gekennzeichneten textlichen Fußnoten stammen aus der Originaledition dieses Textes für den Propyläen-Verlag, 1994; die Verweise auf die Kösener Corpslisten hat der Herausgeber vorgenommen. Einige textliche Ergänzungen des Herausgebers in den Fußnoten sind ebenfalls gesondert gekennzeichnet. 6 Rudolph Frhr. v. Reibnitz, Jugendfreund und späterer Corpsbruder, vgl. KCL, Nr. 129 – 589. 7 KCL, Nr. 68 – 305, dort unter „Carl“; alle KCL-Nachweise durch den Herausgeber. 8 KCL, Nr. 106 – 329. 9 KCL, Nr. 129 – 470.
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zahlt“. Ich stand, als wir uns entschlossen, nach Tübingen zu gehen, dem Corpsstudententum nicht unkritisch gegenüber, eine Einstellung, die ich auch während der Aktivität und später durchaus beibehielt. Manche Dinge waren wenig erfreulich. Vor allem war das Ganze eine individuelle Frage, d. h., für den einen paßte es, für den anderen nicht. Für meine Person ist nicht zu bezweifeln, daß mir die korpsstudentische Art und Zeit hervorragend gut getan hat, und ich kann außerdem bekennen, daß ich die anderthalb Jahre des Aktivseins zu den schönsten meines Lebens rechne. Meine Liebe zum Corps und zu Tübingen war heiß und echt, und sie wird es bis zu meinem Ende bleiben. Ich konnte später – im letzten Augenblick – noch meinen ältesten Sohn dem Corps zuführen, dann wurde diese an Freuden und Kämpfen, an Wertvollem und Widersinnigem, an Erzieherischem und Überschäumendem reiche Form, eine Frühlingszeit des Lebens zu durchbrausen, zerbrochen.10 Reibnitz und ich kamen eines Tages im April 1900 in Stuttgart an, wo wir unsern zukünftigen Corpsbruder Achim Arnim11 trafen und kennenlernten. Er war der Sohn des angesehenen Berliner Arztes Heinrich von Arnim,12 Ehrenmitglied der Suevia, also eines ums Corps besonders verdienten Corpsbruders. Dann erschien, uns wahrzunehmen, einer der bedeutendsten und originellsten Schwaben, weithin Onkel Julius genannt, der einstige afrikanische Gouverneur, später württembergischer Minister und Kabinettschef des Königs, Freiherr von Soden,13 ein gemütlicher urwüchsiger Mann mit schwäbischer Gutmütigkeit, aber ebenso großer Gewitztheit. Von ihm erzählte mir viel später in Ostasien ein Seeoffizier folgende bezeichnende Geschichte. Er, der Offizier, sei mit seinem Schiff auf afrikanischer Station in zwei deutschen Kolonialhauptstädten gewesen und in die Messe des Gouvernements eingeladen worden. In der ersten habe er zwei oder mehr Parteien vorgefunden, die miteinander nicht sprachen und die Gäste der anderen Gruppe ignorierten; in der zweiten eine unübertreffliche Harmonie, hier sei Soden Gouverneur gewesen, der, befragt, wie er das fertigbringe, fröhlich in die Worte ausgebrochen sei: „Ich halt’ halt die Bande allweil unter Alkohol!“ Von seiner Erstchargierten-Zeit behauptete man, er habe die offizielle Kneipe statt ihrer altgeheiligten Formen mit den Worten zu eröffnen gepflegt: „Na, seid’s alle da – dann kann die Schweinerei losgehen!“ Viel später, im Jahre 1915, habe ich Onkel Julius in Stuttgart aufgesucht, um ihm die Gedankengänge meines Schwiegervaters klarzumachen und die Württemberger zu einer festeren politischen Einstellung zu vermögen. Onkel Julius war ganz ein-
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Nach 1933 versuchte die Hitler-Regierung, die studentischen Verbindungen, die nach ihrer Auffassung elitär und ihren sozialistischen Vorstellungen nicht entsprechend waren, in ihr gemäße Formen zu pressen. Insbesondere die Forderung nach Ausscheiden aller Juden führte dann zur Auflösung oder Selbstauflösung der Corps. 11 KCL, Nr. 129 – 591. 12 KCL, Nr. 129 – 234. 13 KCL, Nr. 129 – 202; Nr. 39 – 740; es handelt sich um Julius Frhr. v. Soden, 1846 – 1921, erster kaiserlich-deutscher Gouverneur von Kamerun und Ostafrika; später württembergischer Außenminister. Soden trug dieselben Bänder wie König Wilhelm II. von Württemberg.
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verstanden, meinte aber bezüglich des Königs und des Ministerpräsidenten von Weizsäcker achselzuckend: „S’sind halt keine Helde!“ Das sind die Schwaben im Sinne Bismarckscher Zivilcourage bei aller physischen Tapferkeit überhaupt selten. Ich habe in Tübingen und später den Volkstamm gut kennen und lieben, vor allem auch als ungewöhnlich tüchtig und im Auslande sein Deutschtum zäh bewahrend schätzen gelernt. Es ist mir aber auch immer klarer geworden, daß der Schwabe hinter der Maske gutmütiger Derbheit sehr oft ein gehöriges Maß berechnender und nicht selten recht eigennütziger Verschmitztheit verbirgt, die Vorsicht ihm gegenüber erfordert. Allerdings hat mich ein Auslandsaufenthalt von fast einem Vierteljahrhundert gelehrt, mit solchen allgemeinen Kennzeichnungen von Völkern und Stämmen vorsichtig zu sein. (…) In Wirklichkeit haben sich die Deutschen politisch von jeher als das erwiesen, was man soldatisch einen „Sauhaufen“ nennt; es mußte erst das Brandenburg-Preußen der Hohenzollern kommen, um da Disziplin hineinzubringen. Die Diszipliniertheit als Tugend ist bei uns Deutschen ganz gewiß die Frucht um so längerer verhängnisvoller Undiszipliniertheit gewesen. Was dann später daraus geworden ist, darüber möchte ich im zweiten Teil des Buches noch einige Gedanken äußern. Nun, solche Gedanken lagen uns damals sehr fern, wir stürzten uns unbefangen zugleich in das Corpsleben und das schwäbische Volksleben hinein. Ich bin da wohl Partei, aber ich glaube wirklich, daß es nichts Reizvolleres geben konnte als das damalige am Neckar sich erstreckende, um Hohentübingen und den Österberg gelagerte Tübingen. Sein Geist und seine Eigenart, seine Natur und das Städtchen in baulicher Hinsicht sind oft genug geschildert worden, von alten Stiftlern und Konviktlern, von Korporationsstudenten und Professoren, besonders farbig und lebhaft von Professor Häring – „Der Mond braust durch das Neckartal“ – und vom Bildhauer von Graevenitz – „Bildhauerei in Sonne und Wind“.14 Zu meiner Zeit wurde das äußere Bild durchaus durch die farbentragenden Verbindungen beherrscht, obwohl auch „schwarze“ Korporationen eine Rolle spielten. Sehr angesehen war die Burschenschaft Germania, nahe der Neckarbrücke, mit dunkelroten „Bäcker“-Mützen. Unter den Corps belegten wohl die Schwaben unbestritten den ersten Platz. Ihre leuchtend roten Mützen und Kneipjacken boten abends auf der Terrasse des Hauses unweit der gleichen Brücke ein lustiges Bild. Unsere Farben waren Schwarz-Weiß-Rot, mit denen wir 1831 dem deutschen Reich vorangegangen waren, dem Herzen dadurch doppelt teuer geblieben. Während wir am Neckar hausten, saßen die drei anderen Corps, die Preußen mit schwarzen, die Franken mit hellgrünen und die Rhenanen mit himmelblauen Mützen, auf dem Österberg. Alle vier C.C.s (Corpsconvente) bildeten den Tübinger S.C. (Seniorenconvent), der alle Woche sehr ernsthaft tagte, zu Beginn und Ende 14 Theodor Häring (1884 – 1964), Hegelforscher und schwäbischer Heimatschriftsteller; Fritz v. Graevenitz (1892 – 1959), Bildhauer.
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des Semesters einen S.C.-Kommers und dazwischen im Sommer den S.C.-Hock – eine Kneipe im Grünen – und im Winter gelegentlich einen S.C.-Ball veranstaltete. Sonst lebten die einzelnen Verbindungen sehr für sich. Ein großer Tag oder richtiger eine große Nacht war der 1. Mai. Da zog der S.C. um Mitternacht auf den wunderbaren Marktplatz, rieb nach der Rede eines der Erstchargierten einen Salamander auf dem ehrwürdigen Brunnenrand, schleuderte die Schoppen in den Brunnen und sang aus voller Kehle „Der Mai ist gekommen“.15 Der Markt war für unsere Corps noch einmal die Stätte eines nächtlichen Auszugs: der Aufbruch zur alljährlichen Pfingsttour vollzog sich dort in vorgeschriebenen Pfingsthüten und sonstigen Attributen meist nach einer scharfen Kneipe, die das Antreten turbulent gestaltete. Die Hauptperson war der Corpsdiener Bausch, der mit Zylinder und auch sonst fantastisch aufgemacht, vor allem mit einem roten Riesenschirm bewaffnet, bestimmungsgemäß – während wir Dritter fuhren – die erste Klasse benutzte, um, wie es hieß, Hochzeitsreisende zu stören. Die Pfingsttour, an der ich nur einmal als Fuchs teilnahm, als Bursche drückte ich mich nach den Eindrücken der ersten, gehörte nicht zu den erfreulichsten Veranstaltungen, weil ein überflüssig hoher Alkoholgenuß die touristischen Leistungen verminderte und in Lindau beim Zusammentreffen mit den Westfalen besonders übertriebene Formen annahm. In lustiger Erinnerung ist mir die Seeschlacht in Booten auf dem Titisee, bei der zum entrüsteten Entsetzen der Kurgäste zahlreiche Boote ihre Insassen umschlagend ins Wasser beförderten. Nachdem wir „renonciert“ waren, das heißt, „Fuchs“ geworden waren, wurden wir auf die einzelnen traditionellen Schwabenwohnungen, Morschei, Kiessei, Memmingerei usw., verteilt, in denen man primitiv, billig, und in engster Freundschaft mit den Wirtinnen, sehr gemütlich untergebracht war, stets zu mehreren.16 Ich wurde natürlich aus Grundsatz von Reibnitz getrennt und bezog wie einst fast zehn Jahre früher Vetter Carl die Reichardtei in der Hafengasse, nahe dem Universitätshauboden auf dem Pfleghof, was sehr wichtig war, weil man täglich punkt acht Uhr zur Fechtstunde dort sein mußte. Das Frühstück, durch Sendungen besonders agrarischer Eltern verstärkt, schmeckte dann umso besser. Die Wohnung gehörte dem rührenden alten Buchbinder Reichardt, zwei ältliche Fräulein Reichardt betreuten (und erzogen) uns. Die Reichardtei zeichnete sich dadurch aus, daß sie damals meist das Stammquartier der Corpshunde, des kurzhaarigen Hühnerhundes Bullrich, des schottischen Schäferhundes Moritz, der aber die Morschei vorzog, und der Pudel Tingel und Tangel bildete, mit denen ich mich anfreundete. Letztere waren nur für Kenner an einem nicht erörterbaren Zeichen zu unterscheiden. Man verglich sie angesichts dieser Zusammengehörigkeit mit Reibnitz und mir als die Unzertrennlichen, photographierte sie und ließ unsere Köpfe drauf setzen. In der 15
„Salamander reiben“ ist ein ehrender Trinkritus insbesondere bei Studenten. Die vom Corps angenommenen (renoncierten) Studenten wurden Füchse (oder Renoncen) genannt. Im zweiten Semester wurden sie bis zur Rezeption, der Aufnahme in das innere Corps, Brander (oder Brandfüchse) genannt. Danach wurden sie Corpsburschen. 16
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Reichardtei wohnte mein Mitfuchs Werner Fontaine, Sohn eines hannoverschen Gutsbesitzers in Wülfel, mit dem ich eine fürs Leben haltende Freundschaft schloß, zeitweise meinerseits so violent, daß Rudi traurig wurde und es Aussprachen gab. Letzteres war überhaupt eine nach Mitternacht beliebte und sinnlose Beschäftigung. Wir hatten großes Glück mit unserem Semester, das ungewöhnlich nette Leute enthielt und mit wenigen Ausnahmen in großer Harmonie zusammenhielt. Außer den schon genannten erwähne ich G[ustav] A[dolf] Gernet,17 Sohn eines Schwabens, eines Arztes, ein feiner, vielgeneckter, aber gleichbeliebter Hamburger, der Mediziner Otto Helmuth Petersen,18 Professorssohn aus Kiel, gleich mir Leibfuchs meines alten Naumburger Freundes Albracht,19 und Karl Fritsch,20 gleichfalls Sohn eines Arztes und alten Schwaben. Beide zeichneten sich vor uns Juristen durch emsigen Fleiß an der Universität aus. Ein frischer, gut erzogener Junge war Fränzchen Reden,21 Sohn des Frankfurter Staatsanwaltes von Reden, eines alten Göttinger Bremenser und großen Freundes des bei beiden Corps Konkneipant gewesenen Königs Wilhelm von Württemberg.22 Ich kann nicht alle lieben Mitfüchse aufzählen, wir waren im Ganzen sechzehn, eine sehr hohe Zahl, darunter leider diesmal kein Württemberger. Die vor uns kommende Generation der Brandfüchse, die also im Laufe unseres ersten Semesters Corpsburschen wurden, war wie alle zum Herbst eingetretenen Semester sehr schwach. Sie bestand schließlich nur noch aus dem höchst originellen und klugen, leider früh verstorbenen, Württemberger Duttenhofer,23 Mäxle genannt, Sohn des bekannten Rottweiler Großindustriellen, einem Chemiker, und dem famosen Felix Landois,24 Sohn eines Greifswalder Professors, wie sein Vater Mediziner, später Dir [ektor der] Chirurg[ie] am Elisabeth-Krankenhaus. Reibnitz und ich traten ihm von Anfang an nahe. Er hatte, besonders in später Stunde, sehr ausgesprochene Ansichten über Dinge und Menschen, auch über Corpsbrüder und eine besondere Abneigung gegen das damals regierende Semester, das in der Tat, mit Ausnahmen natürlich, nicht besonders glücklich zusammengesetzt war. Ich sehe Landois, den „blutigen Knochen“, wie er gleich seinem älteren Bruder wegen seines indianischen Aussehens genannt wurde, vor mir, wie er, die Bilder der Angehörigen eines wenig erfreulichen Mitgliedes des älteren Semesters erblickend, mit wirr hängender schwarzer Haarsträhne darauf losstürzte, mit Mühe verhindert, sie mit dem wilden Ruf „Schmeißt das Otterngezücht in die Wolfsschlucht!“ zum Fenster hinaus zu beför17
KCL, Nr. 129 – 596. KCL, Nr. 129 – 599; dort: Otto-Hellmut. 19 KCL, Nr. 129 – 570. 20 KCL, Nr. 129 – 595. 21 KCL, Nr. 129 – 593. 22 KCL, Nr. 129 – 228, später Bremensia Göttingen, KCL, Nr. 39 – 764. 23 KCL, Nr. 129 – 585. 24 KCL, Nr. 129 – 586.
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dern. Ein anderes Mal kamen wir aus der gemütlichen Ratsstube, wo wir (oberhalb des Marktes) zweimal in der Woche ohne feste Formen kneipten, da stach ihm die benachbarte Polizeiwache in die Augen, in der bei einer Gaslampe die Wachtmänner ihren Skat kloppten. Es war ein warmer Sommerabend, Tür und Fenster standen offen. Plötzlich sprang er in wilden Sätzen die Freitreppe empor, dann hinein ins Wachlokal und die Flamme abgedreht, um, ehe die braven Polizisten sich gefaßt hatten, in der Dunkelheit zu verschwinden. Sonst war er aber ein sehr friedlicher Mann. „Mäxle“ seinerseits war, bis er sich leider den Arm auskugelte, wohl der eleganteste und zugleich kraftvollste Fechter, den ich gesehen habe. Ich wohnte später auf dem Corpshaus mit ihm zusammen und hatte eines Abends spät einen grausigen furchterregenden Anblick: Vor mir stand im gemeinsamen Wohnzimmer Mäxle splitterfasernackt, nur die Krawatte um den Hals geschlungen, die der herkulisch gebaute Mann wutentbrannt immer fester zurrte, indem er zugleich mit vollen Backen in eine – noch dazu mir gehörige – Fleischwurst hineinbiß. Ihm war nur mit der Schere Erlösung vom Erdrosseltwerden zu bringen. Erster Chargierter in meiner Fuchszeit war Hans Büsing,25 Sohn des nationalliberalen Reichstagsmannes aus Mecklenburg, ein intelligenter, kühler, niemals ganz freier Mann von äußerlich sehr sicherem Auftreten, der seine Sache als Erster sehr gut machte.26 Der Zweite, Burchard,27 aus Magdeburg, war ein ausgezeichneter Fechter; zu seiner Charge gehörte die Fuchsschule, in der er unseren Respekt besaß. Wir hatten ihn gern. Dritter war mein alter Albracht, die Krone des Semesters, Fuchsmajor der damals fast karikaturhaft dicke Melcher aus Dortmund,28 bei uns Füchsen auf der Kneipe als brutal gefürchtet und wenig geliebt. Später hat er sich ganz anders entwickelt, auch äußerlich; er wurde ein in der Zeit der Ruhrbesetzung sehr bewährter Polizeipräsident dort, dann unter Papen in Berlin und schließlich Oberpräsident von Sachsen.29 Von den übrigen erwähne ich nur noch den humorvollen Luyken,30 einen glänzenden Fechter. Als wir nach Tübingen kamen, fand gerade der Umzug aus dem alten, einfachen Corpshaus an der Neckarhalde, einem der ersten Corpshäuser überhaupt, in das neue reizende Schlößchen am Neckar statt, das unter der Direktion des Alten Herrn Curt Freiherrn Seutter von Loetzen31 erbaut worden war. „Das Seuterle“ war ein 25
KCL, Nr. 129 – 576. Die Chargierten bildeten das Führungsgremium des Corps. Der Erste (X) war für die Gesamtführung, der Zweite (XX) für das Fechten, der Dritte (XXX) für die Finanzen verantwortlich. Hinzu kam der für die Füchse verantwortliche Fuchsmajor (F.M.). 27 KCL, Nr. 129 – 569. 28 KCL, Nr. 129 – 573. 29 Um die Deutschland nach dem I. Weltkrieg auferlegten Sanktionszahlungen zu erzwingen, ließ Frankreich im Januar 1923 das Ruhrgebiet militärisch besetzen. Der Davosplan schuf im August 1924 einen neuen Zahlungsmodus. Im Juli/August 1925 wurden die französischen Truppen aus dem Ruhrgebiet zurückgezogen. 30 KCL, Nr. 129 – 567. 31 KCL, Nr. 129 – 326. 26
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sehr populärer und hochverdienter Corpsbruder,32 den man viel bei uns auf der Kneipe sah. Er schwäbelte herrlich. Man behauptet, daß er anfangs nur mit den Adligen Schmollis getrunken habe, was sicher übertrieben war.33 Ich goß ihm zur Belohnung auf meiner ersten Kneipe das Tintenfaß auf die schöne rote Kneipjacke, als er sich üblicherweise in das vom Fuchsmajor gehaltene Gästebuch eintragen wollte. Seutter besaß viel Kultur und erlesenen Geschmack, den er auch am Hause bewährte. Der Corpsdiener Bausch pflegte auf ihn, wie auf andere hervorragende alte Herren, die berühmte Rede zu halten, in der es hieß: „Herr Baron, Sie sind ebenso schön als reich, tugendsam und talentvoll! Ich erlaube mir Ihnen einen guten Abend zu wünschen und trinke einen Halben auf Ihr Wohl, ohne durch die Scheußlichkeit meiner Erscheinung auffallen zu wollen!“ Leider trank „das Seutterle“ im Café Spiess und anderwärts zuviel Portwein. Es nahm schließlich ein schlechtes Ende mit dem charmanten alten Kavalier, was damit zum Ausdruck kam, daß er eines Tages an den König, in dessen Hofdienst er stand, telegraphierte: „Es plagen mich der Säue Geister, des Königs Zeremonienmeister!“ Ich fand mich als ein im Grunde geistig und körperlich noch zartes „Bübchen“ zuerst schwer in das Corpsleben hinein, vor allem in das offizielle Trinken auf der Kneipe, und ich wanderte manches Mal zu meinem Leibburschen Albrecht, um zu klagen. Reibnitz und ich erörterten auch anfangs wohl einen Austritt. Indessen, allmählich gewöhnten wir uns, faßten Fuß im Kreise der Corpsbrüder und in der Gedankenwelt des Corps. Ein anständiger, männlich freier Ton herrschte durchaus vor, die Ideale des Corpsstudententums, versinnbildlicht durch unseren schönen Wahlspruch „Furchtlos und Treu“ standen nicht nur auf dem Papier. Das Trinken, immer noch übertrieben, hatte doch gegen früher sehr abgenommen. Ein alter, rauher Forstmann, einer der vielen Gaisberg-Schöckingen,34 die bei uns aktiv waren, brach einst, allerdings zu sehr später Stunde, in Tränen aus wegen der lax gewordenen, also mit zu geringen Bierquanten gehandhabten „Komments“.35 Politik wurde nicht getrieben, die Wissenschaft arg vernachlässigt, den Mädchen im allgemeinen noch wenig Beachtung geschenkt; Weibergeschichten kamen wenig vor. Auf Feinheit im Anzug wurde meist und von den meisten kein großer Wert gelegt. Nicht wenige von uns betonten dies sogar, indem sie beim Fechten oder Sekundieren die damals gerade abgekommenen und erfreulicherweise durch feste Manschetten ersetzten „Röllchen“ mit Aplomb auf den Tisch pflanzten. Von Vetter Carl gingen damals auch noch Sagen seiner Urwüchsigkeit um. Am berühmtesten war allerdings eine andere Geschichte, der er den Namen Carlchen Laupp ver-
32 Beim Abschluß der Zeit in Tübingen wurde der Corpsbursche vom Aktiven zum Inaktiven ,befördert‘, und bei Eintritt in das Berufsleben zum ,Alten Herren‘. 33 „Schmollis“ war ein studentischer Ausdruck für Brüderschaft trinken, gleichbedeutend mit dem Annehmen des „Du“. 34 Wohl KCL, Nr. 129 – 62. 35 Komments sind Regelungen der geselligen Gebräuche, der Trinksitten und des korrekten Verhalten beim Fechten.
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dankte: er soll sich eines Abends im Vorbau des Schaufensters dieser Buchhandlung schlafen gelegt haben, die Kleider ordentlich aufgebaut daneben. Im Mittelpunkt des Corpsleben stand das Fechten und, sehr erfreulicherweise, der Genuß der herrlichen Umgebung auf „Schneftern“ (Spaziergänge) mit „Fuchsschläuchen“, also kleinen Schikanen, um die armen Füchse außer Atem zu bringen, vor schwierige Sprünge oder dergleichen zu stellen und ihren Mut zu schulen, und, auf dem Gipfel der Freuden, den sonntäglichen Jagdwagenfahrten. Letztere führten uns weit ins Land hinein, mit selbstkutschierten Gefährten und edlen Rössern, die danach ausgewählt schienen, die Strapazen weinseliger Heimfahrten nebst zahlreichen Stürzen und Unfällen einigermaßen zu überstehen. Auf diese Art oder auch mit der Bahn und zu Fuß erreichten wir alle schönen Punkte der Alb, Urach, den Hohenzollern, vor allem den geliebten Lichtenstein samt Forellen mit Eierkartoffeln in Honau, den Roßberg, den auf der traditionell verregneten Himmelfahrtsexpedition erreichten Hohenneuffen und all die anheimelnden Wein- und Bierdörfer auf „ingen“, die Tübingen umgeben, bis nach Niedernau und anderen Plätzen im nahen Schwarzwald. Von den schwefelhaltigen Brunnen in Niedernau mußten Füchse und Corpshunde gleichmäßig trinken. Aus der näheren Umgebung sind Hohenentringen und die Wurmlinger Kapelle („Droben steht die Kapelle“), nach der man auch eine schrecklich blasende und fiedelnde Staats„kapelle“ benamst hatte, zu erwähnen; Lustenau, wo ein wenig schönes Bier gebraut wurde und wo einer unserer ältesten Corpsbrüder, Zimmermann,36 Vater eines kleinen „Zi“,37 des späteren Berliner Anwalts, zu unserer Zeit Pfarrer war, gehörte eigentlich schon zu Tübingen. Engste Nachbarschaft war das königliche Jagdschloß Bebenhausen, das für uns besondere Bedeutung hatte, weil dort im Sommer meist das Königspaar residierte, mit ihm der rauhe und trinkfeste Göttinger Corpsbruder des Königs, der Hannoveraner Freiherr von Plato, der auch unser Band besaß, als Oberjägermeister.38 Letzterer besuchte oft unsere Kneipe und, was wir, die gut erzogenen Elemente der Suevia, weniger schätzten, auch seine unternehmungslustige Gattin nebst Tochter und Erzieherin ebenfalls, und zwar sogar auf der hemdsärmelig rauhen Ratsstube. Der Ton, der dabei einriß, veranlaßte uns später als „regierendes“ Semester, diesen Verkehr einzustellen. Eine besondere Huldigung brachten wir im dritten Semester einmal Platos dar. Einige von uns, die die Eltern eines Fuchses, der später selber Oberlandesgerichtspräsident wurde, nämlich einen hohen Mecklenburgischen Richter Burmeister mit Gemahlin, sehr früh morgens auf die Bahn bringen wollten, verzichteten aufs Bett, marschierten zu früher Morgenstunde zunächst nach Bebenhausen und vollführten vor Plato ein Ständchen in Gestalt eines geradezu höllischen Lärms. Plato scheuchte uns im Nachtgewand davon; auf dem Bahnhof 36
KCL, Nr. 129 – 177. KCL, Nr. 129 – 561. 38 König Wilhelm II. von Württemberg (1848 – 1921), in zweiter Ehe verheiratet mit Charlotte Prinzessin von Schaumburg-Lippe (geb. 1864). 37
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machten wir leider dem alten Burmeister einen sehr schlechten Eindruck. Da ich gerade bei solchen Untaten bin, so muß ich noch unser gelegentliches Leiblokal, den Bäck’ (Bäcker) Konz erwähnen, in polizeilichen Strafmandaten zu unserm Erstaunen die „Wirtschaft zum Pfauen“ genannt, den wir bei besonders guter Laune nach der Kneipe aufsuchten. Da ging’s hoch her. Wir sahen dem Bäcker beim Backen zu, tranken einen schweren Wein, aßen frische Brötchen und ließen vor allem die Schweine und Hühner in das Gastzimmer, in dem sich ein Tenier’sches Treiben entwickelte. Das einzige Mal im Jahr, da eine gewisse Verbrüderung der verschiedenartigen Korporationen, das heißt der schlagenden – von den anderen, vor allem den katholischen, hielt man sich zurück – stattfand, war Fastnacht, für die sich jede große Verbindung irgendeinen Sammelgedanken zur Darstellung – wie zum Beispiel als Pierrots – wählte und dann auf einem vollgestopften Wagen den Umzug mitmachte. Um noch einmal auf Bebenhausen zu kommen, so lud uns der König gelegentlich zu einer Kneipe im Refektorium des alten Klosters ein, bei der mit dem gemütlichen Herrn ein ungezwungen frischer Ton herrschte. Er trug die rote Mütze und trank auch Bierjungen.39 Als einmal der erste Chargierte einen solchen zwischen zwei starken Parteien zu Gunsten der des Königs entschied, brüllte der alte Plato mit Stentorstimme: „Du bist ein Höfling, Du bist nicht furchtlos und treu.“ Die sehr gut aussehende Königin Charlotte fuhr oft im Schönbuch spazieren. Da viele von uns ritten, andere (weniger bemittelte wie ich) gelegentlich Dogcart fuhren, kam es häufig zu Begegnungen, bei denen wir regelmäßig im scharfen Anhalten des Wägelchens hintenüberfielen, bis die Königin, die jedesmal Mühe hatte, das Lachen zu verbeißen, uns davon dispensierte. Einmal erschien sie mit ihrer Schwägerin Schaumburg-Lippe plötzlich auf dem Haus, als der erste Chargierte Fontaine und ich uns gerade in den „Wichs“ mit hohen Stiefeln usw. warfen.40 Halbfertig erregten wir in dieser Aufmachung ihre heitere Bewunderung; wir mußten ihnen das ganze Haus zeigen, vor allem alles, wovon ihnen „Wilhelm“ und „Max“, der Prinz Schaumburg, gleichfalls Corpsbruder,41 erzählt hatten. Das Fechten mit Universitätshauboden morgens früh, mittags und oft auch gegen Abend mit kürzeren Hauboden auf dem Hause bildete das Kernstück des Corpslebens. Ich hatte in Lausanne bereits bei Herrn Dufour und seinem französischen Gehilfen Fechtstunde genommen, beides zwar Lehrer, die besser mit dem Degen als dem Rapier umzugehen wußten, aber doch mit einigem Erfolg, so daß ich meinen Konsemestern etwas voraus war. Dem, sowie meinem langen Arm und meiner sich allmählich entwickelnden Kraft verdanke ich, daß ich im zweiten Semester, kaum
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„Bierjungen“ werden als Wettbewerb um das schnellste Leeren der Gläser getrunken. Olga Prinzessin von Schaumburg-Lippe, geb. Herzogin von Württemberg (1876 – 1932). „Wichs“ ist die Bezeichnung für die förmliche Kleidung der Verbindungsstudenten – hohe Reitstiefel, weiße Reithosen und bunte Jacken in den Farben der Verbindung. 41 KCL, Nr. 129 – 484. 40
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Corpsbursche, „Erster“42 – im November – und bei dem Mangel an Leuten in dieser Generation alsbald „Zweiter“ wurde. Fontaine wurde Fuchsmajor und im dritten Semester „Erster“, wozu er alle Eigenschaften besaß. Reibnitz wurde „Dritter“ im dritten Semester, d. h. der Finanzverwalter, auch „Corpsjude“ genannt; infolge einer Mensur, die er etwas nervös bald nach dem Tode seines Vaters zu fechten hatte, verlor er die Charge, wurde durch Gernet ersetzt und mußte, wie das damals üblich war, ein viertes Semester bleiben, eine „Strafe“ mehr für zahlende Eltern als für den Betroffenen. Die Beurteilung der Mensuren durch die Corpsburschen ist – und oft sicher mit Recht – viel kritisiert worden. Die Maßstäbe waren nicht selten starr, und die Fähigkeit der jungen Leute, die „moralische“ Seite zu beurteilen, sicherlich begrenzt.43 Schwere Fehlgriffe habe ich aber nicht erlebt. Richtig ist, daß das Fechtsystem nicht ideal, sondern reichlich verkrampft war. Indessen sind alle Versuche, es zu ändern, vergeblich geblieben: eine den Mut scharf auf die Probe stellende, also mit Gefahren verbundene Methode ist eben schwer mit der Sicherung gegen wirklich schwere Verletzungen zu vereinen. Ich habe achtmal gefochten, die Regel war neunmal, viermal vor der Rezeption, das letzte Mal von einem sehr starken Fechter der Rhenanen, Steckner, schnell erledigt; viermal als Bursche, darunter zweimal in den damals üblichen, auf irgendeiner Streiterei beruhenden „PP-Suiten“ gegen ein anderes Corps, diesmal die Franken in meiner Eigenschaft als Zweiter, das eine Mal als „Sieger“.44 Auf der letzten Mensur wurde ich von einem Tübinger Preußen namens Dittler so schwer „abgestochen“, daß ich nicht mehr vor Schluß des Semesters fechten konnte. Alle diese Mensuren waren Bestimmungsmensuren, also von den Fechtwarten der Corps ausgemacht, was oft nicht ganz einfach war. Gefochten wurde „geheim“, in Wahrheit völlig öffentlich im „Waldhörnle“ draußen vor der Stadt, eine trotz allen Blutes und Schlägerklangs recht friedlich-romantische Angelegenheit. Das Flicken war freilich ein großer „Schlauch“, bei den Unterbindungen hörte man die Engel im Himmel pfeifen, auch wenn es der gute Paukarzt Dr. Kraus sehr gut machte. Leider wurden manchmal die eifrigen inaktiven Mediziner45 auf uns losgelassen, das war schlimm! Häufig habe ich mich auch als Sekundant betätigt, was eine besonders
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Senior (Einfügung Hrsg.). Die moralisch einwandfreie Haltung des Fechters bei drei Mensuren war Voraussetzung für die Aufnahme als Corpsbursche. Für die Übernahme der Stellung eines Chargierten, die zunächst durch Wahl entschieden wurde, mußte eine Mensur von dem zukünftigen Chargierten einwandfrei gefochten werden. War die Haltung bei einer späteren Mensur nicht einwandfrei, mußte der Chargierte seine Charge abgeben. Nicht einwandfreie Haltung beim Fechten verpflichtete dazu, ein weiteres Semester in Tübingen zu studieren und dabei aktiv im Corps zu bleiben. 44 PP-Suiten (Pro Patria Suiten) sind Fechtkämpfe zwischen Verbindungsstudenten für verschiedene Corps. 45 Inaktive Corpsburschen, noch in der Ausbildung zum Arzt (Einfügung Hrsg.). 43
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auszubildende Kunst im Decken des Paukanten nach erhaltenen „Blutigen“ und gegen kommentswidrige Hiebe erforderte. Den Höhepunkt der Aktivität bildete das dritte Semester, da wir die Herren waren. Neue Füchse zogen ein. Wir lebten viel, aber doch nicht ausschließlich auf dem schönen Hause, auf dem ich mit Fontaine und Reibnitz, später Gernet und dem F.M. [Fuchsmajor], dem biederen treuen Arnim auch wohnte. Abends wurde dort in sehr fideler Weise meist gegessen, mittags in der Stadt, wo wir auch nachmittags einen Vesperschoppen machten; Frühschoppen kamen allmählich ganz ab. Als Lokale standen der Ochse, der Gasthof Schlagenhauff, die Neckarmüllerei, die das Corps später erwarb und die ein Opfer der unsinnigen Fliegerangriffe auf Tübingen wurde, der Prinz Karl unter anderen im Vordergrunde. Im letzteren aßen wir sehr schlecht zu Mittag, was Herrn Ocker, dem Wirt, fast täglich lebhaft dargelegt und durch Schütten von Pfeffer in das Viertel untrinkbaren Rotweins als Schutz gegen Wiederverwendung demonstriert wurde. Der beste Gasthof war das „Lamm“ am Markt sowie die „Traube“ nahe der Universität. Das Sommersemester erfuhr für mich eine unterhaltende Unterbrechung, indem ich – mit Albracht – als Deligierter des Corps zum S. C. [Senioren Convent] nach Kösen ging. Dort wurde viel debattiert und Lichtenhainer getrunken. Es gab viel Flirtereien und Eifersüchteleien unter den Corps; wir „seichten“ zum Zorn der Westfalen viel mit den Heidelberger Vandalen. Die Krone der Tage bildete der Marsch zu den Denkmälern auf der Rudelsburg, vor allem dem schwungvollen Bismarck-Denkmal, das ich immer geliebt habe. Der sogenannte Fuchssturm auf die Rudelsburg, der mit Güssen von Lichtenhainer abgewehrt und vom Bürgertum schwer kritisiert wurde, war eigentlich nur noch eine Form, die Überlieferung zu wahren. Als junger „alter Herr“ habe ich 1903, von Jüterbog aus, noch einmal Tübingen und Suevia in Kösen vertreten. Ich kam mir als geriebener Jurist vor und erzielte in der Debatte große Erfolge gegen Leute, die noch weniger davon verstanden als ich, vor allem Mediziner! Während der Aktivität war mir die Persönlichkeit des Ersten der Sachsen-Preußen, Wilhelm Arnim, in Kösen aufgefallen, mit dem ich mich später – durch meine Frau – anfreundete und der leider während des zweiten Weltkrieges in Berlin mit seiner Frau durch Fliegerbomben tragisch zugrunde ging. Von ihm, der ebenso fromm wie „bierehrlich“ war, erzählte man, daß ihn Corpsbrüder eines Tages, schief geladen, auf seine Bude brachten, die mit Bibelsprüchen reich verziert war. Dies fuhr ihm in die Natur: er raffte sich zusammen, nahm Haltung ein und grüßte ernsten Gesichts jeden einzelnen Spruch militärisch. Vom Standpunkt des Corps war der Höhepunkt, dem unser drittes Semester zustrebte, das siebzigste Stiftungsfest. Hunderte von Alten Herren wurden dazu erwartet, die Vorbereitungen kosteten eine heillose Arbeit, und der Inaktive Johann Heinrich Wichern, der vortreffliche Enkel des großen Hamburger sozialen Arbeiters, der sein letztes medizinisches Semester in Tübingen unter der Ägide unseres hervorragenden Corpsbruders Bruns verbrachte, „schlauchte“ uns dazu tüchtig, vor
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allem auch in später Stunde durch endlose uns alle auf der Kneipe festhaltende philosophische Debatten mit Fontaine. Das Fest lief schließlich in überaus glanzvoller Weise vom Stapel. Der König nahm am Kommers teil, ebenso das Offizierkorps des Tübinger Infanterieregiments mit der höchsten Hausnummer 180 und viele Offiziere der württembergischen Kavallerieregimenter, besonders der Ludwigsburger Dragoner, bei denen ebenso wie bei 180, viele Schwaben ihrer Dienstpflicht genügten. In schönster Erinnerung ist mir der weise abgewogene Trinkspruch unseres Corpsbruders, des alten Mittnacht,46 Bismarcks Mitarbeiters an der deutschen Einheit, auf das deutsche Studententum. Auch der Corpsbruder Brunck,47 Mitgründer der deutschen chemischen Weltindustrie in Ludwigshafen, war dabei und sprach eindrucksvoll. Das ganze war ein Bild besten, stärksten deutschen Wesens. Es wäre noch viel zu erzählen vom lieben Tübingen, und dabei habe ich das doch eigentlich Wichtigste noch gar nicht erwähnt, die Alma Mater Eberhardo Carolina. Im ersten Semester habe ich noch ganz fleißig studiert, beim alten Franklin und Thudichum, bei Rümelin und Wendt, gelegentlich auch beim Universitätskanzler, dem Volkswirtschaftler Schönberg, dessen Sohn bei uns Fuchs war. Unsere Übungsarbeiten machten wir gemeinsam auf dem Hause; ich galt dank Lausanne als großer Jurist. Die Methode war, im alphabetischen Verzeichnis des BGB den vorkommenden Kunstausdruck aufzuschlagen und dann als Maultier im Nebel den Weg zu suchen: Erfolg war besser als gehofft. Im dritten Semester betrat ich die Universität nur einmal, nämlich als ich in ihrer Nähe ein menschliches Rühren spürte und den betreffenden Zufluchtsort aufsuchte. Dagegen waren Reibnitz und ich als eifrige Politiker treue Besucher des „Museums“, der Universitätslesegesellschaft, [vor allem] ihres Zeitungsaals. Immerhin war der Erfolg bescheiden: als wir aus Tübingen in Norddeutschland ankamen, begrüßte uns jemand mit der Nachricht, Terlinden sei gefangen genommen worden. Wir bemerkten bedauernd: „Die armen Buren!“, um dahin belehrt zu werden, daß es sich um einen großen betrügerischen Hochstapler handele. In die Kirche ging „man“ als aktiver Corpsstudent nicht. Als Reibnitz und ich trotzdem den gestrengen Fuchsmajor fragten, ob wir am Gottesdienst der Stiftskirche teilnehmen könnten, erwiderte er ziemlich geringschätzig lächelnd: „Dann aber bitte im Bummel!“ – also ohne Farben! Welcher Gegensatz gegen die Auffassung einer neuen Zeit, als wir 1931 inmitten der großen Wirtschaftskrise ein Dutzend Jahre nach Versailles das hundertjährige Stiftungsfest feierten, bei dem ich die Festrede hielt: Es fand unter starker Teilnahme der Bevölkerung in Gegenwart der Königinwitwe ein Festgottesdienst in der Stiftskirche statt, bei dem die Fahnen des Corps am Altar Aufstellung fanden, ein Corpsbruder predigte und ein anderer von der Empore geistliche Gesänge vortrug. Die Stimmung war ernst, fest und 46 Hermann Frhr. v. Mittnacht, KCL, Nr. 129 – 76, auch Heidelberger Guestphale, KCL, Nr. 64 – 405. 47 Heinrich v. Brunck, KCL, Nr. 129 – 208.
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harmonisch. Wenige Jahre später nahm das Corpsleben im Sturm der Ereignisse ein Ende. Bei einer der letzten Kneipen meiner Aktivität war der alte Franklin unser Gast. Auf die Begrüßung antwortete er, für uns habe immer das Caesar (oder Tacitus?) Wort gegolten: Gens Sueborum splendida, woran er einige humorvolle Ermahnungen, das Studium nicht ganz zu vergessen, fügte. Ja, sie war splendida, die Suevia, nehmt alles nur in allem, splendida und für mich fruchtbar war die Zeit der Aktivität im geliebten Tübingen, das ich, von echten Tränen naß, im August l901 so verließ wie niemals wieder eine andere Stadt.
Herbert Mumm von Schwarzenstein Palatiae Bonn IdC Von Henning Frhr. v. Soden Herbert Alfred Mumm von Schwarzenstein wurde am 22. Oktober 1898 in Frankfurt am Main als Kind des preußischen Offiziers, Industriellen und Teilhabers des Bankhauses A. Mumm & Co. in Frankfurt sowie der Tuchfabrik C. Delius in Aachen Alfred Mumm von Schwarzenstein und dessen Ehefrau Martha, geb. Delius, geboren.1 Er war preußischer Staatsangehöriger und evangelisch-reformierter Konfession.2 Familiär verfügte Mumm v. Schwarzenstein über vergleichsweise weite Horizonte. Seine wirtschaftsbürgerliche Herkunftswelt zeichnete sich durch verwandtschaftliche Bezüge zu Bankiers- und Kaufmannsfamilien seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main wie auch zu Unternehmerfamilien im Bergischen, Rheinischen und Westfälischen aus.3 Die Familie Mumm ist ein Solinger Geschlecht,4 deren Stammreihe bis auf das Jahr 1639 nachzuweisen ist.5 Seit Ende des 18. Jahrhunderts sind Namensträger 1 Der Verfasser als Archivar und Vorstandsmitglied des Corps Palatia Bonn ist Frau Christine Mumm von Schwarzenstein, geb. Lohmeyer, deren Tochter Corinna Block, geb. Mumm von Schwarzenstein, sowie seinem Corpsbruder Martin Ihering sehr zu Dank verpflichtet für die freundliche Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrages. 2 Vgl. die Kurzbiographie über Herbert Mumm im Gedenkheft „20. Juli 1944“, welches das Auswärtige Amt am 20. Juli 1961 anlässlich der Enthüllung der Ehrentafel für die Opfer des 20. Juli herausgegeben hat. 3 Zu Mumms mütterlicher Familie Delius: vgl. Deutsches Geschlechterbuch, Bd. 193, Westfälisches, Bd. 7; Limburg 1987. – Bei Herbert Mumm v. Schwarzensteins großmütterlicher Familie Scheibler dürfte es sich wahrscheinlich um die bedeutende Tuchhändlerfamilie Scheibler – zum Teil v. Scheibler – aus Monschau handeln, dazu: Stiftung Scheibler-Museum Rotes Haus Monschau (Hrsg.), Das Rote Haus in Monschau, Köln 1994, dort weiterführende Literaturhinweise. 4 Die Mumms stammen ursprünglich aus Solingen, wo Herbert Mumms Ahnherr, der Klingenkaufmann Peter Rudolf Mumm, ab 1736 als Bürgermeister hervortrat. Sein Sohn, der Rheinweinhändler Peter Arnold Mumm, 1733 – 1797, konnte 1772 durch die Heirat mit einer Tuchhändlertochter das Frankfurter Bürgerrecht erwerben, unterhielt Geschäftsniederlassungen sowohl in Frankfurt wie in Köln, blieb aber in Solingen wohnhaft. Zwei seiner Söhne, Jakob Wilhelm und Philipp Friedrich, übernahmen die Leitung der Kölner Weinhandlung; Gottlieb Hermann Mumm, * Solingen 1781, † Ffm. 1852, hingegen widmete sich dem in der Familie weitervererbten Geschäft in Frankfurt, erwarb 1822 das Dorf und Weingut Johannisberg im Rheingau und begründete das Champagnerhaus Mumm in Reims. 5 Vgl. Genealogisches Handbuch des Adels, Adelslexikon, Bd. 116/IX, Limburg 1998, S. 291 f. m.w.N., sowie Genealogisches Handbuch des Adels, Adelige Häuser B, Bd. 57/XI,
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auch in Köln und Frankfurt am Main ansässig. Die Mitglieder der Familie Mumm waren vielseitig unternehmerisch tätig. Hermann Mumm, er lebte von 1842 bis 1904, war Chef des Champagnerhauses G. H. Mumm & Co. in Reims. Bereits mehrere Generationen zuvor war Wilhelm Mumm, 1774 bis 1832, Teilhaber des Bankhauses Grunelius & Co., er gründete 1805 das Bankhaus Wilhelm Mumm u. Co. in Frankfurt am Main.6 Albert Mumm, der in eben jenem Jahr geboren wurde und bis 1880 lebte, war Herberts Urgroßvater. Er wurde später Teilhaber dieses Bankhauses, das dann ab 1858 auch unter seinem Namen als „A. Mumm & Co.“ firmierte. Des Weiteren war Christian Mumm, 1832 bis 1906, Chef des Großhandlungshauses Peter Arnold Mumm sowie Teilhaber der Kölnisch-Wasser-Firma Johann Maria Farina in Köln. Die Familie wirkte auch im diplomatischen Corps: Dr. iur. Heinrich Daniel Mumm, er lebte von 1818 bis 1890, ein Urgroßonkel Herberts und sozusagen sein familiärer Vorgänger in der Diplomatie, war Senator und später erster preußischer Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt am Main sowie Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Hermann Mumm war königlich dänischer Generalkonsul, sein Sohn Alfons Mumm, der 1857 geboren wurde und 1924 starb, fungierte als kaiserlich deutscher wirklicher Geheimer Legationsrat und Gesandter in Peking und Botschafter in Tokio. Herberts Bruder Bernhard Mumm, drei Jahre jünger als er und erst 1981 gestorben, genannt Bernd, war Botschafter in San Salvador und Luxemburg. Herbert Mumm selbst schließlich war Legationssekretär.7 I. Ein geordnetes Leben Nach dem Besuch des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums in Aachen legte Herbert Mumm im Januar 1917 das Abitur ab und absolvierte vom 1. Februar 1917 bis zum 15. Januar 1919 seinen Kriegsdienst an der Front als Fahnenjunker beim Thüringischen Husarenregiment Nr. 12. Schon als Reservist, am 12. Februar 1920, wurde ihm der Charakter eines Leutnants verliehen. Herbert Mumm war zu Beginn seines Jurastudiums ab dem Jahre 1919 häufig beim Corps Palatia in Bonn zu Gast. Mit vielen der damals studierenden Bonner Pfälzer verbanden ihn verwandtschaftliche, geographisch-landsmannschaftliche8 sowie Limburg 1974, S. 300 ff., insb. zur Nachfolge aus erloschenem kleveschen Uradel und der preußischen Adelserneuerung als „Mumm von Schwarzenstein“ 1873 sowie der Erhebung von Alfons Mumm in den preußischen Freiherrenstand 1902/03. 6 Vgl. Dietz, Alexander, Frankfurter Handelsgeschichte, Frankfurt am Main 1925, Bd. 4/2, S. 546; ders., Frankfurter Bürgerbuch, Frankfurt am Main 1897, S. 62. 7 Siehe hierzu: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871 – 1945, Bd. 3, Paderborn 2008, S. 326 ff.; ebendort Artikel und Foto zu Herbert Mumm: S. 329 f. 8 Bei der Durchsicht der Mitgliederliste der Bonner Pfälzer fällt besonders für die Jahre zwischen 1919 und 1921 die starke wirtschaftsbürgerliche Prägung auf. Die zeitweilig im Pfälzercorps auch sehr starke Landwirtsfraktion tritt zu Mumms Zeit und unmittelbar danach sehr zurück. Auch geographisch-landsmannschaftlich ist die Zusammensetzung bemerkenswert. Gegen Ende der Aktivenzeit Mumm v. Schwarzensteins von 1919 bis 1921 fanden
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soziale Gemeinsamkeiten und Beziehungen; bald wurde er dort akzeptiert.9 Er war gemäß der Pfälzerchronik von 1919 bis 1921 aktiv, versah aber keine Charge. Ihm wurde am 14. Oktober 1919 anstatt einer Rezeption die Corpsschleife verliehen, was vermuten lässt, dass schon recht früh in seiner Aktivenzeit klar gewesen sein muss, dass er seine Pflichtmensuren nicht absolvieren konnte.10 Er ist unter Nr. 672 in der Corpsliste verzeichnet. Nach Fortführung der juristischen Studien in Freiburg im Breisgau und Frankfurt am Main legte Mumm am 22. Dezember 1921 das Referendarexamen ab und wurde am 24. Juli 1922 zum Dr. jur. promoviert.11 Am 14. Januar 1922 trat er in den preußischen Justizdienst ein und war seit 27. Februar 1922 Student an der Konsularakademie in Wien, wo er am 1. Juli 1922 die erste Prüfung ablegte. Am 27. Februar 1923 wurde Herbert Mumm in den Auswärtigen Dienst – AA/Attaché/DA in der Abteilung II West- und Südosteuropa – einberufen. Er legte am 20. Dezember 1924 die diplomatisch-konsularische Prüfung ab und wurde zum 6. Januar 1925 an die Botschaft in London versetzt. Für seinen Dienstantritt hatte er dabei bis zum 15. Januar 1925 Zeit. Ab dem 30. November 1925 durfte er die Amtsbezeichnung Legationssekretär tragen. Weil seine Behörde sehr zufrieden besonders viele Studenten aus Aachen und dem Aachener Raum sowie aus Frankfurt den Weg ins Pfälzercorps: Aachen und Dürener Raum beispielsweise: Herbert v. Pastor, Hans v. PelserBerensberg, Edwin Hasenclever, Walter Schoeller, Kurt v. Stoesser; Frankfurt: Herbert v. Metzler, Hans Günther, Gustav v. Meister aus Hoechst, übrigens aus einer der Gründerfamilien der Hoechst-Chemie, vgl. dazu: 150 Jahre Corps Palatia Bonn 1838 – 1988, Bonn 1988, S. 54 f. 9 Er war zeitgleich mit seinem Bruder Bernd, Nr. 673 der Corpsliste, versah zweimal den Senior, in den Jahren 1919 und 1920 aktiv. Seine Cousine Gisela war seit 1929 mit seinem Conaktiven Gustav von Meister, Nr. 690 der Corpsliste, verheiratet und seine Schwester Mathilde ehelichte 1925 Joachim von Guilleaume, Nr. 696 der Corpsliste. Weiterhin heiratete Eugenie, die Tochter seines entfernten Cousins Otto, im Jahre 1908 Arthur Peill, Nr. 578 der Corpsliste. Herberts Onkel Hugo heiratete 1891 Maria Deichmann, deren Brüder Bonner Pfälzer waren. Seine Cousine Ottilie schließlich heiratete Richard von Schnitzler, Nr. 397 der Corpsliste. 10 Im Protokoll des aoCC von diesem Tag steht der Antrag zur Schleifenverleihung als einstimmig angenommen. Aus den sonstigen Archivunterlagen und Paukbüchern ergibt sich, dass Herbert Mumm, im Gegensatz zu seinem zeitgleich aktiven Bruder Bernd, keine Partien gefochten hat. Ob er dies aus moralischen oder sonstigen Gründen ablehnte oder ob er möglicherweise körperlich dazu nicht in der Lage war, da er eine schmächtige Statur hatte, kann nur gemutmaßt werden. Dass ihm aber dennoch die Corpsschleife zuerkannt wurde, die ihn zu einem vollwertigen Alten Herrn und Corpsmitglied werden ließ, darf zweifellos als Zeichen für die Liberalität des Pfälzercorps und zudem als Beweis für die Tatsache gewertet werden, dass Mumm im Kreise seiner Conaktiven einen guten Leumund hatte. Inwieweit Mumm die Aktivität für sein Leben prägte und ob er zeitlebens Kontakt mit vielen Corpsbrüdern gehalten hat, ist leider nicht mehr mit Sicherheit zu sagen; vgl. dazu: Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten, Frankfurt am Main 1930, Nr. 14 – 672. 11 Der Titel seiner Dissertation, die 1922 an der juristischen Fakultät in Köln angenommen wurde, lautet: „Der Urheber im Konkurs des Verlegers unter besonderer Berücksichtigung gegen den Verleger wirksamer Pfandrechte und vom Verleger widerrechtlich hergestellter Exemplare“.
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mit seiner Arbeit war, wurde er bereits am 29. Dezember 1925 an die Botschaft nach Tokio12 berufen mit DA vom 17. März 1926 bis zum 22. Februar 1927. Dort lernte Mumm den ehemaligen Außenminister und damaligen deutschen Botschafter Dr. Wilhelm-Heinrich Solf kennen, dem später zusammen mit seiner Gattin Johanna eine entscheidende Rolle bezüglich des Wirkens von Mumm im Widerstand zukommen sollte; hierauf wird im Folgenden noch eingegangen. Im Jahre 1927 arbeitete Mumm erneut in der Abteilung II West- und Südosteuropa der Zentrale in Berlin und wurde am 9. Juni 1927 zum Legationssekretär ernannt. Am 26. April 1928 wechselte er in die Abt. I Personal und Verwaltung, Ref. E/Protokoll, und wurde im März 1930 kommissarisch in das Büro des Reichspräsidenten abgeordnet. Am 22. Mai 1930 dann trat er eine weitere Ausbildungsstelle bei der Gesandtschaft in Oslo an. Diese Station dauerte vom 24. Mai bis 29. September 1930. Zwischen dem 20. Oktober 1930 und 1935 wechselte er wiederum zwischen dem Protokoll – hier war Mumm vom 1. Juni bis 6. August 1931,13 zuletzt als stellvertretender Chef – und dem Büro des Reichspräsidenten von Hindenburg. II. Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime Schon während seiner frühen Jahre im Auswärtigen Dienst ermittelte die 1933 neu eingerichtete Gestapo wegen regimekritischer Gesinnung mehrfach gegen Mumm. Zwar schätzte man seine Fähigkeiten als Diplomat, jedoch misstraute ihm die Behörde bezüglich seiner politischen Haltung.14 Daher wurde er am 26. Januar 193515 mit anderen hochrangigen Ministerialbürokraten wie dem Juristen Helmut Nicolai und dem Rassenbiologen Achim Gercke von der Gestapo wegen angeblicher Vergehen nach § 175 StGB16 erstmals verhaftet und gem. § 6 des Gesetzes zur
12 Laut Rolf Italiaander sprach Herbert Mumm über seine japanischen Erfahrungen wohl mit Begeisterung. Seine Freizeit nutzte er, um sich über die asiatischen Künste und Religionen zu bilden. Vgl. dazu: Brief Italiaander an Christine Mumm von Schwarzenstein, datiert 14. Dezember 1989. Italiaander bittet darin um Korrekturen im Manuskript seiner unveröffentlichten Memoiren. 13 Im Jahre 1931 wohnte Mumm in der Augsburgischen Str. 53, Berlin W 50, vgl.: Mitgliederverzeichnis des Johanniterordens, 1931. 14 So Italiaander, Rolf, a.a.O. 15 Die Anklageschrift vermerkt hierzu: „Der Angeklagte von Mumm, der sich wegen seiner homosexuellen Veranlagung und Betätigung im Jahre 1935 einige Zeit in Schutzhaft befunden hatte …“, siehe dazu: Groeben, Klaus v. d., Nikolaus Christoph von Halem, Wien / Köln 1990, S. 85. 16 Vgl. Hergemöller, Bernd-Ulrich, Mann für Mann – Ein biographisches Lexikon, Hamburg 2001, S. 531. § 175 des deutschen Strafgesetzbuches existierte von 1872 bis 1994 und stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. 1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragraphen durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnisstrafe, so Hergemöller a.a.O.; Angaben seiner Familie zufolge war Herbert Mumm homosexuell. Er blieb zeitlebens ledig und hatte keine Kinder.
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Widerherstellung des Berufsbeamtentums17 vom 7. April beziehungsweise 23. Juni 1933 in den Ruhestand versetzt.18 Die Pensionsbezüge, die Mumm erhielt, reichten bei Weitem nicht zur Lebensführung aus, so dass er sich fortan in der Filmindustrie als historischer Berater von Filmgesellschaften19 verdingte. Diese künstlerische Tätigkeit machte ihm Freude, da er hier seine große Allgemeinbildung einsetzen konnte. Zudem kam er in diesem Milieu auch mit politisch indifferenteren, eher künstlerisch geprägten Menschen zusammen, die dem höchst sensiblen Juristen halfen, mit seinen anhaltenden Depressionen zu leben.20 Nur der Vollständigkeit halber ist hier zu erwähnen, dass auch Herberts Bruder Bernd nach nur elf Jahren im diplomatischen Dienst am 30. Juni 1939 aus dem Reichsdienst entlassen wurde, da er ebenfalls erbittert gegen das Hitlerregime opponiert hatte.21 Aus dem am 1. November 1940 angetretenen Militärdienst, bei dem Mumm die Beobachtung der ausländischen Presse und des ausländischen Rundfunks zukam, wurde er am 16. Mai 1944 wegen Wehrkraftzersetzung entlassen, zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und kam im KZ Esterwegen / Emsland in Haft. Allerdings erhielt er am 31. März 1952 einen Wiedergutmachungsbescheid gemäß des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes vom 11. Mai 1951 und wurde am 11. Juni 1952 in den Auswärtigen Dienst zurückberufen.22 Nachdem Herbert Mumm 1935 aus der Haft entlassen wurde, verschärfte sich seine Opposition gegen die Nationalsozialisten. Den jungen Mumm trieb zunehmend die Frage um, was die Gegner des Regimes bisher falsch gemacht haben konnten, da sie es noch nicht geschafft hatten, Hitler zu stürzen. Er traf sich vermehrt mit Freunden in seiner Wohnung, um dort über die politische Lage zu sprechen. Zuvor stellte er immer das Telefon ab und schaltete das Radio ein, damit die Gespräche von lauter 17 Der Inhalt dieses § 6 lautet: „Zur Vereinfachung der Verwaltung können Beamte in den Ruhestand versetzt werden, auch wenn sie noch nicht dienstunfähig sind. Wenn Beamte aus diesem Grunde in den Ruhestand versetzt werden, so dürfen ihre Stellen nicht wieder besetzt werden.“ 18 Die tatsächlichen Hintergründe der Pensionierung Mumms sind, laut Auskunft des politischen Archivs des Auswärtigen Amtes an den Verfasser, aus der Personalakte nicht mehr nachzuvollziehen. Vgl. Ringshausen, Gerhard, Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus, S. 438. 19 Laut Italiaander, a.a.O., arbeitete Mumm als Drehbuchlektor und Regieberater bei der Ufa. In der Gedenkrede von Bundesminister Dr. Heinrich von Brentano bei der Enthüllung der Ehrentafel für die Opfer des 20. Juli im Auswärtigen Amt am 20. Juli 1961, hrsg. durch das AA, Bonn 1961, S. 54, Fn. 146, wird ausgeführt, Mumm sei Geschichtsberater bei Tobis-Film gewesen. 20 So Italiaander, a.a.O. 21 Vgl. die Biographie in: 150 Jahre Corps Palatia Bonn 1838 – 1988, Bonn 1988, S. 50. 22 Siehe hierzu: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871 – 1945, Bd. 3, Paderborn 2008, S. 328 f.
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Musik übertönt wurden. Ihm war wohl bewusst, dass er sehr gefährdet war. Daher schrieb er nichts auf und verhielt sich auch sonst vorsichtiger als andere.23 Allerdings ging Mumm nicht immer mit solcher Vorsicht vor, sondern zeigte des Öfteren auch in der Öffentlichkeit seine Ablehnung gegen Hitler und dessen Politik. Beispielsweise ist eine Begebenheit belegt, in der Mumm während einer gesellschaftlichen Veranstaltung offen Kritik24 gegen die Außenpolitik des Dritten Reiches äußerte.25 Außerdem soll Mumm zusammen mit Nikolaus von Halem, mit dem er seit 1939 befreundet war,26 satirische Hitlerreden und Gedichte verfasst und zur Verhöhnung des Regimes vorgetragen haben.27 Mumm durchschaute wohl auch entschiedener als andere jene Fehler, die Ausländer in Bezug auf Hitler und sein Regime machten. Insbesondere aufgrund seiner Kontakte nach Großbritannien, die noch aus seiner Zeit in London stammten, unterhielt Mumm enge Beziehungen zu Briten in Berlin. Er zeigte sich oftmals wütend gegenüber der BBC, welche die britische Regierung aktiv in ihrer Appeasement-Politik unterstütze, die Hitler nach Mumms Dafürhalten nur die Chance gegeben hatte, politisch aggressiver aufzutreten.28 Auch konnte er nicht verstehen, dass Hitler auf bestimmte Kreise in Großbritannien, die vermutlich bis ins Königshaus reichten, eine gewisse Faszination ausübte, weil er angeblich den Kameradschaftsgeist und die Gesundheit der Deutschen förderte und nach dortiger Lesart keineswegs beabsichtigte, Krieg zu führen, wobei die erkennbaren Verbrechen des NS-Regimes offenkundig unerkannt blieben. Da Mumm von solchen Einschätzungen aus dem Ausland alarmiert war,29 blieb der unfreiwillige Frühpensionär ständig bemüht, auslän-
23 So Italiaander, a.a.O. Dies bestätigt auch die Anklageschrift, die ausführt: „Von Mumm, der in seinen Äußerungen anderen Personen gegenüber im allgemeinen sehr vorsichtig war, (…)“, vgl. dazu: Groeben, Halem, S. 87. 24 Ungeachtet der Tatsache, dass ab 1942 seine Post kontrolliert wurde, äußerte sich auch der Saxo-Borusse Rudolf von Scheliha, der ebenfalls dem Auswärtigen Amt angehörte, mehrfach offen kritisch gegenüber dem System. Scheliha stand seinem Corpsbruder Halem und auch Mumm nahe und beschloss nach deren Verhaftung 1942, dass nicht Einzelaktionen, sondern der Sturz des gesamten Regimes nötig sei, vgl. dazu: Sahm, Ulrich, Rudolf von Scheliha 1897 – 1942, München 1990, S. 164 insbes. Fn. 312. 25 Mumm wurde von einer Prinzessin F. Chr. zu Schaumburg-Lippe denunziert. Vgl. dazu: Bundesarchiv, Signatur R 43 II, Nr. 893c, Untersuchung dieses Falls im Auswärtigen Amt und der daraus resultierenden Ablehnung einer späteren Beförderung die Akte Mumm der Reichskanzlei zur allgemeinen Korrespondenz aus den Jahren 1933 – 1938, dort auch bislang unveröffentlichte Akten. 26 Ringshausen, Widerstand und christlicher Glaube, S. 439 f. 27 Groeben, Halem, S. 58, zitiert Lagi Gräfin von Ballestrem-Solf wie folgt: „With von Mumm, he [Halem] had composed ,Führer Speeches‘ and verses which bitingly satiriced Hitler and the Nazis“. 28 So Italiaander, a.a.O. 29 Laut Italiaander, a.a.O., billigte sogar der berühmte T. E. Lawrence Hitler eine „gewisse Göttlichkeit“ zu, was Mumm als Schande brandmarkte.
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dische Diplomaten in Berlin über die Gedanken und Pläne des Widerstandes zu informieren.30 Nach Einschätzung seines Freundes und Berliner Weggefährten Rolf Italiaander war Mumm von allen Widerständlern, die dieser kennen lernte – unter anderem Ulrich von Hassell –, fraglos einer der konsequentesten. Er lehnte jedes pathetische Gerede über die Notwendigkeit des Widerstands ab und sann schon früh auf ein Attentat, weil seiner Ansicht nach nur ein solches Deutschland erlösen konnte.31 Über seinen bereits erwähnten ehemaligen Vorgesetzten Wilhelm-Heinrich Solf und dessen Gattin Johanna, gen. Hanna32, kam Mumm während der 1930er Jahre zur Gruppe des diplomatischen Widerstands gegen Hitler. Nach dem Ende Solfs diplomatischer Tätigkeit in Japan zog das Ehepaar Solf 1928 wieder nach Berlin. Dort gründete Wilhelm-Heinrich Solf mit Freunden den sogenannten SeSiSo-Club als politischen Gesprächszirkel, der sich dem liberalen Geist der Aufklärung und des Humanismus verpflichtet fühlte. Diese Grundhaltung des Ehepaars Solf führte dann in Folge des SeSiSo-Clubs auch zur Gründung des sogenannten Solf-Kreises,33 der den politischen Anschluss Deutschlands an England unterstützte, um einem drohenden Krieg mit dem Osten vorzubeugen. So trafen sich in der Solf’schen Wohnung in der Alsenstraße 9 bald oppositionelle Mitarbeiter und liberale sowie konservative Regimekritiker aus den Reihen der Diplomatie im Rahmen der von Hanna und Elisabeth von Thadden gegründeten Teegesellschaft. Der Solf-Kreis leistete zwar keinen Widerstand in Form von konkreten Umsturzplänen oder -versuchen. Aber er diente als Diskussionsplattform für Regimegegner und pflegte auch Kontakt zu Oppositionellen des diplomatischen Corps34 im Ausland sowie zu anderen Gegnern Hit30
Auch Halem hielt Verbindungen zu ausländischen Journalisten in Berlin und versuchte, durch vermeintliche Geschäftsreisen auch im Ausland Stimmung gegen Hitler zu machen, vgl. dazu: Groeben, Halem, S. 34. 31 Vgl. Italiaander, a.a.O. 32 Hanna Solf, 1887 – 1954, siehe insbes.: Schad, Martha, Frauen gegen Hitler, München 2002, S. 169 ff. – Hanna Solf nahm früh Kontakt zu Systemkritikern auf und bemühte sich zudem, politisch Verfolgten zur Flucht aus Deutschland zu verhelfen. 1944 wurde sie bei der Gestapo denunziert und am 12. Januar 1944 zugleich mit weiteren Mitgliedern des SolfKreises, darunter Otto Carl Kiep und Artur Zarden, verhaftet. Sie kam in das KZ Sachsenhausen und später nach Ravensbrück, wurde dort verhört, verriet aber keinen ihrer Mitstreiter. Zu der von Richter Freisler für den 28. April 1945 angesetzten Verhandlung kam es nicht mehr, weil Hanna vorher befreit wurde und so – anders als die meisten Mitglieder des Kreises – überlebte. Ihrer wird auch in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin gedacht. 33 Siehe dazu: Graml, Hermann, Solf-Kreis, in: Benz, Wolfgang und Pehle, Walter H., Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt 1994, S. 298 ff., den Beitrag von Benz, Wolfgang, Widerstand traditioneller Eliten – Der Solf-Kreis, in: Deutscher Widerstand 1933 – 1945, Informationen zur politischen Bildung, Heft 243, Bonn 2000 (ND), sowie Schmädecke, Jürgen und Steinbach, Peter, Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Zürich 1985, S. 893 f. und 988. 34 Zur Bildung der frühen Widerstandszentren innerhalb Deutschlands siehe auch die Ausführungen von Rothfels, Hans, Die deutsche Opposition gegen Hitler, Zürich 1994, S. 114 ff., insb. S. 115 Fn. 30, dort weiterführende Literaturhinweise. Rothfels fragt nach der
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lers. Außerdem stand die Hilfe für Verfolgte im Vordergrund. Schließlich unterhielt der Kreis auch Kontakt zum Kreisauer Kreis und über Halem zur kommunistischen Uhrig-Römer-Gruppe, über die noch zu sprechen sein wird. Dem nicht einheitlich organisierten Solf-Kreis gehörten unter anderem Adam Trott zu Solz,35 Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg, Hubertus Graf von Ballestrem, der Hannas Tochter Lagi heiratete36, Nikolaus Christoph von Halem37 und auch Herbert Mumm von Schwarzenstein an. Halem war schon früh klar gewesen, dass nur der Tod Hitlers Deutschland aus dem Elend führen konnte, und lehnte daher die meisten anders lautenden Pläne seiner Freunde und anderer Widerstandsgruppen ab. Er war jedoch überzeugt, dass Menschen seiner Geisteshaltung und Erziehung mangels Skrupellosigkeit und „mörderischer“ Professionalität nicht fähig wären, ein Attentat gegen den Führer erfolgreich auszuführen, und war daher auf der Suche nach einem Mitstreiter, der diese Tat ausführen könnte. Über Fabian von Schlabrendorff bekam Halem zunächst Kontakt zu extremen kommunistischen Untergrundgruppen. 1940 nahm er dann Kontakt zu Dr. Joseph „Beppo“ Römer, einem entschiedenen Gegner Hitlers, auf, da er ihn für ein Attentat als geeignet empfand. Herbert Mumm unterstützte Halem in diesem Vorhaben und arbeitete, wenngleich nicht direkt mit ihm zusammen,38 so doch für das gleiche Ziel und in die gleiche Richtung, etwa weil auch er mit Römer Kontakt aufnahm.39 Der Pflicht des Beamten zum Widerstand und rechnet Mumm zur frühen Opposition innerhalb des Auswärtigen Amtes, deren Widerstand auch maßgeblich darin bestand, dass auch aus dem Ausland stammende Informationen an oppositionelle Kreise in Deutschland weitergegeben wurden. 35 Mumm kannte diesen bereits von früher und traf ihn während seiner Zeit bei der Brüsseler Gesandtschaft im Winter 1932 wieder, da Trott als Referendar dort die Weihnachtsferien verbrachte, so: Malone, Henry O., Adam Trott zu Solz, Berlin 1986, S. 84. 36 Vgl. Groeben, Halem, S. 52 f. 37 Nikolaus Christoph von Halem selbst war Heidelberger Saxo-Borusse, sein Sohn Friedrich, 1933 – 2003, Nr. 778 der Corpsliste, dessen Sohn Nikolaus, * 1964, Nr. 935 der Corpsliste, sein Neffe Wilhelm, * 1941, Nr. 840 der Corpsliste, sowie dessen Söhne Antonius, * 1979, Nr. 983 der Corpsliste und Moritz * 1980, Nr. 996 der Corpsliste, sind Bonner Pfälzer wie Herbert Mumm von Schwarzenstein. 38 Siehe dazu die Anklageschrift bei Groeben, Halem, S. 84. 39 Groeben, Halem, S. 35 insb. Fn. 25, zeigt nicht eindeutig die Art der Mithilfe durch Mumm auf, sondern bemerkt nur, dass zumindest Beziehungen zwischen Römers Widerstandsgruppe und Mumm bestanden. Groeben, a.a.O., S. 50 und 52, betont in seiner rechtlichen Würdigung die Schwäche des Urteils dahingehend, dass es von einer strafrechtlichen Mittäterschaft ausgeht, obwohl Halem und Mumm wohl nicht gemeinsam gehandelt haben, sondern sich nur privat kannten. Die Anklageschrift sah es nicht als bewiesen an, dass die beiden gemeinsam zielbewusst auf das Attentat hingearbeitet hätten. Allerdings hatte auch Mumm zu Römer Kontakt aufgenommen und sprach mit ihm Pläne zu einem Attentat durch. Die Tatsache, dass beide am gleichen Tag verhaftet wurden, spricht laut Groeben aber dafür, dass sich von den jeweiligen Plänen des anderen wussten. Außerdem urteilt Groeben, a.a.O. S. 52, man könne wohl vermuten, dass Mumms „Vergehen“ als weniger schwer eingestuft
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war Hauptmann a. D. und zunächst Führer des bayrisch-nationalistischen, zur extremen Rechten tendierenden Freikorps Oberland gewesen, bevor er sich noch vor 1933 kommunistischen Kreisen zuwandte. Er unterhielt zahlreiche Kontakte zum Widerstand und wurde 1933 und abermals 1934, nach dem Röhmputsch, verhaftet. Mit ihm traf sich Mumm häufig und erörterte die politische wie militärische Lage. In der Überzeugung, der Krieg sei verloren, entwickelten sie den Plan eines Anschlusses Deutschlands an Großbritannien. Weiterhin sollte der Führer gewaltsam aus der Staatsführung verdrängt werden. Zu diesem Zweck hörte Mumm die Nachrichten des englischen Rundfunksenders Daventry, um zu erfahren, welche Hoffnungen die Briten in den deutschen Widerstand setzten und welche Rolle sie Deutschland im Nachkriegseuropa zugedacht hatten. Mumm ging 1941 davon aus, dass die Ostfront bald verloren sei und dies eine Staatskrise zur Folge haben könnte, weshalb der Ausgleich mit Großbritannien erstrebenswert sei. Dafür sei aber die Ermordung des Führers notwendig, wobei man auf die Generalität aber nicht zählen könne. Vielmehr sollte der ehemalige Reichkanzler Brüning die diplomatischen Bindungen nach Großbritannien stärken und zudem sollte man Panzerverbände gegen das Führerhauptquartier einsetzen.40 1940 verschafften Bernd Mumm und Halem Römer eine gut bezahlte Scheinanstellung als Berliner Sekretär bei dem oberschlesischen Kohlekonzern ihres Freundes Hubertus Graf von Ballestrem, für den auch Halem als Berater tätig war.41 Gleichzeitig war Herbert Mumm unvermindert aktiv im Widerstand des Solf-Kreises engagiert. Christine Mumm von Schwarzenstein berichtete dem Verfasser über eine Begegnung mit Herbert um 1941 in dessen Wohnung in Berlin. Ihr Gatte Georg Mumm von Schwarzenstein, der als Übersetzer für das Auswärtige Amt tätig war, hatte sie nach Berlin geholt, und beide wussten von den Problemen, die Herbert durch die dauerhafte Bespitzelung durch die Gestapo hatte. Trotz dieser Gefahr be-
worden sei als das Halems, da Mumm erst viel später als jener ohne geordnetes Vollzugsverfahren in aller Eile ermordet worden sei. Vgl. auch die bereits erwähnte Gedenkrede des Bundesministers Dr. Heinrich von Brentano vom 20. Juli 1961, hrsg. vom AA, Bonn 1961, insb. S. 18, 19 f. und 54. Siehe auch: Kraushaar, Luise, Deutsche Widerstandskämpfer 1933 – 1934, in: Voßke, Heinz, Im Kampf bewährt. Erinnerungen deutscher Genossen an den antifaschistischen Widerstand von 1933 – 1945, Berlin 1969, S. 165: „Herbert Mumm von Schwarzenstein, ehemaliger Legationsrat im Auswärtigen Amt, versuchte im Auftrage einer hinter ihm stehenden Oppositionsgruppe, Beppo Römer für das geplante Attentat auf Hitler zu gewinnen“. Zur weiteren Literatur siehe bei Groeben, Halem, S. 52 Fn. 74. Vgl. dazu auch: Sahm, Scheliha, S. 165, insb. Fn. 317a. Zudem: Herbert Mumms Bruder Bernd war der beste Freund Schelihas. Nach Herberts Verhaftung beriet sich Bernd mit Scheliha, was man Herbert wohl am besten ins Gefängnis schicken sollte. Scheliha war fortan in großer Sorge, dass die Gestapo auch ihn verhören und einsperren würde. 40 Vgl. im Einzelnen die Anklageschrift bei: Groeben, Halem, S. 85 ff., in der Mumm sogar als Sprecher einer hinter ihm stehenden Gruppe von Verschwörern genannt wird. 41 Siehe Groeben, Halem, S. 34 insb. Fn. 19. Mit Hubertus Ballestrem wirkte Halem auch im Widerstandskreis um Carl von Jordans – so Groeben, Halem, S. 28 ff. – und Karl von Winckler: ebd., S. 30, insbes. Fn. 8.
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suchte das Ehepaar Herbert und dieser zeigte ihnen die Adressen der Mitglieder des Solf-Kreises, die er in einem Lexikon versteckt hatte.42 Wahrscheinlich ist die Tatsache, dass Römer seine Stellung bei Ballestrem nach Auseinandersetzungen mit Halem wieder verlor, mitentscheidend für Verhaftung, Prozess und Tod Mumms. Römer, der trotz Gegnerschaft zum NS-Regime wesentlich durch den Nationalsozialismus geprägt war, dürfte mit dem durch seine alte, nobilitierte Familie geprägten Halem allein schon aufgrund der sozialen Distinktion erhebliche Meinungsunterschiede gehabt haben. Er wurde, nicht mehr durch die Stellung bei Ballestrem gedeckt, am 22. oder 23. Februar 1942 verhaftet.43 Die vermutlich unter der Folter getätigten Aussagen44 des kampferprobten Offiziers Römer führten dann wiederum am 24. Februar 194245 zur erneuten Verhaftung Mumms und übrigens auch Halems. Vor Gericht kamen beide aufgrund ihrer Attentatspläne, wohl aber auch wegen ihrer beider Mitgliedschaft im Solf-Kreis.46 42 Seit dieser Zeit wurde auch Georg, der hauptsächlich in der Schweiz arbeitete, immer wieder wegen seiner Zugehörigkeit zur Familie Mumm überwacht und sogar anlässlich eines kaufmännischen Besuches in Hamburg festgenommen, im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert und zweimal zum Tode verurteilt. 43 Beispielhaft vgl.: Ringshausen, Widerstand und christlicher Glaube, S. 449 f.: dort 22. Februar; Auswärtiges Amt (Hrsg.), „Wir gedenken“, Berlin 2010, S. 14, online unter: www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/382802/publicationFile/155026/Gedenk schrift.pdf, Abruf am 30. Dezember 2013: dort 23. Februar. 44 Laut Groeben, Halem, S. 48 f. insbes. dort Punkt „a“, war die belastende Aussage Römers gegen Halem und Mumm das einzige Beweismittel, das das Gericht hatte. Zur Frage nach der tatsächlichen Existenz und den Gründen für eine solche Aussage Römers lassen sich laut Groeben nur Mutmaßungen anstellen. Er nimmt aber an, dass es möglicherweise in einem tiefen Streit zwischen Halem und Römer begründet lag, der sich daran entfachte, dass Römer die gemeinsame Attentatspläne nicht konsequent verfolgte, sondern sich eher dem Aufbau der kommunistischen Opposition widmete. 45 Vgl. Groeben, Halem, S. 46 insb. S. 77 Fn. 63. Laut Italiaander, a.a.O., erfuhr dieser als einer der ersten von Mumms engen Freunden von dessen gewaltsamer Verhaftung, da ein befreundeter Buchbinder aus Charlottenburg, den er Mumm empfohlen hatte, ihn vor Verlassen seines Hauses telefonisch mit folgender bildhafter Nachricht warnte: „Sie wollten heute morgen die Kurfürsten-Bibliothek besuchen, um ein Buch abzuholen. Das geht nicht, denn der zuständige Bibliothekar ,wurde verreist‘ und wird wohl wegen einer Krankheit nicht so bald zurückkehren.“ Aufgrund dieser Warnung konnte Italiaander während seiner späteren Vernehmungen beim Reichssicherheitshauptamt in Sachen Mumm betonen, er wisse nichts von dessen politischer Betätigung, sondern habe sich mit Mumm lediglich über harmlose Drehbücher für Unterhaltungsfilme ausgetauscht. Die Gestapo glaubte ihm diese Ausrede, während er ahnte, dass er für den Freund gefährlich würde. Vgl. auch: Freiherr Hiller von Gaertingen, Friedrich / Reiß, Klaus Peter, Die Hassell-Tagebücher 1938 – 1944. Ulrich von Hassell. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland, Berlin 1988, S. 667: Hassell nennt als Datum der Verhaftung den 25. Februar 1942. Die Anklageschrift verzeichnet den 23. Februar 1942, vgl. dazu: Groeben, Halem, S. 84. 46 Der genaue Anlass der Verhaftung lässt sich nach Aussage des politischen Archivs des Auswärtigen Amtes an den Verfasser aus der Personalakte nicht ermitteln. Vgl. zu den Plänen um ein Attentat auf Hitler: Schwerin, Detlef Graf von, Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt, München 1991, S. 236.
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Während der Zeit der Inhaftierung im Gefängnis in Berlin-Tegel, später dann in den KZs Sachsenhausen und Ravensbrück gab es für Mumm keine Möglichkeit, mit Freunden oder seiner Familie, die selber im Fokus der Ermittlungen standen, Kontakt aufzunehmen, und das über drei lange Jahre. Halem und wohl auch Mumm wurden über Wochen hinweg unter der Folter befragt, verrieten aber keine weiteren Mitstreiter.47 Die Situation des Strafprozesses48 scheint Mumm – im Gegensatz zu Halem, der dem berüchtigten Richter Freisler furchtlos, überlegen und mit guten Argumenten entgegengetreten sein soll49 – nicht gut ertragen zu haben. Freisler hatte seine schwächliche Haltung im Prozess ausdrücklich aufgegriffen und als Anlass für ehrverletzende Äußerungen genommen.50 Während der langen Haftzeit hatte Mumm bereits versucht, sich das Leben zu nehmen.51 Gegen ihn wurde vorgebracht, er sei ein „Staatsfeind aus homosexuell bedingter Charakterschwäche, der sich durch häufiges Abhören englischer Rundfunksender um die Reste nationaler Widerstandskraft gebracht hat (…)“.52 Am 16. Juni 1944 erfolgte durch den Volksgerichtshof,53 parallel zum Urteil gegen Halem, die Verurteilung Mumms zum Tode.54 Ihm zur Last gelegt wurden Hoch- und Landesverrat sowie Wehrkraftzersetzung durch Begünstigung der Kriegsfeinde. Als Begründung wurde seitens des Gerichts angeführt, Mumm und Halem
47 Vgl. dazu: Groeben, Halem, S. 57 insb. Fn. 7; vgl. dazu: Schwerin, Dann sind’s die besten Köpfe, München 1991, S. 238; die hier geäußerte Annahme, Halem habe seine Verschwörungspläne selbst zugegeben, darf wohl mit einigem Recht als abwegig angesehen werden. 48 Der Wortlaut der Anklageschrift vom 22. April 1944 findet sich bei: Groeben, Halem, S. 83 ff. 49 So Groeben, Halem, S. 51 und 60. 50 Groeben, Halem, S. 60, stützt sich hier auf eine Aussage der Schwester Halems, Ise. 51 Groeben, Halem, S. 80, Fn. 16: Unter Bezug auf die erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen des Mitgefangenen Dr. Emil Mertens wird berichtet, dass Mumm der seelischen Belastung wohl weit weniger gewachsen war als Halem, da er bereits im Frühjahr 1944 versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden, dann aber von seinem Plan abgelassen und den Wachtmeister um Hilfe ersucht habe. 52 Groeben, Halem, S. 84. 53 Siehe auch die Unterlagen des Institutes für Zeitgeschichte München zu diesem Prozess in: Widerstand als „Hochverrat“ 1933 – 1945, München 1994, Mikrofiche-Edition, AZ: 1 J 85/ 44, Fiche Nr. 732; Groeben, Halem, S. 34 insbes.: Fn. 18. 54 Groeben, Halem, S. 47, betont, dass das Todesurteil und seine Begründung in diesem Verfahren im Gegensatz zur Anklageschrift nicht dokumentiert und bekannt sei. Nach der Schilderung von Halems Mutter ist aber bekannt, dass die mündliche Verhandlung gegen die beiden Angeklagten sieben Stunden gedauert hat. Siehe zum Todesurteil wegen des geplanten Attentats auch: Freiherr Hiller von Gaertingen, Friedrich / Reiß, Klaus Peter, Die HassellTagebücher 1938 – 1944. Ulrich von Hassell. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland, Berlin 1988, S. 437, insbes. Fn. 76 und S. 617 m.w.N.
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hätten zusammen mit Römer ein Attentat auf Hitler vorbereitet.55 Am 20. April 1945 wurde Herbert Mumm von Schwarzenstein im Zuchthaus Brandenburg an der Havel erhängt.56 III. Charakter und Gesinnung Neben der Liebe Mumms zur asiatischen Kunst, Philosophie und Religion57 seit seiner Dienstzeit in Japan war er auch ansonsten vielseitig künstlerisch-ästhetisch und literarisch-bibliophil interessiert. So ließ er sich zum einen gerne Bücher, die er für wichtig empfand, individuell einbinden.58 Andererseits hatte er eine Vorliebe für Antiquitäten und Porzellan, die er von seinen Aufenthalten im Ausland mitbrachte.59 Man wird sich ihn als einen klassischen Intellektuellen vorstellen können, der – bedingt durch seine Empfindsamkeit – zu Depressionen neigte. Hinsichtlich der Motivation Mumms, sich am Widerstand gegen Hitler zu beteiligen, sind keine genauen Hinweise dokumentiert. Es ist jedoch zu vermuten, dass seine Ablehnung gegen das Unrechtsregime maßgeblich auch in seinem festen christlichen Glauben wurzelte.60 Von seinem Mitstreiter Schlabrendorff wird Mumm als Mann von großer Zuverlässigkeit und Meister der Etikette bezeichnet, der nie ein Telefon benutzte und der seine weitgefächerten Kontakte in die Berliner Ministerien und zu den ausländischen Diplomaten nutzte, um über diese insbesondere ausländische Stellen über die wahre Lage in Deutschland zu informieren.61 Der deutsche Botschafter von Herwarth, der selbst im Widerstand gegen die Hitler-Diktatur aktiv gewesen war, sagte am 27. Juni 1961 in seiner Gedenkrede zur Erinnerung der Opfer des NS-Regimes in der Deutschen Botschaft in London: „Herbert Mumm war ein Meister der Menschenbehandlung, er liebte die Menschen und sah in ihnen Geschöpfe Gottes. Er stellte sich gegen die Diktatur in Deutschland, weil er nicht ertragen konnte, dass Würde und Freiheit
55 Vgl. Hergemöller, Mann für Mann, S. 531 m.w.N. auch zu den Tagebüchern Ulrich von Hassells. 56 So Italiaander, a.a.O., entgegen der üblichen Version der Hinrichtung durch Erschießung. 57 Siehe dazu oben Fn. 12. 58 Italiaander, a.a.O., betont, dass unter diesen Büchern natürlich auch solche waren, die dem NS-Regime unerwünscht waren. 59 Italiaander, a.a.O., berichtet von der gepflegten und gemütlichen Wohnung Mumms; die Anklageschrift nennt als Adresse: Berlin W 62, Kurfürstenstraße 81. In dieser Wohnung hatte Mumm Antiquitäten aus aller Welt gesammelt. Er besaß unter anderem eine altholländische Vitrine, die mit rotem Samt ausgeschlagen und von innen beleuchtet war und in der er viele Pretiosen aus Metall, Porzellan und Glas aufbewahrte. 60 Mumm war, wie auch weitere männliche Angehörige seiner Familie, seit dem 8. Februar 1929 Ehrenritter des Johanniterordens, zugeordnet zur Rheinischen Genossenschaft. Auf Nachfrage des Verfassers teilte der Orden mit, dass alle Personalakten zwischen 1933 und 1945 durch den Krieg verloren gegangen seien. Da Mumm auch kein Tagebuch verfasst hat, können alle weiteren Aussagen in diesem Zusammenhang nur Vermutungen bleiben. 61 Groeben, Halem, S. 52, Fn. 74; Literatur ebd., S. 77 f.
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des Menschen mit Füßen getreten werden“.62 Mumm war ein „echter Kavalier alter Schule“ und Gentleman, geprägt auch durch seine Dienstjahre in London, der von Beginn an gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten eintrat, obwohl er sich der damit einhergehenden Gefahr durchaus bewusst war.63 Auch wenn es ihm nicht persönlich gelang, die Deutschen vom Terror Hitlers zu befreien, so muss diesem Mann Respekt und Ehrbezeugung der Nachwelt zukommen. Daher kann und soll ihm der aus Psalm 92, Vers 13 entlehnte Wahlspruch seines Bonner Pfälzercorps, „fortis ut palma florebit“ – der Tapfere, der Gerechte wird erblühen wie ein Palmbaum64 – zur Würdigung und höchster Anerkennung gereichen. Herbert Mumm hat der Präambel der Konstitution des Corps Palatia zu Bonn mit seinem Vorbild Leben eingehaucht, in der es heißt: „Den Problemen der Gegenwart wollen sie mit reger Anteilnahme begegnen und sich über Vorurteile und Enge erheben. […] Aus dem Corps sollen Menschen hervorgehen, die sich bemühen, das Rechte zu erkennen, und die entschlossen sind, dafür einzustehen.“ Sein Corps wird ihm ein ehrendes Andenken erhalten. IV. Öffentliches Gedenken Zur Erinnerung und zum Gedenken an Herbert Mumm von Schwarzenstein und die anderen Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus aus den Reihen des diplomatischen Dienstes hat das Auswärtige Amt im Jahre 1961 eine Gedenktafel in den Räumlichkeiten an der Adenauerallee in Bonn und im Jahre 2000 eine Gedenkwand in der Halle des Naubaus an alter Stelle in Berlin eingeweiht.65 Außerdem fin62
Siehe Groeben, Halem, S. 78, Fn. 74. Christine Mumm von Schwarzenstein bestätigte dem Verfasser, dass auch sie während eines Treffens mit Herbert beschattet wurde. Allgemein beschrieb sie Herbert als einen klugen und charmanten Mann, dem es immer ein Anliegen war, der Sache Hitlers den Kampf anzusagen. 64 Die Palme galt den Römern als Zeichen für militärische Siege und wurde dann in der christlichen (Grab-)Symbolik auch zum Siegeszeichen über den Tod. 65 Die zur Berliner Gedenkwand gehörige Gedenkschrift findet sich online unter: www.aus waertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/382802/publicationFile/155026/Gedenkschrift.pdf, Abruf am 30. Dezember 2013; vgl. zu Mumm: S. 26 f.; ansonsten ist die archivarische Dokumentation des Lebens und Wirkens Herbert Mumms im Widerstand nicht sehr umfangreich. Vgl. die Gedenkschriften des Auswärtigen Amtes, siehe oben Fn. 2, 19 und 39; ebenso die Ansprache des Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher am 19. Juli 1984 zum Gedenken an die Widerstandskämpfer des Auswärtigen Amtes, erschienen im Bulletin des AA Nr. 89 S. 797 – 799: dort Erwähnung Mumms auf S. 799; weiter die Broschüre des AA von 1994, Widerstand im Auswärtigen Amt, dort schlichte Erwähnung auf S. 6, weiterhin Foto als 28-jähriger Legationssekretär an der Botschaft in Tokio S. 43; über die genannten Kurzveröffentlichungen hinaus ergab die Anfrage des Verfassers beim politischen Archiv des Auswärtigen Amtes leider weder Hinweise auf weiterführende Literatur noch genauere Belege zu Einzelumständen. Auch eine Einzelbiographie in den Dokumenten der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin fehlt bislang. Hinzu kommt, dass leider auch in der neueren wissenschaftlichen Literatur zum Widerstand im Auswärtigen Amt kein Wort über Mumm zu finden ist, vgl. dazu: Thielenhaus, Marion, Zwischen Anpassung und Widerstand. Deutsche Diplomaten 1938 – 1941. Die politischen Aktivitäten der Beamtengruppe um Ernst von 63
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det sich Mumms Name auf der Ehrentafel für die Widerstandskämpfer gegen die Hitlerdiktatur in der deutschen Botschaft am Eaton Square in London.66
Weizsäcker im Auswärtigen Amt, Paderborn 1984; Koehn, Barbara, Der deutsche Widerstand gegen Hitler, Berlin 2007. Einzig Steinbach, Peter und Tuchel, Johannes, Lexikon des Widerstandes 1933 – 1945, Berlin 1998, erwähnen Mumm und seine Anschlagspläne in ihrem Artikel über Diplomaten im Widerstand auf S. 45. Dieser Zustand ist angesichts Mumms Bedeutung untragbar, weshalb dieser Beitrag Ansporn zu weiteren Forschungen in Sachen Mumm sein möge. 66 Vgl. Sahm, Ulrich, Gedenken zum 20. Juli 1992. Hitler-Gegner im Auswärtigen Amt, in: Widerstand des 20. Juli 1944, Bonn 1992, S. 152 – 155.
Widerstand für Polen und Juden – Rudolf von Scheliha Von Wolfgang Wippermann Rudolf von Scheliha wurde am 14. Dezember 1942 vom Reichskriegsgericht wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und acht Tage später, am 22. Dezember 1942, im Strafgefängnis Berlin hingerichtet. Das gegen ihn verhängte Todesurteil war falsch und seine Hinrichtung war Mord. Rudolf von Scheliha war kein Landesverräter, sondern ein Widerstandskämpfer. Einer, der gegen Hitler und für Polen gekämpft hat. Außerdem war Rudolf von Scheliha Corpsstudent. Hat das eine etwas mit dem anderen zu tun? Hat er auch deshalb Widerstand geleistet, weil er Corpsstudent war und das corpsstudentische Netzwerk im konservativen Widerstand genützt hat? Das sind Fragen, die bisher zu selten gestellt und nur stückweise beantwortet worden sind. Doch bevor dazu hier ein Beitrag geleistet wird, ist zunächst ein Blick auf sein kurzes Leben – er ist nur 45 Jahre alt geworden – zu richten.1 I. Herkunft und Jugend Rudolf von Scheliha entstammte einem alten ursprünglich polnischen Adelsgeschlecht. Dies, also die polnische Herkunft seiner Familie, war ihm durchaus bewusst. Dennoch hat er seinen Familiennamen nicht polnisch, sondern deutsch ausgesprochen. Für die deutsche Aussprache seines Namens waren aber keine ideolo1
Zum Folgenden vor allem: Sahm, Ulrich, Rudolf von Scheliha 1897 – 1942. Ein deutscher Diplomat gegen Hitler, München 1990. Wichtige Ergänzungen zu Rudolf von Schelihas Widerstandstätigkeit im Moltke-Scheliha-Wühlisch-Kreis findet man in folgender Dissertation: Wiaderny, Bernard, Der Polnische Untergrundstaat und der deutsche Widerstand, Berlin 2002. Auf Sahms und Wiadernys Forschungen basieren auch die Ausführungen zu Rudolf von Scheliha in: Conze, Eckart / Frei, Norbert / Hayes, Peter / Zimmermann, Moshe, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 298 ff. und S. 560 ff. In allen Arbeiten wird die Corpszugehörigkeit Rudolf von Schelihas zwar erwähnt, in ihrer Bedeutung aber in keiner Weise erkannt und gewürdigt. Einige Hinweise zum Thema Corpsstudenten im deutschen Widerstand bei: Wippermann, Wolfgang, Was ist Widerstand?, in: Krause, Peter / Grütter, Herbert (Hrsg.), Korporierte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Wien 1997, S. 11 – 22; ders. / Schmidt-Cotta, Ralf-Roland, Kampf um die Erhaltung der Tradition – die Corps im Dritten Reich, in: Baum, Rolf-Joachim (Hrsg.), „Wir wollten Männer, wir wollen Taten!“ Deutsche Corpsstudenten 1848 bis heute, Berlin 1998, S. 180 – 206; ders., Weder Täter noch Opfer – Kösener Corps im Dritten Reich, in: Sigler, Sebastian Sigler (Hrsg.), Freundschaft und Toleranz. 200 Jahre Corps Bavaria zu Landshut und München, München 2006, S. 217 – 228; ders., „Wer seine Geschichte nicht kennt…“. Unser Corps im Dritten Reich, Bad Kösen 2008.
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gischen Gründe maßgebend. Antipolnische und generell nationalistische Ressentiments waren Rudolf von Scheliha fremd. Doch möglicherweise war alles ganz anders und einfacher. Im niederschlesischen Landkreis Oels, wo Rudolf von Scheliha 1897 geboren wurde und aufgewachsen ist,2 wurde sein Familienname schon deshalb nicht polnisch ausgesprochen, weil hier seit dem frühen Mittelalter nie Polnisch gesprochen wurde, weil hier wie im ganz überwiegenden Teil Schlesiens nie Polen beheimatet waren. Dies traf auch auf Rudolf von Scheliha zu. Und er hat diese übrigens schwierige Sprache niemals erlernt.3 Bei seinen Vorfahren war dies jedoch anders gewesen. Jedenfalls im Mittelalter. Denn in dieser Zeit haben sich die Schelihas sowohl auf Deutsch wie auf Polnisch untereinander verständigt. Das war bei den meisten schlesischen Adelsfamilien nicht viel anders, denn der Kontakt mit den nördlichen Nachbarn – und hier, voran im Erzbistum Gnesen, waren Polen beheimatet. Die Trennung nach Nation erfolgte später, in Schlesien sogar sehr spät. Wichtiger als die Nation war ohnehin die Konfession. Der Zweig der alten und – wie gesagt – ursprünglich polnischen Adelsfamilie, dem Rudolf von Scheliha angehörte, war protestantisch. Durch ihr Bekenntnis und dann auch durch den ausschließlichen Gebrauch der deutschen Sprache haben sich diese Schelihas von ihren katholischen und polnischen Vettern unterschieden. Zu diesen „deutschen“ und „polnischen“ kamen noch die tschechischen Schelihas. Sie schrieben ihren Familiennamen aber mit einem „g“. Doch all das hat nur einige Familienforscher interessiert. Rudolf von Scheliha gehörte nicht dazu. Kontakte mit anderen Angehörigen der weitverzweigten Familie derer von Scheliha hat er nicht unterhalten. Einzig wichtig und seinen Lebenslauf prägend war seine Herkunft aus dem deutschen und protestantischen Zweig der Familie von Scheliha. Die schlesischen von Schelihas waren Rittergutsbesitzer. Ihnen gehörte das Gut Zessel bei Oels in Niederschlesien, das Rudolf von Schelihas Urgroßvater im Jahr 1832 erworben hatte. Es war mit insgesamt 1.000 Hektar im gesamtpreußischen Vergleich nicht übermäßig groß, wies für schlesische Verhältnisse aber eine beachtliche Größe auf. Dafür spricht auch, dass die Bewirtschaftung offenbar lukrativ war. Schon früh fand eine Art Diversifikation landwirtschaftlicher Produkte statt. Neben Getreide, das in einer eigenen Brennerei zu Schnaps verarbeitet wurde, wurden Saatkartoffeln angebaut und verkauft. Außerdem wurden Pferde gezüchtet und Kühe sowie Schafe und Schweine gehalten. Durch die intensive und marktorientierte Bewirtschaftung des Gutes wurde seine Überschuldung vermieden. Völlig schuldenfrei gemacht wurde es durch Rudolf von Schelihas Vater, der ein außergewöhnlich guter Landwirt und geschickter Geschäftsmann war.
2 Zu Herkunft und Jugend die Ausführungen Sahms, Rudolf von Scheliha, S. 9 ff. Sie sind sehr knapp gehalten und basieren auf den wenigen Selbstaussagen Schelihas. Von ihm gibt es auch keinen Nachlass. 3 Die Aussprache also nicht mit der Betonung auf der zweiten, sondern der ersten Silbe, wobei das „h“ nicht wie „ch“ gesprochen wurde. Also phonetisch eben nicht „Schelicha“.
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Vater, Großvater und Urgroßvater von Rudolf von Scheliha waren Landedelleute, die nach ihrem Militärdienst nicht aus Not, sondern aus Neigung Landwirte geworden waren. Sie waren wohlhabend, aber nicht reich; standesbewusst, aber nicht anmaßend; konservativ, aber nicht reaktionär. Dies war nicht so außergewöhnlich, wie man heute vielfach meint. Nicht alle ostelbischen Junker waren reich und „reaktionär“. Außergewöhnlich war speziell eine, die den Namen von Scheliha trug, und zwar die Mutter von Rudolf. Sie entstammte nicht dem ostelbischen Landadel, sondern dem westdeutschen Bildungs- und Besitzbürgertum, sie war die Tochter des liberalen Politikers und späteren preußischen Finanzministers Johannes Miquel, der 1897 in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Von dieser Elisabeth von Scheliha, geborene (von) Miquel wissen wir jedoch wenig. Insbesondere nicht, ob und welchen Einfluss sie auf die Erziehung ihres einzigen Sohnes Rudolf ausgeübt hat. Noch weniger wissen wir über seine Schulzeit am Gymnasium in Oels. Kindheit und Schulzeit gingen ziemlich abrupt zu Ende. Der gerade mal 17 Jahre alte Rudolf von Scheliha meldete sich unmittelbar nach dem offenbar vorzeitig abgelegten Abitur im März 1915 zum Militär. II. Krieg und Studium Scheliha wurde in das Königlich Preußische Leibkürassier-Regiment „Großer Kurfürst“ aufgenommen. Das galt als Ehre. Alle Offiziere dieses Elite-Regiments waren zudem adeliger Herkunft.4 „Chef“ des Regiments war Kaiser Wilhelm II., der sich gelegentlich auch in die prachtvolle Kürassier-Uniform kleidete und sich so gewandet der Öffentlichkeit präsentierte. Dieses Vergnügen war Rudolf von Scheliha nie vergönnt. Er gelangte noch nicht einmal in den Besitz der Paradeuniform, für seine Trauung sollte er sich später eine Uniform ausleihen müssen. Doch dies war erst 1927. Zehn Jahre zuvor lag der zum Leutnant ernannte Rudolf von Scheliha in schlichter feldgrauer Uniform im Dreck der Schützengräben an der Westfront. Für seine hier sowie auch in Polen und Russland erzielten militärischen Verdienste wurde er mit dem Eisernen Kreuz zweiter und erster Klasse ausgezeichnet. Wegen seiner vielen Verwundungen erhielt er auch das silberne Verwundetenabzeichen. Im August 1918 wurde er in seinem Unterstand an der Westfront verschüttet. Im Unterschied zu seinen Kameraden, die dabei alle umkamen, konnte Rudolf von Scheliha gerettet werden. Er war allerdings über Nacht ergraut. Dieses besondere Kriegserlebnis hat ihn offenkundig – und nicht nur äußerlich – geprägt. Er ist zwar nicht zum überzeugten Pazifisten geworden, hat den Krieg aber niemals so verherrlicht, wie das viele seiner Altersgenossen getan haben. Er wusste einfach, was Krieg war und dass er schrecklich war. Doch darüber hat er nie viele Worte gemacht. Die Niederlage hat er auch nicht so beklagt wie die meisten seiner deutschen Landsleute. Er hat sie hingenommen. Natürlich ohne sie zu begrüßen. Er wurde im November 1918 mit seinem Regiment in die Heimat zurückgesandt. Im Dezember 1918 kam er in Breslau an, wo er einen Tag vor Weihnachten aus dem Militärdienst 4
Zu Krieg und Studium wiederum Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 12 ff.
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entlassen wurde. An den revolutionären und konterrevolutionären Vorgängen, die vorher und danach in Deutschland stattfanden, hat er sich nicht beteiligt. Auch dies unterschied ihn von vielen seiner Kameraden, die in den neugebildeten Freikorps weitergekämpft haben: nun mehr gegen innere als äußere Feinde – und manche von ihnen, weil sie sich einfach an das neue und für sie völlig ungewohnte Zivilleben nicht gewöhnen konnten und wollten. Rudolf von Scheliha hatte mit diesem neuen Leben, dem zivilen, kein Problem. Noch im Dezember 1918 schrieb er sich für ein sogenanntes Kriegsnotsemester an der Universität Breslau ein. Im Mai 1919 setzte er sein in Breslau begonnenes JuraStudium an der Universität Heidelberg fort. Hier wurde er beim Corps Saxo-Borussia aktiv.5 Über seinen Beweggrund dazu ist nichts bekannt; vermutlich ist er von einigen seiner adligen Jugendfreunde und sonstigen Standesgenossen gekeilt worden. SaxoBorussia war ein Corps, das sich auf alte Familien gründete, viele davon nobilitiert, und das beim deutschen Adel mindestens so hoch angesehen war wie das Leibkürassier-Regiment „Großer Kurfürst“. Rudolf von Scheliha wechselte sozusagen vom Adels-Regiment zum Adels-Corps. Dies jedoch nicht aus Standesdünkel; er hat sich sogar sehr negativ über das feudale Image geäußert, das das Corps Saxo-Borussia eindeutig besaß und das nunmehr, nach dem Ende der Kaiserzeit, eher negativ als positiv besetzt war. Ja, das protzige Auftreten seiner Corpsbrüder und anderer Verbindungsstudenten hat ihm missfallen. Ihre Verschwendungssucht stünde, so äußerte er sinngemäß, in einem zu großen und nicht mehr hinnehmbaren Gegensatz zur Armut der meisten anderen Studenten, die weder genügend Geld noch Zeit hätten, um sich an den Saufereien und sonstigen Vergnügungen der Verbindungsstudenten zu beteiligen. Doch diese kritischen Bemerkungen sind mit Vorsicht zu bewerten. Sie befinden sich nämlich in einem Artikel, den Rudolf von Scheliha in den „Akademischen Mitteilungen“ unter dem Titel „Die wirtschaftliche Notlage der Heidelberger Studentenschaft“ veröffentlicht hat.6 Dies in seiner Eigenschaft als Mitglied des Heidelberger AStA. Als solcher beklagte er die „wirtschaftliche Notlage“ der Heidelberger Studenten. Dies mit dem offensichtlichen Ziel, die Politik zu bewegen, mehr für die Studenten zu tun. Rudolf von Scheliha selber brauchte das nicht. Er litt keine Not, erhielt er doch von seinem Vater einen ausreichenden Wechsel, der es ihm ermöglichte, die von ihm in seinem Artikel angeprangerten corpsstudentischen Aktivitäten auszuüben. Dies ganz offensichtlich mit Freude und Genuss. Er war gern Corpsstudent, focht seine Mensuren und hat sich auch sonst am Corpsleben beteiligt. Geprägt soll es ihn allerdings nicht haben. Jedenfalls meint dies sein Biograph Ulrich Sahm.7 5 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961 (künftig: KCL), Nr. 66 – 1319; vgl. ders., Kösener Corpslisten 1930, Frankfurt a. M. 1930, Nr. 66 – 1314. 6 Rudolf von Scheliha, Die wirtschaftliche Notlage der Heidelberger Studentenschaft, in: Akademische Mitteilungen, Heidelberg, Heft 8/1921, S. 9. Auszugsweise abgedruckt bei: Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 16 f. 7 Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 16.
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Das ist jedoch zu bezweifeln. Mit verschiedenen seiner Corpsbrüder, allen voran Hans Adolf von Moltke,8 hat er Zeit seines Lebens sehr enge persönliche und berufliche Kontakte unterhalten. Hinzu kamen die Bekanntschaften mit einigen anderen Angehörigen des so genannten Weißen Kreises, der aus den Corps Borussia Bonn, Saxo-Borussia Heidelberg und Saxonia Göttingen gebildet wurde und wird. Mit einigen von ihnen – zu nennen ist vor allem Adam von Trott zu Solz9 – hat er seine eigenen Widerstandsaktivitäten zumindest besprochen, wenn nicht sogar abgesprochen. Rudolf von Scheliha war Teil eines corpsstudentischen Netzwerkes, dem neben den genannten auch noch einige andere Corpsstudenten angehörten, die sich ebenfalls am konservativen Widerstand beteiligt haben. Darauf wird noch einzugehen sein. Jetzt aber wieder zurück zu Rudolf von Schelihas Heidelberger Studentenzeit. In ihr war Rudolf von Scheliha auch (hochschul-)politisch aktiv. Als Mitglied und schließlich Vorsitzender des Heidelberger AStAs, in den er als Vertreter der „Vereinigung Heidelberger Verbindungen“ gewählt worden war, hat er sich in scharfer Form gegen die antisemitische Agitation der völkischen Studenten gewandt. Streitpunkt war die Verfassung der Deutschen Studentenschaft.10 Nach einem von den Völkischen vorgetragenen und von einigen ASt’en auch unterstützten Entwurf sollten jüdische Studenten ausgeschlossen oder in die verfasste Deutsche Studentenschaft gar nicht erst aufgenommen werden. Dies wurde von Rudolf von Scheliha kompromisslos abgelehnt. Damit konnte er sich jedoch nicht durchsetzen. Jedenfalls nicht ganz. Der Vorstand der Deutschen Studentenschaft erarbeitete auf einer Sitzung in Göttingen eine Kompromissformel aus. Nur ausländische Juden sollten nicht aufgenommen werden. „Juden, die vor dem 1. August 1914 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben“, sollten dagegen den „Reichsdeutschen“ gleichgestellt werden. Dieser wirklich faule Kompromiss wurde im Mai 1920 vom Dresdener Studententag beschlossen. Dieser Beschluss wurde jedoch vom Vorstand des Zweiten Ordentlichen Studententages, der im Juli 1920 in Göttingen tagte, mit folgenden Worten kritisiert. „Wenn die Mitgliedschaft zur Studentenschaft als einem Glied einer öffentlichrechtlichen Körperschaft von einer Rassenzugehörigkeit abhängig gemacht würde“, widerspreche das den „einfachsten staatsrechtlichen Grundsätzen.“11 Zu den Unterzeichnern dieser sehr bemerkenswerten Erklärung gehörte auch Rudolf von Scheliha. Zu vermuten, aber nicht nachweisbar ist, dass er den Ausschluss der jüdischen Studenten nicht nur aus staatsrechtlichen Bedenken abgelehnt hat. Hinzu kam seine vorher und nachher immer wieder bekundete Ablehnung des Antisemitismus. Möglicherweise hat auch das corpsstudentische Toleranzprinzip eine Rolle gespielt. Denn das verpflichtet Corpsstudenten, tolerant gegenüber allen Studenten aller Religionen und „Rassen“ zu sein. Leider waren das viele Corpsstudenten 8
KCL, Nr. 66 – 1139. KCL, Nr. 45 – 787. 10 Allgemein dazu: Schwarz, Jürgen, Die Deutsche Studentenschaft in der Zeit von 1918 – 1923 und ihre Stellung zur Politik, Freiburg 1962, S. 261 ff. 11 Zitiert nach Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 13. 9
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nicht. Zu Beginn des Dritten Reiches haben sie sogar ihre „nichtarischen“ Corpsbrüder ausgeschlossen.12 Nur wenige Corps haben das verweigert. Rudolf von Schelihas Corps Saxo-Borussia gehörte nicht dazu. Es ist aber dennoch aus dem Kösener Seniorenverband ausgeschlossen worden. Dies aber aus anderen Gründen, wegen der so genannten Heidelberger Spargelaffäre.13 Darauf muss hier nicht weiter eingegangen werden. Dies auch deshalb nicht, weil sich Rudolf von Scheliha dazu nicht geäußert hat. Dies jedoch nicht aus Interesselosigkeit oder weil er, wie Ulrich Sahm vermutet, keinerlei Kontakte zu seinem Corps mehr hatte. Denn die gab es sehr wohl. Jedenfalls zu einigen seiner Corps- und Kartellcorpsbrüder. Mit ihnen hat er, das sei hier nochmals hervorgehoben, auch noch nach seiner Aktivenzeit korrespondiert, freundschaftlich verkehrt und politisch zusammengearbeitet. Schelihas Aktivenzeit ging spätestens im Herbst des Jahres 1921 zu Ende. Denn da bestand er sein Examen. Dies noch mit einem guten Ergebnis und nach insgesamt nur knapp drei Jahren Studienzeit. Sie hatte er zudem noch im März 1921 durch seine Beteiligung am oberschlesischen Aufstand unterbrochen. Wie lange dieses kriegerische Intermezzo gedauert hat, ist aus den erhaltenen Schriftstücken nicht mehr zu entnehmen. Rudolf von Scheliha hat dies in seinem Lebenslauf nur beiläufig erwähnt und sich dessen auch nicht gerühmt. Das ist bemerkenswert. Bemerkens- und rühmenswert ist, dass er sein Studium in der Mindestzeit von sechs Semestern erfolgreich abgeschlossen hat. Dies trotz seiner corpsstudentischen und hochschulpolitischen Aktivitäten und nach vier Jahren Kriegsdienst. III. Beruf und Politik14 Im Dezember 1921 wurde Rudolf von Scheliha zum Referendar beim Kammergericht Berlin ernannt. Er beendete die Referendarzeit jedoch nicht mit dem Assessorexamen, sondern begann eine Ausbildung zum Diplomaten. Dies bei der Hamburger Außenhandelsstelle des Auswärtigen Amtes. Vor seiner endgültigen Aufnahme in den diplomatischen Dienst musste er noch eine so genannte „diplomatisch-konsularische“ Abschlussprüfung absolvieren. Auch sie hat er bestanden. Allerdings nur mit „genügend“. Nach einer kurzen Tätigkeit bei der für Osteuropa zuständigen Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin wurde er Anfang 1925 auf seinen ersten Auslandsposten bei der deutschen Gesandtschaft in Prag versetzt. Ein Jahr später wechselte er zur Deutschen Botschaft in Istanbul, die ihren Sitz in der neuen Hauptstadt der Türkischen Republik Ankara nahm. Hier wurde er zum Legationssekretär ernannt. Das entsprach dem Rang eines Regierungsrates und wurde entsprechend gering besol12
Schmidt-Cotta / Wippermann, Kampf um die Erhaltung der Tradition, S. 188 ff. Zur Spargelaffäre, Schmidt-Cotta / Wippermann, Kampf um die Erhaltung der Tradition, S. 193 ff. 14 Dazu sehr ausführlich: Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 20 ff. 13
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det.15 Für die Führung eines standesgemäßen Familienhaushalts reichte das an sich nicht. Doch das erwies sich jetzt als notwendig. Hatte sich Rudolf von Scheliha doch mit Marie Louise Edle von Medinger verlobt. Sie entstammte einer sehr reichen böhmischen Industriellenfamilie, die in den österreichischen Adelsstand erhoben worden war. Ihr Vater war Doktor der Philosophie, Diplomlandwirt und Besitzer einer ziemlich großen Gutsherrschaft bei Thurnau in Böhmen. Außerdem war Dr. Wilhelm Edler von Medinger politisch tätig. Erst als Mitglied des Böhmischen Landtages, dann als österreichischer Gesandter in Den Haag und schließlich als Abgeordneter des tschechoslowakischen Parlaments. Hier vertrat er die Interessen der deutschböhmischen Minderheit, ohne jedoch die Legitimität des tschechoslowakischen Staates grundsätzlich infrage zu stellen. Der nationalistische Eifer der sonstigen Deutsch-Böhmen, die sich seit dem Beginn des Jahrhunderts als „Sudetendeutsche“ zu bezeichnen pflegten, war ihm fremd. Dr. Wilhelm Edler von Medinger war ein loyaler Staatsbürger der tschechoslowakischen Republik, ohne seine Sympathien für die untergegangene Österreichisch-Ungarische Doppelmonarchie zu verleugnen. Eine noch überzeugtere Österreicherin – und Katholikin – war seine Frau Alice, geborene Pfersmann von Eichthal. Dies bekam der protestantische Preuße Rudolf von Scheliha zu spüren. Seine zukünftige Schwiegermutter war nämlich mit der Gattenwahl ihrer Tochter keineswegs einverstanden. Rudolf von Scheliha nahm das mit dem ihm eigenen Humor hin. Die Medingers hätten wie einige andere Österreicher auch die Niederlage von Königgrätz im Jahr 1866 nicht ganz verschmerzt und würden Friedrich dem Großen den Raub Schlesiens immer noch verübeln – so spottete er. Um seine geliebte Marie Louise von Medinger heiraten zu können, zeigte er sich jedoch in der konfessionellen Frage kompromissbereit. Die Trauung wurde nicht nach protestantischem, sondern nach katholischem Ritus vollzogen. Dies durch einen Monsignore im Wiener Stephansdom. Das war schon sehr österreichisch. Gewissermaßen zum Ausgleich war Rudolf von Scheliha in der, wie oben schon erwähnt, geliehenen Paradeuniform des Preußischen Leibkürassierregiments erschienen. Seine Schwiegereltern und deren österreichischen Freunde und Verwandten, die zur Trauung erschienen waren, haben diese kleine preußische Stichelei sicherlich bemerkt, aber letzten Endes doch goutiert. Der Kontakt mit ihnen war und blieb sehr eng und freundschaftlich. Von den Medingers ist das neue Paar auch finanziell unterstützt worden. Sie haben nicht nur ihre Hochzeitsreise bezahlt, sondern Frau von Scheliha auch eine, „Nadelgeld“ genannte, Beihilfe gewährt.16 Ohne sie hätten sich die Schelihas ihren etwas aufwendigen Lebensstil nicht leisten können. Schon Rudolf von Schelihas Reisen waren sehr kostenaufwendig. Dies ist von seinen Vorgesetzen immer wieder moniert worden, die einige seiner Reisekostenanträge entweder gar nicht 15
Er ist nur noch einmal, 1941, befördert worden, und zwar zum Legationsrat I. Klasse. Insgesamt keine diplomatische Karriere. 16 Ein kleines Vermögen hatte Rudolf von Schelihas Frau von ihrem 1934 verstorbenen Vater geerbt.
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oder nur mit Auflagen genehmigt haben. Dennoch hatte Scheliha keine Schulden. Jedenfalls keine größeren. Nach allem, was wir wissen, hat er sich auch niemals und von niemandem korrumpieren lassen. Doch es gibt eine Ausnahme. Gemeint ist sein Beitritt zur NSDAP. Er erfolgte zwar nicht schon im März, sondern erst im Juli 1933. Dennoch gehörte der Parteigenosse Rudolf von Scheliha zu den, wie bereits die Zeitgenossen spöttelten, „Märzgefallenen“. Warum hat er sich, so möchten wir Heutigen fragen, das bloß angetan? Zweifellos nicht aus politischer Überzeugung. Rudolf von Scheliha war alles andere als ein überzeugter Nationalsozialist. Eigentlich das genaue Gegenteil.17 Von ihm liegen verschiedene antinationalsozialistische Äußerungen vor. Überliefert sind sie von einigen Freunden und Kollegen. Einige haben ihn auch deshalb bei der Gestapo denunziert. Daher und noch einmal: Warum ist ein solcher Mann der NSDAP beigetreten? Ulrich Sahm vermutet, dass dies auf Anraten seines Corpsbruders und unmittelbaren Vorgesetzten Hans Adolf von Moltke geschah, der den schon vorher von ihm protegierten Rudolf von Scheliha 1932 an die von ihm geleitete deutsche Botschaft in Warschau geholt hatte. Von 1929 bis 1932 war Rudolf von Scheliha Vizekonsul in Kattowitz gewesen. Für Sahms Vermutung spricht einiges. Einmal Moltkes Einschätzung des neuen Kabinetts Hitler. Er hielt es nämlich für nicht so „schlimm“ und gefährlich, weil in ihm ja auch einige Konservative vertreten waren.18 Dazu gehörte neben dem Reichswehrminister von Blomberg und dem Finanzminister von Schwerin-Krosigk auch der Außenminister von Neurath.19 Letzterer hatte übrigens die an den deutschen Auslandsvertretungen tätigen Beamten des Auswärtigen Amtes im Juni 1933 aufgefordert, der NSDAP beizutreten. Neben Rudolf von Scheliha ist auch Hans Adolf von Moltke dieser Aufforderung nachgekommen, allerdings erst im Jahr 1937. Er hat dies aber ganz offensichtlich auch deshalb getan, weil er mit der nationalsozialistischen Polenpolitik einverstanden war. Um dies zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen.20 Die deutsch-polnischen Beziehungen hatten sich nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ wesentlich verbessert. Dies war das Werk Hitlers. Denn der hatte am 26. Januar 1934 mit Polen einen Nichtangriffspakt abgeschlossen, in dem zumindest indirekt, durch die Berufung auf den Kellogg-Pakt, auf eine gewaltsame Veränderung der deutsch-polnischen Grenze verzichtet worden war. Derartiges hatten alle Regierungen der Weimarer Republik nicht getan und es angesichts der starken anti17 Eine vehemente Gegnerin des Nationalsozialismus war seine Schwester Renata, die deshalb auch freiwillig in die Emigration gegangen ist. Rudolf von Scheliha hat sie immer und auch wegen ihres antinationalsozialistischen Engagements sehr geschätzt. 18 Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 42. 19 Neurath gehörte dem Corps Suevia Tübingen an; KCL, Nr. 129 – 865. 20 Dazu: Wippermann, Wolfgang, Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Darstellung und Dokumente, Berlin 1993; ders., Umstrittene Vergangenheit. Fakten und Kontroversen zum Nationalsozialismus, Berlin 1998, passim.
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polnischen Ressentiments in fast allen Teilen der deutschen Bevölkerung auch gar nicht tun können. Die Revision der im Versailler Vertrag gezogenen deutsch-polnischen Grenze war das Ziel aller deutschen Außenminister und Reichskanzler – auch das Gustav Stresemanns! – gewesen. Ausgerechnet Hitler gerierte sich hier friedfertiger als Friedensnobelpreisträger Stresemann. Warum? Die Antwort ist einfach. Die Wiedergewinnung der 1919 verlorenen deutschen Ostgebiete war Hitler nicht genug. Er wollte mehr, nämlich „Lebensraum im Osten“ und dies „auf Kosten Russlands.“ In seinem geplanten und im „Mein Kampf“ auch deutlich genug angekündigten Ritt nach Osten „auf der Straße der einstigen Ordensritter“ war Polen die Rolle eines Juniorpartners zugedacht. Dies war den polnischen Staatsmännern sehr wohl bekannt, wurde aber dennoch von ihnen anerkannt. Jedenfalls stillschweigend. Für sie war ihre eigene Ostexpansion wichtiger als die Abwehr der deutschen. Sie fürchteten sich mehr vor dem russischen Bolschewismus als vor dem deutschen Nationalsozialismus, dessen diktatorisches Regime sie keineswegs kritisierten, sondern faktisch kopierten. Polen wurde unter Pilsudski und noch mehr unter seinen unfähigen Nachfolgern zu einer Diktatur, die von einigen zeitgenössischen Beobachtern aus dem linken Lager als „faschistisch“ eingeschätzt wurde. Diese Sicht geht sicherlich zu weit. Dennoch sind die innenpolitischen Ähnlichkeiten und die außenpolitischen Gemeinsamkeiten zwischen Hitler-Deutschland und dem Pilsudski-Polen unverkennbar. Auch wenn das von nahezu allen der heutigen polnischen Historiker abgestritten wird. Im Unterschied zu den meisten anderen deutschen Diplomaten bis hinauf zum Außenminister Neurath stimmte Moltke mit den Zielen und Prinzipien der nationalsozialistischen Polenpolitik voll überein. Zustimmung und Unterstützung fand er dabei bei seinen Mitarbeitern Rudolf von Scheliha und John von Wühlisch. Alle drei exekutierten nicht nur die in Berlin beschlossene Polenpolitik, sie meinten, sie aktiv gestalten zu können. Sie fühlten sich also nicht nur als bloße Geschäftsträger der Politik, sie wollten selber Politiker sein. Mit ihrer bis zum deutschen Überfall auf Polen von der deutschen Botschaft in Warschau und danach vom Auswärtigen Amt in Berlin aus betriebenen Polenpolitik gerieten sie jedoch in Widerspruch zu der Hitlers. Aus dem Widerspruch wurde Widerstand. IV. Politik und Widerstand Dies war jedoch keineswegs von Anfang an der Fall. Im Gegenteil. Die späteren Widerstandskämpfer Moltke, Scheliha und Wühlisch waren in ihrer Warschauer Zeit peinlichst bemüht, Hitlers Polenpolitik umzusetzen. Dies galt auch für ihre verbrecherischen Komponenten. So wurde die im Sommer 1938 vom Auswärtigen Amt angeregte Abschiebung der polnischen Juden aus Deutschland nicht etwa kritisiert,
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sondern unterstützt.21 Die Hauptverantwortung hatte hier Rudolf von Scheliha, der in dieser Zeit den Botschafter Hans Adolf von Moltke vertrat. Die Ende des Jahres 1938 einsetzende Verschlechterung der deutsch-polnischen Beziehungen wurde zwar bedauert, aber ebenfalls hingenommen. Dass Polen auf einen Teil seiner 1919 gewonnenen Westgebiete zugunsten Deutschlands verzichten sollte, fanden Moltke, Scheliha und Wühlisch richtig und gut. Der völkerrechtswidrige Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde von ihnen nicht kritisiert. Jedenfalls nicht offen. Dass sich Moltke nach dem Sieg über Polen für die Schaffung eines polnischen Rumpfstaates ohne seine ehemaligen Westgebiete einsetzte, war ebenfalls noch kein Akt des Widerstandes. Jedenfalls ist das von den nationalsozialistischen Machthabern nicht so eingeschätzt worden. Sie haben auch die Kontakte wenn nicht gebilligt, so doch geduldet, die Moltke, Scheliha und Wühlisch noch im Jahr 1940 zu einigen polnischen Politikern unterhalten haben, die sich dadurch eine Milderung des terroristischen deutschen Besatzungsregiments erhofften. Diese Kontakte sind jedoch von der polnischen Exilregierung in London unterbunden worden. Die innerpolnische Widerstandsbewegung ist mit äußerster Brutalität gegen einige ihrer Landsleute vorgegangen, die auch nur bereit zu sein schienen, mit den Deutschen irgendwie zusammenzuarbeiten. Sie wurden als Kollaborateure und „Quislinge“ bezeichnet und von polnischen (Feme-)Gerichten zum Tode verurteilt und erschossen. Darunter befanden sich auch einige Kontaktleute Moltkes und enge Bekannte und Freunde Schelihas. Dennoch hat sich Scheliha weiter für die von den nationalsozialistischen Behörden verfolgten Polen und Juden eingesetzt. Einigen hat er zur Flucht verholfen. Die Zustimmung zu nationalistischer Politik und das Mitgefühl mit verfolgten Mitmenschen schließen sich nicht aus. Außerdem hat Scheliha Materialien über die Verfolgung von Polen und Juden gesammelt und sie an Repräsentanten des polnischen Untergrundstaates übergeben. Sie wurden an die polnische Exilregierung in London weitergeleitet, die im Januar 1942 eine Anklageschrift verfasste, in der die Verbrechen der Deutschen an Polen und Juden dokumentiert wurden. Sie wurde 1945 in englischer Sprache und unter dem ironisch gemeinten Titel „The Nazi Kultur in Poland“ gedruckt.22 Diese propolnischen Aktivitäten Schelihas waren Akte des Widerstandes. Sie scheinen aber der Gestapo nicht bekannt gewesen zu sein. Scheliha ist nicht wegen seines propolnischen Widerstandes, sondern wegen seiner angeblichen Agententätigkeit für die Sowjets zum Tode verurteilt worden. Warum? Wie ist es dazu gekommen?
21 Dazu neben Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 31 ff.: Wiaderny, Der Polnische Untergrundstaat, S. 81 ff. 22 Anonyme Autoren, The Nazi Kultur in Poland, by several authors of necessity temporarily anonymus. Written in Warsaw under the German Occupation and published for the Polish Ministry of information by His Majesty’s stationery office, London 1945.
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Rudolf von Scheliha ist schon in seiner Warschauer Zeit in das Visier des sowjetischen Geheimdienstes geraten. Dies durch und unter Mithilfe dreier sowjetischer Agenten. Der erste und wahrscheinlich wichtigste war der Journalist Gerhard Kegel, der 1935 von Hans Adolf von Moltke an die deutsche Botschaft in Warschau geholt und hier als wissenschaftliche Hilfskraft angestellt worden war. 1939 wechselte er in die Handelspolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes über, wo er eng mit – nach seinen eigenen Angaben sogar in – der Informationsabteilung arbeitete, in der Rudolf von Scheliha und einige andere Angehörige des deutschen Widerstandes beschäftigt waren. Kegel war ein sehr wichtiger und für die Sowjets sehr wertvoller Agent. Dessen hat sich der in den Dienst der DDR getretene Kegel auch in seinen Memoiren gerühmt.23 Sein wahrscheinlicher Agentenführer war Rudolf Herrnstadt. Der aus einer bürgerlichen jüdischen Familie stammende Herrnstadt war 1929 der KPD beigetreten und hatte sich vom sowjetischen Geheimdienst anwerben lassen. Als Journalist arbeitete er zunächst in Warschau und dann auch in Moskau. Hier wurde er jedoch 1933 von den sowjetischen Behörden formell „ausgewiesen“ und kehrte nach Warschau zurück, wo er enge Kontakte sowohl zum Botschafter Moltke wie zu Rudolf von Scheliha unterhielt. Die Drähte nach Moskau waren im Auswärtigen Amt sehr wohl bekannt, wurden aber dennoch geduldet. Dies, obwohl Herrnstadt jüdischer Herkunft war und ganz offensichtlich von seiner kommunistischen Gesinnung kein Hehl gemacht hat. Seine fortgesetzte Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst war natürlich nicht bekannt. Einer seiner Schwerpunkte war die Beobachtung und Ausspionierung Rudolf von Schelihas.24 Dies jetzt mit Hilfe seiner Genossin und Geliebten Ilse Stöbe. Die aus einer Berliner Arbeiterfamilie stammende Ilse Stöbe hatte sich 1931 vom sowjetischen Geheimdienst anwerben lassen.25 Von 1933 bis 1939 war sie als Korrespondentin verschiedener Schweizer Zeitungen in Warschau tätig. In dieser Zeit hat Rudolf von Scheliha die übrigens bildhübsche und unter anderem von dem berühmten Journalisten Theodor Wolff geradezu umschwärmte26 Ilse Stöbe kennen und schätzen gelernt. Vermutlich etwas zu sehr. Dass seine (vermutliche!) Freundin wie Herrnstadt und Kegel für die Sowjets spionierte, war ihm, natürlich kann man sagen, nicht bekannt. Sonst hätte Scheliha Ilse Stöbe zweifellos nicht eine Stelle 23
Kegel, Gerhard, In den Stürmen unseres Jahrhunderts. Ein deutscher Kommunist über sein ungewöhnliches Leben, Berlin 1984. 24 Nach dem Krieg hat er in der DDR eine bemerkenswerte politische Karriere gemacht, die jedoch 1953 nach und wegen seiner, wie es hieß, „parteifeindlichen Fraktionsbildung“ gegen Ulbricht abrupt zu Ende ging. Darüber gibt es eine umfangreiche Literatur. 25 Sahm, Ulrich, Ilse Stöbe, in: Coppi, Hans / Danyel, Jürgen / Tuchel, Johannes (Hrsg.), Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994, S. 262 – 276. 26 Dies hat Theodor Wolff auch in einem Roman zum Ausdruck gebracht, dessen Heldin Ilse Stöbe war; vgl.: Wolff, Theodor, Die Schwimmerin. Ein Roman aus der Gegenwart, Zürich 1937. Dieses Buch sollte die Grundlage für einen Film bilden, der aber dann doch nicht gedreht wurde.
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in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes verschafft. Dadurch ist Ilse Stöbe an einige Informationen gelangt, die sie an den sowjetischen Geheimdienst übergab. Dabei soll sie sich wiederholt auf ihren Freund und Kollegen Rudolf von Scheliha berufen haben. Der sowjetische Geheimdienst hat die angeblich von Scheliha stammenden Informationen für äußerst wichtig gehalten, weshalb er Ilse Stöbe aufforderte, mehr von Scheliha zu erfahren. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden die Kontakte mit Ilse Stöbe über Funksprüche hergestellt, die jedoch von der deutschen Abwehr entschlüsselt wurden. Da in den sowjetischen Funksprüchen Ilse Stöbes Codename „Alta“ und selbst ihre Adresse genannt worden waren, konnte die Gestapo Ilse Stöbe im September 1942 verhaften. Obwohl der sowjetische Geheimdienst dies hätte wissen können, hat er im Oktober 1942 den Agenten Hans Koenen beauftragt, den Kontakt mit Ilse Stöbe wieder herzustellen. Koenen wurde mit dem Fallschirm über Ostpreußen abgesetzt und gelangte nach Berlin. Hier wurde er von der Gestapo schon erwartet und in der früheren Wohnung Ilse Stöbes verhaftet. Bei Koenen fand die Gestapo die Fotokopie einer Zahlungsanweisung des sowjetischen Geheimdienstes auf ein Schweizer Konto Rudolf von Schelihas. Erst dadurch ist die Gestapo auf Rudolf von Scheliha aufmerksam geworden. Dies ist eine geradezu unglaubliche Geschichte. Sie zeugt entweder von einer unfassbaren Schlamperei des sowjetischen Geheimdienstes oder von einer bewussten Gemeinheit, die Rudolf von Scheliha treffen sollte. Für Letzteres spricht die Vermutung, dass die Sowjets über die Kontakte Rudolf von Schelihas zum polnischen Untergrundstaat gewusst, sie aber keineswegs gebilligt haben. Schon die bloße Existenz des polnischen Untergrundstaates war den Sowjets ein Dorn im Auge. Er ist von den Sowjets niemals unterstützt worden, übrigens auch noch 1944 beim Warschauer Aufstand nicht. Stalin hat sich zudem mehrmals über die aus seiner Sicht antisowjetischen Aktivitäten des polnischen Untergrundstaates beschwert. Als solche bezeichnete er auch die Aufdeckung der Morde von Katyn. Abgelehnt wurden auch die polnischen Kontakte zu deutschen Stellen wie dem Moltke-Scheliha-Wühlisch-Kreis. Derartiges sollte unterbunden werden. Deshalb ist, so meine Vermutung, Rudolf von Scheliha von den Sowjets an die Gestapo ausgeliefert worden. Doch diese These kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ganz bewiesen werden. Sicher und absolut nachweisbar ist jedoch, dass Rudolf von Scheliha keine Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst gehabt, niemals für ihn spioniert und schon gar kein Geld von ihm genommen hat. Dennoch ist er unter diesem Vorwurf und wegen seiner vermeintlichen Zusammenarbeit mit der oder mit einer Gruppe der „Roten Kapelle“ zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Doch auch wenn Kontakte zu sowjetischen Geheimdiensten zu beweisen wären, wenn Rudolf von Scheliha also wirklich mit einer Widerstandsgruppe der „Roten Kapelle“, zum Beispiel mit der um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, zusammengearbeitet hätte, wäre das Widerstand gewesen. Jedenfalls wird dies von der heutigen Geschichts-
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schreibung so gesehen, in der die gesamte „Rote Kapelle“ gewissermaßen vom Odium des Landesverrats befreit und zum deutschen Widerstand gerechnet wird.27 Um es noch einmal klar und deutlich zu sagen: Rudolf von Scheliha war kein Landesverräter, sondern ein Widerstandskämpfer. Dies im doppelten Sinne. Rudolf von Scheliha war einmal ein Widerstandskämpfer für Polen und Juden. Dies als Mitglied des Moltke-Scheliha-Wühlisch-Kreises und wegen seiner sonstigen persönlichen Aktivitäten für verfolgte Polen und Juden. Darüber hinaus war Rudolf von Scheliha auch ein Widerstandskämpfer gegen Hitler. Er hat gegen das nationalsozialistische Regime gekämpft. Dies allein und in Zusammenarbeit mit anderen Angehörigen der konservativen Widerstandskreise, von denen einige Corpsstudenten waren und einem corpsstudentischen Netzwerk angehörten, das von Rudolf von Scheliha geknüpft worden ist. Dies ist mehr als eine bloße Vermutung. Für diese Überlegungen sprechen Fakten, die im Folgenden aufgeführt sind. Wie oben schon erwähnt, hat Rudolf von Scheliha die spätestens während seiner Aktiven- und Studentenzeit geknüpften Kontakte zu seinen Corps- und Kartellcorpsbrüdern sowie weiteren Corpsstudenten nicht abreißen lassen und sie in einer schon fast systematisch zu nennenden Weise ausgebaut und intensiviert. Dies geschah auf seinen zahlreichen Reisen, Jagdausflügen und anderen gesellschaftlichen Treffen sowie bei seiner beruflichen Tätigkeit im und für das Auswärtige Amt, wo er auf verschiedene seiner Corps- und Kartellcorpsbrüder sowie Angehörige weiterer Corps traf, die sich am konservativen Widerstand gegen Hitler beteiligt haben.28 An erster Stelle ist hier sein Corpsbruder Hans Adolf von Moltke zu erwähnen.29 Mit ihm sowie mit John von Wühlisch hat Rudolf von Scheliha den erwähnten und bereits ausführlich gewürdigten Moltke-Scheliha-Wühlisch Widerstandskreis gebildet. Weitere enge Kontakte bestanden zu weiteren Corpsstudenten im konservativen Widerstand. Hier sollen nur die erwähnt werden, die wegen ihrer Beteiligung am Attentat und Aufstandsversuch vom 20. Juli 1944 von den Nationalsozialisten hingerichtet beziehungsweise ermordet worden sind: Eduard Brücklmeier Bavariae München,30 Nikolaus von Halem Saxo-Borussiae Heidelberg,31 Ulrich von Hassell Sue27 Dies vor allem durch die Forschungen Hans Coppis, eines Sohnes von Hans und Hilde Coppi, die beide wegen ihrer Widerstandstätigkeit hingerichtet worden sind. Vgl. dazu: Coppi, Hans / Schulze-Boysen, Harro, Wege in den Widerstand, Koblenz 1995; ders., zusammen mit Danyel, Jürgen und Tuchel, Johannes, Die Rote Kapelle im Widerstand gegen Hitler, Berlin 1992. 28 Auf Rudolf von Schelihas Kontakte zu diesen Corpsstudenten ist übrigens in einigen Schreiben verwiesen worden, in denen er bei seinen Vorgesetzten und bei der Gestapo denunziert wurde. Einer, verfasst von dem damaligen Mitarbeiter des Amtes Ribbentrop und späteren rechtsradikalen Publizisten Peter Kleist, ist abgedruckt bei: Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 92 f. 29 Hans Adolf von Moltke war der Onkel von Helmuth James Graf von Moltke und der Schwager von Peter Graf Yorck von Wartenburg, die zu den führenden Köpfen des Kreisauer Kreises gehörten. Yorck von Wartenburg gehörte dem Corps Borussia Bonn an und war damit ein Kartellcorpsbruder von Rudolf von Scheliha. 30 KCL, Nr. 104 – 1528, vgl.: Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 164 f.
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viae Tübingen,32 Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg Saxoniae Göttingen,33 Adam von Trott zu Solz Saxoniae Göttingen,34 Peter Graf Yorck von Wartenburg Borussiae Bonn.35 Einige der Genannten sowie weitere Angehörige des konservativen Widerstandes waren Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes.36 Dies ist Tatsache. Legende ist, dass das Auswärtige Amt ganz oder in Teilbereichen zum Widerstand gehört hat. Viele, eigentlich viel zu viele der dort Tätigen sind Mitglieder der Partei und anderer nationalsozialistischer Organisationen gewesen. Einige von ihnen haben dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat nicht nur gedient, sondern sich auch an seinen Verbrechen beteiligt. Dieses inzwischen eindeutig bewiesene Faktum rechtfertigt aber nicht, das gesamte Auswärtige Amt als eine „verbrecherische Organisation“ zu bezeichnen, wie dies einige Verfasser der 2010 erschienenen Studie über „Das Amt und die Vergangenheit“ behauptet haben. Als nachgeborener Historiker sollte man mit derartigen Urteilen und Verurteilungen sehr vorsichtig sein. Auf jeden Fall sollte man bei allem Tadel an dem Verhalten der Meisten den Widerstand der Wenigen loben. Einige gehörten wie Rudolf von Scheliha der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin an.37 Die Informationen, die sie hier über die verschiedenen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes erhielten, haben sie gesammelt und an Gleichgesinnte im Inland und an ihre ausländischen Ansprechpartner weitergegeben. Dies auf ihren zahlreichen privaten und Dienstreisen ins In- und Ausland. Das galt vor allem für Rudolf von Scheliha. Er ist vor und auch noch nach Ausbruch des Krieges kreuz und quer durch Deutschland und das benachbarte Ausland gereist. Besonders häufig war er in der neutralen Schweiz. Hier hat er neben seiner Schwester Renata, die wegen ihrer antinationalsozialistischen Haltung und Gesinnung in die Schweiz emigriert war, auch den vormaligen Hohen Kommissar des Völkerbundes in Danzig, Carl Jacob Burckhardt, mehrmals getroffen. Ihm hat er nicht nur die Predigten Bischof Galens übermittelt, in denen dieser den Mord an den Geisteskranken angeprangert hatte, er hat Burckhardt im Oktober 1942 mit den ersten und genauesten Informationen über das Mega-Verbrechen des Judenmordes versorgt, der damals nicht oder jedenfalls so nicht bekannt war. Burckhardt hat diese Informatio31 In den KCL 1960 nicht verzeichnet, inzwischen von Saxo-Borussia Heidelberg wieder in die Corpsmatrikel aufgenommen, zu den engen Kontakten mit Halem und Brücklmeier vgl. Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 164 f und 167. 32 KCL, Nr. 129 – 587. 33 KCL, Nr. 45 – 677. 34 KCL, Nr. 45 – 787. 35 KCL, Nr. 9 – 981. 36 Conze u. a., Das Amt, S. 295 ff. 37 Sie war gebildet worden, um so genannte Gräuelberichte, die im feindlichen und neutralen Ausland verfasst und verbreitet wurden, zu entkräften. Um dies tun zu können, mussten sich die Mitarbeiter dieser Propagandaabteilung des Auswärtigen Amtes jedoch Informationen über die wirklichen Vorgänge verschaffen. Dabei fanden sie schnell heraus, dass es sich hier meist um wahre Begebenheiten gehandelt hat.
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nen nach England und in die USA weitergegeben, aber den Namen seines Informanten nicht genannt. Daran hat sich bis heute wenig geändert. In den meisten Büchern über den Holocaust wird nicht gesagt, dass Rudolf von Scheliha der geheimnisvolle „deutsche Diplomat“ gewesen ist, der die Weltöffentlichkeit über das bis dahin von den Deutschen geheim gehaltene Massenverbrechen im vollem Umfang als einer der Ersten, wenn nicht überhaupt als Erster informiert hat. Auch das war ein Akt des Widerstandes, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Er wäre von den nationalsozialistischen Verfolgungsorganen zweifellos scharf geahndet worden, wenn er denn bekannt gewesen wäre. Doch das war nicht der Fall. Die Gestapo wusste vom Widerstand Rudolf von Schelihas nichts – oder wollte davon nichts wissen. Und das Reichskriegsgericht hat Rudolf von Scheliha nicht wegen seines tatsächlichen Widerstandes, sondern wegen seines vermeintlichen Landesverrats zum Tode verurteilt. Wer war daran schuld und ist diese Schuld von jemandem gesühnt worden? V. Schuld und Sühne Dass seine Widerstandstätigkeit von der Gestapo nicht erkannt und im vollen Umfang aufgedeckt worden ist, war nicht die Schuld, sondern das Verdienst Rudolf von Schelihas. Er ist zwar schon bei seiner Verhaftung durch die Gestapo am 29. Oktober 1942 geschlagen worden, was man übrigens auf den Fotos erkennen kann, die von der Gestapo gemacht wurden, und ist danach ganz offensichtlich einigen Folterungen ausgesetzt worden, hat aber keinen einzigen seiner Freunde und Kampfgefährten im Widerstand verraten, die damals sehr konkrete Aufstands- und Attentatspläne schmiedeten.38 Damit hat er vor allem Hans Adolf von Moltke und John von Wühlisch das Leben gerettet. Moltke wurde nicht verhaftet, sondern an die deutsche Botschaft in Madrid versetzt. Hier ist er kurz danach – genauer am 22. März 1943 – gestorben.39 Wie es hieß an einer Blinddarmentzündung. Dies hat Spekulationen darüber geweckt, ob dies mit rechten oder unrechten Dingen zugegangen ist. Genährt wurden sie durch die Nachricht, dass auch John von Wühlisch ebenfalls schon wenige Tage nach der Ermordung Rudolf von Schelihas am 23. Januar 1943 verstorben ist.40
38 Über sie war Rudolf von Scheliha zweifellos informiert. Es spricht sogar einiges für die Vermutung, dass er sich selber an diesen Planungen beteiligt hat. Dies sogar an herausragender Stelle. Eine seiner Hauptaufgaben scheint die Beschaffung von Geldern gewesen zu sein, welche die Verschwörer während und nach dem Attentat auf Hitler gebraucht hätten. Diesem Zweck scheinen auch Schelihas Überweisungen auf verschiedene Schweizer Konten gedient zu haben. 39 Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 213. 40 Ebenda, S. 230.
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Ilse Stöbe hat Rudolf von Scheliha dagegen nicht schützen können. Sie war schon am 12. September 1942 von der Gestapo verhaftet worden und wurde am gleichen Tag wie Rudolf von Scheliha zum Tode verurteilt. Dies geschah am 14. Dezember 1942. Am 22. Dezember ist sie zusammen mit Rudolf von Scheliha und einigen Angehörigen der „Roten Kapelle“, darunter Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, am 22. Dezember 1942 hingerichtet worden. Alle sind als Opfer des Nationalsozialismus anzusehen und als solche auch zu ehren. Doch dies ist, wie oben schon erwähnt, bis heute nicht oder kaum geschehen. Die „Rote Kapelle“ insgesamt wurde als sowjetische Spionageorganisation angesehen, weshalb sie im Osten gefeiert, im Westen dagegen verurteilt worden ist. Beides war falsch. Die verschiedenen und zugleich sehr unterschiedlichen Gruppen, die von der Gestapo zur imaginären „Roten Kapelle“ gerechnet wurden, gehörten zum deutschen Widerstand. Das gilt auch für diejenigen, die tatsächlich über Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst verfügten. All das trifft aber auf Rudolf von Scheliha nicht zu. Er war weder Mitglied einer Gruppe der „Roten Kapelle“ noch hat er jemals irgendwelche Kontakte zum sowjetischen Geheimdienst gehabt. Dennoch ist er unter diesem Vorwurf und zusammen mit einigen tatsächlichen Angehörigen der „Roten Kapelle“ wegen „Hoch- und Landesverrats“ zum Tode verurteilt worden. Dies aufgrund eines während der Haft gemachten (Teil-)Geständnisses. Es ist vermutlich von der Gestapo durch Folter erpresst worden. Möglich ist auch, dass er diese Anschuldigungen gestanden hat, um nicht gezwungen zu werden, seine sonstigen Gefährten im Widerstand zu verraten. Doch wie auch immer dieses Geständnis zustande gekommen ist, ist letztlich unerheblich. Rudolf von Scheliha hat es nämlich während der Gerichtsverhandlung widerrufen. In einer seiner letzten schriftlich überlieferten Äußerungen hat er Folgendes versichert: „Ich habe keine Schuld an dem, wofür ich angeklagt bin, ich habe keinerlei Geldbeträge genommen, ich sterbe reinen Herzens.“41 Es gibt nicht den geringsten Grund, diese Aussagen Rudolf von Scheliha anzuzweifeln. Ihn traf wirklich keine „Schuld“. Schuld an seiner Verurteilung und Hinrichtung waren seine Ankläger und Richter. Dies waren der Generalrichter Manfred Roeder, der im Fall Scheliha als Untersuchungsrichter tätig war und die Anklageschrift gegen ihn verfasst hat,42 und der Präsident des 2. Senats des Reichskriegsgerichts, Dr. Alexander Kraell, der das Todesurteil gegen Scheliha gefällt hat. Beide haben sich zu dieser ihrer Schuld nicht bekannt und nach 1945 alles unternommen, um sich selber zu entschulden, indem sie Rudolf von Scheliha erneut beschuldigten,
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Zitiert nach Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 238. Zum Folgenden das „Nachspiele“ überschriebene Kapitel von Sahms Buch und das Kapitel über den „Fall Rudolf von Scheliha“ in: Conze u. a., Das Amt, S. 558 – 569. 42 Roeder hat dies in einem am 18. Juni 1948 an Schelihas Witwe geschriebenen Brief zugegeben – und die Stirn gehabt, das und das Todesurteil gegen Scheliha auch noch zu rechtfertigen. Dieser Brief ist abgedruckt bei: Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 143 f.
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ein Landesverräter aus Geldgier gewesen zu sein.43 Ein geradezu unglaublicher, aber keineswegs singulärer Vorgang.44 Unrecht ist, das ist festzuhalten, dem ermordeten Rudolf von Scheliha und seiner überlebenden Witwe Marie Louise von Scheliha angetan worden.45 Dies durch die erwähnten Richter des Reichskriegsgerichts Kraell und Roeder, die Rudolf von Scheliha gerichtet haben, und durch verschiedene seiner Kollegen im Auswärtigen Amt, die ihn in der NS-Zeit nicht vor seiner Verurteilung bewahrt und danach erneut verurteilt haben.46 Dies begann mit einem Antrag Marie Louise von Schelihas auf finanzielle Wiedergutmachung, genauer: auf die Gewährung einer Witwen- und Waisenrente für sich und ihre Kinder. Ihr Antrag war ohne Zweifel berechtigt, wurde aber dennoch vom zuständigen Entschädigungsamt abgelehnt. Einige Presseorgane fabrizierten daraus Sensationsberichte über den „Landesverräter und Meisterspion der Sowjets“, Rudolf von Scheliha.47 Dies war Rufmord. Wurde aber damals in der Hochzeit des Kalten Krieges nicht als solcher erkannt und kritisiert. Jemand, der sein Vaterland verraten und für dessen alten und neuen Todfeind – die Sowjetunion – spioniert hatte, war und konnte kein guter Widerstandskämpfer, sondern musste ein böser Landesverräter sein, weshalb auch seine Witwe keinen Anspruch auf Wiedergutmachung habe.48 43 Dazu auch: Haase, Norbert, Die Richter am Reichskriegsgericht und ihre Nachkriegskarrieren, in: Perels, Joachim / Wette, Wolfram (Hrsg.), Mit reinem Gewissen. Wehrmachtsrichter in der Bundesrepublik und ihre Opfer, Berlin 2011, S. 200 – 219; zu Scheliha: S. 209 f. 44 Alle Richter des nationalsozialistischen Unrechtsstaates haben sich von aller Schuld selbst freigesprochen. Kein einziger von ihnen ist wegen seiner in der NS-Zeit gefällten Schuldsprüche zur Verantwortung gezogen und selber schuldig gesprochen worden. Dies gehört zu dem, was der Holocaust-Überlebende Ralph Giordano als die „zweite Schuld“ bezeichnet hat. Wohlgemerkt der demokratischen Bundesrepublik. Der ehemalige Marinerichter und spätere baden-württembergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger hat sich mit dem bemerkenswerten Satz gerechtfertigt, dass das, „was damals Recht war, heute nicht Unrecht sein kann“. Diese Argumentation findet man auch in den Rechtfertigungsschreiben von Schelihas Richtern – und Mördern. 45 Sie ist zusammen mit ihrem Mann verhaftet und einige Zeit inhaftiert worden. Dafür hätte sie für sich einen Antrag auf Wiedergutmachung stellen können, was sie jedoch nicht getan hat. 46 Zum Folgenden: Conze u. a., Das Amt, S. 560 ff. 47 Aus diesen reißerischen Sensationsberichten wurden dann einige ebenso reißerische Sachbücher gemacht. Dazu gehörte auch das eines Spiegel-Journalisten: Höhne, Heinz, Kennwort: Direktor, Frankfurt a. M. 1972. Höhnes Machwerk hat wesentlich zu dem falschen Bild beigetragen, das in der Bundesrepublik über die „Rote Kapelle“ und über Rudolf von Scheliha geherrscht hat. 48 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass Rudolf von Scheliha in der Publizistik der DDR – ich scheue mich, von Geschichtsforschung zu sprechen – auch als Spion beziehungsweise, wie man dies nannte, als „Kundschafter der Sowjetunion“ dargestellt und deshalb wie die Angehörigen der „Roten Kapelle“ gelobt wurde. Landesverrat wurde hier als besonders achtenswerter Bestandteil des „antifaschistischen Widerstandes“ angesehen. Vgl. dazu: Rosiejka, Gert, Die Rote Kapelle. „Landesverrat“ als antifaschistischer Widerstand, mit einer Einführung von Heinrich Scheel, Hamburg 1986.
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Dieser Auffassung, die einem erneuten Verdammungsurteil Rudolf von Schelihas gleichkam, schloss sich auch das Auswärtige Amt an. Es war von Marie Louise von Scheliha um moralischen Beistand und materielle Hilfe gebeten worden. Beides wurde ihr verweigert. Ihr Antrag auf Wiedergutmachung wurde abgelehnt. Außerdem wurde beschlossen, Rudolf von Scheliha nicht als das zu bezeichnen und zu ehren, was er ohne Zweifel gewesen war – ein Widerstandskämpfer. Auf der ersten Gedenkfeier, die das Auswärtige Amt 1954 zu Ehren der Diplomaten veranstaltete, die wegen ihres Widerstandskampfes zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren, wurde Rudolf von Scheliha nicht genannt. Begründet wurde dieses Verdammungsurteil wiederum mit dem Hinweis auf das Todesurteil der genannten Militärrichter und die Pressekampagne, die einige unverantwortliche Journalisten gegen den toten Rudolf von Scheliha und andere, wie die Illustrierte „Stern“ zu wissen meinte, „Rote Agenten unter uns“ entfachte. Marie Louise von Scheliha gab jedoch nicht auf. Sie war auf die materielle Hilfe des Staates angewiesen, weil sie ihr gesamtes Vermögen verloren hatte und ziemlich mittellos dastand. Der nicht unerhebliche Besitz ihres Vaters war vom tschechoslowakischen Staat enteignet worden. Vom westdeutschen Staat erhielt sie noch nicht einmal eine Witwenrente. Ihr Mann war nämlich kurz vor seiner Hinrichtung seines Beamtenstatus beraubt worden. Auch diese Entscheidung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates wurde von seinem demokratischen Nachfolger – die Bundesrepublik Deutschland – übernommen. Dies war schlimm. Doch es kam noch schlimmer. 1956 sah sich Marie Louise gezwungen, ein Gesuch an den Bundespräsidenten um „Gewährung eines Gnadenerweises“ zu stellen. Man glaubt es nicht. Die Witwe eines Opfers des Nationalsozialismus musste um das betteln, was allen Witwen der Täter und weiteren nationalsozialistischen Verbrechern ohne Weiteres gewährt wurde – eine Rente. Tatsächlich wurde ihr noch nicht einmal das zugestanden. Sie erhielt statt der ihr gesetzlich zustehenden Rente nur einen „jederzeit widerruflichen Unterhaltsbeitrag in Höhe des gesetzlichen Witwengeldes.“49 Aus dem Fall Scheliha war ein Skandal geworden. Dies wurde jedoch von niemandem skandalisiert. Von der sonst so gelobten freien und kritischen Presse der demokratischen Bundesrepublik schon gar nicht. Sie setzte stattdessen ihre Schmutzkampagne gegen Rudolf von Scheliha fort. Dies im Rahmen der Berichterstattung über die Geschichte der „Roten Kapelle“, die weiterhin als sowjetische Spionageorganisation verunglimpft wurde. Zu ihr sollte auch Rudolf von Scheliha gehört haben. Das haben auch einige Historiker so gesehen. Dies in einer Art Umkehrung der Historiker-Weisheit, wonach nur das existiert, was in den Akten steht – „quod non est in actis, non est in mundo.“ Nach (Gestapo-)Aktenlage war Rudolf von Scheliha nun einmal kein Widerstandskämpfer, sondern ein Landesverräter. Daher haben sich auch alle führenden Historiker des deutschen Widerstandes der Einschätzung der Gestapo angeschlossen und so das Todesurteil der Richter des nationalsozialistischen Unrechtsstaates quasi nachvollzogen. In ihren zahlreichen Publikationen über den 49
Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 259.
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deutschen Widerstand wurde Rudolf von Scheliha entweder gar nicht erwähnt oder als Landesverräter genannt. Das hat sich erst in jüngster Zeit geändert. Verantwortlich für diesen Meinungswandel war aber kein Fachhistoriker, sondern ein Laienhistoriker – der schon mehrfach erwähnte und gelobte Diplomat und Scheliha-Biograph Ulrich Sahm. Nach der Historiker-Kritik – ich habe mich als Historiker auch viel zu spät für das Schicksal Schelihas interessiert – wieder zurück zur Kritik der Diplomaten und Juristen, die insofern Schuld auf sich geladen haben, weil sie Rudolf von Scheliha nicht gerecht geworden sind. Einige haben es jedoch wenigstens versucht, indem sie den flehentlichen Bitten Marie Louise von Schelihas nachkamen und schriftliche und mündliche Quellen sammelten, die Rudolf von Schelihas Unschuld bewiesen. Sie wurden jedoch von den Juristen nicht beachtet, die sich mit dem Fall Scheliha beschäftigten oder beschäftigen sollten. Obwohl inzwischen verschiedene Dokumente und Zeugenaussagen vorlagen, in denen seine Unschuld bestätigt wurde, weigerte sich das Auswärtige Amt immer noch, Rudolf von Scheliha als Widerstandskämpfer anzuerkennen. Auf einer am 20. Juli 1961 im Auswärtigen Amt in Bonn angebrachten Gedenktafel für die Diplomaten, die wegen ihrer Widerstandstätigkeit umgebracht worden waren, wurde sein Name nicht genannt. Dies bewusst und keineswegs aus Versehen. Es handelte sich um eine damnatio memoriae. Nicht nur um eine Verweigerung, sondern um eine Verurteilung des Gedenkens. Das Auswärtige Amt wäre damit auf eine Geheimdienstintrige, die aus Richtung Moskau kam, quasi hereingefallen. Eine weitere Anmerkung dazu im Folgenden. Der allgemeinen Verweigerung des Gedenkens an den Widerstandskämpfer Rudolf von Scheliha schloss sich sein Corps offenbar an. Saxo-Borussia entfernte seinen Namen zeitweise aus der Corpsliste.50 Wer wann und warum Scheliha in der Mitgliederliste seines Corps nicht mehr vermerkte, ob er bewusst gestrichen wurde und ob die Initiative – sofern bewusst – vom Dachverband oder von seinem Corps ausging, lässt sich zumindest aus den Heidelberger Unterlagen nicht mehr belegen. Es gibt keine beteiligten Zeitzeugen mehr, die dazu Auskunft geben könnten. Bewusst wurde der Mehrheit der Saxo-Borussen die beschämende „causa Scheliha“ erst, als das Corps von Sahm 1987 darauf hingewiesen wurde. Im Archiv der Saxo-Borussia finden sich mehrere Briefe des damaligen Altherrenvorsitzenden aus diesem und den folgenden Jahren, aus denen eine klare Erkenntnis spricht, dass sich bei der Haltung der Saxo-Borussia zu ihrem Corpsbruder Scheliha etwas ändern musste. Diese Briefe sind auch bei Sahm zitiert.51 Immerhin hat die Saxo-Borussia ihren schweren 50
Sahm, Rudolf von Scheliha, S. 255; in den Kösener Corpslisten von 1960 war, wie weiter oben bereits vermerkt, sein Name noch verzeichnet: KCL, Nr. 66 – 1319. Die Löschung ist nach diesem Zeitpunkt erfolgt. 51 Sahm, Rudolf von Scheliha, a.a.O. sowie S. 383 f. Die Briefe könnten als Anhaltspunkt dafür gelten, dass zuerst Saxo-Borussia ihre Listen korrigierte, dass dieses aber nicht bekanntgemacht wurde. Für Forschung und Öffentlichkeit bleibt dies unbefriedigend.
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Fehler – das war die Streichung nach jetzigem Wissensstand zweifellos – wiedergutzumachen versucht, indem sie Scheliha ebenso wie die ebenfalls zu den Sachsenpreußen zählenden Nikolaus von Halem und Albrecht von Hagen mit einer Bronzeplakette als hingerichtete Widerstandskämpfer ehrte.52 Und es gibt eine weitere Parallele zwischen Saxo-Borussia und dem Auswärtigen Amt, die aufgrund der hohen Zahl von Diplomaten bei den Sachsenpreußen und zudem familiärer Bindungen vielleicht nicht zufällig ist. Am 21. Dezember 1995 wurde im Bonner Auswärtigen Amt eine Zusatztafel zu der Gedenktafel des Jahres 1961 angebracht. Auf ihr stand „Rudolf von Scheliha 1897 – 1942“. Vermutlich um den sich aufdrängenden Eindruck zu zerstreuen, dass sich Rudolf von Scheliha von den übrigen geehrten Widerstandskämpfern in negativer Weise unterschieden hat, wurde eine neue Gedenktafel fabriziert und am 18. Juli 2000 im Berliner Amtssitz des Auswärtigen Amtes feierlich eingeweiht. Auf ihr steht Rudolf von Schelihas Name ganz oben. Dies aber deshalb, weil er als erster und vor den übrigen Widerstandskämpfern im Auswärtigen Amt ermordet worden ist. Damit hat das Auswärtige Amt offiziell anerkannt, dass Rudolf von Scheliha ein Widerstandskämpfer gegen Hitler gewesen ist. Doch dies erst mehr als 60 Jahre nach seiner Ermordung. Kaum erkannt und noch weniger anerkannt ist bis heute, dass Rudolf von Scheliha nicht nur gegen Hitler, sondern auch für Polen gekämpft hat. Dafür ist er bisher weder in Deutschland noch in Polen geehrt worden. Das muss sich ändern. Deutsche und Polen sind aufgerufen, sich zu diesem Versäumnis zu bekennen und Rudolf von Scheliha auch als Widerstandskämpfer für Polen zu ehren. Rudolf von Scheliha, der Diplomat, hat, wie in diesem Beitrag gezeigt worden ist, Widerstand als Angehöriger, wenn nicht sogar Initiator eines corpsstudentischen Netzwerkes und, wie zumindest zu vermuten ist, auch aus corpsstudentischen Motiven geleistet. Ist dies erkannt und anerkannt worden? Auf einer und meines Wissens ersten Gedenkveranstaltung zu Ehren der Corpsstudenten im Widerstand, die der damalige Göttinger Vorort des Kösener Senioren-Convents-Verbandes anlässlich des 50. Jahrestages des Attentats vom 20. Juli im Juli 1994 veranstaltet hat, ist Rudolf von Scheliha Saxo-Borussiae Heidelberg genannt und geehrt worden.53 Dabei wurde auch sein Corps aufgefordert, ihn wieder in die Corpsliste aufzunehmen. Das hat Saxo-Borussia getan, und es ist unklar, ob das nach diesem Appell geschah oder bereits davor. Jedenfalls war es 1994 nicht verbandsweit bekannt, sonst wäre der öffentliche Appell nicht ergangen.
52 Die Familien der Widerstandskämpfer haben Saxo-Borussia ihren Fehler insoweit verziehen, als Nachkommen und Angehörige aller drei Corpsbrüder zur feierlichen Enthüllung dieser Tafel auf das Heidelberger Sachsenpreußenhaus kamen, wie Robert v. Lucius SaxoBorussiae Heidelberg, Borussiae Bonn mitteilt. 53 Die Festrede habe ich gehalten. Sie wurde aber wenig beachtet und ist auch nicht gedruckt worden. Etwa zur gleichen Zeit erschien in der Deutschen Corps-Zeitung ein Artikel eines anderen Corpsstudenten, in dem dringlich aufgefordert wurde, Rudolf von Scheliha endlich zu rehabilitieren. Dies ist inzwischen geschehen.
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Was bleibt als Fazit? Wir – wir Corpsstudenten – müssen Rudolf von Scheliha mehr ehren, als wir es bisher getan haben, und uns dazu bekennen, dass dies so lange nicht geschehen ist. VI. Nachtrag Nach Fertigstellung des Manuskriptes erschien ein Buch, in dem der Forschungsstand über den Widerstandskämpfer Rudolf von Scheliha sowohl erweitert wie in Frage gestellt worden ist. Verfasst ist es von der Journalistin Sabine Kebir und dem oben schon erwähnten Historiker Hans Coppi,54 der sich seit 30 Jahren mit der Geschichte der Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack beschäftigt hat. Ihr gehörten auch Hans Coppis Eltern – Hans und Hilde Coppi – an, die wegen ihrer Widerstandstätigkeit zum Tode verurteilt und ermordet worden sind. Die Forschungen von Hans Coppi junior haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass die Gruppe Schulze-Boysen/Harnack und einige andere Widerstandsgruppen, die von der Gestapo als „Rote Kapelle“ bezeichnet worden sind, auch im Westen – im Osten war das schon vorher der Fall – zum Widerstand gerechnet werden. Ebenfalls zum Widerstand gerechnet und als Widerstandskämpferin geehrt werden soll nach dem Willen von Hans Coppi junior und Sabine Kehr auch Ilse Stöbe. Diesem Ziel dient deren Buch. Ich empfinde das persönlich als richtig und anerkennenswert. Nur die Begründung scheint mir etwas problematisch zu sein. Ilse Stöbe hat nämlich nicht zu Schulze-Boysen/Harnack oder einer anderen Widerstandsgruppe der „Roten Kapelle“ gehört. Sie hat seit 1931 für den militärischen Geheimdienst der Sowjetunion (GRU) gearbeitet und soll ihn mit wichtigen Informationen versorgt haben. Darunter sollen sich die deutschen Angriffspläne auf die Sowjetunion befunden haben. Bei dieser Spionagetätigkeit soll sie nicht nur mit Rudolf Herrnstadt und einigen anderen deutschen Kommunisten, sondern auch mit Rudolf von Scheliha zusammengearbeitet haben. Scheliha soll dafür von den Sowjets auch entlohnt worden sein. Damit werden die zunächst von der Gestapo fabrizierten und dann von der älteren Forschung übernommenen Vorwürfe gegen Rudolf von Scheliha wieder aufgegriffen. Belegt werden sie von Hans Coppi mit einem Buch des russischen Historikers – meines Erachtens ist er eher als Journalist zu bezeichnen – Wladimir Lota: „Alta protiv Barbarossi“.55 Ilse Stöbe, die von der GRU den Decknamen „Alta“ erhalten hat, soll laut Untertitel des Buches von Lota „Nachrichten über die Vorbereitung des Überfalls Deutschlands auf die UdSSR“, das von den Deutschen sogenannte „Unternehmen Barbarossa“, beschafft haben. Sie seien jedoch von Stalin und dem Leiter des NKWD Berija nicht ernst genommen worden. Die Rote Armee sei daher von dem deutschen Überfall völlig überrascht worden, weshalb Stalin und Berija die Verantwortung für die katastrophalen Verluste der Roten Armee zu Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ trügen. 54 Coppi, Hans / Kebir, Sabine, Ilse Stöbe: Wieder im Amt. Eine Widerstandskämpferin der Wilhelmstraße, Hamburg 2013. 55 Lota, Wladimir, „Alta protiv Barbarossi“, ÜS: Alta gegen Barbarossa, Moskau 2004.
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Die an die Adresse Stalins gerichteten Vorwürfe sind nun alles andere als neu und originell. Bemerkenswert ist, dass hier auch Berija und der staatliche beziehungsweise parteiliche Geheimdienst NKWD genannt und beschuldigt werden. In ein weit besseres Licht gestellt wird dagegen der andere, der militärische Geheimdienst GRU. Obwohl er Ende der 1930er Jahre seiner Führung und besten Mitarbeiter beraubt worden war, die im Zusammenhang mit der „Säuberung“ der sowjetischen Armeeführung dem Terror Stalins und Berijas zum Opfer gefallen sind, habe der GRU hervorragende Spionage-Leistungen erbracht, weil er mit Rudolf Herrnstadt, Ilse Stöbe und mit dem von beiden Agenten angeworbenen Rudolf von Scheliha über Meister-Spione verfügt habe. Diese, wie gesagt, keineswegs neue, sondern auf die Gestapo zurückgehende These hat Lota mit einigen unveröffentlichten und bisher auch unzugänglichen Quellen zu beweisen gesucht, die ihm vom russischen Militärarchiv zur Verfügung gestellt worden sind. Ihr Aussagewert ist keineswegs groß und kann in keiner Weise überprüft werden. Vor allem nicht von ausländischen Historikern, denen die Einsicht in die sowjetischen Akten – nicht nur die der Geheimdienste – nach wie vor nicht genehmigt werden. Diese Erfahrung hat nach und neben Sahm auch Coppi machen müssen. Dennoch hat sich Coppi bei der Darstellung und Bewertung der Spionage-Tätigkeit Schelihas weitgehend der Lotas angeschlossen. Das ist eine angreifbare Haltung von entsprechend geringer Beweiskraft. Doch lassen wir das und kommen auf die Argumente, die erneut für die Spionagetätigkeit Schelihas für die Sowjetunion vorgebracht werden. Sie sollen bereits 1937 begonnen und zunächst von Rudolf Herrnstadt veranlasst worden sein. Er soll sich in seinen sehr freimütigen Gesprächen, die er mit Herrnstadt in Warschau geführt hat, nicht nur gegen Hitler ausgesprochen haben, was wohl stimmt, sondern sich auch bereiterklärt haben, Informationen an den britischen Geheimdienst weiterzugeben. Dafür soll er von Herrnstadt bezahlt worden sein. Stimmt das? Nachgewiesen ist, dass Scheliha zwischen 1937 bis 1939 mehrmals mit Herrnstadt gesprochen hat. Deshalb ist er auch von seinem Kollegen Peter Kleist denunziert worden. Schelihas Vorgesetzter – und Corpsbruder – Hans Adolf von Moltke gelang es aber, diese Vorwürfe zu entkräften. Möglich ist auch, dass Scheliha tatsächlich geglaubt hat, dass Herrnstadt die ihm von Scheliha übergebenen Informationen nicht an den sowjetischen, sondern an den britischen Geheimdienst weitergeleitet hat. Zu einer ähnlichen Zusammenarbeit mit britischen Stellen waren auch andere Mitglieder des bürgerlichen Widerstandes bereit. Hier ist vor allem auf Schelihas Kartellcorpsbruder Adam von Trott zu Solz zu verweisen, der bei seinen Besuchen Englands formelle und informelle Gespräche mit Angehörigen der britischen Regierung geführt hat. Unglaubwürdig ist dagegen die Mitteilung Lotas, dass Scheliha Geld angenommen habe. Als Beweis für diese Behauptung wird die Kopie eines Überweisungsbelegs an ein Schweizer Konto Schelihas herangezogen, die der 1942 verhaftete sowjetische Agent Hans Koenen bei sich hatte. Die von der Gestapo ohne Weiteres angenommene Echtheit dieses Dokuments kann nicht überprüft werden. Möglich ist, dass Scheliha Ilse Stöbe gebeten hat, eine solche Überweisung vorzunehmen, um so seine in die Schweiz emigrierte Schwester Renata zu unterstützen. Tatsächlich hat Rudolf
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von Scheliha auch noch nach dem Ausbruch des Krieges Gelder in die Schweiz transferiert. Dies entweder selber oder mit einigen seiner Vertrauten. Noch im Juni 1942 soll er nach einer beiläufigen Mitteilung Coppis Ilse Stöbe, die eine Erbschaft in der Schweiz gemacht hatte, gebeten haben, 3.000 Schweizer Franken auf ein Konto Renata von Schelihas zu überweisen. Dafür hat Scheliha aber den Gegenwert in Reichsmark Ilse Stöbe übergeben. Mit diesen und einigen anderen finanziellen Transaktionen hat Rudolf von Scheliha sicherlich gegen die devisenrechtlichen Bestimmungen verstoßen, doch kein Verbrechen begangen. Auf jeden Fall ist das alles kein Beweis dafür, dass sich Scheliha für seine – angebliche! – Agententätigkeit hat bezahlen lassen. Sie soll er – nach Lota – auch noch nach seiner Rückkehr nach Berlin zwischen 1939 und 1941 für die Sowjets ausgeübt haben. Die Sowjets sollen ihn aber in dem Glauben gelassen haben, dass die Informationen, die er an Ilse Stöbe weitergegeben hat, nach London und eben nicht nach Moskau weitergereicht worden seien. Dies soll auch Ilse Stöbe selber Rudolf von Scheliha immer wieder versichert haben. Doch ob das alles so der Fall gewesen ist, ist keineswegs sicher. Sicher ist, dass Scheliha Ilse Stöbe eine Anstellung in der Informationsabteilung des Auswärtigen Amtes vermittelt hat. Hier war Ilse Stöbe vom Mai 1940 bis Ende 1940 als Pressebearbeiterin tätig. Nach ihrem krankheitsbedingten Ausscheiden aus dem Dienst des Auswärtigen Amtes war sie dann in einem Pharmaunternehmen tätig. Diese Tätigkeit ist ihr wiederum von Rudolf von Scheliha verschafft worden. Bedeutende und wichtige Stellungen waren das zweifellos nicht. Dennoch hat Ilse Stöbe gegenüber ihren sowjetischen Auftraggebern den Eindruck vermittelt, als ob sie über Zugang zu politisch und militärisch ungeheuer wichtigen Informationen verfüge. Dies immer wieder unter Hinweis auf ihre Bekanntschaft mit dem Legationsrat Rudolf von Scheliha, dem sie übrigens den neckischen Decknamen „Schlingel“ gegeben hat. Scheliha habe sie mit all diesen Informationen versorgt, die sie bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion an die Berliner Residenten der GRU übergeben hat. Keineswegs alle dieser Informationen waren wichtig oder gar geheim. Bei einigen handelte es sich um bloße Gerüchte und viele andere waren auch anderen bekannt. Dazu gehörten die Vorbereitungen für das „Unternehmen Barbarossa“. Dass die Wehrmacht einen Überfall auf die Sowjetunion vorbereitete, konnte nicht geheim gehalten werden. Die Nachricht über den bevorstehenden deutschen Angriff auf die Sowjetunion ist Berija und Stalin von verschiedenen in- und ausländischen Personen und Stellen übermittelt worden. Ilse Stöbe war nur eine von vielen. Daher ist es geradezu grotesk, wenn Lota die Kundschafterin, die von der GRU den Decknamen „Alta“ erhalten hat, zu einer Meisterspionin hochstilisiert, weil sie, wie es im Untertitel seines Buches heißt, „die Nachrichten über die Vorbereitung des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion“ übermittelt hat. Der Obertitel von Lotas Buch „Alta gegen Barbarossa“ ist nicht nur reißerisch, er ist schlicht falsch. Außerdem wird dies alles, wie oben schon erwähnt, mit einigen Akten des militärischen Geheimdienstes GRU begründet, die nicht überprüfbar und überhaupt nicht einsehbar sind. Das ist nicht seriös und dient der nachträglichen Selbstrechtfertigung des GRU,
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der meinte, alles besser gemacht zu haben als sein Konkurrent NKWD. Doch diesen Konflikt mögen die sowjetischen Geheimdienste und ihre Nachfolger unter sich ausmachen. Das muss ein Historiker nicht weiter kommentieren. Kritisieren sollte er aber das damalige Fehlverhalten des GRU. Es hat nämlich letztlich zur Verhaftung von Stöbe, Scheliha und dann zahlreichen Mitgliedern der „Roten Kapelle“ geführt, die dann alle wegen Spionage für die Sowjetunion zum Tode verurteilt und hingerichtet worden sind. Rudolf von Schelihas angebliche Spionagetätigkeit beruht auf den Angaben von Rudolf Herrnstadt und Ilse Stöbe. Denn die waren es, welche ihren Auftraggebern weisgemacht haben, dass die übermittelten Informationen von Scheliha stammen würden. Das hat den GRU überzeugt. Meinte er doch mit dem Aristokraten, Corpsstudenten und Legationsrat Rudolf von Scheliha über einen hochrangigen und einflussreichen Informanten zu verfügen. Berija und Stalin haben das nicht so gesehen. Sie hielten die – angeblich – von Scheliha stammenden Informationen schon deshalb für wenig glaubhaft, weil sie von einem „Aristokraten, Corpsstudenten und Diplomaten mittleren Ranges“ stammen sollten. Der von Berija und Stalin missachtete und geradezu düpierte GRU fühlte sich nach und wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion bestätigt und strebte nach einer Anerkennung und Aufwertung seiner Spionagetätigkeit. Dazu benötigte er jedoch die Hilfe der zur Meisterspionin hochstilisierten Ilse Stöbe. Der Kontakt zu ihr war jedoch nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion abgerissen. Ilse Stöbe selber war nicht in der Lage, ihn wieder herzustellen. Sie gehörte nämlich zu keiner der Spionage- und Widerstandsgruppen der „Roten Kapelle“. Die Zentrale der GRU in Moskau hat dennoch versucht, den Kontakt zu Ilse Stöbe über und mit Hilfe der „Roten Kapelle“ herzustellen. Zu diesem Zweck versandte sie Funksprüche an einzelne Mitglieder der „Roten Kapelle“, in denen diese aufgefordert wurden, den Wohnort von Ilse Stöbe ausfindig zu machen und sie selber zu besuchen. Doch dies gelang nicht. Die sowjetischen Agenten fanden Ilse Stöbe nicht. Dafür wurde die Gestapo auf Ilse Stöbe aufmerksam. Ihr Name war nämlich, allerdings in nicht korrekter Schreibweise, in den Funksprüchen der GRU genannt worden. Außerdem noch die Namen und Adressen von anderen Mitgliedern der „Roten Kapelle.“ Eine unglaubliche Schlamperei. War doch die deutsche Abwehr in der Lage, die sowjetischen Funksprüche zu entschlüsseln. Dies versetzte die Gestapo in die Lage, Ilse Stöbe zu verhaften. Dies geschah am 12. September 1942. Dennoch wurden noch im Oktober 1942 verschiedene sowjetische Agenten mit dem Fallschirm über Deutschland abgesetzt und beauftragt, Ilse Stöbe aufzusuchen. Zu ihnen gehörte der oben schon erwähnte Hans Koenen. Er sprang am 23. Oktober 1942 mit dem Fallschirm über Ostpreußen ab und begab sich nach Berlin, um Ilse Stöbe zu treffen. Hier wurde er bereits von der Gestapo erwartet und am 28. Oktober 1942 verhaftet. Bei ihm fand die Gestapo den Namen und den oben erwähnten Überweisungsauftrag an Scheliha. Daraufhin wurde Scheliha einen Tag später, am 29. Oktober 1942, verhaf-
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tet. Der Rest ist bekannt und wurde im Aufsatz schon skizziert. Weitere und genauere Informationen dazu findet man weder bei Lota noch bei Coppi. Insgesamt ist festzustellen, dass in den Büchern Lotas und Coppis einige zweifellos wichtige und neue Erkenntnisse über das Leben und die Agententätigkeit Ilse Stöbes zu finden sind. Sie sollte daher endlich als Opfer des Nationalsozialismus gesehen und anerkannt werden. Eine andere Frage ist, ob sie wie Scheliha zum Widerstand gegen Hitler gerechnet und deshalb geehrt werden soll. Dies ist nur möglich, wenn man generell Spionage für die – alle – Angehörigen der Anti-Hitler-Koalition als Akt des Widerstandes anerkennt. Ich persönlich hätte damit keine Probleme. Problematisch finde ich jedoch den erneuten Versuch, den Widerstandskämpfer Rudolf von Scheliha zum Meisterspion zu machen, der nicht nur gegen Hitler gekämpft, sondern auch für Stalin spioniert hat. Denn Letzteres hat Rudolf von Scheliha nicht getan. Er ist allenfalls von Herrnstadt und Stöbe, wie man im Geheimdienstjargon sagt, „abgeschöpft“ worden. Scharf zurückweisen möchte ich den erneut vorgebrachten Verdacht, Scheliha habe sich seine Spionagetätigkeit bezahlen lassen. Das ist nicht nur falsch, sondern ehrenrührig, was Scheliha nun wahrlich nicht verdient hat. Dennoch bleiben noch einige Fragen und Probleme unbeantwortet und ungelöst. Dies gilt einmal für meine im Aufsatz geäußerte Vermutung, dass Scheliha bewusst und wegen seiner Kontakte zum polnischen Untergrundstaat vom sowjetischen Geheimdienst ans Messer der Gestapo ausgeliefert worden ist. Das wird, natürlich kann man sagen, durch Lotas Quellen nicht gedeckt. Zu klären sind auch noch die finanziellen Transaktionen Schelihas. Welchen Zweck hatten sie? Wollte Scheliha damit nur sich und seiner Schwester Renata nützen oder brauchte er dieses Geld, um anderen Verfolgten des NS-Regimes zu helfen. Also für seine Widerstandstätigkeit? Schließlich – und nicht zuletzt – wissen wir immer noch zu wenig über das corpsstudentische Netzwerk im Widerstand gegen Hitler. Darauf sind Coppi und Lota mit keinem Wort eingegangen. Damit stehen sie jedoch nicht allein da. Auch die übrigen Historiker des Widerstandes gegen Hitler nehmen das Faktum nicht wahr, dass es Corpsstudenten im Widerstand gegeben hat. Das muss sich ändern.
Adam v. Trott zu Solz Von Wolfgang v. der Groeben Adam v. Trott zu Solz gehörte zu den führenden Persönlichkeiten des deutschen Widerstands. Seine vielfältigen Kontakte zu britischen und amerikanischen Persönlichkeiten waren Grundlage für seine zahlreichen, aber letztlich vergeblichen Bemühungen, für die deutsche Widerstandsbewegung Brücken zu den Regierungen Großbritanniens und der USA zu schlagen. Nach dem missglückten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 26. August 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Das Leben von Adam v. Trott zu Solz und sein Einsatz für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus wurden von Dr. Benigna v. Krusenstjern und anderen Autoren umfassend gewürdigt.1 Dieser Bericht beschränkt sich deshalb auf einen kurzen Überblick über sein Leben und Wirken. Ein Schwerpunkt ist seine Mitgliedschaft im Corps Saxonia zu Göttingen.2 Sein Verhältnis zum Corps und die persönlichen Beziehungen zu Corpsbrüdern sind ein Bereich, über den bisher nur wenig bekannt geworden ist. I. Adam von Trott zu Solz wurde am 9. August 1909 in Potsdam als fünftes von acht Kindern geboren. Sein Vater August v. Trott zu Solz war Oberpräsident der Provinz Brandenburg und später königlich preußischer Kultusminister. Seine Mutter Eleonore, geb. v. Schweinitz, war eine direkte Nachfahrin von Chief Justice John Jay, einem der Gründerväter der USA. Nach der Vorschule in Berlin besuchte er Gymnasien in Kassel und Hannoversch Münden. Seit 1940 war er mit Clarita, geb. Tiefenbacher, verheiratet. Das Paar hatte zwei Töchter. Im Mai 1927 begann Adam v. Trott mit dem Studium der Rechtswissenschaften in München. Dort erlebte er bei einer Kundgebung Adolf Hitler. Unter dem Eindruck 1
Maßgeblich: Krusenstjern, Benigna v., „daß es Sinn hat zu sterben – gelebt zu haben“, Göttingen 2009; des Weiteren: Trott zu Solz, Clarita v., Adam von Trott zu Solz. Eine Lebensbeschreibung, Berlin 2009; Wuermeling, Henric L., Adam von Trott zu Solz – Schlüsselfigur im Widerstand gegen Hitler, München 2009; ders., Doppelspiel – Adam von Trott zu Solz im Widerstand gegen Hitler, München 2004; Wassiltschikow, Marie, Berliner Tagebücher, Berlin 1987; Malone, Henry O., Adam v. Trott zu Solz, Berlin 1986; Sykes, Christopher, Adam von Trott, Eine deutsche Tragödie, Köln 1969. 2 Gerlach, Otto (Bearb.), Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, (künftig: KCL), Nr. 45 – 787.
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einer seiner Reden schrieb er: „Hitler ist schon ein ganzer Kerl, aber die Leute, die ihm zuhören, sind ungebildet und unfähig.“3 Zum Wintersemester 1927/28 wechselte Trott an die Georg-August Universität nach Göttingen und wurde dort beim Corps Saxonia aktiv. Sein Vater August v. Trott zu Solz, der Würzburger Rhenane und Heidelberger Westfale4 war, hatte ihm geraten, aktiv zu werden und ihm die Sachsen empfohlen. Adam v. Trott hat sich in relativ kurzer Zeit – nach den nicht ungewöhnlichen Anfangsschwierigkeiten – in das Aktivenleben eingewöhnt und fühlte sich im Kreise seiner etwa 15 Conaktiven wohl. Ein gutes Bild von der Persönlichkeit des aktiven Corpsstudenten5 Adam v. Trott gibt ein Bericht seines Freundes und Corpsbruders Ernst-Friedemann Freiherr v. Münchhausen:6 „Wer ihm einmal begegnet ist, hat gespürt, dass er einer jener begnadeten Menschen war, die man im Leben nur selten trifft. Ich habe den ganzen Abend in der lärmenden Fröhlichkeit der Feuerzangenweihnachtskneipe nur mit ihm gesprochen. Es war, als wäre um uns alles andere versunken und verstummt. Niemand verließ ihn ohne einen bleibenden Eindruck seiner einmaligen Persönlichkeit. Dabei war er alles andere als von aufdringlicher Gewichtigkeit. Er konnte unbeschwert jungenhaft-fröhlich sein und stand auf Landwehr7 und Kneipe stets seinen Mann. Gerade die natürliche Schlichtheit und Menschlichkeit seines Wesens machten ihn auch für Menschen, die ihn nicht näher kannten, so liebenswert.“8 Adam v. Trott wurde nach drei Schlägermensuren am 19. Mai 1928 mit der Verleihung des Bandes in das „engere Corps recipiert“.9 Als Corpsbursche nahm er voll verantwortlich am Corpsleben teil und focht im Lauf des Semesters noch drei weitere Schlägerpartien. Im Mensurfechten sah er die Grundlage und ein Hauptpositivum des Corpsstudententums, „weil es sich da wirklich zeigt, ob man sich zusammenreißen kann“.10 In den Sommer-Semesterferien 1928 ging Adam v. Trott zu einem Studienaufenthalt nach Genf und war gleichzeitig als Ferienvertreter11 der offizielle An-
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Krusenstjern, S. 88. KCL, Nr. 143 – 241 und Nr. 64 – 748. 5 „Aktive“ sind die Füchse und Burschen in den ersten Semestern, „Inaktive“ Studenten in höheren Semestern, die nach dem Examen „philistriert“ werden und damit den Status „Alter Herr“ erhalten. 6 KCL, Nr. 45 – 767; Verzeichnis der Mitglieder des Corps Saxonia zu Göttingen 1844 – 2006, Düsseldorf 2006 (künftig: „Verzeichnis Saxonia“), Nr. 775. 7 Die „Landwehr“ war das Mensurlokal der Göttinger Corps. 8 Corpszeitung des Corps Saxonia zu Göttingen (CZ), Neue Reihe, Nr. 32 , Herbst 1959. 9 KCL, Nr. 45 – 787 (vgl. Anm. 1); Verzeichnis Saxonia, Nr. 795. Als „engeres Corps“ werden die Träger des dreifarbigen Burschenbandes bezeichnet. Zum Corps gehören außerdem die Füchse, die Inhaber der Corpsschleife (IdC) und – als Gäste von Veranstaltungen – vielfach auch Familienangehörige der Corpsbrüder. 10 Zitat aus einem Brief an seinen Vater, vgl. Krusenstjern, S. 93. 11 Geschäftsträger des aktiven Corps während der Semesterferien. 4
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sprechpartner des Corps.12 Zu Beginn des Wintersemesters 1928/29 kehrte er krank nach Göttingen zurück und erhielt deshalb absolutes Mensurverbot.13 Damit konnte er nur nach eingeschränkt am Corpsbetrieb teilnehmen und insbesondere keine Charge bekleiden. Er wurde zunächst beurlaubt und dann am 16. Dezember 1928 mit Farben – also mit Band – inaktiviert. Die vorzeitige Inaktivierung mit Band nach 2 1/2 Semestern und nur sechs Partien14 war sehr ungewöhnlich und ist nur damit erklärbar, dass er aufgrund seiner bis dahin erbrachten Leistungen im Corps sehr hoch angesehen war. Aufgrund von Kontakten, die er in Genf geknüpft hatte, erhielt er eine Einladung zu einem internationalen Studentenkongress in Oxford im Januar 1929. Ein kleines Stipendium ermöglichte ihm dort einen kurzen Studienaufenthalt. Anschließend studierte er weiter in Berlin und Göttingen und schloss das Studium im November 1930 mit dem Referendarexamen ab. Er schrieb dann bei Prof. Dr. Herbert Kraus seine Dissertation über die Hegelsche Staatsphilosophie.15 II. Nach Referendarexamen und Dissertation studierte Adam v. Trott zwei weitere Jahre in Oxford. Er hatte dafür eines der begehrten Cecil-Rhodes-Stipendien gewonnen16. In der Bewerbung hatte er sein besonderes Interesse für die britische Arbeiterbewegung herausgestellt.17 In Oxford lebte er im Balliol College, das als eine der englischen „Politkerschmieden“18 galt. Er belegte die Fächer Philosophie, Politikwissenschaften und Volkswirtschaft, die sogenannten „modern greats“. Neben dem eigentlichen Studium hat er sich intensiv mit sozialen, politischen und philosophischen Themen auseinandergesetzt. In Oxford lernte Trott viele Persönlichkeiten kennen, die für sein weiteres Leben Bedeutung gewinnen sollten. Dazu gehörte auch David Astor, später einer seiner besten Freunde. Unmittelbar nach der Nachricht von der Machtergreifung Hitlers erklärte Adam v. Trott vor Freunden, dass durch diese Entwicklung, deren Tragweite er vorhersah, das Leben für ihn sehr schwierig werden würde. Er sei bereit, so viele Gegner des Nationalsozialismus wie möglich zusammenzubringen, die Nationalsozialisten ohne Furcht und ohne Kompromiss zu bekämpfen und auf der Basis der Menschenrechte zu handeln. David Astor schrieb dazu: „Er erkannte sofort, dass 12 Vgl. Krusenstjern, S. 101: Eine Chargenwahl hatte nicht stattgefunden, so jedenfalls ergibt es sich aus den Konvents-Protokollen. 13 Krusenstjern, S. 111. 14 Üblich waren drei Semester und zehn bis zwölf Mensuren. 15 Krusenstjern, S. 169 ff. 16 Krusenstjern, S. 167. 17 Krusenstjern, S. 290. 18 Krusenstjern, S. 179.
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etwas ganz Schreckliches geschehen war, und er wurde stiller und ernster. Es war, als hätte es in der Familie einen Todesfall gegeben.“19 Im Sommer 1933 verließ Adam v. Trott Oxford mit dem Bachelor of Arts. Er setzte seine juristische Ausbildung mit dem Referendardienst bei Gerichten und Behörden fort. Dabei blieb seine grundsätzlich regimekritische Haltung nicht verborgen. In einem Ausbildungszeugnis wurden ihm eine „skeptische Haltung gegenüber der herrschenden Richtung sowie der trotz seiner Begabung grundsätzliche Mangel an Eingliederung“ attestiert.20 Im Oktober 1936 bestand er das Assessorexamen. III. Adam v. Trott konnte sich 1937 mit einem Studienaufenthalt in China einen schon länger bestehenden Wunsch erfüllen.21 Die Rhodes-Stiftung gewährte ihm an Stelle eines dritten Studienjahres in Oxford eine Beihilfe für ein Studium an einer Universi tät in Peking. Der englische Politiker Sir Richard Stafford Cripps, der Vater eines Studienfreundes, bezahlte für ihn die Schiffspassagen. Die erste Station war ein Aufenthalt in den USA.22 Dort lernte er über Verwandte seiner Mutter23 Persönlichkeiten von Rang und Einfluss kennen, die für seine weiter Entwicklung von großer Bedeutung sein sollten. Dazu gehörten der Direktor des Institute of Pacific Relations, Edward C. Carter, der Berater Präsident Roosevelts, Harry Hopkins, Rechtsanwalt William J. Donovan – später Gründer der CIA – und der Harvard-Professor Felix Frankfurter, später Richter am Obersten Gerichtshof der USA.24 Adam v. Trott besuchte Harvard und die Columbia University in New York. An der University of California nahm er an einem Seminar über China teil. Er fuhr dann nach einer Rundreise durch Kanada und die USA zunächst nach Hongkong. Wegen des ja panisch-chinesischen Kriegs blieb er zunächst in Kanton und in der Provinz Guangxi. Ende Oktober 1937 erreichte er schließlich Peking. Dort nahm ihn der Sinologe Gustav Ecke25 in seinem Haus auf und unterstützte seine Studien. Adam v. Trott bemühte sich intensiv, Chinesisch zu lernen und beherrschte bald wichtige Redewendungen der Umgangssprache.26 In einer Untersuchung zur chinesischen Staatsphilosophie wollte Trott die fernöstliche politische Grundidee der europäischen gegenüberstellen. Seine Arbeit wurde jedoch durch den Krieg gestört, denn die japanische Besatzungsmacht zerschlug die altchinesischen Strukturen. Adam v. Trott sah in Asien ein 19
Wuermeling, S. 38. Krusenstjern, S. 289 f. 21 Krusenstjern, S. 313 ff. 22 Ausführlicher Reisebericht in der Corpszeitung des Corps Saxonia zu Göttingen (CZ), Alte Reihe, Nr. 75, 1938; ebd., Nr. 76, 1939. 23 Krusenstjern, S. 318 ff.; Dr. W. J. Schieffelin war ein Vetter 1. Grades seiner Mutter. 24 Krusenstjern, a.a.O. 25 Begründer der Nibelungenjugend, der Trott einst angehört hatte. 26 Krusenstjern, S. 339. 20
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Machtvakuum entstehen, das Chancen für ein gemeinsames deutsch-britisches Engagement böte. Seine Gedanken fasste Trott in einem Memorandum unter dem Titel „Ostasiatische Möglichkeiten“ zusammen, das er deutschen und angelsächsischen Persönlichkeiten zuleitete. Über Edward C. Carter und Lord Lothian gelangte dieses Papier bis ins Weiße Haus und zum britischen Außenminister Lord Halifax.27 Von Peking aus unternahm Trott Reisen nach Japan, Korea, in die Mandschurei und die innere Mongolei. Weitere Pläne musste er im November 1938 nach der Nachricht vom Tode seines Vaters aufgeben. Über die Sowjetunion erreichte er im Dezember wieder Deutschland. IV. Im Sommer 1939 nutzte Trott seine Beziehung zu Walter Hewel,28 der sich für seine Gedanken zu einem Bündnis oder Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Großbritannien interessierte, um die Erlaubnis für einen Besuch in England zu erhalten. Die Reise wurde vom Auswärtigen Amt finanziert. In London bekam er über David Astor Kontakte zur britischen Regierung. Er konnte Lord Halifax Überlegungen zum Widerstand gegen Hitler vortragen und über zunehmende Kontakte zwischen der deutschen und der sowjetischen Regierung informieren.29 Lord Halifax zeigte sich sehr interessiert und vermittelte ein Gespräch mit Premierminister Chamberlain. Bei einem Besuch in Oxford begegnete er aber auch offenem Misstrauen.30 Vermutlich wurde nicht verstanden, dass er nach außen seine wahre Einstellung nicht zeigen konnte. Im September 1939 wurde Adam von Trott zu einer Konferenz des Institute of Pacific Relations nach Washington D. C. eingeladen. Auch für diese Reise brauchte er die Genehmigung des Auswärtigen Amtes. Walter Hewel konnte davon überzeugt werden, dass ein Ausloten der amerikanischen Deutschland-Politik notwendig sei, und sorgte für die Reisegenehmigung und die nötigen Devisen. Über Genua reiste er in die USA, wo er während fast des ganzen Aufenthalts vom FBI, das ihn für einen deutschen Agenten hielt, observiert wurde.31 Trott wollte auch diese Gelegenheit nutzen, um für die Opposition in Deutschland zu werben. In New York nahm Trott Kontakt mit alten Bekannten auf, die nach Amerika emigriert waren. Mit diesen erarbeitete er eine Denkschrift, die Präsident Roosevelt und führenden amerikanischen Intellektuellen und Staatsmännern zugeleitet werden sollte.32 In der Denkschrift wurde die frühzeitige Offenlegung der – so hoffte er – maßvollen Kriegsziele der westlichen Verbündeten gefordert, um damit die deutsche Op27
Krusenstjern, S. 353. „Ständiger Beauftragter des Reichsaußenministers beim Führer“, später Staatsekretär. 29 Krusenstjern, S. 375. 30 Krusenstjern, S. 377. 31 Krusenstjern, S. 390. 32 A.a.O.
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position zu ermutigen und zu stärken. Für die Denkschrift konnte er auch den in Harvard lehrenden Altkanzler Heinrich Brüning gewinnen, der ihm in Washington für den Widerstand Türen öffnete. So wurde er im Department of State empfangen. Ein Besuch bei Felix Frankfurter verlief dagegen äußerst kühl, da dieser aus Oxford vor Trott als vermeintlichem Spion gewarnt worden war. Frankfurter wiederum warnte das Department of State vor Trott.33 Ende November nahm Adam v. Trott als offizieller deutscher Vertreter an der Konferenz in Virginia Beach teil. Er konnte es geschickt vermeiden, sich mit dem NS-Regime zu identifizieren. Bei vielen Konferenzteilnehmern hinterließ er einen guten Eindruck. Ein Freund vermittelte in der Folge sogar die Einladung zum Tee zu Eleanor Roosevelt, ins Weiße Haus. Das Treffen, auf das Trott einige Hoffnung gesetzt hatte, brachte jedoch kein konkretes Ergebnis.34 Deutsche und britische Freunde beschworen ihn zur selben Zeit, in Amerika zu bleiben. Trotzdem kehrte er im Bewusstsein der ihm drohenden Gefahren über Peking und die Sowjetunion nach Deutschland zurück.35 Adam v. Trotts Erfahrungen zeigen ein grundsätzliches Dilemma des deutschen Widerstands. Es wurde und wird verkannt, dass Deutsche, die das Regime bekämpften, nur dann in westliche Länder reisen durften, wenn sie nach außen hin die offizielle Fassade wahrten. Ein Verzicht darauf hätte weiterführende Kontakte unmöglich gemacht.36 V. Nach Berlin zurückgekehrt hatte Adam v. Trott bald enge Kontakte zu den führenden Persönlichkeiten des Kreisauer Kreises.37 In den Gesprächen und Planungen zum Widerstand gegen das Naziregime und die Zukunft Deutschlands befasste er sich vor allem mit außenpolitischen Fragen. Kontakte nach West und Ost waren die Voraussetzung für die Auslotung aller Möglichkeiten für eine Friedenslösung. Es gab Überlegungen, dass er nach einem Umsturz Staatsekretär im Auswärtigen Amt werden sollte. Auf der dritten Kreisauer Tagung 1943 referierte er über Grundlagen künftiger Außen- und Wirtschaftspolitik.38 Als „Inaktiver“ und jüngerer „Alter Herr“ hatte Adam v. Trott sich schon wegen seiner vielen Auslandsaufenthalte nur noch wenig am Betrieb des aktiven Corps beteiligt. Die persönlichen und freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Corpsbrüdern wurden dadurch aber keinesfalls abgebrochen. Es war – und ist – normal, dass Mitglieder von Corps, wenn sie „Alte Herren“ sind, oft nur wenig oder gar nicht er33
Krusenstjern, S. 391. Krusenstjern, S. 396. 35 Krusenstjern, S. 400. 36 Krusenstjern, S. 403. 37 Krusenstjern, insbes. S. 440 ff.: Kapitel „Leben im Widerstand, Leben im Krieg“. 38 Krusenstjern, S. 475. 34
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kennen lassen, dass sie zu ihrem Corps stehen. Die Frage ist, bildlich gesprochen, nicht, ob sie ihr Band sichtbar tragen, sondern mit wem und wie sie persönliche Kontakte pflegen und unterhalten – und mit wem nicht. Die Bindungen Trotts an sein Corps und viele Corpsbrüder waren lebendig, dies wird durch viele persönliche Kontakte und seine Berichte in der Corpszeitung dokumentiert, und sie sollten spätestens ab 1940 Bedeutung für seine Widerstandsarbeit bekommen. Vor allem mit den Corpsbrüdern Ernst-Friedemann Freiherr v. Münchhausen und Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg stand er in enger Verbindung.39 Mit Dr. Hasso v. Etzdorf 40 und Dr. Dietrich Wilhelm v. Menges41 hat er im Herbst 1939 über Hitlers Außenpolitik und das Problem einer möglichen Duldung oder Unterstützung der deutschen Opposition durch das Ausland diskutiert.42 Aufgrund seiner Beziehungen zu Sir Stafford Cripps soll er dabei zuversichtliche Erwartungen gehabt haben.43 Adam v. Trott hat wiederholt auch an Treffen der Corpsbrüder in Berlin teilgenommen.44 Bei diesen Abenden herrschte ein Klima des gegenseitigen Vertrauens und daraus folgend des offenen Wortes. Eines dieser Treffen wurde von dem Ehrenmitglied des Corps, Rabe v. Pappenheim45, mit Heinrich Heines Versen „Denk ich an Deutschland in der Nacht, so hat’s mich um den Schlaf gebracht“ eröffnet.46 Die Corpsbrüder Ernst-Friedemann Frhr. v. Münchhausen47 und Claus Joachim v. Heydebreck48 haben über konkrete Gespräche zum Thema Widerstand anlässlich eines Corpstreffens, das um den Jahreswechsel 1942/43 stattgefunden hat, berichtet. Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg49 hatte – offenbar nach Absprache mit Adam v. Trott – Claus Joachim v. Heydebreck gefragt, ob er bereit sei, an einer Aktion zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs der Ministerien nach einem Umsturz mitzuwirken und auch andere Corpsbrüder in diesem Sinne anzusprechen.50 Heydebreck hat daraufhin unter anderem mit Münchhausen darüber gesprochen, ob dieser seinerseits bereit sei, sich an den Plänen für ein Attentat auf Hitler zu beteiligen.51 Münch39
KCL, Nr. 45 – 677; Verzeichnis Saxonia, Nr. 683; Heinemann, Ulrich, Ein konservativer Rebell, Berlin 1990, S. 92. 40 Verzeichnis Saxonia, Nr. 659, zuletzt Botschafter in London. 41 KCL, Nr. 45 – 799; Verzeichnis Saxonia, Nr. 806, zuletzt Vors. d. Vorstandes der GHH. 42 Bericht Dietrich v. Menges, vgl. dazu: Blasius, Rainer, Hasso v. Etzdorf, Zürich 1994, S. 57. 43 Bericht Menges, a.a.O. 44 Sykes, S. 30. 45 KCL 45 – 452, Verzeichnis Saxonia, S. 458. 46 Corpszeitung, Neue Reihe, Nr. 32 , Herbst 1959. 47 KCL, Nr. 45 – 767; Verzeichnis Saxonia, Nr. 775 (vgl. Anm. 6); zuletzt Staatsekretär im Justizministerium NRW. 48 KCL, Nr. 45 – 760; Verzeichnis Saxonia, Nr. 766; zuletzt Kultusminister in SchleswigHolstein. 49 KCL, Nr. 45 – 677; Verzeichnis Saxonia, Nr. 683 (vgl. Anm. 39). 50 Heydebreck, Claus v., Lebenserinnerungen, Privatdruck, o. J., S. 119. 51 Münchhausen, Ernst-Friedemann Frhr. v., Erinnerungen, Privatdruck, o. J., S. 169.
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hausen, der seinerseits wusste, dass auch Trott informiert war, hat sich dann so oft wie möglich von Trott, zuletzt im April 1943, über die Entwicklungen berichten lassen.52 VI. Im Sommer 1940 bekam Adam v. Trott als wissenschaftlicher Mitarbeiter eine feste Anstellung im Auswärtigen Amt, dies war eine wesentliche Voraussetzung für seine vielen Reisen in das neutrale Ausland.53 Er nutzte sie dafür, die West-Alliierten über die Gedanken und Pläne der Widerstandsbewegung zu informieren und deren Unterstützung zu gewinnen. Dafür musste er entgegen seiner Überzeugung Mitglied der NSDAP werden, nur so konnte er sein Engagement für die Widerstandsbewegung weiterführen.54 Adam v. Trott arbeitete zunächst in der Informationsabteilung, die die deutschen Dienststellen über die psychologische Lage in den „Feindländern“ unterrichten sollte. 1941 wurde Trott dem Referat Nordamerika und Ferner Osten zugewiesen. Dadurch bekam er Kontakt zu dem indischen Politiker Subhash Chandra Bose,55 der Unterstützung für den Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft suchte. Die deutsche Außenpolitik hoffte, durch die Zusammenarbeit mit der indischen Unabhängigkeitsbewegung die alliierte Vormachtstellung in Südasien zu erschüttern. Die Betreuung von Bose war mit vielen Auslandsreisen verbunden, die auch für Widerstandszwecke genutzt werden konnten. So ergaben sich auch Kontakte zu holländischen Untergrundaktivisten.56 1941 wurde unter Leitung von Adam v. Trott ein „Indienbüro“ innerhalb der Informationsabteilung eingerichtet. Ein Freund57 schilderte seine Arbeit als eine dreifache: „Einmal die Informationsabteilung, dann das Sonderreferat Indien und schließlich die Widerstandsarbeit. Alle drei Arbeiten flossen sachlich und persönlich ineinander über, ja, sie bedingten eigentlich einander. Denn nur die legale Arbeit schuf die erforderliche Freizügigkeit, um die illegale Tätigkeit aufzunehmen und durchzuführen.“ Im Frühjahr 1942 weilte Adam v. Trott zu einer Kur in Davos. Er nutze die Gelegenheit zu einem Besuch beim Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen Willem Visser ‘t Hooft, den er schon 1929 kennengelernt hatte. Er hoffte, durch dessen Vermittlung seinen englischen Gönner Sir Stafford Cripps für den Widerstand zu interessieren. Über ihn sollte die britische Regierung zum Abrücken von ihrer Position der Ablehnung jedes Kontakts zur deutschen Widerstandsbewegung und der bedingungslosen Kapitulation bewegt werden. 52
Münchhausen, a.a.O. Eine Übersicht über die vielen Auslandsreisen: s. Krusenstjern, S. 535 f. 54 Den Titel „Doppelspiel“ wählte Henric L. Wuermeling für seine erste Trott-Biographie, erschienen in München 2004; später schrieb er ein weiteres Buch über Trott. 55 Radikaler Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, 1938/39 Vorsitzender der Kongresspartei, vgl. Brockhaus, Geschichte, Bd. III, Leipzig / Mannheim 2001, S. 51. 56 Krusenstjern, S. 460. 57 Alexander Werth, zit. nach: Wuermeling, S. 113. 53
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Auf Anregung von Visser ‘t Hooft forderte Adam v. Trott in Zusammenarbeit mit Eugen Gerstenmaier und Hans Bernd v. Haeften in einer Denkschrift eine Beendigung der unsicheren alliierten Haltung gegenüber dem Widerstand. Visser ‘t Hooft sorgte dafür, dass das Dokument nach England gelangte. Die Denkschrift wurde Churchill vorgelegt und von ihm dahingehend kommentiert, dass sie ermutigend sei, die britische Regierung aber bei ihrer Haltung beharren müsse, bis Deutschland besiegt sei.58 Im Oktober 1943 nahm Adam von Trott aufgrund einer Einladung der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften an einer Tagung über Südostasien in Stockholm teil. Bei dieser Gelegenheit hatte er Gespräche mit dem schwedischen Außenminister und Mitarbeitern des britischen Geheimdienstes. Er wollte erneut klären, ob die Alliierten im Falle eines Staatsstreichs von der bedingungslosen Kapitulation abrücken und die Bombenangriffe auf deutsche Städte einstellen würden. Das Unterfangen blieb erfolglos. 1944 traf Adam v. Trott in Bern Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdiensts und suchte vergeblich, Chancen zu Verhandlungen mit den Westmächten und der Sowjetunion offenzuhalten. Im Juni 1944 reiste Adam v. Trott nach einem Gespräch mit Stauffenberg das letzte Mal nach Stockholm und versuchte wiederum vergeblich, die Briten zur Änderung ihres Kurses zu bewegen. Er besuchte auch Willy Brandt, über den er sich Kontakte zur sowjetischen Botschaft erhoffte. Es kam zu einem Kontakt zur Sowjetbotschafterin Alexandra Michailowna Kollontai, der aber aus Sicherheitsgründen nicht weiter verfolgt wurde; Trott hatte Anlass zur Vermutung, dass es auf sowjetischer Seite eine „undichte Stelle“ gebe.59 VII. Am 20. Juli hielt sich Adam v. Trott im Auswärtigen Amt auf. Er erlebte dort die ersten Stunden nach dem Anschlag. Trotz aller Gefahr war er auch in den folgenden Tagen noch in seinem Büro.60 Am 25. Juli wurde er verhaftet und am 8. August vom Volksgerichtshof zum Tode durch besonders grausames Erhängen an einem dünnen Draht oder einer Klavierseite verurteilt, ein Verfahren, das Hitler selbst vorgegeben hatte. Dieses Urteil wurde am 26. August 1944 in Berlin-Plötzensee vollstreckt.
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Krusenstjern, S. 452, vgl. dazu Wuermeling, S. 122. Krusenstjern, S. 501. 60 Wassiltschikow, S. 234. 59
Die Freiburger Kreise
Franz Böhm – wie einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft der Gestapo entkam Von Sebastian Sigler Die strikte Ablehnung von Ideologie und Politik der NSDAP, die Konzeption nationalökonomischer Aspekte des Widerstands gegen Hitler sowie aktives Handeln gegen das nationalsozialistische Regime, nicht zuletzt die Mitarbeit an der Konzeption für ein demokratisches Deutschland nach dem NS-Terror – all dies vereinte Franz Böhm. Das hätte in der NS-Zeit bei weitem ausgereicht, um ihn an den Galgen zu bringen. Doch er überlebte trotz einer aufwendigen Fahndung der Gestapo speziell nach ihm. Franz Böhm war lange vor 1945 einer der Väter der Marktwirtschaft und damit des Wirtschaftswunders ab 1948, und zwar mit Konzepten, die er in seiner Habilitationsschrift mitentwickelt hatte. Dies machte ihn für das NS-Regime bereits früh zur persona non grata. Bald darauf beeinflußte Böhms Denken über Freiburger Widerstandskreise die Pläne des als „Kreisauer Kreis“ bekannten Widerstandszirkels.1 Böhm war bei der Währungsreform und wenig später im Bundestag ein wichtiger Stichwortgeber für Ludwig Erhard. Er wurde – und dies ist besonders bemerkenswert – in der jungen Bundesrepublik einer der wichtigsten Vertreter in den Wiedergutmachungsverhandlungen, die am Beginn der Aussöhnung mit Israel standen. Franz Böhm, Freiburger Rhenane,2 ist eine bedeutende Persönlichkeit des Widerstands gegen das NS-Regime. Am 16. Februar 1895 kam Franz Josef Emil Böhm in Konstanz zur Welt.3 Sein Vater war großherzoglich-badischer Minister für Kultus und Unterricht, eine prägende Gestalt nationalliberaler Politik. Der Vater starb 59jährig, als der Sohn eben
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Brakelmann, Günter, Die Kreisauer – folgenreiche Begegnungen, Münster 20042, S. 166; umfangreiche bibliographische Angaben zu den Freiburger Kreisen bei: Kißener, Michael, Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand gegen das „Dritte Reich“, in: Plumpe, Werner / Scholtyseck, Joachim (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft – Vom Kaiserreich bis zu Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 87 f. 2 Gerlach, Otto (Hrsg.), Kösener Corpslisten 1960 (künftig: KCL), Kassel 1961, Nr. 35 – 893. 3 Blumenberg-Lampe, Christine, Franz Böhm (1895 – 1977), Vater der Kartellgesetzgebung, in: Buchstab, Günter et al. (Hrsg.), Christliche Demokraten gegen Hitler, Freiburg i. Br. 2004, S. 108; eine knappe, aber informative Biographie Böhms: ebd., S. 108 – 114.
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Sebastian Sigler
20 Jahre alt war.4 Das Elternhaus war schöngeistig geprägt. Böhm nahm am Ersten Weltkrieg teil, bereits im August 1914 wurde er mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet. Im Verlauf des Krieges wurde er im Deutschen Asiencorps eingesetzt, nahm an den Ostjordanschlachten teil und wurde bis 1919 in Kleinasien interniert. Am 30. Januar 1919 wurde er entlassen; der Dampfer „Lilly Rickmers“ brachte ihn nach Hamburg.5 Unmittelbar nach seiner Rückkehr, die auf den 2. März fiel, schrieb er sich in Freiburg im Breisgau für die Rechtswissenschaften ein. Bereits im ersten Studiensemester trat er dem Corps Rhenania bei, nach seiner Fuchsenzeit im Sommersemester wurde er zum Wintersemester rezipiert. Böhm ist einer von 31 Füchsen, die die Rhenanen 1919 rezipieren konnten.6 Dem früheren Reichskanzler Otto v. Bismarck7 brachte er in jenen Jahren große Verehrung entgegen,8 Max Weber,9 der damals in Freiburg las, wird ihn – wie manche der späteren Ausführungen nahelegen – beeindruckt oder sogar beeinflußt haben.10 1922 bestand Franz Böhm bereits sein erstes, 1924 sein zweites Staatsexamen, letzteres mit „gut“; zwei Jahre später war er Staatsanwalt am Landgericht Freiburg. Im selben Jahr, 1926, heiratete er Maria Antonia Ceconi, die einzige Tochter der bedeutenden Dichterin Ricarda Huch. Seine spätere Frau hatte er 1923 auf dem damals noch streng christlich-anthroposophisch ausgerichteten Schloß Elmau bei Mittenwald in Oberbayern kennengelernt; 1929 wurde dem Paar der Sohn Alexander geboren.11 Bereits 1925 arbeitete Franz Böhm für die Kartellabteilung des Reichswirtschaftsministeriums. Er war an der Entwicklung von Lenkungsmechanismen beteiligt, mit denen eine freie Wirtschaft gewährleistet werden sollte.12 Die Freiheit des Einzelnen wollte Böhm uneingeschränkt verwirklicht sehen, und dazu gehörte für ihn, daß zugleich der Staat in die Lage versetzt werden sollte, Kartellen und ungezügelter Kapitalmacht Grenzen zu setzen. In seiner Arbeit prägte er Sätze wie:
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Hansen, Niels, Franz Böhm mit Ricarda Huch – zwei wahre Patrioten, Düsseldorf 2009, S. 17. 5 Wiethölter, Rudolf, Franz Böhm (1895 – 1977), in: Diestelkamp, Bernhard / Stolleis, Michael (Hrsg.), Juristen an der Universität Frankfurt am Main, Baden-Baden 1989, S. 211. 6 KCL, Nr. 35 – 869 bis 35 – 899; vgl. Hansen, Franz Böhm, S. 35; Roser, Traugott, Protestantismus und freie Marktwirtschaft – eine Studie am Beispiel Franz Böhms, in: Brakelmann, Günter et al. (Hrsg.), Entwürfe zu christlichen Gesellschaftswissenschaft, Bd. 6, Münster 1998, zugl. Diss. München, 1996, S. 25. 7 KCL, Nr. 42 – 387. 8 Huch, Ricarda, Briefe an die Freunde, Zürich 1986, S. 352: Brief an Gustav Radbruch, 12. März 1942. Später, als Böhm selbst an ordoliberalen Grundideen mitarbeitete, relativierte sich diese Verehrung unter anderem wegen der Frage, welche Bedeutung der Außenpolitik zukomme, deutlich. 9 Max Weber war Mitglied der Burschenschaft Allemannia Heidelberg. 10 Vgl. Wiethölter, Franz Böhm, S. 215 f. 11 Hansen, Franz Böhm, S. 17. 12 Roser, Böhm, S. 32 ff., insbes. S. 34.
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„Ius publicum privatorum pactis mutari nequit“.13 Wohl um die Jahresmitte 1931 entschied er sich dafür, die Universitätslaufbahn einzuschlagen, er wurde mit dem Ziel der Habilitation vom Justizdienst beurlaubt.14 Bereits am 15. Februar 1932 wurde er promoviert.15 Seine Motivation, sich wissenschaftlich zu engagieren, muß am ehesten in den Ereignissen rund um die Weltwirtschaftskrise von 1929 gesucht werden.16 Knapp zwei Jahre nach dem Übertritt in die wissenschaftliche Laufbahn, 1933, erschien seine Promotionsschrift „Der Kampf des Monopolisten gegen den Außenseiter als wettbewerbsrechtliches Problem“, und im selben Jahr war auch seine Habilitationsschrift, die mit „Wettbewerb und Monopolkampf“ übertitelt war, bereits druckreif.17 Einer der Gutachter war Walter Eucken, Mitglied des Corps Saxonia Kiel,18 mit dem Böhm wenige Jahre später, in der Zeit des Widerstands gegen das NS-Regime, sehr vertrauensvoll und auch konspirativ zusammenarbeiten sollte. Am 3. Februar 1934 erhielt Böhm die Venia Legendi19 und begann umgehend eine 13 ÜS: „Privatverträge, mit denen öffentliches Recht geändert wird, sind ungültig.“ Vgl. dazu: Goldschmidt, Nils / Wohlgemuth, Michael, Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen 2008, S. 61. 14 Hansen, Franz Böhm, S. 41. 15 Roser, Böhm, S. 41. 16 Kißener, Michael, Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen, in: Plumpe / Scholtyseck (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft, S. 88. 17 Zu Böhms Habilitationsschrift: Rüther, Daniela, Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler, Paderborn 2002, S. 65 ff., hier zutreffende Wertungen, obwohl Rüther die korrekte Aufschlüsselung von Motivation und Verortung Freiburger Widerstandskreise in weiten Teilen nicht gelingt. 18 Als Eucken 2 im Jahre 1910 beim Corps Saxonia Kiel rezipiert, vgl.: KCL, Nr. 77 – 177. 1934 sollte Eucken bei seinem Corps das Band niederlegen; er tat dies vielleicht auch in Solidarität zu seinem Bruder und Corpsbruder Dieter, der mit einer Frau jüdischen Glaubens verheiratet war, deswegen als „jüdisch versippt“ galt und nach den Regeln, die der NS-Staat den Corps aufzwingen wollte, das Band nicht behalten durfte. Zumindest ist diese Version sehr verbreitet. Wahrscheinlicher ist folgende Überlegung: Die Kieler Saxonia wurde von außen, speziell vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, dem NSDStB, ultimativ aufgefordert, sich auf die Linie des NS-Staates zu begeben, und mit Zögern folgten die meisten. Eucken dürfte dies zuwider gewesen sein; er war ein überzeugter Deutschnationaler, Mitglied der DNVP, und die in übergroßer Mehrheit aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Nationalsozialisten waren ihm ein Greuel; diese Überlegung verdankt der Autor Stan Schneider Saxoniae Kiel, der sie ihm brieflich mitteilte. Für diese Überlegung spricht auch, daß gesellschaftlich herausragende Personengruppen – und Eucken zählte als Professor und Sohn eines Nobelpreisträgers unbedingt dazu – besonders schroff durch die NS-Parteigänger ausgegrenzt wurden. Diese Bandniederlegungen der Brüder Eucken konnten nach der Befreiung 1945 nicht rückgängig gemacht werden, vgl. dazu: Beitrag „Eucken“ in diesem Band, insbes. Anm. 24. 19 Hansen, Franz Böhm, S. 47, ebd., S. 43 – 47; dort auch genaueres zu Thema und Bewertung der Habilitationsschrift; vgl. zum Habilitations-Kolloquium Hollerbach, Streiflichter zu Leben und Werk Franz Böhms (1895 – 1977), in: Schwab, Dieter et al. (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von
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Lehrtätigkeit an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.20 Er gehörte zu denjenigen, die sich unter maßgeblicher Mitwirkung von Adolf Lampe21 und Walter Eucken gegen die Umorientierung der Freiburger Hochschule im nationalsozialistischen Sinne und damit gegen den Rektor Martin Heidegger aussprachen. Im scharfen inhaltlichen Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie bildete sich um Hans Großmann-Doerth, Eucken und den eben habilitierten Böhm ein Kreis von Wirtschaftswissenschaftlern und Angehörigen anderer Fakultäten, der später „Freiburger Kreis“ genannt werden und dem von Peter Graf Yorck v. Wartenburg und Helmuth James Graf v. Moltke gegründeten Kreisauer Kreis in Fragen einer „Wirtschaftspolitik für ein Deutschland nach Hitler“ zuarbeiten sollte. Eucken notierte bereits im Februar 1934: „Wir haben eben einen schönen Kreis: Großmann, Böhm, Pfister, Lampe, Johns und ich. Die Studenten empfinden, daß sich hier etwas entwickelt.“22 Das Generalthema dieses Kreises war: „Die Ordnung der Wirtschaft“, und Böhm brachte hier die Frage nach der Einheit von persönlicher und politischer Moral ein.23 Dies interessierte ihn auf der Grundlage der Frage, wie Recht und Macht zusammenhängen, denn er war der Überzeugung, daß Ordnung und Freiheit Bedingung füreinander sind24 – ein Gedanke übrigens, der ihn von Anfang seiner wissenschaftlichen Arbeit an beschäftigt hatte und den er in seiner Habilitationsschrift weiterentwickelte.25 Leidenschaftlich widersprach Böhm dem italienischen Philosophen Benedetto Croce, der die Freiheit für teilbar hielt, weil er die geistig-politische Freiheit für essentieller hielt als die wirtschaftliche Freiheit,26 weswegen er es auch für möglich hielt, eines vom anderen zu entkoppeln. Böhm setzte dagegen, daß für alle Gesellschaftsbereiche dieselben Vorgaben zu gelten Paul Mikat, Berlin 1989, S. 287; zum Urteil Euckens über die Habilitationsschrift vgl. Roser, Böhm, S. 43: Eucken nannte die Arbeit „an Anschaulichkeit und Urteil … konkurrenzlos“. 20 Die Veröffentlichung der Habilitationsschrift mußte Böhm finanziell selbst schultern, vgl. Brief Marietta Böhm an Marie Baum, ohne Datum, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlaß Ricarda Huch, Nr. 64.2082/162. 21 Roser, Böhm, S. 49. 22 Eucken, Walter, Tagebucheintrag 21. Februar 1934, Walter-Eucken-Archiv Frankfurt/ Main. 23 Vgl. dazu Fack, Fritz Ullrich (Grußwort ohne Titel), in: Recht und Gesittung in einer freien Gesellschaft. Vortragsveranstaltung der Ludwig-Erhard-Stiftung und des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main am 21. November 1985 im Kaisersaal des Römers. Zur Erinnerung an Franz Böhm aus Anlaß seines 90. Geburtstages, Bonn 1985 (Selbstverl.), S. 10. 24 Heck, Bruno, Leben und Werk, in: Kaff, Brigitte (Bearb.) / Biedenkopf, Kurt (Hrsg.), Franz Böhm, Beiträge zu Leben und Wirken, Melle 1980, S. 10. 25 Böhm, Franz, Wettbewerb und Monopolkampf. Eine Untersuchung zur Frage des wirtschaftlichen Kampfrechts und zur Frage der rechtlichen Struktur der geltenden Wirtschaftsordnung, Habilitationsschrift Berlin 1933, Teil II, 2, Kapitel VI und VII, S. 178 – 203, insbes. S. 193 ff. 26 Siehe hier: Willgerodt, Hans, Die Sachlogik der Wirtschaft im Spiegel des Rechts, in: Recht und Gesittung in einer freien Gesellschaft, Vortragsveranstaltung der Ludwig-ErhardStiftung und des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main am 21. November 1985 im Kaisersaal des Römers, Bonn 1985 (Selbstverl.), S. 18.
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hätten. Die Politik dürfe sie geben; alle Entscheidungen der am Wirtschaftsprozeß Beteiligten seien hingegen frei, hätten aber im Einklang mit dem vom Gesetzgeber festgelegten Rahmen zu stehen.27 Beeindruckend waren – und bleiben auch heute – seine Ausführungen zum Privatrecht.28 Unkontrollierte Souveränität sah Franz Böhm kritisch,29 das wirtschaftliche Handeln war für ihn eine Spielart politischen Handelns. Er formulierte: „Der Wettbewerb ist das großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte.“30 Sein israelischer Freund Yohanan Meroz bescheinigte ihm posthum eine absolut gradlinige Haltung, die er nie verlassen habe: „Für Franz Böhm bestand völlige Untrennbarkeit zwischen seiner sittlichen Grundhaltung und der praktisch-politischen Konsequenz, die er aus ihr zog.“31 Der in Freiburg entwickelte Ordo-Liberalismus stand durch seine soziale und moralisch-wertende Komponente im Gegensatz zum klassischen Liberalismus, auch wenn er auf ihm fußt. Die weiterführenden Gedanken waren den grundlegenden Werken von Augustinus und Thomas von Aquin entlehnt, nach denen eine von Gott gesetzte Ordnung zu beachten sei.32 Der Widerspruch zur NS-Ideologie war im ab 1934 allmählich entstehenden „Freiburger Kreis“ schon allein darin begründet, daß darüber nachgedacht wurde, wie unter sozialen und moralisch einwandfreien Gesichtspunkten eine minimal nötige Lenkung der Volkswirtschaft bei größtmöglicher Freiheit geschehen könne,33 denn Ideologen des Nationalsozialismus hätten in diesem Denken die unüberbrückbaren Widersprüche zur Hitler-Ideologie erkennen können. Die Treffen dieses Professorenzirkels konnten jedoch einigermaßen ungestört stattfinden,34 Aufsätze 27 Böhm, Franz, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 108 – 120; a.a.O., S. 178 ff., a.a.O., S. 260 ff.; vgl. Willgeroth, Sachlogik, S. 19. 28 A.a.O., Teil III, S. 210 – 317, besonders gut zusammengefaßt bei Zieschang, Tamara, Das Staatsbild Franz Böhms, Stuttgart 2003, S. 117 ff. 29 Vgl. dazu Böhm, Franz, Der Rechtsstaat und der soziale Wohlfahrtsstaat, in: Mestmäcker, Ernst-Joachim, Franz Böhm – Reden und Schriften, Karlsruhe 1960, S. 82 – 150, insbes. S. 82 – 94 (künftig zitiert: Böhm, Reden und Schriften). 30 Böhm, Franz, Die Bedrohung der Freiheit durch private ökonomische Macht in der heutigen Gesellschaft, in: Universitas, 1963, S. 46; vgl. Scholtyseck, Joachim, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation, in: Plumpe / Scholtyseck (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft, S. 111. 31 Meroz, Yohanan, Franz Böhm und Israel, in: Biedenkopf, Franz Böhm, S. 16. 32 Zieschang, Staatsbild, S. 23 und S. 200. 33 Zieschang, Staatsbild, S. 10; Hansen, Franz Böhm, S. 75 ff.; Roser, Böhm, S. 52 ff. 34 Häufige Treffen fanden statt im Haus Constantin v. Dietzes, Maria-Theresia-Straße 13 in Freiburg-Wiehre. Das berichten Mitglieder der Burschenschaft Franconia, die dieses Haus bereits in den 1950er Jahren übernommen haben. Dietze, der zu dieser Zeit noch im ersten Stock des Hauses wohnte, hat auch andernorts von den Treffen berichtet; vgl. dazu Goldschmidt, Nils, Der Freiburger universitäre Widerstand und die studentische Widerstandsgruppe Kakadu, in: Scholtyseck, Joachim / Studt, Christoph (Hrsg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich – Bejahung, Anpassung, Widerstand, Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 2. Juli 1944 e. V., Bd. 9, Berlin 2008, S. 147 f.; derselbe Aufsatz bereits
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konnten veröffentlicht werden, weil dieser Freiburger Kreis von den Nationalsozialisten – gerade auch von Hitler persönlich – verkannt und unterschätzt wurde.35 Doch ab dem Wintersemester 1934/35 wurde es zu gefährlich, Debatten in Hörsälen zu führen, vor allem, weil die Drohungen straff nationalsozialistisch ausgerichteter Studentengruppen zunahmen, und so traf man sich im Haus des emeritierten Nationalökonomen und Geheimrat Karl Diehl. Böhm und seine Kollegen legten in dieser Zeit die gedankliche Grundlage für das, was ab 1949 in der jungen Bundesrepublik als soziale Marktwirtschaft bezeichnet werden sollte. Es ist deswegen kein zu groß angelegter Maßstab, Böhm und seine Mitstreiter zusammen mit Ludwig Erhard zu den „Vätern des Wirtschaftswunders“ zu rechnen. Der Arbeitskreis des Wintersemesters 1933/1934 begründete die bis heute wirkende „Freiburger Schule“ der Wirtschaftswissenschaften; „das Gemeinschaftsseminar gilt als Geburtsstunde der Freiburger Schule“.36 Böhm und Eucken stehen hier, auch wenn ältere und damals bekanntere Kollegen mitwirkten, bis heute „stellvertretend und führend“.37 Sie schufen damit nicht weniger als „die Grundlage für die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik seit 1948“.38 In den Jahren nach der Machtergreifung hatten die Nationalsozialisten recht wenig Interesse an der Volkswirtschaftslehre, die Disziplin der Nationalökonomie stand hinter ideologischen Fragestellungen und der Übernahme totaler Kontrolle zurück. Wenn schon, stand ein ganz anderes „Wirtschaftswunder“ im Mittelpunkt des Interesses. Hitler hatte mit seinen Verordnungen die Arbeitslosigkeit drastisch gesenkt, und noch ahnten nur wenige, daß dies eine wirtschaftliche Blase war, die zu Lasten rationaler ökonomischer Entscheidungen ging und die – schlimmer noch! – notwendig den Krieg benötigen sollte, um sich weiter ausdehnen zu können. Die Freiburger forschten weiter, und für Böhm persönlich blieb das durchaus nicht folgenlos. Ihm wurde seitens der Hochschule auf Druck der NSDAP der Weg zu einer Professur verlegt, was Familie und engste Freunde mit Sorge zur Kenntnis in: Martin, Bernd, 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Bd. 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, Freiburg / München 2007, S. 503 – 519, hier: S. 507. 35 Böhm, Franz, Freiburger Schule und Nationalsozialismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Mai 1955 zur dieser Frage: „Weil der Nationalsozialismus für die gesamte Wirtschaftswissenschaft nur Geringschätzung übrig hatte und weil es ihnen völlig gleichgültig war, was deutsche Nationalökonomen zusammenschrieben und zusammendachten.“ Vgl. Hansen, Franz Böhm, S. 85 f. 36 Bei Zieschang, Staatsbild, S. 6, weiterführende Literaturangaben. 37 Blumenberg-Lampe, Vater der Kartellgesetzgebung, S. 109. 38 Heck, Bruno, Leben und Werk, in: Gotto, Klaus (Hrsg.), Franz Böhm – Beiträge zu Leben und Wirken, Melle 1980, S. 11; vgl. Biedenkopf, Kurt, Der Politiker Franz Böhm, ebd., S. 59 f.; vgl. ebenso: Böhm, Franz, Marktwirtschaft von links und rechts, in: Böhm, Reden und Schriften, S. 82 – 150, S. 151 – 157; Mestmäcker, Ernst-Joachim, (Grußwort ohne Titel), in: Recht und Gesittung in einer freien Gesellschaft, Vortragsveranstaltung der Ludwig-ErhardStiftung und des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main am 21. November 1985 im Kaisersaal des Römers. Zur Erinnerung an Franz Böhm aus Anlaß seines 90. Geburtstages, Bonn 1985 (Selbstverl.), S. 52.
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nahmen.39 An Marie Baum schrieb seine Schwiegermutter, die Dichterin Ricarda Huch, zu Aktivitäten gegen NS-Umtriebe an der Freiburger Universität, die Böhm entfaltete: „Du kannst Dir denken, daß Franz immer der Vorderste war, überhaupt ohne Franz hätte gewiß die Juristische und die Volkswirtschaftliche Fakultät hier nicht die Unabhängigkeit bekommen, die sie jetzt hat. Natürlich kann es ja sein, daß alles einmal ein Ende mit Schrecken hat.“40 Zuvor hatte es Morddrohungen gegen Böhm, Eucken, Lampe und Großmann-Doerth gegeben.41 Mit dem Ehepaar Eucken ergaben sich auch private Kontakte der Böhms. Eucken lernte auch die Schwiegermutter Ricarda Huch kennen, er war sehr von ihr beeindruckt.42 Am 31. März 1936 erhielt Franz Böhm das Angebot, in Jena vertretungsweise eine Professur an der Rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät wahrzunehmen; eine baldige Ernennung zum Ordinarius schien in Aussicht.43 Dieser Ortswechsel sollte für sein Engagement im Widerstand der nacheinander entstehenden Freiburger Kreise Bedeutung haben, denn nun konnte Böhm nur sporadisch in Freiburg präsent sein.44 Trotzdem riß der enge Kontakt dorthin nie ab,45 und so gab er ab 1936 zusammen mit Walter Eucken und Hans Großmann-Doerth die Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft“ heraus, deren erster Band mit einer Einleitung versehen wurde, die als Gründungsdokument der Freiburger Schule angesehen werden kann.46 „Böhms Abhandlung ,Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche und rechtsschöpferische Leistung‘, der erste Band dieser Schriftenreihe, war für die Entwicklung des Ordoliberalismus von fundamentaler Bedeutung.“47 In Jena geriet Böhm bald ebenfalls in Schwierigkeiten. Zunächst zögerte sich das Verfahren seiner Ordination ohne konkret faßbare Gründe hinaus. Am 3. März 1937 protestierte dann der als besonders unangenehm bekannte thüringische NS-Gauleiter und „Reichstatthalter“ Fritz Sauckel offen gegen seine Ernennung. Diese Beschwerde ging zunächst nicht durch, möglicherweise, weil der sächsische Gau39
Huch, Ricarda, Briefe an die Freunde, Zürich 1986, S. 171 f.; Böhm, Franz, Brief an Marie Baum vom 9. August 1933, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlaß Ricarda Huch, Nr. 64.2081/4 – beide zitiert nach: Hansen, Franz Böhm, S. 64 f. 40 Hollerbach, Streiflichter, S. 287 f. 41 A.a.O. 42 Eucken, Walter, Tagebucheinträge vom 9. Dezember 1934 und 22. Januar 1935. 43 Hansen, Franz Böhm, S. 88. 44 Vgl. dazu Blumenberg-Lampe, Christine, Oppositionelle Nachkriegsplanung: Wirtschaftswissenschaftler gegen den Nationalsozialismus, in: John Eckhard et al. (Hrsg.), Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg / Würzburg 1991, S. 209. 45 Roser, Böhm, S. 63 ff. 46 Großmann-Doerth, Hans / Eucken, Walter / Böhm, Franz (Hrsg.), Die Ordnung der Wirtschaft, Bd. 1, Berlin / Stuttgart, 1937. 47 Goldschmidt, Nils / Wohlgemuth, Michael, Die Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, in: dies. (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Untersuchungen zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik, Bd. 50, Tübingen 2008, S. 4.
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leiter Martin Mutschmann auf Anfrage mitteilte, der Führer habe sich in Fragen der Wirtschaftsordnung noch nicht festgelegt, daher dürften die Professoren bis auf weiteres schreiben, was sie wollten.48 Doch von Böhm stammte die These, der wirtschaftliche Wettbewerb sei „das genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte“.49 Daß ihm angesichts derartiger Äußerungen Schwierigkeiten ins Haus stehen sollten, nimmt nicht wunder. Wenige Wochen später, Anfang Mai, wurde Böhm wegen „judenfreundlicher“ Äußerungen im privaten Umfeld durch Richard Kolb denunziert.50 Kolb, der vom Gau Bayern mit der Leitung der Propaganda beauftragt war, lehrte ebenfalls an der Universität Jena, war Träger des Blutordens und SS-Hauptsturmführer. Er konstatierte eine „innerlich unbeirrbare demokratische Auffassung“ Böhms51 – dies war aus dem Blickwinkel der NS-Ideologie als Anschuldigung gemeint. Böhm forderte nun ein Disziplinarverfahren gegen sich selbst. Das war nicht ungeschickt, denn nun mußten seine Widersacher Farbe bekennen. Damit reagierte er im übrigen aber so, wie es von einem Corpsstudenten zu erwarten war. Außerdem tat er etwas, das zwar allgemeinem gesellschaftlichem Comment entsprach, aber deutliche Anklänge an den corpsstudentischen Comment erkennen läßt: Böhm bezichtigte Kolb am 21. Dezember des „unehrenhaften Verhaltens“, was als Forderung auf Pistole zu verstehen war und verstanden wurde.52 Kolb seinerseits verlangte beim Leiter der Gestapo Weimar die „Verbringung Böhms in ein Konzentrationslager“.53 Als Folge wurde dem denunzierten und angeschuldigten Dozenten, statt ihn zum Ordinarius zu befördern, am 22. März 1938 durch den Reichswissenschaftsminister die Lehrbefugnis entzogen,54 was Böhm und seine Familie menschlich wie finanziell schwer traf. Ein längerer Rechtsstreit vor mehreren Gerichten – darunter dem Reichsdisziplinarhof und dem Reichsdienststrafhof – endete
48 So bei Hansen, Franz Böhm, S. 85, allerdings ohne Beleg. Zu Mutschmann: Parak, Michael, Hochschule und Wissenschaft zwischen zwei Diktaturen. Elitentausch an sächsischen Hochschulen 1933 – 1952, Köln 2004. 49 Scholtyseck, Joachim, Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft als radikale Ordnungsinnovation, in: Plumpe / Scholtyseck (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft, S. 111; vgl. Kielmannsegg, Peter Graf v., Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands, Berlin 2000, S. 435; Böhm, Franz, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, 1946, passim. 50 Ausführlich dazu: Roser, Böhm, S. 111 – 122. 51 Bundesarchiv, R 3001/52107, Personalakte Böhm (künftig BArch, PA Böhm), hier: Anschuldigungsschrift im Dienststrafverfahren, 15. September 1938, Blatt 99; Archiv für christlich-demokratische Politik, St. Augustin (künftig ACDP), Nr. 01 – 200 – 003/2. 52 ACDP, Nr. 01 – 200 – 003/4; Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 245, interpretiert tendenziös und erkennt nicht, daß der Comment, an dem sich Corpsstudenten und andere Korporierte heute noch halten, damals wie heute sinnvoll und zielführend sein kann. 53 Der gesamte – lesenswerte! – Vorgang mit ausführlichen Quellenangaben siehe: Hansen, Franz Böhm, S. 99 – 106. 54 ACDP, Nr. 01 – 200 – 003/1; BArch, PA Böhm, Blatt 44.
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in zweiter Instanz mit einem faktischen Freispruch,55 was jedoch seitens der NSMachthaber damit konterkariert wurde, daß am 5. Oktober 1940 der Spruch des Reichserziehungsministeriums erging, daß „die bisherige Lehrbefugnis des Dr. Böhm erloschen“ sei – „und bleibe“.56 Den Antrag dazu hatte der Reichsjustizminister gestellt.57 Noch in seiner Habilitationsschrift hatte Böhm geschrieben: „… die Staatsmänner, die Diplomaten, die Konferenzen, die Parlamente, die Völker und die Revolutionen, sie alle machten sozusagen vor den Toren der Wirtschaft halt.“58 Alle – aber die Nationalsozialisten nicht. Die Lehre von Franz Böhm ist – auf einen Begriff gebracht – der Ordoliberalismus. Es geht immer wieder um die Frage, wieviel Lenkung eine Volkswirtschaft minimal braucht, um einen freien Warenverkehr zu gewährleisten. Als offensichtlichste Gefahr machte Böhm dabei die Bildung von Kartellen jedweder Art aus, und er untersuchte, inwieweit dieses Phänomen eindämmbar sei, ohne die freie Wirtschaftsentfaltung und die Freiheit der Gesellschaft insgesamt zu beeinträchtigen. Dies tat er vor dem Hintergrund eines sozial und christlich geprägten Menschenbildes, denn ihm lag daran, den Mittelweg zum Nutzen der Verbraucher, zum Nutzen der Menschen zu finden, davon ausgehend, daß eine freie Wirtschaftsentfaltung größtmöglichen Wohlstand in Freiheit schafft, daß dieser Zustand auf der anderen Seite, wenn nämlich die Kräfte des Marktes unkontrolliert walten, in Kartellen „verklumpt“. Das freie wirtschaftliche Fahrwasser unter Einhaltung der Werte abendländischer, christlich geprägter Moralvorstellungen59 – darum ging es ihm. Seine Promotion und die direkt darauf basierende Habilitationsschrift belegen es, aber auch seine später verfaßten Werke60 zeugen von dieser Intention. Dieses wissenschaftliche Erbe ist bis heute von größter Relevanz. Nicht verwechselt werden darf Franz Böhm übrigens mit einem Philosophen gleichen Namens, der der Lehre des Nationalsozialismus nahestand.61 55
Ausführlicher zu diesem Verfahren: Hollerbach, Streiflichter, S. 289 ff. BArch, PA Böhm, Blatt 220. 57 Freiburger Universitätsarchiv, Personalakte Franz Böhm, Akte „Dienststrafverfahren“, B 24/286. 58 Böhm, Franz, Wettbewerb und Monopolkampf, Habilitationsschrift Berlin 1933, S. VII. 59 Schmölders, Günter, Das Moralische in der Politik, Würdigung Franz Böhms zu dessen 75. Geburtstag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Februar 1970. 60 Exemplarisch seien genannt: Böhm, Franz, Die Ordnung der Wirtschaft als geschichtliche Aufgabe und rechtsschöpferische Leistung, in: Böhm, Franz / Eucken, Walter (Hrsg.), Ordnung der Wirtschaft, Bd. 1, Stuttgart 1937; siehe auch: Böhm, Franz mit Eucken, Walter und Großmann-Doerth, Hans, Unsere Aufgabe, ebd., S. VII – XXI; Böhm, Franz, Der Wettbewerb als Instrument staatlicher Wirtschaftslenkung, in: Schmölders, Günter (Hrsg.), Der Wettbewerb als Mittel volkswirtschaftlicher Leistungssteigerung und Leistungsauslese, Berlin 1942, S. 51 – 98; Böhm, Franz, Konzentration, abgedruckt in: Blumenberg-Lampe, Christine, Der Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Referate Protokolle, Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 1943 – 1947, in: Forschungen zur Zeitgeschichte, Bd. 9, Stuttgart 1986, S. 329 – 342 (Mai 1944) und S. 425 – 438 (Juli 1944). 61 Der Philosoph Franz Böhm wurde am 16. März 1903 geboren, hatte eine außerordentliche Professur in Heidelberg inne und verstarb 1945 in Moskau. Zum Philosophen Böhm: 56
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I. Die drei Freiburger Widerstandskreise Seit 1933 hatte Franz Böhm mit Carl Friedrich Goerdeler in brieflichem Kontakt gestanden,62 1938 trafen beide erstmals zusammen. Spontan waren sich beide sympathisch, denn eine wesentliche Ursache für ihre widerständige Haltung – die Entrechtung, Deportation und Ermordung von Menschen jüdischen Glaubens – war ihnen gemeinsam.63 Goerdeler freute sich, einen konsequenten Mitstreiter gefunden zu haben.64 Beide dürften sich in dem zentralen Wert, den sie der Freiheit beimaßen, getroffen haben. Goerdeler zeichnete sich in seinen Konzepten für ein Deutschland nach dem NS-Terror durch die Betonung der Freiheit aus.65 Böhm schätzte an dem unermüdlichen Netzwerker gegen Hitler, daß dieser sich massiv für einen unbedingten Kampf gegen das mörderische NS-Regime auch um den Preis einer Niederlage gegen die gefürchtete, bolschewistische Rote Armee einsetzte, weil im Namen des NS-Regimes ein Massenmord an Unschuldigen im Gang sei, wie Goerdeler bereits in jenem Jahr sicher wußte.66 Zu dieser Zeit hatte er sich von Jena, wo er aufgrund des Lehrverbots zur Untätigkeit verurteilt sah, bereits wieder nach Freiburg orientiert. Von dort aus kam er, so oft es ging, zu den monatlichen ZuMohler, Armin, Die konservative Revolution in Deutschland 1918 – 1932, Personenregister; Wiethölter, Franz Böhm, S. 249. 62 Goerdeler war Mitglied der Tübinger Turnerschaft Eberhardina – nach Fusion mit der Turnerschaft Markomannia Königsberg heute: Alte Turnerschaft Eberhardina-Markomannia zu Tübingen. 63 Hansen, Franz Böhm, S. 140 ff. 64 Böhm, Franz, Begegnungen mit Carl Goerdeler, Gespräch mit Regina Büchel, Manuskript aus dem Mai 1969, von Böhm durchgesehen und korrigiert, Nachlaß Böhm, ACDP Nr. 01 – 200 – 004/4, vgl. Biedenkopf, Franz Böhm, S. 69. 65 Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, München 19793, S. 240: „Nicht nur will Goerdeler, wie Popitz auch, Recht und Anstand wiederherstellen, sondern auch die Freiheit. Schon in den ersten Abschnitten über die Grundsätze der Innenpolitik heißt es: ,Alle Beschränkungen der Freiheit und des Geistes, des Gewissens und der Forschung werden sofort aufgehoben.‘ Das ist klar und deutlich, nicht bloß vage Zukunftsmusik. Oder: ,Presse und Schrifttum sollen grundsätzlich frei sein. Feige die Regierung, dumm das Volk, die diese Regierung nicht vertragen.‘ Nur ,dem Verbrecher und dem Lumpen‘ gebührt diese Freiheit nicht.“ Vgl. dazu Schramm, Wilhelm Ritter von, Beck und Goerdeler – Gemeinschaftsdokumente für den Frieden, München 1965, S. 81 – 166; Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 19563, S. 569 – 576. Hoffmann teilt mit, daß er sich auf diese beiden Darstellungen gestützt habe. Diese günstige Darstellung läßt sich auch vertreten, wenn einberechnet wird, daß Goerdeler eine erbliche, konstitutionelle Monarchie bevorzugt hätte; vgl. Hofmann, Widerstand, S. 245 f. 66 Ab August 1942 hatte Kurt Gerstein, Mitglied des Corps Teutonia Marburg, den Massenmord an den europäischen Juden in Widerstandkreisen und bei ausländischen Diplomaten und bei Regimegegnern im Reich bekanntgemacht. Vgl. dazu: Friedländer, Saul, Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten, Gütersloh 1968, S. 111 ff.; Gräbner, Dieter / Weszkalnys, Stefan, Der ungehörte Zeuge. Kurt Gerstein – Christ, SS-Offizier, Spion im Lager der Mörder, Saarbrücken 2006, S. 19 ff.; Schäfer, Jürgen, Kurt Gerstein – Zeuge des Holocaust, Bielefeld 1999, S. 165; insbes.: Gerstein, Kurt, In der SS, in: Steinbach, Peter / Tuchel, Johannes, Widerstand in Deutschland 1933 – 1945. Ein historisches Lesebuch, München 1994, S. 183.
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sammenkünften des „Freiburger Konzils“, der einzigen Widerstandsgruppe, die sich als direkte Reaktion auf die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 gegründet hatte.67 Diese Gruppe fußte ihrerseits direkt auf den „Diehl-Seminaren“ – so wurden die Vorlesungen und Disputationen zu nationalökonomischen und volkswirtschaftlichen Themen genannt, die aufgrund der NS-Umtriebe ab dem Wintersemester 1934/35 nicht mehr in Hörsälen der Freiburger Universität stattfinden konnten –68 und die letztmals im September zusammentreten konnte. Danach wurden Zusammenkünfte zu gefährlich, nach und nach waren die Gründungsmitglieder von der Gestapo verhaftet worden, lediglich Eucken, der zu diesen Gründern gehörte, kam nach einem Verhör wieder auf freien Fuß. In der systematischen Kritik des „Freiburger Konzils“ ist eine geistige Parallele zur Berliner „Mittwochsgesellschaft“ zu sehen,69 die größtenteils aus Mitverschwörern und Mitwissern Stauffenbergs bestand, darunter Ulrich v. Hassell Sueviae Tübingen, und die nach dem Attentat 20. Juli 1944 nur noch ein einziges Mal zusammentreten konnte. Danach existierte sie nicht mehr. Der seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubte Franz Böhm war ab Januar 1940, ab dessen Gründung in einem von Jens Peter Jessen geleiteten Arbeitskreis der Akademie für Deutsches Recht engagiert, der unter „Klasse IV“ firmierte und formell der „Erforschung der völkischen Wirtschaft“ diente.70 Wahrscheinlich wurden hier jedoch – zumindest zeitweise – die Konzepte aus der arkan operierenden Opposition gegen das NS-Regime diskutiert, denn zum Beispiel war dort Peter Graf Yorck von Wartenburg Mitglied; im November 1941 wurden die Freiburger Professoren Franz Böhm, Walter Eucken sowie Adolf Lampe zu den Beratungen dieses Gremiums hinzugezogen;71 die „Klasse IV“ dürfte zu dieser Zeit ein getarntes Podium für verschiedene, sonst unabhängig voneinander agierende oder sogar untereinander nicht bekannte Gruppen des Widerstands gewesen sein.72 Hier und in anderen Arbeitskreisen empfahlen sich die Ordoliberalen „als Gegner des klassischen Liberalismus und der Planwirtschaft“.73 Die Freiburger Professoren gewannen recht bald prägenden Einfluß auf die wirtschaftspolitischen Ansichten des gesamten Widerstands gegen Hitler.74 67
Blumenberg-Lampe, Oppositionelle Nachkriegsplanung, S. 207; Roser, Böhm, S. 65. Blumenberg-Lampe, Christine, Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise“. Entwurf einer freiheitlich-sozialen Marktwirtschaft. Nationalökonomen gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1973, S. 117 ff. 69 Zur Mittwochsgesellschaft vgl. Scholder, Klaus, Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 bis 1944, Berlin 1982. 70 Vgl. dazu Roser, Böhm, S. 73. 71 Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 279. 72 A.a.O., S. 454. 73 Herbst, Ludolf, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939 – 1945, Stuttgart 1982, S. 148 ff. 74 Vgl. dazu Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 454. 68
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Eine weitere Arbeitsgruppe der „Klasse IV“, die wohl schon ab November 1940 tagte, war die „Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre“. Sie formierte sich um Erwin v. Beckerath, Ordinarius in Bonn; Walter Eucken, Constantin v. Dietze, Adolf Lampe und Jens Jessen75 waren neben Böhm auch hier maßgebliche Mitarbeiter.76 Böhm stand zu diesem Zeitpunkt in direktem Kontakt mit Goerdeler, sowohl brieflich als auch in einzelnen, regelmäßigen Begegnungen,77 die aber als „freundschaftlich“ zu werten sind.78 Ab 1943, als diese Arbeitsgruppe als „nicht kriegswichtig“ eingestellt worden war, formierte sich dieser Kreis als dritte Freiburger Widerstandsgruppe, als „Arbeitsgruppe v. Beckerath“ in weitgehend gleicher Besetzung wie zuvor, also auch mit Franz Böhm. Parallel dazu ging die Arbeit im „Freiburger Konzil“ weiter. Diese Gruppe, die sich als unmittelbare Reaktion auf die Greuel der Reichspogromnacht gebildet hatte, wandelte sich zunehmend zu einer Widerstandszelle gegen den Nationalsozialismus im Allgemeinen – thematisch war man sehr bestimmt. Im „Konzil“ wurde 1940, spätestens 1941, eine Denkschrift erarbeitet, in der zum Ausdruck kam, daß das im Römerbrief, Kapitel 13, niedergelegte Gebot für Christen, der Obrigkeit zu folgen, für eine Regierung außer Kraft gesetzt sei, die Greueltaten wie die Judenverfolgung verübe; dies gelte für die Nationalsozialisten. Hier bestehe im Gegenteil ein Recht auf Widerstand bis hin zum Tyrannenmord.79 Die Ergebnisse wurden in einer geheimen Denkschrift zusammengefaßt. Sie gelangten in Berliner Widerstandskreise und veranlaßten Dietrich Bonhoeffer, im Spätsommer 1942 nach Freiburg zu kommen, um weitere, ausführlichere Arbeitspapiere für die in Berlin tagenden Widerstandskreise zu erbitten,80 die auch zur Vorlage auf einer von der Anglikanische Kirche geplanten Weltkirchenkonferenz, die möglichst bald nach dem Ende des Krieges stattfinden sollte, dienen sollte.81 Aus diesem Impuls heraus formierte sich der „Freiburger Denkschriftenkreis“. Hier wurde, auch unter Verwendung einiger bereits verfertigter Texte, die Denkschrift „Politische Gemein-
75 Jessen, der Kopf dieses Arbeitskreises, wurde nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler zum Tode verurteilt und am 30. November jenes Jahres in Berlin-Plötzensee gehenkt. Freisler seinerseits war im übrigen zeitweilig Mitglied der Schwarzburgverbindung Alemannia Jena, wurde dort jedoch ausgeschlossen; vgl. Hanne, Peter / Riotte, Heinrich-Josef, Die Geschichte der Schwarzburgverbindung Alemannia Jena, Essen 2011. 76 Wenn Böhm nicht immer als Mitglied des inneren Kreises dieser Widerstandszelle genannt wird, liegt das an seiner Lehrtätigkeit in Jena und der dadurch bedingten Abwesenheit; vgl. dazu Goldschmidt, Widerstandsgruppe Kakadu, insbes. S. 147. 77 Roser, Böhm, S. 81 f. 78 Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 271. 79 Blumenberg-Lampe, Vater der Kartellgesetzgebung, S. 110. 80 Hauenstein, Fritz, Der Freiburger Kreis. Eine Aufzeichnung für die Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) / Royce, Hans (Bearb.), 20. Juli 1944, Bonn 1969, S. 42 h, S. 43; Roser, Böhm, S. 67 – 72. 81 Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 196.
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schaftsordnung“ formuliert.82 An führender Stelle – dies kann für den Anhang „Rechtsordnung“ mit Sicherheit gesagt werden – arbeitete Böhm hier mit.83 Der „Freiburger Denkschriftenkreis“ trat zum ersten Mal vom 17. bis 19. November 1942 unter dem Vorsitz Goerdelers zusammen. Erarbeitet werden sollte eine christlich motivierte Standortbestimmung Deutschlands für eine Weltkirchenkonferenz, die vom Bischof Well of Chichester bereits im November 1941 angeregt worden war.84 Diese Konferenz sollte möglichst bald nach dem Ende von Weltkrieg und Völkermord stattfinden. Unter der Leitung Goerdelers und Böhms entstand im Herbst 1942 das von Bonhoeffer erbetene und angeregte Papier unter dem Titel „Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit“. Es war im Januar 1943 fertiggestellt.85 Darin wurde dem NS-Staat – bezogen auf Wirtschaftsfragen – eine unmißverständlich klare Absage erteilt.86 Goerdeler hatte darin die Mitbestimmung der Arbeitnehmer stärker verankert, als Böhm dies ursprünglich vorgeschlagen hatte. Begründet hatte er dies mit dem Kurs der Schwerindustrie, die aus seiner Sicht seit der Machtergreifung zu sehr auf Hitlers Kurs gelegen hatte. Böhm ging auf diese Anregung ein. Für dieses Memorandum erstellte er87 zusammen mit dem Freiburger Rechtshistoriker und Kirchenrechtler Erik Wolf, der erst spät zum Widerstand gefunden hatte, den „Anhang Nr. 1“, betitelt „Rechtsordnung“.88 Der Denkschriftenkreis trat regelmäßig am letzten Sonnabend des Monats zusammen, und zwar öfter auch in Leipzig.89 Böhm lebte überwiegend in Jena, Goerdeler in Leipzig, die Theologen Dietrich Bonhoeffer, Helmut Thielicke und Otto 82
Weitere Ausführungen dazu: Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 197 ff. Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954, 19552, S. 511 (das Werk erfuhr viele weitere Auflagen); mit Ritter war Böhm im übrigen wegen der Sichtweise der Person Goerdelers bald nach 1945 zerstritten. Vielleicht auch deswegen findet Böhm bei Ritter nur dort knappe Erwähnung, wo es aus seiner Sicht unumgänglich ist. 84 Böhm, Franz, Begegnungen mit Carl Goerdeler, Gespräch mit Regina Büchel, ACDP Nr. 01 – 200 – 004/4. 85 Ausführliche Schilderung bei Hansen, Franz Böhm, S. 152 ff.; vgl. Ritter, Goerdeler, S. 511; Zieschang, Staatsbild, S. 7. 86 Vgl. beispielhaft Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 228. 87 Böhm, Franz, Begegnungen mit Carl Goerdeler, in: Kaff, Brigitte (Bearb.) / Biedenkopf, Kurt (Hrsg.), Franz Böhm, Beiträge zu Leben und Wirken, Melle 1980, S. 79; Scholtyseck, Joachim, Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933 bis 1945, München 1999, S. 339. 88 Böhm, Franz / Wolf, Erik, Anhang I – „Rechtsordnung“ – zum Memorandum des „Freiburger Denkschriftenkreises“, Januar 1943, in: Wolf, Erik (Hrsg.), Im Reiche dieses Königs hat man das Recht lieb (Psalm 99,4). Der Kampf der Bekennenden Kirche um das Recht, in: Zeugnisse der Bekennenden Kirche, Bd. II, Tübingen 1946, S. 81 – 87; Hauenstein, Der Freiburger Kreis, S. 44. 89 Ebd. 83
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Dibelius kamen aus Berlin hinzu. Daß trotzdem die Stadt Freiburg als Namensgeberin der Widerstandskreise sowohl bei den Zeitgenossen als in der späteren Forschung selbstverständlich blieb, ist auf die Bedeutung der geistigen Väter dieser Lehre zurückzuführen. Der Anhang „Rechtsordnung“ wurde weitgehend in Leipzig und Jena erarbeitet, nicht in Freiburg, wahrscheinlich aufgrund des Umstands, daß Franz Böhm, der hier als führend zu nennen ist, in Jena wohnte. Spätestens seit Mitte 1942 hatte Franz Böhm in einem dritten in Freiburg ansässigen Widerstandskreis mitgearbeitet,90 der „Arbeitsgemeinschaft Erwin v. Beckerath“, aus der im März 1943 die „Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre der Akademie für deutsches Recht“ hervorging. Dieser Kreis arbeitete unabhängig von den Denkschriftenkreisen.91 Hier wurden detaillierte Pläne für eine Gestaltung der Volkswirtschaft nach einem Zusammenbruch des NS-Regimes erarbeitet92 – denn von einem solchen Ende der NS-Herrschaft gingen die Wissenschaftler inzwischen aus. Die hier erarbeiteten Papiere gingen in ihrer großen Mehrzahl an Goerdeler sowie über Peter Graf Yorck von Wartenburg an den Kreisauer Kreis.93 Die Verbindungsleute der „Freiburger“ zu engsten Zirkel der „Kreisauer“ waren Adolf Lampe, Constantin v. Dietze und Franz Böhm. Mehrfach traf Böhm mit Yorck und Goerdeler zur Beratung der erarbeiteten Papiere zusammen.94 Goerdeler und Böhm standen darüber hinaus in brieflichem Kontakt; auf diesem Weg kamen die schriftlichen Äußerungen der Verschwörer des 20. Juli und vor allem des Kreisauer Kreises nach Freiburg. Die Arbeiten der verschiedenen Freiburger Kreise waren im Juli 1944 so weit gediehen, daß sie eine Grundlage für die Wirtschafts90
Hollerbach, Streiflichter, S. 283 ff. Hauenstein, Der Freiburger Kreis, S. 46. 92 Hauenstein, a.a.O., S. 44. 93 Böhm, Franz, Freiburger Schule und Nationalsozialismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Mai 1955; Blumenberg-Lampe, Vater der Kartellgesetzgebung, S. 111; Zieschang, Staatsbild, S. 8. Zur Namensgebung „Kreisauer Kreis“ ist zu bemerken, daß die hier Versammelten sich selbst keinen Namen gegeben hatten und gegenseitig meist von „den Freunden“ redeten. Die Titulierung nach dem Gut Kreisau, das der Familie Moltke gehörte, stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von Walter Huppenkothen, einem SS-Standartenführer, der die Mehrzahl der „Kreisauer“ nach ihrer Verhaftung verhörte und für viele Todesurteile Verantwortung trägt. Dieser Mann sortierte einfach jeden, der im Verhör ein oder mehrere Treffen in Kreisau erwähnte, in eine Schublade. Erstens handelt es sich bei dieser willkürlichen Zuordnung um Menschen, die teils nur wenig miteinander zu tun hatten, zweitens haben insgesamt nur drei Treffen – von insgesamt hunderten im Widerstand der „Freunde“ gegen Hitler – auf dem Moltke-Gut stattgefunden. Natürlich waren aber unter den vielen, die mit in die Schublade gesteckt wurden, auch der engste Kreis um Moltke und Yorck, die Gründer des Kreises, erfaßt; vgl. dazu Yorck von Wartenburg, Marion, Die Stärke der Stille. Erinnerungen an ein Leben im Widerstand, Moers 1998, S. 58. Auch Freya v. Moltke schreibt an ihren Mann über „die Freunde“, wobei der wegen der Gestapo-Zensur verklausulierte textliche Zusammenhang nahelegt, daß hier Yorck und die anderen „Kreisauer“ gemeint sind. Exemplarisch: Moltke, Helmuth James und Freya von, Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel, September 1944 – Januar 1945, München 2011, S. 129. 94 Blumenberg-Lampe, Oppositionelle Nachkriegsplanung, S. 215. 91
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ordnung eines auf Freiheit und Demokratie gegründeten Staates bieten konnten.95 Dies alles wäre mehr als genug gewesen, um Böhm an den Galgen in Plötzensee zu bringen. Zur Jahresmitte 1944, insbesondere im Rahmen der verschärften Fahndung im Nachgang zum Stauffenberg-Attentat des 20. Juli, wurde die Gestapo auf die Existenz des von Goerdeler und Bonhoeffer angeregten Papiers „Politische Gemeinschaftsordnung“ aufmerksam. Gerhard Ritter, ebenfalls Freiburger Professor, ebenfalls zeitweise in Haft, hatte zwar das Ur-Exemplar im Schwarzwald versteckt, und es gab nur zwei Kopien,96 doch nach und nach wurden die Namen vieler Mitarbeiter an dieser Schrift offenbar. Franz Böhm wußte davon. Er befand sich in Freiburg, und er war, wie eine Verwandte berichtete, in gedrückter Stimmung.97 Die Gestapo hatte im Spätsommer und bis in den Herbst 1944 nach und nach viele behördlich bekannte Mitglieder der Freiburger Widerstandsgruppen verhaftet, darunter auch die Professoren v. Dietze und Lampe; in der Haft erpreßten Gestapo und SS unter Folter die Namen weiterer Mitglieder des damals bereits so genannten „Freiburger Denkschriftenkreises“. Dabei verstanden die verhörenden GestapoBeamten während einer Folterung offenbar, ein „Pfarrer Böhm“ habe an der Schrift mitgearbeitet.98 Die Gestapo suchte im Zusammenhang mit den Schriften der Freiburger Kreise definitiv nach einem „Pfarrer Böhm“ – und zwar, nachdem Lampe verhaftet worden war; er hatte möglicherweise unter Folter diesen Namen genannt. Wurde das Wort „Franz“ dabei als „Pfarrer“ verstanden? Phonetisch ist das möglich. Ohne hier jedoch ins Spekulative übergehen zu wollen, kann vermutet werden, daß diese Ungenauigkeit möglicherweise zwar Franz Böhm das Leben gerettet, aber mindestens einen anderen, unschuldigen Menschen in das Konzentrationslager gebracht hat.99 In Frage kommen zwei Personen: zuerst der katholische Priester Franz Boehm, der unter dem Vorwand, Ostern 1944 NS-Propagandafilme in Predigten kritisiert zu haben, nach dem 20. Juli verhaftet und in das KZ Dachau verschleppt wurde. Dieser Franz Boehm starb dort am 13. Februar 1945, ihm wurde
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So formuliert: Hauenstein, Der Freiburger Kreis, S. 46. Ritter, Goerdeler, S. 512. 97 Kienberger-Markwalder, Ursula, Doktor-Examen bei Walter Eucken und Constantin von Dietze im September 1944, in: Goldschmidt, Nils (Hrsg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005, S. 449 – 452, hier: S. 450. 98 Dieser nicht näher bezeichnete, letztlich fiktiv gebliebene „Pfarrer Böhm“ taucht in den Anklageschriften vom 20. April 1945 gegen Walter Bauer und Constantin v. Dietze auf. Dietze war einer der führenden Köpfe der „Freiburger Kreise“; vgl. dazu: Bethge, Eberhard, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse, Darmstadt 20048, S. 872; Buchstab, Günter, Verfolgung und Widerstand 1933 – 1945, Düsseldorf 1990 2 ; Hansen, Franz Böhm, S. 155. 99 Der gleichnamige, aber nicht mit dem Freiburger Professor verwandte Burschenschafter Franz Böhm, der der Prager Arminia – heute in Bochum – angehörte, schien nicht in diese Verwechslung einbezogen, zumindest wird sein Name in keinem Zusammenhang mit den Freiburger Kreisen genannt. 96
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notwendige medizinische Hilfe verweigert.100 Ob er wirklich umgebracht werden sollte, steht dahin, denn Franz Böhm selbst wußte, daß ab etwa 1944 von den NSMachthabern die Parole ausgegeben worden war, keine Geistlichen mehr zu verhaften und zu töten, weil dadurch viel Widerstand gegen das Regime ausgelöst worden war.101 Er, der mutmaßlich Gemeinte, stellte selbst später die Vermutung an, die Verwechslung mit ihm habe eher den Berliner Pfarrer Hans Böhm betroffen, der 1936 zu den Unterzeichnern der Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler gehört hatte, seitdem intensiver Verfolgung ausgesetzt war, im Nachgang zum 20. Juli 1944 ebenfalls in Gestapo-Haft genommen wurde, das Dritte Reich aber knapp überlebte.102 Diese Verwechslung nannte im übrigen Walter Eucken, der davon wußte, für „im durchorganisierten Spitzel-Staat nahezu unglaublich103 – aber es hat sie auch seiner Meinung nach gegeben. Herbst 1944. Nach Böhm wurde gesucht, gerüchteweise war ihm das mehrfach zu Ohren gekommen. Er und alle weiteren Mitglieder der Freiburger Kreise waren in akuter Gefahr. Bald nach der Verhaftung v. Dietzes und Lampes trat darum sein Freund und Kollege Walter Eucken an Heinrich Kullmann heran, einen Studenten, der Mitglied der Freiburger Widerstandsgruppe „Kakadu“ war.104 Der besuchte auf entsprechendes Bitten die beiden inhaftierten Professoren Lampe und v. Dietze im Konzentrationslager. Angeblich, damit sie die Betreuung seiner Diplomarbeit wahrnähmen, in Wirklichkeit aber, um möglichst einen oder mehrere Kassiber aus dem KZ hinauszuschmuggeln, aus denen die von der Verhaftung bedrohten Freiburger ersehen konnten, wonach die Gestapo suchte, welche Themen sie also bei möglichen Verhören vermeiden mußten. Mit fingierten Korrekturblättern erhielt er tatsächlich diverse Kassiber, in denen unter anderem übermittelt wurde, was den beiden Verhafteten konkret zur Last gelegt wurde.105 Heinrich Kullmann sagte später: „Diese Information hat, wie auch Herr Professor Böhm bestätigt hat, die betroffenen Herren Professoren in den Stand versetzt, ihre Aussagen vor der Ge-
100 Todesursache war eine nicht behandelte Gesichtsrose, eine äußerst schmerzhafte Nervenerkrankung. In Dachau wurde eine große Zahl von Häftlingen durch die Verweigerung medizinischer Hilfe ums Leben gebracht; siehe zum Lebenslauf von Franz Boehm: Buter, Peter / Pohlmann, Rudolf, Pfarrer Franz Boehm 1880 – 1945, Glaubenszeuge und Märtyrer, Monheim am Rhein 2005 (Privatdruck). 101 Kienberger-Markwalder, Doktor-Examen bei Walter Eucken, S. 450. 102 Hansen, Franz Böhm, S. 171, zitiert: Gailus, Manfred, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001; Hans Böhm war mittelbar auch in die Formulierung der Denkschriften der Freiburger beteiligt gewesen, s. dazu: Goldschmidt, Widerstandsgruppe Kakadu, S. 148. 103 Kienberger-Markwalder, Doktor-Examen bei Walter Eucken, S. 450. 104 Goldschmidt, Nils, Widerstandsgruppe Kakadu, S. 155 f. 105 Ebd.
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stapo so zu machen, daß sie – mit Ausnahme von Professor Ritter – nicht verhaftet wurden.“106 Mit Verhören durch die Gestapo war ab Herbst 1944 immer zu rechnen, und es traf auch Böhm, dessen Nähe zu Lampe, v. Dietze und Ritter der Gestapo nicht verborgen geblieben war. Bei mehreren Gestapo-Verhören, zu denen er wie alle Verdächtigen „geladen“ war, gestaltete er seine Aussagen so, daß er nicht belangt werden konnte. Eine schier unglaubliche Verwechslung der Gestapo einerseits, andererseits die Umsicht und enorme Konspiration seiner Kollegen, an erster Stelle Walter Eucken – dies beides half, um Franz Böhm, der dem neben den „Kreisauern“ intellektuell wohl wichtigsten Widerstandskreis gegen die NS-Diktatur angehörte,107 vor dem Zugriff der Gestapo zu schützen. II. Nach der Diktatur Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, am 25. April 1945, erhielt Franz Böhm den Posten des Prorektors an der Universität Freiburg,108 den er unter anderem nutzte, um bei den französischen Behörden auf eine kritische Beurteilung des Rektors der Freiburger Universität während der NS-Herrschaft, Martin Heidegger, zu dringen.109 Böhm war – bemerkenswerterweise schon im Februar 1945 – zum Nachfolger auf dem Lehrstuhl des im Juli 1944 an einer Kriegsverletzung verstorbenen Hans Großmann-Doerth bestimmt worden.110 Er engagierte sich auch bei der Gründung einer Christlich-Sozialen Volkspartei (CSVP), wechselte aber schon zum 1. November 1945 als hessischer Kultusminister nach Frankfurt am Main, gefördert und maßgeblich bestimmt wurde diese Berufung durch seinen Corpsbruder Karl Geiler,111 in Mannheim als Rechtsanwalt tätig,112 der
106 Kullmann, Heinrich, Kassiber aus der KZ-Haft, in: Blesgen, Detlef, Widerstehet dem Teufel – Ökonomie, Protestantismus und politischer Widerstand bei Constantin v. Dietze (1891 – 1973), in: Goldschmidt, Nils (Hrsg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit – Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005, Seite 457 f. 107 Brakelmann, Günter, Peter Graf Yorck von Wartenburg, urteilt in dem so betitelten und in diesem Band abgedruckten Aufsatz: „Die Freiburger und Kreisauer Kreise dürften unter den deutschen Widerstandsgruppen das größte intellektuelle Potential bei sich versammelt haben.“ 108 Hansen, Franz Böhm, S. 184 f.; Blumenberg-Lampe, Vater der Kartellgesetzgebung, S. 112. 109 Grün, Bernd, Der Rektor als Führer? Die Universität Freiburg i. Br. von 1933 bis 1945, Freiburg / München 2010, S. 615. 110 Hollerbach, Streiflichter, S. 294. 111 KCL Nr. 35 – 629, geklammerter Senior. 112 Geiler, der an der Handelshochschule in Mannheim gelehrt hatte, war in Konflikt mit dem NS-Regime gekommen. 1939 wurde seine Lehrerlaubnis eingezogen, doch weitere Verfolgung blieb ihm erspart. Seinem Rhenanen-Corpsbruder Böhm war Geiler auch verbunden, weil dessen Vater Franz Alexander Böhm, der Kultusminister in Baden gewesen war, ihm
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selbst zuvor für leitende Funktionen vorgesehen war113 und dann Ministerpräsident des neugegründeten Landes Groß-Hessen wurde. In Frankfurt trat Böhm der CDU bei. Wegen seines Eintretens für eine christlich geprägte Gemeinschaftsschule einerseits und das humanistische Gymnasium andererseits wurde er durch die amerikanischen Besatzungsoffiziere, die klassische Bildung für verdächtig hielten, unter Druck gesetzt.114 Am 16. oder 17. Februar 1946 nahm er seinen Hut, wohl auch deswegen, weil sich im Lande eine linke Mehrheit abzeichnete, in der für ordoliberale Ideen wenig Platz schien.115 Vom 24. September 1948 bis zum 2. November 1949 fungierte Böhm als Rektor der Frankfurter Universität; er blieb dieser Hochschule von da ab treu. Die soziale Marktwirtschaft, vom „Freiburger Kreis“ zu einer Zeit gedacht, als die Verwirklichung in unabsehbarer Ferne zu liegen schien, war ab 1948 im westlichen Teil Deutschlands Realität, ihre Einführung geschah weitgehend reibungslos. Franz Böhm blieb wichtiger und im übrigen höchst einflußreicher Stichwortgeber für Ludwig Erhard, vor allem im Kartellrecht, aber auch in der Umsetzung ordoliberaler Grundsätze.116 Dabei ist es wichtig, festzuhalten, daß Erhard nur wenige prinzipienfeste Mitstreiter hatte.117 Schon unmittelbar nach dem Ende der Diktatur hatte der Kreis um Eucken begonnen, sich in Rothenburg ob der Tauber zu treffen, um „innerdeutsche wissenschaftliche Kontakte“ wiederaufzunehmen.118 Ergänzt wurde die Themensetzung dieses Kreises, die im Grunde seit Anfang der 1930er Jahre gleichgeblieben war, um theologische Aspekte, und zwar 1949 im schweizerischen Chateau de Bossey unter Führung von Willem Visser ‘t Hooft,119 der mit Adam von Trott zu Solz Saxoniae Göttingen bis 1944 eng zusammengearbeitet hatte, und Eugen Rosenstock-Hussey. Böhm, der 1946 einen Ruf als Rektor der Universität Frankfurt am Main angenommen hatte, begleitete diesen gedanklichen Prozeß, 1948 gründete er zusammen mit Walter Eucken das wirtschaftswissenschaftliche Jahrbuch „Ordo“. Die Gedanken Franz Böhms und der Freiburger 1911 bei der Errichtung der Mannheimer Handelshochschule geholfen hatte; vgl. dazu Wiethölter, Franz Böhm, S. 236. 113 Vgl. hier Wiethölter, Franz Böhm, S. 237, der ausführt, daß Geiler 1945 als Regierungschef für ein Gebiet vorgesehen war, das in etwa die Südpfalz, Teile des Saargebietes sowie Starkenburg enthalten sollte. Vermittler war hier unter anderem Karl Jaspers. 114 Roser, Böhm, S. 127 – 133; Hansen, Franz Böhm, S. 194, S. 196 f. 115 Vgl. Wiethölter, Franz Böhm, S. 238, hier allerdings Ungenauigkeiten bei der Datierung. Wiethölter verlegt den tatsächlich erst im Dezember 1946 erfolgten Rücktritt Geilers auf den Februar vor und kommt so zu unrichtigen Begründungen auch für den Rücktritt Böhms. 116 Nützenadel, Alexander, Keynsianismus in der Bundesrepublik, in: Plumpe, Werner / Scholtyseck, Joachim (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft, Stuttgart 2012, S. 124 f. 117 Günther, Eberhard, Erinnerungen an Franz Böhm, in: Biedenkopf, Franz Böhm, S. 1. 118 Müller-Armack, Alfred, Auf dem Weg nach Europa. Erinnerungen und Ausblicke, Stuttgart 1971, S. 36. 119 Ebd., S. 41.
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Schule flossen bei der Formulierung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ein, sie sind im Artikel 28 niedergelegt. Im evangelischen Studienzentrum Villigst wurde 1950 ein Arbeitskreis gebildet, in dem wirtschaftswissenschaftliche und theologische Ideen zusammengeführt wurden. Das Ziel war es, ein „Analogon zur katholischen Soziallehre zu entwickeln, das, wie diese, auf dem Naturrecht beruhte“.120 Dieser Kreis speiste sich aus den Ideen der international aufgestellten Mont-Pèlerin-Gesellschaft, der Franz Böhm angehörte und die sich mit der Arbeit an liberalen Ideen befaßte. Vertreter aus fast allen Ländern der freien Welt waren in dieser Gesellschaft versammelt.121 Dem Bundestag gehörte Böhm von 1953 bis 1965 an. Auch wenn er von der bundesdeutschen Erinnerungskultur bisher quasi nicht wahrgenommen wird, ist Franz Böhm doch für bundesdeutsche Spitzenpolitiker als Vorbild von großer Bedeutung,122 nicht zuletzt wegen seines Beitrags zur Gestaltung des bundesdeutschen Kartellrechts. Wichtiger war jedoch sein grundlegender Beitrag zur Einführung der sozialen Marktwirtschaft. Ludwig Erhard schrieb: „Es ist nicht zu bestreiten, daß ohne Franz Böhm, seine Lehren und Gedanken die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft viel größeren Widerstand zu überwinden gehabt hätte.“123 Der vielleicht wichtigste Teil der politischen Arbeit für die Bundesrepublik, den Franz Böhm zu leisten berufen wurde, war die Leitung der Delegation, die mit dem 1948 gegründeten Staat Israel und den jüdischen Weltorganisationen über Aussöhnung und Wiedergutmachung verhandelte. Böhm wurde auch mit der Leitung betraut, weil er einer der prominentesten Vertreter der Versöhnung zwischen Juden und Christen124 war, in Frankfurt hatte er die „Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ mitbegründet und saß in deren Vorstand. Böhm hatte in den Wiedergutmachungsverhandlungen eine enorme Aufgabe zu meistern, denn sowohl von deutscher wie von israelischer Seite standen fast unlösbar große wirtschaftliche wie menschliche Fragen auf dem Spiel. Am 10. September 1952 konnten die Verhandlungen von Konrad Adenauer und Nahum Goldman für die israelische Seite erfolgreich zum Abschluß gebracht werden;125 einen Hauptteil der Arbeit hatte Franz Böhm geleistet. Die „politische und soziale Bedeutung der Wiedergutmachung“126 bewegte Böhm auch in den Folgejahren sehr, und sein Freund Yohanan Meroz bescheinigte ihm: „Für die Menschen meines Landes ist Franz Böhm ein
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Ebd., S. 42. Ebd., S. 44. 122 So bezeichnet sich zum Beispiel Kurt Biedenkopf als „Enkel Franz Böhms“. Siehe dazu: Biedenkopf, Kurt, Erneuerung der Ordnungspolitik, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hrsg.), Wirtschaftsordnung als Aufgabe: zum 100. Geburtstag von Franz Böhm, Krefeld 1995. 123 Zitiert nach: Blumenberg-Lampe, Vater der Kartellgesetzgebung, S. 114. 124 Roser, Böhm, S. 148. 125 A.a.O., S. 183. 126 So der Titel eines Aufsatzes von Böhm, vgl. Böhm, Reden und Schriften, S. 193. 121
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bewunderter Träger wahrer Versöhnung und echten Sichverstehens.“127 Jüdische Freunde trugen ihm die Leitung eines zu gründenden Instituts zur Erforschung des Antisemitismus an, was ihn freute, was er aber gleichwohl ablehnte.128 Zu allen Zeiten war Franz Böhm ein brillanter und unbestechlicher Denker, der auf der Seite des Rechts stand und den Gedanken des Sozialen auf bestechende Weise mit dem der Freiheit zu verbinden wußte. Dabei blieb er immer ein Warner vor Gefahren, denn er bezweifelte, daß mit Gesetzen der Machtmißbrauch des Individuums, also einer Person, die Macht ausübt, ausgeschlossen werden könne.129 Eine demokratische Staatsform bedeutete für ihn noch nicht, daß die dort verankerten Rechte und Freiheiten auch eingehalten werden; die Tatsache der freien und nach Mehrheitsgesetzgebung erfolgende Verabschiedung von Gesetzen bot für ihn noch nicht die Garantie für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit eines Staates.130 Diese Sicht der Dinge ließ ihn, zusammen mit seinen wissenschaftlichen Leistungen und dem klaren Eintreten gegen das NS-Regime, sogar vorübergehend zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten werden; er war als Nachfolger für Theodor Heuß im Gespräch.131 Seine charakterliche Gradlinigkeit, seine hohen moralischen Prinzipien sowie sein warmherziger und humorvoller Umgang mit Gesprächspartnern befähigten ihn auch dazu.132 Die Gedanken Franz Böhms sind auch im Jahrhundert nach ihrer Formulierung bedeutende Anregungen sowie Ansporn. Daß er nicht den Schergen des NS-Regimes zum Opfer fiel, darf als besonderes Glück auch für das von den Widerstandskämpfern ersehnte Deutschland nach dem Ende der Hitler-Diktatur gelten. Abschließend sei ein Satz zitiert, eine Interpretation durch seinen Schüler Prof. Ernst-Joachim Mestmäcker, der drei wesentliche Aspekte der Persönlichkeit Böhms auf überzeugende Weise beleuchtet. Den des NS-Gegners, den des ordoliberalen Politikers und – ganz typisch – den des Corpsstudenten: „Die Menschennatur hat die Möglichkeit zum Guten und Bösen. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, dafür zu sorgen, daß die Möglichkeiten zum Bösen kleinbürgerliches Format behalten.“133 127
Meroz, Yohanan, Franz Böhm und Israel, in: Biedenkopf, Franz Böhm, S. 22. Zu Böhms Arbeit und Haltung bezüglich des Antisemitismus vgl. Mestmäcker, ErnstJoachim, Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, in: Biedenkopf, Franz Böhm, S. 39 ff. 129 Böhm, Franz, Der Rechtsstaat und der soziale Wohlfahrtsstaat, in: Böhm, Reden und Schriften, S. 85 f.; vgl. Zieschang, Staatsform, S. 198. 130 Hoppmann, Erich, Freiheit und Ordnung in der Demokratie – Sprachverwirrung als politisches Instrument, in: ders., Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, Baden-Baden 1988, S. 154. 131 Hollerbach, Streiflichter, S. 299. 132 Brechenmacher, Thomas, Konrad Adenauer, Franz Böhm und die Verhandlungen über das Luxemburger Abkommen, in: Historisch-Politische Mitteilungen, Bd. 20, Nr. 1, S. 305; ebd., S. 305 ff. 133 Wallmann, Walter, Vortrag anläßlich der Veranstaltung der Ludwig-Erhard-Stiftung und des Magistrats der Stadt Frankfurt am Main am 21. November 1985 im Kaisersaal des Römers, in: Recht und Gesittung in einer freien Gesellschaft. Zur Erinnerung an Franz Böhm aus Anlaß seines 90. Geburtstages, Bonn 1985 (Selbstverl.), S. 6. 128
Denken und Handeln für Wahrheit und Freiheit – das Lebenswerk Walter Euckens Von Sebastian Sigler Zu den Todesopfern des Widerstands gegen Hitler zählt Walter Eucken, der als Student bei Saxonia Kiel aktiv war, nicht. Seine Äußerungen und sein Mut hätten ihn leicht an den Galgen bringen können, und wenn er von den Nationalsozialisten erkannt worden wäre, hätten sie es mit zwingender Logik getan, denn sein Beitrag zum Denken der Freiburger Kreise,1 die dem Kreisauer Kreis zuarbeiteten, ist bedeutend. Dies gilt in gleichem Maße für seine Leistungen in der Disziplin der Volkswirtschaft, genauer: der Nationalökonomie. Die hier entwickelten Modelle für Volkswirtschaften waren diametral entgegengesetzt zu dem, was im Nationalsozialismus bezweckt wurde. Die Frage jedoch, die Walter Eucken wie ein Leitmotiv bewegte, hätte in der heutigen westlichen Welt größer kaum gestellt werden können: „Wie kann der modernen industrialisierten Wirtschaft eine funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung gegeben werden?“2 Walter Eucken wurde am 17. Januar 1891 in Jena geboren. Ein künstlerisch inspirierendes Umfeld – so läßt sich sein Elternhaus trefflich beschreiben.3 Der Vater, Rudolf Eucken, wurde 1908 mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt,4 seine Mutter war die durchaus nicht unbekannte Malerin Irene Passow, später Eucken; sie regte maßgeblich mit an, daß die Aula der Friedrich-Schiller-Universität mit einem Monumentalgemälde geschmückt werden solle. Der so renommierte wie berühmte Ferdinand Hodler erhielt den Auftrag, die Universitätsaula mit einem Gemälde über
1 Umfangreiche Literaturangaben zu den Freiburger Kreisen bei: Kißener, Michael, Wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen im deutschen Widerstand gegen das „Dritte Reich“, in: Plumpe, Werner / Scholtyseck, Joachim (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft – Vom Kaiserreich bis zu Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 87 f. 2 Eucken, Walter, Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung, in: Ordo – Jahrbuch Bd. II, 1949, S. 1; Eucken, Walter, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, hrsg. von Edith Eucken und K. Paul Hensel, Tübingen 1952, 20047, S. 14. 3 Eucken begegnete in seinem Elternhaus unter anderem Stefan George, Hugo v. Hoffmannsthal, Ricarda Huch und Max Reger; vgl. dazu Gerken, Eucken, S. 59. 4 Rudolf Eucken war Mitglied der Schwarzen Verbindung Frisia, die 1811 als CorpsLandsmannschaft gegründet worden war, damals aber keine Farben trug und später – 1915 – in die Deutsche Burschenschaft aufgenommen wurde. Frisia Göttingen besteht heute als Weinheimer Corps in Göttingen.
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die Befreiungskriege auszumalen;5 eines seiner Modelle war Walter Eucken. Er wurde als Student dargestellt, der eben seinen Rock anzieht.6 In der Aula der Universität ist er auch heute als mittlere, zentrale Figur im unteren Fries des Gemäldes zu sehen.7 Im Mai 1909 legte Walter die Reifeprüfung am Großherzoglich-Sächsischen Carolo-Alexandrinum ab.8 Unmittelbar danach, ab dem Sommersemester 1909, wandte er sich nach Kiel. Dort schrieb er sich für Geschichte und Staatswissenschaften ein. Er wurde beim Corps Saxonia aktiv und nach einem Semester als Eucken 2 rezipiert.9 Ab dem Wintersemester 1909/1910 wechselte er zur Nationalökonomie und lernte bei Bernhard Harms, dem späteren Begründer des Kieler Instituts für Weltwirtschaft,10 um bereits ein Jahr später, zum Wintersemester 1910/ 1911, nach Bonn zu wechseln. In die drei Kieler Semester fällt damit seine Aktivenzeit, danach ging er inaktiv mit Band nach Bonn. An markanten Schmissen auf seiner linken Wange, der Quartseite, sollte er lebenslang als Korporierter erkennbar bleiben.11 Am 5. März 1913 wurde Walter Eucken bei den Bonner Professoren Hermann Schumacher und Heinrich Dietzel zum Dr. phil. promoviert, sein Thema war: „Die Verbandsbildung in der Seeschiffahrt“. Zuvor hatte er ein Gastsemester im heimatlichen Jena und zwei längere Studienreisen nach England eingelegt. Seine Prägung dürfte er dabei durch Dietzel, einen der ersten großen Theoretiker an deutschen Hochschulen, erhalten haben.12 5 Der Grund für diese Motivwahl lag sicher darin begründet, daß das Jahrhundert-Jubiläum der Befreiungskriege vor der Tür stand und daß von Jena aus die Urburschenschaft in den Farben der Lützowschen Jäger reüssiert hatte, die sie für sich in Anspruch nahm. 6 Gerken, Eucken, S. 58. 7 Gerken, Eucken, S. 121. 8 Ein knapper Lebenslauf bei: Gerken / Lüder (Hrsg.), Walter Eucken und sein Werk – Rückblick auf den Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, Tübingen 2000, S. 49 ff. 9 Gerlach, Otto (Hrsg.), Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, (künftig: KCL), Nr. 77 – 177. 10 Gerken, Eucken, S. 61. 11 Angesichts der späteren Ereignisse, auf die noch einzugehen sein wird, ist von Saxonia Kiel folgendes zu hören, und zwar in einem Schreiben, das Stan Schneider Saxoniae Kiel am 15. Juli 2013 an den Verfasser sandte: „Gerne würde ich mich als Kieler Sachse – wie wohl viele andere – auch mit einer solchen Persönlichkeit (Eucken, der Verf.) schmücken wollen. Nur aus diesen Wunsch jedoch Fakten zu schaffen, wäre verwerflich. (…) Nicht er hätte möglicherweise ,verwirkt‘ Corpsstudent zu sein, sondern die Corps und ihr Verhalten 1933 ff. haben eher verwirkt, eine solche Persönlichkeit wie Walter Eucken uneingeschränkt einen der ihren nennen zu dürfen. (…) Ich empfehle, die vorliegende Wiederaufnahme in die KCL (bis zur Widerlegung) als irrtümlich, vorschnell und nur als einen juristisch untauglichen Akt der beabsichtigten Wiedergutmachung verstanden zu wissen und als solchen kenntlich zu machen.“ 12 Vgl. dazu Bosch, Alfred, Eucken, Walter, Nationalökonom, in: Ottnad, Bernd, Badische Biographien, Neue Folge, Bd. I, Stuttgart 1982, S. 108.
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Die Einberufung zum Militär und der Erste Weltkrieg unterbrachen die wissenschaftliche Laufbahn Euckens, doch ab 1919 widmete er sich wieder dem wissenschaftlichen Fortkommen. Ein Jahr später heiratete er die in der Nationalökonomie ausgebildete und philosophisch höchst interessierte, später auch schriftstellerisch tätige Edith Erdsiek.13 Das Paar lebte bis 1925 in Berlin, zwei Töchter und ein Sohn sollten aus der Ehe hervorgehen. In Berlin erreichte Eucken ein Ruf der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Dort bekleidete er in Nachfolge von Erwin v. Beckerath für zwei Jahre die Ordentliche Professur für Volkswirtschaftslehre und Statistik an der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen; im Widerstand gegen das NS-Regime begegnete ihm Beckerath später wieder. Ab dem 1. Oktober 1927 war Eucken Ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Hier begann er, eine Vorlesungsreihe unter dem Titel „Theoretische Nationalökonomie“ zu halten, die er bis in das Jahr seines Todes, 1950, immer wieder vortragen sollte;14 eine Parallelveranstaltung „Praktische Nationalökonomie“ begleitete dieses Vorhaben. Daraus entwickelte er im Verbund mit weiteren Forschern die heute unter dieser Bezeichnung bekannte „Volkswirtschaftslehre“. Das Jahr 1933 brachte nicht nur in politischer Hinsicht einen große Umbruch für Walter Eucken, sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiet. Aus Prag kam Professor Hans Großmann-Doerth nach Freiburg, aus Berlin der Habilitand Franz Böhm, letzterer Mitglied des Corps Rhenania Freiburg;15 beide waren Juristen. Schnell stellten die drei Forscher fest, daß sie sich unabhängig voneinander mit der Frage beschäftigt hatten, wie private Macht in einer freien Gesellschaft garantiert und trotzdem das Gemeinwesen bei möglichst großer individueller Freiheit des Einzelnen unter Kontrolle gehalten werden könne. Dies führe, wie Böhm später schrieb, „notwendig weiter zur Frage, wie die Ordnung einer freien Wirtschaft beschaffen ist.“16 Die drei begannen, gemeinsame Seminare abzuhalten.17 Noch 13 Hervorzuheben sind hier ihre Herausgebertätigkeit für die von ihrem Schwiegervater Rudolf Eucken begründete kulturphilosophische Vierteljahreszeitschrift „Tatwelt“ von 1928 bis 1942, aber auch ihre umfangreichen publizistischen Aktivitäten bis in die 1980er Jahre. Vgl. dazu Klinckowstroem, Wendula Gräfin v., Zur Einführung: Edith Eucken-Erdsiek (1896 – 1985), in: Goldschmidt, Nils / Wohlgemuth, Michael (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen 2008, S. 397. 14 Gerken, Eucken, S. 77. 15 KCL, Nr. 35 – 893. 16 Böhm, Franz, Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft zwischen Juristen und Volkswirten an der Universität Freiburg in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – das Recht der Ordnung der Wirtschaft, in: Wolff, Hans-Julius (Hrsg.), Aus der Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaften zu Freiburg im Breisgau, Freiburg i. Br. 1957, S. 95 – 113; abgedr. in: Mestmäcker, Ernst-Joachim (Hrsg.), Franz Böhm. Reden und Schriften, Karlsruhe 1960, S. 158 – 175, hier: S. 162. 17 Auch Dozenten wie Adolf Lampe, Friedrich A. Lutz, Bernhard Pfister und Rudolf Johns ergriffen hier das Wort; Teilnehmer berichten, daß in manchen Fällen die Zahl der Dozenten die der Zuhörer übertroffen habe; vgl. Gerken, Eucken, S. 82.
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1933 begutachteten Großmann-Doerth und Eucken die Habilitationsschrift von Böhm, die dem Thema „Wettbewerb und Monopolkampf“ gewidmet war.18 Eucken ist – wie übrigens auch Franz Böhm – Mitschöpfer der ordoliberalen Theorien,19 die ab 1949 als „soziale Marktwirtschaft“ bekannt wurden und die dann, in der Bundesrepublik, maßgeblich zum ungeahnt schnellen wirtschaftlichen Aufstieg beitrugen,20 auch wenn sie nur unvollständig umgesetzt wurden.21 Gerne zitierte Eucken in diesem Zusammenhang Johann Wolfgang v. Goethe mit folgendem Satz: „Ich dächte, jeder müsse bei sich selber anfangen und zunächst sein eigenes Glück machen, woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar entstehen wird.“22 Diese Sicht einer Lebensführung, die über ein Wirtschaftsprogramm weit hinauswies, lief den Zielen der nationalsozialistischen Bewegung völlig zuwider. Eucken wußte das durchaus. Was Hitler vorhatte, wurde von manchen seiner Gegner schon lange vor der Machtübernahme erkannt. Doch es kann sachlich festgestellt werden, daß dies nicht für jeden, der später unter Einsatz seines Lebens im Widerstand kämpfte, gilt. Constantin v. Dietze formulierte: „Die ganze Schwere des Konfliktes wurde auch nicht sofort mit Hitlers Machtübernahme 1933 klar. Die Nationalsozialisten appellierten ja an durchaus ehrenwerte Auffassungen und Absichten.“23 Früh gehörte Eucken zu denen, die völlig ohne Illusionen die Lage überblickten. 1934, gut ein Jahr nach der Machtübernahme, erreichte der Druck des sich auch selbst immer weiter radikalisierenden NS-Staates auch ihn, und zwar als öffentliche Person wie als Privatmann. Alle Corps, und seine Kieler Saxonia war ein solches, wurden von außen, speziell vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, dem NSDStB, ultimativ aufgefordert, sich auf die Linie des NS-Staates zu begeben, und mit kurzem – oder auch deutlichem! – Zögern folgten die meisten. Eucken dürfte dies zuwider gewesen sein; er war ein überzeugter Deutschnationaler, Mitglied der DNVP, und er war über seinen Vater, einen Nobelpreisträger für Literatur, 18 Böhm, Franz, Wettbewerb und Monopolkampf. Eine Untersuchung zur Frage des wirtschaftlichen Kampfrechts und zur Frage der rechtlichen Struktur der geltenden Wirtschaftsordnung, Berlin 1933. 19 Zum Begriff des Ordoliberalismus vgl. die Schriften von Alexander Rüstow. 20 Rüther, Daniela, Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in die Soziale Marktwirtschaft. Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der bürgerlichen Opposition gegen Hitler, Paderborn 2002, S. 21 ff. sowie 26 – 34; den Beginn machte dabei Eucken, unterstützt von Alexander Rüstow, mit seiner 1932 publizierten „Leistungswettbewerbstheorie“, vgl.: a.a.O., S. 47. 21 Oswalt, Walter, Zur Einführung: Walter Eucken (1891 – 1950), in: Goldschmidt, Nils / Wohlgemuth, Michael (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen 2008, S. 120. 22 Goethe im Gespräch mit Johann Peter Eckermann, 20. Oktober 1830. 23 Dietze, Constantin v., Pflicht im Widerstreit der Verpflichtungen – Ansprache am 20. Juli 1964 in der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Rombach 1964, Würzburg 1980 2, vgl. auch: online unter http://www.20-juli-44.de/pdf/1964_dietze.pdf, hier S. 3, Abruf am 3. Juni 2013.
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den großbürgerlichen Umgang gewöhnt. Die in übergroßer Mehrheit aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Nationalsozialisten waren ihm ein Greuel.24 Insbesondere gesellschaftlich herausragende Personengruppen – und Eucken zählte als Professor und Sohn eines Nobelpreisträgers dazu – wurden verstärkt ausgegrenzt. Die Corps mußten sich dem Druck der gesellschaftlichen Umwälzungen beugen, und Saxonia war keine Ausnahme. Walter Eucken zog daraus die Konsequenz und legte im Sommer 1934 sein Band nieder, erklärte also seinen Austritt; sein Bruder und Corpsbruder Arnold folgte ihm darin, er teilte dies dem Corps per Eiltelegramm mit. Öfter wurde angeführt, Walter sei mit einer Frau jüdischen Glaubens verheiratet gewesen,25 weswegen er in der Sprachregelung der Nationalsozialisten als „jüdisch versippt“ gegolten habe. Diese Ansicht scheint von den Fakten her unbegründet, und so wird es kaum der entscheidende Grund gewesen sein, der Eucken zur Bandniederlegung bewog: Edith Eucken-Erdsiek hatte zwar einen Großvater jüdischen Glaubens, der aus Minsk stammte und dort Gemeinderat war,26 aber der praktizierte diesen Glauben nicht.27 Euckens Austritt aus dem Corps dürfte damit in dessen Haltung begründet sein. Am 21. Oktober 1935 notierte Eucken, nun bereits mit Blick auf die Gesamtgesellschaft, in sein Tagebuch: „Alle Juden werden beurlaubt oder aus dem Staatsdienst entlassen. Überall Mißhandlungen. Diese Sünde, die das deutsche Volk begeht, indem es wehrlose Menschen seelisch und körperlich mißhandelt, wird sich an ihm furchtbar rächen. Gott ist auch ein rächender Gott.“28 Wahrscheinlich hatten sich, als Eucken dies schrieb, die späteren Akteure der Freiburger Widerstandskreise bereits arkan vernetzt. Im übrigen hielt er an der Freundschaft zu dem aus jüdischem Haus stammenden Philosophen und Mathematiker Edmund Husserl, der von den Nationalsozialisten schikaniert wurde, unbeirrt fest. Seine politische, eher wohl: großbürgerliche Weltanschauung hinderte ihn nicht daran – im Gegenteil: Eucken war einer von wenigen, die zu Husserl hielten.29 „Der einzelne und die Gemeinschaft, pr. gr.“ – das stand von 1934 bis 1943 in fast jedem Vorlesungsverzeichnis der Freiburger Universität. Der emeritierte Professor und Nationalökonom Karl Diehl bot es als sogenanntes „privatissime“ gratis an, und Eucken gehörte – übrigens zusammen mit seiner Frau Edith Eucken-Erd-
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Stan Schneider Saxoniae Kiel am 15. Juli 2013 in einem Brief an den Autor. Vgl. Bacmeister, Georg, Die Kieler Sachsen in ihren Zeiten, Privatdruck, o. J., S. 165. 26 Klinckowstroem, Edith Eucken-Erdsiek, S. 397 – 403. 27 So Stan Schneider Saxoniae Kiel am 15. Juli 2013 in einem Brief an den Autor. 28 Rübsam, Dagmar / Schadek, Hans (Hrsg.), Der „Freiburger Kreis“. Widerstand und Nachkriegsplanung 1933 – 1945, Freiburg 1990, S. 57. 29 Zwischen Euckens Aufsatz „Denken wozu?“ und Husserls „Kritik der logischen Vernunft“ gibt es mehr als nur Berührungspunkte. Gerade der Begriff der „Wahrheit“ wird ähnlich definiert. Für diesen Hinweis danke ich Stan Schneider Saxoniae Kiel. 25
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siek – zu den ständigen Teilnehmern.30 Auf den Teilnehmerlisten finden sich auch die Namen anderer bekannter NS-Gegner wie Lampe, Ritter und v. Dietze, und es liegt die Annahme nahe, daß in diesem Seminar die geistige Grundlage gelegt wurde, was später als „Freiburger Kreise“ in die Geschichte des Widerstands gegen das NS-Regime eingehen sollte. Constantin v. Dietze stellte fest, daß sich „vertrauenswürdige Kollegen und Assistenten aus allen Fakultäten zu fachlicher, in wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit und Offenheit getriebener Arbeit“ versammelt hätten.31 Nach dem Seminar folgte demnach jedes Mal das offene Gespräch, in dem „ungescheut die politischen Ereignisse besprochen“ wurden.32 So war es auch am Abend des 9. November 1938, und aus dem direkten Eindruck der nationalsozialistischen Umtriebe in der Stadt heraus – die Alte Freiburger Synagoge ging in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 in Flammen auf – entschlossen sich die Teilnehmer des Diehl-Seminars zum Handeln. Bereits im Dezember 1938 tagte erstmals das „Freiburger Konzil“, das sich mit dem Recht auf Widerstand, der christlichen Ethik, dem Naturrecht und immer neuen Planungen für ein Deutschland nach Hitler beschäftigte. Ein Hauskreis, der bei Gerhard Ritter in den Jahren 1936 und 1937 regelmäßig getagt hatte und dem vor allem Bekenntnispfarrer und Professoren, die sich zur Bekennenden Kirche hielten, teilgenommen hatten, dürfte ebenfalls befruchtend auf die neue Initiative zur Entwicklung von gedanklichen Initiativen gegen den Nationalsozialismus gewirkt haben, war aber wohl nicht die Hauptquelle, aus der sich das „Freiburger Konzil“ speiste.33 Bis zur Verhaftung Adolf Lampes und Constantin v. Dietzes im September sollte dieses „Konzil“ – später parallel zu weiteren Widerstandskreisen – seine Tagungen fortsetzen.34 Die Überwachung der Widerstandszellen durch die Gestapo nahm auch in Freiburg immer weiter zu. Ein für diese Verhältnisse erstaunlich großer Kreis von Entschlossenen traf sich nun regelmäßig reihum in Privatwohnungen,35 in der Regel zweiwöchentlich, sonntags am Abend; am 16. Juni 1939 tagte dieses „Freiburger Konzil“ in den Privaträumen der Familie Eucken in der Goethestraße 10. Das ist insoweit bemerkenswert, als Eucken zwar als gläubiger Christ, in seiner Lebens-
30 Blumenberg-Lampe, Christine, Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise“. Entwurf einer freiheitlich-sozialen Nachkriegswirtschaft, Berlin 1973, S. 16. 31 Rübsam / Schadek, Der „Freiburger Kreis“, S. 32. 32 A.a.O. 33 Blumenberg-Lampe, Christine, Oppositionelle Nachkriegsplanung: Wirtschaftswissenschaftler gegen den Nationalsozialismus, in: John, Eckhard et al. (Hrsg.), Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg i. Br., Würzburg 1991, S. 207 – 220, hier: S. 208. 34 Blumenberg-Lampe, Christine, Oppositionelle Nachkriegsplanung, S. 211; ebd.: Das Konzil trat auch in den Jahren 1947 und 1948 nochmals zusammen, fand aber, so BlumenbergLampe, nicht mehr zu seiner alten Kraft. 35 Zu den Teilnehmern: Gerken, Eucken, S. 92.
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führung jedoch eher als kirchenfern eingeschätzt sein dürfte.36 Bald wurden auch katholische Teilnehmer hinzugezogen, so etwa der spätere Freiburger Erzbischof Wendelin Rauch.37 Parallel dazu arbeiteten die Freiburger Nationalökonomen an Gutachten auch für das Reichswirtschaftsministerium, sie kritisierten darin die NSWirtschaftspolitik, was zum Zeitpunkt der Erstellung für solche Gutachten keine Selbstverständlichkeit ist. Eucken brachte erstmals einen Begriff in die Volkswirtschaftstheorien ein, dem kommende Wirtschaftssysteme zu genügen hätten: die Menschenwürdigkeit.38 Des weiteren gehörte er der Klasse IV der Akademie für Deutsches Recht an, die im Januar 1940 installiert worden war39 und in der auffällig viele Männer des Widerstands gegen Hitler tätig waren – so zum Beispiel Franz Böhm oder Peter Graf Yorck von Wartenburg; im November 1941 trug Eucken hier vor.40 Diese Klasse IV der Akademie für Deutsches Recht, die als „Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre“ firmierte, verdient eine gesonderte Betrachtung. Da Graf Yorck offiziell als Referent in der Arbeitsgemeinschaft Preispolitik, einer dem Reichswirtschaftsministerium zugeordneten Behörde, tätig war, scheint es sicher, daß es zwischen ihm und den Freiburger Nationalökonomen ebenfalls persönliche Kontakte gegeben hat, denn im November 1941 wurden Eucken, Böhm und der ebenfalls in Freiburg lehrende Adolf Lampe zu dessen Beratungen hinzugezogen; es scheint hier ein temporäres Forum für den in viele Gruppen verteilten Widerstand gegeben zu haben. In den folgenden Jahren wurde Walter Eucken zu einem wichtigen Denker und Vordenker der Freiburger Kreise. Sicher bewogen ihn seine starke moralische und von einem umfassenden – auch bei den Corps zu findenden – Toleranzprinzip geprägte Haltung, eine derart klare und kompromißlose Haltung einzunehmen. Dazu beigetragen hat auch seine große Weltläufigkeit: Zwei lange Studienreisen nach England hatte Eucken in den Jahren 1911 und 1912 unternommen, und überdies pflegte er vitale Kontakte in die USA. Hier ist möglicherweise eine Parallele zu Adam v. Trott zu Solz Saxoniae Göttingen und Eduard Brücklmeier Bavariae München zu sehen, die beide ebenfalls über beste Kenntnisse über das britische Empire und – im Falle Trott – auch über Kontakte in die USA verfügten. Dies alles mündete in der festen Überzeugung, daß der Nationalsozialismus überwunden werden müsse. Constantin v. Dietze beschrieb die Überzeugung stellvertretend für die „Freiburger“ wie folgt: „Wir waren durchdrungen von der Überzeugung, daß ein 36
Oswalt, Walter, Offene Fragen zur Rezeption der Freiburger Schule, in: Goldschmidt, Nils / Wohlgemuth, Michael (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen 2008, S. 129. 37 Blumenberg-Lampe, Christine, Oppositionelle Nachkriegsplanung, S. 210. 38 Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 127. 39 Röpke, Wilhelm, Blätter der Erinnerung an Walter Eucken, in: Ordo – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. XII, Stuttgart 1960/61, S. 7 f.: Eucken berichtet in einem Brief an Röpke über zwei Sitzungen dieser Arbeitsgemeinschaft, die vor dem 7. Juni 1941 bereits stattgefunden hatten. 40 A.a.O., S. 231.
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Sieg Hitlers das größte Unglück für das deutsche Volk bedeuten würde, daß es nichts Schlimmeres für uns Deutsche geben könne als wenn deutschsprechende Verbrecher die Welt erobern und beherrschen würden.“ Jener Constantin v. Dietze, der Freiburger Agrarwissenschaftler, Volkswirt, Jurist und Theologe, nach 1945 übrigens auch Rektor der Universität, erhielt zusammen mit seinen Mitstreitern durch Dietrich Bonhoeffer, der eigens dafür nach Freiburg reiste,41 im Jahre 1942 den Auftrag, zusammen mit den Mitstreitern im „Freiburger Konzil“ Vorschläge für eine Neuordnung der Wirtschaft in Deutschland nach Adolf Hitler zu erarbeiten. Das ist angesichts der Persönlichkeit und Qualifikation v. Dietzes keine Überraschung, und doch hätte Bonhoeffer nicht ihn, sondern auch jeden anderen der führenden Köpfe in den Freiburger oder anderswo vorhandenen Widerstandskreisen ansprechen können. Es gab einen besonderen Kontakt zwischen Bonhoeffer und v. Dietze: beide waren Mitglieder der Tübinger Verbindung A. V. Igel, die auf eine ganz bestimmte Art die althergebrachte studentische Geselligkeit pflegte.42 Der Kreis, in dem Dietze mit den Ausarbeitungen begann, war kein anderer als der des „Freiburger Konzils“, und Adolf Lampe, Gerhard Ritter, Walter Eucken sowie der wieder ständig nach Freiburg zurückgekehrte Franz Böhm gehörten zu seinen engsten Mitarbeitern. Zu diesen Beratungen wurde nun auch Carl Goerdeler hinzugezogen, der als Tübinger Turnerschafter wohl wußte, daß er bei Mitgliedern des A. V. Igel und bei Herren, die in einem Kösener Corps aktiv gewesen waren, Menschen vor sich hatte, die – jeder an seiner Stelle – auf einen Eid geschworen hatten. Vielleicht war dies das entscheidende Argument, weswegen Goerdeler nach Freiburg reiste und an den intensiven Beratungen des Arbeitskreises teilnahm, die vom 17. bis 19. November 1942 stattfanden. Die Zugehörigkeit zu einer noblen Verbindung war ein Merkmal der sozialen Distinktion, das das Vertrauen zwischen den im Geheimen arbeitenden und auf die gegenseitige Zuverlässigkeit angewiesenen Akteure des Widerstands befördern konnte und wohl auch beförderte – nicht mehr, weniger aber auch nicht. Die Denkschrift, die unter Mitwirkung von Walter Eucken Gestalt annahm und in deren Text auch die Handschrift Goerdelers deutlich erkennbar ist,43 trug den 41 Hauenstein, Fritz, Der Freiburger Kreis. Eine Aufzeichnung für die Stiftung „Hilfswerk 20. Juli 1944“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) / Royce, Hans (Bearb.), 20. Juli 1944, Bonn 1969, S. 42 h, S. 43; Roser, Böhm, S. 67 – 72; Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 196. 42 Die Akademische Verbindung Igel pflegte das studentische Brauchtum auf überaus ironisch-karikierende Weise. Die dort übliche Art des Spotts, die sich dezidiert auf das damals stark wilhelminisch geprägte Kösener Corpsstudententum bezog, beeinträchtigte eindeutig nicht die Intensität des Kontakts der einzelnen Bundesbrüder untereinander – schließlich war man sich überaus einig in der kritischen Distanz zum Corpsstudententum, erkannte damit aber gleichzeitig die althergebrachte studentische Kultur des Symposiums und der Korporation auch ausdrücklich an. 43 Rüther, Daniela, Der Einfluss Freiburger Nationalökonomen auf die wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Planungen der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 – dargestellt am Beispiel der „Volkswirtschaftsfibel“ von 1941/42, in: Goldschmidt, Nils (Hrsg.), Wirt-
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Titel „Ein Versuch zur Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit“.44 Eucken selbst zeichnete zusammen mit Constantin v. Dietze und Adolf Lampe eigenverantwortlich für den „Anhang 4 – Wirtschaftsund Sozialordnung“ zu ebendieser Denkschrift. Die Ausarbeitung beruhte weitgehend auf den Prinzipien des ordoliberalen Denkens, die die Dozenten in Freiburg gemeinschaftlich erarbeitet hatten.45 Ganz unmißverständlich wird darin – bezogen auf die Wirtschaftspolitik – dem NS-System eine Absage erteilt.46 Zu erwähnen ist auch die „Volkswirtschaftsfibel“, die von Eucken zusammen mit v. Dietze und Lampe zwischen 1941 und 1943 verfaßt wurde und auf die namentlich Goerdeler in seinen Konzepten für ein Deutschland nach Hitler zurückgriff. Diese Schrift, lange verschollen geglaubt, wurde wiederentdeckt und im Jahre 2002 die Grundlage für eine Dissertation, in der wiederum den Freiburger Nationalökonomen eine „wichtige beratende Rolle“ im Gesamtwiderstand gegen Hitler zugemessen wird.47 Edith Erdsiek-Eucken meinte sich später zu erinnern, ihr Mann sei „nur am Rande“ bei der Abfassung dieser Schriften beteiligt gewesen, weil er sich davon wenig versprochen habe.48 Dies mag dahinstehen – Euckens Beitrag ist jedenfalls heute noch klar erkennbar. Zweifelsohne wären die Mitarbeiter an dieser Denkschrift verhaftet, vor Gericht gestellt und von der Todesstrafe bedroht gewesen, wenn diese Aktivitäten den Behörden im NS-Staat auch nur teilweise offenbar geworden wären. Trotzdem wurde in einigen Publikationen die Arbeit der ordoliberalen Freiburger Nationalökonomen im Nachhinein in eine „nationalkonservative“ Richtung,49 ja in jüngster Zeit sogar in die Nähe zum Nationalsozialismus50 gerückt. Wenn zum Beispiel auch Hannah schaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005, S. 376. 44 Schwabe, Reichardt, 1984, Seite 655 – 774. 45 Goldschmidt, Nils, Christlicher Glaube, Wirtschaftstheorie und Praxisbezug. Walter Eucken und die Anlage 4 des Freiburger Bonhoeffer-Kreises, Historisch-Politische Mitteilungen, 5. Jahrgang, S. 33 – 48, führt den Nachweis für die Übereinstimmung mit ordoliberalen Leitsätzen; vgl. dazu: Gerken, Eucken, S. 94; s. auch: Brakelmann, Günter / Jähnichen, Traugott, Die protestantischen Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft, Gütersloh 1994, S. 341 – 362. 46 Vgl. beispielhaft: Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 228. 47 Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, passim; hier insbes.: S. 456. Die Autorin nennt die Volkswirtschaftsfibel „eines der ausführlichsten und umfangreichsten Zeugnisse des deutschen Widerstands zu wirtschaftspolitischen Fragen“. 48 Blumenberg-Lampe, Christine, Gespräch mit Edith Eucken am 25. Februar 1972, Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin, ACDP Nr. I-256 – 041. 49 Vgl. Rüther, Der Einfluss Freiburger Nationalökonomen, S. 355 – 382; dies., Der Widerstand des 20. Juli, passim. 50 Vgl. dazu: Haselbach, Dieter, Autoritärer Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. Gesellschaft und Politik im Ordoliberalismus, Baden-Baden 1991, S. 79; a.a.O., S. 93; Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 77 f.
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Arendt vom „politischen Bankrott der gesamten Widerstandsbewegung“ spricht,51 dann ist diese in ihrer Zeit vielleicht haltbare These heute insoweit zu ergänzen, als berechtigt zu fragen ist, ob es überhaupt eine Möglichkeit für eine solche „Bewegung“ gegen das NS-Regime gab. Ist hier die Antwort schon negativ, ist weiter zu fragen, ob es für Menschen, die sich in einem gesellschaftlichen Netzwerk und nicht etwa im luftleeren Raum bewegten, die Möglichkeit zu wirksamem politischem Handeln gegen ein System wie den Nationalsozialismus überhaupt gab. Pauschale Wertungen scheinen unangebracht. Die Kritik in der jüngeren Literatur verfängt daher nicht. So kritisiert Daniela Rüther, daß sich die Freiburger eines Votums für eine bestimmte Gesellschaftsform enthalten hätten,52 und darin schwingt der Verdacht mit, daß klammheimliche Zustimmung für überholte Staatsformen oder gar den Nationalsozialismus – zumindest in Teilen – dafür die Ursache sein könnte.53 Dabei bleibt unberücksichtigt, daß derartige Aussagen weder der selbstgestellten noch der von Goerdeler und Bonhoeffer an sie herangetragenen Aufgaben entsprochen hätten. Demzufolge könnten aus den Freiburger Denkschriften keinerlei Rückschlüsse auf mögliche Präferenzen für Staatsformen gezogen werden. Versuche, die Freiburger Kreise in die Nähe der NS-Ideologie zu rücken, verfangen nicht. Vielmehr ging es Eucken um die „Schaffung einer funktionsfähigen und menschenwürdigen Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, (in der) ein entschiedenes Ordnungswollen sich auf die Gestaltung der Wirtschaftsformen erstreckt, aber auch beschränkt, während der Wirtschaftsprozeß selbst seiner Eigengesetzlichkeit überlassen wird.“54 Wenn diese Begrenzung schon für die Wirtschaft gelten sollte, liegt der Schluß nahe, daß eine derartige deutliche Trennung von Eucken und den Freiburger Nationalökonomen erst recht für das gesamte Staatswesen angestrebt wurde. Im übrigen ist hier auch zu erwähnen, daß einigen heutigen Autoren der Blick darauf verstellt scheint, daß der Comment, an den sich Corpsstudenten und andere Korporierte hielten, zwar durchaus die häufig mißverstandenen, traditionellen Formen des Duells enthielt, aber vor allem als ein Mittel zur Selbstbestimmung und
51 Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, 1987 ND, S. 134. Auch Rüther spricht in „Der Einfluss Freiburger Nationalökonomen“, S. 355, davon, daß es „innerhalb des nationalkonservativen Widerstands (…) zu einer weit verzweigten Zusammenarbeit kam“. Daß die bürgerlichen Widerstandsgruppen weit verzweigt waren, wird nicht bestritten, aber sie waren zugleich auch vereinzelt, also auf sich gestellt, und wußten kaum voneinander; diese Gruppen waren wohl bürgerlich, hingen vielleicht auch überholten Gesellschaftsvorstellungen an – aber sie können nicht pauschal „nationalkonservativ“ genannt werden. Hier besteht Nachholbedarf nicht nur bei Frau Rüther, sondern fast überall in der Historikerzunft. 52 Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 202. 53 A.a.O., S. 205 ff. 54 Röpke, Blätter der Erinnerung an Walter Eucken, S. 11.
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Festigung ihrer sozialen Netzwerke fungierte und fungiert.55 Das Ignorieren dieser von Eucken und vielen seiner Mitstreiter gelebten Wirklichkeit schmälert die Ergebnisse dieser Autoren. Die Freiburger Wissenschaftler arbeiteten in gefühlter Isolation – inmitten einer sich selbst radikalisierenden Gesellschaft! – an ihren Konzepten von einem Deutschland ohne Staatsverbrechen. Sie fühlten sich nicht als „Bewegung“, sondern sahen es als ihre Pflicht gegenüber Gott und den Menschen, ein Zeichen zu setzen – und sei es noch so klein. Im Nachhinein erst wurde die Arbeitsgruppe, die die Denkschrift erstellt hatte, als „Freiburger Bonhoeffer-Kreis“ bezeichnet.56 Hier hatte sich ein eingeschworener Kreis zusammengefunden, die Freiburger Wissenschaftler ließen sich nicht beirren. Im Januar 1943 war das über 130 Seiten starke Werk57 vollendet; es wurde in einigen wenigen Exemplaren hergestellt, ein Exemplar, das auf einem Bauernhof im Südschwarzwald versteckt worden war, hat überdauert und wird heute im Bundesarchiv Koblenz aufbewahrt; der Text wurde in den letzten Jahren verschiedentlich abgedruckt.58 Die Arbeit der Widerstandsgruppen in Freiburg ging auch nach Abfassung der Denkschrift weiter, denn sie war aus der gefühlten Notwendigkeit entstanden, dem NS-Regime etwas entgegenzusetzen, nicht um einer Denkschrift willen.59 Erwin v. Beckerath berief im März 1943 erstmals eine Arbeitsgemeinschaft ein, die sich mit Fragen der Volkswirtschaftslehre beschäftigte, denn Beckeraths Lehrstuhl war von der NS-geführten Freiburger Universität als „nicht kriegswichtig“ aufgelöst worden.60 Von den zehn Tagungen der Arbeitsgemeinschaft nahm Eucken an allen bis auf eine teil,61 er beteiligte sich vor allem an einer Diskussion um die Geldpolitik,62 zu einem Papier über den Wiederaufbau einer Friedenswirtschaft gab er eine von drei kritischen Stellungnahmen, Böhm und v. Dietze waren hier ebenfalls beteiligt. Am 24. und 25. August 1943 entstand in einer „kleinen Arbeitstagung“ ein gemeinschaftliches Gutachten unter dem Titel: „Wichtigste Probleme des Wieder55
So zum Beispiel: Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 245. Entscheidend und begriffsbildend ist hier die Dissertation von Christine BlumenbergLampe, ihre Argumentation konnte auch durch divergierende Ergebnisse anderer Untersuchungen nicht in Frage gestellt oder gar widerlegt werden; vgl. Blumenberg-Lampe, Christine, Das wirtschaftspolitische Programm der „Freiburger Kreise“. Entwurf einer freiheitlich-sozialen Nachkriegswirtschaft, Berlin 1973. 57 Rüther, Daniela, Der Einfluss Freiburger Nationalökonomen, S. 355. 58 Schwabe, Klaus / Reichardt, Rolf (Hrsg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard 1984, S. 635 – 654; vgl. Brakelmann / Jähnichen, Die protestantischen Wurzeln, S. 341 – 362. 59 Vgl. dazu Rüther, Daniela, Der Einfluss Freiburger Nationalökonomen, S. 357 f. 60 Blumenberg-Lampe, Christine, Oppositionelle Nachkriegsplanung, S. 214. 61 Gerken, Eucken, S. 96. 62 Blumenberg-Lampe, Christine, Der Weg in die soziale Marktwirtschaft: Referate, Protokolle, Gutachten der Arbeitsgemeinschaft Erwin von Beckerath 1943 – 1947, Stuttgart 1986, S. 25. 56
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aufbaus und der Friedenswirtschaft und ihre Lösung durch (eine) primär marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung“.63 Die Tätigkeit der Freiburger kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden. Einer der profiliertesten Fachleute für den Widerstand gegen Hitler, Günter Brakelmann, urteilt wie folgt: „Die Freiburger und Kreisauer Kreise dürften unter den deutschen Widerstandsgruppen das größte intellektuelle Potential bei sich versammelt haben.“64 Doch der Druck durch das „totale“ Regime wurde immer stärker. Zum Jahreswechsel 1944 verebbten die Kontakte zwischen den Freiburgern und den Kreisauern. Wachsende Verfolgung, eine zunehmende Zahl von Verhaftungen, aber auch Reiseschwierigkeiten aufgrund kriegsbedingter Zerstörungen dürften Gründe dafür sein, daß die inhaltliche Arbeit nicht voranging; dies ist aus schriftlichen Quellen indirekt erschließbar.65 Auch zu einem neuen, auf die Gesamtheit der anstehenden Themen hin angelegten Papier der Freiburger Kreise kam es nicht mehr, weil der Verfolgungsdruck auch für Eucken und alle, die arkan im dortigen Widerstand tätig waren, dramatisch zunahm. Auf einer Rektoren-Konferenz in Salzburg wurde Eucken – wohl zu Beginn des Sommersemesters 1944 – gewarnt: „Eucken, verschwinden Sie!“66, doch Eucken, der die Warnung sehr wohl verstanden hatte, gab einen sarkastischen Kommentar zurück: „Verschwinden Sie mit einer fünfköpfigen Familie in einem Staat, in dem Sippenhaftung besteht!“67 Walter Eucken wurde in jenen Wochen zweimal von der Gestapo verhört, wobei ihm angedroht wurde, ihn zu foltern. Auf die Frage, wie er bisher gewählt habe, antwortete er kurz und bündig: „Niemals nationalsozialistisch!“ Der Anlaß für diese insgesamt gefährliche Lage war ein Artikel Professor Röpkes, der zuvor in der Zürcher Zeitung erschienen war und in dem Euckens Mut gelobt worden war. Am 8. September 1944 wurden die Professoren Adolf Lampe und Constantin v. Dietze unter anderem wegen ihrer offenbar gewordenen Nähe zu den Planungen des Kreisauer Kreises von der Gestapo verhaftet, letzterer aus einer laufenden mündlichen Rigorosums-Prüfung. Die Kandidatin, Ursula Kienberger-Markwalder, eine Schweizerin, schildert die Minuten der Verhaftung wie folgt: „Es gab ziemlich viele Anwärter für die Diplomprüfungen, nur zwei für die Doktorprüfung: Lothar Wandel und mich. Im September wurde ich zuerst von Professor Eucken geprüft, 63
Abgedruckt bei: Blumenberg-Lampe, Weg in die soziale Marktwirtschaft, S. 241 – 250; vgl. Rüther, Der Widerstand des 20. Juli, S. 431. 64 Brakelmann, Günter, Peter Graf Yorck von Wartenburg, Aufsatz in diesem Band. 65 Siehe etwa: Goldschmidt, Nils, Der Freiburger universitäre Widerstand und die studentische Widerstandsgruppe Kakadu, in: Scholtyseck, Joachim / Studt, Christoph (Hrsg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich – Bejahung, Anpassung, Widerstand, Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 2. Juli 1944 e. V., Bd. 9, Berlin 2008, S. 155 f. 66 Kienberger-Markwalder, Ursula, Doktor-Examen bei Walter Eucken und Constantin von Dietze im September 1944, in: Goldschmidt, Nils (Hrsg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005, S. 449 – 452, hier: S. 450. 67 A.a.O.
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Wandel von Professor v. Dietze. Nach ungefähr einer halben Stunde wurden wir ausgetauscht. Professor Lampe war plötzlich aufgetaucht, sagte aber, es hätte nichts mit unserem Examen zu tun. (…) Plötzlich klopfte die Sekretärin und meldete Professor v. Dietze: ,Es sind zwei Herren von der Gestapo da, die Sie sprechen wollen.‘ Professor v. Dietzes Antwort: ,Ich lasse die Herren bitten.‘ Professor v. Dietze mir gegenüber, an seinem Schreibtisch, schaute vor sich hin. Immer, wenn ich an einen betenden Menschen denke, sehe ich dieses Bild vor mir. Er war völlig gefaßt und vollständig ruhig, geborgen in seinem Herrgott, angesichts von Folter und Tod. Dann schaute er auf zu mir und sagte: ,Sie wissen ja, was das bedeutet. Würden Sie bitte meiner Frau Bescheid sagen.‘ Ich sagte nur: ,Selbstverständlich, Herr Professor‘ und schon standen die beiden Gestapo-Männer in der Tür. Professor v. Dietze stand auf, begrüßte sie, wie ein Grandseigneur seine Gäste empfängt. ,Hier sind die Schlüssel zu allen Schränken, alles steht zu Ihrer Verfügung.‘ So etwas hatten die beiden widerlichen Gestalten sicher noch nicht erlebt. Sie schauten einander sichtlich betroffen an. Professor v. Dietze: ,Wir sind eben ziemlich am Ende einer Prüfung, soll die Studentin warten?‘ Der Kleinere, wieder im Vollbesitz seiner Machtposition: ,Nein, die braucht nicht zu warten!‘ Ich ging auf Professor v. Dietze zu, nahm seine Hand und sagte laut und deutlich: ,Auf Wiedersehen, Herr Professor!‘ (…) Wir machten uns auf in die Goethestraße 10 (Wohnhaus Eucken, d. Hrsg.) und trafen gleichzeitig mit den uns entgegenkommenden Professor Eucken und Dr. Hensel ein. Professor Eucken legte seine Hände beschwörend auf meine Schultern und sagte beschwörend zu mir: ,Sie sagen keinem Menschen etwas von dem, was Sie gesehen und gehört haben – ich habe Ihr Wort – keinem Menschen. Es ist zu gefährlich für uns alle!‘ Dann gingen wir ins Haus zu Frau Eucken. Plötzlich drehte sich Walter Eucken zu uns um: ,Übrigens, Sie haben beide bestanden – ich gratuliere.‘ Im Augenblick war das zur größten Unwichtigkeit geworden.“68 Die für September geplante, abschließende Sitzung der „Arbeitsgemeinschaft Beckerath“, bei der über das Gutachten „Wichtigste Probleme des Wiederaufbaus und der Friedenswirtschaft und ihre Lösung durch (eine) primär marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung“ entschieden werden sollte, fand nicht mehr statt. Die Widerstandskämpfer der Freiburger Kreise setzten ab Herbst 1944, im von den Nationalsozialisten ausgerufenen „totalen Krieg“, alle Kräfte daran, die Freunde zu schützen und selbst zu überleben. Walter Eucken unternahm im November jenes Jahres zusammen mit mindestens einem weiteren Helfer einen wagemutigen Versuch, zu erfahren, was die Gestapo den in Untersuchungshaft sitzenden Freunden und Kollegen v. Dietze und Lampe vorwarf. Das Ziel war, den noch in Freiheit befindlichen Mitstreitern einen Wissensvorsprung zu verschaffen, damit sie im Falle der Verhaftung so auf die Fragen der SS- und Gestapo-Leute antworten konnten, daß diese ihnen möglichst nichts vorwerfen konnten. Diese Aktion gelang, und sie verlief wie folgt: Eucken bat den Studenten Heinrich Kull-
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Kienberger-Markwalder, Doktor-Examen bei Walter Eucken, S. 451 f.
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mann, der selbst Leiter der studentischen Widerstandsgruppe Kakadu war,69 unter dem Vorwand an die beiden Verhafteten heranzutreten, er benötige bei seiner Diplomarbeit die übliche Betreuung. Eucken selbst war es gewesen, unterstützt von einigen wenigen, denen er vertrauen konnte, der Kullmann in der Leitung dieser Gruppe plaziert hatte. Kullmann reiste nach Berlin und weiter nach Ravensbrück, denn v. Dietze und Lampe waren inzwischen in das dortige Konzentrationslager verschleppt worden. Dort durften ihm die beiden Professoren unter den Umständen tiefer Demütigung durch KZ-Wächter gegenübertreten. Kullmann legte seine Arbeit vor, und man kam überein, sich acht Tage später erneut zu treffen. Bei diesem und bei weiteren Besuchsterminen gaben v. Dietze und Lampe dem Studenten Kullmann die korrigierten Blätter seiner Arbeit – und zwischen den Papierbögen lagen die erhofften, hochbrisanten Kassiber, unter anderem eine stenographische Auflistung der Anklagepunkte. Nach der Rückkehr verteilte Eucken zusammen mit Kullmann die Informationen unter strenger Geheimhaltung an die übrigen Freiburger Widerstandskämpfer,70 einer der ersten, die das Kassiber erhielten, war übrigens Franz Böhm.71 Mitstreiter aus jener Zeit haben Eucken für seinen Mut und seine Courage bewegende Zeugnisse gesetzt.72 Hätte übrigens Goerdeler, der seit dem 12. August 1944 in Gestapo-Haft war, die Namen der an der Freiburger Denkschrift vom Januar 1943 Beteiligten genannt, hätte das deren sichere Verhaftung und wahrscheinlichen Tod bedeutet. Dies hätte Lampe und v. Dietze, genauso aber auch Eucken betroffen, der seiner eigenen Verhaftung dann mit Sicherheit nicht entgangen wäre – mit unabsehbaren Folgen. Doch Goerdeler schwieg, Eucken überlebte weitgehend unbehelligt, v. Dietze wurde in letzter Minute durch den Zusammenbruch des NS-Regimes gerettet; Lampe starb 1948, wohl durch die Spätfolgen der Gestapo-Haft. Am 25. April 1945 wurde Freiburg im Breisgau kampflos an anrückende französische Truppen übergeben. Eine weitere Zerstörung der ohnehin schwer getroffenen Stadt sowie der Tod einer unabsehbaren Zahl von Menschen wurden damit abgewendet. Vier Männer haben dies maßgeblich bewirkt: der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber sowie die drei Professoren Josef Sauer, Artur Allgeier und –
69 Zu dieser Gruppe ausführlicher: Goldschmidt, Nils, Widerstandsgruppe Kakadu, in: Scholtyseck et al. (Hrsg.), Universitäten und Studenten im Dritten Reich, S. 143 – 157, passim. 70 A.a.O., S. 155 f.; diese Informationen waren es, die fast alle weiteren Verhaftungen in Freiburg verhinderten, lediglich Professor Gerhard Ritter wurde danach noch verschleppt. 71 A.a.O., S. 156. 72 So zum Beispiel: Röpke, Blätter der Erinnerung an Walter Eucken, S. 3: „Der Kamerad war umso wertvoller, je kräftiger sein Geist, je lauterer sein Charakter und je unbändiger seine Energie. Hier leuchtete Eucken vor allen anderen hervor, wobei ich an seinem Beispiel immer wieder die Erfahrung bestätigt sehe, daß der entscheidende ,letzte Aufwand‘ (…) immer vom Charakter geleistet werden muß, d. h. wenn es jenseits der selbstverständlichen geistigen Leistungsschwelle für eine echte und nachhaltige Wirkung, auf Rechtschaffenheit, unbedingte Verläßlichkeit, Lauterkeit, Wahrhaftigkeit und Grundsatztreue ankommt.“
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Walter Eucken.73 Unmittelbar nach dem Zusammenbruch setzte er sich für die Universität ein, und einer seiner wichtigsten Ansprechpartner war erneut der Freiburger Rhenane Franz Böhm, der bereits am 25. April 1945, nur Stunden nach dem Einrücken der Franzosen, zum Prorektor der Alma Mater bestimmt worden war.74 Strikt setzte sich Eucken dafür ein, daß Professoren, die unter dem Hakenkreuz in Parteiämtern oder in politischer Funktion tätig waren, der Besuch der Universität komplett untersagt werden solle.75 Zunächst regional, dann für das sich formierende Nachkriegsdeutschland wurde die Lehre des Ordoliberalismus immer wichtiger. Das Wirken von Nationalökonomen wie Walter Eucken belegt schlaglichtartig, warum die Währungsreform 1948 zu einem Durchbruch werden konnte, warum es in den 1950er Jahren ein Wirtschaftswunder gab. So traf sich im Herbst 1946 „ein Kreis von geistig und wirtschaftlich führenden Männern Badens“ unter der Leitung Euckens im Empfangszimmer in dessen Privatwohnung, um die „Grundlagen für die Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft“ zu diskutieren.76 Das illustriert deutlich, welchen Rang Eucken als Wissenschaftler, als Mann des Widerstands und als Demokrat hatte. Auch international wurde Walter Eucken ab der Befreiung vom Nationalsozialismus als wichtiger Denker und Vordenker wahrgenommen. Schlaglichtartig belegt das sein Auftritt bei der Gründungskonferenz der Mont-Pèlerin-Gesellschaft im schweizerischen Vevey am 1. April 1947, zu der sich liberale Intellektuelle aus ganz Europa trafen, um über die Verteidigung und Förderung von Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Privateigentum und Wettbewerb zu diskutieren. Wilhelm Röpke, Mitglied dieses Zusammenschlusses und als Nationalökonom ebenfalls ein bedeutender Lehrer, schreibt über den Auftritt Euckens: „Wenn jene Gründungsversammlung unserer Gesellschaft über dem Genfer See zu einem nicht nur geistig, sondern auch politisch wichtigen Ereignis unserer Zeit wurde, so war es die charaktervolle Figur dieses deutschen Nationalökonomen – des einzigen, der aus Deutschland zu uns gekommen war –, welche sehr wesentlich dazu beigetragen hatte.“77 Am 20. August 1949, das Corps Saxonia Kiel traf sich nach 1945 erstmals wieder zu einer Generalversammlung, wurde beiden Brüdern Eucken das Band, das sie 1934 niedergelegt hatten, einstimmig wieder angetragen: „Arnold stimmte erfreut zu, Walter lehnte ab. Eine Nachbesserung konnte nicht versucht werden, weil Walter Eucken im März 1950 starb und Arnold im Juni. Saxonia behandelte die
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Gerken, Eucken, S. 88. Hansen, Niels, Franz Böhm mit Ricarda Huch – zwei wahre Patrioten, Düsseldorf 2009, S. 184 f.; Blumenberg-Lampe, Christine, Franz Böhm (1895 – 1977), Vater der Kartellgesetzgebung, in: Buchstab, Günter et al. (Hrsg.), Christliche Demokraten gegen Hitler, Freiburg i. Br. 2004, S. 112. 75 Gerken, Eucken, S. 89. 76 Röpke, Blätter der Erinnerung an Walter Eucken, S. 9 f. 77 A.a.O., S. 10. 74
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Austritte als nichtig und führt beide Eucken als Corpsbrüder in ihren Listen.“78 So ist die Frage, ob Walter Eucken heute von den Corpsstudenten als einer der Ihren bezeichnet werden darf, nicht völlig geklärt. Die Bandniederlegung der Brüder Eucken ist eine Tatsache, aber eine Prägung als Corpsstudenten haben sie doch erhalten. Entscheidend für Walter Eucken dürfte sein, daß nicht er sich vom Corpsstudententum abwandte, sondern daß es gewissermaßen andersherum war. So lange er es mit den unter anderem in seinem Corps gelernten Werten verbinden konnte, blieb er seiner Saxonia treu, von 1909 bis 1934. Die Zugehörigkeit zu einem Kösener Corps war, und das wird hier exemplarisch deutlich, im wilhelminischen Zeitalter ein wesentliches Merkmal großbürgerlicher Distinktion. Als dieses Identifikationsmerkmal verloren ging, weil die meist kleinbürgerlich geprägten Nationalsozialisten in seinem Corps offenkundig das Ruder übernommen hatten, gab Eucken sein Band zurück – eine völlig logische Konsequenz. Mit seiner Lehre war Eucken, das kann rückschauend bemerkt werden, seiner Zeit um bestimmt dreißig Jahre voraus. Die vollständige Konkurrenz in einem Markt begriff er nicht als ein Gegeneinander, sondern als ein Wirken in parallele Richtung – für ihn bedeuteten nicht der Behinderungs- oder Schädigungswettbewerb, sondern der Leistungswettbewerb eine Stärkung der Volkswirtschaft;79 und darum ging es ihm. Daraus folgt auch, daß Subventionen und Steuervergünstigungen keine geeigneten Mittel zur Stärkung der Volkswirtschaft sind. Als Fazit bleibt: „Die ordnungspolitische Konzeption Walter Euckens ist heute unvermindert aktuell.“80 Und nachdem die soziale Marktwirtschaft, die in den 1930er Jahren entwickelt, deren Umsetzung aber durch Hitlers Regiment unmöglich geworden war, letztlich zu der Wirtschaftsordnung wurde, mit der die junge Bundesrepublik Deutschland unerwartete, für manche Zeitgenossen geradezu märchenhafte Erfolge verzeichnen konnte, ist Christine Blumenberg-Lampe zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Die oppositionelle Nachkriegsplanung der Freiburger Kreise, eine Arbeit unter Bedingungen von Diktatur und Krieg, trug Früchte bis in unsere heutige Wirtschaftsordnung hinein.“81 Im Wintersemester 1949/1950 war Walter Eucken nach London gereist, um eine Reihe von Gastvorlesungen an der renommierten London School of Economics zu halten. Kurz vor der fünften und letzten Vorlesung erlag er am 20. März 1950 überraschend einem Herzanfall, der wahrscheinlich durch einen vorherigen grippalen Infekt begünstigt worden war. Die Bestürzung über seinen unerwarteten, frühen Tod mitten aus dem Lehrbetrieb und dem eben beginnenden Aufbruch heraus war enorm. Ein Kontrapunkt zur Befreiung nach dem Zusammenbruch der NS78
Bacmeister, Kieler Sachsen, S. 166. Gerken, Lüder / Renner, Andreas, Die ordnungspolitische Konzeption Walter Euckens, in: Gerken, Lüder (Hrsg.), Walter Eucken und sein Werk – Rückblick auf den Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, Tübingen 2000, S. 32. 80 Gerken / Renner, Ordnungspolitische Konzeption, S. 34. 81 Blumenberg-Lampe, Christine, Oppositionelle Nachkriegsplanung, S. 217. 79
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Diktatur. Der Rektor der Freiburger Universität, Gerd Tellenbach, würdigte den verstorbenen Kollegen bei der Trauerfeier in der dortigen Christuskirche: „Ein und dasselbe Streben geht durch sein persönliches Leben, sein wissenschaftliches Schaffen, seine sozial- und wirtschaftspolitische Wirksamkeit: durch Klarheit und Bindung an das Vernünftige diejenige Freiheit zu verwirklichen, die nur immer in menschlichen Bereichen möglich ist. Das Streben nach solcher Freiheit war aber wohl zutiefst begründet in der Ahnung von einer höheren Freiheit, von der Menschenworte nur noch unvollkommene Aussagen machen können.“82 Und einer seiner Studenten brachte es beim gleichen Anlaß auf den Punkt: „Seine Vorlesungen und die von ihm geleiteten Diskussionen standen unter dem Wort, das in die Mauern unserer Universität eingemeißelt ist: ,Die Wahrheit wird Euch freimachen‘.“83 Dieses Wort aus dem Johannes-Evangelium84 ist bis heute am Hauptgebäude der Freiburger Universität zu lesen.
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Tellenbach, Gerd, Ansprache bei der Trauerfeier für Prof. Dr. Eucken am 8. April 1950, Walter-Eucken-Institut, Freiburg, zitiert nach: Gerken, Eucken, S. 109. 83 Freyberg, Ulrich Freiherr v., Abschied von Professor Walter Eucken, Manuskript vom 8. April 1950, Walter-Eucken-Institut, Freiburg, zitiert nach: Gerken, Eucken, S. 108. 84 NT, Johannes-Evangelium, Kap. 8, Vers 32.
Widerstand in der Zivilgesellschaft
Wilhelm Abegg – Polizeireformer1 und Widerstandskämpfer der ersten Stunde* Von Michael Eggers Im Jahre 1708 verlegte die Schweizer Pastorenfamilie Hans Jakob Abegg aus Zürich, einem alten Schweizer Geschlecht mit einer seit 1455 nachweisbaren Tradition entstammend, ihren Wohnsitz nach Deutschland. Die daraus entstehende deutsche Abegg-Linie besetzte während der letzten 200 Jahre immer wieder Schlüsselstellungen und stellte neben Großkaufleuten herausragende Theologen, Professoren, Ärzte, Juristen und hohe Beamte. Die Abeggs galten als alte, ausgesprochen angesehene Patrizierfamilie.2 So ist der Großvater Wilhelm Abeggs einer der Väter der deutschen Strafrechtswissenschaft, Prof. Dr. Julius Abegg. Der Vater, Dr. Franz Abegg, war als Kommerz- und Admiralitätsrat Direktor der Deutschen Hypothekenbank und zugleich der Schatzmeister der Gesellschaft für Volksbildung gewesen.3 Die verwurzelte Heimat der Familie im Großbürgertum zeigt sich schlaglichtartig darin, dass Vater Franz Abegg bezeichnenderweise die ihm angebotene Erhebung in den erblichen Adelsstand „im Interesse der bürgerlichen Geschlechter“ mit Dank ablehnte; er fühlte sich dem liberalen Großbürgertum eng verbunden und verpflichtet.4 Wilhelm Abegg wurde als viertes Kind des Geheimen Admiralitätsrates Wilhelm Abegg sen. und seiner Frau Margarethe Friedenthal am 29. August 1876 geboren. Er *
Dieser Text erschien erstmals im Jahrbuch Einst und Jetzt, Band 56, 2011, S. 265 – 277. Wilhelm Abegg kann, betrachtet man seine Reformleistung aus Sicht der Verwaltung, als Schöpfer der deutschen Polizei bezeichnet werden. Der Begriff der Polizei – oder älter: Polizey – wurde bis in die Zeit der Weimarer Republik viel umfassender als heute verwendet. Zahlreiche Maßnahmen und Einrichtungen der hoheitlichen Eingriffsverwaltung wurden zunächst noch mit dem Polizeibegriff verbunden, so etwa die Baupolizei, die Gewerbepolizei, die Seuchenpolizei und andere. Diejenigen, die für die Sicherheit auf den Straßen verantwortlich waren, hießen dagegen Schutzleute. Erst unter Abegg verwandelten sich diese Schutzleute in Polizisten heutiger Prägung, die neben dem angestammten Gebiet der Verbrechensaufklärung die öffentliche Sicherheit im weitesten Sinne sicherstellen und im Übrigen die Beamten, die ihre vielen früheren Aufgaben wahrnehmen, nur noch im gegebenen Fall unterstützen. 2 „Der Mittag“, 1932, Nr. 190. 3 Zbinden, Karl, Staatssekretär a. D. Dr. Wilhelm Abegg, in: Corpszeitung der Hannovera, 1960/61, S. 31. 4 Ebd. 1
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hatte zwei ältere Brüder, die ebenfalls in Deutschland herausragende Stellungen errangen. Es sind Prof. Dr. Richard Abegg, der berühmte Physiker und Chemiker in Breslau, der als Bahnbrecher der Luftfahrt gilt, und Dr. Waldemar Abegg, der Regierungspräsident von Schleswig-Holstein. Beide Brüder sollten seinen weiteren Lebensweg noch an entscheidenden Stellen kreuzen. Nach dem erfolgreichen Besuch des Königlichen Wilhelmgymnasiums in Berlin5 studierte Wilhelm Abegg – wie sein Vater – Rechtswissenschaft in Straßburg, Göttingen und Berlin.6 Im Jahre 1896 wurde er zu Ostern in Göttingen im Corps Hannovera aktiv und erhielt dort im Dezember desselben Jahres das Burschenband; er war ein vorbildlicher Angehöriger seines Corps7 und hat später durch seine Schilderungen in der Corps-Zeitung der Hannovera mitgewirkt.8 Nach dem Ersten Staatsexamen in Göttingen im Jahre 1899 und der Promotion an der dortigen Universität im Jahre 1903 trat er 1905 als Regierungsassessor beim Landrat im oberschlesischen Waldenburg in den preußischen Staatsdienst ein.9 In diese Zeit fällt auch die Vermählung. Am 26. März 1904 heiratete Wilhelm Abegg Hildegard Hofmeister,10 die Tochter des Admirals Hofmeister, eines der ersten Kommandanten der Insel Helgoland.11 Seine Frau hat später an der Seite Wilhelm Abeggs im gesellschaftlichen Leben Berlins eine glanzvolle Rolle gespielt.12 Aus dieser Ehe sind ein Sohn und eine Tochter hervorgegangen. Selbst als älterer Alter Herr hat Abegg noch eine schneidige Säbelpartie gefochten,13 und als er später – zusammen mit seiner klugen und gewandten Frau – eine besonders eindrucksvolle Rolle im gesellschaftlichen Leben Berlins spielte,14 waren seine Corpsbrüder häufig Gäste im hochkultivierten Hause seiner Familie. Seine alte Alma Mater und sein Corps sollte Abegg während seiner Amtszeit als Staatssekretär im Jahre 1927 letztmalig besuchen.15
5 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.1.3. Auf die von Alhard Gelpke im In- und Ausland deponierten Materialen aus dem angeblichen „Abegg-Archiv“ wurde im übrigen als Quelle verzichtet, da diese Unterlagen überwiegend als Fälschungen betrachtet werden. Vgl. Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, hier: Bestandsgeschichte. 6 Archiv für politische Arbeit – Intern. Biogr. Archiv: 30. April 1931, in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 7 Rakenius, Wilhelm, bei: Heinrichs, in: Corpszeitung der Hannovera, 1960/61, S. 31. 8 Wälzholz, Ulrich, Generalindex der Corpsberichte der Hannovera zu Göttingen über die Semester Sommer 1878 bis Winter 1935/36, Nr. 81. 9 Leßmann, Peter: Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik, Düsseldorf, 1989, S. 90. 10 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.2.5. 11 „Der Mittag“, 1932, Nr. 190. 12 „Der Mittag“, 1932, Nr. 190. 13 Heinrichs, Kurt, Wilhelm Abegg, in: Corpszeitung der Hannovera, 1960/61, S. 31. 14 „Der Mittag“, 1932, Nr. 190. 15 Heinrichs, Kurt, Wilhelm Abegg, in: Corpszeitung der Hannovera, 1960/61, S. 33.
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Von 1907 bis 1912 war Abegg beim Regierungspräsidenten in Oppeln unter anderem als der stellvertretende Vorsitzende des Schiedsgerichts für die Arbeiterversicherung und als Justitiar der Abteilung für direkte Steuern, Domänen und Forsten tätig. Der engen Beziehung zu seinem Bruder Richard, dem Pionier der Luftfahrt, ist es wohl zu verdanken, dass er 1910 und 1911 zwei Patente als Freiballonführer erwarb,16 eine damals ganz außergewöhnliche Befähigung. Im Jahre 1913 wurde Abegg als Regierungsrat an das Polizeipräsidium in Berlin versetzt.17 Er hatte während seines Wehrdienstes bei den Straßburger Husaren gedient und war Reserveoffizier geworden.18 Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges leistete er Kriegsdienst und stieg bis zum damals außergewöhnlichen Dienstgrad eines Majors der Reserve auf.19 Er war unter anderem an der Ostfront eingesetzt und berichtete von dort über „Corpsstudenten im Januar 1917 in den Karpaten“.20 Im weiteren Verlauf des Jahres 1917 wurde er aber von der Front abkommandiert und damit beauftragt, die preußische Polizei zu reformieren.21 Zu diesem Zweck wurde er zusätzlich zu seiner Funktion beim Polizeipräsidenten in Berlin zum Leiter des Polizeibezirksamtes Berlin-Mitte/Schöneberg ernannt.22 Abeggs Auftrag zur Reorganisation der preußischen Polizei hatte seine Ursache in einer überlebten Struktur, welche im Kriege besonders auffiel. Die Polizeiorganisation in Preußen war aufgrund des Polizeiverwaltungsgesetzes aus dem Jahr 1850 geregelt. Danach bestand in 19 (Groß-)Städten eine staatliche Polizeiorganisation. In den anderen Städten tat eine kommunale Polizei in staatlichem Auftrag und unter staatlicher Aufsicht Dienst, während auf dem flachen Lande beim Landrat die Landjäger der Gendarmerie vorhanden waren. Die anderen deutschen Bundesstaaten orientierten sich mehr oder weniger am preußischen Vorbild.23 Im äußeren Erscheinungsbild stellte sich diese Polizei als die Schutzmannschaft dar; im Einzelnen war es der obrigkeitlich-gestrenge, aber auch menschliche Schutzmann mit Pickelhaube, Säbel und mit mehr oder weniger ausgeprägtem Bierbauch. Den Auftrag zur Reform und Rekonstruktion der Polizei konnte Abegg indessen zunächst nicht erfüllen. Denn während des Ersten Weltkrieges erfolgte unter dem Zwang der kriegerischen Umstände eine außerordentliche Spezialisierung und damit auch Schwächung der Polizei durch zahlreiche Aufgaben der Kriegswirtschaft 16
Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.2.2. 17 Leßmann, Schutzpolizei, S. 90. 18 Heinrichs, Kurt, Wilhelm Abegg, in: Corpszeitung der Hannovera, 1960/61, S. 31. 19 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Geschichte des Registraturbildners. 20 Kriegszeitung der Hannovera Nr. 14, S. 2 – 3. 21 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Geschichte des Registraturbildners. 22 Leßmann, Schutzpolizei, S. 90. 23 Abegg, Wilhelm (Hrsg.), Die Polizei in Einzeldarstellungen, Bd. 1, S. 114 – 115.
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und anderer Kriegsbedürfnisse.24 So war die Polizei durch die Bekämpfung von Schiebern, Schwarzhändlern und Kriegsgewinnlern vor völlig neue und ungewohnte Aufgaben gestellt. Als die deutschen Kriegsanstrengungen erschöpft waren und am 9. November 1918 die Republik ausgerufen wurde, verschwand der alte Schutzmann als das Sinnbild der bisherigen Obrigkeit einfach von der Straße. Fast alle Mitglieder der bisherigen Schutzmannschaft erschienen nicht mehr zum Dienst25 oder entfernten sich so schnell, wie es ihnen eben möglich war.26 Unter diesen Umständen übergab der inzwischen über 40 Jahre alte Regierungsrat Abegg das an sich stark besetzte und gut geschützte Berliner Polizeipräsidium am 10. November 1918 an Emil Eichhorn als den Bevollmächtigten des Vorstandes der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, USPD.27 Teile der USPD formierten sich später als Spartakisten und Kommunisten, während ein anderer Teil im Jahre 1922 zur SPD zurückkehrte.28 In Preußen und im Reich hatte sich mit dem Ende der obrigkeitsstaatlichen Schutzmannschaft ein Vakuum der Inneren Sicherheit gebildet. Um Sicherheit und Ordnung wenigstens einigermaßen zu gewährleisten, entstanden im November 1918 überall einerseits revolutionäre Sicherheitseinrichtungen in der Form verschiedener Sicherheitswehren29 und andererseits militärisch organisierte Freikorps.30 Die sich neu bildende Staatsautorität fasste diese „Selbstpolizeien“ dann zunächst zu einer „Sicherheitspolizei“ (Sipo) zusammen, welche überwiegend militärisch organisiert und ausgestattet war. Daneben bestand die kommunale Ordnungspolizei rudimentär weiter.31 Die Umstellung, Neuorganisation und Entflechtung dieser bewaffneten Organe der Inneren Sicherheit dieser Zeit ist nur schwer nachzuzeichnen.32 Es liegt aber eine gewisse Ironie darin, dass das revolutionäre Volk den altgedienten Schutzmann mit Pickelhaube und Säbel beseitigte, um sich dann einer Polizeimacht von jungen, waffenerprobten Mannschaften mit Maschinengewehren, Geschützen, Granatwerfern und Handgranaten gegenüberzusehen.33 Auch rein zahlenmäßig wurde die Sicherheitspolizei stark. Neben der Reichswehr in den Grenzen von 100.000 Mann betrug die Stärke der Sipo im Jahre 1920 allein in Preußen 60.000 Leute. 24
Ebd. Leßmann, Schutzpolizei, S. 12. 26 Leßmann, Schutzpolizei, S. 12. 27 Leßmann, Schutzpolizei, S. 17. 28 Der Große Brockhaus, Wiesbaden 1980, Bd. 18, S. 357. 29 Leßmann, Schutzpolizei, S. 21. 30 Abegg, Die Polizei, Bd. 1, S. 114 – 115. 31 Ebd. 32 Leßmann, Schutzpolizei, S. 14. 33 Helfritz, Hans, Die Entwicklung des öffentlichen Rechts in Preußen seit Inkrafttreten der neuen Verfassung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 14, 1926, S. 298, Anm. 3. 25
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Die sehr stark militärisch ausgeprägte innere und äußere Struktur der Sipo führte zu erheblichen Defiziten und machte sie letztlich ungeeignet zum Schutz der Inneren Sicherheit. Das erkannte man an den Folgen des Kapp-Putsches. Diese Episode vom 13. bis 17. März 192034 wurde von einem Corpsbruder Abeggs, dem damaligen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp,35 angeführt. Sie konnte im Wesentlichen durch einen vom Reichspräsidenten, dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten und der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion ausgerufenen Generalstreik abgewendet werden, der durch den Heidelberger Schwaben Ulrich Rauscher konzipiert und dann auch ausgerufen wurde.36 Der Putsch, der damit eigentlich eine Randnotiz blieb, führte aber im Ruhrgebiet zu einer Radikalisierung der Ruhrarbeiter, die schließlich am 21. März 1920 in einer Besetzung des Ruhrgebietes durch eine „Rote Ruhrarmee“ in einer Stärke von 100.000 Mann ihren Höhepunkt fand.37 Diese Besetzung des Ruhrgebietes konnte nur in schweren Kämpfen beendet werden,38 in deren Folge Misshandlungen, Folterungen und unzählige Morde des „weißen Terrors“ auftraten.39 Der preußische Innenminister Severing erkannte an diesen Abläufen sofort, dass militärähnliche Verbände als Garanten für eine innere Sicherheit nicht geeignet sind.40 Daher beauftragte er den erfahrenen, linksliberalen Regierungsrat Abegg am 17. August 1920 unter Ernennung zum Ministerialrat damit, eine neue Polizeitruppe zu schaffen, die nun „Schutzpolizei“ – Schupo – heißen sollte.41 Abegg, der Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) geworden war, verfasste sofort eine Denkschrift zur Neuordnung des Polizeiwesens und schlug vor, alle Zweige der Polizei zusammenzufassen42 und zu einer kräftigen Institution für eine republikanisch-bürgerliche Sicherheitspolitik zu formieren.43 Auf dieser Grundlage erfolgte eine Neuordnung der preußischen Polizei, die 1922 gesetzlich
34
Konnemann, Erwin / Schulze, Gerhard, Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch, München 2002, S. 135. 35 Der Vater des Putschisten, Friedrich Kapp, war Mitglied des Corps Suevia Heidelberg, was angesichts der Tatsache, dass derjenige, der den Putsch zu Fall brachte, demselben Corps angehörte, ein Licht wirft auf das Maß der Durchdringung der Gesellschaft, auf die damals die Corps blicken konnten; vgl. dazu: Verein der Alten Herren der Suevia zu Heidelberg (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Corps Suevia zu Heidelberg und zur Zeitgeschichte aus der Feder Heidelberger Schwaben, Heidelberg 2010, S. 60. 36 Verein der Alten Herren der Suevia zu Heidelberg (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Corps Suevia zu Heidelberg, S. 61. 37 Alexander I., d. h. Alexander, Thomas, Carl Severing – Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992, S. 120. 38 Ebd., S. 122. 39 Konnemann / Schulze, Kapp-Putsch, S. 1031. 40 Alexander I., Severing, S. 130. 41 Leßmann, Schutzpolizei, S. 90. 42 Leßmann, Schutzpolizei, S. 92. 43 Leßmann, Schutzpolizei, S. 93.
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geregelt wurde.44 Die anderen deutschen Länder orientierten sich am preußischen Beispiel mehr oder weniger. Eine erste Bewährungsprobe des neuen Polizeikonzeptes von Abegg zeigte sich beim Mitteldeutschen Aufstand im Frühjahr 1921. In den riesigen Industriekomplexen bei Halle, Merseburg, Leuna und Mansfeld herrschte seit dem Jahre 1919 eine ununterbrochen nervöse und explosive Stimmung. Häufig kam es zu wilden Streiks, zu umfangreichen Diebstählen, zu Plünderungen und zu erheblichen Sachbeschädigungen sowie schwerwiegenden Sabotagen. Zudem hatten sich Gruppierungen und Banden illegal bewaffnet.45 Um einen Einmarsch der Reichswehr überflüssig zu machen, wurde die eben erst reorganisierte preußische Polizei beauftragt, dieses Gebiet zu befrieden. Die sich im mitteldeutschen Gebiet daraufhin entwickelnden Kämpfe endeten mit einem völligen Fehlschlag der kommunistischen Taktik. Besonders wichtig war es aber, dass die gesamte Aktion – anders als beim Ruhrkampf – ohne große Opfer und ohne Übergriffe gegenüber den Bürgern ablief. Abegg war es gelungen, eine erfolgreiche und maßvoll handelnde Polizei zu schaffen, welche den Namen Schutzpolizei wirklich verdiente; die anderen deutschen Länder übernahmen nun auch formell Abeggs demokratisch-republikanische Polizeikonzeption.46 Nachdem Abegg bereits am 1. November 1920 zum Leiter der Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium bestellt worden war,47 kursierten vorübergehend nach der Bildung eines rechtbürgerlichen Kabinetts einige Gerüchte, Abegg sollte abgesetzt werden.48 Doch nach einer neuen Regierungsbildung unter Beteiligung von SPD und DDP konnte Abegg im Jahre 1923 zum Ministerialdirektor befördert werden. Als die Gewaltaktionen linksextremer Gruppen etwas nachließen, begann nun der Kampf gegen die zunehmende Gewaltbereitschaft der rechtsextremen Verbände. Nach der Ermordung Rathenaus am 24. Juni 1922 hieß es: „Der Feind steht rechts!“49 Fortan widmete sich Abegg weiter dem inneren und äußeren Aufbau der preußischen Polizei und veröffentlichte dazu ein umfangreiches Schrifttum, worunter sein Werk „Aufbau und Aufgaben der Polizei“50 eine herausragende Stelle einnimmt. In diesen Jahren einer relativen inneren Ruhe und eines bescheidenen Wohlstandes – der Zeit der „Goldenen Zwanziger Jahre“ – war es Abegg auch vergönnt, im Berliner gesellschaftlichen Leben mit seiner Frau eine eindrucksvolle Rolle zu spielen.51 Der 44
Alexander I., Severing, S. 130. Alexander I., Severing, S. 135. 46 Ebd. 47 Leßmann, Schutzpolizei, S. 91. 48 Leßmann, Schutzpolizei, S. 138. 49 Leßmann, Schutzpolizei, S. 140. 50 Abegg, Wilhelm, Aufbau und Aufgaben der Polizei, Berlin 1925. 51 „Der Mittag“, 1932, Nr. 190.
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nationalen und internationalen Öffentlichkeit präsentierte er im Jahre 1926 in Berlin auf der „Großen Polizeiausstellung“ das neue preußische Polizeikonzept sehr überzeugend und medienwirksam. Bei dieser Gelegenheit wurde ihm zu Ehren auch ein Marsch der Polizei gewidmet.52 Am 10. Oktober 1926 wurde Abegg dann zum Staatssekretär und Vertreter des Preußischen Innenministers ernannt.53 Im selben Jahr war Dr. Joseph Goebbels durch Hitler zum Gauleiter der NSDAP von Berlin bestellt worden; mit diesem fanatischen Mann wurde nun der physische und psychische Kampf der Nationalsozialisten um die Macht in Berlin und Preußen immer stärker und immer verbissener. Aufgrund seiner zutiefst republikanisch-demokratischen Überzeugungen verteidigte Abegg die Errungenschaften der Weimarer Republik mit aller Kraft gegen die Angriffe der Nazis. Die nur für den Dienstgebrauch bestimmten Erkenntnisse seiner politischen Polizei überzeugten ihn früh von den bedrohlichen und gefährlichen Plänen Hitlers und dessen Kampfgefährten. Doch wegen dieser Einstellung wurde Abegg auch von vielen Menschen angefeindet. Zahlreichen seiner Zeitgenossen war noch immer das Kaiserreich, welches Abeggs Corpsbruder Bismarck gegründet hatte, ein Vorbild geblieben;54 aber Außenstehenden konnten die vertraulichen Erkenntnisse Abeggs über die NSDAP natürlich nicht mitgeteilt werden. Dieses Problem des sogenannten Quellenschutzes ist bis auf die heutigen Tage noch nicht gelöst worden. Noch im Jahre 1929 glaubte zwar der preußische Innenminister, die Festigung der Staatsmacht sei durch den Ausbau der Polizei zu einem Abschluss gelangt.55 Doch den Raufhändeln der verfeindeten politischen rechts- und linksextremen Lager konnte die Polizei immer weniger angemessen begegnen. Diese Entwicklung fand im „Blutmai 1929“ der KPD in Berlin einen ersten Höhepunkt und wurde als „preußische Polizeikatastrophe“ beurteilt.56 Ein Anfang vom Ende zeigte sich dann auch in Thüringen, wo seit dem 23. Januar 1930 die NSDAP mit dem Innenminister Frick die Befehlsgewalt über die Polizei und damit auch Zugang zu Geheimsachen erhielt. Zwar wurden Informationen und Reichszuschüsse zur dortigen Polizei zunächst eingestellt, doch das ging nur für eine vorübergehende Zeit und ließ bereits einen Vorgeschmack auf die kommenden Ereignisse spüren.57 Der auf die Straße verlagerte politische Kampf hinterließ eine Blutspur, die sich von Monat zu Monat verbreiterte.58 Im Jahre 1931 kamen al52 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.3. 53 Leßmann, Schutzpolizei, S. 91. 54 Heinrichs, Kurt, Wilhelm Abegg, in: Corpszeitung der Hannovera, 1960/61, S. 31. 55 Leßmann, Schutzpolizei, S. 260. 56 Leßmann, Schutzpolizei, S. 274. 57 Alexander I., Severing, S. 179. 58 Leßmann, Schutzpolizei, S. 288.
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lein in einem Monat bei politischen Kämpfen 29 Personen ums Leben, diese Zahl steigerte sich im Jahre 1932 auf monatlich 99 Tote. Diese brutalen Gewalttätigkeiten der Straße wurden flankiert und ergänzt durch intellektuelle Angriffe. Am 29. November 1930 stand Abegg in einem Beleidigungsprozess vor Gericht, den Senatspräsident Grützner angestrengt hatte. Abegg obsiegte zwar,59 aber es folgte alsbald eine Strafanzeige gegen ihn wegen angeblicher Mithilfe bei der Veröffentlichung der Röhm-Briefe homosexuellen Inhalts an den Berliner Arzt Dr. Heimsoth, geschrieben 1932 und 1933.60 Dieses Verfahren wurde zwar eingestellt, belastete Abegg mental natürlich doch. Die preußische Landtagswahl im Frühjahr des Jahres 1932 brachte für die bisherige bürgerliche Regierungskoalition den Verlust der parlamentarischen Mehrheit. Abeggs Partei, die DDP, schrumpfte beispielsweise im Reichstag von ursprünglich 75 Sitzen auf 20 Sitze. Da im preußischen Landtag die rechts- und linksextremen Parteien auch keine Mehrheit zustande brachten, arbeitete die bisherige Regierung geschäftsführend weiter, verlor aber zusehends an Rückhalt und Autorität.61 Die immer deutlicher werdende Unfähigkeit des preußischen Kabinetts, mit fester Hand die mitten in der Bürgerkriegslage stehende Schutzpolizei zu führen, veranlasste Abegg zu einem ungewöhnlichen Schritt, welcher nur durch die immer stärker um sich greifende Orientierungslosigkeit in der preußischen obersten politischen Führung zu erklären ist.62 Abegg sprach am 4. Juni 1932 mit den kommunistischen Abgeordneten Torgler und Kasper und appellierte an sie, den Terror gegen die SPD und gegen den Staat zu beenden. Der anwesende Regierungsrat Diels, eine umstrittene Persönlichkeit, dem Abegg vertraut hatte, informierte die Reichsregierung über das Gespräch. Diels sollte später im Dritten Reich eine steile Karriere machen,63 scheiterte aber letztlich auch dort an seinen charakterlichen Mängeln. Es wird manchmal von dritter Stelle behauptet, Diels verdankte seine Position im preußischen Innenministerium auch dem Umstand, dass er „Angehöriger eines sehr einflussreichen studentischen Corps“ gewesen sei.64 Diese Darstellung ist aber nur mit Einschränkungen richtig. Diels war zwar Mitglied des Corps Rhenania Straßburg zu Marburg.65 Diese gesellschaftliche Beziehung war für seine Karriere aber nicht ausschlaggebend, denn auch seine Widersacher sprachen von seinem Intellekt, sei59 Archiv für politische Arbeit – Intern. Biogr. Archiv, 30. April 1931, in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. 60 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I HA Rep 84 a, Justizministerium, Nr. 52.606. 61 Leßmann, Schutzpolizei, S. 351. 62 Meldung des Wolffschen Telegraphenbüros vom 25. Juni 1932. 63 Göring, Hermann, Aufbau einer Nation, Berlin 1933, S. 88. 64 Hagen, Walter, Die geheime Front, Linz 1950, S. 16. 65 Kösener Corpslisten, 1930.
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nem Fleiß und seinem Ehrgeiz. Wenn er in den späteren Unterlagen der Corpsstudenten nicht mehr erwähnt wird66 67, so ist dafür das Ausscheiden seines Corps aus dem Kösener SC Verband ursächlich. Später war Diels als Regierungspräsident von Köln, danach als Regierungspräsident von Hannover sogar für die NS-Führung, welche ihm viel verdankte, „untragbar“ geworden.68 Er verstarb im Jahre 1957 angeblich bei einem Jagdunfall. Bis heute ranken sich um dieses Ereignis die unterschiedlichsten Gerüchte. Einige sehen darin einen Racheakt der Verfolgten des Naziregimes, denn Diels war für einige Zeit auch Chef der Gestapo gewesen. Andere behaupten, frühere SS-Führer hätten in Diels einen lästigen Mitwisser oder Verschwörer am 20. Juli 1944 auf diese Weise zum Schweigen gebracht. Doch kehren wir nach diesem kleinen Exkurs in das Jahr 1932 zurück. Die Nachricht von dem verratenen Gespräch Abeggs vom 4. Juni 1932 wurde in Berlin von Büro zu Büro weitergereicht. Je weiter die Abegg-Story kam, umso brisanter hörte sie sich an.69 Abegg wurde als „schwarz-roter Kulissenschieber“ bezeichnet;70 es wurde ihm vorgeworfen, aus öffentlichen Geldern ein „antifaschistisches Komitee“ unterhalten zu haben.71 Schließlich wurde sogar fälschlich behauptet, er habe über eine Vereinigung von KPD und SPD verhandelt.72 Aufgrund dieser AbeggMär hielt die Reichsregierung die Bekämpfung des Kommunismus in Preußen für unzureichend und die preußische Autorität für stark erschüttert. Man dachte bereits daran, die preußische Regierung durch einen Reichskommissar zu ersetzen. Doch der „Fall Abegg“ reichte als Begründung noch nicht aus.73 Da ereignete sich am 17. Juli 1932 der „Altonaer Blutsonntag“. Ihn konnte der ältere Bruder, Dr. Waldemar Abegg, der Regierungspräsident von Schleswig-Holstein, nicht verhindern, da die ihm unterstellten Polizeiführer – entgegen seinen eindeutigen Weisungen – am fraglichen Tage dem Dienst einfach fernblieben. Infolge der Straßenkämpfe in Altona kamen 18 Menschen ums Leben, über 100 Personen wurden verletzt.74 Per Rundfunk wurde daraufhin am 19. Juli 1932 der Bevölkerung mitgeteilt, die preußische Polizei habe versagt. Am nächsten Tage erfolgte der „Preußenschlag“, durch den die preußische Regierung abgelöst und durch einen Reichskommissar ersetzt wurde.75 Hatte Abegg dagegen noch mit seinen vorzüglich ausge66
Kruse, Hermann, Kösener Corpslisten 1996, Nürnberg 1998, S. 1330. Fernmündliche Auskunft des VAC-Büros Bad Kösen, Thomas Seeger. 68 Hagen, Geheime Front, S. 18. 69 Höhne, Heinz, Warten auf Hitler, in: „Der Spiegel“, Nr. 4, 1983, S. 140. 70 Rostocker Zeitung 25. 08. 1932. 71 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich, Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.5. 72 Höhne, Heinz, Warten auf Hitler, in: „Der Spiegel“, Nr. 4, 1983, S. 140. 73 Leßmann, Schutzpolizei, S. 357. 74 Ebd., S. 362. 75 Alexander II, d.i.: Alexander, Thomas, Carl Severing – ein Demokrat und Sozialist in Weimar, Frankfurt/M., 1996, S. 1066. 67
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suchten, hervorragend bewaffneten und in Straßenkämpfen gut geschulten Polizeioffizieren und -mannschaften aktiven Widerstand leisten wollen,76 so wurde er bereits am 21. Juli 1932 in den einstweiligen Ruhestand versetzt.77 In der Folgezeit erschienen über Abegg, seine Ablösung und deren Gründe zahlreiche Presseveröffentlichungen in ganz Deutschland,78 die sich teils in gehässiger, teils in objektiver Weise mit seiner Person und seinem Wirken befassten. Er selbst trat auch nach seiner Ablösung als Staatssekretär immer wieder öffentlich den Bestrebungen der NSDAP entgegen und warnte noch am Tage der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler in aller Öffentlichkeit vor den Gefahren des Nationalsozialismus.79 Da ihm und seinen Angehörigen mehrfach anonym die „Liquidierung“ angedroht worden war,80 flüchtete er mit seiner Familie am 28. Februar 1933, unmittelbar nach dem Brand des Reichstages, vor dem Terror des NS-Regimes in die Schweiz. Dort wurde ihm in Zürich am 29. April 1933 das Schweizer Bürgerrecht verliehen,81 dessen Erwerb er bereits seit 1930 von Berlin aus betrieben hatte.82 Als Patriot hat Abegg seine Entwurzelung aus Deutschland nie verwunden.83 Ein besonders trauriges Kapitel war es, dass die Geheime Staatspolizei am 23. November 1933 die zunächst von Abegg in Berlin untergestellten Möbel und sonstigen beweglichen Sachen zugunsten des preußischen Staates einzog und erst auf energische Gegenvorstellungen des älteren Bruders Dr. Waldemar Abegg am 8. Februar 1934 wieder herausgab.84 In Zürich ließ sich Abegg von 1933 bis 1949 als Rechtsanwalt für Internationales Recht nieder und konnte so – immerhin bereits in fortgeschrittenem Lebensalter – sich und seiner Familie den nötigen Lebensunterhalt sichern. Daneben war er aber auch bald der zuverlässigste Berater mehrerer Politiker in der Schweiz. Diese zentralisierten dort einen politischen Nachrichtendienst zu Händen von linksbürgerlichen Kreisen der deutschen Hitler-Opposition und arbeiteten eine Reihe von Denkschriften aus, um Hitler zu stürzen.85 76
„Volksblatt“, 20. Oktober 1951, in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-EbertStiftung, Bonn. 77 Alexander, Carl Severing, S. 1066. 78 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.5. 79 „Volksblatt“, 20. Oktober 1951, in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-EbertStiftung, Bonn. 80 Zbinden, Corpszeitung Hannovera (wie Anm. 2), S. 32. 81 Ebd. 82 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.4. 83 Zbinden, Corpszeitung Hannovera (wie Anm. 2), S. 31. 84 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.6. 85 Nachruf für Dr. Abegg, in: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
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Ein gewisser Trost mag es für Abegg in diesen schweren Zeiten gewesen sein, dass Göring und Himmler den Wesensgehalt der von ihm geschaffenen preußischen und deutschen Polizei unverändert ließen. Mit der SA, der SS, der Gestapo und dem Sicherheitsdienst (SD) schufen sich die Nationalsozialisten genügend andere Einrichtungen und Organe, um die Macht zu bewahren. Bei der deutschen Polizei wurden zwar die Organisationen und Uniformen geändert, die Aufgaben und das innere Gefüge ließ man aber überwiegend in Ruhe. Nun unterstützte Abegg aus der Schweiz jede Art von Widerstand gegen Hitler. Er bereitete die Schaffung der Deutschen Volksfront vor, war Vorsitzender der Gesellschaft für abendländische Kulturpolitik, Mitglied der Gesellschaft der Freunde freier deutscher Kultur und des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, Gründungsmitglied und Präsident der Bewegung freies Deutschland, Redaktionsmitglied des Publikationsorgans Freies Deutschland sowie entscheidend tätig bei Hilfsaktionen für Flüchtlinge im Zweiten Weltkrieg.86 Sogar einen Bombenanschlag auf Hitler und andere Nazigrößen soll Abegg von der Schweiz aus geplant haben. Doch da die vergleichbaren Vorhaben sich durch Militärangehörige hätten besser durchführen lassen, soll Abegg die endgültige Verwirklichung zurückgestellt haben.87 Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung ist allerdings bis heute nicht nachprüfbar. Eine Tatsache ist hingegen, dass wegen der verschiedenen Tätigkeiten gegen das Hitler-Regime ihm und seiner Ehefrau am 29. April 1941 die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde.88 Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zusammenbruch der NSHerrschaft knüpfte Abegg erste neue Kontakte mit den alten Weggefährten. So besuchte ihn im Jahre 1947 sein früherer Minister Severing89 und Abegg versuchte bald, am Wiederaufbau Deutschlands mitzuwirken. Aber er erlitt tragischerweise mit über 70 Jahren im Herbst 1948 auf einer Vortragsreise durch Deutschland einen Schlaganfall, von den er sich nicht mehr vollständig erholen konnte.90 Im Jahre 1951 wurde Abegg wieder nach Deutschland eingebürgert, sein Pensionsanspruch wurde anerkannt. Auch ein Briefwechsel mit Bundespräsident Theodor Heuss datiert aus jener Zeit.91 Abegg hatte schon seit 1948 im Ludwig-Wilhelm-Stift in Baden-Baden versuchen müssen, sich von den Folgen seines Schlaganfalles zu erholen, was ihm nicht mehr gelingen sollte. So schloss er dort am 18. Oktober 1951 nach einem Leben voller Kampf und voller Aufgaben für immer die Augen in einer 86
Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, S. 1. Duffy, James P. / Ricci, Vincent L., Target Hitler, The plots to kill Adolf Hitler, Westport (USA) und Oxford (UK) 1992, S. 23. 88 Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, 29. April 1941, Nr. 98. 89 Alexander, Carl Severing, S. 252. 90 Zbinden, Corpszeitung Hannovera (wie Anm. 2), S. 32. 91 Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 1.8. 87
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Zeit, als seine Heimat Deutschland nach der Katastrophe von 1945 wieder begann, Tritt zu fassen.92 In den Medien des In- und Auslandes, von zeitgenössischen Entscheidungsträgern und Geistesgrößen aus Kultur, Wirtschaft und Politik93 gedachte man aus Anlass seines Todes noch einmal Wilhelm Abeggs als eines deutschen Widerstandskämpfers der ersten Stunde94 und eines Patrioten aufrechtester Gesinnung. Was bleibt uns Nachgeborenen von Abeggs Lebensleistung? Er schuf die preußisch-deutsche Polizei, deren Gedanken und Formen sich heute alle deutschen Bundesländer angeschlossen haben. In ihren weltweiten Auslandseinsätzen hat diese deutsche Polizei nach dem Urteil des Generalsekretärs der Vereinten Nationen nachgewiesen, dass sie – was Ausbildung, Ausrüstung, Einsatzwillen und Bürgerfreundlichkeit angeht – zu den besten Sicherheitsorganisationen der Welt gehört. Diesen hervorragenden Standard verdanken wir der Arbeit Wilhelm Abeggs. Ungleich wichtiger ist aber die Wirkung seiner Persönlichkeit. Abegg hat gezeigt, dass der schneidige Corpsstudent, der elitäre Reserveoffizier und der aristokratische Patrizier durchaus politisch links stehen und republikanisch-demokratisch denken, handeln und kämpfen kann. Sein selbstloser und mutiger Einsatz für diese Ideale sollte der Verantwortungs- und Leistungselite in Gegenwart und Zukunft ein Vermächtnis sein.
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Zbinden, Corpszeitung Hannovera (wie Anm. 2), S. 31. Archiv für Zeitgeschichte, Zürich: Nachlass Dr. jur. Wilhelm Abegg, Findmittel Ziff. 4. 94 „Baseler Nationalzeitung“, 20. November 1951.
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„Zu aufrecht und offen, um seine Gesinnung zu verbergen“ – Wilhelm v. Arnim-Lützlow Von Henning Aretz Nicht hingerichtet und nicht überlebt – das ist, wie der Weg Wilhelm v. Arnims zeigt, keine günstige Konstellation für das Erinnern der Nachwelt, insbesondere, wenn zusätzlich alle persönlichen Hinterlassenschaften verbrannt sind. In den Nachlässen und aufgezeichneten Erinnerungen der Mitstreiter in der Bekennenden Kirche, die Wilhelm v. Arnim hatte, lassen sich aber doch beeindruckende Spuren des ernsten und mutigen, tätigen und tiefgläubigen Mannes finden; sie tragen diese Skizze inhaltlich. 1879 in Züsedom in der Uckermark in die alte brandenburgische Familie der Arnims hineingeboren, schien für Wilhelm v. Arnim, den ältesten Sohn des Bonner Preußen Carl v. Arnim,1 königlich preußischer Kammerherr und Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses, ein klarer Lebensweg vorgezeichnet. Mit sechs Geschwistern und später sieben Kindern mit seiner – schon früh verwaisten – Ehefrau Margarethe hat Wilhelm den familiären Teil dieses Lebensmusters in reichem Maße erfüllt. Auch das Jurastudium in Heidelberg und die Aktivität bei Saxo-Borussia2 in den Jahren 1900 bis 1902, darin zweimaliger Erstchargierter und dazu ein Semester als Fuchsmajor,3 passen zu den Erwartungen an einen jungen Mann, der im preußischwilhelminischen Umfeld seiner Zeit Fideikommissherr werden wird wie Wilhelm v. Arnim auf Lützlow bei Gramzow im Kreis Prenzlau in der Uckermark. Im Corps war er ansprechbar und leistungsbereit; im Wintersemester 1903/04 und dann nochmals im Sommersemester 1910 ließ er sich noch einmal reaktivieren. Eine Corpsgeschichte der Heidelberger Sachsenpreußen, die im Jahre 1958 verfaßt wurde, vermerkt über ihn: „Mit eiserner Disziplin herrschte Wilhelm v. Arnim und führte spartanische Einfachheit ein. Im SC genoß er große Autorität und spielte schon während seiner Aktivität eine beachtliche Rolle bei den Verhandlungen des Kösener Kongresses, auf dem er Heidelberg in späteren Jahren noch mehrmals vertrat. Unter seiner Führung wurden im Winter 1901/02 mehrtägige Ausflüge auf den Feldberg unternommen, um
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Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961 (künftig: KCL), Nr. 9 – 540. KCL, Nr. 66 – 1096. 3 Ebd. 2
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dem neuen Sport des Skilaufens zu huldigen.“4 1910 war er Vorsitzender des oKC,5 also schon als Corpsstudent kein Mitläufer. Wilhelm v. Arnim war und blieb ein Mann der Tat, typisch in seiner Zeit. Und selbst der Tod – durch eine Fliegerbombe bei einem der ersten schweren Luftangriffe auf Berlin am 23. November 1943, zusammen mit seiner Ehefrau und mehr als 60 Todesopfern in einem Luftschutzkeller – ist in jener Zeit leider nichts Außergewöhnliches gewesen. Was für uns Heutige – selbst für seinen Enkel, den Verfasser – eher eine amüsierende Anekdote ist, war im jungen deutschen Kaiserreich etwas ganz Besonderes und vermeintlich Prägendes. Wilhelms Mutter Sophie, geborene Gräfin v. Schwerin, war nach ihrer Schulzeit Hofdame bei der Kaiserin Augusta gewesen. Die Kaiserin ließ sie angeblich nur ungern und jedenfalls mit dem Angebot, Patin für das erste Kind zu werden, in den Ehestand ziehen. Als im Juli 1877, neun Monate und eine halbe Woche nach der Hochzeit, Tochter Marie Luise6 geboren wurde, trauten sich Carl und Sophie nicht, das Angebot anzunehmen, hatten vielleicht auch nicht ganz an seine Ernsthaftigkeit geglaubt. Aber die Kaiserin hatte es ernst gemeint! Sie gratulierte, erinnerte an ihr Anerbieten und bestand darauf, nun aber beim zweiten Kinde Patin zu werden. Und das wurde dann der am 27. Februar 1879 geborene Wilhelm – ein Patenkind der Kaiserin. Eine unfallbedingte Hüftverletzung aus Kindertagen – Jahre später durch einen erneuten Unfall verschlimmert, der das Knie des gesunden Beines verletzte – hinterließ eine bleibende körperliche Behinderung. Sie gestattete Wilhelm zwar das Fechten und die führende Teilnahme an Skiausflügen, nicht aber, Soldat zu werden. Er war ein geschätzter und bei Jagden gefragter Hornbläser.7 Seine Tochter schildert den Gutsherrn als „geachtet und beliebt, letzteres besonders, weil er mit den Leuten Platt sprach“.8 Wilhelms Sport wurde das Gespannfahren, das er aber im Zuge der wirtschaftlichen Krise der Landwirtschaft in den zwanziger Jahren aufgeben musste. In Lützlow wuchs die Familie, die sieben Kinder kamen zwischen 1912 und 1924 auf die Welt. Aber die wirtschaftlichen und auch die schulischen Verhältnisse führten zu dem Entschluss, 1926 das Gut zu verpachten und mit der großen Familie 130 Kilometer nach Berlin-Wannsee umzuziehen. Auch von dort aus nahm Wilhelm seine Verpflichtungen als Kirchenpatron in Lützlow ernst, er fuhr regelmäßig zu den Gemeindekirchenratssitzungen. Wenn er richtig gezählt hat, ist er schon im Alter von 18
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Brand, Heinz-Adolf v. (Bearb.), Beiträge zur Geschichte der Saxo-Borussia zu Heidelberg, Heidelberg 1958 (Selbstverlag). 5 Witzleben, Heinrich Graf v. (Bearb.), Mitgliederverzeichnis der Saxo-Borussia zu Heidelberg 1820 – 1930, Heidelberg, 1930. 6 Marie-Luise v. Arnim-Lützlow sollte später Freifrau v. Rosenberg und Mutter des noch späteren Saxo-Borussen-EM Franz-Adalbert Freiherr v. Rosenberg, KCL, Nr. 66 – 1321, werden. 7 Aretz, Gisela (eine Tochter Wilhelms und Mutter des Verfassers), Mein Leben, unveröff. Manuskript, Gummersbach 1985, S. 3. 8 Aretz, Mein Leben, S. 5.
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Jahren Kirchenpatron in Lützlow geworden.9 Es ist aber möglich, dass er sich hier um zehn Jahre verrechnet haben könnte. Nebenberuflich war er übrigens erwerbstätig als Redakteur der Zeitschrift „Deutsche Jagdzeitung“. Wilhelms Ehefrau Margarethe war nicht nur auch eine – nicht mit ihm verwandte – geborene v. Arnim, sie war auch eine Schwester von Detlev v. Arnim-Kröchlendorff, dem Vorsitzenden des Verbandes der Patrone evangelischer Kirchen der Mark Brandenburg, Mitglied des Reichstages10 und Kommendator der Brandenburgischen Provinzialgenossenschaft des Johanniterordens. Detlev und Margarethe waren eng verwandt mit dem Reichsgründer und sogenannten Eisernen Kanzler Otto v. Bismarck,11 nämlich Enkelkinder von Bismarcks geliebter Schwester Malwine. Und Detlev hatte acht Jahre vor der Hochzeit von Wilhelm und Margarethe Wilhelms jüngere Schwester Bertha geheiratet! Es gab nun also zwei über Kreuz verheiratete Geschwisterpaare, die Ehepartner zwar jeweils nicht verwandt, aber alle geborene v. Arnim, und beide Paare bekamen jeweils sieben Kinder. Sie bezeichneten sich lebenslang als Vettern und Cousinen nicht ersten, sondern „halbten“ Grades, weil sie nicht nur zwei gemeinsame Großeltern hatten, so, wie Cousinen und Vettern ersten Grades haben, sondern derer vier. Ein Sohn von Detlev, Herbert, wurde Heidelberger Sachsenpreuße12 und – wie sein Rosenberg-Vetter13 – auch EM.14 Die Familie v. Arnim-Lützlow traf eine Reihe harter Schicksalsschläge. Von den sieben Kindern kam der jüngste, Henning, 1936 mit elf Jahren durch einen Verkehrsunfall ums Leben, die älteste Tochter Rosemarie fiel 1942 dem Euthanasieprogramm „T4“ der Nationalsozialisten zum Opfer, Sohn Manfred fiel ebenfalls 1942 und der älteste Sohn Otto15 1943, beide in Russland. So überlebten nur drei Kinder den Krieg, dann aber auch das Jahrhundert. – Von Wilhelms zwölf Enkelkindern, davon elf Enkelsöhnen, ist ihm in ein Corps nur der Verfasser nachgefolgt. Dasselbe gilt für Wilhelm v. Arnim, der im Übrigen Großvater des Verfassers ist, als Rechtsritter des Johanniterordens. 9 Vgl. dazu: Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Best. 50/652; leider ohne Unterschrift, aber in seiner markanten Handschrift schreibt Wilhelm v. Arnim am 5. Oktober 1934 für den Bruderrat der Bekennenden Kirche Berlin-Brandenburg, Abtlg. Mark Brandenburg, an den Pfarrer i. R. Ernst Althausen: „Ich habe als in den Gemeindekirchenrat Lützlow und Hohengüstrow eingetretener Patron 37 Dienstjahre. Die Wesensart märkischer Landgemeinden behaupte ich einigermaßen gut zu kennen.“ 10 1930 wurde er für die deutschnationale Volkspartei in das Parlament gewählt. 11 KCL, Nr. 42 – 387. 12 KCL, Nr. 66 – 1473. 13 Vgl. Anm. 6. 14 Ehrenmitglied – ein besonders treuer und verdienstvoller Corpsbruder. 15 Otto v. Arnim war 1935 Fuchs bei Saxo-Borussia, als das Corps zwangssuspendiert wurde, und ist im Urteil des Akademischen Disziplinargerichts der Universität Heidelberg vom 3. Juli 1935 als Bestrafter aufgeführt. Lucius, Robert v. (Hrsg.), Weiß-Grün-SchwarzWeiß. Beiträge zur Geschichte der Saxo-Borussia zu Heidelberg, Band 2, 1934 – 2008, Heidelberg 2008, S. 231.
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Die Quellenlage zum Leben Wilhelm v. Arnims ist unbefriedigend. Wo wir Quellen, idealerweise Briefe oder Vorträge bräuchten, um seinen Weg in die Bekennende Kirche und schließlich auch in die Keller der Gestapo nachzugehen und zu verstehen, sind wir leider auf einzelne Zeugnisse verwiesen, die Wegbegleiter und verdienstvolle Wissenschaft zusammengetragen haben.16 Gesichert ist, dass Wilhelm und sein gleichaltriger Schwager Detlev v. Arnim nach der Ersten Freien Synode der Mark Brandenburg vom 7. März 1934 in Dahlem in den Provinzialbruderrat dieser Kirchenprovinz gewählt wurden und als Mitglieder des Bruderrates als Synodale an der Barmer Bekenntnissynode vom 29. bis 31. Mai 1934 in Barmen teilnahmen. Wilhelm v. Arnim gehörte zudem dem altpreußischen Bruderrat an.17 Im maschinenschriftlichen Nachruf des Brandenburger Bruderrates aus den letzten Novembertagen 1943 heißt es undatiert, aber klar: „Seit den Anfängen der großen kirchlichen Kämpfe hat Herr von Arnim-Lützlow in den Reihen der Bekennenden Kirche gestanden. Was ihn dazu führte, war sein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein für die evangelische Kirche, der er sich als Christ und als Patron seiner angestammten Gemeinde verpflichtet fühlte.“18 Die auf der Bekenntnissynode 1934 beschlossenen sechs „Barmer Thesen“ mit ihren berühmten Bekenntnis- und Verwerfungssätzen sind in ihrer frühen Klarheit und Entschiedenheit bis heute eindrucksvoll und z. B. in der Evangelischen Kirche im Rheinland Grundlage der Ordination einer und eines jeden jungen Geistlichen. Zitiert seien hier zwei Sätze aus der Ersten und der Fünften Barmer These: - „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ - „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“ Wilhelm v. Arnim hatte innerhalb der Bekennenden Kirche das Amt der Stellenbesetzungen inne; so öffnete er vielen jungen bekenntniskirchlich orientierten Geistlichen den Weg in das Pfarramt. In seine eigene Gemeinde in Lützlow berief er 1935 Pfarrer Fritz Treffner, einen Mann der Bekennenden Kirche – nicht unbedingt im Einvernehmen mit dem Gemeindekirchenrat. Hohrmann zitiert einen Eintrag in die Pfarrchronik 1936, dass von den anwesenden Mitgliedern des Gemeindekirchenrates fünf der Bekennenden Kirche angehört hätten, in dem Gremium jedoch generell auch Gegner der Bekennenden Kirche vertreten waren.19 16 Im Folgenden wird insbesondere zitiert aus: Hohrmann, Lilian, Brandenburgische Kirchenpatrone in der NS-Zeit, Berlin 2005; außerdem: Arnim, Hans v., Wilhelm von ArnimLützlow, in: Niemöller, Wilhelm (Hrsg.), Lebensbilder aus der Bekennenden Kirche, Berlin 1949, S. 16 – 20. 17 Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 99. 18 Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Best. 50/26, Bl. 30. 19 Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 102.
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Von Berlin-Wannsee zog die Familie 1938, als die meisten Kinder aus dem Haus waren, in eine Wohnung am Hansaufer an der Spree gegenüber dem Tiergarten, also viel zentraler gelegen. Um diese Zeit wuchs der Verfolgungsdruck. Vor 1938 konnten die Mitglieder der Bekennenden Kirche noch relativ gut in Gemeindehäusern und kirchlichen Räumlichkeiten zusammenkommen. Nun aber verstärkten sich Terror, Telefonabhörungen und Hausdurchsuchungen, und die verkehrsgünstig gelegene Arnimsche Wohnung wurde häufiger Ort für Zusammenkünfte. Zu den Teilnehmern zählten der ehemalige Generalsuperintendent der Kurmark, Otto Dibelius, Kurt Scharf, Hans-Joachim Iwand und Reinold von Thadden-Trieglaff. Hohrmann zitiert aus einem Schreiben einer Tochter Wilhelm v. Arnims, Gisela Aretz, vom 18. April 2000: „Stets sei dann der Kaffeewärmer über das Telefon gezogen und möglichst leise gesprochen worden. Nach zwei bis drei Stunden Sitzung hätten sich dann die Herren einzeln nacheinander zurückgezogen“, was ganz offensichtlich auf die Gefahr hindeute, dass die Gespräche abgehört und die Treffen beobachtet wurden.20 Der Brandenburger Bruderrat wurde in der Bekennenden Kirche wegen der beiden Arnim-Schwäger Detlev und Wilhelm geradezu als Beispiel für die wichtige und verantwortungsvolle Funktion der Laien gesehen. Sie trugen oft ein erheblich höheres Risiko als die meisten Pfarrer, die durch ihr Amt noch einen gewissen Schutz genossen. Beide Arnims werden als Persönlichkeiten geschildert, die dank guter Verbindungen zu anderen Gutsbesitzern auf dem Lande zahlreichen jungen Brüdern ein Pfarramt beschaffen konnten. Während der Kriegsjahre gehörte es zu Wilhelm v. Arnims Hauptaufgaben, inhaftierte oder an die Front versetzte Pfarrer in Gottesdiensten oder bei Amtshandlungen zu vertreten.21 Der Einsatz v. Arnims wurde von staatlicher Seite mit Geldstrafen, Redeverbot und Haft geahndet. Dies belegen die Fürbittlisten der Bekennenden Kirche; Hohrmann schreibt, Wilhelm v. Arnim sei der einzige Kirchenpatron in Brandenburg, der in den Fürbittlisten der Bekennenden Kirche Erwähnung fand.22 Sein Verteidiger war der prominente Rechtsanwalt Hans Koch,23 der auch Martin Niemöller verteidigte.24 Der Kirchenhistoriker und frühere Bekenntnispfarrer Walter Wendland lobt Wilhelm v. Arnim als einen kompromisslosen Kämpfer und unbestechlichen Charakter, der insgesamt fünfmal inhaftiert wurde. In der Zelle – so erzählte Wilhelms Sohn Wichard – sang Wilhelm v. Arnim, um seine Wachen zu ärgern oder nachdenklich zu machen, mit volltönendem Bariton und ausdauernd Kirchenlieder. Sein Lieblingschoral beginnt mit den Zeilen: „Die Sach’
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Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 100. Schreiben Gisela Aretz’ an Lilian Hohrmann vom 18. April 2000, vgl. Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 101. 22 Hohrmann, a.a.O. 23 KCL, Nr. 84 – 287; vgl. Lebensbild Hans Koch in diesem Band. 24 Arnim-Boitzenburg, Sieghart Graf v., Die Rolle der Arnims in der Bekennenden Kirche, in: Arnim-Nachrichten, Mai 2012, S. 15. 21
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ist Dein, Herr Jesu Christ, die Sach’, an der wir stehen. Und weil es Deine Sache ist, kann sie nicht untergehen!“ Von ihrem Bruder Wichard und ihrem Vater schreibt Gisela Aretz: „Wichard war die Frohnatur, er konnte unseren ernsten Vater so zum Lachen bringen, dass er kaum aufhören konnte.“25 Aber Wichard war nicht nur eine Frohnatur: „Die letzte Haft fand meines Wissens 1941 statt. Wichard hatte aus Jugoslawien, wo er das EK I bekommen hatte, einen kleinen Heimaturlaub und fuhr kurzentschlossen zum Alexanderplatz, trat dort energisch und diplomatisch auf – diese Mischung erzielte mitunter doch noch Wunder – und – brachte Vater mit nach Hause! Wicho als junger Hauptmann hatte dem gestrengen Verwaltungsjuristen auch von (seinen Brüdern) Otto und Manfred berichtet, die als Leutnants an der Front standen, versprach dem dafür, seinen Vater zu beeinflussen, keine ,staatsfeindlichen Äußerungen‘ mehr zu machen. Vater war bereits bedeutet worden, die nächste Haft würde im KZ stattfinden müssen.“26 Können wir in diesen Fakten ein Persönlichkeitsmuster erkennen, etwas, das uns Auskunft gibt, warum Wilhelm v. Arnim diese Gefahren und diese Verfolgung auf sich nahm? Sein zehn Jahre jüngerer Namensvetter und Wegbegleiter Hans v. Arnim, 1928 Konsistorialrat und 1945 dann Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, hat Detlev und Wilhelm v. Arnim in Niemöllers „Lebensbildern“ schon 1949 eindrücklich geschildert: „Jedem, der einmal einer Sitzung des Brandenburger Bruderrates beigewohnt hat, wird die Persönlichkeit Wilhelms von ArnimLützlow unvergeßlich sein. Verriet seine ragende Gestalt schon äußerlich den märkischen Edelmann, so merkte man an jeder Äußerung, die er tat, daß sie aus tiefster Glaubensüberzeugung kam und äußere, zeitbedingte Umstände nicht als maßgebend anerkannte. Mochten andere vielleicht geistvoller oder mit tieferem theologischen Wissen die Probleme betrachten – die schlichte Klarheit, die kompromißlose Einsatzbereitschaft Wilhelms von Arnim verfehlte ihren Eindruck nie. So mag er seinen wohlbegründeten Anteil daran haben, daß der Brandenburger Bruderrat besonders klar und eindeutig seinen Weg durch die Wirrnisse des Kirchenkampfes zu gehen wußte.“27 Auch eine Begründung für diese Klarheit nennt der Namensvetter: „Die Lauterkeit seines Wesens bedingt es, daß auch führende Männer sich von ihm Dinge sagen lassen, die sie von anderen nicht hinnehmen würden.“28 Doch Wilhelm v. Arnim musste, so sieht es sein Wegbegleiter, scheitern, denn ihm gegenüber steht in damaliger Zeit „eine Sphäre, deren Dämonie er nicht gewachsen ist. Der durch und durch Wahrhaftige vermag den heimtückischen Methoden der Gestapo nicht mit gleichen Waffen zu begegnen. Er verfängt sich, macht unvorsichtige Äußerungen 25
Aretz, Mein Leben, S. 24. Aretz, Mein Leben, S. 19. 27 Einleitungssätze bei Arnim, Hans v., Wilhelm von Arnim-Lützlow, in: Niemöller, Lebensbilder, S. 16. 28 Arnim, Wilhelm von Arnim-Lützlow, S. 18. 26
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und muß so fünfmal mehr oder weniger lange Freiheitsstrafen über sich ergehen lassen. Die äußeren Umstände dabei sind meist entwürdigend und schädigen ihn gesundheitlich aufs schwerste.“29 Und trotz dieser Anfechtung „bleibt er der aufrechte Streiter für ein unverfälschtes Evangelium, das er auch anderen, nicht zuletzt den Mitgefangenen, nahezubringen sucht.“30 Hier findet sich auch ein Hinweis auf die späte, dann aber umso größere Sicherheit in seinem Urteil in den ersten Jahren des Nazi-Regimes: „Ist der kirchliche Weg, den er zu gehen hat, steinig und schwer, so ist er doch eindeutig und ohne innere Kämpfe. Es gibt für ihn keine andere Möglichkeit. Von starken Konflikten erfüllt ist dagegen die Haltung zu der politischen Entwicklung Deutschlands. Der vaterlandsliebende, begeisterungsfähige Mann ist hier zunächst geneigt, schon um seiner Kinder willen, zu rosig zu sehen und an das Teuflische, das sich vollzieht, nicht zu glauben, so sehr er als Christ Einzelmaßnahmen ablehnen muß. Es liegt seiner Natur so fern, daß er es nicht von vornherein erkennen kann. Das eigene Leiden – auch das wieder ein typischer Zug an ihm – bringt er dabei nicht in Anrechnung. Erst als er offen Gewissenlosigkeit sieht, ringt er sich zur grundsätzlichen Ablehnung durch.“31 Die Grundlage, die er hatte, setzte sich letztendlich durch: „Der christliche Glaube durchglüht bei ihm das ganze Sein und prägt seine Persönlichkeit. Das Gefühl der Unabhängigkeit und das Fehlen jeder Menschenfurcht, Erbteil alten Geschlechtes, lassen ihn nicht davor zurückschrecken, seine Erkenntnisse durchzusetzen und das ihm richtig Erscheinende auszusprechen, auch wo es als übersteigert, ja vielleicht als abwegig angesehen werden könnte.“32 Die unbeugsame Haltung und das tragische Schicksal Wilhelm v. Arnims haben sogar die Machthaber in der zweiten deutschen Diktatur beeindruckt. Natürlich verlor die Familie wie ausnahmslos alle brandenburgischen Kirchenpatrone33 durch die in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführte Bodenreform vom September 1945 ihre Güter. Auf dem Friedhof in Lützlow jedoch blieb durch die DDR-Jahrzehnte hindurch das übermannsgroße, dominierende Holzkreuz mit der Aufschrift „Gott ist die Liebe“ auf dem Doppelgrab stehen, das Wilhelm und Margarethe v. Arnim 1943 nach ihrem gemeinsamen Tod in Berlin und der abenteuerlichen Überführung ihrer sterblichen Überreste dort gefunden hatten. Verehrung und Treue der Dorfbewohner, die andernorts der ideologisch verordneten Zerstörung aller Spuren der „Junker“ hoffnungslos unterlegen waren, bewahrten in Lützlow diese eigenartige, ehrenvolle Erinnerung an den mutigen Kirchenpatron. Nach der friedlichen Revolution 1989 konnte Wilhelm v. Arnims dann auch in seiner Heimat wieder offener und mit Namensnennung gedacht werden. Zum 50. Todestag, am 1. Advent 1993, reiste nicht nur die auf Dutzende angewachsene engste 29
Ebd. Ebd. 31 Arnim, Wilhelm von Arnim-Lützlow, S. 18 f. 32 Arnim, Wilhelm von Arnim-Lützlow, S. 19. 33 Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 183. 30
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Familie aus dem Westen zum Gedenkgottesdienst ins tief verschneite Lützlow, sondern auch der Bischof der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, Martin Kruse. Die Predigt hielt Generalsuperintendent Leopold Esselbach, der sagte, Wilhelm v. Arnim habe seine Bereitschaft, in der Zeit des Nationalsozialismus zum Glauben und zu Jesus Christus zu stehen, ins Gefängnis gebracht.34 Die Lützlower Pfarrerin Christa Ballert würdigte Wilhelm v. Arnim in demselben Gottesdienst als jemanden, der das einstige, nach Kriegsende aufgehobene Amt des Kirchenpatrons in seiner Kirchengemeinde Lützlow als den Dienst wahrgenommen habe, den es meinte, und nicht als Herrschaft. Die damit verbundenen Vollmachten habe er genutzt, um beispielsweise Pfarrer der Bekennenden Kirche nach Lützlow zu berufen und zu eindeutiger Haltung zu bestärken.35 Später beschloss der Gemeindekirchenrat, für die Grabstätte eine unbegrenzte Ruhezeit zu gewähren, und 2000 wurde sie neu gestaltet.36 Heute, Ende 2013, liegen für sechs der sieben Kinder von Wilhelm und Margarethe v. Arnim Gedenksteine auf dem großzügigen Familiengrab. Das siebte Kind, Mechthild v. Tresckow – Schwiegertochter des Widerstandskämpfers Henning v. Tresckow – lebt über neunzigjährig im Taunus. Die Titelzeile dieser Skizze ist den Lebenserinnerungen Hans v. Arnims entnommen,37 in denen er auch in größerem zeitlichen Abstand Wilhelm v. Arnim als einen derer „in dem schrecklichen Spiel“ würdigt, „die mit uns übereinstimmten und die Epoche überwinden halfen. Es bildete sich ein zweites, ein anderes Deutschland, in dem die Gleichgesinnten sich enger zusammenschlossen.“38
34 Predigt beim Gedenkgottesdienst anlässlich des 50. Todestages von Wilhelm v. Arnim am 28. November 1993 von Leopold Esselbach, Privatsammlung Wichard v. Arnim, zitiert nach Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 195. 35 Worte des Gedenkens an Wilhelm v. Arnim am 28. November 1993 in der Kirche zu Lützlow von Pfarrerin Christa Ballert, Privatsammlung Wichard v. Arnim. Zitiert nach Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 195. 36 Hohrmann, Brandenburgische Kirchenpatrone, S. 196. 37 Arnim, Hans v., Vom Staatsdienst zur Kirche, Berlin 1968, S. 70. 38 Ebd.
Der einsame Weg des Kurt Gerstein Von Sebastian Sigler und Klaus Gerstein „Der Deutsche Gerstein war ,ein Gerechter unter den Heiden‘ – und sein Name verdient von der Geschichte aufbewahrt zu werden als eines Mannes mit einem edlen, gequälten Gewissen.“ So formulierte Hans-Georg Hollweg in Anlehnung an „Auschwitz“, das Buch des Historikers Léon Poliakóv aus dem Jahre 1964.1 Poliakóv hatte als erster Historiker die Person und Persönlichkeit Kurt Gersteins unabhängig von seiner Verstrickung in den Holocaust wahrgenommen und objektiv gewertet. Dies markiert einen Wendepunkt in der Rehabilitation eines Widerstandskämpfers, der zunächst, rund 20 Jahre lang, als Mittäter beim Völkermord an den europäischen Juden, ja, als Beschaffer von Zyklon B gegolten hat.2 Kurt Gerstein ein Widerstandskämpfer? Dies war lange sehr umstritten. In der Tat – es ist eine sehr diffizile Aufgabe, das komplexe Bild, das er der Nachwelt hinterließ, auch nur einigermaßen zu erklären. Kurt Gerstein galt dem NS-System als „Einzeltäter“. Einzeln, nicht in der Gruppe Gleichgesinnter, in jedem Gedanken, in jedem Schritt auf sich gestellt, von jeder Öffentlichkeit isoliert im Geheimen wirkend. Der Vergleich zu Martin Luther in seinem Bekenntnis seines persönlichen Standpunkts vor dem Konzil zu Worms drängt sich auf: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Die Freiheit eines Christenmenschen ist sein Gewissen. Seine Zivilcourage half Gerstein, dies umzusetzen. Kurt Gerstein hat diesen Weg gewagt, als Mann der Kirche, verantwortlich für die Bildung der Jugend, organisiert in den Bibelkreisen, Teil der Wandervogelbewegung in ihrer Befreiung von bürokratisch verordneten Organisationsnormen. Schon früh sah er, darin auf bestimmte Weise vergleichbar Dietrich Bonhoeffer,3 in 1 Poliakóv, Léon, Auschwitz, Frankreich (ohne Ort) 1964, wird dieses Zitat verschiedentlich zugeschrieben. Im französischen Original ist dieses Zitat so nicht zu erschließen, es könnte sich um eine freie Übersetzung handeln, denn in der Tat entlastet Poliakóv Gerstein de facto; siehe Poliakóv, Auschwitz, S. 42 ff.; Zitat nach: Hollweg, Hans-Georg, In memoriam Kurt Gerstein (1905 – 1945) – eine beinahe unfaßbare Persönlichkeit, Mönchengladbach, 28. April 2010, http://www.hans-georg-hollweg.de/Kurt_Gerstein/Kurt_Gerstein.html, Abruf am 6. Juli 2011. 2 Hilberg, Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin 1982, S. 602 f., beschreibt Gersteins Rolle in der Vernichtungsmaschinerie, erwähnt auch, daß Gerstein in Belzec Zyklon B, das noch funktionsfähig war, als angeblich verdorben vergraben ließ, findet aber kein Wort zu Gersteins Motivation und damit kein Wort zu seiner Entlastung. 3 Zu Bonhoeffer vgl.: Metaxas, Eric, Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Nashville / Tennessee (USA) 2010, Holzgerlingen 20112, passim.
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Sebastian Sigler und Klaus Gerstein
theologischer Klarheit die Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus.4 Er trat in die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes ein mit dem Ziel, „bis auf den Grund dieser Öfen und Kammern zu blicken und es vor allem Volk hinausschreien, auch wenn mein Leben dadurch bedroht würde“.5 Kurt Gerstein wollte ganz bewußt Augenzeuge sein und von der schrecklichen Wahrheit der Euthanasie und des Holocaust in den Konzentrationslagern Kenntnis erlangen, um dann Zeugnis ablegen zu können. „In einer Zeit, in der man das Unheimliche, die Tötung ,lebensunwerten Lebens‘ und der jüdischen Bevölkerung nicht wahrhaben wollte, erscheint Gerstein als einer der wenigen, die geradezu übersensibel für die unglaublichen Machenschaften des Regimes waren. Sein Weg in die Waffen-SS war (…) nicht allein der Versuch, Schlimmeres zu verhüten, sondern das Bemühen, der schrecklichen Wirklichkeit der nationalsozialistischen Herrschaft nicht auszuweichen. Er war bereit, Verantwortung zu übernehmen.“6 Mit dieser Haltung war er im übrigen nicht allein. So schreibt Albrecht Kessel: „Ich hatte mich von 1937 absichtlich in höhere Nazi-Sphären gedrängt, weil ich bemerkt hatte, daß die Opposition über die sich dort abspielenden Vorgänge und ihre persönlich-psychologische Voraussetzungen zu wenig Bescheid wußte. Zur erfolgreichen Durchführung eines Kampfes aber ist die genaue Kenntnis des Gegners unumgänglich.“7 Diese Verantwortung beschreibt auch Kurt Gerstein selbst in einem Brief an seinen Vater vom 5. März 1944: „Mögen dem einzelnen auch noch so enge Grenzen gesetzt sein und mag in vielem die Klugheit als die vorherrschende Tugend befolgt werden, niemals dürfte der einzelne seine Maßstäbe und Begriffe verlieren. Nie darf er sich seinem Gewissen und der ihm gesetzten obersten Ordnung gegenüber darauf herausreden vor sich selbst: Das geht mich nichts an, das kann ich nicht ändern. (…) ich stehe in dieser Verantwortung und in dieser Schuld, und zwar als ein Wissender mit entsprechendem Maß an Verantwortung. (…) ich werde davon zerfressen.“8 Die Tübinger Spruchkammer hatte 1950 kein Verständnis für den Widerstand von Kurt Gerstein: „Nach allem, was er vorher erlebt hatte, hätte er klar erkennen müssen, daß er allein niemals imstande gewesen wäre, die Vernichtungsmaßnah4
Hey, Bernd, Gerstein, Kurt, in: Schultze, Harald und Kurschat, Andreas, „Ihr Ende schaut an…“ – Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 20062, S. 280. 5 Gerstein-Bericht, Landeskirchliches Archiv Bielefeld, neue Sammlung, Konvolut 5.2, (künftig Lk. A., 5.2), Nr. 156 – 158. Der Nachlaß Gerstein im Lk. A., 5.2, wurde im Jahre 2011 neu geordnet. In Klammern finden sich hinter der aktuellen Signaturnummer die Altsignaturen, die in allen bisher erschienenen Publikationen als Referenzstellen angegeben wurden. Für Nr. 156 – 158 sind die bisherigen Nummern 32 – 34; ebd., Nr. 555 (432), Nr. 676 (553); vgl. zum Gerstein-Bericht: Joffroy, Pierre, Der Spion Gottes. Kurt Gerstein – ein SS-Offizier im Widerstand?, Berlin 1995, 20023, S. 149. Der Begriff „Spion Gottes“ bei Joffroy könnte von Léon Poliakóv übernommen sein, der Gerstein bereits 1969 so tituliert, wohl etwas früher als Joffroy; vgl. dazu: Lk. A., 5.2, Nr. 29; ebd., Nr. 41 (18 Fasc. 1) – 43 (18 Fasc. 3). 6 Schäfer, Jürgen, Kurt Gerstein – Zeuge des Holocaust, Bielefeld 1999, S. 29. 7 Kessel, Albrecht v., Verborgene Saat, Aufzeichnungen aus dem Widerstand 1933 bis 1945, hrsg. von Peter Steinbach, Berlin / Frankfurt am Main,1992, S. 187. 8 Lk. A., 5.2, Nr. 153 (29).
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men zu verhindern, noch das Leben selbst von nur einigen Menschen zu retten.“9 Die Berufungsverhandlung drei Monate danach endete mit demselben Ergebnis, diesmal lautete es in der Urteilsbegründung: „Was in Auschwitz geschehen ist, ist von einer derartigen Ungeheuerlichkeit, daß man dem Betroffenen zumuten konnte, alles Menschenmögliche zu tun, um sich – wenn er es schon nicht verhindern konnte – wenigstens das eigene Gewissen reinzuhalten.“10 Aber hat Gerstein nicht genau das getan? Saul Friedländer kommentierte die beiden Entscheidungen der Tübinger Spruchkammer so: „Man klagt Gerstein also an, weil er versucht hat, im begrenzten Maß seiner Kräfte Widerstand geleistet zu haben. Man klagt ihn an, weil er es nicht wie die große Mehrzahl der ,guten Deutschen‘ gemacht hat – ruhig zu warten, bis alle Juden tot waren. Man stellt die Unschuld derjenigen, die dem Verbrechen passiv zugesehen haben, der Schuld dessen gegenüber, der, um Widerstand leisten zu können, bis zu einem gewissen Grad mit dem Verbrechen paktieren mußte. (…) Das wahre Drama Gersteins war die Einsamkeit seines Handelns. Das Schweigen und die völlige Passivität der Deutschen, das Ausbleiben jeder Reaktion bei den Alliierten und den Neutralen, ja des gesamten christlichen Abendlandes gegenüber der Vernichtung der Juden verleihen der Rolle Gersteins erst die wahre Bedeutung: Sein Rufen blieb ohne Widerhall, seine Hingabe war einsam, sein Opfer erschien deshalb ,unnütz‘ und wurde zur ,Schuld‘.“11 Friedländer macht deutlich, warum Kurt Gerstein nach dem Krieg von fast allen Seiten bereitwillig in die Ecke der Täter gestellt wurde. Sein Zeugnis über den Holocaust kann, ja, muß auch als Anklage gegen alle diejenigen verstanden werden, die sich während des NS-Regimes passiv verhalten haben, die geschwiegen haben, die den Holocaust nicht verhindern oder sogar nicht wahrhaben wollten: vom Großteil der deutschen Bevölkerung bis hin zu den Alliierten. Mit der Einstufung Gersteins in die Gruppe der Belasteten hat, so scheint es im Rückblick auch heute, die Spruchkammer nachträglich die Passivität der „Mehrzahl der Deutschen“ gerechtfertigt. Rolf Hochhuth hat exemplarisch das Schweigen des Papstes zum Holocaust im Jahre 1963 in seinem Theaterstück „Der Stellvertreter“ aufgegriffen und dabei, aus seiner Sicht vielleicht gerechtfertigt, zugleich Papst Pius XII. angegriffen. Kurt Gerstein wurde so zur literarischen Figur. Dies war verdienstvoll, auch wenn damit abermals die vielen, die zum Holocaust geschwiegen haben, aus dem Blickfeld rückten. Entsprechend erfreulich war das Ergebnis: Im zweiten Jahr nach der Uraufführung des Dramas und wenige Monate nach dem Erscheinen des Poliakóv-Buches „Auschwitz“ wurde Kurt Gerstein formell rehabilitiert.12
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Lk. A., 5.2, Nr. 37 (13); ebd., Nr. 38 (12 Fasc. 2). Joffroy, Spion, S. 464. 11 Friedländer, Saul, Kurt Gerstein oder die Zwiespältigkeit des Guten, Gütersloh 1968, S. 195 f. 12 Lk. A., 5.2, Nr. 38 (12 Fasc. 2); ebd. Nr. 592 (469); ebd. Nr. 597 (474). 10
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I. Jugend, Studium, Corps Kurt Gerstein wurde am 11. August 1905 in Münster geboren.13 Der Vater Ludwig E. Gerstein war dort wenige Monate zuvor als Richter an das Landgericht berufen worden,14 es war seine dritte berufliche Position im preußischen Justizdienst nach Bielefeld und Hattingen. Kurt war das zweitjüngste von sieben Kindern, die Gerstein und seiner Frau Clara, geborene Schmemann, zwischen 1896 und 1910 geboren wurden. Ludwig Gerstein war Marburger Teutone, Berliner Märker und 1908 in Münster Mitbegründer des dortigen Corps Rheno-Guestphalia.15 Ebenfalls 1910 folgt die Versetzung des Vaters nach Saarbrücken, Kurt wuchs dort auf. Unter den Gerstein-Kindern galt er als der Intelligenteste. Von früher Kindheit an forderte er Aufmerksamkeit, fiel er aus der Rolle des Üblichen. „Wenn Kurt durchs Wohnzimmer geht, wackelt das Geschirr im Schrank“, stellte die Mutter fest. Sie schrieb im August 1917 – der Vater war Soldat – ihrem Sohn Alfred Glückwünsche zu dessen 19. Geburtstag nach Rußland an die Front und äußerte dabei auch, sie habe große Schwierigkeiten in der Erziehung von Kurt; Alfred möge sie unterstützen.16 Ja, Kurt hatte seinen eigenen Willen, war zum Protest bereit. Ohne Vorwarnung hißte er im Dezember 1917 eine weiße Fahne auf dem Turm, der zum Gebäude des Generalkommandos in Saarbrücken gehörte.17 Das war, so wird es in der Familie überliefert, sein Protest gegen das Scheitern des durch den Herzog von Toscana vermittelten Waffenstillstands zur Beendigung des Ersten Weltkrieges; die Sorge um Vater und die drei älteren Brüder, alle als Soldaten eingezogen, trieben den Zwölfjährigen um. Kriegsrichter Otto Andres, als Heidelberger Rhenane 1894 rezipiert,18 verhinderte mit einem Geständnis des Jungen und einer kindgemäßen Ermahnung, zugleich einer formal als Bestrafung geltenden Sanktion, einen gesellschaftlichen Skandal – möglicherweise aus der eigenen Erkenntnis, daß Kurt die Zeichen der Zeit instinktiv erkannt hatte. Und wie recht er damit hatte! 1919 traf die Familie die Ausweisung aus dem Saarland, Franzosen beschlagnahmten und ent13 Lk. A., 5.2, Nr. 141 (17); Gerstein, Ludwig, Geschichte der Familie Gerstein, im Selbstverlag, Hagen 1934, Anhang „Verzeichnis der Beteiligten an der Hoffmann-LudwigStiftung“, S. 3. 14 Gerstein, Ludwig, Geschichte der Familie, S. 178. 15 Gerlach, Otto (Hrsg.), Kösener Corpslisten 1960 (künftig: KCL), Kassel 1961, Nr. 102 – 712, 4 – 434, 117 – 7. 16 Joffroy, Spion, S. 28, bringt einen Briefwechsel der Eltern zur Erziehung des Knaben Kurt; vgl. dazu: Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gestein. Der „Spion Gottes in SS-Uniform“ oder „Eine deutsche Passion in der Hitlerzeit“, Typoskript München o. J., S. 2, dort speziell die Passage, in der die Mutter als latent überfordert und zu Depressionen neigend charakterisiert wird. Diese Zuordnung könnte eine Fehlinterpretation der Quellen sein. Frau Gerstein litt, neue Forschungen berücksichtigend, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an einer Postpartum-Thyroiditis. 17 Joffroy, Spion, S. 27. 18 KCL 1960, Nr. 65 – 449.
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eigneten das Haus – ein tiefer Einschnitt. Es folgte der Umzug nach Halberstadt. Dort fiel Kurt als wenig folgsamer Schüler am Gymnasium auf,19 eine unerkannte, schleichende Tuberkulose wirkte sich negativ auf die Leistungen in der Schule aus. 1921 zog die Familie erneut um, diesmal nach Neuruppin.20 Hier wurde endlich die Tuberkulose erkannt und in einem langen Heilungsprozeß erfolgreich behandelt, doch blieb der Rat des Arztes und väterlichen Freundes Franz Hoegg,21 in der Lebensweise maßvoll zu bleiben und den Alkohol wie selbstredend den Tabak zu meiden. Kurt erkannte dies als ein für ihn geltendes, neues Gesetz. Gleichzeitig waren die Umwälzungen durch die Versailler Verträge und die bürgerkriegsähnlichen Unruhen überall im Reich in das Bewußtsein der jungen Generation gedrungen. Kurt reagierte auf das Fehlen verbindlicher Werte. Er entdeckte für sich das Christentum. Beeinflußt wurde er darin zunächst, noch ein Knabe, von einem Kindermädchen römisch-katholischen Glaubens, das die Familie beschäftigte.22 In dieselbe Richtung ging das Vorbild der Söhne des örtlichen Superintendenten, Schulfreunde, die ihn zunächst mit zum CVJM nahmen. So hat sich in den 1920er Jahren sein Lebensbild geformt, in einer Zeit der stets gegenwärtigen Unsicherheit, hin zu einem lebenslangen Suchen und Hoffen auf wertbeständige Lebensformen. Ostern 1925 legte Kurt Gerstein sein Abitur am Humanistischen Gymnasium in Neuruppin ab. Zu den Prüfungsfächern gehörten Latein und Griechisch.23 Noch dem Oberprimaner wurde wegen Störens und Nichterledigens der Hausaufgaben Nachsitzen verordnet. Er erschien, indem er mit einer Kutsche vorfuhr, zur gleichen Zeit, als sein Lehrer zu Fuß eintraf.24 Als es zur Frage kam, ob er sein Abitur bestanden habe, war das Urteil positiv – mit der Begründung, daß die Alternative, ein Verbleiben des Primaners an der Schule, „den Lehrern nicht zumutbar“ sei. Nach dem Abitur orientierte sich Kurt Gerstein nach Westfalen, der Heimat der Familie. Zunächst war er „Bergbaubeflissener“ beim Oberbergamt in Dortmund. Inhaltlich wie glaubensmäßig wegweisend für den Abiturienten war die Begegnung mit Pastor Theodor Noa aus Hagen. Noa hatte als Offizier am Ersten Weltkrieg teilgenommen. Sein Führungsstil entbehrte nicht der Autorität, sein Mittel war aber nicht der Befehl, sondern das Vorbild. Die großen Jugendlager mit mehr als 1.000 Teilnehmern, von diesem Pfarrer geleitet, führten Mitarbeiter und heranwachsende Jungen zusammen unter dem Wort des Evangeliums. In diesem Erlebnis fand Kurt Gerstein seine christliche Grundlage gespiegelt. Durch die Begegnung mit Pastor
19 Joffroy, Spion, S. 32, dessen Darstellung es vielfach an Belegen und auch an objektiver Distanz mangelt, schildert die Schulepisoden mit dem hier ausnahmsweise angebrachten, augenzwinkernden Humor. 20 1928, Kurt studierte längst, zogen die Eltern schließlich nach Hagen in Westfalen. 21 Hoegg war Tübinger Preuße, vgl. KCL 1960, Nr. 126 – 232. 22 Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 3. 23 Vgl. hier: Lk. A., 5.2, Nr. 539 (416). 24 Joffroy, Spion, S. 32.
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Theodor Noa ist er endgültig zu sich selbst gelangt, zu einem bekennenden Christen geworden. Parallel zu seiner Tätigkeit in der evangelischen Jugendarbeit nahm Gerstein ein Studium im Fach Bergbau in Marburg auf.25 Und er, der in ständiger Opposition zur Mutter und mit ambivalentem Verhältnis zum Vater aufgewachsen war, fand in Marburg im Corps Teutonia, in dem auch sein Vater aktiv gewesen war, eine Gruppe Gleichgesinnter. Zum Wintersemester 1926/1927 wurde er dort aktiv.26 Im Ringen eines aktiven CC um Selbstbestimmung – und das ist eines der Wesensmerkmale des Corpsstudententums – fand sich der ungebärdige, junge Gerstein wieder. Er lernte hier das Conventsprinzip kennen; er beherrschte es, wie es Korporationsstudenten allgemein kennzeichnet. Saul Friedländer teilt mit, daß ihn die corpsstudentischen Usancen seiner Zeit keinesfalls abgestoßen hätten.27 Für bestimmte Themen ist auch die Aussage nicht übertrieben, daß sich dem aus behütetem Elternhaus kommenden Gerstein erst während seiner Aktivenzeit manches Thema des menschlichen Miteinanders voll erschloß.28 Daß Gerstein später speziell die Trinksitten seiner Teutonen kritisierte, steht dazu keinesfalls im Widerspruch. Die Fundamentalkritik am Corps, die Bernd Hey daraus liest, ist hingegen nicht nachvollziehbar.29 Gersteins Werdegang beim Corps war nicht ohne Spannung, er war Inhaber der Corpsschleife – kurz IdC genannt. Nachdem er schon zum Sommersemester 1927 nach Aachen gewechselt war, hatte er nicht alle Pflichten eines Aktiven erfüllen können. Aufgrund seiner gesundheitlichen Konstitution durfte er keine Mensuren fechten, auch dem Genuß schon kleiner Mengen Alkohols mußte er sich enthalten. Das Corps hat dies respektiert.30 1930 ist er jedoch, daran besteht kein Zweifel, einstimmig als Inhaber der Corpsschleife (IdC) ins Corps rezipiert worden. Nach der Inaktivierung widmete er sich wiederum verstärkt der anderen Richtung, die er kennengelernt hatte – der christlichen Jugendarbeit. Ebenfalls 1930 veröffentlichte er einen Nachruf auf den Arzt, der seine Tuberkulose geheilt hatte: den Tübinger
25 Dieses Fach hatte sein Vater Ludwig studieren wollen, es war ihm jedoch verwehrt worden. 26 KCL 1960, Nr. 102 – 1236, dort geführt als Inhaber der Corpsschleife (IdC). Rezeption zu IdC am 28. Juli 1929, vgl.: Lk. A., 5.2, Nr. 22, ebd., Nr. 23; Blaubuch des Corps Teutonia Marburg 1825 – 2000. 27 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 21. 28 Vgl. dazu. Schäfer, Gerstein, S. 45. 29 Hey, Bernd/Rickling, Matthias/Stockhecke, Kerstin, Kurt Gerstein (1905 – 1945) – Widerstand in SS-Uniform, Bielefeld 2000, 20032, S. 30. 30 Auf einer Photographie, die nur wenige Jahre nach seiner Zeit als aktiver Corpsstudent aufgenommen wurde, soll er dagegen mit Band zu sehen sein. Dieses Bild ist in einigen Publikationen abgedruckt, darunter: Schäfer, Gerstein, S. 240; Hey, Gerstein, S. 30. Aller Wahrscheinlichkeit ist hier jedoch nicht Kurt, sondern sein älterer Bruder Ludwig, dem er sehr ähnlich sah, abgebildet.
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Preußen Franz Hoegg.31 Ein sieben Jahre später in einer christlichen Zeitschrift erschienener Artikel, der überaus kritische Anmerkungen zur Ausprägung der Trinksitten im Corpsstudententum enthielt, führte dann allerdings zu einer zeitweiligen Bestrafung bei seinen Marburger Teutonen.32 Gerstein hat sich in dieser Sache innerhalb des Corps glänzend verteidigt.33 Gerstein ist aus der Zeit der 20er Jahre zu verstehen, einer wahrlich unruhigen Zeit, in der die politischen Kräfte es nicht vermochten, eine verläßliche Lebensplanung zu vermitteln, die auf Vertrauen in die Zukunft gegründet war. Kurt Gerstein ist aus der Geschichte der 1920er Jahren, der Wandervogelbewegung, zu begreifen. In der Kunst bezeichnen wir den Aufbruch in diese Zeit als Jugendstil, überkommene Stilperioden werden kritisch überprüft, sie werden weiterentwickelt, sehr individuell. Die Kunst gestaltet das innere Sehen im Impressionismus, das phantasievolle Aufbrechen der Formen als Expressionismus. Viele münden in die Ferne unserer Wirklichkeit, sie enden im Surrealismus. Die Wandervogelbewegung der Pädagogen und Theologen führt die Jugend in vielfältige bündische Gruppierungen. Das nationalstaatliche Prinzip, das die Geschichte des 19. Jahrhunderts notwendigerweise bestimmt hat, wurde konfrontiert von dem so unbestimmten völkischen Gedanken. Die Wandervogelbewegung vor dem Ersten Weltkrieg und die Bündische Jugend nach dem Krieg – beides waren Oppositionsbewegungen gegenüber überkommenen Strukturen. Wirtschaftlicher Ruin, Massenarbeitslosigkeit mündeten in die totale Diktatur mit allen ihren Folgen, auch der Propaganda, der gezielten Meinungsbildung der Massen. Die auch von Kurt Gerstein anerkannten politischen Erfolge auf sozialem, wirtschaftlichem und außenpolitischem Gebiet haben die Menschen in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gestärkt. Doch aller Erfolg war für Kurt Gerstein ein Ansporn, die Grundsatzfrage des Lebens ernst zu nehmen, war kategorischer Imperativ in seinem täglichen Leben. „Hoch über den hehrsten Bundesfarben steht das Banner eines Höheren“,34 formuliert der junge Teutone 1930. 1931 legte er sein Diplomexamen im Fach Bergbau in Berlin ab, zeitgleich bedeutete jedoch der frühe Tod der Mutter Clara Caroline, eine scharfe Zäsur in seinem Leben. Er wandte sich wieder verstärkt der Religion zu, wurde stellvertretender Reichsrat der Bibelkreise in Deutschland, Leiter der Bibelkreise in Westfalen mit Sitz in Hagen. Der Kontakt mit Pastor Theodor Noa blieb lebendig bestehen. 31
Lk. A., 5.2, Nr. 540 (417). Der Aufsatz war an Schüler gerichtet und hatte den Titel: „Um Ehre und Reinheit.“ Hey, Gerstein, S. 31, spricht vom „vorübergehenden Ausschluß aus dem Corps“, gemeint ist wohl eine Dimission; vgl.: Gerstein, Kurt, Um Ehre und Reinheit, Lk. A., 5.2, Nr. 628 (505), ein weiteres Exemplar im Besitz des Autors Gerstein. 33 Gerstein, Kurt, Typoskript zur Verteidigung im Corps Teutonia Marburg, im Besitz des Autors Gerstein. Der Angeschuldigte argumentierte darin, die Leser des christlichen Blattes „Neue Jugend“ würden sich mehrheitlich „für eine Aktivität nicht eignen“ und würden darin Opfer bringen müssen, „die ihnen schlechthin nicht zuzumuten wären“. 34 Gerstein, Kurt, Um Ehre und Reinheit, Lk. A., 5.2, Nr. 628 (505). 32
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Noa hatte, als er nach Siegen berufen worden war, die Leitung der Bibelkreise Gerstein anvertraut. Der begründete bald nach 1930 eine evangelische Jugendbildungsstätte, das „Haus Berchum“ bei Hagen.35 Mit der Wirtschaftskatastrophe und deren verheerenden sozialen Folgen der Massenarbeitslosigkeit mündete die Entwicklung in das einheitlich ausgerichtete Ordnungsgefüge des Dritten Reichs nationalsozialistischer Prägung. In diesem Zeitabschnitt beginnt die verantwortliche Präsenz Kurt Gersteins. Noch als Student und in der Folge seit 1932 als Dipl.-Ing. Referendar im Bergbau mit dem beruflichen Ziel des Zweiten Staatsexamens war er stellvertretender Reichswart der Bibelkreise in der Evangelischen Kirche. Zur Wahrung der eigenverantwortlichen Persönlichkeit gehörte für Gerstein der persönliche Dialog mit Gott. Das widersprach der Gleichschaltung durch die NS-Ideologie, und wieviel mehr noch die gläubige Sicht auf Christus als die Hoffnung und die Zukunft der Welt, die Hoffnung auf Erlösung von den Sünden. Dieses tiefe Bewußtsein, sich persönlich verantworten zu können, hat Kurt Gerstein in der Jugendbewegung durch Pastor Noa erfahren. Am 27. Juli 193236 trat Kurt Gerstein seinen Bergbau-Referendardienst beim Oberbergamt Dortmund an. Am 27. November 1935 sollte er diese Station mit dem Bergassesorexamen erfolgreich abschließen. Nur drei Tage später folgte die Verlobung mit Elfriede Bensch, der Schwester seines besten Freundes, Alfred Bensch. II. Unter der Hakenkreuzfahne Am 1. Mai 1933 traten die Gersteins – Kurt, seine Brüder und der Vater – in die NSDAP ein.37 Der Grund für Kurt, diesen Schritt zu tun, war schon damals, daß er glaubte, nur von innen heraus etwas für den christlichen Glauben bewirken zu können.38 Hier war er uneins mit Kurt Rehling, Superintendent in Hagen, dessen Vertrauen er genoß, der gegen ein Mittun in jedweden Organisationen des NSRegimes war. Gerstein sah sich in der Verpflichtung, die Sache der evangelischen Jugend innerhalb des sich eben etablierenden nationalsozialistischen Systems zu 35 Brief Dr. Karl A. Wesener vom 30. November 1987, Original im Besitz des Autors Gerstein. 36 Die datumsgenauen biographischen Angaben ab hier stammen aus dem „Gerstein-Bericht“, den Kurt Gerstein ab dem 26. April 1945 in Rottweil niederlegte, und zwar in deutsch, englisch und französisch. Der Bericht siehe: Lk. A., 5.2, Nr. 156 – 158 (32 – 34); ebd., Nr. 555 (432), Nr. 676 (553). Zu Rate gezogen wurde auch das sehr genau recherchierte Itinerar bei: Gräbner, Dieter und Weszkalnys, Stefan, Der ungehörte Zeuge. Kurt Gerstein – Christ, SSOffizier, Spion im Lager der Mörder, Saarbrücken 2006, S. 152 ff. 37 Hey, Gerstein, S. 39. 38 Rehling, Kurt, Ein Außenseiter im Widerstand, in: Unsere Kirche, Ausgaben 9., 16., 23. April 1964, zitiert nach: Heimatbuch Hagen und Mark, Jg. 30, Hagen 1989, S. 29; vgl. zur Motivation: Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 122; Brayard, Florent, Grasping in the spokes of the wheel of history, in: History & Memory, 20, Nr. 1, Bloomington (USA) 2008, S. 64.
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vertreten. Doch die Ernüchterung folgte sehr bald. Kurt protestierte gegen die alsbald einsetzende Gleichschaltung der selbständigen Kreise in die Einheitspartei NSDAP, gegen die Vereinnahmung christlicher Jugendgruppen durch die Hitlerjugend. Versuche, innerhalb der Jugendgruppen gezielt die Vereinswimpel an die Stelle des Hakenkreuzes zu setzen, scheiterten.39 Gleichschaltung war das Losungswort des Nationalsozialismus seit 1933; im Laufe der Jahre wurde es hellen Köpfen bewußt, was das bedeutet, was das in der Praxis der Organisation gewachsener Kräfte, in der Lebensführung der in ihnen beteiligten Menschen bedeutete. Kurt Gerstein hatte erkannt, wie menschenverachtend dieser Begriff der Gleichschaltung ist, wie er sich auswirken würde. Er war einer der wenigen Menschen dieser Zeit, die dies bereits 1933 erkannt und bekannt haben. In drei Telegrammen tat er am 21. Dezember 1933 seinen Protest kund. Eines dieser Telegramme ging an Reichsjugendführer Baldur von Schirach,40 die beiden anderen an Reichsbischof Ludwig Müller. Das zweite, härter formulierte, lautet: „Westrundfunk meldet: Preisgabe Evangelischen Jugendwerks durch Reichsbischof. Abgesehen von mangelnder Vertretungsbefugnis kam Dolchstoß gerade von da unerwartet. Kirche stirbt von Bischofshand. In Scham und Trauer über solche Kirche Christi. Gerstein, Diplomingenieur, Gemeindekirchenrat Hagen.“41 Am 18. März 1934 schrieb er an seinen Freund Egon Franz: „In mir wächst, im Gegensatz zu mancher früherer Feigheit, Schüchternheit und Zurückhaltung, mehr und mehr der Mut, jedermann ein ganz klares Zeugnis abzulegen: Jesus Christus der Herr! Das zu bezeugen wird mir ein immer mehr unausweichbares Muß.“42 Im Jahr 1934, noch nicht 30 Jahre alt, wurde Kurt Gerstein, mitten in seiner Berufsentwicklung stehend, zusätzlich zu seinen bisherigen kirchlichen Funktionen in den „Rat der Bekennenden Kirche Deutschlands“ berufen. Über ihn als ehrenamtlich verantwortlichen Repräsentanten waren die Bibelkreise der organisierten Jugendbewegung der Evangelischen Kirchen an den Bruderrat gebunden. Er stand im Spannungsfeld historisch gewachsener Traditionen einerseits und revolutionären Umbruchs andererseits, und das konnte auch er nicht verborgen halten. Am 8. Mai 1934 folgte ein weiteres, sehr ausführliches und in äußerst konziliantem Ton abgefaßtes Protestschrieben an den Reichsjugendführer, das ein Oberbannführer Fri39
Vgl. Katthagen, Alfred, Kurt Gerstein – eine deutsche Passion in der Hitlerzeit, Selbstverlag o. O. 1985, passim. 40 Abschrift im Besitz des Autors Gerstein. Der Wortlaut in originaler Orthographie: „zerschlagung evangelischen jugendwerkes bedeutet praktisch unterhöhlung ja zerschlagung protestantismus. ihr wisst es nicht und könnte es nicht wissen, was das für deutsches volk und deutschen osten bedeutet. Wir wissen es und warnen nochmals dringend. wohlgesonnen aber in starker bestürzung. rappold, vom bruch, gerstein, diplomingenieur, Hagen westfl.“ Die Formulierung „wohlgesonnen“ ist vor dem Hintergrund der Härte der an den Reichsbischof gerichteten Worte durchaus ambivalent zu verstehen. 41 Abschriften im Archiv des Autors Gerstein. 42 Lk. A., 5.2, Nr. 306 (183).
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szewsky wie folgt beantworten ließ: „Ich bestätige den Eingang Ihres Schreibens vom 8. ds. Mts. Und verbitte es mir ein- für allemal, in derart unverschämten Auslassungen über den Reichsjugendführer an uns heranzutreten. Weitere Massnahmen gegen Sie behalte ich mir vor.“43 Gerstein notierte für den ihm vertrauten Kreis innerhalb der Kirche, daß mit dieser Äußerung geklärt sei, daß mit dem NSSystem keine Verständigung möglich sei. Der Bruch zwischen ihm und dem herrschenden System war offenbar, denn eine völlige Gleichschaltung unterschiedlicher Kräfte und Richtungen lehnte er ab. Daraus folgt, daß er lebhaft gegen Verhöhnung des persönlichen Glaubens protestierte. Am 30. Januar 1935 kam es zu einem Eklat.44 Während einer Aufführung des rassistisch-heidnischen Trauerspiels „Wittekind“ im Stadttheater Hagen anläßlich einer Parteiweihefeier protestierte Kurt Gerstein laut gegen die in diesem Stück enthaltenen antichristlichen Aussagen: „Unerhört! Wir lassen uns unseren Glauben nicht unwidersprochen öffentlich verhöhnen!“45 Er wurde niedergeschlagen und büßte zwei Zähne ein.46 Ein Polizist, der im Theater Dienst hatte, blickte gezielt in die andere Richtung und erstattete keine Meldung. Nicht zuletzt als Corpsstudent hatte Gerstein gelernt, sich zu stellen, die Anpassung zu vermeiden, wenn sie schädlich war, die Folgen seines Handelns auf sich nehmen. 1935 trat Gerstein auch in die SA ein. Ein Schreiben aus dem Mai dieses Jahres an Baldur von Schirach ist bekannt. Darin preist Gerstein den Nationalsozialismus als „großes einigendes Band über unserem zerrissenen Volk“. Die Umwälzungen, die der Nationalsozialismus gebracht hatte, stellte er augenscheinlich als positiv dar, aber was meinte er wirklich? Die verschiedentlich vertretene Meinung, sein Glauben an eine gute Zukunft unter dem Hakenkreuz sei damals – 1935 – nicht ganz erloschen gewesen, läßt sich angesichts der belegten Fakten kaum halten. Unter anderem spricht dafür, daß er im März 1936 über schockierende Zustände in Waisenhäusern und Behinderteneinrichtungen informiert war.47 Im Herbst 1936 folgte ein weiterer Eklat. Gerstein benutzte die 1. Hauptversammlung des Vereins deutscher Bergleute, die er im Auftrag der Saargrubenverwaltung ab dem Mai jenes Jahres organisiert hatte, zur Verteilung von Schriften der Bekennenden Kirche.48 Die Gestapo kam ihm durch Flugschriften mit scherzhaftem Inhalt auf die Spur,49 in denen er zum Beispiel dezidiert Bezug auf den Fall des verhafteten und mit Redeverbot belegten Pfarrers Steinbauer aus Penzberg ge-
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Abschrift im Besitz des Autors Gerstein. Möglicherweise fand dieser Eklat auch schon 1934 statt. Vgl. dazu: Lk. A., 5.2, Nr. 220 (96). Bei Gräbner, Zeuge, S. 153, dagegen auch: 30. Januar 1935. 45 Gräbner, Zeuge, S. 69. 46 Hollweg, Hans-Georg, In memoriam Kurt Gerstein, Abruf am 6. Juli 2011. 47 Lk. A., 5.2, Nr. 336 (213). 48 Lk. A., 5.2,, Nr. 172 (48); die Versammlung fand vom 24. bis 27. September statt. 49 Schäfer, Gerstein, S. 100. 44
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nommen hatte.50 Bei einer Durchsuchung seines Büros wurden dann tausende von versandfertigen Briefen mit Broschüren der Bekennenden Kirche gefunden.51 Gerstein wurde am 24. September 1936 im Saarbrücker Zuchthaus inhaftiert und erst nach vier Wochen entlassen. Die NS-Kreisleitung erwirkte unverzüglich, und das wurde zum 27. September wirksam, seine Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst – trotz der Intervention des für die Bergbauverwaltung zuständigen preußischen Wirtschaftsministers, Hjalmar Schacht. Mit akribischer Genauigkeit wurden nun seine Treffen im kirchlichen Kontext untersucht, doch Gerstein konnte hier die Spuren etwas verwischen und sich mit Notlügen aus einigen Vorwürfen herausreden – etwa mit dem Hinweis, man habe Schriften von Friedrich Schiller gelesen. Was die Gestapo nicht genauer prüfte, war der Inhalt dieser angeführten Schriften – bei Schiller, dem Gelehrten, dem Unangepaßten, dem Autor der „Räuber“, wäre durchaus als regimekritisch zu interpretierender Inhalt zu finden gewesen.52 Wenige Tage später, am 2. Oktober, verfügte ein NS-Schiedsgericht den entehrenden Ausschluß aus der NSDAP. Auf Wunsch des Vaters, gegen die eigene Überzeugung appellierte Gerstein an das oberste Parteigericht der Nazi-Partei in München, diesen Spruch aufzuheben.53 Dadurch konnte der schmähliche Ausschluß in eine zumindest formell ehrenvolle Entlassung gewandelt werden.54 Damit war er beruflich ruiniert, denn für eine verantwortliche Stellung im Bergbau war in jenen Jahren ein Parteibuch nötig. Ihm blieben nur Gewinnausschüttungen, die er aus einem geerbten Anteil an der Firma De Limon Fluhme & Co. in Düsseldorf bezog,
50 Vgl.: Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 4; siehe auch: Blendinger, Christian, Nur Gott und dem Gewissen verpflichtet. Karl Steinbauer – Zeuge in finsterer Zeit. Ein Textund Lesebuch, München 2001, passim; Rehm, Johannes (Hrsg.), Steinbauer, „Ich glaube, darum rede ich!“ Karl Steinbauer – Texte und Predigten im Widerstand. Tübingen 1999, passim. 51 So beispielsweise: Hey, Gerstein, S. 41. 52 So zum Beispiel in einer prosaischen Schrift aus der zweiten Periode, übertitelt mit: Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon; beispielhaft darin folgende Textstelle (in originaler Orthographie): „Eine einzige Tugend war es, die in Sparta mit Hintansetzung aller andern geübt wurde, Vaterlandsliebe. / Diesem künstlichen Triebe wurden die natürlichsten schönsten Gefühle der Menschheit zum Opfer gebracht. / Auf Unkosten aller sittlichen Gefühle wurde das politische Verdienst errungen, und die Fähigkeit dazu ausgebildet. In Sparta gab es keine ehliche Liebe, keine Mutterliebe, keine kindliche Liebe, keine Freundschaft – es gab nichts als Bürger, nichts als bürgerliche Tugend. Lange Zeit hat man jene spartanische Mutter bewundert, die ihren aus dem Treffen entkommenen Sohn mit Unwillen von sich stößt, und nach dem Tempel eilt, den Göttern für den gefallenen zu danken. Zu einer solchen unnatürlichen Stärke des Geistes hätte man der Menschheit nicht Glück wünschen sollen. Eine zärtliche Mutter ist eine weit schönere Erscheinung in der moralischen Welt, als ein heroisches Zwittergeschöpf, das die natürliche Empfindung verläugnet, um eine künstliche Pflicht zu befriedigen.“ Schiller, Friedrich, Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon, in: Sämmtliche Werke, Stuttgart 1867, Bd. 2, S. 1207 – 1219, hier: S. 1211; vgl.: Lautenbach, Ernst, Lexikon Schiller-Zitate. Aus Leben und Werk, München 2003. S. 470. 53 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 53. 54 Hey, Gerstein, S 43.
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einer Spezialfabrik für automatische Schmieranlagen in Lokomotiven.55 Diese Gelder waren zwar gewinnabhängig, kamen aber monatlich.56 Zeitweise war Gerstein dort beschäftigt. Im Februar 1937, noch im Wintersemester, begann Gerstein ein Studium der Medizin am „Deutschen Institut für ärztliche Mission“ in Tübingen. Er erfüllte sich damit einen „Lieblingswunsch“, denn er hatte schon früher mit dem Gedanken gespielt, Missionsarzt zu werden. Eine gedankliche Alternative war, nach England auszuwandern.57 Ein Jahr später, am 31. August 1937, heiratete er seine Elfriede. Die kirchliche Trauung zelebrierte am 2. November der Bischof Otto Dibelius, einer der führenden Köpfe der Bekennenden Kirche.58 In jenen Jahren spielte er mit dem Gedanken, Deutschland auch aus politischen Gründen zu verlassen, um sich nicht nur der medizinischen, sondern auch der christlichen Missionsarbeit zu widmen; auch eine Auswanderung nach Amerika erwog er zeitweise. Das war verständlich. Kurt Gerstein, nun angehender Mediziner, wurde bald mit neuen, schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten konfrontiert – der sogenannten Euthanasie, der massenhaften Ermordung behinderter Menschen. Diese meist völlig wehrlosen und jedenfalls unschuldigen Menschen wurden im unsäglichen Jargon der NS-Ideologie als „unwertes Leben“ bezeichnet, Gerstein wurde unter anderem durch den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm über diese Morde informiert.59 Bertha Ebeling, die Schwester der Ehefrau seines Bruders Karl, also eine angeheiratete Schwägerin, wurde in der Landesheilanstalt Hadamar bei Limburg ermordet, weil sie von einer Verhaltensstörung betroffen war.60 Dies war für Gerstein der letzte Beweis dafür, wie unmenschlich die totale Herrschaft der NSDAP war,61 zugleich war es das erste Faktum, das er später, 1942 und dann 55 Vgl.: http://www.ns-archiv.de/verfolgung/gerstein/gerstein-bericht.php, Abruf am 10. Juli 2011. 56 Lk.A., Nr. 232. 57 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 54; Gerstein steht hier auf einer Linie mit Leuten des Widerstands wie Adam v. Trott zu Solz, Hasso v. Etzdorf oder Eduard Brücklmeier. 58 Lk. A., 5.2, Nr. 402 b (279), ebd., Nr. 525 (402); Schäfer, Gerstein, S. 116; das an einigen Stellen wiedergegebene Hochzeitsphoto stammt von diesem Tag. 59 Gräbner, Zeuge, S. 110. 60 Vgl.: Gräbner, Zeuge, S. 33; Auslöser für die Verhaltensstörung war demnach ein sexueller Übergriff durch einen Exhibitionisten, dessen Opfer Bertha Ebeling als junges Mädchen geworden war. 61 Zu dieser Zeit bewies sich, wie einschneidend ein Wort eines Kirchenfürsten war. Nach dem Hirtenbrief des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, wurde die Euthanasie erst einmal gestoppt. Graf Galen war Mitglied der F.A.V. Rheno-Guestfalia Hannoversch Münden zu Göttingen im CV, vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Clemens_August _Graf_von_Galen, Abschnitt „Sonstiges“, Abruf am 13. Februar 2011. Zu dieser Zeit standen sich die katholische und evangelische Konfession im Reich fast unversöhnlich gegenüber, denn bei Letzterer dominierten zahlenmäßig die „Deutschen Christen“, bei denen ein Hitlerbild auf dem Altar seinen festen Platz hatte. Aber der Hirtenbrief des Münsteraner Bischofs Graf Galen wurde vielerorts in den evangelischen Gemeinden abgeschrieben, zitiert und weitergetragen, vgl.: Hollweg, In memoriam, Abruf am 6. Juli 2011. Bei den Nationalsozia-
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wieder 1945, in seinen Berichten verwenden sollte. Als er diesen Fall öffentlich zu machen versuchte, wurde das reichsweit über ihn verhängte „Redeverbot“ verschärft. Doch Gerstein waren Zielsetzung und mögliche Gefahren durch die Verbrechen der Euthanasie nun völlig klar. Von Kontaktleuten in Kirchenkreisen erhielt er immer mehr Beispiele für die menschenverachtende Zielsetzung des herrschenden Nationalsozialismus in seinem totalitären Wirken. Im Bruderrat der Bekennenden Kirche war er als stellvertretender Reichswart der Bibelkreise Mitglied, die Leitung dieses Gremiums hatte Pastor Martin Niemöller. In Barmen, heute ein Teil der Stadt Wuppertal, hatte er oft neben ihm und dem Burbacher Pastor Walter Thiemann gesessen. Während der Urteilsverkündung im Prozeß der Nationalsozialisten gegen Niemöller war Gerstein im Amtsgericht Tiergarten vor Ort. Niemöller, unter anderem durch den Corpsstudenten Hans Koch verteidigt,62 wurde im Strafverfahren wegen Verstoß gegen das Heimtückegesetz zwar freigesprochen, jedoch umgehend auf persönliche Weisung Hitlers und ohne irgendeine rechtliche Handhabe in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Gerstein war der Letzte, von dem sich Niemöller im Gerichtsflur verabschieden konnte.63 Am 14. Juli 1938 kam Kurt Gerstein erneut wegen staatsfeindlicher Betätigung in Haft; er wurde seitens der Gestapo verdächtigt, an einem Stuttgarter Widerstandszirkel um den ehemaligen Staatspräsidenten von Württemberg, Eugen Bolz, einem Tübinger Guestphalen,64 beteiligt zu sein. Der Vorwurf lautete unter anderem auf „monarchistische Umtriebe“65 – unter dem NS-Regime, das seiner inhaltlichen Grundlage nach sozialistisch war, ein eklatantes Vergehen. Gerstein wurde in das Konzentrationslager Welzheim bei Stuttgart verschleppt. Sechseinhalb Wochen dauerte seine Haft66 – eine Zeit, die ihn stark belastete und menschlich ernster werden ließ.67 Nicht allein die Bedrängnis persönlicher Erniedrigung, das Schicksal eines Mithäftlings bestätigte ihn in tiefsten Ahnungen, es erklärte die Mittel, die verbrecherische Methodik eines menschenverachtenden Systems. Ein Mitgefangener hatte auf Veranlassung der politischen Polizei eine Falschaussage gemacht – listen siegte das Kalkül nach den Protesten des Bischofs Graf Galen gegen die Euthanasiemorde über die unmenschliche Gesinnung. Vermindert und besser getarnt ging dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch weiter. 62 Hans Koch war Königsberger Balte. Ein Aufsatz in diesem Band ist ihm gewidmet. Vgl.: KCL, Nr. 84 – 287. 63 Kurt Gerstein behielt auch nach dessen Verhaftung Niemöller „im Blick“. Unter der Tarnung der SS-Uniform verschaffte er sich immer wieder Informationen über das, was Niemöller angetan wurde. Zudem kümmerte er sich in praktischen Dingen um die Familie – unter anderem kaufte er ein Fahrrad für eines der Kinder und verschaffte Frau Niemöller die finanzielle Möglichkeit, zu reisen. Auskunft Klaus Gerstein am 2. Juli 2011. 64 Eugen Bolz war Mitglied der CV-Verbindungen Guestphalia Tübingen, Bavaria Bonn und Suevia Berlin, vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Bolz, Abruf am 23. März 2014. 65 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 55. 66 Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 5. 67 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 56 f., S. 62.
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rechtlich ein Meineid. Ein Verfahren wegen Hochverrat wurde am 8. Oktober mangels Beweisen eingestellt. Unmittelbar danach trat das Ehepaar Gerstein die – wahrscheinlich wegen der Querelen mit dem NS-Regime – um ein Jahr verspätete Hochzeitsreise an. Im Oktober 1938 schrieb Kurt an seinen Onkel Robert Pommer in den USA.68 Er nutzte die Aufenthalte in Venedig69 und Rhodos,70 wohin die Gersteins mit dem italienischen Dampfer „Grimani“ reisten, um diverse Briefe auf den Weg zu bringen, denn sie fürchteten – zu Recht – die Zensur der Gestapo. Der Brief an den Onkel stellt dabei eine schonungslose Analyse dar: „Wir haben den Nationalsozialismus politisch bejaht. Wir müssen aber feststellen, dass wir in religiöser Beziehung in der tollsten Weise an der Nase herumgeführt wurden. Der Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus will den Menschen mit Leib und Seele restlos erfassen und beherrschen.“ Der Nationalsozialismus erkläre „jede ernsthafte Bindung an Gott für höchst überflüssig und schädlich. (…) Es handelt sich darum auch gar nicht mehr um frühere Fronten: Hier Deutsche Christen, dort Bekenntniskirche oder Niemöller, sondern darum: soll das deutsche Volk, die deutsche Jugend, weiter in irgend einer ernst zu nehmenden Form etwas von Gott wissen und hören, oder soll sie nur an die Blutfahne, an Kult- und Weihestätten, Blut und Boden, Rassen glauben?“71 Um die Jahreswende 1938/39 legte Gerstein die Auswertung der Erfahrung mit seiner Schriftenreihe der Leitung der Bekennenden Kirche vor mit dem Vorschlag, im Sinne dieser Schriften in einer zeitnahen natürlichen Sprache, die auch in den Gruppierungen der Nationalsozialisten üblich sei, nicht in der traditionellen Sprache der Theologen, über die wahren Werte des Lebens zu schreiben. Doch er wurde abgewiesen mit dem so knappen wie eindeutigen Hinweis auf die hierfür gegebene Zuständigkeit der Landeskirchen. Mit dieser Antwort war geklärt, daß innerhalb der Amtskirche ein sinnvoller Widerstand gegen die geistige Unterwanderung nicht möglich war. Gerstein würde einen einsamen Weg gehen müssen – das wurde zunehmend klarer.72
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Gerstein kannte Pommer seit Kindertagen, er war aus den USA in Saarbrücken zu Besuch und hätte Kurts älteren Bruder gerne mit in die USA genommen; vgl. dazu: Gerstein, Geschichte der Familie, S. 186. Hier könnte ein Grund dafür zu suchen sein, daß Kurt Gerstein ab 1936 mit dem Gedanken spielte, auszuwandern. 69 Schäfer, Gerstein, S. 244. 70 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 59. 71 Lk. A., 5.2, Nr. 159 (35). Hey, Bernd, Kurt Gerstein im Widerstand: Versuch einer Positionsbestimmung, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte, Bd. 93, 1999, S. 233, erkennt erst in diesem Brief die endgültige Abkehr Gersteins vom Nationalsozialismus. Möglicherweise bewertet er dabei die Kritik Gersteins ab 1933 zu gering. Hier sind zwei Briefe an seinen Freund Egon Franz zu nennen, vgl.: Lk. A., 5.2, Nr. 301 und 302, weiter zwei Telegramme vom 21. Dezember 1933. 72 Lt. Hey, Gerstein, S. 35, erzielte Gerstein mit Schriften, die Sittlichkeit, Reinheit und Glaubensfragen zum Thema hatten, eine Gesamtauflage von mindestens 230.000 Stück. G. selbst sprach von 250.00 Exemplaren; vgl. dazu: Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 61.
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Mit demselben Thema, dem Einsatz von Schriften lebensnaher Wertevermittlung auf der Grundlage seiner Schriftenreihe, stieß er schließlich im November 1939 im Reichsministerium für Erziehung auf Interesse. Doch die Furcht vor der Vereinnahmung durch nationalsozialistische Ideologen, durch geheimpolizeiliche Überwachung und Ausschaltung ließ ihn zögern, führte zum entschiedenen „Nein“ für diesen Weg. Seine berufliche Zukunft war völlig ungewiß; zeitweise verdingte er sich als Betriebsassistent in einem Kalibergwerk in Kaiseroda in der Rhön, dies auf Vermittlung des Industriellen Hugo Stinnes,73 und als Reise-Ingenieur für De Limon Fluhme.74 An den vielen Euthanasieverbrechen, von denen er gehört hatte, war Gerstein der Charakter des NS-Regimes klargeworden. Was er wußte, ließ ihm keine Ruhe. Er erwog einen Plan, der gewagt und radikal zugleich war. Er wollte in die Waffen-SS eintreten, um die Wahrheit über die Morde in den Nervenheilanstalten herauszufinden.75 Sein Verhalten war damit diametral gegenläufig zu seiner Erkenntnis, und dieser ungewöhnliche Weg ist es, der für lange Zeit verhindert hat, daß Kurt Gerstein als der bedeutende Widerstandskämpfer, der er war, erkannt wurde. Um die Jahresmitte 1940 war Gersteins Entschluß, in das Zentrum des Bösen vorzustoßen, um beweisen zu können, offenbar endgültig gefaßt; am 17. August meldete er sich als Freiwilliger bei der Waffen-SS, am 29. August stellte er einen Aufnahmeantrag. Hans-Georg Hollweg, der Gerstein aus den Jugendlagern der Bekennenden Kirche kannte und in dessen Elternhaus Gerstein oft zu Gast war, gibt hiervon Nachricht: „Ein Abend ist für mich unvergesslich. Es war wohl 1940, ich war elf Jahre alt. Kurt Gerstein erklärte meinen Eltern, daß er sich freiwillig zur SS melden wolle. Man müsse erfahren, was für schreckliche Dinge im Osten vor sich gingen. Gerüchtweise hörte man von Massenerschießungen und unsagbarer Brutalität in den Arbeitslagern. Meine Mutter, die sich sonst mit ihm so gut verstand, wurde ganz heftig und sagte im scharfen Ton: Sie haben Frau und Kinder, das können Sie nicht. Kurt Gerstein antwortete, es muß einer hinter die Kulissen schauen und die Verbrechen bekannt machen.“76 Und an anderer Stelle äußerte Gerstein: „Wenn Sie merkwürdige Dinge von mir hören, so denken Sie nicht, ich sei ein anderer geworden.“77 73
Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 6. Lk. A., 5.2, Nr. 165. 75 Gerstein, Kurt, In der SS, in: Steinbach, Peter und Tuchel, Johannes, Widerstand in Deutschland 1933 – 1945. Ein historisches Lesebuch, München 1994, S. 177: „Als ich von der beginnenden Umbringung der Geisteskranken in Hadamar und Grafeneck und andernorts hörte, beschloß ich auf jeden Fall den Versuch zu machen, in diese Öfen und Kammern hineinzuschauen, um zu wissen, was dort geschieht.“ Vgl.: Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 71; Gräbner, Zeuge, S. 112 f.; Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 6. 76 Hollweg, In memoriam, Abruf am 6. Juli 2011. Der Ohrenzeugenbericht wurde übermittelt durch Dieter Hollweg, den jüngeren Bruder Hans-Georgs. 77 Zitat bei: Hey, Gerstein, S. 49; zum Werdegang in der Waffen-SS vgl.: Gräbner, Zeuge, S. 157. 74
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III. Zyklon B Kurt Gerstein setzte seinen Plan um. Am 10. März 1941 trat er formell in die Waffen-SS ein. Trotz seiner Zusammenstöße mit dem NS-Regime und seiner beiden Verhaftungen aus politischen Gründen wurde er angenommen. Daß hierbei einige ausgeprägte Charakterzüge in seiner Persönlichkeit eine nicht unerhebliche Rolle spielten, ist nicht ausgeschlossen. Bernd Hey spricht von einem „Hang zur großen Pose“ und nennt Gerstein einen „nicht unbegabten Selbstdarsteller“.78 Doch Gerstein war, unabhängig von seiner Attitüde, die hier erahnbar wird, klar und eindeutig in seiner Richtung. Die läßt sich wie folgt beschreiben: „Ich weiß, ich bin rasend streng und werde auch immer strenger. Aber es ist nötig, sonst gerät man unbewußt in zweideutige Gesellschaft.“79 Sein formeller Eintritt in die Waffen-SS ist dabei in klarem zeitlichem Zusammenhang zu sehen zur Urnenbestattung für seine Schwägerin Bertha Ebeling am 20. Februar 1941 in Saarbrücken, die Opfer der Euthanasie-Morde des NS-Regimes geworden war.80 Seine Grundausbildung absolvierte Gerstein in Hamburg-Langenhorn, in Arnheim in Holland und dann in Oranienburg, wo sich ein großes Konzentrationslager befand, das er kennenlernte.81 An seine Frau schrieb er Briefe, in denen zwischen den Zeilen herauszulesen war, daß er das System durchschaute.82 Von Arnheim aus trat er sofort mit seinem alten Studienfreund J. Hermann Ubbink, der im nahen Doesburg wohnte, in Kontakt. Mit ihm tauschte er auch regimekritische Bücher, so etwa „Gespräche mit Hitler“ von Hermann Rauschning.83 Gerstein wurde gegen Ende seiner Ausbildung in seinen Qualitäten erkannt und zunächst als Ausbilder in die Sanitätsschule Oranienburg befohlen.84 Auf stille In78
Hey, Positionsbestimmung, S. 230. Moltke, Helmuth James Graf v., Brief vom 8. November 1941, in: Briefe an Freya 1939 – 1945, München 2007, S. 314. 80 Brayard, Grasping in the spokes, S. 64; Gräbner, Zeuge, S. 112, datiert die Beerdigung auf den 22. Februar 1941. 81 Lk. A., 5.2, Nr. 169 (45). 82 Brief von Gerstein im Landeskirchlichen Archiv Bielefeld, 5.2, Nr. 92: „Die Härte dieser selbst gewählten Schule übertrifft selbst kühne Erwartungen. Das heißt nicht, daß ich diese Härte nicht bejahte.“ Ebd., Nr. 100, Nr. 130: „Ich hatte insgesamt viel Härte und Strenge erwartet. Aber was hier geboten wird, geht über das vorstellbare Maß. Da ist – bewußt – jede Heereseinheit ein Dreck dagegen. Es gehört ein Unmaß von Zähigkeit und ein leidenschaftlicher Wille dazu, dies in meinen Jahren zu bestehen. Hier herrscht eine selbst mir, der ich vieles erlebte, beispiellose Härte, die das Allerletzte aus dem einzelnen herausholt. (…) Daß man dabei selbst auch unendlich viel härter wird, ist eine ganz natürliche Folge. Würde man es nicht, würde man zerbrechen.“; vgl.: ebd., Nr. 98, Nr. 120. Die Orthographie der vorstehenden Zitate wurde in Kleinigkeiten angepaßt. 83 Dieses Buch, das Hitler leidenschaftlich anklagt, wurde von den Zeitgenossen als glaubwürdige und sensationelle Tatsachenbeschreibung aufgefaßt; heute ist dagegen bewiesen, daß wesentliche Teile seines Inhalts fiktional sind. 84 Schäfer, Gerstein, S. 155. 79
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tervention und Vermittlung Walter Schellenbergs85 wurde er dann jedoch als Untersturmführer der Waffen-SS – einem Leutnant entsprechend – dem Hygieneamt der Waffen-SS in Berlin als Fachführer zugeteilt. Seine Aufgabe war der Aufbau und die Leitung einer Abteilung „Technische Hygiene“, die es bis dahin noch nicht gegeben hatte; das begründet auch seine Beförderung, denn kraft Amt stand ihm nun ein Offiziersrang zu. Seine Verwendung betraf die Desinfektion der Truppen, der Lager, die Wasserreinhaltung, den Kampf gegen Typhus, Cholera und vor allem gegen Fleckfieber, das durch Läuse übertragen wird. Ihm oblagen die Konstruktion und der Bau von Anlagen, die diesem Zweck dienen sollten. Hierin war er sehr erfolgreich.86 Eine Fleckfieberepidemie in mehreren Lagern konnte 1941 eingedämmt werden. Ein wichtiges und erprobtes Mittel zur Desinfektion war übrigens schon damals Blausäure, die von den Herstellern in ein poröses Trägermaterial eingebunden und unter der Bezeichnung Zyklon – auf schreckliche Weise sollte sie wenig später unter „Zyklon B“ bekannt werden – vertrieben wurde. Gerstein ging seinen Weg des Kundschafters im Reich des Bösen mit Gelassenheit. Er hat eine Beschäftigung, sein fachlicher Rat war begehrt, es ging ihm rein äußerlich gesehen gut. Er nahm, als sich eine Gelegenheit dazu bot, sogar eine Schallplatte auf. Das war im November 1941,87 Gerstein stand mitten in Paris vor dem Mikrophon eines Plattenstudios und verkündete sinngemäß: „Hier steht zwischen Ihnen ein Offizier der SS. Ich spreche Verse aus der Ilias von Homer in Gedenken an meinen Griechischlehrer in Neuruppin, Professor Meyer, der, wie kaum ein anderer in Deutschland, Wert darauf legt, gerade in unserer Zeit den Geist der Humaniora nicht einschlafen zu lassen.“88 Auch der Direktor des FriedrichWilhelms-Gymnasiums zu Neuruppin, Dr. Conrad Lisco, findet Erwähnung.89 Sponsor dieser Plattenaufnahme war Ernst Heimeran, Verleger in München. Sicherlich hat Gerstein bewußt an humane Werte appelliert – und eben nicht an den Geist der NS-Zeit. Ein Exemplar der Schallplatte ist erhalten.90 Doch wie und durch wessen Vermittlung hat Kurt Gerstein den Münchner Verleger zum Sponsor gewinnen können? Das ist in keinem Archiv belegt, Zeitzeugen sind nicht befragt worden. Möglicherweise war es Dr. Hans-Günther Hauffe, 1923 rezipiert bei Rhenania Tübingen,91 Fachjurist für Urheber- und Verlagsrecht, Intimus bei Ernst Heimeran. Mit 85
Schellenberg war Marburger Guestphale, vgl.: KCL 1996, Nr. 54 – 423. Vgl. dazu: Gerstein, In der SS, S. 178, über die von ihm gebauten Anlagen: „Hierin hatte ich unverdientermaßen große Erfolge und wurde von da ab für eine Art technisches Genie gehalten.“ 87 Die auf den 12. November 1941 datierte Rechnung des Aufnahmestudios ist erhalten. Siehe: Lk. A., 5.2, Nr. 648 (525). 88 Der zweite Teil des Zitats auch bei: Joffroy, Spion, S. 170 f. 89 Lk. A., 5.2, Nr. 539 (416); vgl. auch: ebd., Nr. 7 (5.2 Fasc.2); ebd., Nr. 191 (67). 90 Schallplatte im Besitz des Lk.A.; das Exemplar war beschädigt, wurde jedoch aufgearbeitet. 91 KCL, Nr. 128 – 783. 86
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diesem verband Gerstein die Liebe zum gelebten Humanismus. Hauffe und Gerstein waren in etwa gleich alt, in Tübingen oder Marburg werden sie sich begegnet sein, denn ihre Corps waren und sind durch ein Kartell verbunden. Im Dezember 1941 wurde Gerstein von einem der Mitglieder des Schiedsgerichts der NSDAP, das am 2. Oktober 1936 seinen entehrenden Parteiausschluß erwirkt hatte, wiedererkannt; anläßlich der Trauerfeier für seinen Bruder Alfred war er in Uniform erschienen. Dieser Richter protestierte mit Verweis auf die damals erkannte „Unzuverlässigkeit“ gegen Gersteins Verwendung bei der Waffen-SS.92 Gerstein wurde von Himmler persönlich vorgeladen und befragt, doch statt einer Sanktion erhielt er das Recht auf Uniformerleichterung. Grund dafür waren seine Erfolge einerseits und seine Persönlichkeit, die als sehr idealistisch geprägt erkannt und – vorläufig – geschützt wurde.93 Und wenige Wochen später, im Januar 1942, stieg er auf zum Chef der Abteilung Gesundheitstechnik. Was Gerstein nicht wußte, nicht wissen konnte, vielleicht ahnte: inzwischen war in Berlin die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen worden. Seit dem 8. Dezember 1941 war in Chelmo am Ner, einem Fluß, das erste Vernichtungslager der Nationalsozialisten in Betrieb; wenige Wochen später folgte das Lager in Belzec, gelegen an der Bahnlinie von Lublin nach Lemberg.94 Die massenhaften Morde erfolgten zu diesem Zeitpunkt zumeist durch Kohlenmonoxyd aus den Abgasen von Verbrennungsmotoren. Der offizielle Beginn der planvollen Ermordung von Menschen, übrigens nach dem Vorbild der Vernichtung des armenischen Volkes durch das Regime der Jungtürken im Osmanischen Reich – erfolgte bald. Das als „Wannseekonferenz“ bekanntgewordene Treffen von 15 hochrangigen Vertretern des NS-System unter Leitung von Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942 symbolisiert den schaurigen Übergang in die Realisierungsphase des menschenverachtenden Planes der Ermordung aller Menschen jüdischen Glaubens in Europa. Die Folgen dieser entsetzlichen Radikalisierung des Verbrechens sollten bald auch Kurt Gerstein betreffen. Im SS-Hygieneamt erhielt Gerstein am 8. Juni 1942 Besuch von einem unauffälligen Herrn in Zivil.95 Es war Obersturmführer Günther, der Adjutant Adolf Eichmanns, der seinerseits von Heydrich als „Beauftragter für Judenangelegenheiten“ eingesetzt worden war und an der Wannseekonferenz als Protokollant teilgenommen hatte. Günther gab Gerstein den Auftrag, 260 Kilo Blausäure zu beschaffen96 und mit dieser in einem Auto an einen Ort zu fahren, den nur der Fahrer des Wagens kenne.97 Es handelte sich um den Auftrag, erstmals eine große Menge des 92
Gräbner, Zeuge, S. 157. Gerstein, In der SS, S. 179. 94 Beispielhaft: Laqueur, Walter, Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers „Endlösung“, Berlin 1981, S. 21. 95 Ebd. 96 Schäfer, Gerstein, S. 163; Hey, Gerstein, S. 53; Brayard, Grasping in the spokes, S. 49. 97 Joffroy, Spion, S. 488, vgl.: http://www.ns-archiv.de/verfolgung/gerstein/gerstein-be richt.php. 93
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Giftgases, als Zyklon B gebunden, für die Vergasung der Juden in den Konzentrationslagern zu beschaffen – ohne die übliche Beimengung von Warn- und Reizstoff,98 da es so besser zum Töten von Menschen geeignet sein würde. Gerstein konnte diesen geheimnisvollen Auftrag mangels Wissen zunächst nicht vollständig zuordnen. Der Auftrag wurde Mitte August 1942 umgesetzt. Eine erste Sendung sollte, so stellte sich nach Umwegen heraus, in das Lager Belzec gehen, weitere Lieferungen von Zyklon B waren für das am 23. Juli in Betrieb gegangene Lager Tréblinka nördlich von Warschau und für das seit Mai 1942 zum Vernichtungsort gewordene Sobibor in Ostpolen vorgesehen;99 weitere Lager, zum Beispiel Majdanek, waren im Aufbau. Der Auftrag zur Beschaffung der Blausäure erging an Gerstein, weil er im Hygieneamt der Waffen-SS zuständig war für den Bereich der Gesundheitsvorsorge und der Seuchenbekämpfung. Für die mit der Organisation der Konzentrationslager Verantwortlichen galt er damit als der zuständige Sachverständige für Gase. Zyklon B zu Tötungszwecken. Kurt Gerstein war sich der unmenschlichen, eigentlich unfaßbaren Tragweite dieses Auftrags bewußt. Für die Herstellung war die Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung, kurz Degesch, zuständig.100 Deren Geschäftsführer, Dr. Gerhard Friedrich Peters, ersuchte er gemäß seines Auftrages, das Zyklon B geruchslos und ohne Reizstoffe auszuliefern. Gleichzeitig fragte er aber nach Möglichkeiten, das Zyklon B zu zersetzen – in der Absicht, durch die fachliche Beurteilung aus dem Bereich des Herstellers bessere Möglichkeiten in die Hand zu bekommen, die Lagerbestände aus dem Verkehr zu ziehen, denn er fühlte sich „als Sachverständiger für Blausäure so autoritär und kompetent, daß es mir auf jeden Fall ein Leichtes sein mußte, die Blausäure unter irgendeinem Vorwand als untauglich – weil zersetzt oder dergleichen – zu bezeichnen und ihre Anwendung für den eigentlichen Tötungszweck zu verhindern.“101 Gerstein, der nicht durch Treue zum NS-Regime ausgewiesen war, bekam diesen Auftrag ausschließlich, weil er Experte auf dem Gebiet des Einsatzes von Blausäure war.102 Die Annahme des Auftrages begründete er 1945 in seinem Bericht so: „Ich konnte mir die Art des Auftrages ungefähr denken. Ich übernahm ihn jedoch, weil 98
Brayard, Grasping in the spokes, S. 58; ders., Humanitarian concern versus Zyclon B, in: Roth, John K. und Maxwell, Elisabeth, (Hrsg.), Remembering for the future. The Holocaust in an age of Genocide, vgl.: Palgrave (USA) 2001, S. 54 – 65; zu Degesch und Peters vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Gesellschaft_für_Schädlingsbekämpfung, Abschnitt: Strafrechtliche Folgen, Abruf am 12. Dezember 2013. 99 Laqueur, Was niemand wissen wollte, S. 21 f. 100 Eigentümer der Degesch waren ab 1936 die Degussa und die Bayer AG mit jeweils 42,5 Prozent sowie die Firma Th. Goldschmidt, Essen, heute wie die Degussa eine Tochterfirma der Evonik AG, mit 15 Prozent. 101 Dieses Zitat stammt aus der deutschen – länger gefaßten – Version des Gerstein-Berichts, siehe dazu: http://www.ns-archiv.de/verfolgung/gerstein/gerstein-bericht.php. 102 Brayard, Grasping in the spokes, S. 47.
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mich hier der Zufall an das Ziel führte, in diese Maschinerie (gemeint ist der Holocaust – Hrsg.) den lang ersehnten Einblick zu erhalten. Ich hatte auch nicht die leisesten Bedenken. Denn wenn ich den Auftrag nicht übernommen hätte, hätte ihn ein anderer im Sinne des SD ausgeführt.“ Gerstein schreibt in seinem Bericht weiter, daß er alle Lieferungen von Zyklon B, mit denen er beauftragt war, entweder beseitigt oder als verdorben erklärt hat, darunter auch die erste Sendung, die er nach Belzec gebracht hatte.103 Diese erste Lieferung machte er unbrauchbar, indem er einen Autounfall herbeiführte, bei dem er selbst leicht verletzt wurde.104 Die durch den Unfall für beschädigt erklärte Ladung hat er vergraben lassen. Auch eine gewaltige Bestellung Zyklon B, die im Frühjahr 1944 erging, die auf mehrere Eisenbahnwaggons verteilt 8.500 Kilogramm Blausäure enthalten sollte und für die Vergasung von bis zu acht Millionen Menschen gereicht hätte, sabotierte Gerstein unauffällig.105 Außerdem gelang es ihm in einigen Fällen, Lebensmittel und Tabakwaren in Blausäurebüchsen zu verpacken106 und auf diese Weise sowie auf manch anderem Weg den Häftlingen in verschiedenen Konzentrationslagern Erleichterungen zukommen zu lassen.107 Bei Besuchen in Lagern ließ er, scheinbar unachtsam, Zigaretten und begehrte Lebensmittel fallen. Es scheint ihm sogar gelungen zu sein, mit Hilfe gefälschter Passierscheine immer wieder Gefangenen die Flucht zu ermöglichen.108 Auch in einem Brief an seinen Vater vom Herbst 1944 betont er dementsprechend seine Unschuld: „In einem gehst Du allerdings von unrichtigen Voraussetzungen aus: Ich habe meine Hände zu nichts hergegeben, was mit diesem allem zu tun hat. Wenn ich und soweit ich derartige Befehle erhielt, habe ich sie nicht ausgeführt und die Ausführung abgedreht. Ich selbst gehe aus dem ganzen mit reinen Händen und einem engelreinen Gewissen heraus. Das ist mir außerordentlich beruhigend. Und zwar: Nicht aus Klugheit. Was heißt hier Sterben? Sondern aus Prinzip und Haltung.“109 Die Beschaffung des tödlichen Gases Zyklon B war ein geheimer Auftrag. Gerstein lieferte nach Belzec und Treblinka. Dort, in Treblinka, wurde er Zeuge, wie der Lagerkommandant Rudolf Höß mittels der Abgase eines Dieselmotors Gefangene töten ließ. Höß lehnte Tötungen mit Giftgas kategorisch ab, anders als der Standortarzt Eduard Wirths, der in Auschwitz-Birkenau sein furchtbares 103
Hilberg, Vernichtung, S. 603; vgl.: Joffroy, Spion, S. 494 f. Dreßen, Willi, Die Rolle eines Toten im sogenannten „DEGESCH“-Prozeß. Kurt Gerstein und die Zyklon-B-Lieferungen, in: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte, Band 91, 1997, S. 199. 105 Poliakov, Auschwitz, S. 43; Rehling, Außenseiter, S. 33; Brayard, Grasping in the spokes, S. 47 und S. 67, datiert diesen Auftrag auf 1943. 106 Joffroy, Spion, S. 202. 107 Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 7, berichtet über Berichte von Freunden, teils allerdings vom Hörensagen. 108 Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 7. 109 Lk. A., 5.2, Nr. 125 (1). 104
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Handwerk ausübte. Gerstein erlebte in Belzec die Ermordung von etwa 12.000 Menschen mit, er hat diese Zahl geschätzt.110 Die Verantwortung dafür, Zyklon B für die Tötung von Menschen in den Konzentrationslagern beschafft zu haben, war für Gerstein eine schier untragbare Last. Die Tatsache, daß er mit Hilfe seiner Fachkenntnisse eine große Zahl von Lieferungen des Giftgases unbrauchbar gemacht oder vernichtet hatte, war ihm bewußt, doch dies besserte die Lage aus seiner Sicht nicht, denn er wurde von vielen Freunden als „linientreuer Nazi“ verkannt und war zugleich in ständiger Lebensgefahr, falls seine wahren Ziele erkannt worden wären. Andere Lieferungen ließ er in KZ-Depots „zu Hygiene-Zwecken“ einlagern und auch zur Schädlingsbekämpfung – und nicht zum Töten unschuldiger Menschen – verwenden. Die unterschiedlichen Beschaffungswege für Zyklon B sind inzwischen erforscht. Zu seinem Vorgesetzten, dem später im NS-Ärzteprozeß zum Tode verurteilten Joachim Mrugowsky,111 hatte Gerstein im übrigen eine Verständigungsmöglichkeit, die ihn das Corps gelehrt haben dürfte: er tolerierte Mrugowsky in seiner Andersartigkeit und konnte ihm so in der Distanz mit Achtung begegnen, denn natürlich handelte es sich hier um einen nationalsozialistischen Intensivtäter, wie Gerstein schnell und genau erkannt hatte. Ob es Kurt Gerstein wirklich gelungen ist, alle ihm zugänglichen Lieferungen des Zyklon B zu vernichten, darüber kann heute keine gesicherte Kenntnis mehr gewonnen werden. Willi Dreßen, Leiter der Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen, schreibt: „Ob es ihm in vollem Umfang gelungen ist, das Gift unschädlich zu machen, ist in den Prozessen (gemeint sind die DegeschProzesse im Jahre 1949 – die Autoren) letztlich offen geblieben, an dem festen Willen des Toten und der Tatsache, daß er unter ständiger eigener Lebensgefahr alles nur Menschenmögliche getan hat, das Gift unschädlich zu machen, besteht nicht der Hauch eines Zweifels.“112 Ein gegenteiliger Beweis – daß also die von Gerstein transportierten Lieferungen von Zyklon B auch zur Tötung von Menschen eingesetzt wurden – ist nie erbracht worden.113 Über die von Kurt Gerstein durch von ihm vorgelegte Lieferscheine und Rechnungen dargelegte Beschaffung hinaus sind keine ihn belastenden Lieferungen erwiesen,114 oder, positiv formuliert: ihm sind allein die in seinen Rechnungen dokumentierten Lieferungen an Zyklon B zuzuordnen. Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß Gerstein wenig später, ab August 1942 und immer wieder bis in den Mai 1945, in seinem Bericht rückhaltlos die Wahrheit sagen würde.
110 Eine eingehende Schilderung der Erlebnisse bei: Gerstein, In der SS, S. 179 – 182; vgl. auch: Gräbner, Zeuge, S. 158. 111 Mrugowsky war korporiert: er gehörte dem VdST an. 112 Hey, Gerstein, S. 63. 113 Schäfer, Gerstein, S. 28. 114 Die Liste der Bestellungen bei: Schäfer, Gerstein, S. 176 f.
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IV. Der Gerstein-Bericht Im Sommer 1942 war die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten im Osten in ihrer furchtbaren Dimension allmählich angelaufen. Dabei war jedoch „die Unkenntnis der europäischen Bevölkerung (…) Voraussetzung und Prinzip des nationalsozialistischen Massenmordes“115. Kurt Gerstein hatte Erkenntnisse über den im Gange befindlichen Völkermord gewonnen, sie brannten ihm förmlich auf den Lippen. Das furchtbare Wissen und die unbedingt gefühlte Notwendigkeit, es weitergeben zu müssen, brachten ihn an den Rand seiner Kräfte. Gerstein nutzte die Rückreise im Nachtzug von Warschau nach Berlin am 20. August 1942 für eine so spontane wie verzweifelte Kontaktaufnahme mit dem Sekretär der Schwedischen Gesandtschaft in Berlin, Baron Göran von Otter.116 Beide hatten auf einen Schlafwagenplatz gehofft, aber wegen Überfüllung des Zuges keinen mehr erhalten. Otter sagte im Jahre 1960, von Saul Friedländer zu diesem Gespräch befragt: „Gerstein war nur mit Mühe zu bewegen, leise zu sprechen“.117 Der SS-Offizier habe ihm von den unsäglichen Grausamkeiten der Vergasung von Juden und anderer Menschen berichtet und ihn, Otter, dringend gebeten, diese Informationen ins Ausland weiterzugeben. Er habe vor allem um die Bombardierung der Zufahrtswege gebeten, da täglich neue Züge voller Opfer in den Lagern ankämen.118 „Widerstand äußert sich in der Nachrichtenübermittlung.“119 Mit diesem Satz legt Peter Steinbach die Richtung fest, in der Gersteins Tun in der Uniform der Waffen-SS zu werten ist. Gerstein hatte Beweise – die Instruktionen eines Lagerkommandanten und die Bestellscheine für die Blausäure. Er zeigte sie Otter.120 „Wir standen die ganze Nacht zusammen, sechs Stunden, vielleicht auch acht Stunden. Und immer wieder sprach Gerstein von dem, was er erlebt hatte. Er schluchzte und schlug die Hände vors Gesicht. Ich dachte, er wird diese Gewissensqualen nicht mehr lange aushalten. Er wird sich verraten, und sie werden ihn verhaften.“121 Otter kabelte tatsächlich umgehend nach Stockholm, was ihm berichtet worden war.122 Nach seiner Rückkehr setzte Gerstein Bischof Dibelius, der ihn getraut hatte, über seine entsetzlichen Beobachtungen in Kenntnis. Auch Martin Niemöller, den er im KZ besuchte, erfuhr alles. Weiter sprach Gerstein mit dem Presseattaché der 115 Bierstecker, Henk und Kaam, Ben van, Kurt Gerstein und der holländische Widerstand, in: Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte, Bd. 98, 2003, S. 271. 116 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 111 ff.; Laqueur, Was niemand wissen wollte, S. 64 f.; ebd., S. 112; Gräbner, Zeuge, S. 19 ff.; Schäfer, Gerstein, S. 165; Brayard, Grasping in the spokes, S. 62. 117 Der Spiegel, Nr. 52, 23. Dezember 1968. 118 Hollweg, In memoriam, Abruf am 6. Juli 2011. 119 Steinbach, Peter, Widerstand im Widerstreit, Paderborn 20012, S. 295. 120 Hey, Gerstein, S. 57. 121 Friedländer, Saul, Spion im Lager der Mörder, in: Der Spiegel, Nr. 52, 23. Dezember 1968, S. 117 – 132, Online-Ausgabe, Abruf am 10. Juli 2011. 122 Hey, Gerstein, S. 59.
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schweizerischen Botschaft in Berlin, Dr. Paul Hochstrasser, dem Syndikus des katholischen Bischofs von Berlin, Dr. Winter, und seinem Freund Hermann Ehlers, der am 15. Oktober 1950 zum Bundestagspräsidenten gewählt werden sollte. Auch Armin Peters, einer seiner Kollegen im Hygieneamt, war eingeweiht.123 Schließlich trat er auch an den päpstlichen Nuntius in Berlin, Cesare Orsenigo, heran, wurde jedoch des Hauses verwiesen, ohne Gehör zu finden, da er die Frage, ob er Soldat sei, bejaht hatte; beim Verlassen wäre er beinahe durch einen Polizisten enttarnt worden.124 Besonders wichtig war ihm schließlich, daß sein Bericht über den Ingenieur J. Hermann Ubbink, der inzwischen vom elterlichen Hof in Doesburg aus im niederländischen Widerstand tätig war, nach London zur niederländischen Exilregierung gelangte. Sechs Monate nach der Begegnung im Nachtzug von Warschau nach Berlin hat sich Gerstein zudem bei Baron Otter zweimal persönlich danach erkundigt, ob dieser seinen mündlichen Bericht weitergegeben habe.125 Otter teilte mit, daß der Bericht „erheblich Wirkung“ auf die deutsch-schwedischen Beziehungen gehabt habe, womit er allerdings versuchte, Gerstein gegenüber zu verheimlichen, daß das neutrale Stockholm keinerlei Unannehmlichkeiten mit dem kriegerischen NS-Regime wünschte – und daß daher de facto nichts geschehen war.126 Im übrigen hat das Überbringen dieser Nachricht der Karriere Otters „erheblich geschadet“, wie dessen Tochter später berichtete.127 Doch dann, im Februar 1943, ein Hoffnungsschimmer. Ubbink kam nach Berlin, um sich zu vergewissern, daß Gersteins Bericht stimmte, denn immer wieder hatte er von seinen Gesprächspartnern im in- und ausländischen Widerstand gehört, daß dies alles herbeigelogen sei. Gerstein berichtete seinem Gast über die schreckliche Lage, in der er sich befand. „Ausführlich beschrieb er mir dann“, so Ubbink weiter, „wie es ihm endlich gelungen war, hinter das geheimnisvolle Tun der Nazis zu gucken, und daß er sogar die Vernichtungslager besucht hatte. (…) Er fragte mich dann, ob ich in Verbindung kommen könnte mit Leuten, die in Funkverbindung mit England standen. Auf meine Bejahung hin bat, nein vielmehr beschwor er mich, die Geschichte weiterzugeben nach England, damit sie weltkundlich gemacht werden konnte und auch das deutsche Volk aufgeklärt werden konnte. Ich versprach ihm das.“128 Gerstein lieferte ihm mit Datum vom 24. oder 25. März 1943 einen ausführlichen Bericht, der bis heute erhalten ist.129 Ubbink sagte dazu später: „Ich habe 123
Friedländer, Spion, in: Der Spiegel, Nr. 52, 1968. Besonders packend erzählt bei: Friedländer, Spion, in: Der Spiegel, Nr. 52, 1968. Diese Episode findet sich indes in allen größeren biographischen Arbeiten über Gerstein. 125 Gerstein, Kurt, In der SS, in: Steinbach, Peter und Tuchel, Johannes, Widerstand in Deutschland 1933 – 1945. Ein historisches Lesebuch, München 1994, S. 183; vgl.: Laqueur, Was niemand wissen wollte, S. 66. 126 Vgl. dazu: Hilberg, Vernichtung, S. 652. 127 Gerstein, Johann Daniel, Kurt Gerstein, S. 9. 128 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 134. 129 Die erste Seite dieses Berichts ist im Faksimile abgedruckt bei: Hey, Gerstein, S. 60. Zur Datierung vgl.: a.a.O., S. 61. 124
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mein Versprechen gehalten, aber man glaubte damals eine derartig fürchterliche Geschichte nicht.“130 Zu Gersteins maßloser Enttäuschung, ja, Verzweiflung erntete er keinen Widerhall – nicht aus England oder der Schweiz, nicht aus Dänemark, wo ebenfalls Widerstandsgruppen aktiv waren, nicht aus Schweden, nicht aus den USA. Dabei hatten führende Widerstandskämpfer in den Niederlanden seinen Bericht nicht nur erhalten, sondern durchaus auch weitergegeben. In einer Scheune in Doesburg wurde nach dem Krieg auch eine handschriftliche Übersetzung des Berichts ins Holländische gefunden; es war unter Dachziegeln versteckt und noch gut lesbar. Die Scheune war als einziges Nebengebäude nicht von der Zerstörung des Ubbink’schen Hofes durch Kriegseinwirkung betroffen. Cornelius van der Hooft hatte sie angefertigt.131 Die nach London übermittelte Version des Schriftstücks wurde im Jahre 1992 in den dort gelagerten Akten der holländischen Exilregierung gefunden, ordentlich einsortiert als „Rapport Nr. 61“.132 Niemand anders als Ubbink hatte ihn nach London weitergefunkt.133 Die Londoner Exil-Niederländer hatten den Bericht nach Washington D. C., Bern und Kopenhagen gekabelt, und natürlich auch zum britischen Regierungssitz.134 Kurt Gerstein sollte bis zu seinem Tod keine Kenntnis davon erhalten, daß sein Bericht bis zu den Regierungen der alliierten Länder vorgedrungen war.135 Daß man also dort vom Holocaust wußte, während sich der Massenmord abspielte – und nicht handelte. Um dieselbe Zeit ereignete sich in London ein Selbstmord, von dem Gerstein ebenfalls nichts erfuhr. Der in London arbeitende polnische Gewerkschafter Artur Shmuel Zygelboym,136 jüdischer Repräsentant im Nationalrat, der dem Holocaust knapp entronnen war, vergiftete sich mit Gas. In einem Abschiedsbrief hatte er über den Massenmord an den Juden Europas geschrieben, der ihm natürlich genauestens bekannt war: „Dieses Verbrechen ist auch eine Bürde, die indirekt auf den Regierungen und den Völkern der alliierten Nationen lastet, die bisher nicht den geringsten Versuch unternommen haben, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um es zu beenden.“137 Zygelboym hatte bereits im Juni 1942 Berichte 130
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Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 134; vgl.: Friedländer, Spion, in: Der Spiegel, Nr. 52,
Hey, Gerstein, S. 62; dort außerdem die Information, daß van der Hooft später verhaftet in das KZ Sachsenhausen verschleppt wurde; am 21. April 1945 wurde er dort durch einen Genickschuß ermordet. 132 Bierstecker/Kaam, Gerstein, S. 269 f. 133 Bierstecker/Kaam, Gerstein, S. 270. 134 Hollweg, In memoriam, Abruf am 6. Juli 2011; dort auch der hiesigerseits nicht überprüfte Hinweis, daß in den entsprechenden Archiven in London, Kopenhagen, Bern und Washington D. C. Eingangsvermerke für den Gerstein-Bericht aufzufinden sind. 135 Bierstecker/Kaam, Gerstein, S. 272, teilen mit, daß die holländische Exilregierung die Verbreitung des Berichts dezidiert gewünscht und gefördert hatte. 136 Andere Schreibweise: Zygielbojm. 137 Bierstecker/Kaam, Gerstein, S. 276.
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über die Ermordung von 700.000, ja, einer Million Juden an den Daily Telegraph gegeben, in zwei großen Artikeln waren diese Angaben abgedruckt worden.138 Hätte man ihm geglaubt und den Gerstein-Bericht als Beleg gewertet – Millionen von Menschen hätten vor dem Tod bewahrt werden können, wenn der Wille dazu vorhanden gewesen wäre. In der New York Times wurden diese Artikel, die in Großbritannien einiges Aufsehen erregt hatten,139 sehr viel kleiner abgedruckt, so, daß sie kaum zu finden waren.140 Es ist davon auszugehen, daß die Regierungen Großbritanniens und der USA als direkte und zunehmend offensiv agierende Kriegsgegner über den Holocaust an den europäischen Juden seit 1943, vielleicht seit dem Frühjahr, informiert waren. Rückschlüsse aus diesem Wissen auf das Handeln dieser Mächte zu ziehen, würde diesen Aufsatz bei weitem sprengen, aber es sei darauf hingewiesen, daß hier noch interessante Forschungsansätze vorhanden sein könnten, denn die Alliierten bombardierten zielgenau strategisch wichtige Ziele im Deutschen Reich, aber eben nicht die Bahngeleise nach Auschwitz und, erst quälend spät, im März 1944, die Degesch-Werke bei Dessau.141 Sondern sie suchten neben Großstädten und kriegswichtigen Industriestandorten vom Fachwerk geprägte Ortskerne manch deutscher Kleinstadt, weil sich dort am besten Feuerstürme entfachen ließen. Das ist die ernüchternde Wahrheit. Über die wirkliche militärische Lage in Deutschland abseits der NS-Propaganda machte sich Gerstein durchaus keine Illusionen. Im Rahmen zahlreicher dienstlicher Aufenthalte in Paris hatte er Kontakt zu seinem Corpsbruder Hans Joachim Caesar,142 dem kommissarischen Leiter der französischen Staatsbank, der ab 1945 zunächst als Zeuge interniert war, später aber in Frankreich wegen seiner umsichtigen Unterstützung der Resistance geehrt wurde. Seit 1938 und bis 1944 unterstützte er unermüdlich die Frau des Pfarrers Martin Niemöller, der inzwischen im KZ Dachau einsaß, mit Lebensmitteln, regelmäßig las er mit ihr in der Bibel.143 Gesundheitlich ging es ihm zeitweise schlecht, er wurde von Rheumatismus in der unteren Rückenpartie geplagt, war zeitweise ans Bett gefesselt und wiederholt im Lazarett in Berlin.144 Gerstein besuchte regelmäßig Gottesdienste, in denen Pfarrer der Bekennenden Kirche predigten, und hatte um sich einen Kreis von entschiede138 Laqueur, Was niemand wissen wollte, S. 95; ebd., S. 150: Im November 1942 hatte Zygelboym weitere Informationen mit neuen Schreckensmeldungen durch einen Botschafter namens Jan Kozielewski, der unter dem Namen Karski reiste, erhalten. Sogar ein Hungerstreik war Zygelboym nahegelegt worden, er hatte dies erwogen. 139 Ebd., S. 98. 140 Ebd., S. 96. 141 Hilberg, Vernichtung, S. 602. 142 KCL 1960, Nr. 102 – 1196, später Rheno-Guestphalia Münster, ebd., Nr. 117 – 98. 143 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 144 f. 144 Brief vom Frühjahr 1944, im Besitz des Autors Gerstein; vgl.: http://www.hans-georghollweg.de/Kurt_Gerstein/briefe_files/Brief2_1.pdf, Abruf am 30. Juli 2011.
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nen NS-Gegnern versammelt.145 Seine Frau und die drei Kinder waren in Tübingen in – trügerischer – Sicherheit. Eva Gerstein, geboren 1919, berichtete am 2. Dezember 2002, im Oktober 1944 sei Kurt in Begleitung von Kollegen aus dem Hygieneamt der Waffen-SS in Hagen gewesen, um seinen Vater und die jüngst geborene Nichte Ingelore zu sehen. Bei dieser Gelegenheit habe sie die Herren gefragt, wie es denn nun weitergehe; die Antwort eines der Besucher sei gewesen, es bleibe nur noch, zu „botanisieren“. Dies war einer der raren Besuche, die Gerstein im Jahre 1944 in seinem privaten Umfeld machte. Ansonsten zog er sich mehr und mehr zurück, wurde immer vorsichtiger, rechnete stündlich mit der Entdeckung seiner Tätigkeit und folglich mit plötzlicher Verhaftung durch SS, SD oder Gestapo.146 Sein Corpsbruder Walter Eckhardt147 berichtet über ein Treffen im Jahre 1944 wie folgt: „Körperlich und geistig schien mir Gerstein zuletzt durch die ständigen Konflikte, denen er ausgesetzt war, so sehr belastet, daß ich ernstlich um seine Gesundheit besorgt war. Wiederholt kamen bei ihm Selbstmordgedanken zum Vorschein, die er aus religiösen Erwägungen unterdrückte.“148 Das letzte dieser Treffen fand am 14. September 1944 statt. Neben Gerstein und Eckhardt nahmen Felix Buß,149 Hermann Ehlers150 und Prälat Peter Buchholz teil. Letzterer berichtete über die Todesjustiz in Berlin-Plötzensee, denn er war dort seit 1943 Gefängnispfarrer,151 Gerstein legte seine Erkenntnisse zum Holocaust dar. Doch wie sehr Gerstein auch unter Druck stehen mochte: es gibt auch Hinweise darauf, daß Gersteins Lebensmut ungebrochen war. So nahm er im Jahre 1944 deutlichen Einfluß auf die Pläne, die einer seiner Patensöhne hatte – Günther Dickten. Dickten hatte geäußert, er solle in Dresden eine Ausbildung zum Offizier machen, doch Gerstein riet ihm mit Hinweis auf die selbst erlebten Greuel des NSRegimes leidenschaftlich ab. Dickten hielt sich daran, änderte seine Pläne radikal und versuchte, Richtung Westen zu desertieren. Er wurde gefaßt und vor ein Kriegsgericht in Hildesheim gestellt. Das bedeutete Lebensgefahr. Nach einem Leumundszeugen befragt gab er Kurt Gerstein an. Der erschien in Hildesheim und berichtete dem Militärrichter – die ungeschönte Wahrheit. Im Jahre 1944 war dies ein Vabanque-Spiel, das ebenfalls ein tödliches Risiko beinhaltete. Doch Gersteins 145
Gräbner, Zeuge, S. 127. Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 181. 147 Walter Eckhardt, KCL 1960, Nr. 102 – 1208. 148 Schäfer, Gerstein, S. 186; Eckhardt bestätigte dies in einer Aussage vom 12. Juli 1954, vgl.: Lk. A., 5.2, Nr. 313 (190c). 149 KCL, Nr. 102, 1097. Buß wurde 1947 im KZ Buchenwald ermordet. 150 Ehlers gehörte seit dem Wintersemester 1923/24 dem VDSt zu Berlin und Charlottenburg an. 151 Buchholz nahm heimlich Kontakt zu den zum Tode verurteilten Widerstandskämpfern auf; er transportierte Briefe, stellte Kontakte zwischen den Gefangenen her, überbrachte Botschaften zwischen den Inhaftierten und Familienangehörigen und steckte den Gefangenen Lebensmittel zu. 146
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Mut zahlte sich einmal mehr aus. Der Richter ließ Günther Dickten frei und denunziert im übrigen auch Gerstein nicht.152 Im Frühjahr 1945 hörten Kurt Gersteins Besuche bei Freunden und Bekannten gänzlich auf. Doch am 26. März erschien er plötzlich in Tübingen bei Frau und Kindern. Er war aber sehr unruhig, sagte, er könne nicht bleiben. Bald reiste er weiter nach Westen, um sich den Amerikanern zu stellen und ihnen sein Wissen zu offenbaren. Seiner Frau erklärte er: „Man wird von mir hören, verlaß dich drauf! Du wirst dich wundern, was ich alles getan habe.“153 Statt, wie erhofft, US-Truppen zu begegnen, lief er jedoch französischen Soldaten in die Hände. Von ihnen wurde er mit Mißtrauen behandelt und in Rottweil interniert. Er bekam ein Zimmer im Hotel „Zum Mohren“. In einem nahegelegenen Pfarrhaus entlieh er sich bei Pfarrer Alber Hecklinger eine Reiseschreibmaschine, um schnellstmöglich seine Erinnerungen an die Details des Holocaust abzufassen, die als „Gerstein-Bericht“ zu großer Bedeutung gelangen sollten. Der Bericht trägt das Datum des 26. April 1945.154 V. „Tod durch Erhängen“ Genau einen Monat nach der Abfassung des Berichts, am 26. Mai 1945, kamen zwei französische Offiziere der Sécurité Militaire nach Rottweil. Sie hatten Befehl, Kurt Gerstein zunächst nach Konstanz zu bringen. Dort wurde er erneut verhört, und zwar diesmal von Maurice Sabatier, der im französischen Vichy-Regime, das von den Nationalsozialisten installiert worden war, als Generalpräfekt für die innere Sicherheit zuständig gewesen war. Mit dem Ende des Dritten Reiches hatte Sabatier blitzschnell die Seiten gewechselt, er war nun politischer Offizier unter General Marie-Pierre Kœnig, sein Dienstsitz war Konstanz; Gerstein ging durch seine Hände – der lange Arm Hitlers erreichte ihn nach dem Sturz und dem Tod des Diktators. Die Persönlichkeit des Maurice Sabatier – und die möglicher Hintermänner – könnte entscheidend für die Bewertung des Todes von Kurt Gerstein sein, genauere Untersuchungen zu diesem Punkt stehen aus. Gerstein wurde nach dem Verhör durch Sabatier zum „Belasteten“ umgestuft. Formeller Grund war, daß er sich auf Martin Niemöller berufen hatte, der in den fraglichen Jahren unerreichbar im Konzentrationslager war. Sabatier erklärte ihn zu einer Person, die sich möglicherweise schuldig gemacht habe und dies zu verwischen gedenke; daher sei er anzuklagen.155 Von Konstanz wurde er nach Paris gebracht und schließlich, wohl am 5. Juli, im berüchtigten Untersuchungsgefängnis 152
Brief von Ingrid Dickten, der Witwe von Günther Dickten, an Helmut Beermann, datierbar gegen Jahresende 1944; im Besitz von Klaus Gerstein. 153 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 182, zitiert: Aussage Elfriede Gerstein vom 16. Februar 1961. 154 Lk. A., 5.2, Nr. 156 – 158 (32 – 34); ebd., Nr. 555 (432), Nr. 676 (553). 155 Dieser Vorgang auch bei: Schäfer, Gerstein, S. 194.
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Cheche-Midi in einer Einzelzelle inhaftiert. Unter seinen Papieren befand sich ein Brief an Hermann Ubbink, den er am 25. Juli 1945 in seiner Gefängniszelle geschrieben hat:156 „Lieber Freund Ubbink! Du bist einer der ersten, die einen Gruß haben sollen: Dir darf ich von Herzen zur Befreiung Deines Landes von unserem Verbrecher-Otterngezücht Glück wünschen. So dunkel auch unser Los jetzt sein mag: diese entsetzlichen Leute durften nicht siegen. Frage Deine Leute, ob sie mir wenigstens jetzt glauben, was in Belzec usw. vorgegangen ist!!“157 Es sollte seine letzte bekannte Botschaft sein. Am 25. Juli wurde Kurt Gerstein mittags gegen 14 Uhr erhängt in seiner Zelle vorgefunden,158 gegen halb sechs Uhr nachmittags wurde seine Leiche im Hof des Gefängnisses in einen Leichenwagen geschoben, nachdem der Gefängnisarzt Dr. Jacques Trouillet offiziell den Tod festgestellt hatte.159 Bis heute ist mangels Offenlegung der Pariser Archive nicht klar, ob er den Freitod wählte oder nicht. Immerhin hatte er 1938 in einem Brief an seinen Onkel indirekt suizidale Tendenzen erkennen lassen.160 Doch vielleicht enthalten die Quellen, die noch fehlen, entscheidende Informationen. Jedenfalls enthält der erwähnte Brief, den er noch am Todestag an seinen Freund Ubbink schrieb, keinen Hinweis auf einen Todeswunsch, den er aus eigenem Antrieb hin in den nächsten Stunden hätte umsetzen wollen. Sollte sich eines Tages erweisen, daß Kurt Gerstein – von wem auch immer – ermordet wurde, wobei ein Selbstmord fingiert wurde, würde dies wesentlich besser zu den bekannten und belegten Ereignissen passen als ein Suizid. „Er erwartete mit Sicherheit den Tod“, schrieb Völckers, dem das Ehepaar Gerstein auf der Hochzeitsreise begegnet war.161 Dies ist indes kein Hinweis auf Suizid – eher auf eine erkannte Notwendigkeit, ein Opfer bringen zu müssen. Vielleicht wird die Tatsache, daß Gerstein seitens der Briten und Amerikaner als Zeuge gesucht wurde, in ihrer Bedeutung bisher unterschätzt. Gerstein war einerseits in den Jahren zuvor oft und lang in Paris gewesen, denn er war in insgesamt sieben Flüchtlingslagern zwischen Toulouse und Bordeaux mit der Wasserversorgung betraut. Aus diesen Lagern wurden französische Juden von den Franzosen an das nationalsozialistische Deutschland ausgeliefert – das Ziel war Dachau.162 Aus heutiger Sicht deutet vieles darauf hin, daß es in Frankreich wesentlich mehr Kollaborateure mit den Nazis gab, als dies über lange Zeit hinweg zugegeben wurde. 156 Friedländer, Gerstein, S. 191, vermutet, dieser Brief sei vor der Verlegung nach Frankreich geschrieben worden. 157 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 191 f.; Bierstecker/Kaam, Gerstein, S. 273. Am 3. September 1949 hatte Ubbink diesen Brief noch nicht erhalten; vgl. dazu: Lk. A., 5.2, Nr. 586 (463b). 158 Joffroy, Spion, S. 420. 159 Joffroy, Spion, S. 432; Gräbner, Zeuge, S. 161. 160 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 63; Brayard, Grasping in the spokes, S. 59. 161 Friedländer, Zwiespältigkeit, S. 157 und S. 118, Anm. 8, zitiert Völckers in einer eidesstattlichen Versicherung vom 16. Februar 1949. 162 Altwegg, Jürg, Geisterzug in den Tod, Reinbek bei Hamburg 2001, passim.
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Hier, verbunden mit dem Namen Sabatier, könnte der Schlüssel für den unter so überaus merkwürdigen Umständen zustande gekommenen tragischen Tod von Kurt Gerstein liegen. Indem die Autoren diese Vermutung formulieren, nehmen sie bewußt das Risiko in Kauf, der Verbreitung einer Verschwörungstheorie geziehen zu werden. Dies läge dann aber nicht an betreffender Vermutung, sondern an der Faktenlage. Die Koinzidenzen in diesem Fall liegen einfach zu dicht, als daß man über die Frage hinweggehen könnte, warum zwei alliierte Mächte Gerstein dringend als Zeugen suchen, während er in einem Gefängnis einer dritten alliierten Macht unter Umständen, die – vorsichtig ausgedrückt – fragwürdig sind, erhängt aufgefunden wird. Es gab sogar wilde, nicht belegbare und auch in sich wenig schlüssige Gerüchte, nach denen einige der ebenfalls in Cherche Midi inhaftierten SS-Offiziere einen Weg gefunden haben sollten, sich an dem aus ihrer Sicht „verräterischen“ Gerstein zu rächen. Mithäftlinge sollen demnach ausgesagt haben, Gerstein sei unter einem Vorwand aus seiner Zelle abgeholt worden, er wurde nach diesen Aussagen „zur Gemeinschaftszelle gebracht, in der zehn ehemalige SSMitglieder gewartet hätten“.163 Nachdem die Persönlichkeit des Vichy-Offiziers Sabatier bekannt ist, scheint es – wenn schon – eher möglich, daß es sich um ehemalige Vichy-Parteigänger handelte: Franzosen. Immerhin: der Schriftsteller Rolf Hochhuth hielt einen solchen Racheakt für möglich.164 Nicht ausgeräumt wird das ungute Gefühl durch die Art der Leichenschau, die der Gefängnisarzt im Cherche Midi vornahm. Der Bericht ist kurz und nichtssagend. Weder die Lunge noch der Hals des Toten waren Gegenstand einer Untersuchung, lediglich der Tod durch Erhängen wurde festgestellt. Festgehalten wurde auch, daß äußerlich mit bloßem Auge keine Verletzungen erkennbar waren.165 Gültig ist nach wie vor der Spannungsbogen, den Saul Friedländer aufzeigt. „Man muß auf Selbstmord schließen“, schreibt er, doch die dies belegenden Briefe, die den Pariser Richtern vorlagen, „sind nicht wiedergefunden worden“.166 Vor allem geht es hier um einen Brief, der an Untersuchungsrichter Matthei gerichtet gewesen sein soll und der spurlos verschwunden ist. Es soll ein Abschiedsbrief gewesen sein, aber selbst die am Verfahren Beteiligten erinnern sich nur „in großen Zügen“ an diesen Brief.167 Gesteigert wird das ungute Gefühl durch die Art des Begräbnisses. Am 3. August 1945, auf dem Pariser Vorortfriedhof Thiais. In einem Sammelgrab, in der 14. Abteilung, 20. Reihe, formlos, stillos, unter dem Namen „Gastein“.168 Es ist ein Begräbnis ohne Angehörige, in trockenem Amtsfranzösisch ist von einem „verlas163
Gräbner, Zeuge, S. 27 f. Schäfer, Gerstein, S. 19. 165 Joffroy, Spion, S. 432. 166 Friedländer, Zwiespältigkeit, S.7. 167 Schäfer, Gerstein, S. 198. 168 So zum Beispiel: Gräbner, Zeuge, S. 161; ebd., S. 162: Das Grab wurde 1954 aufgelöst, die Gebeine Gersteins wurden in das Ossiarium verbracht. 164
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senen Leichnam“ die Rede, und obwohl allen Formalien Genüge getan wird, ist danach keine Spur mehr von Gersteins letzten Tagen auffindbar.169 Alle Fakten – wie weggewischt. Unscharfen, geradezu wilden Gerüchten zufolge soll Gerstein nach 1945 auch noch lebend gesehen worden sein, und zwar in Söldnerkreisen der Fremdenlegion, nach Eintritt der USA in den Indochina-Krieg. Diese Meldung über einen „Captain Gerstein“ ging an Verwandte Gersteins, die zu jener Zeit in Peru lebten. Dieser Brief nach Peru ist verschollen, blieb den Verwandten jedoch bewußt. Allein die Tatsache, daß solche Gerüchte auftauchten, legt nahe, daß – auf welche Weise auch immer – irgend etwas an Gersteins Tod nicht natürlich war. Erst der späte Prozeß gegen Maurice Papon, während des französischen Vichy-Regimes Generalsekretär der Präfektur für Bordeaux, unterbrach in den Jahren 1997 und 1998 ein gezieltes Schweigen, unter das auch der Fall Kurt Gerstein fällt. Der Zeuge Gerstein hätte, so darf vermutet werden, das Bild von Frankreich, das ganz oder doch in wesentlichen Teilen der Résistance verpflichtet war, stören können. Eine Öffnung der französischen Archive steht im übrigen noch aus. Verstärkt wird ein unklarer Verdacht durch einen an sich unscheinbaren Satz, den Gerstein in seinem Bericht vom 26. April 1945 schrieb: „Ich habe die Absicht, ein Buch über meine Erlebnisse mit den Nazis zu schreiben.“170 Daß es gerade in Frankreich Kräfte gab, denen dies – vorsichtig gesprochen – in höchstem Maße mißfallen hätte, wird schlaglichtartig durch eine Affäre aus den Jahren 1985 und 1986 beleuchtet, in der Henri Roques, einem französischen Rechtsextremisten, ein an der Universität von Nantes erlangter Doktortitel wieder aberkannt werden mußte, weil er unter dem Deckmantel einer linguistischen Arbeit den GersteinBericht unglaubwürdig zu machen versucht hatte.171 Nochmals mysteriöser wird Gersteins Tod angesichts der Tatsache, daß am 7. August 1945 der schwedische Baron Karl Lagerfelt, Sekretär der Gesandtschaft Schwedens in London, beim Foreign Office in London offiziell mit einem AideMémoire vorstellig wurde, um für die Suche nach einem Mann, der schon im August 1942 vom Holocaust berichtete, jede Maßnahme, die nützlich sein könnte, zu erbitten. Lagerfelt war auf der Suche nach Gerstein, denn dessen „Kummer und Scham über die Zustände in den Vernichtungslagern schienen so echt wie groß zu sein“.172 Nun, nach dem Krieg, habe ihn ein dringliches Schreiben des ehemaligen Berliner Gesandtschaftssekretärs Baron Otter erreicht, datiert auf den 21. Juli 1945:173 ein gewisser Kurt Gerstein verfüge über wichtige Informationen, die benötigt würden. Gerstein, so Otter weiter, machte 1942 „den Eindruck – wenn man danach urteilte, wie er damals aussah –, daß er sich jeden Augenblick das Leben 169
Joffroy, Spion, S. 433 f. Notizen dazu sind erhalten: Lk. A., 5.2, Nr. 577 (454). 171 Lk. A., 5.2, Nr. 679 (556). 172 Joffroy, Spion, S. 513. 173 Otter, Göran v., Brief an Karl Lagerfelt vom 21. Juli 1945, abgedruckt bei: Joffroy, Spion, S. 510 f. 170
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nehmen konnte, weil er so bestürzt war über die Verbrechen, die man in seinem Land verübte.“174 Pierre Joffroy schreibt dazu lakonisch: „Drei Jahre zu spät für die Juden, dreizehn Tage zu spät für Gerstein.“175 Die Familie Gerstein wurde über den Todesfall in Paris nicht informiert. Abgesehen von der menschlichen Härte, die hinter dieser nackten Information steckt, rückt das die Ereignisse von Paris und die dortigen Akteure weiter ins Zwielicht. Natürlich hatte man in Paris zur Kenntnis genommen, daß man von Schweden aus Gerstein suchte, natürlich war bekannt, daß Gerstein auf den von den Engländern geführten Listen mit Belasteten und Tätern eben nicht zu finden war.176 Noch am 3. Mai 1948 hatte Elfriede Gerstein, nicht wissend, daß sie seit fast drei Jahren Witwe war, an die französischen Behörden geschrieben, um zu erfahren, wie es ihrem Mann ginge.177 VI. Widerhall Kurt Gersteins moralisch-religiöser Rigorismus ist auffällig. Er speiste sich aus gelebtem Christentum, das sich mit einer expressiv veranlagten Persönlichkeit verband. In dieser Kombination ist der entscheidende Antrieb für seinen Widerstand zu suchen, denn nach langem Streit in der Forschung scheint klar, daß er unter die Widerstandskämpfer zu zählen ist. „Hat Kurt Gerstein standgehalten? Wäre er enttarnt und hingerichtet worden, so würden wir diese Frage nicht stellen.“178 In einem totalitären System müssen Menschen nicht selten bis zu einem gewissen Grad mit dem Verbrechen paktieren, um Widerstand leisten zu können. Saul Friedländer bestätigt dies: „Um den verbrecherischen Befehlen des nationalsozialistischen Regimes Widerstand zu leisten, mußte man von innen handeln und manchmal sogar dessen Befehle ausführen. Wenn sich unter diesen Bedingungen die saubere Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Bösen teilweise verwischt, (…) so ist das die unausweichliche Folge der Lage des Menschen in einem totalitären System. Aber ist der passive Zuschauer bei einem Verbrechen etwa unschuldig?“179 Millionen von Deutschen sahen zu, wie eine jüdische Familie nach der anderen deportiert wurde, aber andererseits waren den Regierungen der Alliierten ihre Kriegsziele allem Anschein nach näher als Hundertausende und wieder Hunderttausende jüdischer und anderer Opfer des NS-Regimes. „Das wahre Drama Gersteins war“, so schreibt Friedländer weiter, „die Einsamkeit seines Handelns.“180 174
Otter, Brief Lagerfelt, bei: Joffroy, Spion, S. 511; vgl. Hilberg, Vernichtung, S. 652. Joffroy, Spion, S. 433. 176 Lk. A., 5.2, Nr. 214 (90e). 177 Lk. A., 5.2, Nr. 176 (52). 178 Schäfer, Gerstein, S. 30. 179 Friedländer, Gerstein, S. 195. 180 Ebd., S. 196. 175
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Diese Einsamkeit hat aber nicht er verursacht, sondern die Passivität seiner Umgebung. Ignatz Bubis sagte 1997 über Kurt Gerstein: „Aber sein letztlich doch gescheiterter Versuch, die Wahrheit zu veröffentlichen, war wichtig genug in dieser Zeit.“181 Jürgen Schäfer ergänzt: „Sein Zeugnis von dem schrecklichsten Verbrechen unseres Jahrhunderts hat uns erreicht. Er hat die Kunde von dem gestreut, was zum Schrecklichsten deutscher Geschichte gehört, ohne dessen Vergegenwärtigung es aber keine verantwortete Zukunft geben kann.“ Mit seinem Leben und seinem Beispiel habe er das auf seine Art beantwortet, was Bonhoeffer „die letzte verantwortliche Frage“ nennt: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.“182 Der Schriftsteller Rolf Hochhuth hat mit seinem aufsehenerregenden Stück „Der Stellvertreter“,183 das am 20. Februar 1963 in Berlin uraufgeführt wurde,184 Kurt Gerstein als positiven Helden eines christlichen Trauerspiels anerkannt. Am 20. Januar 1965 rehabilitierte ihn der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger noch auf dem Wege eines Gnadenaktes,185 auch Saul Friedländer setzte ein deutliches Zeichen. Die Erkenntnis, daß er als ein Widerstandskämpfer anzusehen sei, setzte sich – summarisch gesagt – jedoch erst rund 30 bis 40 Jahre später durch, hier sind Autoren wie Pierre Joffroy, Ernst Gräbner und Bernd Hey zu nennen. Der bedeutende Journalist und Frankreichkenner Ernst Weisenfeld schrieb am 18. Januar 2002 : „Ich bin immer noch überzeugt: man wird schließlich erkennen, dass er die Schicksalsfigur schlechthin, der tragische Held für eine ganze Generation (oder zwei) war, die erkennen mussten, daß jeder Versuch, sich, auch widerstrebend, mit dem Regime einzulassen, in die Ausweglosigkeit führte.“186 Kurt Gerstein war in den Holocaust verstrickt,187 er hat sich bewußt in die Vernichtung von Juden, von Menschen verstricken lassen. Der Begriff des Verstricktseins muß dabei in seiner Bedeutung, in seiner Umschreibung, seiner Begrenzung geklärt sein, wenn wir ihn verwenden und mit ihm einen Menschen in seiner persönlich zu tragenden Verantwortung charakterisieren wollen. Eine Verwechslung 181
Gräbner, Zeuge, S. 29. Schäfer, Gerstein, S. 31. 183 Hochhuth, Rolf, Der Stellvertreter. Ein christliches Trauerspiel, Reinbek bei Hamburg 1963. 184 Zur Rezeption des Stückes vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Stellvertreter. Dort weiterführende Hinweise. 185 Lk. A., 5.2, Nr. 37 (13); ebd., Nr. 38 (12 Fasc. 2); vgl.: Friedländer, Gerstein, S. 194. 186 Brief an Klaus Gerstein, im Besitz des Adressaten. 187 Dieser Begriff bestimmt die Wertung in der jüngeren Forschung über Kurt Gerstein, insbesondere in der Biographie von Jürgen Schäfer und im Aufsatz von Florent Brayard, deswegen soll hier speziell auf ihn eingegangen werden. Vgl.: Schäfer, Gerstein, passim; Brayard, Grasping in the spokes, S. 62, S. 72, S. 76. 182
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des Verstricktseins mit dem weiter gehenden Übernehmen von Verantwortung – einschließlich der Gewissensfrage – würde zu einer unzutreffenden Entscheidung in der Bewertung eines uns anvertrauten Menschen führen. Durch seine Verstrickung konnte Gerstein erst Zeuge werden,188 und zugleich war er nicht Herr der Lage.189 Hätte er sich der selbst erkannten Aufgabe nicht gestellt, wäre heute kein Verbrechen ungeschehen, aber die Kenntnis davon weniger tragfähig. Doch er wollte Zeuge sein, und das beinhaltet, daß er Verantwortung übernahm und sich der Aufgabe stellte. Recht fordert Gehorsam. Gehorsam ist des Soldaten wie des Beamten erste Pflicht – das hat schon Thomas Carlyle, der englische Historiker des 18. Jahrhunderts, in seiner Darstellung der Geschichte Friedrichs des Großen erkannt und gelehrt. In diesem Zusammenhang ist es eine Ehrenpflicht für uns Heutige, das Bild des Vaters, Ludwig E. Gerstein, nicht unter den Scheffel stellen zu lassen. Er ist wie Millionen seiner Zeitgenossen guten Glaubens einer wahnwitzigen Täuschung aufgesessen, und auch er war im Zeitgeschehen verfangen. Und vor diesem Hintergrund forderte der Vater zunächst bedingungslose Pflichterfüllung vom Sohn.190 Doch der dachte weiter, über den Tag hinaus: „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Ungehorsam zur Pflicht!“191 Was Kurt Gerstein in seiner Botenfunktion erfahren hat, das durfte sein Vater nicht wissen, nicht von ihm erfahren. Der Vater hatte seinerseits im Jahre 1946 die Größe, gegenüber der Schwiegertochter seinen Irrtum zu bekennen: „Kurt war – wie ich jetzt erkannt habe, mit Recht anderer Ansicht.“192 Und 1949 schrieb er in seinen Erinnerungen: „Ich und viele andere haben Kurt wegen seines Eintritts in die SS bitter Unrecht getan. Edelste Motive haben ihn dazu bewogen. Wäre sein Beginnen – etwa durch die Gestapo – herausgekommen, der Tod wäre ihm gewiß gewesen. Ein verhängnisvolles Geschick hat es nicht gewollt, daß Kurt den verdienten – aber nicht erstrebten! – Lohn für seine gefährliche, edle Handlungsweise geerntet hat. Wir aber wollen sein Andenken in Ehren halten und das durch die Tat seinen Angehörigen gegenüber beweisen.“193 Ein Wort des Vaters, gesprochen für die Familie, hat Gültigkeit für die gesamte Nachwelt: „Zu spät aber haben wir, seine nächsten Angehörigen, seinen inneren hohen Wert erkannt.“194 Um wieviel mehr muß das für die übrigen Zeitgenossen gelten. 188
Brayard, Grasping in the spokes, S. 78. Ebd., S. 77. 190 Gerstein, Ludwig, Brief an Sohn Kurt, Abschrift im Besitz des Autors Gerstein. 191 Gerstein, Kurt, Brief an den Vater, Abschrift im Besitz des Autors Gerstein. 192 Gerstein, Ludwig, Brief an Schwiegertochter Elfriede, 24. November 1946, Lk. A., 5.2, Nr. 215 (91), hier zitiert nach: Hey, Gerstein, S. 65. 193 Gerstein, Ludwig E., Erlebtes, Weihnachten 1949 in Hagen vollendet, handschriftl. in sechs nahezu, aber nicht völlig identischen Exemplaren, gebunden; hier zitiert: Exemplar im Besitz des Autors Gerstein. 194 Gerstein, Ludwig, Brief an Schwiegertochter Elfriede, 24. November 1946, Lk. A., 5.2, Nr. 215 (91); vgl. dazu: Lk. A., 5.2, Nr. 449 (326). 189
Hans-Wolfram Knaak – Widerstand als aktiver Senior Von Rüdiger Döhler Hans-Wolfram Knaak wurde am 4. Juli 1914 in Magdeburg geboren. Sein Vater war Direktor bei der Magdeburger Feuersozietät, einer angesehenen Versicherung. Sowohl während seines Studiums als auch während der ersten geplanten Erhebung gegen Hitler im Jahre 1938 trat er als Mann des Widerstands hervor, doch schon früh ist er an der Ostfront gefallen. Achtzehnjährig, ungestüm, voll Lebensenergie kam Knaak zum Studium nach Königsberg und wurde ohne lange Bedenkzeit zu Beginn des Sommersemesters 1932 als einer von sieben Füchsen, die fast gleichzeitig akzeptiert werden konnten, beim Corps Baltia Königsberg in der Tragheimer Pulverstraße aktiv.1 Im folgenden Wintersemester, noch 1932, wurde der sehr resolut auftretende Fuchs Knaak, der übrigens wegen eines verkürzten beziehungsweise teils amputierten Fingers von seinen Corpsbrüdern „Torso“ genannt wurde, in das engere Corps rezipiert.2 Im Sommersemester 1933 war CB Knaak wahrscheinlich Consenior.3 Er verfügte über ein Auto, das er seinem Corpsbruder Dieck II abgekauft hatte.4 Der Besitz eines Automobils war für Studenten damals sehr ungewöhnlich, und um so lieber fuhr Knaak, begleitet von seinen Corpsbrüdern Stendel und Neumann, von Königsberg – wahrscheinlich per Schiff mit mit dem Seedienst Pillau – über Stettin nach Bad Kösen zum Pfingst-Congress. Dort war die kommende Gleichschaltung der studentischen Verbände deutlich spürbar – von den Königsberger Balten wurde dies mit großem Mißfallen zur Kenntnis genommen.5 Die Gleichschaltung empfanden Knaak und seine Corpsbrüder als einen brutalen Eingriff, denn sie hatten als 1
Schindelmeiser, Siegfried, Die Geschichte des Corps Baltia II zu Königsberg i. Pr. (1970 – 1985). Neuausgabe von Rüdiger Döhler und Georg v. Klitzing, Bd. 2, München 2010, S. 397; vgl. ebd., S. 419; ebd., S. 492. 2 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, Nr. 84 – 371 (künftig: KCL 1960). 3 Vgl. KCL, Nr. 84 – 371; Knaak durfte die Charge des Conseniors klammern, und das einzige vollständige Semester, das er vor seinem Seniorat im Wintersemester 1933/1934 dafür in Frage kommt, war das Sommersemester 1933. Daß Knaak, kurz vor Weihnachten 1932 rezipiert, im vorhergehenden Wintersemester diese Charge nach nur einem halben Semester hätte klammern dürfen, ist unwahrscheinlich. 4 Vgl. Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 399; ebd., S. 416; ebd., S. 420: das Auto wurde – wohl aufgrund einer grünen Lackierung – „Laubfrosch“ genannt. 5 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 419.
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aktive Corpsburschen Arbeitsdienst zu leisten und mußten, so war es beschlossen worden, an Schulungen durch SA-Kader teilnehmen.6 Zum Wintersemester 1933/1934 wurde Knaak zum Senior gewählt, er war damit der „Führer“ des Corps im Sinne des NS-Staats.7 Er widersetzte sich konsequent der nationalsozialistischen Vereinnahmung des Corps und schickte einigen Führern von SA und NSDAP Säbelforderungen. Im Januar 1934 erfolgte dann eine Art Machtergreifung innerhalb des Corps. Eugen Dorsch, ein überzeugter Nationalsozialist, der am 25. Dezember 1933 das Band zurückgegeben hatte,8 nahm es eigenmächtig wieder auf – nach Kösener Statuten ein unmöglicher Vorgang. Der bisherige „Corpsführer“, Tornier, übergab daraufhin auch seitens der Altherrenschaft dem Senior Knaak die Vollmachten eines Hausherrn, denn Dorsch machte sich, unterstützt von einigen anderen Alten Herren, anheischig, die Macht im Corps zu übernehmen und verfügte mit dem 4. Februar 1934 die vorläufige Schließung des Aktivenbetriebs sowie die Dimission in perpetuum des Seniors Knaak. Doch das aktive Corps reagierte darauf nicht. Daraufhin wurden Knaak und Reinke am 17. Februar von der Gestapo verhaftet.9 Zwar konnte Knaak aufgrund familiärer Kontakte schon nach wenigen Tagen die Gestapo-Zelle verlassen, doch die Verdrängung des corpsstudentischen Geistes konnte auf Dauer nicht verhindert werden, denn auf Druck des Verbandes wurde der Königsberger Litauer Alfred Funk10 damit beauftragt, die Verhältnisse innerhalb des Corps Baltia zu klären – im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie.11 Funk äußerte gegenüber der Verbandsführung des Kösener Senioren-Convents-Verbandes: „Ein wohll. CC der Baltia gilt demnach bei der politischen Leitung – ob mit Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt – als ein Herd und eine Keimzelle des Widerstands gegen die Volksgemeinschaft und das nationalsozialistische Denken.“12 Trotz aller Angriffe blieb der CC der Baltia bis zum Semesterende handlungsfähig. Er inaktivierte den bisherigen Senior Knaak am 21. Februar 1934. Die aktiven Corpsbrüder sprachen ihm ihre besondere Anerkennung aus, denn ihm wurde gestattet, die Charge zu klammern.13 Dann, mit den Semesterferien, jedoch sank Baltias Fahne. Am 17. April 1934 teilte der Altherrenvorsitzende Tornier mit, daß der CC seinen Betrieb zum Sommersemester 1934 nicht wieder aufnehmen werde.14 Michael Feistl spricht in diesem Zusammenhang von einer „Auflösung des 6 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 420 f., hier: Erinnerungen Reinke Baltiae, Albertinae, Hanseae Bonn. 7 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 427. 8 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 439. 9 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 448 f.; vgl. ebd., S. 492. 10 KCL Nr. 86 – 766. 11 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 452. 12 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 453. 13 KCL 1960, Nr. 84 – 371. 14 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 467; vgl. ebd., S. 475 ff.
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aktiven Corps von außen“.15 Versuche des vom Verband beauftragten, extrem nationalsozialistisch eingestellten Alfred Funk Littuaniae Königsberg,16 den Aktivenbetrieb bei Baltia im Sinne einer NS-Kameradschaft wieder in Gang zu bringen, stießen auf passiven Widerstand. Baltia war sich treugeblieben und blieb suspendiert. Die Zeitläufte sollten erweisen, daß es keine Baltia mehr geben würde, nicht in Königsberg und an keiner anderen Universität.17 In einem Brief vom 23. April 1950 zur Übergabe der Akten aus den Jahren 1933 und 1934 an das Kösener Archiv schrieb Hans Lüdecke Baltiae Königsberg: „Außer den Saxen-Preußen hat wohl kein anderes Corps solche Verfolgungen durch das Dritte Reich erlebt.“18 Hans-Wolfram Knaak hatte als Senior der Baltia mit Schneid und Furchtlosigkeit die corpsstudentischen Werte verteidigt, die in diesem Fall für die bürgerlichen Werte schlechthin standen. Und das sollte ihm im zunehmend gleichgeschalteten NS-Staat weitere Probleme bereiten. Bei seinem unbeirrbaren Festhalten am Recht, das ihm von Parteigängern der nationalsozialistischen Bewegung als „Renitenz“ ausgelegt wurde, wurde er von der Albertus-Universität relegiert. Er ging als Soldat zur Wehrmacht. 1934 wurde er Fahnenjunker im Reiter-Regiment 4 in Potsdam und kam 1935 bei der Aufstellung der Panzertruppe zur Kraftfahr-Abteilung 7 – den späteren Panzeraufklärern – in Münster in Westfalen.19 Knapp zwei Jahre später, 1937, war Knaak bereits zum Leutnant befördert worden. Dafür, daß er seine bisherige Haltung beibehalten hatte und überaus kritisch zum NS-System stand, spricht, daß er sich bei „Brandenburgern“, der geheimen Kommandotruppe von Admiral Canaris, meldete. Hier sind Anzeichen für eine „innere Emigration“ zu erkennen. 1938 gehörte er, mittelbar beteiligt,20 zum militärischen Flügel derjenigen, die mit den Generalen Erwin von Witzleben und Hans Oster zu einem Attentat auf Hitler entschlossen waren. Doch seine wirkliche Gesinnung fiel nicht auf, er wurde schon in den anderthalb Jahren des Zweiten Weltkriegs zunächst mit dem Eisernen Kreuzen zweiter, dann auch erster Klasse ausgezeichnet. Als Chef des 8. Lehr-Regiments z. b. V. gehörte er zu den ersten Soldaten, die zu Beginn des Rußlandfeldzuges im Juni 1941 die sowjetische Grenze überquerten. Mit dem Panzer-Regiment 10, gehörig zur 8. Panzer-Division, lag Knaak am 26. Juni 1941 acht Kilometer vor dem lettischen Dünaburg. Er wurde mit einem 15
Feistl, Michael, Eigentumsverhältnisse an Corpshäusern des grünen Kreises des Kösener Senioren-Convents-Verbandes seit 1933 und Restitutions- und Entschädigungsansprüche der grünen Corps, Diss. Regensburg 2010, S. 224. 16 Zu Funk vgl. Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 453. 17 Der oKC des Jahres 2001 hat Baltias Untergang festgestellt. Die Tradition der Baltia wird weitergetragen vom Corps Albertina Hamburg. 18 Döhler, Rüdiger, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Corps_Baltia_Königsberg, Abruf am 8. Dezember 2012. 19 Schindelmeiser/Döhler, Baltia, Bd. 2, S. 492. 20 Hoffmann, Peter, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, Berlin 1983, S. 124.
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Kommando besehen, das aufgrund der spärlichen Quellenlage hier nicht genauer bewertet werden kann. Dem ungestümen Temperament, dem Knaak bis hin zur kurzzeitigen Gestapo-Haft einigen Ärger verdankte, entspräche es, wenn er sich hier freiwillig gemeldet hätte. Es könnte sich jedoch auch um ein „Himmelfahrtskommando“ gehandelt haben, mit dem regimekritische Soldaten von treuen Parteigängern des Nationalsozialismus immer wieder bedacht wurden, denn die Wehrmacht wurde als „innere Emigration“ für Kritiker des NS-Regimes in durchaus nennenswertem Umfang genutzt. Das Kommando, mit dem Knaak betraut wurde, bestand darin, frühmorgens mit russischen Fahrzeugen, die von der Roten Armee erbeutet worden waren, und maskiert mit russischen Uniformen nach Dünaburg hineinzufahren und die von der Roten Armee besetzten Dünabrücken im Handstreich zu nehmen. Dies war enorm wichtig, um den Weg für die wartende 8. Panzerdivision zu ebnen.21 Paul Carell beschreibt, wie es in etwa gewesen sein muß: „An der haltenden Panzerspitze fährt eine merkwürdige Kolonne. Vier sowjetische Beute-LKW – die Fahrer in russischer Uniform. Die Panzerkommandanten grinsen und winken. Sie wissen, was es für ein geheimnisvoller Konvoi ist: Angehörige des Regiments Brandenburg, ,die Brandenburger‘ genannt; eine Spezialtruppe von Admiral Canaris, dem Chef des militärischen Geheimdienstes. – Oberleutnant Knaak sitzt mit seinen Männern unter den Planen. Der Auftrag ist ebenso abenteuerlich wie simpel: in die Stadt fahren.“22 Für sein Corps hatte er 1933 und 1934 im Sturm bestanden; dies war ihm vor Dünaburg nicht vergönnt. Um acht Uhr, zum Frühstück, hatte General von Manstein die Funkmeldung: „Handstreich auf Stadt und Brücken Dünaburg geglückt. Straßenbrücke unversehrt. Eisenbahnbrücke durch Sprengung leicht beschädigt, aber passierbar.“23 Hans-Wolfram Knaak war zu diesem Zeitpunkt schon tot. Zusammen mit fünf seiner Kameraden war er den Soldatentod gestorben, eine Woche vor seinem 27. Geburtstag. Seine Leiche wurde im Bereich der Brücke gefunden, nahe vor dem rechten Brückenpfeiler, durchsiebt von einer Maschinengewehrsalve. Für den strategisch bedeutsamen Erfolg auf dem Vormarsch des Nordabschnitts der Ostfront von Wilna nach Leningrad wurde Knaak postum zum Rittmeister befördert und am 3. November 1942 mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet, „denn die Schlacht um das Vorfeld von Leningrad wurde durch die schnell gewonnenen Dünaübergänge entscheidend beeinflußt“.24 Und dies war Oberleutnant Knaaks Verdienst. Hans-Wolfram Knaak hinterließ seine Frau Jutta, Tochter von Kapitän zur See Arthur Düms und seiner Frau Elsa geb. Stratmann aus Königsberg, die er 1940 geheiratet hatte. Er ist ein gradliniger Mann des Widerstands gewesen, zu keinem 21
Vgl. dazu Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat, S. 124 f. Carell, Paul, Unternehmen Barbarossa. Der Marsch nach Rußland, Berlin 1963, S. 25 ff. 23 Carell, Unternehmen Barbarossa, S. 31 f. 24 Carell, Unternehmen Barbarossa, S. 198. 22
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Zeitpunkt und kein bißchen verstrickt in die Machenschaften des NS-Systems – dies natürlich auch aufgrund seines frühen Todes, aber das hindert nicht das Urteil, daß auf seine Rolle als Vorbild für die Haltung gegenüber einer mörderischen Diktatur auch nicht der kleinste Schatten fällt; Freunde, Corpsbrüder und – bis heute – deren Nachkommen hielten und halten sein Andenken in Ehren.25
25 Ein enger Freund Knaaks war zum Beispiel sein Corpsbruder Eberhard Neumann, der später als Theologe in der DDR wirkte. Zu Ehren Knaaks gab er seinem 1943 geborenen Sohn den Vornamen Wolfram. Dieser Wolfram Neumann lebt heute als Emeritus für Orthopädie in Magdeburg.
Die Verfolgung des Oberforstmeisters Josef Planke im Dritten Reich Von Maximilian Waldherr In seinem Buch „Ungleiche Welten“ gibt der Dichter Hans Carossa Rechenschaft über seine Tätigkeit in der Zeit des Dritten Reiches, über seine Verstrickung als Präsident der nationalsozialistischen „Europäischen Schriftsteller-Vereinigung“ und über seine Aktivitäten während des Zusammenbruchs 1945. Er erwähnt, dass er in diesen Jahren mehreren Personen Hilfe leisten konnte, unter anderem dem Oberforstmeister Josef Planke aus Seestetten. Der war in die Mühlen des Volksgerichtshofs geraten. Um ihn zu retten, schrieb Carossa einen Brief, in dem er vorgab, der Angeklagte sei ein „körperlich leidender, geistig verstörter Greis“;1 diese Feststellung traf zwar in keiner Weise zu, war aber Anlass für eine gerichtliche Untersuchung des Gesundheitszustandes des Beschuldigten und brachte einen Aufschub der Verurteilung, bis die Wirren des Kriegsendes die Angelegenheit erledigten.2 Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies Josef Planke vor einem Todesurteil rettete. Josef Planke wurde am 20. April 1877 in Sirnach in der Schweiz (Kanton Thurgau) geboren als illegitimer Sohn des Jesuitenpaters Josef Mohr aus München. Seine Mutter, Marie Otten, heiratete später den Weinhändler Josef Planke, der dem unehelichen Kind seinen Namen gab.3 Die ersten Jahre der Kinderzeit verbrachte Josef Planke, der Sohn, in der Schweiz; später wohnte er an wechselnden Orten, in Köln, Innsbruck und Stuttgart; nach dem Tod seines Ziehvaters kam er mit seiner Mutter nach Regensburg, besuchte dort die Volksschule und das Neue Gymnasium 1
Carossa, Hans, Ungleiche Welten, Frankfurt a. M. 1951; hier zitiert aus der Jubiläumsausgabe, Dritter Band, 1978, 277 – 279. 2 Josef Planke war Forstkollege des Autors, zuständig für den Westteil des Neuburger Waldes; sein Schicksal ist nach dem Krieg in der Aufbruchstimmung der Nachkriegsjahre in Vergessenheit geraten. In regionalen Untersuchungen über Widerstand und Verfolgung in der Zeit des Dritten Reiches, in Berichten über einzelne Persönlichkeiten, ebenso in den wenigen Ansätzen, die Geschichte der Forstverwaltung in der Zeit des Dritten Reiches aufzuarbeiten, ist Josef Planke bislang nicht erwähnt. Vgl. dazu: Kammerbauer, Ilse, Die Verfolgung sogenannter „staatsfeindlicher Bestrebungen“ im Regierungsbezirk Niederbayern und Oberpfalz 1933 – 1945, Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg, Nr. 121, 1981, S. 285 – 348; Rösler, Rudolf, „Stolperstein“ für Oberforstmeister Theodor Siebenlist, Oberpfälzer Heimat Nr. 52, 2007, 172 – 177; Rubner, Heinrich, Deutsche Forstgeschichte 1933 – 1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat, Sankt Katharinen 19972. 3 Personalakt I für Planke Josef an der ehemaligen Forstdirektion Niederbayern-Oberpfalz in Regensburg, nunmehr am Staatsarchiv Amberg, Blatt 18.
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– heute Albrecht-Altdorfer-Gymnasium – und legte 1896 das Abitur ab.4 Er beschloss, Forstwirtschaft zu studieren und begann 1896 die Ausbildung an der Zentralforstlehranstalt in Aschaffenburg; er war also einer von denen, die von den Bürgern der Stadt liebevoll „Forstpolacken“ genannt wurden.5 In dieser Zeit lernte er seine spätere Frau, Berta Pracher, die Tochter des Schlossverwalters, kennen. Planke war Corpsstudent, Hercynianer;6 im Wintersemester 1897/98 sowie im Sommersemester 1898 war er Fuchsmajor, also für die Ausbildung des Corps-Nachwuchses zuständig.7 Bei einer Mensur trug er eine erhebliche Verletzung der Schädeldecke davon, so dass er, als er 1898 als Freiwilliger seinen Wehrdienst antreten wollte, für auf Dauer untauglich befunden wurde.8 Nach zwei Jahren in Aschaffenburg setzte er das Studium an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München fort. Im Jahr 1900 waren seine Studien abgeschlossen.9 Am 27. August 1900 trat er als Forstpraktikant in die Forstverwaltung ein; er war zur Vorbereitung auf das Staatsexamen an mehren Forstämtern der Oberpfalz tätig. 1903 legte er die „Concursprüfung“ mit der Note „gut“ ab;10 er blieb noch zwei Jahre als Geschäftsaushilfe – also Verweser der Assistentenstelle – an verschiedenen oberpfälzischen Forstämtern, kam dann 1906 als Forstamtsassessor an das Forstamt Ebrach, wo er acht Jahre bleiben sollte. Im Jahr 1907 verehelichte er sich mit Fräulein Berta Pracher,11 die ihm 1911 und 1912 je eine Tochter schenkte.12 1914 wechselte Planke an das Forstamt Fischstein (Pegnitz), ehe ihm 1920 die Leitung des Forstamts Pressath in der nördlichen Oberpfalz übertragen wurde.13 1924 wurde er durch einstimmigen Beschluss des Kollegiums der Kammer der Forsten in Regensburg als qualifiziert für den Kollegial- und Inspektionsdienst an einer Mittelbehörde erklärt; diese Qualifikation wurde ein Jahr später wegen Schwerhörig-
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Acta des königl. bayer. Forstamts Falkenberg, Betreff: Personalakt des Josef Planke, Forstpraktikant, im Personalakt I für Planke Josef (wie Anm. 3), Blatt 1. 5 Rösler, Rudolf, Verdienstvolle Aschaffenburger „Forstpolacken“ jenseits der weiß-blauen Grenze, in: Aschaffenburger Jahrbuch für Geschichte, Landeskunde und Kunst des Untermaingebietes, Band 25, 2006, S. 115. 6 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961 (künftig: KCL), Nr. 107 – 435. 7 Mitteilung des Corps Hercynia München vom 15. Dezember 2008. 8 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 40, Acta des königl. bayer. Forstamts Falkenberg (wie Anm. 4), Blatt 1. 9 Vgl. Acta des königl. bayer. Forstamts Falkenberg (wie Anm. 4). 10 Acta der k. b. Regierung der Oberpfalz u. v. Regensburg, Forstabtheilung, Betreff: Planke Josef, Concursarbeiten 1903, im Personalakt I (wie Anm. 3) und Acta des königl. bayer. Forstamts Falkenberg (wie Anm. 4), Blatt 2. 11 Acta des königl. bayer. Forstamts Falkenberg, Betreff: Personalakt des Josef Planke, Forstpraktikant, im Personalakt I für Planke Josef (wie Anm. 3), Blatt 21. 12 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 38, 40. 13 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 40; Letsch, Hans, Verzeichnis der aktiven Forstbeamten der Staatsforstverwaltung Bayerns, München 1931, S. 15.
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keit widerrufen.14 1926, mit 49 Jahren, wurde Josef Planke zum Titularischen Oberforstmeister befördert, das war die zweithöchste Sprosse der Karriereleiter des höheren Forstbeamten im Außendienst.15 Eine Berufslaufbahn, die ohne Zwischenfälle verlief, ein geachteter, angesehener Forstamtsleiter in einem schönen oberpfälzischen Forstamt; eine intakte Familie; beide Töchter studierten Zahnmedizin;16 ein planmäßiges, erfülltes Leben – bis 1933. I. Eine Weigerung mit Folgen Der Amtsleiter in Pressath wurde nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aufgefordert, das Forstamtsgebäude zu beflaggen und zwar mit der Parteifahne der Nationalsozialisten, der Hakenkreuzfahne. Er weigerte sich; auf eine dringliche Ermahnung durch den Gauleiter Hans Schemm entgegnete er: „Von Ihnen, Herr Lehrer, lasse ich mir noch lange nichts sagen. Gegen Widerstand setze ich Widerstand. Erst auf staatliche Anordnung wird die Hakenkreuzfahne gehisst.“17 Eine Argumentation, die nach der Dienstordnung völlig korrekt war: Staatliche Gebäude durften und dürfen nur auf staatliche Anordnung beflaggt werden. Gleichzeitig aber auch eine unvorsichtige und arrogante Formulierung – den Gauleiter und späteren Kultusminister als einen „Herrn Lehrer, von dem er sich nichts sagen lasse“, zu titulieren. Den Mitarbeitern am Forstamt sagte er, wenn einer seine guten Knochen riskieren wolle, könne er die bayerische Fahne herunterholen und die Hakenkreuzfahne aufziehen – ein Ausspruch, der ihm elf Jahre später als ein Indiz für seine staatsfeindliche Haltung ausgelegt wurde.18 Wenige Tage später kam ein Anruf vom Regierungspräsidenten persönlich mit der Aufforderung, unverzüglich die Hakenkreuzfahne zu hissen und der Partei den Vollzug mitzuteilen.19 Josef Planke gehorchte. Aber damit war die Sache nicht ausgestanden. Er galt wegen dieses Vorfalls als Leiter des Forstamts Pressath offensichtlich als nicht mehr tragbar, der Flaggenstreit hatte wohl öffentliches Aufsehen erregt. Umgehend erfolgte die Versetzung des Oberforstmeisters an das Forstamt Markt Bibart im Südlichen Steigerwald.20 Durch „gütliche Vermittlung der Regierung“21 wurde die Strafversetzung nach Markt Bibart nach zwei Monaten korrigiert; das Forstamt Seestetten war frei geworden – ein waldbaulich begehrtes Amt in Reichweite der 14
Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 23. Wie Anm. 15. 16 Wie Anm. 11. 17 Schreiben von Dr. Ilse Wienen vom 20. Juli 1955, Akt des Landesentschädigungssamts München, B.E.G. 26466, Lfd. Nr. 70, A 1955/77. 18 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 66. 19 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 42. 20 Wie Anm. 18. 21 Wie Anm. 18. 15
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Stadt Passau. Josef Planke wurde dieses Amt seitens der Verwaltung angeboten, er übernahm es am 1. August 1933, wenn auch gegen seinen Willen.22 II. Schwierigkeiten mit der Partei Der Ortswechsel hinderte nicht daran, dass er in Parteikreisen als eine suspekte Person angesehen wurde; andererseits gab er sich wenig Mühe, seinem Umfeld zu verbergen, dass er gegenüber dem Regime Vorbehalte hatte.23 Im Jahr 1938 wollte man schließlich den Oberforstmeister Planke aus seinem Amt drängen; auf einer öffentlichen Versammlung der NSDAP bezeichnete ihn SA-Obersturmbannführer Beyer aus Kronach als Staatsfeind; sofort reagierte die Forstverwaltung, beurlaubte ihn von der Amtsführung und leitete ein Dienststrafverfahren gegen ihn ein.24 Das Ergebnis brachte eine Entlastung; Planke wurde nach vier Wochen wieder mit der Führung des Amtes betraut.25 Die Vorwürfe Beyers im Einzelnen sind nicht mehr bekannt. Im Herbst 1939 traf Planke ein schwerer Schlag; seine Ehefrau starb im Alter von 60 Jahren.26 Im Forsthaus war nun Platz. Schon bald, es war schon Kriegszeit, wurden mehrere Evakuierte aus Hamburg einquartiert.27 1941 wurde in einer Gastwirtschaft in Seestetten eine Führerrede übertragen; Planke war anwesend und sagte: „Tut es weg, des G’lump, sie solln net soviel reden“. Es kam zu Ermittlungen, aus der Bevölkerung war aber niemand bereit, die Sache zu bezeugen;28 aber man redete über diesen Vorfall. Planke bekam natürlich mit, dass seine Person Gegenstand eines „politisch gehaltenen Geschwätzes“ war, und suchte eine Aussprache mit dem Kreisleiter der NSDAP in Passau, Max Moosbauer; er beteuerte ihm gegenüber, dass er als „Corpsstudent mit beinahe 100 Semestern die Begriffe Ehre, Freiheit und Vaterland als Selbstverständlichkeit betrachte“. Planke gab sich der Illusion hin, die Sache sei damit aus der Welt geschafft.29 Sie wurde dennoch registriert und ihm später wieder vorgeworfen. Ob es klug war, sich gegenüber einem Nazi-Kreisleiter und SS-Obersturmbannführer als Mitglied des Corps Hercynia zu erkennen zu geben, einer im Dritten Reich verbotenen Vereinigung, steht dahin. 22 Wie Anm. 18 sowie Schreiben des Regierungsforstamts Regensburg vom 20. Juli 1946 im Akt des Landesentschädigungsamts München, B.E.G. 26466, Lfd. Nr. 70, A 1955/77. 23 Protokolle der Gestapo im Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 31 ff., 34 ff., 37 ff. 24 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 61, Schreiben des Forstwarts Beer vom 21. 7. 1946 im Akt des Landesentschädigungsamts (wie Anm. 17). 25 Strafakt im Personalakt I (wie Anm. 3), Schreiben des Bayer. Regierungsforstamts Niederbayern-Oberpfalz vom 22. Dezember 1938. 26 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 38. 27 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 4. 28 Zusammenfassender Bericht der Gestapo vom 21. März 1944 im Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 67. 29 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 42.
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Oberforstmeister Planke galt als strenger Vorgesetzter, der seine Mitarbeiter gelegentlich auch hart anfuhr,30 persönlich gab er sich ihnen gegenüber eher verschlossen.31 Zu mehreren Beamten – keinesfalls zu allen32 – entwickelte sich mit den Jahren ein zunehmend gespanntes Verhältnis. Planke beobachtete, dass sein Kanzleibeamter, Forstsekretär Konrad S.33, seinen Papierkorb durchsuchte, offensichtlich um belastendes Material zu sammeln; er bekam mit, dass S. ihm nachspionierte, wohin er mit der Bahn gefahren sei; er wurde von einem Unbekannten auf der Straße angesprochen und gewarnt, „es werde Jagd auf ihn gemacht“; er erfuhr, dass ein Revierleiter bei seinen Kollegen nach belastendem politischem Material forschte. Sehr wohl durchschaute er den Personenkreis um sich und vermutete richtig, welche Treiber die Jagd auf ihn vorbereiteten.34 III. Die Treibjagd beginnt Im Herbst 1943 wurde die Lage für Planke ernst. Revierleiter Oberforstverwalter Anton W.35 fuhr nach Regensburg und brachte eine Beschwerde beim Chef des Regierungsforstamtes, Oberlandforstmeister Wilhelm Mantel, vor. Inhalt dieser Vorwürfe war, man könne es mit Planke nicht mehr aushalten und es müssten Anschuldigungen politischer Natur gegen ihn vorgebracht werden.36 Mantel verwies W. auf den schriftlichen Dienstweg und ordnete eine Inspektion an, die vier Tage später erfolgte. Der Inspektionsbeamte, Oberforstmeister Julius Mühlbauer,37 ein Studienkollege von Josef Planke und Münchner Huberte, also ebenfalls Mitglied eines Forstcorps,38 ging den Vorwürfen überaus gründlich nach, befragte die Revierleiter und die Arbeiter zu den Vorgängen des Dienstbetriebes und warf als Ergebnis Anton W. vor, seine Anschuldigungen seien unverantwortlich gewesen; daraufhin wechselte W. von seinen zunächst dienstlichen Vorwürfen in den politischen Bereich: Planke habe einen Erlass aus Berlin als „preußisches Zeug“ bezeichnet, „das für ihn nicht gelte“; er höre dem Vernehmen nach ausländische Sender ab und habe eine Sammlung des Winterhilfswerks39 sabotiert. Nachdem Anton W. diese neuen Vorwürfe ge30
Strafakt im Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 1. Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 66. 32 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 56, 65, Schreiben des Forstwarts Beer vom 21. Juli 1946 im Akt des Landesentschädigungssamts (wie Anm. 17). 33 Aus Rücksichtnahme auf die Nachkommen wird der Name nicht voll wiedergegeben. 34 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 71. 35 Aus Rücksichtnahme auf die Nachkommen wird der Name nicht voll wiedergegeben. 36 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 14. 37 Siehe hierzu das Lebensbild: Rubner, Heinrich, Hundert bedeutende Forstleute Bayerns (1875 bis 1970), in: Mitteilungen aus der Staatsforstverwaltung Bayerns, Nr. 47, München 1994, 133 – 135. 38 KCL, Nr. 108 – 553. 39 Das Winterhilfswerk war eine Wohlfahrtsorganisation des Dritten Reiches, die überwiegend durch Sammlungen finanziert wurde. 31
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genüber Mühlbauer nicht erhärten konnte, machte ihm dieser Vorhaltungen;40 unter anderem sagte er nach einer späteren Aussage von Anton W.: „Wenn Sie Ihren Amtsvorstand ins Gefängnis bringen wollen, dann sind Sie ein Denunziant und Ihre Kollegen schauen Sie nicht mehr an.“ Auch versuchte er offenbar, Planke etwas zu entlasten, und zwar durch Fragen wie diese: „Wollen Sie vielleicht bei der Partei etwas werden, weil Sie sich für politische Belange so einsetzen?“41 Wegen dieser – unter den damaligen Verhältnissen sehr unvorsichtigen – Äußerungen musste sich das Regierungsforstamt gegenüber der Landesforstverwaltung in München im weiteren Verlauf ausführlich rechtfertigen.42 Aufgrund der Vorhaltungen zeigte sich Anton W. augenscheinlich einsichtig, streckte Herrn Planke die Hand zur Versöhnung entgegen und entschuldigte sich. Bereits vorher aber hatte er seine politischen Vorwürfe der Partei zugespielt.43 IV. Anzeige und Verhaftung Ein Vierteljahr später wurde Planke bei der NSDAP-Kreisleitung angezeigt. Die Denunzianten waren der Forstsekretär Konrad S.44 vom Forstamtsbüro45 sowie die Revierleiter Anton W.46 und Karl M.47 Alle drei waren Mitglieder der NSDAP. Sie wurden zum Kreisgericht der NSDAP-Kreisleitung in Passau am 21. Februar 1944 vorgeladen und vernommen. Die drei Denunzianten wussten sehr wohl, dass es um Leben und Tod ging; die Hinrichtungen des Pfarrers Ludwig Mitterer48 aus dem nur fünf Kilometer entfernten Otterskirchen wegen angeblichem Abhören eines Feindsenders und Weitergabe staatsfeindlicher Inhalte an seine Haushälterin und des Arztes Dr. Alois Geiger49 aus Spiegelau aufgrund angeblicher Wehrkraftzersetzung und Volksverrat wegen staatsfeindlicher Äußerungen gegenüber einer Patientin lagen nur wenige Wochen zurück. Dies war in aller Munde. Nachfolgend das Ergebnis der Vernehmung: Alle drei bestätigten die ablehnende Haltung, die Herr Planke zum Dritten Reich gezeigt habe; den Hitlergruß habe er nur gegenüber Dienstvorgesetzten gebraucht, im Verkehr mit der Bevölkerung habe er mit „Grüß Gott“ gegrüßt. Gelegentlich habe er in Gesprächen offen Kritik an der Partei, auch an der Wehrmacht geübt. 40
Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 82. Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 15. 42 Schreiben des Regierungsforstamts an die Gestapo vom 5. April 1944, Bericht des Regierungsforstamts an die Landesforstverwaltung vom 21. 4. 1944, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 11, 12, 13, 14, 15. 43 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 83. 44 Aus Rücksichtnahme auf die Nachkommen wird der Name nicht voll wiedergegeben. 45 Anzeige siehe Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 4. 46 Anzeige siehe Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 6. 47 Anzeige siehe Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 5. 48 Siehe hierzu: Wagner, Walter, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, in: Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Band 3, Stuttgart 1974, S. 412. 49 Ebd. 41
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Nach diesen allgemeinen Anschuldigungen wurden die Vorwürfe konkret: Forstsekretär Konrad S. legte zusammengeschnittene Zeitungsabfälle vor, die am Klosett des Forstamts zur Benützung ausgelegt waren. Herr Planke hatte darauf Artikel und Bilder mit Kommentaren versehen, die „seine Gesinnung erkennen ließen“. Fast ein Jahr lang hatte Konrad S. diese Indizien gesammelt; das Niederträchtige dieser Handlung musste ihm trotzdem bewusst geworden sein: Gegenüber dem vernehmenden Funktionär betonte er von sich aus, er habe die Blätter nur an sich genommen, „um Missbrauch zu vermeiden“! Um darzulegen, wie grotesk die Vorwürfe waren, werden Kostproben der Planke’schen Randglossen aufgeführt.50 Revierleiter Karl M. gab an, ein Lokomotivheizer habe erzählt, Herr Planke habe sich am Bahnhof mit der Frau eines Seestettener Fabrikanten über die Sendezeiten von Auslandssendern unterhalten – ein schwerwiegender Vorwurf, da ja das Abhören von ausländischen Sendern als Rundfunkverbrechen unter Zuchthausstrafe stand.51 Revierleiter Anton W. zeigte an, Oberforstmeister Planke habe den Inhalt einer Auslandssendung über den Kriegsverlauf an der Ostfront an einen Revierleiterkollegen weitergegeben – ein Verbrechen, das mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Außerdem beschuldigte er Planke, eine Sammlung des Winterhilfswerks boykottiert zu haben. Am gleichen Tag, dem 21. Februar, stellte Kreisleiter Moosbauer Antrag auf Erlass eines Haftbefehls an die Gestapo in Regensburg und forderte die Regierung in Regensburg auf, Oberforstmeister Planke des Dienstes zu entheben;52 mit einer Verzögerung von 18 Tagen folgte das Regierungsforstamt dieser Direktive und entband den Amtsleiter von der Führung der Dienstgeschäfte.53 Vorher, am 3. März 1944, hatte das Regierungsforstamt bei der Landesforstverwaltung den Antrag gestellt, Oberforstmeister Planke in den Ruhestand zu versetzen, „weil er infolge seines Alters“ (er stand im 67. Lebensjahr)54 „den dienstlichen Anforderungen nicht mehr ge-
50 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 4, 32: Unter die Abbildung des Verwundetenabzeichens für Verletzte bei Luftangriffen machte er den Vermerk: „sehr wichtig!“ In einem Nachruf auf einen verstorbenen Nazifunktionär wurde dessen Charaktergröße und Uneigennützigkeit gewürdigt; Planke hatte hinzugefügt: „wie alle Mitglieder der NSDAP“. Zu dem Satz: „in stolzer und tiefer Ergriffenheit“ hatte er „blöd“ angemerkt. Am Rande des Satzes: „Mit der besseren inneren Haltung schlagen wir den Gegner“ aus einer Rede von Großadmiral Dönitz stand ebenfalls „blöd“. In einem Artikel über Friedrich den Großen hatte er das Wort „Heldenkampf“ durch „Raubkrieg“ ersetzt. Das Thema „Wiedervereinigung mit Österreich“ war durch das Wort „Überfall“ kommentiert, ebenso die Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren. 51 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 37. 52 Schreiben der Kreisleitung Passau vom 21. Februar 1944, Personalakt I (wie Anm. 4), Blatt 3. 53 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 2. 54 Kriegsbedingt waren die Beamten gehalten, über das normale Pensionsalter hinaus zu arbeiten. Mitteilung Peter Fromm, Regensburg.
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wachsen sei“.55 Dieser Schachzug des Regierungsforstamts erfolgte aber zu spät und blieb wirkungslos. Am Nachmittag des 8. März 1944 fuhr die Geheime Staatspolizei am Forstamt Seestetten vor und nahm eine Durchsuchung des Büros und der Wohnung des Amtsleiters Planke vor.56 Sichergestellt wurde unter anderem ein Zeitungsausschnitt aus dem Völkischen Beobachter mit einer Abbildung einer Ordensverleihung von Göring an Himmler. Planke hatte das Bild mit der Glosse „Da ist doch der Halbjude unverkennbar“ versehen. Dazu wurde Planke verhört und gab Folgendes an: Er habe in seiner Zeit als Forstpraktikant 1901 in Neuhaus an der Pegnitz erfahren, dass die Mutter des Reichsmarschalls mit dem Besitzer des Schlosses in Neuhaus, dem österreichischen Juden von Eppenstein, ein Verhältnis gehabt habe. Dieser sei Pate des Hermann Göring gewesen; Göring habe einen Großteil seiner Jugend in Mauterndorf zugebracht, einem anderen Besitz von Eppensteins. Planke habe von Eppenstein ebenso wie Vater Göring persönlich gekannt. In dem Zeitungsbild sei ihm die Ähnlichkeit Hermann Görings mit von Eppenstein aufgefallen; das habe er lediglich in seiner Randnotiz festgehalten.57 Das war zwar eine plausible Erklärung, aber doch eine ungeheure Beleidigung des Reichsmarschalls. Die Bemerkung zeigt indes, wie scharfsinnig Planke die Verlogenheit des Rassenfanatismus der Parteioberen durchschaute. In der Wohnung wurde weiter ein Rundfunkgerät sichergestellt, das auf den Schweizer Sender Beromünster eingestellt war, ferner Notizen über die Programme dieses Senders sowie über Frequenz und Sendezeit eines englischen Senders. Bereits während der Durchsuchung seiner Wohnung gab Planke zu, den Schweizer Sender ab und zu gehört zu haben, in der Meinung, es sei nur das Abhören von feindlichen Sendern verboten. Er räumte auch ein, hin und wieder einen englischen Sender abgehört zu haben, und gab zu, dass dies ein feindlicher Sender sei. Er versuchte aber, das abzuschwächen mit der Äußerung, er habe nur wissen wollen, was die Gegenparteien vom Kriegsgeschehen hielten.58 Planke wurde von der Gestapo zur Kriminalpolizei nach Passau transportiert und dort inhaftiert. In der ersten Nacht im Gefängnis trug er sich mit Suizidgedanken; er sprach davon, dass ein Corpsbruder mit dem Namen Scherg wegen einer ähnlichen Denunziation den Freitod gesucht habe.59 In dem am nächsten Morgen beginnenden Verhör, das den ganzen Tag dauerte, stand Planke tapfer zu den Tatbeständen, die sich besonders durch die Durchsuchung seiner Wohnung ergeben hatten. Er betonte, er habe ein reines Gewissen und er habe nie die Absicht gehabt, etwas zu tun, das Ehre, Sitte und 55
Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 1, 8. Durchsuchungsbericht der Gestapo Regensburg im Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 27 – 30. 57 Vernehmungsprotokoll der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 47. 58 Durchsuchungsbericht der Gestapo Regensburg im Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 30. 59 Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 30, Vernehmungsprotokoll der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 42. 56
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Gesetz zuwiderlaufe.60 Was er jemals getan habe, verantworte er mit voller Überlegung. „Ich bin ein Mann und stehe zu dem, was ich tue“, sagte er. Liest man die Verhörprotokolle, dann fällt eine nahezu vertrauensvolle, scheinbar wohlwollende Sachlichkeit der Gestapobeamten auf, in deren Rahmen sie routiniert und bewusst, im Grunde menschenverachtend, einen altgedienten Staatsbeamten ans Messer lieferten. Ein tiefgreifender Wandel ist in jenen Tagen eingetreten: es ist nicht mehr von „dem Herrn Oberforstmeister“, auch nicht von „Herrn Planke“ die Rede, sondern nur noch von „dem Planke“. Dies ist eine grundsätzlich andere Diktion als die corpsstudentische Art, in respektvoller Weise nur den Nachnamen zu verwenden und das „Herr“ zwar ebenfalls wegzulassen, dies aber unter dem Vorzeichen des Vertrauens und der brüderlichen Gleichheit. Planke, der Beschuldigte, gab Einzelheiten über das Abhören des englischen Senders an, gab zu, dass das ein „Feindsender“ sei, bestritt aber die Weitergabe der Inhalte an Dritte: „Ich habe mich ängstlich einer hetzerischen Weiterverbreitung genauestens enthalten.“ Allerdings räumte er ein, dass seine Haushälterin mehrmals beim Abhören zugegen war61 und dass er sich mit dem Fabrikantenehepaar Deppe aus Seestetten über die Abhörzeiten des Schweizer Rundfunks und über die Inhalte der Sendungen unterhalten habe.62 Freimütig sagte er, er halte den Gruß „Heil Hitler“ für vollkommen geschmacklos und es wundere ihn, dass der Führer ihn nicht selbst verboten habe.63 Dienstlich verwende er den Hitlergruß, privat nicht.64 Nur zu dem Vorwurf, er habe das Reichsjagdgesetz des Öfteren als „Schmarrn“ bezeichnet und damit eine Anordnung des Staates in verächtlichmachender Weise kritisiert, verweigerte er die Aussage.65 Einem besonderen Gerücht ging die Gestapo weiter nach: Planke wurde von Revierleiter Anton W. nachgesagt, er habe im Jahr 1941 zu mehreren Schulkindern auf ihren Hitlergruß hin geantwortet: „Kriecht ihm doch hinten rein, Eurem Hitler!“ Dies sei ihm von dem Betreiber der Donaufähre bestätigt worden. Die Ermittlungen bei dem Fährmann und seiner Tochter, die seinerzeit schulpflichtig gewesen war, bestätigten das Gerede, konnten aber keine Tatzeugen feststellen.66 Planke stellte diese Äußerung entschieden in Abrede.67 60
Vernehmungsprotokoll der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 43. Vernehmungsprotokoll der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 44. 62 Vernehmungsprotokolle der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 45, 53 – 57, 58 – 60, 61 – 65, 74 – 75; Frau Isabella Deppe, gegen die man auch aus anderen „staatsfeindlichen“ Gründen ermittelte, wurde daraufhin ebenfalls in Haft genommen; ihr Ehemann Clemens Deppe entging der Verhaftung zunächst wegen gesundheitlicher Haftunfähigkeit. Die Haushälterin von Herrn Planke, Frau Gisela Loibl, gab das Mithören der schweizerischen und englischen Sendungen zu, wurde aber nicht inhaftiert. 63 Vernehmungsprotokoll der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 46. 64 Durchsuchungsbericht der Gestapo Regensburg im Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 29. 65 Vernehmungsprotokolle der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 34, 48. 66 Vernehmungsprotokoll der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 65. 61
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Revierleiter Anton W. hatte den Forstanwärter Vitus S.68 als Zeugen dafür benannt, dass Oberforstmeister Planke zehn Jahre zuvor (nota bene!) auf den Hitlergruß hin geantwortet habe: „Wenn Sie zu mir hereinkommen, grüßen Sie anständig.“69 Vitus S. war als Soldat im Einsatz. Dies hinderte nicht, auf Geheiß der Gestapo Vitus S. aus dem Schützengraben zu holen, um an der Front ein Verhörprotokoll zu diesem Vorfall aufnehmen zu lassen.70 Im abschließenden Bericht hat die Gestapo zwanzig Einzeltatbestände71 aufgelistet, die bis in das Jahr 1934 zurückreichten. Neben dem Abhören und Weitergeben von Rundfunknachrichten aus dem Ausland, also „Rundfunkverbrechen“,72 wurde ihm vorgeworfen, seine Äußerungen und Notizen seien darauf abgestellt, „den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen und zu zersetzen“. Das bedeutete, dass man Planke Wehrkraftzersetzung vorwarf.73 Trotz mehrmaliger Vorhaltungen wegen politischen Verfehlungen sei er unbelehrbar gewesen und habe seine Straftaten fortgesetzt.74 V. Gefängnis, Psychiatrie, Zuchthaus Der Fall wurde an den Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof Berlin verwiesen und von dort am 22. September 1944 an die Generalstaatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht München abgegeben.75 Nach dem Entscheid des Ermittlungsrichters am Amtsgericht Passau vom 23. März 1944 wurde Fortsetzung der Haft von Josef Planke im Landgerichtsgefängnis in Passau bestätigt.76 Er hatte mindestens eine Gefängnisstrafe, vermutlich aber eine langjährige Zuchthausstrafe oder gar den Tod zu erwarten. Am 22. Mai 1944 leitete die Landesforstverwaltung das förmliche Disziplinarverfahren ein gegen den bereits im Landgerichtsgefängnis Inhaftierten und 67
Zusammenfassender Bericht der Gestapo vom 21. März 1944 im Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 71. 68 Aus Rücksichtnahme auf die Nachkommen wird der Name nicht voll wiedergegeben. 69 Vernehmungsprotokoll der Gestapo, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 35. 70 Feldpostbrief vom 30. Mai 1944, Personalakt I (wie Anm. 3), Blatt 81. 71 Carossa (siehe Anm. 1) berichtet, Planke habe auf den Abreißkalender in der Forstamtkanzlei zum 20. April (Führers Geburtstag) eine Randbemerkung „Wäre er doch nie geboren!“ geschrieben. Dieser Vorfall ist in den Protokollen der Gestapo, vor allem auch in der Aussage des Kanzleibeamten Konrad S. nicht belegt; Carossa hat hier wohl wiedergegeben, was in der Bevölkerung über Planke gesprochen wurde. 72 § 1 und § 2 der Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen, RGBl. I 1939, S. 1681. 73 § 5 der Kriegssonderstrafrechtsverordnung RGBl. I, 1939, S. 1455. 74 Zusammenfassender Bericht der Gestapo vom 21. März 1944 im Personalakt I (wie Anm. 4), Blatt 67 – 73. 75 Bestätigung der Staatsanwaltschaft Passau vom 26. Oktober 1960 im Akt des Landesentschädigungssamts (wie Anm. 19). 76 Personalakt I (wie Anm. 4), Blatt 76.
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setzte es gleichzeitig bis zum Abschluss des Strafgerichtsverfahrens aus. Josef Planke wurde des Dienstes enthoben; die Dienstbezüge wurden zur Hälfte gesperrt.77 Im Gefangenenbuch des Landgerichts Passau ist die Haft von Josef Planke vom 8. März bis zum 20. November 1944 eingetragen.78 Dann wurde er nach Würzburg gebracht und dort inhaftiert.79 Die Verhandlung gegen ihn vor dem 6. Senat des Volksgerichtshofs fand am 14. Dezember 1944 in Würzburg statt. Der Sachverständige, Medizinalrat Dr. Stegmann, stellte in der Verhandlung den Antrag, Herrn Planke zwecks Beobachtung seines Geisteszustands in eine Heil- und Pflegeanstalt überweisen zu lassen.80 Aus dem Buch von Hans Carossa wissen wir, dass dieses Ansuchen offensichtlich durch seine Intervention zustande gekommen war.81 Dem Antrag wurde stattgegeben; der Senat beschloss, Planke zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand in die Nervenklinik der Universität Würzburg zu überweisen.82 Vom 10. Januar bis zum 23. Februar 1945 befand sich Josef Planke in der Psychiatrischen Klinik der Universität Würzburg in der Abteilung von Prof. Dr. Heyde.83 Bei dem Bombenangriff auf Würzburg am 23. Februar wurde die Psychiatrische Klinik zerstört, Planke wurde ins Gefängnis zurückgebracht und wurde wenige Tage später zu Fuß in das Zuchthaus nach Ebrach im Steigerwald abkommandiert.84 Er entging so dem großen, zerstörerischen Bombenangriff auf Würzburg am 16. März 1945. Der Eintrag im Gefangenenbuch in Ebrach lautet: „Am 5.3. eingeliefert, am 30.3. in die Strafanstalt Straubing weiterverschubt“.85 Das Wort „verschubt“ ist kennzeichnend; er musste in einem Trupp von Strafgefangenen unter Polizeibewachung von Ebrach zu Fuß nach Straubing ins Zuchthaus marschieren.86 Wie diese Märsche von Gefangenen in dieser Zeit verliefen, wissen wir aus zahlreichen anderen Schilderungen. Am 21. April 1945 war die Schlacht um Berlin in vollem Gange, die Rote Armee überschritt erstmals die Berliner Stadtgrenze. An diesem Tage verfasste der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof ein Schreiben, das den Haftbefehl gegen Josef Planke aufhob mit der Begründung, die Voraussetzungen nach § 112 des Strafgesetzbuches – Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr – seien nicht mehr gegeben. Das
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Personalakt I (wie Anm. 4), Blatt 35. Ebd. 79 Wie Anm. 17. 80 Sitzungsprotokoll des 6. Senats de Volksgerichtshofs Würzburg vom 14. Dezember 1944 im Akt des Landesentschädigungssamts (wie Anm. 17). 81 Wie Anm. 1. 82 Ebd. 83 Wie Anm. 17. 84 Wie Anm. 17. 85 Akt des Landesentschädigungssamts (wie Anm. 17). 86 Wie Anm. 17. 78
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Schreiben betonte aber, dass die Anklage gegen ihn weiter bestehen bleibe.87 Erstaunlicherweise kam das Schriftstück trotz der Kriegswirren in Straubing an. Am 24. April, vier Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, wurde Josef Planke aus dem Zuchthaus entlassen.88 VI. Statt Freiheit: Tod Josef Planke marschierte zu Fuß von Straubing durch den Frühling im Gäuboden in das 45 Kilometer entfernte Hengersberg bei Deggendorf zu seiner Tochter, Dr. Else Mürl.89 Das dauerte mehrere Tage, es ging langsam. Die Wege waren voll von zurückflutendem Militär, dazwischen musste er sich vor der SS in acht nehmen, die einer mit Entlassungsschein des Zuchthauses zu fürchten hatte; auf freiem Felde drohten amerikanische Tiefflieger. Man hatte ihm im Zuchthaus ein Zehrpaket mitgegeben, mit Brotschnitten, die so dick mit Butter bestrichen waren, „dass ein normaler Mensch sie kaum essen konnte“,90 eine ungewöhnliche Verpflegung in diesen Kriegstagen, in dieser Zeit des Hungers, doch nicht ohne medizinisches Risiko. Planke verzehrte sie auf den stundenlangen Märschen. Erschöpft, aber doch in vermeintlich gutem Befinden kam der alte Mann am 29. April bei seiner Tochter an. Vier Tage ging es ihm gesundheitlich gut. In diesen Tagen rückten die Amerikaner ein, das Dritte Reich war zu Ende. Am fünften Tage nach seiner Rückkehr bekam er hohes Fieber, er musste in das Kreiskrankenhaus Deggendorf eingeliefert werden. Einen Tag später, am 5. Mai 1945, verstarb Oberforstmeister Josef Planke.91 Als Todesursache wurde seitens der Ärzte eine Mischinfektion festgestellt, deren Ursache unbekannt war.92 Bei seiner Tochter hielt sich hartnäckig der Glaube, sein Tod hänge zusammen mit den ungewöhnlichen Butterbroten aus Straubing. Sie nahm an, dass der Butter irgendwelche Infektionserreger beigemischt worden seien,93 mit denen man politische Häftlinge ohne großen Aufwand beseitigen konnte. Belege für diese Vermutung finden sich allerdings in den amtlichen Dokumenten nicht. Sehr viel wahrscheinlicher erscheint Folgendes: Der übermäßige Fett-Konsum schwächte seinen an den Hunger angepassten Organismus und damit sein Immunsystem so sehr, dass eine Infektion zum Tode führen konnte. Auch in diesem Fall ist aber die tiefere Todesursache seiner Haft zuzuweisen. 87
Schreiben des Oberreichsanwalts Az.: 6 L274/44 vom 21. April 1945 im Akt des Landesentschädigungssamts (wie Anm. 17). 88 Anmerkung auf dem Schreiben des Regierungsforstamts Niederbayern-Oberpfalz vom 10. Juli 1945 in Acta des königl. bayer. Forstamts Falkenberg (wie Anm. 4), Blatt 28. 89 Wie Anm. 17. 90 Wie Anm. 17. 91 Schreiben des Regierungsforstamts Niederbayern-Oberpfalz vom 10. Juli 1945 in Acta des königl. bayer. Forstamts Falkenberg (wie Anm. 4), Blatt 28. 92 Wie Anm. 17. 93 Wie Anm. 17.
Die Verfolgung des Oberforstmeisters Josef Planke
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Seitens der Bayerischen Landesforstverwaltung wurde Josef Planke nach seinem Tode rehabilitiert. Der Leiter des Regierungsforstamts Regensburg, Oberlandforstmeister Wilhelm Mantel, der 1944 das Dienststrafverfahren gegen ihn einleiten musste, schrieb am 20. Juli 1946: „Es wird hiermit bestätigt, dass Oberforstmeister Josef Planke im Jahr 1933 kurz nach der Machtübernahme von Pressath nach Seestetten gegen seinen Willen versetzt wurde, da er sich weigerte, ohne Auftrag des Reichsforstamts die Parteiflagge zu hissen. Seit dieser Zeit wurde Planke von verschiedenen Parteidienststellen verfolgt und infolge Anzeige unterstellter Beamter im März 1944 verhaftet und vor das Volksgericht gestellt. Infolge der dreizehnmonatigen Inhaftierung ist er am 6. 5. 1945 (…) gestorben. Oberforstmeister Josef Planke zählt zu den politisch Verfolgten und ist ein Opfer der nationalsozialistischen Willkürherrschaft.“94 Josef Planke war eine Persönlichkeit, vielleicht ein knorriger Haudegen, für seine Mitarbeiter sicherlich nicht immer ein einfacher Vorgesetzter. Zweifelsohne war er ein aufrechter Mann, der in schwieriger Zeit seinen rechten Weg ging, einer, der sich im Gegensatz zu vielen anderen nicht verbiegen ließ. „Gegen Widerstand setze ich Widerstand“ – war seine Devise. Gegenüber Borniertheit, Fanatismus und Hass, die im Dritten Reich wucherten, war er zu gerade und zu mannhaft, um überleben zu können.
94 Schreiben des Regierungsforstamts Niederbayern-Oberpfalz vom 20. Juli 1946 im Akt des Landesentschädigungssamts (wie Anm. 17); das Todesdatum ist dort um einen Tag zu spät angegeben.
„Hauptfeind der Nationalsozialisten in Pommern“ Von Hans Christoph von Rohr „Der Angeklagte ist ein Staatsfeind. Er stellt ein Programm dar. Männer seines Schlages sind gefährlicher als Kommunisten.“1 So charakterisierte im Juni 1944 der Reichsjustizminister Thierack Hansjoachim von Rohr. Aus der Sicht des NS-Regimes war dies die durchaus zutreffende Beschreibung eines Mannes, der als konservativer Agrarpolitiker schon vor der „Machtergreifung“ in Konflikte mit den Nationalsozialisten geraten war und seither als ihr Hauptgegner in Pommern galt. Rohr wurde am 1. Oktober 1888 in Haus Demmin in Vorpommern geboren, wo er im Kreis von sechs Geschwistern aufwuchs. Sein Vater Hans Karl hatte Haus Demmin mit den Gütern Vorwerk und Lindenfelde wenige Jahre zuvor gekauft, nachdem er als Major der Gardedragoner seinen Abschied genommen hatte und der väterliche Besitz Hohenwulsch in der Altmark vom älteren Bruder übernommen worden war. Seine Kindheit verlief so, wie es damals in pommerschen Gutshäusern üblich war – bescheiden und einfach im Täglichen, in kameradschaftlichem Umgang mit der Dorfjugend. Vorwerk hatte überwiegend leichte Böden, die dem Landwirt nichts schenkten, und so bestimmte das Auf und Ab des Hofes, die Sorge um genügend Regen zur richtigen Zeit und damit um die Ernte, das Leben der Familie. Doch wurde dies mehr als ausgeglichen durch die Freude an Hunden und Pferden, erste Jagderfahrungen und vor allem die fröhliche, entspannte Atmosphäre im Geschwisterkreis: Wenn es für die drei Jungen und drei Mädchen einen gemeinsamen Nenner gab, dann den eines unbändigen Humors, der sich noch bis ins hohe Alter – oft zur Verblüffung der Kinder und Enkel – besonders lebhaft dann zu entfalten pflegte, wenn andere sich anschicken wollten, Trübsal zu blasen. Haus Demmin war ein christliches Haus. Dort wurde das Fundament gelegt für den einfachen, klaren, niemals aufdringlich gezeigten Glauben, der sein ganzes Leben geprägt und ihm die Kraft gegeben hat, schwierigste Zeiten zu bestehen. Hausandachten in pietistischem Geist spielten wie fast überall in Pommern eine wichtige Rolle, und Rohr setzte diese Tradition später in der eigenen Familie fort. Nie ging ein Tag ohne gemeinsames Gebet zu Ende. Seinen Kindern sagte er einmal: Ich kann Euch vielleicht den Glauben nicht weitergeben, den Weg muß jeder von Euch letztlich selbst finden. Aber ich kann in Eure Seele eines legen: Daß Ihr dem Christentum niemals mit Herablassung oder gar Spott zu begegnen vermögt. 1 Schorn, Hubert, Der Richter im Dritten Reich (zitiert: Schorn), Frankfurt 1959, S. 442; Brückner, Ernst, Der Müller-Arnold-Prozeß des Reichsgerichts (zitiert: Brückner), Deutsche Richter-Zeitung, Oktober 1952, S. 197.
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Eine altpreußische Grundhaltung bestimmte sein Elternhaus. Vater Hans Karl hatte eine Geschichte der Gardedragoner geschrieben – ein gewaltiges Werk, die erste Regimentsgeschichte solchen Formats in Preußen. Daß der alte Kaiser2 bemerkt haben soll, er habe über der Lektüre dieses Buchs seine Dienstgeschäfte vernachlässigt, wurde über Generationen hinweg mit Befriedigung zitiert.3 In Haus Demmin verfolgte man die Entwicklung des jungen Deutschen Reiches mit wachem politischem Interesse, und in vielem durchaus kritisch. Alles, was nach Großmannssucht aussah, wurde eher mißbilligt, und so kann es nicht verwundern, daß im Hause zwar ein Bild Wilhelms I., jedoch keines des seit 1888 regierenden Wilhelm II. hing. Die schwarz-weiß-roten Reichsfarben hißte man nicht; es wehte weiter die schwarz-weiße preußische Fahne. Von frühem eigenen politischen Interesse Rohrs wird nur berichtet, daß er als Zwölfjähriger für den örtlichen Reichstagskandidaten einen einprägsamen, wenn auch nicht sonderlich argumentativen Wahlkampfslogan gedichtet hatte: „Ihr Männer von Anklam-Demmin, wählet den Grafen Schwerin“. So wird es dann wohl auch gekommen sein. Rohr besuchte zunächst das Gymnasium in Demmin, später schickten ihn die Eltern bis zum Abitur ins Internat Putbus auf der Insel Rügen, wo er durch politische Interessen auffiel und seine Mitschüler zu dem halb spöttisch, halb anerkennend gemeinten Ausspruch provozierte: „Achi, Du wirst bestimmt mal preußischer Ministerpräsident!“ Auch dort dachte man offenbar in erster Linie an Preußen, nicht ans Reich. Zum juristischen Studium zog es v. Rohr nach Heidelberg, wo er – motiviert vermutlich durch seinen Internatskameraden Philipp Frhr. v. Carnap-Bornheim4 – im Sommersemester 1907 bei den Saxo-Borussen aktiv wurde.5 Später berichtete er mit Freude von seiner Zeit auf dem Riesenstein und hielt lebenslang Verbindung zu einigen Conaktiven. Er galt als schneidiger Fechter – und guter Rechner, was ihm im Sommersemester 1908 die dritte Charge eintrug. Daß seine vier Söhne später allesamt bei Kösener Corps aktiv wurden, nahm er mit Befriedigung auf, verband es aber immer wieder mit der Mahnung, nicht das Fechten und Kneipen, sondern die geistige Herausforderung in den Mittelpunkt der Aktivität zu stellen, und dabei, wenn möglich, die Grundlage für ein späteres politisches Engagement zu schaffen. „Das Vaterland wartet immer“, hatte ihm bereits sein Vater eingeprägt: Diesen Appell gab er in seiner Familie, immer wieder aber auch in Reden vor Corps- und Kartellbrüdern weiter. Sein eigener Weg schien durch seine Stellung im Geschwisterkreis – der pommersche Besitz war für seinen älteren Bruder vorgesehen – und durch das Studium klar bestimmt: eine Beamtenkarriere. Doch es sollte anders kommen. 2
Wilhelm I. ist gemeint, nicht etwa sein Enkel. H. v. Rohr, Geschichte des 1. Garde-Dragoner-Regiments, Berlin 1880. 4 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961 (KCL), Nr. 66 – 1202. 5 KCL, Nr. 66 – 1201.
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Zunächst leistete er als Einjährig-Freiwilliger beim 9. Ulanenregiment in Demmin seinen Wehrdienst und zog von dort 1914 in den Weltkrieg. Gleich zu Beginn, auf dem Vormarsch in Frankreich, wurde er auf einem Patrouillenritt vor den eigenen Linien schwer verwundet. Während seine Kameraden entkamen, fand er sich mit einem Bauchschuß am Boden liegend bald von französischen Soldaten umringt. Einer schwang den Karabiner, um ihm den Schädel einzuschlagen – als ein Offizier dazwischen sprang und ihm mit den Worten „Mon Camerade, je regrette votre malheur“ die Hand reichte. Vielleicht war es auch dieses Erlebnis, das Rohr sein Leben lang zu einem besonderen Freunde Frankreichs werden ließ. Vier Jahrzehnte später, nach einem weiteren Weltkrieg, Nazi-Verfolgung und Flucht, gab es für Rohr Gelegenheit, diese Zuneigung politisch – vor allem agrarpolitisch – mit Leben zu erfüllen. Rohr wurde von deutschen Truppen befreit und konnte nach der Ausheilung des Bauchschusses seine soldatischen Pflichten, anerkannt durch die Verleihung der Eisernen Kreuze Erster und Zweiter Klasse, bis zur Kapitulation 1918 erfüllen. In der Zwischenzeit hatte sich im Privaten Entscheidendes geändert: Sein älterer Bruder war gestorben, so daß nun er selbst das Erbe antreten mußte. Er nahm diese Herausforderung an, schloß rasch seine juristische Ausbildung mit dem Assessorexamen ab – wie schon beim Referendarexamen mit dem seltenen „gut“ – und wandte sich nach einer kurzen landwirtschaftlichen Lehrzeit der Bewirtschaftung des Gutes Vorwerk zu. Seine sportlichen Interessen waren Reiten, Skifahren, die Jagd, Freiballon-Wettbewerbe sowie Reisen mit dem Motorrad – er besaß das erste im Kreise Demmin. In höherem Alter, nach der Flucht in den Westen und bis in sein 83. Lebensjahr, bevorzugte er dann das Fahrrad. Mit Kriegsende begannen turbulente Zeiten: Scheidemann hatte die Republik ausgerufen, ihr Start war mit dem als schmählich empfundenen Versailler Diktatfrieden belastet. Kommunistische Aufrührer und Freikorps lieferten sich Straßenschlachten; bei den Reichstagswahlen 1920 verlor die von der SPD getragene „Weimarer Koalition“ fast die Hälfte ihrer Mandate, während die Rechtsparteien und die extreme Linke die Zahl ihrer Mandate verdoppeln beziehungsweise vervierfachen konnten. In diesem Umfeld begann Rohr, sich politisch zu engagieren – bei der Deutschnationalen Volkspartei, an der ländlichen Basis. Letzter Auslöser für seinen Schritt soll nach der Erzählung von Freunden eine Saalschlacht in Siedenbollentin, einem kleinen Dorf des Kreises Demmin, gewesen sein. Jedenfalls hieß es später mit liebevollem Spott: „In Siedenbollentin beschloß Achi Rohr, Politiker zu werden.“ 1924 wurde er mit 36 Jahren für die DNVP in den Preußischen Landtag gewählt, dem er dann während zweier Legislaturperioden bis 1932 angehörte. Er focht rhetorisch eine scharfe Klinge – eher jedoch das Florett, seltener den Säbel. Von pöbelhaften Angriffen auf die sozialdemokratische Landesregierung, wie sie am linken und rechten Flügel des Abgeordnetenhauses immer wieder vorkamen, hielt er
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nichts. Dem von vielen Seiten oft unfair attackierten Innenminister Severing bescheinigte er: „Ja, als sozialdemokratischen Politiker bekämpfen wir Sie. Wir bestreiten aber in keinem Augenblick Ihre persönliche Integrität.“6 Das schaffte, in Maßen, Anerkennung auch bei den politischen Gegnern. Leidenschaftlich wurde Rohr bei parlamentarischen Debatten vor allem dann, wenn es darum ging, die als „preußisch“ empfundenen Werte – persönliche Bescheidenheit, Sparsamkeit im Umgang mit öffentlichen Mitteln, eine unbestechliche Amtsführung – gegen Auflösungstendenzen zu verteidigen. Wo immer er einen Ansatz von Korruption, den Mißbrauch von Steuergeldern, eine Vermischung staatlicher und persönlicher Interessen witterte, ging er zum Angriff über. Auch sein politisches Engagement nach dem 2. Weltkrieg im Westen Deutschlands war von dem Ziel bestimmt, die als zeitlos empfundenen preußischen Werte wieder zum Ankerpunkt eines modernen demokratischen Staatswesens werden zu lassen. Wo immer er Verbündete bei diesem Anliegen fand, suchte er, ob links oder rechts, den politischen Schulterschluß. Sein lebensbeherrschendes Thema wurde jedoch die Agrarpolitik, und zwar weit über die Vertretung wirtschaftlicher oder Standesinteressen hinaus. Rohr war von seiner Ausbildung her ja Jurist; er hatte nach Rückkehr aus dem Kriege nur eine kurze landwirtschaftliche Ausbildung auf einer Domäne genossen, sodaß ihm als „von außen“ kommendem Landwirt jede Betriebsblindheit fehlte. Mitgebracht hatte er einen klaren Blick für volkswirtschaftliche und überbetriebliche Fragen, der sich nun anhand der praktischen Erfahrungen des Betriebsführers schärfte. Hier wurde die Grundlage für das überragende fachliche Niveau der von ihm Jahrzehnte später, von 1947 bis zu seinem Tode 1971, herausgegebenen Zeitschrift „Stimmen zur Agrarwirtschaft“ gelegt. Rohrs besondere Begabung lag in dem Erkennen betriebswirtschaftlicher Zusammenhänge und ihrer Auswertung für die Praxis. Der Rechenstift wurde bei ihm zum bestimmenden landwirtschaftlichen Arbeitsgerät. Mit seiner ab 1926 weit über Pommern hinaus verbreiteten Broschüre „Eigene Betriebskontrolle“ suchte er dem Landwirt Wege zu zeigen, „wie er ohne viel Gelehrsamkeit sich die Buchführung zunutze machen kann“7 – ganz nach dem Motto: Eigene Betriebskontrolle erspart den Zwangsverwalter. In einer klaren, für jedermann verständlichen Sprache stellte er dem Leser den Nutzen einer professionellen Buchführung, eines Maßnahmenund Finanzplanes und der konsequenten Betriebskontrolle dar. Um diese Überlegungen stärker in den Köpfen der deutschen Landwirte zu verankern, gründete er in Berlin die „Landwirtschaftliche Betriebsgesellschaft“, die sich als Anreger für eine moderne Betriebsführung verstand – und zur Nazizeit zum Sammelpunkt regimekritischer Landwirte werden sollte.8 6
Sitzungsberichte des Preußischen Landtages, 3. Wahlperiode, Berlin 1931, S. 19.365. Schürmann, Arthur, Die agrarpolitische Opposition, Berlin 1978, S. 309. 8 Ebd.
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Für Rohr war eine gesunde, aus eigener Kraft lebensfähige Landwirtschaft nicht nur bedeutsam für die Volksernährung, sondern unverzichtbares Fundament einer stabilen und freiheitlichen Gesellschaft. Die Einbettung in den natürlichen Kreislauf von Saat und Ernte, das Bewußtsein der Abhängigkeit von durch den Menschen nicht bestimmbaren Faktoren und vor diesem Hintergrund die tägliche Herausforderung als eigenverantwortlicher Unternehmer machte den Bauern, wie Rohr ihn sah, weniger anfällig für politischen Radikalismus. Anlaß, sich radikalen Kräften anzuschließen, hatten die Landwirte in den zwanziger Jahren mehr als genug: Ihre strukturelle Unterlegenheit im Markt und die Unterschätzung ihrer volkswirtschaftlichen Rolle im Industriestaat führten zu Verelendungstendenzen auf dem Lande. In dieser dramatischen Situation wurde v. Rohr im Alter von 37 Jahren zum Vorsitzenden der größten landwirtschaftlichen Organisation des Reiches, des Pommerschen Landbundes, gewählt. Er trat sein Amt an in dem Bewußtsein, daß mit einem „weiter so“ nichts zu gewinnen war. Um das Gewicht der deutschen Landwirtschaft angemessen zur Geltung zu bringen, bedurfte es einer Zusammenfassung aller Kräfte auf dem Lande – im Sinne einer berufsständischen Organisation, die jeden ansprach, der von der Rentabilität dieses Wirtschaftszweiges lebte: Bauern, Großgrundbesitzer, Landarbeiter. Um diesem Gedanken Nachdruck zu geben, gründete er, unterstützt von Landwirten aus allen Teilen Deutschlands, die „Berufsständische Arbeitsgemeinschaft der deutschen Landwirtschaft“. Die Grundüberlegung lautete: Im modernen Industriestaat hat für den Arbeiter der Zusammenhang zwischen seinem Einsatz und „der Wirtschaft“ an Sichtbarkeit verloren. „Obwohl die Wirtschaft für den Arbeiter Lohn- und Lebensgrundlage ist, sieht er sie als ,die anderen‘, sich selbst aber nur als den Lohnempfänger. (Dies) führt nicht nur dazu, daß er sich nicht mehr verantwortlich fühlt für die Wirtschaft, daß er ihr in unheilvoller Verständnislosigkeit gegenübersteht, (…) sondern es gibt zugleich dem Klassenkampf die Nahrung und wird so zum Ausgangspunkt marxistischer Agitation.“ Statt sich auf diese Situation einzustellen, hatte sich, so Rohr, „die Wirtschaft in Formen organisiert, die dem Marxismus und seinem Klassendenken auf den Leib geschnitten sind. (Sie arbeitet) in Bünden und Verbänden, in denen die Unternehmer unter sich sind, während das wirtschaftliche Interesse der Arbeiter organisatorisch abgedrängt wird allein auf das Lohngebiet.“9 Diesem Modell stellte Rohr die „berufsständische“ Organisation gegenüber, die nichts weiter sei als der wahrheitsgemäße organisatorische Ausdruck des Zusammenhangs von Wirtschaft und Arbeiter. „In einer solchen gemeinschaftlichen Organisation kämpfen Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit gleichen Rechten und Pflichten für die Rentabilität des Wirtschaftszweiges. (…) Lediglich dort, wo die Interessen von Besitzer und Arbeiter nicht gleichgerichtet sind, also in der Lohnfrage, werden (die Parteien) zu Sondergruppen zusammengefaßt, die sich völlig 9 Berufsständische Arbeitsgemeinschaft der deutschen Landwirtschaft (zitiert: BAL), Berlin 1978, S. 5 ff.
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unabhängig gegenüberstehen. (…) Es wird also die Gemeinschaft an den Anfang gesetzt (…) und dem Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nur so viel Raum gelassen, wie zum Schutz gegen Übervorteilung des einen durch den anderen notwendig ist. (…) Die Wirkung einer solchen Umgestaltung liegt auf der Hand: Der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter sieht nur den Lohn und nicht die Voraussetzung dieses Lohnes und zerstört so oft im guten Glauben diese Voraussetzungen. (…) Der berufsständische Arbeiter hingegen ist gleichberechtigter Mitträger der Wirtschaft. Die Fragen des Ganzen treten an ihn genauso heran wie an den Unternehmer. (…) Er sieht die Löhne in ihrer Bedingtheit, sieht sie als Spiegelbild des Wirtschaftszweiges, in dem seine Arbeitsstelle ruht. (…) Nicht weniger wird der Unternehmer gebunden. Seine Selbständigkeit bei der Auseinandersetzung über Lohn- und Arbeitsfragen wird überschattet von der Tatsache, daß auf der anderen Seite sein Berufsgefährte steht. Über die Souveränität des Besitzes tritt als höhere Souveränität die des Berufsstandes, dessen Wille gleichermaßen durch Arbeiter und Besitzer gebildet wird.“10 Diese Idee setzte Rohr im Pommerschen Landbund unverzüglich in die Praxis um. In das oberste Führungsgremium, den Vorstand, wurden als gleichberechtigte Mitglieder ein Großgrundbesitzer, ein Bauer und ein Landarbeiter gewählt. In einem Aufsehen erregenden Prozeß erkämpfte Rohr vor dem Reichsarbeitsgericht die volle Anerkennung der Arbeitnehmergruppe im Landbund als Tarifpartei – was ihre Position im Verhältnis zu den Gewerkschaften, die ihr naturgemäß kritisch gegenüberstanden, erheblich stärkte. Mit dieser Struktur gewann der pommersche Landbund unter Führung v. Rohrs zunehmend an Durchsetzungskraft, zugleich wurde er zum Objekt politischer Begierde der auch in Pommern emporstrebenden Nationalsozialisten. Auf Initiative des für die Agrarpolitik zuständigen NS-Funktionärs Walter Darré drängten Nationalsozialisten beim Landbund in Führungspositionen. Mit viel taktischem Geschick gelang es Rohr, diese Infiltration abzuwehren, was Darré zu der zornigen Drohung veranlaßte, er werde, wenn man seiner Bewegung keinen größeren Einfluß einräume, notfalls seinen Parteigenossen befehlen, den Landbund zu verlassen. Worauf v. Rohr mit der Bemerkung konterte, er werde seinerseits alle Nationalsozialisten ausschließen, die gegen die Landbunddisziplin verstießen.11 Aufgrund seiner Position in Pommern war Rohr auch Vorstandsmitglied des Reichslandbundes. Von dort aus setzte er sich bei der Reichsregierung und den Fraktionen des Reichstages, insbesondere natürlich bei seinen Parteifreunden von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), für eine vorausschauende Agrarpolitik ein, vor allem in Einfuhr- und Zollfragen, die er als Schlüssel für eine Sanierung der daniederliegenden deutschen Landwirtschaft betrachtete. Auch innerhalb des Reichslandbundes drängten die Nationalsozialisten auf die Wahl eines der Ihren in den Vorstand. Rohr war klar, daß eine solche Zuwahl 1932 angesichts der parla10
BAL, S. 6. Müller, Andreas, Fällt der Bauer, stürzt der Staat. Deutschnationale Agrarpolitik 1928 – 1933 (zitiert: Müller), München 2003, S. 298 f. 11
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mentarischen Stärke der NSDAP nicht mehr zu verhindern war – und griff zu einer List: Im Sinne der pommerschen „Drittelparität“ schlug er statt des von den Nazis favorisierten radikalen Bauern Bloedorn einen überaus gemäßigten Landarbeiter vor. Ein haßerfülltes Trommelfeuer in der NS-Presse gegen v. Rohr war die Folge.12 Im Zuge der Weltwirtschaftskrise hatte auch die Not auf dem Lande dramatische Formen angenommen. Immer mehr Bauern erlebten die Pfändung ihrer Viehbestände, Tausende von Höfen mußten zwangsversteigert werden, ihre ehemaligen Besitzer vermehrten das Heer der Arbeitslosen. Dies war zum wesentlichen Teil Konsequenz einer Wirtschaftspolitik, die den Schwerpunkt auf die Förderung der Exportindustrie legte und im Gegenzug den Import landwirtschaftlicher Produkte erleichterte, auf internationalen Druck wohl erleichtern mußte – mit dem binnenwirtschaftlich willkommenen Effekt einer Senkung der Nahrungsmittelpreise und damit der industriellen Kostenbasis. Rohr hatte 1932 nicht wieder für den preußischen Landtag kandidiert und konnte sich nun ganz dem auf Reichsebene ausgefochtenen Kampf gegen eine Krisenbewältigung „auf dem Rücken der Landwirtschaft“ widmen. Einige Korrekturen konnten unter der Kanzlerschaft Brünings und 1932 Papens durchgesetzt werden, im Ergebnis reichten sie jedoch bei weitem nicht aus; das Elend auf dem Lande nahm weiter zu, und mit ihm drohte eine zunehmende Radikalisierung der Bauern, praktisch also deren massenweise Hinwendung zur NSDAP. Auch wenn v. Rohr seine Bastion, den Pommerschen Landbund, in erstaunlichem Maße gegen das Eindringen von Nationalsozialisten verteidigen konnte, so war ihm doch bewußt, daß es ohne eine grundsätzliche Wende in der Agrarpolitik keine Chance gab, das weitere Vordringen von Nationalsozialisten und Kommunisten in den ländlichen Gebieten des Reiches aufzuhalten. Gemeinsam mit den übrigen Vorstandsmitgliedern des Reichslandbundes besuchte er am 11. Januar 1933 den Reichspräsidenten v. Hindenburg, um ihm die dramatische Lage der deutschen Landwirte zu schildern. Dem Reichspräsidenten wurden in Gegenwart des Reichskanzlers v. Schleicher und seiner Minister konkrete Vorschläge für eine rasche Besserung der Lage gemacht, wobei es vor allem um einen Vollstreckungsschutz für von Versteigerung bedrohte Höfe und eine andere Preispolitik für die Veredelungswirtschaft ging.13 Schleicher versprach wohlwollende Prüfung, ihm blieb zur Umsetzung aber keine Zeit mehr: Nachdem sein „großer Plan“, gegen die Radikalen von Links und Rechts ein breites parlamentarisches Bündnis aus Zentrum, Sozialdemokraten und dem aus der NSDAP herausgebrochenen Gewerkschaftsflügel unter Gregor Strasser zu schmieden, nicht zuletzt an der Weigerung der SPD-Führung, „mit einem preußischen General zusammenzuarbeiten“, gescheitert war, trat er am 28. Januar 1933 zurück.14 Der Reichspräsi12
Müller, a.a.O. Golecki, Anton (Bearb.), Akten der Reichskanzlei (zitiert: Reichskanzlei), Boppard 1986, Dok. R 43 II/192, Bl. 34 – 36. 14 Höhne, Heinz, Die Machtergreifung – Deutschlands Weg in die Hitler-Diktatur (zitiert: Höhne), Hamburg 1983, S. 250 ff.; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen – Deutsche Geschichte 1806 – 1933, Bonn 2006, S. 545. 13
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dent sah keine andere Wahl mehr, als den Vorsitzenden der stärksten Reichstagsfraktion, Adolf Hitler, mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Bis zur letzten Minute hatte Hindenburg mit dieser Ernennung gezögert; hatte weitreichende Zusagen für die „Einhegung“ der nationalsozialistischen Machtansprüche durchgesetzt: Nur zwei der elf Minister gehörten der NSDAP an, der Reichskanzler hatte Vortragsrecht beim Reichspräsidenten nur gemeinsam mit dem Vizekanzler v. Papen; die Reichswehr stand weiter unter dem Oberbefehl des Reichspräsidenten, dem auch der Reichswehrminister berichtete. Minister für Wirtschaft wie für Ernährung und Landwirtschaft auf Reichsebene und zugleich in Preußen – das seit dem 20. Juli 1932 unter „Reichskuratel“ stand – wurde der DNVP-Vorsitzende Alfred Hugenberg, der mit diesem Vierfachmandat in der Öffentlichkeit weithin als das eigentliche Machtzentrum der neuen Regierung erschien. Hugenberg benötigte als Staatssekretär für das landwirtschaftliche Ressort einen ausgewiesenen Fachmann, der für die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten die notwendige Statur mitbrachte. Rohr schien ihm dafür geeignet: Seine agrarpolitischen Vorstellungen trafen sich mit denen Hugenbergs, und die Berufung Rohrs, der noch einen Tag vor der Machtergreifung in der NS-Presse als „Hauptfeind der Nationalsozialisten in Pommern“15 attackiert worden war, würde ein klares Stop-Signal für etwaige Ambitionen der NSDAP im Agrarsektor bilden. Rohr wurde in Haus Demmin angerufen und reiste zur Vereidigung bereits am nächsten Tage, dem 3. Februar 1933, nach Berlin. Rohr nahm seine Arbeit ohne Verzug auf, und es begann, wie es später in der 1969 erschienenen offiziellen Geschichte des Reichs- und Bundesernährungsministeriums hieß, das „Konservative Zwischenspiel Hugenberg – von Rohr“.16 Innerhalb weniger Tage entwickelte v. Rohr seinen „Fettplan“, der die Lage der deutschen Landwirte bereits nach wenigen Monaten substantiell verbesserte. Dieser Plan folgte einer einfachen Logik: Wenn der Schlüssel für das Überleben vor allem der kleinen und mittleren Betriebe in der „Veredelungswirtschaft“ lag, also der Produktion von Fleisch und Milchprodukten, dann mußte, wollte man angesichts der Kassenlage staatliche Subventionen vermeiden, den Landwirten die Chance gegeben werden, jedenfalls für die wichtigsten dieser Produkte, und zwar Butter und tierische Fette, einigermaßen kostendeckende Erlöse zu erzielen. Solange importierte Fettrohstoffe, vor allem Ölfrüchte für die Margarineindustrie, zu niedrigen Weltmarktpreisen auf den deutschen Markt drängten, war an eine Erlösaufbesserung nicht zu denken. Rohr setzte eine Beschränkung der Margarineproduktion auf 60 Prozent des bisherigen Volumens und eine Margarinesteuer von 50 Pfennig pro Kilo durch. Dies führte zu einem Mehrabsatz bei gleichzeitiger Preiserhöhung für Butter und andere tierische Fette. Um den zu Beginn noch sechs Millionen Ar15
Nationalsozialistische Landpost vom 29. Januar 1933, S. 1. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Hrsg.), 50 Jahre Reichsernährungsministerium – Bundesernährungsministerium (zitiert: BMELF), Bonn 1969, S. 26. 16
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beitslosen diesen Kostenschub zu ersparen, gaben die Arbeitsämter sog. „Fettverbilligungsscheine“ aus, deren Kosten ohne Belastung der Reichsfinanzen mit der Margarinesteuer finanziert wurden. Im Zuge des Abbaus der Arbeitslosigkeit bedurfte es dann solcher Hilfen nicht mehr.17 Natürlich gab es empörte Reaktionen der Margarineindustrie, und als sich der bekannte Ölfruchtimporteur Alfred Toepfer aus Hamburg zu einem Besuch im Reichsernährungsministerium anmeldete, war Rohr auf eine weitere Philippika gefaßt. Es kam anders. „Sie haben mit Ihren Maßnahmen mein Importgeschäft gewaltig beschädigt. Ich möchte Ihnen aber sagen, daß ich Ihren Fettplan aus gesamtwirtschaftlicher Sicht für die einzig plausible Antwort auf die Agrarkrise halte.“ Daraus entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft, die sich besonders während Rohrs Verfolgung durch das NS-Regime und nach der Flucht in den Westen bewähren sollte. Die Wirkung des Rohr’schen Fettplanes war durchschlagend: Von März bis Mitte Juni 1933 stiegen die Großhandelspreise für Butter von 86,25 auf 110 Reichsmark pro Kilo, die für Schmalz von 59 auf 74, und auch die Absatzmengen nahmen zu, sodaß gut geführte Betriebe in die Gewinnzone zurückkehren und weitere Zwangsversteigerungen abgewendet werden konnten. „Wenn die Landwirtschaft im Dritten Reich eine ausreichende Existenzgrundlage erhielt, dann hatte sie das (…) v. Rohr zu verdanken. Von ihm gingen die Initiativen aus, vor allem sein Fettplan“, so formulierte Jahrzehnte später der damalige Reichsfinanzminister Graf Schwerin v. Krosigk.18 Dieser Plan führte v. Rohr bereits wenige Wochen nach seinem Amtsantritt in einen heftigen Konflikt mit dem Reichskanzler Adolf Hitler. Dieser hatte Rohr telefonisch angewiesen, die agrarpolitische Führungsriege der NSDAP, an der Spitze Darré, zu empfangen und über seine Pläne für die Veredelungswirtschaft zu informieren. Rohr entgegnete, daß er grundsätzlich keine Gespräche mit Parteienvertretern führe und auch in diesem Fall keine Ausnahme zu machen gedenke. In der folgenden Kabinettssitzung am 7. März 1933 kam es zum Eklat: Hitler führte bittere Klage über das Verhalten des Staatssekretärs v. Rohr und kündigte an, beim Reichspräsidenten gegebenenfalls die sofortige Entlassung v. Rohrs zu beantragen. Als Rohr am Sitzungstisch keine Anstalten machte, dem Druck des Reichskanzlers nachzugeben, lenkte Hugenberg als zuständiger Minister ein und versprach, die von Hitler empfohlenen Herren zu späterer Zeit selbst zu empfangen.19 Der nächste Konflikt ließ nicht lange auf sich warten. In der Kabinettssitzung vom 28. April überließ Hitler dem NS-Innenminister Frick die Angriffsführung. Wiederum wurde die Weigerung v. Rohrs gerügt, die NSDAP in die Beratungen einzubeziehen. Der mittlerweile zum Leiter des „Agraramtes der NSDAP“ aufge17
Schürmann, Artur, Die agrarpolitische Opposition (zitiert: Schürmann), S. 327; BMELF, S. 27 f. 18 Schwerin von Krosigk, Lutz Graf v., Memoiren, Stuttgart 1977, S. 166. 19 Matthias, Erich / Morsey, Rudolf (Hrsg.), Das Ende der Parteien 1933 (zitiert: Morsey), Düsseldorf 1979, S. 588; Reichskanzlei, S. 160 f.
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stiegene Walter Darré hatte am 16. April in einem Telegramm an Hitler „starke Unruhe unter der Bauernschaft“ wegen der Fernhaltung der Nationalsozialisten durch v. Rohr gemeldet. Abermals war es Hugenberg, der zurückwich und Darré am 11. Mai empfing.20 Die Konzeption und Umsetzung der von ihm angestrebten agrarpolitischen Wende mit den Schwerpunkten „Entschuldung der landwirtschaftlichen Betriebe“ und „Stabilisierung der Agrarmärkte“ beanspruchten Rohr in diesen Monaten bis an die Grenzen seiner physischen Leistungskraft. Von Vorteil war, daß Hugenberg ihm weitgehend freie Hand ließ und v. Rohr sich auf die Loyalität und Kompetenz der leitenden Beamten, die allesamt auf ihren Positionen geblieben waren, verlassen konnte. Während v. Rohrs Amtszeit gelang es keinem Nationalsozialisten, in diesen Kreis einzudringen. Das erleichterte es v. Rohr, nationalsozialistisches Gedankengut aus seinem Ressort fernzuhalten.21 Mit besonderem Nachdruck versuchte die NSDAP, ihr zentrales agrarpolitisches Projekt, den Erlaß eines Reichserbhofgesetzes, voranzutreiben. Ein solches Gesetz sollte der von den Nationalsozialisten angestrebten Mythisierung und Idealisierung des Bauerntums als „Blutquelle des deutschen Volkes“ den Boden bereiten. Vorgesehen war ein besonderer Gerichtsweg in Landwirtschaftssachen mit Anerbengerichten, Erbhofgerichten und einem „Reichserbhofgericht“, natürlich mit Nationalsozialisten zu besetzen und mit der Befugnis, über die „Bauernfähigkeit“ und die „Rasseeigenschaft“ der Betroffenen zu entscheiden.22 Rohr gelang es, während seiner Amtszeit den Erlaß eines solchen Gesetzes zu verhindern. Wenige Tage nach seiner Entlassung sollte es von der Reichsregierung beschlossen werden; es wurde dann zum Eckstein der nationalsozialistischen Machtergreifung auf dem Lande. Zu einem erneuten Konflikt mit Hitler kam es am 19. Mai. Rohr trat dem dringend vorgetragenen Wunsch Hitlers entgegen, mit Rücksicht auf den Duce italienische Agrarimporte nach Deutschland freizugeben. Als Rohr sich im Kabinett nicht gegen Hitler durchsetzen konnte, bestand er darauf, den deutschen Bauern in aller Offenheit zu erklären, aus welchen Gründen ihnen der Importschutz verweigert werde. Hitler intervenierte erneut und bestimmte, daß bei einer solchen Aufklärung das Reichsernährungsministerium nicht allein handeln dürfe, sondern das neue, von Goebbels geführte „Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ eingeschaltet werden müsse.23 Derweil steigerten sich die öffentlichen nationalsozialistischen Angriffe gegen v. Rohr, vorangetrieben besonders durch den neuen Reichslandbundpräsidenten Meinberg, einen fanatischen Nazi. Bereits am 14. April verlangte eine offizielle 20
Reichskanzlei, S. 418 f. Groeben, Hans v. d., Deutschland und Europa in einem unruhigen Jahrhundert, BadenBaden 1995, S. 118. 22 Bracher / Sauter / Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung 1933/34, Opladen 1960, S. 249. 23 Reichskanzlei, S. 470. 21
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NSDAP-Delegation in Berlin Rohrs sofortige Abberufung. In einem Zeitungsinterview vom 26. April erklärte Meinberg: „Ich will es offen aussprechen, daß, falls das Reichsernährungsministerium sich weiter dem Wollen der nationalsozialistischen Revolution entgegen stemmt, der Druck der Bauern auf dem Lande so groß werden wird, daß die Stellung der verschiedenen Herren im REM bis in die höchsten Spitzen hinauf unhaltbar wird.“ Die Kampagne mündete schließlich in einem Schreiben Rohrs an den Chef der Reichskanzlei Lammers, in dem sich v. Rohr hierüber beschwerte und darauf hinwies, daß das Reichspropagandaministerium ihm jegliche Erläuterung seiner Agrarpolitik über das Radio vereitelt habe.24 Die Antwort von Goebbels kam bald: „Es ist allgemein bekannt, daß zwischen den Ansichten des Herrn Reichsernährungsministers und den Plänen des Staatssekretärs von Rohr einerseits und dem Willen der Führer des deutschen Bauernstandes andererseits eine tiefe Kluft klafft. Die Einheitlichkeit des Volkswillens, die durch unsere Regierung erstrebt wird und bereits weitgehend erreicht worden ist, ist in landwirtschaftlichen Fragen bedauerlicherweise bisher nicht erreicht worden. Es hätte zu einer starken Erregung innerhalb des deutschen Bauernstandes geführt, wenn wir eine Rundfunkrede des Herrn Staatssekretärs von Rohr zugelassen hätten. (…) Damit wäre die Kluft zwischen der Auffassung des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft und der Auffassung des Reichskanzlers offenkundig geworden.“25 Im Kreise der Staatssekretäre war ausweislich der Kabinettsprotokolle v. Rohr der einzige, der immer wieder den Mut zum offenen Konflikt mit Hitler fand und in seinem Ressort dem Machtanspruch der Nationalsozialisten konsequent entgegentrat. Die nicht-nationalsozialistischen Minister und Staatssekretäre fügten sich in schrittweisem Nachgeben, zuweilen auch in beflissenem Zuvorkommen Hitlers Wünschen. Hugenberg, der noch am ehesten gegenzusteuern versuchte, gab im Juni 1933 auf, die von ihm geführte DNVP beschloß wie auch die anderen Parteien ihre Selbstauflösung. Als Hugenberg dem Reichskanzler seinen Wunsch des Ausscheidens vortrug, bedrängte ihn Hitler, doch im Amt zu bleiben – nur den Staatssekretär v. Rohr müsse er umgehend durch einen Nationalsozialisten ersetzen.26 Es war klar, wer im Reichsernährungsministerium Hugenberg folgen würde: Der NS-Funktionär Walter Darré. Rohr beriet sich mit seinen politischen Freunden, auch Hugenberg, die ihn alle bedrängten, in dieser kritischen Lage den Nazis nicht kampflos das Feld der Agrarpolitik zu überlassen. So trat Rohr nicht zurück, blieb einstweilen im Amt und versuchte, wo immer möglich, seinen neuen Minister auszubremsen. Zu den nationalsozialistischen Zielen dienenden Kabinettsvorlagen Darrés verfaßte er „Gegenerklärungen“, die er Hitler und den übrigen Mitgliedern der Reichsregierung übersandte.27 24
Reichskanzlei, S. 544 f. Reichskanzlei, S. 603 f. 26 Morsey, S. 614. 27 Reichskanzlei, S. 726 f.
25
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Er zögerte nicht, die von der NSDAP propagierte Politik auch öffentlich anzugreifen. Daraufhin beschwerte sich Darré am 12. September 1933 bei Hitler, daß Rohr „eine öffentliche Rede gehalten hat, in welcher er mich und die von mir in Ihrem (Hitlers) Auftrag vertretene Agrarpolitik in durchaus eindeutiger Weise desavouiert hat. (…) Diese Ausführungen von Rohrs richten sich einmal gegen die von mir in der ,Nationalsozialistischen Landpost‘ dargelegte agrarpolitische Linie, richten sich insbesondere aber gegen meinen Vortrag auf dem Partei-Kongreß der NSDAP in Nürnberg. An diesem Beispiel darf ich, hochzuverehrender Herr Reichskanzler, in Ergänzung meiner mündlichen Ausführungen einmal klar beweisen, wie wenig ich mich auf den Gehorsam meines Staatssekretärs verlassen kann. Er ist nicht nur anderer Meinung als ich, sondern tut dies auch noch in aller Öffentlichkeit kund. (…) Auf der Grundlage eines solchen Verhaltens ist (…) eine Zusammenarbeit nicht möglich.“28 Die vorhersehbare und möglicherweise von Rohr bewußt in Kauf genommene Folge – genaueres ist anhand der verfügbaren Dokumente nicht mehr zu klären – war am 23. September 1933 seine Entlassung aus dem Amt. Noch am gleichen Tage wurden seine Büroräume durchsucht und seine dienstlichen wie privaten Akten beschlagnahmt. Mit Rohrs Ausscheiden aus dem Dienst brachen im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft die Dämme; das Ministerium wurde in den Dienst des NS-Systems gestellt. Anders als für Hugenberg und den mit ihm ausgeschiedenen Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Paul Bang, die beide bis 1945 als Mitglieder des Reichstags unbehelligt blieben, begann für v. Rohr die Zeit der sich schrittweise steigernden politischen Verfolgung. Er war als kämpferischer Gegner des NS-Regimes identifiziert, und man suchte nach Möglichkeiten, ihn bei passender Gelegenheit auszuschalten. Diese Gelegenheit ergab sich am 30. Juni 1934 im Rahmen des „Röhm-Putsches“, als die Nazis unter Hitlers persönlicher Führung nicht nur mit innerparteilichen Opponenten, sondern auch mit politischen Gegnern des konservativen Lagers abrechneten. Ermordet wurden der ehemalige Reichskanzler v. Schleicher, Edgar Jung und andere. In Haus Demmin erschien ein Mordkommando der SS, fand v. Rohr dort aber nicht und fuhr weiter zum Gutshof. Frau v. Rohr konnte ihren Mann, der dort in seinem Büro saß, noch gerade telefonisch warnen, sodaß er durch eine Luke in der Bürodecke auf den Dachboden kriechen konnte. Vor dem Gutshaus stand, als die SS vorfuhr, der junge Eleve Hans Albrecht v. Boddien. Auf die Frage, ob sein Chef im Haus sei, stritt er das kategorisch ab. „Der ist irgendwohin ausgeritten.“ Die SS-Leute stürmten mit gezogener Waffe ins Haus, nicht ohne Boddien vorher zuzurufen: „Wenn wir den hier finden, stellen wir Euch beide an die Wand.“ Sie fanden Rohr nicht; die Hofleute, die ausnahmslos zu ihrem Chef standen, transportierten ihn des Nachts heimlich an einen sicheren Ort. Sie konnten allerdings nicht verhindern, daß statt seiner die im 8. Monat schwangere Frau v. Rohr festgenommen wurde. Boddien gehörte später zu den Verschwörern des 20. Juli. 28
Reichskanzlei, S. 727.
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Unter dem wenig camouflage-gerechten Namen „Dr. Röhricht“ hielt sich Rohr solange verborgen, bis die Mordaktion abgebrochen wurde und er nach Hause zurückkehren konnte.29 Die feindselige Hand des NS-Regimes blieb indes spürbar. Gestapo-Protokolle zeigen, wie sorgfältig man ihn als „Reaktionär der Systemzeit“ beobachtete. Das Telefon wurde offensichtlich überwacht, immer wieder konnte man inmitten von Gesprächen verdächtige Schaltgeräusche hören; es gab üble Drohanrufe, die ihm galten wie auch seiner damals 23-jährigen Frau Sigrid, geb. v. Borcke, mit der er seit 1932 verheiratet war und deren persönlicher Einsatz später für sein Überleben entscheidend werden sollte. Politisch hatte Rohr keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr. Eine von ihm 1934 verfaßte Denkschrift für eine zukunftsweisende, gegen die Intentionen der Machthaber gerichtete Agrarpolitik wurde zwar im Kreise ehemaliger Kollegen aus Landbundkreisen eifrig gelesen und verbreitet, blieb in der offiziellen Politik jedoch wirkungslos. Einen Ansatzpunkt für die Sammlung kritischer Landwirte bot die bereits erwähnte, von ihm noch zur Weimarer Zeit gegründete „Landwirtschaftliche Betriebsgesellschaft“. Auf den Tagungen wurde offiziell nur über technische und wirtschaftliche Aspekte der Betriebsführung diskutiert – abseits des gedruckten Programms ging es um Fragen des Umgangs mit dem NS-Regime und um die Stärkung der geistigen Unabhängigkeit gegenüber dem nationalsozialistischen Totalitätsanspruch. Der Gestapo, die diese Zusammentreffen als reaktionäres Widerstandsnest kritisch beobachtete, gelang es nie, einen Agenten in die LBG einzuschleusen. So konnte sie ihre Arbeit bis in die Kriegsjahre hinein fortsetzen.30 Auf vielen Wegen bemühten sich Regimegegner, die staatliche Buch- und Pressezensur durch notdürftig verschleierte Publikationen zu unterlaufen. Ein solcher Versuch waren die „Weißen Blätter“ des später ermordeten Karl Ludwig Frhr. v. und zu Guttenberg, in denen v. Rohr über die Herausforderungen schrieb, denen sich Christen bei ihrem Bemühen, im Sinne ihres Glaubens zu leben, unter den Bedingungen des NS-Staates zu stellen hatten. Er sah in der Unterdrückung durch das Regime auch Chancen zu neuer Kraftentfaltung. „Die Zahl der Christen wird kleiner werden“, so schrieb er, „aber es wird sich zugleich zeigen, welche Kraft Christus dem verleiht, der sich zu ihm bekennt.“31 Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Rohr als Rittmeister eingezogen, aber nach dem Polenfeldzug für die Landwirtschaft freigestellt. Die Belästigungen und Bedrohungen durch Gestapo und örtliche Parteiführung setzten sich fort, es kam jedoch nicht zur Verhaftung. Im Sommer 1942 war dem Gutsbetrieb eine größere Gruppe ausgemergelter sowjetischer Kriegsgefangener als „Aufpäppe29
Siehe hierzu: Schürmannn, S. 307. Schürmann, S. 309. 31 Weiße Blätter – Monatsschrift für Geschichte, Tradition und Staat, Neustadt/Saale; Februar 1938, S. 33. 30
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lungskommando“, wie es damals hieß, aber auch als Arbeitskräfte zugewiesen worden. Sie unterstanden den staatlichen Ordnungskräften. Unter deren brutaler Behandlung – bei der sich ein dorfbekannter Kommunist, der mittlerweile zum radikalen Nazi geworden war, besonders hervortat – waren zwei Gefangene gestorben. v. Rohr veranlaßte, daß sie nicht, wie dies bei „russischen Untermenschen“ erwartet wurde, irgendwo verscharrt, sondern in einem förmlichen Grab beigesetzt wurden. Er und seine Frau nahmen an der Beerdigung teil, eine von ihm aus Berlin herbeigeholte Dolmetscherin sprach ein russisches Gebet. Einer der Gefangenen, der ein wenig Deutsch sprach, wandte sich nach der Feier mit den Worten an ihn: „Wir wollen für Dich arbeiten wie für einen Vater, weil Du uns wie Menschen behandelt hast.“ Gemeinsam sangen die Gefangenen einen russischen Choral.32 Das Ganze hatte, in einem Gebüsch versteckt, der NS-Dorfschullehrer beobachtet, photographiert und der Gestapo gemeldet. Die war froh, nun endlich einen Vorwand zu haben, gegen v. Rohr vorzugehen, und erschien kurz darauf in Haus Demmin. 100 Meter vor dem Hause mußten die beiden Fahrzeuge eine hölzerne Zugbrücke überqueren. Das Poltern der Wagen war am Abendbrottisch zu hören; ein untrügliches Signal – private Autos gab es damals kaum mehr – für eine herannahende Gefahr. Rohr sprang auf, zog sich, während seine Frau die GestapoBeamten im Gespräch aufzuhalten versuchte, im Obergeschoß die Wehrmachtsuniform an und floh über einen Hinterausgang. In einem mehrstündigen Nachtmarsch erreichte er eine Bahnstation und konnte unentdeckt nach Freiburg entkommen, wo ihm der dort lehrende Nationalökonom Professor Constantin v. Dietze33 unter Inkaufnahme großen persönlichen Risikos Unterschlupf gewährte. Statt v. Rohrs wurde abermals seine Frau verhaftet, jedoch wegen der unmittelbar bevorstehenden Geburt ihres vierten Kindes nach ein paar Tagen wieder entlassen. Über Freunde, die es vereinzelt nach wie vor im Staatsapparat gab, konnte Frau v. Rohr erreichen, daß ihr Mann, der sich natürlich nicht auf Dauer verbergen konnte, schließlich gegen eine hohe Kaution Haftverschonung erhielt. Im folgenden Strafprozeß verurteilte das Landgericht Greifswald Rohr wegen „verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen“ zu einer längeren Gefängnisstrafe. Rohr legte Sprungrevision beim Reichsgericht in Leipzig ein und übernahm – formell vertreten durch einen bei Gericht zugelassenen Rechtsanwalt – die Verteidigung im wesentlichen selbst. Wie im Standardwerk „Der Richter im Dritten Reich“34 nachzulesen, „kamen die Strafakten auf einem Umweg über das Reichsjustizministerium und die Parteikanzlei beim Oberreichsanwalt mit der Weisung zur Vorlage, auf schnellstem Wege die Rechtskraft und damit die Vollzugsmöglichkeit herbeizuführen. (…) Der (zuständige) Senatspräsident Dr. Vogt erhielt gleiche 32
Schorn, S. 442 ff.; Schürmann, S. 316. Constantin v. Dietze gehörte der A. V. Igel in Tübingen an, die sich stark an corpsstudentische Umgangsformen anlehnte. Dazu ausführlicher: die Lebensbilder Franz Böhm und Walter Eucken in diesem Band. 34 Schorn a.a.O.; Brückner a.a.O. (s. Anm. 1). 33
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Weisung durch den Justizminister, wobei dieser nicht unerwähnt ließ, daß die Weisung auf einer Anordnung Hitlers beruhe.“ Vogt ließ sich hierdurch jedoch nicht beirren und ließ den Oberreichsanwalt wissen, daß eine Verwerfung der Revision wegen offensichtlicher Urteilsmängel nicht möglich sei. Er informierte auch seine Senatskollegen von dieser Rechtsauffassung und machte sie darauf aufmerksam, „daß sie ggf. mit Weiterungen zu rechnen hätten“. Ohne Gegenstimme beschloß der Senat, der Revision stattzugeben und – eine besondere Ohrfeige für das Landgericht Greifswald – die Sache zur neuerlichen Verhandlung an das benachbarte, dem unmittelbaren Einfluß des pommerschen NSGauleiters Schwede-Coburg entzogene Landgericht Neustrelitz zurückzuverweisen. „Wenige Tage nach der Urteilsverkündung wurde Vogt am 6. Juni 1944 durch den Reichsjustizminister Thierack nach Berlin bestellt. (…) Ohne ihm vorher Gelegenheit zu geben, die Gründe der Entscheidung vorzutragen, machte Thierack (ihm) schwere Vorwürfe über die ,politische Schimmerlosigkeit‘ des Senats. (…) Der Angeklagte sei ein Staatsfeind. Er stelle ein Programm dar. Männer seines Schlages seien gefährlicher als Kommunisten.“35 Der 2. Strafsenat des Reichsgerichts wurde alsbald aufgelöst, die Richter in Pension geschickt. Rohr brauchte die vorgesehene Gefängnisstrafe nun zwar nicht anzutreten, die in Leipzig gewonnene Freiheit währte jedoch nur ein paar Wochen. Am Tag nach dem Hitlerattentat vom 20. Juli fuhr abermals Gestapo in Haus Demmin vor. Rohr hatte erkannt, daß Flucht angesichts der zu erwartenden reichsweiten Jagd auf echte und vermeintliche Mitverschwörer aussichtslos sein würde; er wurde in Haft genommen, ein Zwangsverwalter für den Gutsbetrieb eingesetzt und die Enteignung, auf die der pommersche NS-Gauleiter Schwede-Coburg bereits seit 1942 hingearbeitet hatte, vorbereitet. Zu den Mitverschwörern des 20. Juli gehörte v. Rohr nicht. Verbindungsleute zum Widerstand, so Salviati und Tresckow, hatten zwar vorsichtig Kontakt zu ihm gesucht, waren dann aber gemeinsam mit ihm zu dem Ergebnis gekommen, daß seine aktive Einbeziehung angesichts des schwebenden Strafverfahrens und der fast lückenlosen Gestapo-Überwachung die Sache eher gefährden als fördern würde. Rohr wurde erst nach Greifswald gebracht und dann nach Stettin, dem Sitz des Gauleiters Schwede-Coburg. Seine Frau durfte ihn einmal zu einem überwachten Gespräch im Gefängnis besuchen und fand ihn in jammervollem, halbverhungertem Zustand. Sie beschloß, unter allen Umständen seine Verlegung in ein anderes Gefängnis zu erreichen, und nahm dazu Kontakt mit Menschen auf, denen sie noch einen gewissen Einfluß innerhalb des Regimes zutraute, sprach bei Behörden und Ämtern vor – und hatte schließlich Erfolg: v. Rohr wurde in das Gestapo-Gefängnis Potsdam überführt. Doch ihre Angst, daß er, wie viele seiner Zellennachbarn, irgendwann abgeholt und ermordet würde, dauerte fort. Um ihm irgendwie eine Botschaft zukommen zu lassen, hatte sie den für die Bedienung des berühmten Glockenspiels im Turm der Potsdamer Garnisonkirche zuständigen Professor Be35
Schorn a.a.O.; Brückner a.a.O.
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cker ausfindig gemacht und ihn dafür gewonnen, am 1. Oktober 1944, dem Geburtstag ihres Mannes, statt der üblichen Melodien die Lieblingschoräle ihres Mannes zu spielen. Rohr konnte sie in seiner Zelle hören und hat dieses für ihn unerklärliche Erlebnis, wie er später berichtete, als Quelle der Kraft für das Überstehen der verbleibenden Monate empfunden. Als nächstes faßte seine Frau in ihrer Verzweiflung einen unter den damaligen Umständen wahnwitzigen Plan: Sie beschloß, unmittelbar im Hauptquartier der Gestapo in Berlin beim SS-Obergruppenführer Heinrich Müller persönlich zugunsten ihres Mannes zu intervenieren. Müller war als Chef der Gestapo der Hauptverantwortliche für die Verbrechen dieser Organisation; zu seinem Bereich gehörte unter anderem Adolf Eichmann, der die Deportation der Juden in die Vernichtungslager organisierte und später in Israel zum Tode verurteilt wurde. Frau v. Rohr wußte dies nicht; ihr war aber wohl klar, daß sie sich in die „Höhle des Löwen“ begeben würde. Das Reichssicherheitshauptamt war durch einen Bombenangriff zerstört und von der Prinz-Albrecht-Straße nach Berlin-Dahlem ausgelagert worden. Frau v. Rohr fuhr mit der S-Bahn bis zur Station Babelsberg und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Dahlem. Um rascher voranzukommen, versuchte sie es per Anhalter – das war damals üblich. Bereits der erste Wagen hielt. Der Fahrer, ein Mann in Zivil, öffnete die Seitentür: „Na, Fräulein, wo wollen Sie hin?“ „Ich möchte zum Reichssicherheitshauptamt, ist dies die richtige Straße?“ „Na klar, da muß ich auch hin. Aber was wollen Sie da?“ „Mein Mann sitzt in Potsdam in Gestapo-Haft. Ich will mich um Hafterleichterungen für ihn bemühen.“ „Kennen Sie denn jemanden in der Behörde?“ „Nein, das nicht, ich will versuchen, mit Obergruppenführer Müller zu sprechen, dem Chef der Gestapo.“ Ein kurzes Schweigen des Mannes, dann der Satz: „Obergruppenführer Müller – das bin ich.“ Noch am gleichen Tage wurde die Gestapo in Potsdam angewiesen, dem Häftling von Rohr alle nach der Gefängnisordnung möglichen Erleichterungen zu gewähren. Warum diese spontane Geste der Menschlichkeit eines der übelsten NS-Verbrecher? War es eine bloße Laune, eine machohafte Machtdemonstration? Wollte Müller dem Parteibonzen Schwede-Coburg in Stettin eins auswischen? Sah er in dem Zusammentreffen irgendeine „Vorsehung“ am Werk, an die ja selbst sein Führer bisweilen zu glauben pflegte? Praktisch bedeutete die Maßnahme, daß Rohr etwas bessere Verpflegung bekam und zur Betreuung der Gefängnisbücherei eingeteilt wurde. Dort hörte er heimlich den britischen Sender BBC – was allen Deutschen bei Todesstrafe verboten war – und erfuhr, wo nach einem Sieg der Alliierten die Westgrenze der sowjetischen Besatzungszone verlaufen würde. Rohr konnte seiner Frau einen entsprechenden Hinweis für ihre Flucht aus Vorpommern geben. Er blieb weiterhin in Haft; manche seiner Zellennachbarn wurden auf Befehl Müllers abgeholt und ermordet. Als die sowjetischen Truppen den Ring um Berlin zu schließen begannen, verließen Gefängnisleitung und Wachmannschaften ihre Posten und waren menschlich genug, vor ihrer Flucht die Zellen zu öffnen.
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Rohr schlug sich nach Mecklenburg durch, wo seine Familie auf dem Treck gen Westen Station gemacht hatte. Es war für ihn die „Stunde null“, die Stunde des Neuanfangs. Niemals, so sagten Rohr und seine Frau später, hätten sie sich glücklicher gefühlt als in der nun beginnenden Zeit: Materiell zwar vor dem Nichts, aber zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt ohne Verfolgungsangst. Für Rohr öffnete sich im Alter von 56 Jahren das zweite große Kapitel seines beruflichen und politischen Lebens. In einem holsteinischen Dorf fand die Familie v. Rohr im Frühsommer 1945 bei einem Bauern Quartier. Als Gegner des NS-Regimes und politisch Verfolgten berief ihn die britische Besatzungsmacht zum Bezirksbürgermeister, setzte ihn aber nach wenigen Monaten – inzwischen hatte in London der Sozialist Attlee den Konservativen Churchill abgelöst – wieder ab. Rohr wurde, um die entsprechende Verfügung entgegenzunehmen, zum Vertreter der Militärregierung in Kiel bestellt. Dort empfing ihn ein britischer Offizier mit den Worten: „Herr von Rohr, ich kenne Sie.“ Bei einer früheren Verwendung in Nordafrika hatte der Offizier im Gepäck eines deutschen Soldaten einen Brief von dessen Mutter gefunden, in dem empört über Rohrs Verurteilung wegen der Gefangenensache berichtet worden war. So kam es, daß Rohr von den Briten wieder in sein Amt eingesetzt wurde, bis sich schließlich dann doch Sozialdemokraten und Kommunisten gegen ihn durchsetzten. Zum Neuaufbau einer Existenz besaß Rohr nach dem Verlust aller materiellen Güter nur noch sein geistiges Kapital: seinen Verstand, seine Erfahrung, sein Organisationstalent, seine unerschöpfliche Energie – und seine politische Leidenschaft. Er war nun zwar persönlich ohne landwirtschaftlichen Besitz, doch die Aufgabe, unserem Land eine lebensfähige, im bäuerlichen Familienbetrieb verankerte Landwirtschaft zu sichern, erschien ihm vordringlicher denn je. Ohne Zögern ging er an die Arbeit. Ihm kam es darauf an, die Chance des Neubeginns zum Aufbau einer Organisation zu nutzen, die möglichst alle in der Landwirtschaft wirkenden Kräfte bündelte und damit den Bauern in der neuen, freiheitlichen Gesellschaft einen angemessenen Platz sichern konnte. Mit diesem Ziel entwarf er Programm und Satzung für einen „Bund deutsches Landvolk“, wurde er Mitgründer des „Niedersächsischen Landvolks“ und entsprechender Organisationen in den sich schrittweise bildenden Bundesländern. Die Not der Flüchtlinge und Vertriebenen spürte er am eigenen Leibe. Um hier möglichst rasch durch Ratschläge und Informationsaustausch zu helfen, veröffentlichte er für einen großen Abonnentenkreis die hektographierten „Flüchtlingsbriefe“. Zum zentralen Instrument seiner publizistischen Arbeit sollte für die nächsten 24 Jahre eine andere Zeitschrift werden: die „Stimmen zur Agrarwirtschaft“. In einer Auflage von etwa 3.000 Exemplaren erreichte Rohr mit dieser Korrespondenz praktisch die gesamte am politischen Geschehen interessierte landwirtschaftliche Öffentlichkeit. Das zweimal monatlich erscheinende Blatt bestand aus 10 hektographierten Textseiten, die Rohr in seiner knappen, ganz auf das Wesentliche kon-
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zentrierten Sprache nahezu vollständig selbst verfaßte. Die technische Produktion und der Versand oblagen stundenweise hinzugezogenen Hilfskräften und natürlich der eigenen Familie. Die Gründung der „Stimmen“ 1947 geschah in einer Zeit, als sich die Umrisse einer neuen, freiheitlichen Wirtschaftsstruktur in Westdeutschland abzeichneten. Rohr war ein entschiedener Anhänger der marktwirtschaftlichen Idee. Er stand hier im Einvernehmen mit Ludwig Erhard, der die deutsche Volkswirtschaft möglichst bald von den Fesseln der Kriegs- und Zwangswirtschaft zu befreien suchte, um nach dem Motto „Wettbewerb als Motor der Leistungssteigerung“ Preisbindung und Handelsbeschränkungen weitgehend abzuschaffen. Erhard machte bei seinem Bekenntnis zum Markt allerdings eine bedeutende Ausnahme: Für die Landwirtschaft sollte es eine Liberalisierung nicht geben. Um die deutsche Exportfähigkeit zu stärken, sollten die Nahrungsmittelpreise auf niedrigem Niveau staatlich reguliert werden. Erhard fand mit diesem Anliegen in dem aus USA nach Deutschland zurückgekehrten Hans Schlange-Schöningen, wenige Jahre zuvor von den Attentätern des 20. Juli als Reichsernährungsminister in einem Deutschland nach Hitler vorgesehen, nun Direktor des Zweizonen-Ernährungsamtes, einen überzeugten Helfer. Für ihn stand nicht die Produktionssteigerung, sondern die restlose Erfassung der vorhandenen Lebensmittel im Vordergrund. Durch staatlichen Zwang und Kontrolle sollten die nach wie vor knappen Lebensmittel möglichst „gerecht“ verteilt werden. Rohr vertrat eine völlig andere Politik: Er schlug vor, das Ablieferungssoll der Bauern auf ein Minimum zu reduzieren und ihnen zu gestatten, die Mehrproduktion nach eigenem Gutdünken zu vermarkten. Dadurch, so war er sicher, ließe sich die Produktion im Handumdrehen steigern und gleichzeitig der blühende Schwarzmarkt austrocknen, auf dem Bauern – in aller Heimlichkeit, oft von skrupellosen Zwischenhändlern übers Ohr gehauen – hier ein halbes Schwein, dort einen Zentner Kartoffeln verkauften. Für den Verbraucher würde sich durch den Mengendruck auf dem Nahrungsmittelmarkt ein akzeptables Preisniveau herausbilden und die Landwirtschaft ohne Subventionen eine solide Existenzbasis erhalten. Rohrs Überzeugungen fanden starken Widerhall. Der auf seine Initiative 1948 gegründete „Verein für Agrarwirtschaft“ transportierte das Konzept einer modernen Agrarpolitik durch Vortragsreihen, Arbeitskreise und unmittelbare politische Intervention in alle Teile des Landes. Schlange-Schöningen stürzte, die Fesseln der Zwangsbewirtschaftung wurden gelockert. Hingegen blieben Versuche, nunmehr auch die Preispolitik für die Landwirtschaft „auf Augenhöhe“ mit der Industrie zu bringen, halbherzig und letztlich erfolglos. Die Verantwortung hierfür sah v. Rohr vor allem in Fehlern im eigenen Lager. Andreas Hermes, der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, hatte erreicht, daß man ihm in Personalunion auch den Vorsitz der zweiten großen landwirtschaftlichen Organisation, des Deutschen Raiffeisenverbandes, übertrug. Mit dieser bis dahin beispiellosen Machtfülle und seinem CDU-Bundestagsmandat wurde er für Konrad Adenauer und Ludwig Er-
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hard zum Garanten dafür, daß die deutschen Bauern ohne gar zu viel Aufbegehren – jedenfalls zunächst – den Weg der Regierungspolitik mitgingen: Keine dem Gewerbe vergleichbaren Lohn- und Preischancen für die Landwirtschaft. Um Rohr, seine „Stimmen“ und den „Verein für Agrarwirtschaft“ formierten sich die als „Agrarpolitische Opposition“ bezeichneten Gegenkräfte. Die deutsche Landwirtschaft auf den „Markt von Morgen“ vorzubereiten, sah v. Rohr später als seine Hauptaufgabe an. Er wurde ein engagierter Befürworter des gemeinsamen europäischen Marktes, fand sich dabei freilich im Konflikt mit vielen politischen Freunden. Seine Theorie war einfach: Die überragenden Exportinteressen der deutschen Wirtschaft würden sich politisch immer gegen den Wunsch der Landwirtschaft nach Gleichberechtigung durchsetzen. Die Einbindung Deutschlands in eine Allianz mit der „Agrarnation Frankreich“ war für ihn der einzig erfolgversprechende Weg, um den deutschen Bauern eine Existenzbasis zu erhalten. Die Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sollte seine Einschätzung rascher als erwartet bestätigen.36 Rohr bedrückte es, daß nach dem Mißbrauch durch die Nationalsozialisten konservative Wertvorstellungen keine überzeugende politische Heimat mehr gefunden hatten. Bald nach der Flucht in den Westen bemühte er sich gemeinsam mit anderen, eine konservative Partei zu gründen. Auf der Liste einer solchen Partei, der „Nationalen Rechte“, wurde er 1950 in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt, wo er sich dann aber bald der FDP-Fraktion anschloß. Innerhalb der FDP gelang es ihm, sowohl auf Landes- wie auf Bundesebene agrarpolitisch Einfluß auszuüben, er wurde Ehrenvorsitzender des Landesverbandes Hessen. Seine Ziele reichten jedoch weiter. Der konservative Gedanke, so war er überzeugt, brauchte eine wirksame Medienpräsenz. Auf seine Initiative kam es 1968 zur Gründung der „Gesellschaft für konservative Publizistik“ und 1969 der Monatsschrift „Konservativ heute“, die Publizisten wie Pascual Jordan, Hans Maier, Armin Mohler, Otto von Habsburg, Sebastian Haffner, Carl Zuckmayer und auch ihm selbst eine Plattform bot. Über viele Jahre hinweg erwies sich diese Zeitschrift als ein publizistisches Gegengewicht gegen die im Zuge 68er-Bewegung dramatisch beschleunigte Auflösung konservativer Ideen und Wertvorstellungen. Rohr starb am 10. November 1971 im Alter von 83 Jahren. Die Abonnenten seiner „Stimmen zur Agrarwirtschaft“ informierte er wenige Tage vor seinem Tod vom Krankenbett aus mit einer Postkarte, daß er die aktuelle Ausgabe nun nicht mehr verfassen könne. „Ich bitte Sie alle, diesem ersten Ausfall in 24 Jahren mit freundlichem Verständnis zu begegnen.“ So verabschiedete sich der, wie die Presse nach seinem Tode schrieb, „große Mahner und Warner der Agrarpolitik der Nachkriegszeit“ von all jenen, die seine Arbeit mitgetragen hatten.
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Siehe hierzu detailliert Schürmann, S. 3 ff.; S. 35 ff.; S. 311.
Friedrich-Karl v. Zitzewitz Von Dedo Graf Schwerin v. Krosigk Das Leben von Friedrich-Karl v. Zitzewitz, ein in allen Phasen bewußt gelebtes und leidenschaftlich erlebtes Leben, war durch zwei Eigenschaften geprägt. Zunächst die vollkommene Unabhängigkeit des Denkens und Handelns und sodann die Fähigkeit, fest in der Vergangenheit verwurzelt in die Zukunft zu blicken und immer wieder neu in sie aufzubrechen. So wurde Zitzewitz im Ersten Weltkrieg vom Kavalleristen zum Flieger, danach vom Verwaltungsbeamten zum Unternehmer, schon in den 1920er Jahren vom Unternehmer im Eigeninteresse zum Manager im gemeinnützigen Einsatz für andere und zur Übernahme politischer Verantwortung, schließlich wurde er vom national-konservativen Politiker zum aktiven Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime. Zitzewitz wurde 1888 in Muttrin geboren, auf dem Hauptgut seines Vaters, das der Familie seit 1360 gehörte. Muttrin liegt in Hinterpommern im Kreis Stolp, wo es in der noch zu Pferde erreichbaren Umgebung 35 weitere Zitzewitzsche Güter gab, und unter Einbeziehung der Nachbarn und Verwandten, der Puttkamer, Below, Bonin, Massow, Kleist, Podewils, Natzmer, Gottberg, Boehn, Marwitz und ein paar anderer, verfünffacht sich die Zahl gut und gerne. Das wird erwähnt, weil es deutlich macht, was es bedeutete, in diesem Land zu Hause zu sein. Das Maß der Verbundenheit mit dem Land, mit Pommern, mit – um korrekt zu sein – Hinterpommern, dürfte von der jüngeren, unter den Bedingungen der Mobilität in der Bundesrepublik aufgewachsenen Generation mit Sicherheit unterschätzt werden. Und damit hätte sie bereits einen Zug verkannt, der Zitzewitz prägte wie kaum ein anderer, seine Heimatliebe und seine Heimattreue. Dazu gehört, daß er bei Gästen zum Frühstück, wenn Butter und Gänseschmalz auf dem Tisch standen, leise selbstironisch danach unterschied, wer zum einen und wer zum andern griff. Und wer jetzt nicht weiß, welche Gäste er ernstnahm, hat keine Ahnung von der Bedeutung der Gans für Pommern. Zitzewitz wuchs in Muttrin auf, legte 1906 in Stolp sein Abitur ab und studierte dann von 1907 bis 1910 Rechtswissenschaften in Heidelberg und in Bonn. In Heidelberg wurde er bei Saxo-Borussia aktiv1 und, da er mutig, schnell und kräftig war, ein gefürchteter Fechter und mithin natürlich auch Zweitchargierter. In Bonn wurde er danach bei Borussia aktiv2 und erneut „Zweiter“, leistete seine Dienstzeit als 1 2
Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1930, Kassel 1930 (künftig KCL), Nr. 71 – 1197. KCL, Nr. 11 – 916.
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Einjährig-Freiwilliger beim Husaren-Regiment Nr. 7 ab und bereitete sich auf das Referendarexamen vor – all dies gleichzeitig. Heute möchte man glauben, das ginge nicht. Aber Tatsache ist, daß er 1909 in seiner Dienstzeit als Bonner Husar mehr als ein halbes Dutzend Partien schlug und 1910 das Referendarexamen in Köln ablegte. Dann folgte die Zeit als Regierungsreferendar, erst bei der Regierung in Stettin,3 dann im Landratsamt Stargard – also wieder „zu Hause“, in Pommern. Nach den üblichen Übungen bei den Bonner Husaren wurde Zitzewitz bei Kriegsausbruch 1914 zum Königlich preußischen Leutnant der Reserve befördert und zog mit seinem Regiment ins Feld, wo er sich in Frankreich bei vielen Patrouillen das EK II und das EK I verdiente, bevor der Feldzug im Stellungskrieg erstarrte. Diese militärische Entwicklung war mit seinem Temperament und Einsatzwillen nicht vereinbar, so daß er sich 1916 wie viele Kavalleristen zu der gerade im Entstehen begriffenen neuen Waffengattung der Flieger meldete. Das war für ihn charakteristisch. Zitzewitz liebte sein Regiment und die Reiterei über alles; aber als das im Stellungskrieg nicht mehr möglich war, fügte er sich nicht resigniert, sondern wählte die Zukunft. Bevor er mit der Fliegertruppe zum Einsatz kam, stürzte er bei einem Übungsflug 1917 ab; er überlebte schwerverletzt und verlor das rechte Bein bis zum Oberschenkel. Aus der Armee als nicht mehr einsatzfähig entlassen, wandte sich Zitzewitz ungebrochen zunächst wieder der Verwaltung zu, machte 1918 das Examen als Regierungsassessor in Berlin, wurde dem preußischen Innenministerium zugeteilt und als stellvertretender Landrat in Bergen auf Rügen eingesetzt. 1920 heiratete er Bertha Freiin v. Plettenberg aus Heeren in Westfalen, ein wirkliche Schönheit mit einer großen Seele – mit Charme, Temperament, Lebenslust und mit einer Lebenskraft, die man in dem eher zarten Körper nicht vermutet hätte. Sie ist, bis ins höchste Alter zauberhaft anzusehen, erst 1996 im 100. Lebensjahr in Bonn gestorben. Glücklich verheiratet und beruflich in gesicherter Position, hätte Zitzewitz getrost eine Karriere in der Verwaltung verfolgen können, einer Verwaltung, in der man damals noch eigenständige Initiativen entfalten konnte und im Vergleich zu heute außerordentliche Selbständigkeit hatte. Trotzdem entsprach die Tätigkeit seinen Vorstellungen von Gestaltungsmöglichkeiten nicht. So quittierte er 1922 den Staatsdienst, kehrte nach Pommern zurück, übernahm einen der väterlichen Betriebe und wurde Landwirt. Kottow, das er nun bewirtschaftete, hatte 3.000 Morgen und erlaubte bei erfolgreicher Bewirtschaftung ein ausreichend sorgenfreies Leben. Es gehört wahrscheinlich zu der Verwurzelung auf dem Lande, zum Aufwachsen auf einem Gut, bei dem der Betrieb zwölf Stunden des Tages so füllt, daß Hochzeiten zur Zeit der Frühjahrsbestellung und der Ernte indiskutabel waren, zur unbedingten Liebe, der nichts zuviel wird, daß Zitzewitz das Gut Kottow, ohne je Landwirtschaft „gelernt“ 3
Heutzutage wäre die korrekte Behördenbezeichnung zumeist: Bezirksregierung.
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zu haben, führen konnte. Es ist aber sicher seiner Beobachtungsgabe zu verdanken, seiner Intelligenz, seiner Fähigkeit, zugleich systematisch, unabhängig und originell zu denken, daß er das, was später landwirtschaftliche Betriebslehre heißen sollte und heute studiert werden kann, aus den Bedürfnissen der Praxis heraus selbst entwickelte, verstand, anwandte und umsetzte. Und zwar mit solchem Erfolg, daß er genug Zeit gewann, auch politisch aktiv zu werden. Der Kottower – unter diesem Namen wurde er weit über die engere Heimat hinaus bekannt – hatte Eigenschaften, die Bedingungen für einen erfolgreichen Politiker waren. Und auch heute noch sein sollten. Er war glaubwürdig, er wußte, wofür er eintrat, er trat dann auch bedingungslos dafür ein, er konnte es verständlich formulieren, er konnte mit jedermann umgehen, ohne Herablassung, ohne Anbiederung, selbstsicher, heiter, mit Humor, den Menschen zugewandt. Der Kottower also wurde bereits 1923 in den pommerschen Provinziallandtag gewählt und von dort in den Preußischen Staatsrat entsandt, der ein Initiativrecht für Gesetzesvorschläge und ein aufschiebendes Vetorecht gegen Beschlüsse des Landtages hatte.4 1924, also schon ein Jahr später, wurde er zum Mitglied des Reichstages gewählt, was er aber nur einige Monate bis zu dessen Auflösung blieb. Er gehörte zur Deutschnationalen Volkspartei. Das war die Partei, die die konservative Landbevölkerung wählte und die auch keine unvernünftigere Politik machte als die anderen Parteien. Als der Vorsitzende dieser Partei, Alfred Hugenberg, aber 1931 mit der NSDAP und dem Stahlhelm in der Harzburger Front zusammenging, brach Zitzewitz mit den Deutschnationalen, trat – gemeinsam mit Hauptverantwortlichen der pommerschen Landwirtschaftskammer und des Genossenschaftswesens5 – aus der DNVP aus und gab die Mandate im Provinziallandtag und im Preußischen Staatsrat zurück. Das war ein sensationell früher Akt der Erkenntnis, was von den Nationalsozialisten und auch einer von ihnen geführten Volksvertretung zu halten sei. Bereits 1931 also hatte Zitzewitz Adolf Hitler durchschaut und seine Konsequenzen daraus gezogen. Viele andere haben für diesen Erkenntnisschritt noch acht, zehn, ja zwölf weitere Jahre benötigt, als die Anfangserfolge der Nazis lange zurücklagen und der Zusammenbruch Deutschlands bevorstand. Nicht so Zitzewitz. Er hat sich, als ein alter Freund Nationalsozialist wurde, darüber mit ihm auseinandergesetzt, und auf dessen Argument, man könne doch unmöglich behaupten, daß alle Nazis Schweine seien, erwidert, das behaupte ja auch kein vernünftiger Mensch, aber da alle Schweine Nazis würden, sei der Schweineanteil verdammt hoch. Zitzewitz betätigte sich zunächst in seinem kleinen politischen Zirkel, dessen Bemühungen sich zunächst darauf konzentrierten, Wege zur Bekämpfung der 4 Präsident des Staatsrats war von 1920 bis 1933 der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, Mitglied der KV-Verbindungen Brisgovia Freiburg, Saxonia München und Arminia Bonn. 5 Es handelte sich um Richard v. Flemming-Paatzig (s. Anm. 12), Wilhelm v. Flügge (s. Anm. 7) und Karl-Magnus v. Knebel Doeberitz (s. Anm. 6).
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Wirtschaftskrise aufzuzeigen und damit einen Beitrag dazu zu leisten, der Radikalisierung einer restlos unzufriedenen Bevölkerung nach rechts und links Einhalt zu gebieten. Der kleine Kreis, der schon seit Jahren gemeinsam politische Ziele verfolgte, bestand aus Zitzewitz selbst, seinem Freund und Nachbarn Karl-Magnus v. Knebel Doeberitz6 und einem Heidelberger Corpsbruder, Dr. Wilhelm v. Flügge.7 Das Ziel des Kreises war eine Verständigung mit der Sozialdemokratie, und zwar „auf der Grundlage echten Vertrauens und politischer und moralischer Zielangleichung“, wie es Zitzewitz formulierte. Knebel führte zu diesem Zweck von Flügge vermittelte Einzelgespräche, die durchaus positiv aufgenommen wurden und zu Vertrauensverhältnissen führten. Von den sehr zahlreichen Gesprächspartnern sind nur wenige Namen überliefert: Max Cohen-Reuß,8 Karl Joseph Bachem,9 Wichard v. Moellendorff.10 Bevor die so angeknüpften Beziehungen zu politischen Folgen führen konnten, drängte sich die aktuelle Situation in den Vordergrund. Dabei waren die Freunde sich in der Beurteilung der politischen Lage vollkommen einig. Knebel, der Hitler zu einem stundenlangen Gespräch im Berliner Hotel Kaiserhof aufgesucht hatte, kehrte davon angewidert und mit der Überzeugung zurück, daß der Mann zu allem, zu jedem Verbrechen fähig sei und eine unvorstellbare Gefahr verkörpere. Die Überlegungen richteten sich deswegen darauf, wie eine Regierung Hitler verhindert werden könne, und zwar – angesichts von Wahlerfolgen der NSDAP – bevor die Partei eine Mehrheit im Reichstag erreicht hätte. Den entscheidenden Schritt des Handelns könne, auch darüber bestand Einigkeit, nur die Reichswehr tun. Der Kreis fand, um auch hier wenigstens ein paar Namen Gleichgesinnter festzuhalten, Unterstützung bei dem Bonner Preußen Fritz Graf zu Eulenburg-Prassen,11 dem Präsidenten der Landwirtschaftskammer Pommern Richard v. Flemming-Paatzig,12 Carl-Hans Graf v. Hardenberg-Neu-Hardenberg13 und dem Leiter der Landwirtschaftskammer der Kurmark, Dr. Franz Mendelsohn. 6 * Friedrichsdorf, 19. März 1890, † ebd. 31. Dezember 1942, Besitzer von Friedrichsdorf, Kr. Dramburg, und Direktor der Pommerschen Landwirtschaftlichen Hauptgenossenschaft. 7 KCL, Nr. 66 – 1169; * Düsseldorf 8. August 1887, † Istanbul 4. Januar 1953, Besitzer von Jacobsdorf, Kr. Naugard, Regierungsassessor, kurzzeitig im Rang eines Direktors bei der IG Farbenindustrie AG Berlin, Kontaktmann und verdeckter Informant des Amtes Abwehr, Gruppe Canaris. 8 * Langenberg 30. Januar 1876, † Paris 12. März 1963. 9 * Köln 22. September 1858; † Burgsteinfurt 11. Dezember 1945. Bachem war Vertrauensmann des Gewerkschaftsführers Carl Legien (1861 – 1920). 10 * Hongkong 3. Oktober 1881, † durch Selbstmord Berlin 4. Mai 1937, Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsministerium. 11 KCL, Nr. 9 – 759; * Breslau 13. April 1874, † durch Unfall in Wittenberg b. Tharau 20. März 1937. 12 * Benz 13. Oktober 1879, † Uelzen 17. April 1960. 13 * Glogau 22. Oktober 1891, † Frankfurt a. M. 24. Oktober 1958.
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Zitzewitz hatte auf Vermittlung von Hardenberg mehrfach Gelegenheit, dem späteren Generaloberst Beck die von Knebel und Flügge ausgearbeiteten Pläne vorzutragen, die mit raschem Einfühlungsvermögen angehört und mit der Bereitschaft zur Unterstützung beantwortet wurden. Vor allem aber gelang es Knebel, bei Seeckt die Zusage zu erreichen, daß er sich für eine durchgreifende Aktion der Wehrmacht gegen Hitler stark machen wolle, wenn der Kreis eine für die politische Führung geeignete Persönlichkeit präsentieren könne. Man einigte sich auf den Vorsitzenden des Pommerschen Provinziallandtages, Carl Graf v. Behr-Behrenhoff.14 Mit ihm wurde ein Treffen im Hotel Adlon verabredet, das Zitzewitz als ein „tragisches Geschehen“ empfunden und geschildert hat, weil Behr, über den Zweck der Zusammenkunft unterrichtet, nach langem Schweigen erklärte, daß die Gefahr jeden Einsatz rechtfertige, er der an ihn herangetragenen Aufgabe aber nicht gewachsen sei; „der schwerste Tag meines Lebens“ fügte er hinzu. Damit „war der Zeitpunkt des Handelns verpaßt“.15 I. Kriegszeit, Verhaftung und Prozeß 1936 erbte Zitzewitz beim Tod seines Vaters aus dem väterlichen Besitz Muttrin, Kottow, Nimzewe, Wochotz und Jamrin mit über 11.000 Morgen. Aus dem Kottower wurde der „Muttriner“. Da schon der Vater ein hervorragender Landwirt und Geldwirt, ein großer Baumeister, ein Organisator von Gnaden gewesen war, war dieser Besitz in perfektem Zustand, so daß Zitzewitz in großem Stil wirtschaften und seine ganzen Fähigkeiten entfalten konnte. Das tat er, und Muttrin wäre eine regelrechte Herrschaft geworden, wenn die weitere Aufbauarbeit nicht schon acht Jahre später in Blut und Chaos untergegangen wäre. Woher Zitzewitz daneben die Kraft nahm, auch noch für andere tätig zu sein, bleibt unerfindlich. Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre hatte die Reichsregierung zur Bekämpfung einer schweren Krise in der Landwirtschaft Gesetze zur Sicherung und Umschuldung der ostdeutschen Landwirtschaft erlassen, die Osthilfe. Die hohen Mittel, die dabei als Darlehen an die Betriebe gingen, wurden in Selbstverwaltung von landwirtschaftlichen Treuhandverbänden überwacht. In dieser Treuhandverwaltung war schon der Kottower als Vertreter der Provinz Pommern in Berlin tätig gewesen. Jetzt wurde der Muttriner 1938 Geschäftsführer und Vorstandsmitglied der Landwirtschaftlichen Haupttreuhandstelle für den Deutschen Osten (LHT) in Berlin und wirkte dadurch zum Segen, daß die Betriebe nicht nur überwacht, sondern intensiv betriebswirtschaftlich beraten wurden. Vor allem aus diesem Grunde wurde die Umschuldung der Landwirtschaft durch die Osthilfe ein großer Erfolg. 14 * Behrenhoff 24. April 1865, † ebd. 5. September 1933, Besitzer von Behrenhoff, Kr. Greifswald; aktiv bei Saxoborussia Heidelberg, in KCL nicht verzeichnet; gleichnamig, wohl der Vater, in der KCL: KCL 1930, Nr. 71 – 499. 15 So äußerte sich Zitzewitz selbst, und zwar immer wieder in Gesprächen in kleinerem wie größerem Kreis.
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Die Bemühungen des Kreises Zitzewitz – Knebel – Flügge im Widerstand gegen Hitler richteten sich nach dem „verpaßten Zeitpunkt des Handelns“ darauf, „Generäle in einem jeweils psychologisch geeigneten Augenblick zum Zuschlagen zu bewegen und die dazu nötige Überzeugungs- und Überredungstätigkeit zu entwickeln“.16 Dabei hielt Knebel bis zu seinem Tod 1942 die Verbindung zu den ihm zugänglichen politischen Spitzen und zu der Wehrmachtsführung, Zitzewitz selbst zu den Berliner Ämtern und den landwirtschaftlichen Verbänden, zu seinem Bonner Corpsbruder Peter Graf Yorck v. Wartenburg17 und dem Kreisauer Kreis, zu Carl Wentzel-Teutschenthal18 und einer ganzen Reihe anderer, vor allem aber zu Carl Friedrich Goerdeler19, nach Knebels Tod auch zu Hans Oster20 und der Wehrmachtführung. Flügge, der seine berufliche Tätigkeit gezielt ins Ausland, in die Türkei nach Istanbul, verlegt hatte, übernahm die Aufgabe, „dauernd darüber informiert zu sein, wie sich das Ausland zu einem Militärputsch und den daraus folgenden innerdeutschen politischen Veränderungen stellen würde“.21 Die Informationen gab er zunächst an Knebel weiter, nach dessen Tod an Oster und über diesen an Zitzewitz, aber auch direkt an viele Gesprächspartner aus dem Widerstand, darunter Canaris, Moltke und Trott. Die konspirative Tätigkeit, die Flügge entfaltete, wurde der Gestapo bekannt. Er wurde im Frühjahr 1944 wegen einer Denkschrift zur künftigen Verfassung, die in die Hände der Gestapo gelangt war, verhaftet und gehörte zu den 130 prominenten Sonder- und Sippenhäftlingen, die im April 1945 von der SS aus dem KZ evakuiert und in die „Alpenfestung“ transportiert, im Südtiroler Niederdorf aber von einer Wehrmachtseinheit unter Wichard v. Alvensleben22 vor der Ermordung gerettet und schließlich von den Amerikanern am Pragser Wildsee befreit wurden.23 Die „Vernetzung“ – wie das heute heißen würde – von Zitzewitz war hervorragend. So gehörte er, wie viele Corpsbrüder seiner Generation, dem „Deutschen Herrenklub“, 1933 umbenannt in „Deutscher Klub“, an; das war für einen Mann seiner Herkunft, seines Vermögens und seines politischen Interesses normal. Dieser Kreis, der Persönlichkeiten des Adels, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der hohen Bürokratie und konservative Politiker vereinigte, bemühte sich um eine Erneuerung des Konservativismus und versuchte, Einfluß auf die Politik der Weimarer Republik 16
Schreiben von Flügge, an Zitzewitz vom 29. Dezember 1947, IfZ, ZS 2160. KCL, Nr. 9 – 981; * Klein Oels 13. November 1904, † hingerichtet Berlin-Plötzensee 8. August 1944. 18 * Brachwitz 9. Dezember 1876, † hingerichtet Berlin-Plötzensee 20. Dezember 1944. 19 * Schneidemühl 31. Juli 1884, † hingerichtet Berlin-Plötzensee 2. Februar 1945. 20 * Dresden 7. August 1987, † hingerichtet KZ Flossenbürg 9. April 1945; zuletzt Generalmajor im Abwehramt. 21 Schreiben von Flügge, IfZ, ZS 2160. 22 * Wittenmoor 19. Mai 1902, † Acheberg b. Plön, Holstein, 14. August 1982. 23 Vgl. Aufsatz über Wilhelm v. Flügge in diesem Band. 17
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zu nehmen. Daß Zitzewitz aber auch an den alle 14 Tage für jeweils 16 Personen stattfindenden Treffen der „Mittwochsgesellschaft“ teilnahm, fiel aus dem Rahmen und beleuchtet seine überragende Intelligenz.24 Schließlich gehörte er auch zum „Reusch-Kreis“, einer Vereinigung führender Persönlichkeiten aus Industrie, Landwirtschaft und freien Berufen, in dem er nicht nur Paul Reusch und anderen Größen der Industrie, sondern auch Goerdeler, Wentzel-Teutschenthal und Emil Woermann25 begegnete, aus dem Widerstand gegen Hitler bekannten Namen. Der bleibende und häufige Kontakt mit Goerdeler führte dazu, daß Zitzewitz unmittelbar nach dem 20. Juli 1944 in Muttrin verhaftet und in das Gefängnis Lehrter Straße in Berlin eingeliefert wurde, wo er monatelang Verhören ausgesetzt war. Dabei ging es so gut wie ausschließlich darum, daß Goerdeler ihm den Posten des Reichsministers für Ernährung und Landwirtschaft in einer Regierung nach der Beseitigung von Hitler angeboten hatte. Zitzewitz hatte dieses Angebot abgelehnt, einmal, weil ihm die personellen Dispositionen Goerdelers unzeitig erschienen, und zum anderen, weil er der Ansicht war, daß ein hinterpommerscher Großgrundbesitzer in die denkbaren Kombinationen nicht recht passen würde. Die übereinstimmenden Aussagen von Goerdeler und Zitzewitz über die Ablehnung dieses Angebots retteten Zitzewitz wahrscheinlich das Leben, da seinen übrigen Kontakten – aus welchen Gründen auch immer – in den Verhören nicht nachgegangen wurde. Diese Kontakte hätten ihn aus Sicht der Gestapo schwer belastet. So wurde allein wegen der Kontakte zu Goerdeler im Januar 1945 Anklage gegen ihn erhoben. Bei der ersten Verhandlung vor dem Volksgerichtshof führte Freisler noch den Vorsitz, dann machte der brennende Balken, der ihn erschlug, weiteren Haßtiraden ein Ende. Zu einer Verurteilung von Zitzewitz kam es auch bei der zweiten Verhandlung nicht, weil erneut vertagt wurde, um einen weiteren Zeugen zu hören. Und vor diesem dritten Termin eroberten die Russen Berlin. In den letzten Tagen vor der Befreiung drohte Zitzewitz allerdings noch einmal akute Lebensgefahr, weil die SS zur illegalen Vollstreckung übergegangen war und eine ganze Reihe von Häftlingen hinterrücks ermordete.26 Durch eine gnädige Fü24
Zur Mittwochsgesellschaft, die wir Heutigen meist nur aus dem Lebenslauf Einsteins kennen, gehörten vor allem Koryphäen aus der Wissenschaft, und Namen wie Meinecke, Curtius, Spranger, Laue, Heisenberg, Sauerbruch und – wie gesagt – Einstein sind nicht der normale Umgang für pommersche Landjunker. Unter dem Einfluß des preußischen Finanzministers Popitz kamen auch führende Männer des Widerstands gegen Hitler und das Regime hinzu. Vgl. Scholder, Klaus (Hg.), Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 – 1944, Berlin 1982, passim. 25 * Hoberge-Uerentrup bei Bielefeld 12. Dezember 1899, † Göttingen 15. September 1980, Professor in Halle, später in Göttingen. 26 Darunter ein Regimentskamerad von Zitzewitz, der Major Hans Dikter v. Salviati, * Stuttgart 23. 8. 1897, ermordet am 22. 4. 1945; zu dieser Gruppe von Ermordeten zählt auch Hans Koch Baltiae Königsberg. Ihm ist in diesem Band ein eigenes Lebensbild gewidmet. Auch Karl Ludwig Freiherr v. und zu Guttenberg, Mitglied des KV Rheno-Bavaria zu München, kam bei jenen Mordaktionen ums Leben; er ist in der ebenfalls in diesem Band enthaltenen Umfeldstudie zum Widerstand erwähnt und gewürdigt.
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gung entging Zitzewitz diesen Erschießungen, konnte in der kurzen Zeitspanne zwischen der Flucht der SS und dem Einrücken der Russen aus dem Gefängnis entkommen und überlebte in den Ruinen Berlins. II. Neuanfang und altbewährtes Engagement Im Gefängnis war Zitzewitz dem früheren Reichslandwirtschaftsminister Andreas Hermes27 wiederbegegnet, der, bereits zum Tode verurteilt, nur noch seine Hinrichtung abwartete, aber ebenfalls überlebte. Hermes, in buchstäblich letzter Minute befreit, wurde im Mai 1945 vom sowjetischen Stadtkommandanten zum Chef des Berliner Ernährungsamtes ernannt und damit, weil es 1945 ja ums nackte Überleben ging, zu der wichtigsten Behörde überhaupt. Es ist in hohem Maße typisch für Zitzewitz, daß er nicht in Heeren, der westfälischen Heimat seiner Frau, Zuflucht suchte, was ohne weiteres möglich gewesen wäre, sondern sich Hermes unter den grauenhaften Lebensbedingungen Berlins zur Verfügung stellte und das Generalreferat „Landwirtschaftliche Produktion“ übernahm. Praktisch – man muß sich das in die vertrauten Termini übersetzen – war das die Stellung des Staatssekretärs im Ernährungsministerium Berlin. Und es gelang dem Ernährungsamt tatsächlich, die zu erwartende Hungerkatastrophe für Berlin abzuwenden. Hermes und Zitzewitz planten, die Zuständigkeit des Ernährungsamtes auf ganz Deutschland auszuweiten und so eine erste, die Zonengrenzen überspringende Zentralbehörde zu etablieren, und Zitzewitz begründete die Notwendigkeit einer solchen Zentralbehörde in einer Denkschrift mit faszinierender Sachlogik zum Wiederaufbau der Landwirtschaft, zur Deckung des Eiweißbedarfs der Bevölkerung durch pflanzliche Fette und Eiweiße, da tierisches Eiweiß nach Vernichtung des gesamten Viehbestandes im Osten erst nach Jahren wieder verfügbar sein würde, zur Ersetzung von tierischer Zugkraft, die es aus dem gleichen Grunde nicht mehr gab, durch mechanische Zugkraft, zur Umstellung der Kriegsproduktion von Fahrzeugen auf landwirtschaftliche Traktoren. Die Entwicklung scheiterte am Widerstand des sowjetischen Stadtkommandanten, der die Pläne ganz im Gegenteil zum Anlaß nahm, dem Ernährungsamt die Arbeitsmöglichkeiten radikal zu beschneiden. Zitzewitz und Hermes, der erster Vorsitzender der von ihnen mitbegründeten Ost-CDU wurde, setzten die Arbeit im Vorstand der Partei fort, bis Hermes Ende 1945 von der sowjetischen Militäradministration als Parteivorsitzender abgesetzt wurde und in den Westen ging, um sich dem Wiederaufbau des Bauernverbandes zu widmen. Zitzewitz verfolgte die Versuche, den Ernährungsplan zu einem Schwerpunkt des Wirkens der Ost-CDU zu machen, unbeirrt noch bis 1948, mußte dann aber angesichts ganz anderer Interessen im Vorstand der Partei aufgeben und siedelte nach Bonn über. Der Versuch, dort eine zentrale Treuhand- und Beratungs27 * Köln 16. Juli 1878, † Krälingen 4. Januar 1964, Mitglied der KV-Verbindung RhenoBorussia zu Bonn.
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stelle für die westdeutsche Landwirtschaft zu errichten, scheiterte, wahrscheinlich weil die Betroffenen nicht einmal ihren Beratungsbedarf realisierten. Dafür versicherte sich die Bundesregierung seines Sachverstandes und berief ihn in den Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung, wo er in der Frage der enteigneten Besitze eine nicht an der juristischen Grundsatzposition, die Enteignungen seien nichtig und rückgängig zu machen, sondern die an betriebswirtschaftlichen Kriterien orientierte Auffassung vertrat, es komme mehr auf die rasche Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Güter an als auf die vollständige Rückgabe.28 Die Verdienste von Zitzewitz um die Re-Etablierung der Borussia in Bonn brauchen an dieser Stelle nicht dargestellt zu werden; sie sind groß. Hinzuweisen ist aber noch darauf, daß er ganz außerordentlich sprachmächtig war und daß es deswegen ein Genuß ist, seine immer etwas ironisch unterlegte Prosa zu lesen. In diesen, durch regelmäßige Berufstätigkeit nicht mehr belasteten Jahren schrieb er mehrere Bücher, eine Artikelreihe in der Deutschen Rundschau unter dem Pseudonym Cincinnatus und zahllose Aufsätze zur pommerschen Heimatgeschichte und zu landwirtschaftlichen Fragen, von denen zwei bei Verlagen erschienen sind;29 eine viel größere Zahl von Privatdrucken aus seiner Feder ist bei Freunden verbreitet worden. Seine eiserne Gesundheit, sein unermüdlicher Schaffensdrang und seine Aktivität trugen ihn bis ins 87. Lebensjahr. Er liegt nicht in der pommerschen Heimat, aber an einem Ort, den er auch liebte, begraben: in der westfälischen Heimat seiner Frau, auf dem Plettenbergschen Familienfriedhof Heeren.
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Diese ganz und gar vernünftige und – wie immer bei ihm – auf die Zukunft gerichtete Position trug ihm den wütenden Ärger einiger, weniger lebensnaher Standesgenossen ein. Es war ein schwerer politischer Fehler, daß der Forschungsbeirat im Zuge der Annäherungspolitik an die DDR aufgelöst wurde und die Bundesregierung, als die Wiedervereinigung sich wider Erwarten 1989 plötzlich ereignete, keinen Plan aus der Schublade ziehen konnte und unvorbereitet in die Verhandlungen mit der DDR und der UdSSR stolperte. 29 v. Zitzewitz, Friedrich-Karl, Vertriebenes Landvolk, Hamburg 1952; ders., Bausteine aus dem Osten. Pommersche Persönlichkeiten im Dienste ihres Landes und der Geschichte ihrer Zeit, Leer 1967.
Widerstand im Ausland
Karl Burian und das Corps Ottonen1 Von Christian Prosl v. Chodelbach Die legitimistischen Corps spielten in der Zeit nach der erzwungenen Abdankung der Habsburger in Österreich eine nicht unbedeutende Rolle. Heute, nach der Etablierung der Republik zwischen Donau und Bodensee, sind sie keine selbständige corpsstudentische Richtung mehr.2 Das Corps Ottonen ragt aus der legitimistischen Richtung hervor. Aus seinen Mitgliedern rekrutierte sich eine ganze Gruppe von Untergrundkämpfern gegen die Vereinnahmung Österreichs durch den Nationalsozialismus. Deren Leitung hatte einer inne, der mit allen Mitteln, auch unter Zuhilfenahme von Gewalt, die Donaumonarchie wiederherstellen und die nationalsozialistische Herrschaft in Österreich beenden wollte: Karl Burian. Dragoneroberleutnant a. D. Karl Burian wurde am 4. August 1896 in einfachen Verhältnissen in Wien geboren. Nach dem Besuch einer dortigen Volks- und Mittelschule trat er 1912 in die Kavallerie-Kadettenschule in Mährisch-Weißkirchen ein und verließ diese im Kriegsjahr 1915 als Fähnrich mit doppeltem Vorzug und zwei Streifen auf dem Kragen. Er kämpfte zunächst als jüngster Leutnant der Monarchie – die Kronen-Zeitung hatte 1917 aus diesem Grunde sogar sein Bild veröffentlicht – im k. u. k. Dragonerregiment Nr. 8 an der russischen Front in Galizien. Während eines Rückzugsgefechtes brach Burian infolge eines Kopfschusses bewußtlos zusammen und wurde von den Russen gefangengenommen. 1917 machte er sich mit einem deutschen Offizier von Sibirien aus auf die Flucht und gelangte bei Odessa in deutschen Befehlsbereich. Vor ein k. u. k. Kriegsgericht wegen Verdachtes der Feigheit gestellt, wurde er auf Grund seiner Verwundung freigesprochen, rückwirkend zum Oberleutnant ernannt und mit dem Militärverdienstkreuz nebst Kriegsdekoration bedacht. Nach einem weiteren Fronteinsatz wurde er zum persönlichen Schutz Kaiser Karls eingesetzt. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde Burian wie viele andere Offiziere entlassen und zwangsabgefertigt. Im Spätherbst 1918, gerade 22-jährig, versuchte er in der eben gegründeten Tschechoslowakei Monarchisten zu sammeln 1 Dieser Aufsatz entstand als Exzerpt unter Mitwirkung des Herausgebers aus dem Buch des Autors: Prosl v. Chodelbach, Christian, Tödliche Romantik. Das legitimistische Corps „Ottonen“, Wien / Berlin 2008, passim. 2 Die heute dem KSCV angehörende Danubia Graz hat ihre Wurzeln in der legitimistischen Richtung, sie versteht sich noch heute als ein der grundsätzlichen Tradition nach kaisertreues österreichisches Corps. Daneben gibt es die „Österreichische Studentenverbindung Ottonia“, die sich in der Tradition der Ottonen sieht und die am 19. 10. 2007 in ein Corps umgewandelt wurde.
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und wurde dort, als er damit aufflog, in absentia zum Tode verurteilt. Während des Restaurationsversuches für Kaiser Karl im Jahre 1921 wurde Burian verhaftet und ins Landesgericht Wien eingeliefert, wo er sechs Wochen verbrachte. Das Verfahren wurde jedoch schließlich auf Betreiben eines Geistlichen eingestellt. Burian hatte hohe Tapferkeitsauszeichnungen nach Hause mitgebracht, und er war der festen Überzeugung, daß nur eine Donauföderation unter der Führung eines Habsburgers Mittel- und Südosteuropa friedlich und fruchtbar zusammenhalten könne. Daher wurde er Mitglied des von der „Partei der österreichischen Monarchisten“ unter ihrem Vorsitzenden Ernst Freiherr von der Wense geschaffenen Versammlungsschutzes „Ostara“, einer Kampfgruppe, deren Mitglieder auf Kaiser Karl vereidigt wurden.3 Es handelte sich dabei um eine Gruppe entschiedener Legitimisten, der ehemalige Offiziere, aber auch Studenten und Kleinbürger angehörten. Ihr Ziel war es, die damals sowohl von linksradikaler als auch von radikal nationalistischer Seite heftig befehdete legitimistische Tätigkeit vor Angriffen zu schützen; auch wenn sie selbst in militärischen Dimensionen dachten und handelten, war es ihre Zielsetzung, jedwedem politischem Radikalismus zu begegnen und für die bis dahin bekannte, legitime staatliche Autorität zu kämpfen. Nach Oberleutnant von Szabo galt Burian bis 1932 als „Kapitän“ der Legion.4 Erhebliche Beachtung fand ein Zwischenfall am 17. Februar 1923, an dem die Partei österreichischer Monarchisten in Hietzing eine Versammlung veranstaltete. Auf dem Heimweg wurden einige Teilnehmer von Sozialdemokraten verfolgt und gaben, um sich zu verteidigen, einige Schüsse ab, wodurch einer der Angreifer, der sozialdemokratische Betriebsrat der Semperit-Werke, Franz Birnecker, getötet wurde.5 Ob Burian selbst in die Schießerei vom 17. Februar 1923 verwickelt war, konnte nicht geklärt werden. Neben seiner politischen Tätigkeit versuchte sich Burian als Bildhauer mit Figuren und Vasen für Schloß Schönbrunn, insbesondere für die Gloriette und den Neptunbrunnen im dortigen Park. Er machte auf seine Freunde und Mitarbeiter den Eindruck eines grüblerischen, mit unzähligen geistigen, vor allem aber politischen Problemen ringenden Menschen. An der Universität Wien studierte er nach dem Krieg zunächst drei Semester Philosophie. Von 1921 bis 1922 war Burian bei der Landwirtschaftlichen Krankenkasse als Angestellter tätig.
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Inwieweit und ob durch diese Namensgebung eine ideologische Verbindung zu der von Lanz von Liebenfels ab 1905 herausgegebenen Zeitschrift „Ostara“ beabsichtigt war oder eine solche womöglich bestand, ist nicht geklärt. Dies erscheint allerdings eher unwahrscheinlich, und zwar wegen der grundsätzlich diametralen politischen Ausrichtung der Zeitschrift, die zunächst als politisches Forum für alldeutsche Autoren fungierte und ab 1908 als Propagandaorgan für die obskuren Ideen ihres nunmehrigen alleinigen Herausgebers diente, zur Einstellung der Legitimisten. 4 Molden, Otto, Der Ruf des Gewissens, Wien 1958, S. 60. 5 Vgl. Wagner, Friedrich, Der österreichische Legitimismus 1918 – 1938; seine Politik und Publizistik, Diss. Wien 1956, S. 120.
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I. Das Corps Ottonen Das integrative Binnengeflecht der korporativen Milieus hatte auf den mitteleuropäischen Universitäten mehrere Aspekte. Zum einen schweißten die vom Männlichkeitskult dominierten Erziehungs- und Ertüchtigungsrituale, geprägt von Ehre, Satisfaktion, Trinkspielen, Waffengebrauch und Wehrertüchtigung, die jungen Studenten zusammen. Andererseits dienten diesen auch die Netzwerke und Altherrenschaften, die man bei Karriereüberlegungen anzapfen konnte. Schließlich kamen die Studentenverbindungen dem Geselligkeitsbedürfnis ihrer Mitglieder entgegen, das von den mitteleuropäischen Universitäten nicht gepflegt wurde. Hier standen – im Gegensatz zu den angelsächsischen Colleges – die fachliche Ausbildung und ein abstrakter Wissenschaftsgeist im Vordergrund, der weder auf Persönlichkeitsentwicklung noch auf Loyalitätsbindung der Studenten zur besuchten Institution setzte. Die Korporationen, und da stellten die „Ottonen“ keine Ausnahme dar, füllten diese „Humboldtsche Lücke“ und damit das Vakuum, das aus dem brachliegenden Verlangen nach studentischem Gruppengeist und aus der Anonymität des Lehrbetriebes erwuchs – und vielerorts noch erwächst.6 In diese Welt trat Burian nun ein. Als offizieller Stiftungstag der Ottonen gilt der 18. Oktober 1922, der Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig 1813. Die Ottonen waren als legitimistisches und kaisertreues Corps gemeinsam mit sechs anderen legitimistischen Corps7 im W.S.C. zusammengeschlossen.8 Bereits am 26. August jenes Jahres war eine Vorgängerverbindung, die „Deutsch-akademische Verbindung Ottonen“ gegründet worden. Burian, der zuvor schon einer Verbindung angehört hatte,9 war an dieser Gründung bereits beteiligt. Er war ein Ottone der ersten Stunde. Die Corpserklärung der „Ottonen“ erfolgte unter Senior Drahowzal am 20. November 1926, dem Geburtstag Ottos v. Habsburg. Dadurch wurde auch öffentlich das Bekenntnis der „Ottonen“ für Kaiser und Reich kundgetan, „da nach Tradition vom Jahre 1783 der jeweilige rechtmäßige Landesherr Allerhöchster Corpsinhaber ist“.10 Die Ottonen waren damit die erste legitimistische Korporation, „der die 6 Schmidt, Rainer F., Beschränkte Sicht, Rezension von: Hartmann, Gerhard, Für Gott und Vaterland. Geschichte und Wirken des CV in Österreich, F.A.Z. Nr. 197, 25. August 2006. 7 Es handelte sich dabei um: Wasgonia, gegründet am 20. Juni 1920, Corps seit 2. April 1925; Wikinger, gegründet am 1. April 1922, Corps seit 12. März 1926; Palaio-Austria, gegründet am 18. Oktober 1922, Corps seit 24. Februar 1927; Athesia; Woelsungen, gegründet am 10. Oktober 1929, und Karolinger, gegründet 1932. 8 Der W.S.C. war einer der drei „Seniorenconvente“, die das Wiener Korporationsleben mit etwa 20 akademischen Corps in den 20er und 30er Jahren bestimmten. Die dort zusammengeschlossenen Corps gehörten nicht dem „Wiener Waffenring“ an, gaben aber Satisfaktion und schlugen Bestimmungsmensuren. Auch in anderen Universitätsstädten gab es legitimistische Corps, zum Beispiel in Graz, wo noch heute Danubia Bestand hat. 9 Es handelt sich um Wasgonia, 10 Czapka-Winstetten, Siegfried, Kurzer Abriß der Geschichte des Corps „Ottonen“, Flugblatt 1930.
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Auszeichnung zuteil wurde, in der Person Seiner Majestät ihren Corpsinhaber sehen zu dürfen“.11 Die Titeländerung in „Akademisches Corps Ottonen“ wurde von der Vereinsbehörde am 24. Februar 1927 bewilligt, das damals zugrundeliegende Statut enthielt – das bedarf für jene Jahre durchaus der Erwähnung – keinen Arierparagraphen. Die Gestalt des Corpswappens, des „Ottonen-Paniers“, wurde am Convent vom 21. März 1929 beschlossen. Die Ottonen hatten im Hotel Union in der Nussdorferstraße im 9. Bezirk ein Verbindungsheim, ihre „Bude“, der Fechtboden befand sich in der nahegelegenen Altmüttergasse Nr. 5.12 Burian, den seine Kommilitonen außerordentlich schätzten,13 war das „soziale Gewissen“ der Ottonen.14 So hat es seinen Freunden einen tiefen Eindruck hinterlassen, daß er in der Zeit des größten Elends seinen Rock versetzte, um einem von ihnen helfen zu können.15 Burian war von wahrer sozialer Gesinnung, kannte weder Unterschiede nach oben noch nach unten, war aber gewohnt, hohe persönliche Anforderungen zu stellen. Er betonte jedoch auch immer wieder seine These von der „Sozialen Monarchie“, in der der Kaiser als der oberste Garant der Sicherung der Arbeiterrechte und der sozialen Errungenschaften zu fungieren habe.
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Ebd. Das Corps war keine politische Vereinigung, sondern sah nach § 1 der Statuten seine Aufgabe darin, die Mitglieder „in aufrichtiger Freundschaft zu verbinden“. Das war auch ein Grund dafür, warum die gesellschaftlichen Veranstaltungen von so großer Bedeutung waren. Ziel der Vereinigung war es, „ohne Beeinflussung der religiösen und wissenschaftlichen Richtung die Mitglieder zu Vertretern eines ehrenfesten Studententums zu erziehen“, was immer darunter verstanden wurde. Jedenfalls war trotz verschiedener Vorträge über die Monarchie und die Habsburger, die teils schlecht besucht waren, und der Teilnahme von prominenten Vertretern des Staates an den diversen Veranstaltungen keine politische Schulung damit verbunden – was sich später als Nachteil herausstellen sollte. Andererseits stellte die Vereinigung mit ihrem Wahlspruch „Kaiser und Reich“ doch ein politisches Programm auf. Die notwendigen Mittel fehlten jedoch gänzlich, was wiederum den Zwiespalt offenlegt, unter dem die Legitimisten im allgemeinen und die Ottonen mit ihrer ausgeprägten monarchistischen Haltung in einem diesbezüglich ablehnenden studentischen Milieu im besonderen litten. Man schwelgte in Nostalgie und illusionärer Erwartung, ohne sich konkret für die unbestimmten und vagen, aber doch formulierten Ziele einzusetzen bzw. sich für deren Verwirklichung vorzubereiten. Fast möchte man an die Parallelaktion von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ denken. 13 Ernst Prosl v. Chodelbach, der Vater des Autors, diesem gegenüber in mehreren Gesprächen; vgl. Klein, Willy, Abenteurer wider Willen, hrsg. vom Österreichischen Verein für Studentengeschichte, Wien / Berlin 2006, S. 28: „Hauptmann Karl Burian, so sanft und gleichzeitig so entschlossen im Kampf gegen den Nazismus, dabei so arm, daß er sich nicht oft ein Stück Fleisch auf dem Teller leisten konnte“; ebd., S. 58: „Karl Burian, der Mutigste der Mutigen“. 14 Burian hatte ein ausgeprägtes Sozialgefühl, arbeitete auch zeitweise als Garagenmeister in der Roten Sterngarage und in verschiedenen anderen manuellen Berufen mit großer Freude, da sie ihm den engen Kontakt mit der Arbeiterschaft ermöglichten und er seine ehrliche Bereitschaft zur Nächstenliebe immer wieder dokumentieren konnte. 15 Molden, Otto, Der Ruf des Gewissens – der österreichische Freiheitskampf 1938 – 1945, Wien 1958, S. 60; von Burians Sohn Othmar wird diese Geschichte in Zweifel gezogen. 12
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Burian war 1934 beim Freiwilligen Schutzkorps des Wiener Heimatschutzregiments Nr. 4 aufgeboten und wurde 1935 Bataillonskommandant-Stellvertreter der Stabsabteilung des niederösterreichischen Heimatschutzes in Wien. Im Oktober 1936 wurde er reaktiviert und als Oberleutnant in das österreichische Bundesheer übernommen. In dieser Pflicht war er auch im Frühjahr 1938, als Bundeskanzler Kurt Schuschnigg um die Unabhängigkeit Wiens von Berlin kämpfte. Aber Schuschnigg war nicht bereit, „deutsches Blut zu vergießen“. Für ihn, einen der typischen Vertreter der Generation, die noch ganz im Geiste des Heiligen Römischen Reiches der Reichsidee verhaftet war, kam Waffengewalt gegen das deutsche Brudervolk einer Denkunmöglichkeit gleich. Doch zur Schande Österreichs mußte Hitler die bei ihm durchaus vorhandene Bereitschaft, auch Blut zu vergießen, nicht einmal umsetzen. „Die tragische Schuld Schuschniggs und aller anderen damals führenden österreichischen Staatsmänner aller Parteischattierungen liegt darin, daß sie gleichzeitig Österreicher und Deutsche sein wollen: sie besitzen die Liebe zu ihrem Heimatland Österreich, aber doch nicht die Kraft, die letzte und logische Konsequenz zu ziehen.“16 Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich ergab sich auch für die Ottonen eine neue, gefährliche Lage. In einem geheimen Convent im hinteren Teil des Votivpark-Cafés wurde der Vorschlag von Willy Klein zur formellen Selbstauflösung und der Gang in den Untergrund mit überwältigender Mehrheit angenommen.17 Der Hinterlegung des offiziellen, von Julius „Ussy“ Kretschmer als Schriftführer, Karl Burian als Schatzmeister und Willy Klein als Präsidenten unterzeichneten Auflösungsprotokolls des Corps per 13. März 1938 bei der Vereinsbehörde durch Senior Willy Klein waren dramatische Tage und Stunden vorausgegangen. Der Vereinsbehörde wurde mitgeteilt, daß „der am heutigen Tage zusammengetretene Chargenconvent die Selbstauflösung des akad. Corps Ottonen in Wien beschlossen hat“. Klein hatte bereits vorher die Mitgliederliste im inneren Hohlraum einer Statue von Kaiser Karl versteckt und die Statue mit Hilfe seiner Freunde im Keller einer alten Tante Kreuzers im 9. Bezirk deponiert. Über das Schicksal der Statue ist weiter nichts bekannt. II. Widerstand und Verfolgung Nach der Eingliederung des österreichischen Bundesheeres in die Deutsche Wehrmacht im Jahre 1938 wollte Burian umgehend das Heer verlassen, blieb aber nach einer Unterredung mit Krausz-Wienner,18 der davor warnte, nicht den Fehler 16 Stillfried, Alphons, Die österreichische Widerstandsbewegung und ihr Rückhalt im Volk, Vortrag im großen Musikvereinssaal, gehalten am 17. Juni 1946, Wien 1946, Seite 5. 17 Klein, Willy, op.cit., S. 73. 18 Ludwig Krausz-Wienner, Senior SS 1929, WS 1929/30, stammte aus einer oberungarischen Familie und wurde am 7. Oktober 1904 in Wien geboren. Noch in seiner Schulzeit, im Jahre 1922, meldete er sich durch Vermittlung eines Bekannten zum Eintritt in die russische Wrangel-Armee, später setzte er seine Schulausbildung fort. Nach der Matura am Humani-
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von 1918 der Offiziersflucht aus dem Heeresverbandes zu wiederholen, in der Wehrmacht. Auch der Wunsch Ottos von Habsburg, er möge bleiben, dürfte eine Rolle gespielt haben, vielleicht war das sogar ausschlaggebend. Einige Corpsmitglieder waren in den Vorbereitungen für die von Bundeskanzler Schuschnigg angekündigte Volksabstimmung eingebunden und hatten Pakete mit Flugblättern verteilt. Als am Samstag, den 12. März, die Nachricht kursierte, Himmler sei in Wien gelandet, trafen sich die Corpsmitglieder bereits in größter Sorge am Sitz der Verbindung, in der Almuttergasse 5. Willy Klein beschrieb die Zusammenkunft in seinen Memoiren:19 „Die Chargen des Corps, Ussy, Kothmayer, waren bereits anwesend, dann kamen die treuesten Alten Herren, meine Vorgänger als Senioren: Ludwig Krausz-Wienner, der aktive Hauptmann Karl Burian, der Ingenieur Kurt von Keller, Othmar Slavik, der in Solothurn in der Schweiz wohnte, aber oft nach Wien kam, Jenö, Direktor des Fremdenverkehrsbüros und ehemaliger Offizier mit einem steifen Bein seit der Isonzo-Schlacht 1917, Mag. ,Tiperl‘ Wotypka,20 Erwin Drahowzal,21 Balder genannt, Gründer des Corps, ehemaliger stischen Gymnasium im Jahre 1926 studierte er an der Universität Wien Jus und Geschichte, legte aber keine Abschlußprüfung ab. Krausz-Wienner, ein begnadeter Erzähler und politischer Kopf, war einer der Engagiertesten des Corps. Er vertrat kompromißlos die Wiedervereinigung des Donauraumes „zur Unterkunft der verschiedenen Nationen, die unabhängig sein müssen – sowohl von Berlin, von Wien und vom ehemaligen St. Petersburg“. Im Untergrund als Ostkurier und Politkommissar tätig, wurde er nach dem Verrat der Gruppe 1939 verhaftet und 1943 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. 19 Klein, Willy, op. cit., S. 70 ff. 20 Josef „Tiperl“ Wotypka, Senior WS 1930/31, SS 1932, SS 1933, stammte aus einer altösterreichischen Beamtenfamilie und wurde am 18. Februar 1899 in Wien geboren. Er trat 1917 als Kriegsfreiwilliger beim Schützenregiment 1 in Wien ein. Nach dem Zusammenbruch im Herbst 1918 schied er als Korporal aus dem Heeresdienst aus. Er beendete danach seine praktische Ausbildung mit der Ablegung der Tirozinalprüfung in Mödling im Oktober 1922 und dem Rigorosum im Jahre 1925. Während des Studiums verfolgte er auch eine praktische Berufsausbildung als Sustenant in verschiedenen Wiener Apotheken. Wotypka war von Ende 1918 bis 1922 Mitglied der von Oberst Wolff geführten „kaisertreuen Volkspartei“. 1924 trat er den „Ottonen“ bei und galt bald als eines der führenden Mitglieder; er engagierte sich auch im „Zentralkomitee der monarchistischen Bewegungen“. Wotypka wurde im Prozeß gegen die Gruppe Burian zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. 21 Hauptmann a. D. Erwin Drahowzal, der wohl der ursprüngliche Initiator der Idee, die „Ottonen“ zu gründen, und Richtungsgeber des Corps war, wurde 1889 in Mährisch-Budwitz geboren. Er war wegen seines Mutes und Idealismus hoch angesehen. 1914 wurde er als Fahnenoffizier eingeteilt, er übernahm einen Monat später das Kommando der 9. Feldkompanie im k. u. k. Infanterieregiment Nr. 40 „Ritter von Pino“. Dort kämpfte er u. a. zusammen mit dem damaligen Hauptmann Eduard Prosl, dem Vater der späteren Ottonen Ernst und Hans von Prosl, gegen die Russen, wurde dabei verwundet, aber von seinem Kommandanten neuerlich ohne Widerrede in den Kampf geschickt. Im Mai 1915 wurde er bei Ondrzechowa in Galizien erneut äußerst schwer verwundet und wurde in der Folge als ein zu jedem Truppendienst ungeeigneter Invalid klassifiziert. Auf ausdrücklichen eigenen Wunsch wurde er jedoch wieder felddiensttauglich erklärt. Mehrfach wurde er im Kriegsverlauf schwer verwundet, verblieb aber immer bei der Truppe und wurde am 26. April 1918 mit Armeebefehl belobt. Drahowzal erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Orden der Eisernen Krone, das Verdienstkreuz III. Kl., das Signum laudis, das Karl Truppenkreuz und die Verwundeten-
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Hauptmann der Infanterie und Artillerie-Experte, Ernst Prosl v. Chodelbach, Tilo genannt, Verwalter des Gutes des Grafen Jankovics in Ungarn, Kreuzer und viele andere. Sie waren alle gekommen, um in dieser ernsten Stunde gemeinsam zu einer Entscheidung zu gelangen. Jeder wiederholte natürlich die üblichen Falschmeldungen, aber es gab auch äußerst alarmierende Informationen, die man von den ausländischen Sendern von Budapest, Zürich, Prag, Italien und auf den Wellen von Nazi-Deutschland aufgeschnappt hatte. Auch der ewige, unvermeidliche, treue ,Verkehrsgast‘ Materna trifft ein.“ Die Nachrichten waren nicht nur ernst, sie waren furchtbar. Bereits am 14. März 1938 wurde der NSDStB zur einzigen Studentenorganisation erklärt, in der auch die Waffenstudenten, Burschenschaften und sonstige Verbindungen aufzugehen hätten. Seyss-Inquart, inzwischen vom schwachen Bundeskanzler zum Innenminister ernannt, hatte die Gefängnistore für alle Parteigänger der bis dahin verbotenen Nationalsozialisten geöffnet – auch für diejenigen, die kriminell geworden waren. Die bis zu diesem Zeitpunkt ebenfalls gesetzlich verbotenen SA und SS defilierten offen und in Uniform in der Innenstadt von Wien, Graz, Linz und Klagenfurt. Und kein Protest kam aus Paris, kein einziges Wort aus London. Totenstille. Die Totenglocken läuteten für Österreich. Die Ottonen versammelten sich abermals, diesmal an geheimem Ort. Klein, der Senior, ergriff das Wort: „Unter diesen Umständen glaube ich, daß es meine Aufgabe ist, euch einige Notmaßnahmen vorzuschlagen, schon allein um einige Leben zu retten. Zunächst sind die Mitgliederlisten zu verbrennen oder zu verstecken. Dann schlage ich vor, das Corps der Form halber aufzulösen und den Kampf im Untergrund fortzusetzen. Wir müssen alle verantwortlichen Funktionen doppelt besetzen, denn es ist sehr wahrscheinlich, daß jeder einzelne von uns in den nächsten Tagen Gefahr läuft, verhaftet zu werden, da wir ja der Polizei durch die jährliche Mitteilung unserer Wahlen bekannt sind.“ Jenö erhob sich mit Tränen in den Augen: „Ich bin verloren, die Nazis hassen mich, ich habe mein Büro unbarmherzig von allen Nazis gesäubert. Ich bin bereit, auf diesen Hitler zu schießen und mir dann eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Das ist jedenfalls besser, als in Dachau zu krepieren!“ Zwei andere waren ebenfalls bereit, ein Attentat vorzubereiten. Burian schlug mit beeindruckender Ruhe vor, mit kühlem Kopf über Detailpunkte nachzudenken und am folgenden Tag, einem Sonntag, im Café Votivkirche in der Währingerstraße neben dem Votivparkkino ein nächstes Treffen anzuberaumen. Das war ein sehr ruhiges Café, in dem es ein kleines Extrazimmer gab, durch einige Stufen und eine Balustrade vom eigentlichen Café getrennt. Die Ottonen waren dort nicht bekannt, eine Denunziation war unwahrscheinlich. Das Treffen war für acht Uhr abends anberaumt und jeder wurde gebeten, alle Freunde zu benachrichtigen, die er übers Telephon erreichen könne. Medaille. Er war im WS 1924/25, im SS 1925 und dann wieder im WS 1926/27 Senior des Corps. Darüber hinaus fungierte er über viele Jahre hindurch als Fuchsmajor. Es ist wahrscheinlich nicht falsch, von ihm als dem „Übervater“ der Ottonen zu sprechen. Sie alle traten ihm bis zu seinem Lebensende mit Ehrfurcht und Bewunderung entgegen.
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Sonntagabend im Votivpark-Café: viele waren gekommen, sehr viele. Der Konvent der Ottonen votierte eindeutig für den Untergrund. Klein sollte den neuen Machthabern umgehend die formelle Auflösung des Corps bekanntgeben. Diejenigen der Chargen des Corps, die sich der Verhaftung noch entziehen konnten, sollten versuchen, entweder Belgien oder Frankreich zu erreichen, um mit Otto von Habsburg in Stenookerzeel oder in Paris Kontakt aufzunehmen. Willy Klein schrieb weiter in seinen Memoiren: „Hauptmann Burian wird als Chef der UntergrundOrganisation bestimmt, und er übernimmt dieses Amt, ohne sich bitten zu lassen. Magister Tiperl, mit seinem wirklichen Namen Wotypka, Ludwig Krausz-Wienner, Erwin Drahowzal, Rochus Kosak,22 Krinninger23 und der Lehrer Kretschmer24 erklären sich bereit, den inneren Kern der Schattenorganisation zu bilden.“ Neben diesen sind auch Petrus Blandenier und Ernst Prosl v. Chodelbach zum engeren Kern der Gruppe zu zählen.25 Das Corps hatte offiziell zu bestehen aufgehört. Die 22
Rochus Kosak, geboren am 1. Juli 1907 in Wien, war einer der engsten, aber auch schillerndsten Mitarbeiter Burians. Er arbeitete zunächst eine Zeitlang als KFZ-Geselle, wurde dann arbeitslos und besuchte ab 1937 die Maschinenbau- und Elektrotechnikschule in der Laimgrubengasse im 6. Bezirk. Von 1932 bis zum Verbot der NSDAP im Jahre 1933 war er Mitglied der SS-Motorstaffel II in Wien, trat aber im selben Jahre dem Reichsbund der Österreicher bei, dem er bis zu seiner Verhaftung angehörte. Da er nicht Student war, war er auch kein Mitglied der „Ottonen“. Kosak war in die wesentlichsten Tätigkeiten der Gruppe eingeweiht und nahm an allen wichtigen Zusammenkünften der Gruppe teil. Er dürfte – aus blindem Vertrauen, aus Geltungssucht oder aus Unvorsichtigkeit – Materna, der im bezahlten Dienste Burians für eine Sonderaufgabe stand, trotz energischen Gegenbefehls von Seiten Krausz-Wienners über das Notwendigste hinaus mit zahlreichen Informationen über die Gruppe versorgt haben. 23 Josef „Rinaldo“ Krinninger (WS 1931/32) wurde am 1. April 1904 in Brünn als Sohn deutschstämmiger Eltern geboren, besuchte dort das Realgymnasium und studierte nach der Matura an der Hochschule für Bodenkultur in Wien, wo er im Sommer 1927 das Ingenieursdiplom und 1928 den Doktortitel erwarb. Von Herbst 1929 bis zum Frühjahr 1932 studierte er an der Universität Wien Staatswissenschaften. Er gehörte seit 1929 den Ottonen und dem St. Georgs-Ritterorden an, war seit Juni 1933 Mitglied der Vaterländischen Front und von Februar 1935 bis zum Anschluß Mitglied des Reichsbundes der Österreicher. Im Juni 1934 trat er den ostmärkischen Sturmscharen, Ortsgruppe Grossau, bei und war dort ab 1936 Ortsführer der Frontmiliz. Auch er war Mitglied des sogenannten „Zentralkomitees der monarchistischen Bewegungen“ und wurde im Prozeß gegen die Gruppe Burian zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Er kam zu Kriegsende unter tragischen Bedingungen um. 24 Julius „Ussy“ Kretschmer (Senior SS 1930) wurde am 15. April 1908 in Wien geboren und studierte nach dem Besuch der Realschule an der Universität Wien Germanistik und Romanistik. Bevor Kretschmer den „Ottonen“ beitrat, war er Mitglied des Corps der „Wikinger“. 1933 trat er der Vaterländischen Front bei. Im Mai 1938 erhielt er eine Anstellung als provisorischer Lehrer an einer Knabenvolksschule in Wien. Kretschmer war im Untergrund Mitglied des „Zentralkomitees der Monarchistischen Bewegungen“, das unter der Führung von Karl Burian im Wesentlichen aus Mitgliedern des offiziell aufgelösten Corps Ottonen bestand. Nach Aushebung der Widerstandsgruppe wurde Kretschmer 1943 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. 25 Fritz, Herbert / Krause, Peter (Hrsg.), Farbe tragen – Farbe bekennen. Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung, Wien 2013, S. 145; vgl. ebd., S. 171: dort weitere Namen von Helfern Burians, die teils Angehörige österreichischer CV- und KV-Verbindungen waren.
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Mehrzahl der Ottonen, etwa 50 Corpsbrüder, begaben sich in den Untergrund. Die Ottonen sind damit die einzige farbentragende Verbindung im gesamten deutschen Sprachraum, die sich per Beschluß in toto dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus verschrieben hat.26 Tags darauf, am Abend des 15. März, sprach Adolf Hitler vom Balkon der Hofburg auf den mit Menschenmassen überfüllten Heldenplatz und stattete „der Geschichte die größte Vollzugsmeldung seines Lebens“ ab. Während dieser Rede erschoß sich auf dem Balkon seiner Wohnung der Ottone Jenö aus Verzweiflung über den Gang der Entwicklung, nachdem er zuvor zwei SS-Männer, die ihn verhaften wollten, schwer verletzt hatte. Einige Tage später wurde Klein verhaftet und in das berüchtigte Hotel Metropol am Morzinplatz im ersten Bezirk eingeliefert – in das Hauptquartier der Gestapo. Es folgte ein eingehendes Verhör, bei dem sich Gestapo-Männer nach dem Corps und dessen Ziele erkundigten. Das Verhör endete mit einer schallenden Ohrfeige, durch die er einen Zahn verlor. Dann wurde er in eine Zelle gesperrt. Am nächsten Tag jedoch wurde Klein überraschend von zwei ihm unbekannten Wärtern aufgefordert, sich schnell fertigzumachen. Sie stellten ihm einen Passierschein und entließen ihn ohne weitere Fragen. Wenige Stunden später bestieg er einen Zug in die Schweiz. Von dort reiste er unverzüglich nach Paris, wo er mit dem Verbindungsmann der Legitimisten zu Otto von Habsburg, Dr. Fuchs, Kontakt aufnahm. Bis Dezember 1938 blieb er in Paris, er überlebte ein Blausäure-Attentat, das Nazis auf ihn verübten, und floh dann weiter in den Südwesten Frankreichs. Die etwa 50 Ottonen,27 die in Wien geblieben waren und sich für den Widerstand entschieden hatten, trieben ihre Tätigkeit intensiv voran. Man traf sich im Café Schwarzspanierhof, um Art und Umfang der illegalen Tätigkeit festzulegen. Der Kreis der Verschworenen sollte möglichst klein gehalten werden, im Interesse der Sicherheit der Mitkämpfer war größte Vorsicht und Disziplin zu wahren. Mit der Wahl von Karl Burian übernahm ein operativ denkender, erprobter und unerschrockener Mann die Führung. Burian hatte als einer von drei Offizieren von 50.000 Mann des Bundesheeres den Eid auf Hitler verweigert. Ab ihrer Entscheidung zum Widerstand im Untergrund und der Übernahme des Vorsitzes durch Burian nannten sich die Ottonen „Gruppe Burian“ und versuchten zunächst, neue Mitglieder zu werben und verschiedene Verbindungen mit dem Ausland herzustellen. Über Alfred Slavik in der Schweiz stand Burian mit Willy Klein in Paris in laufendem brieflichem Kontakt. Dort agierte Otto von Habsburg, zu dem ein Zugang über den ehemaligen Presseattaché an der österreichischen Botschaft, Dr. Martin Fuchs, hergestellt wurde. Burian stellte darüber hinaus über 26
Schuschnigg, Heinrich v., in: Plöchl, Willibald, Die katholisch-österreichischen Landsmannschaften und die Erhaltung der Unabhängigkeit Österreichs, in: Neue Blätter, Zeitschrift der KÖL Maximiliana, Nr. 3, 2007, S. 5. 27 Luza, Radomir, Der Widerstand in Österreich 1938 – 1945, Wien 1985, S. 44.
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polnische Diplomaten Verbindungen zu hohen Warschauer politischen und militärischen Kreisen her. Im Frühsommer 1938 übertrug Otto von Habsburg über Willy Klein der Gruppe Burian die Aufgabe, „die gesamte illegale monarchistische Arbeit in Österreich soweit wie möglich zu organisieren bzw. zu koordinieren“.28 Burian bildete daraufhin aus den aktivsten und erprobtesten Leuten der Gruppe das sogenannte „Zentralkomitee“, das sich unabhängig von der Arbeit in der Gruppe dem Aufbau der monarchistischen Tätigkeit in Österreich widmen sollte. Diesem Zentralkomitee, das auch unter seiner Leitung stand, gehörten als sein Stellvertreter Wotypka, als Organisationsleiter Rochus Kosak, der nicht Ottone war, sowie der Gutsbesitzer Dr. Krinninger29 und als Propagandabeauftragter Kretschmer an, der sich seinerseits bereit erklärte, eine legitimistische Gruppe aufzubauen. Ihre Aufgabe war es, Gelder und Zeitschriften, die vom Ausland hereinkommen, an die einzelnen Gruppen weiterzuschicken und weiterzugeben, allerdings auf eine Weise, daß diese nicht wissen und nicht wissen können, von wem sie diese erhielten. Burian wollte selbst nicht in Erscheinung treten.30 Diese antinationalsozialistische Aufklärungstätigkeit war deswegen notwendig, weil die intensive NS-Propaganda einen Überblick über die tatsächlichen Verhältnisse, die systematischen Kriegsvorbereitungen sowie die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes fast unmöglich machte. Burian nutzte seine Kontakte zu Otto von Habsburg über Willy Klein. Nächstes Ziel war es, nach Abschluß erster Werbetätigkeiten ab Weihnachten 1938 eine festgefügte Organisation zu bilden. Unter Zuhilfenahme von Geldmitteln spähten Burian und – in seinem Auftrag – Materna, der später als Verräter enttarnt werden sollte, die Stärke von in München und Wien liegenden Truppenteilen der Wehrmacht aus. Der Ottone Krinninger und seine Frau fuhren am 15. September nach Vienne bei Lyon zu einer Zusammenkunft mit Otto von Habsburg im „Hotel du Nord“. Otto von Habsburg vertrat bei dieser Gelegenheit die – irrige – Ansicht, daß es wegen der tschechoslowakischen Frage zu einem Krieg zwischen Deutschland, Italien sowie Ungarn auf der einen, und Frankreich, der Tschechoslowakei, England sowie den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite kommen werde. Er zeigte sich andererseits über die innenpolitische Lage in Österreich sehr gut informiert, überschätzte aber sichtlich das Engagement der Österreicher für die Monarchie. Die Zentrale der legitimistischen Organisationen befand sich zu diesem Zeitpunkt in Prag, und Burian fungierte als Landesleiter für Wien und hielt dauernden Kontakt auch zu polnischen Geheimdienstkreisen. Am 26. September fand ein solches Treffen Burians mit dem polnischen Geheimdienstmann Gabrinowicz im Wiener 28
Molden, op. cit., S. 61. Krinninger war bereits seit März 1938 im Visier der Nazis. Schon am 12. März war ihm befohlen worden, seinen Besitz nicht zu verlassen. Außerdem hatte man ihm sein Auto entwendet und seine persönlichen Waffen abgefordert; vgl. dazu: Schreiben eines Freundes an Prosl vom 28. April 1938, im Besitz des Autors. 30 Kretschmer, Julius, Allen Gefahren zum Trotz – Widerstand, in: Danimann, Franz (Hrsg.), Finis Austriae – Österreich, März 1938, Wien / München / Zürich, 1978, S. 221. 29
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Stadtpark statt, bei dem Burian das von Materna und ihm zusammengestellte Material übergab und 1000 RM sowie Schreibflüssigkeit für unsichtbare Schriftzeichen, sogenannte „unsichtbare Tinte“, in Empfang nahm. Paul Isch, der Schwager von Slavik, traf am 5. Oktober Burian und überreichte ihm Geld sowie einen Brief Slaviks, der Anweisungen für die legitimistische Tätigkeit und detaillierte Aufgaben betreffend Informationsbeschaffung enthielt: Slavik war von Otto von Habsburg am 30. September empfangen worden, der Burian bei dieser Gelegenheit den tiefsten Dank und die besten Wünsche mit der Bitte, auszuhalten, übermitteln ließ. In seinem Schreiben verlangte Slavik, keine Bindung mit den Kommunisten einzugehen, denn „der Chef hält die für gefährlich und will es nicht“. In Paris – aber auch in Warschau – hatte man überdies bereits erkannt, daß die von Materna gelieferten Unterlagen Phantasieprodukte waren und damit auch den Wert der anderen Dokumente herabsetzten. Burian erhielt präzise Aufträge, insbesondere das Ausforschen der Stärke und Lokalisierung der militärischen Einheiten auf österreichischem Gebiet sowie die entsprechenden Mobilisierungspläne. Mit den pathetischen Worten: „Vielleicht dauert es noch 6 vielleicht noch 10 Monate, aber dann gehört Österreich uns. Heil K.u.R.31, Servus, immer Deine Berthie“32 schließt dieses Schreiben. Nach dem zweiten Treffen mit Gabrinowicz war Burian an Materna mit dem Ersuchen herangetreten, ihm nunmehr die versprochenen militärischen Unterlagen zu beschaffen. Ihm muß da noch die Erkenntnis gefehlt haben, daß Materna ein Verräter war. Der hatte sich inzwischen mit der Abwehrstelle der Wehrmacht in Wien in Verbindung gesetzt und von dieser einige Unterlagen erhalten, die er Burian am 10. Oktober im Kaffeehaus „Schwarzspanierhof“ gegen eine Zahlung von 200 RM übergab. Gleichzeitig bestellte er Burian für den 13. Oktober wieder in das Kaffeehaus, um ihm die restlichen, angeblich von der Abwehrstelle erhaltenen Unterlagen zu übergeben. Durch Drahowzal, der mit militärischen Abwehrstellen in Verbindung stand, erfuhr die Gruppe jedoch, daß die Gestapo ihnen unmittelbar auf der Spur war. Als Drahowzal durch Krinninger Nachricht gab, daß die Verhaftung unmittelbar bevorstehe, war es zu spät für eine Flucht oder Gegenmaßnahme.33 Unmittelbar nach dem Treffen mit Materna wurde Burian beim Verlassen des Kaffeehauses festgenommen. Die Gestapo durchsuchte daraufhin mit zehn Mann von 19.30 bis 23.30 Uhr die Wohnung Burians und verhaftete seine Frau Anny.34 Sieben Gestapoleute quartier31
K.u.R. = Kaiser und Reich: Wahlspruch der Ottonen. Berthie: Deckname für Slavik. 33 Kretschmer, Julius, „Allen Gefahren zum Trotz – Widerstand“, in: Franz Danimann (Hrsg.), „Finis Austriae – Österreich, März 1938“, Europaverlag Wien / München / Zürich, 1978, S. 223. 34 Frau Burian blieb bis 4. November in Haft; die beiden Kinder, der 13-jährige Othmar und seine Schwester Trude, wurden Tag und Nacht unter Androhung der Verschickung ins Reich verhört. 32
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ten sich einen Monat lang in der Wohnung ein und warteten mit aufgelegter Pistole auf das Erscheinen Gabrinowiczs – vergeblich. Die Familie wechselte danach aus Angst vor der Wiener Gestapo mehrfach die Wohnung und zog schließlich mit Frau Burians Schwester Fanny Henzel von der Wickenburggasse in die Jordangasse im 1. Bezirk. Anny Burian versuchte verzweifelt, Arbeit zu finden, um ihre Familie ernähren zu können35. Burians junger Sohn Othmar malte weiter mit seinen Gesinnungsfreunden aus dem Akademischen Gymnasium sowie seiner Schwester Trude in der Nacht Krukenkreuze an die Wände und Tore der Wiener Innenstadt und klebte Flugblätter: „Herr mach uns frei von der Nazityrannei“ oder „Unser Motto Kaiser Otto“. Natürlich waren dies aus heutiger Sicht nur kleine Aktionen. Sie hielten aber die Gestapo auf Trab – und waren, wie man heute etwa von den Flugblattaktionen der Studentengruppe „Weiße Rose“ in München weiß, lebensgefährlich. Durch den Verrat eines der früheren „permanenten“ Gäste des Corps, Josef Materna, des angeblichen k. u. k. Offiziers und Mitarbeiter der ungarischen Gesandtschaft, wo er für den magyarischen Nachrichtendienst arbeitete, und der auch die Verhaftung von Willy Klein auf dem Gewissen hatte,36 sowie die Unvorsichtigkeit von Kosak gelang es somit der Gestapo Mitte Oktober 1938, innerhalb weniger Tage die führenden Persönlichkeiten der Gruppe Burian und damit praktisch das gesamte Zentralkomitee zu verhaften. Unerklärlich ist, warum sich Burian nach der Flucht Willy Kleins nach Frankreich über die Schweiz im März 1938 und dessen schriftlichen Warnungen vor Materna, die er auch Otto von Habsburg gegenüber in Paris im Frühjahr 1938 wiederholte,37 überhaupt mit diesem, dem Verräter, noch weiter eingelassen hat. Krausz-Wienner behauptet später, Materna im Jahre 1945 in Wien in Uniform als russischen Major gesehen zu haben. Er vertritt auch die Ansicht, daß auch Karl Friediger, der sich als Kontaktmann von Otto von Habsburg in Prag ausgab, ein Doppelspiel betrieben habe und nie dessen Vertrauensmann gewesen sei.38 Laut Anklageschrift war Friediger jedenfalls im tschechischen oder polnischen Nachrichtendienst tätig.
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Schreiben von Anny Burian an Ernst v. Prosl, 28. September 1939: „Ich weiß, wie schwer es ist, etwas zu finden, bin schon ganz verzweifelt und zermartert von diesem Lebenskampf, ich weiß nicht, von was ich mit den Kindern in den nächsten Wochen leben soll, wenn ich keine Arbeit finde. (…) Ich war niemals so trostlos wie jetzt. Lieber Ernst, sei mir nicht böse, daß ich so viel von meinen Sorgen spreche, aber ich mußte es mir herunterreden.“ 36 Klein, Willy, op. cit., S. 89, sowie Anklageschrift gegen Karl Burian u. a. vom 29. Oktober 1940, Verf.: Der Oberreichsanwalt beim Volkgerichtshof, Zl 8 J 324/39 g., S. 18; Joseph Materna war Mitglied der Heimwehr und arbeitete als Doppelagent: sowohl für die Nazis als auch für den ungarischen Geheimdienst. Über seinen Hintergrund und seine weitere Geschichte ist nach wie vor nicht mehr bekannt. 37 Klein, Willy, op. cit., S. 119. 38 Krausz-Wienner, Ludwig, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Erzählte Geschichte, Bd. 2: Katholiken, Konservative, Legitimisten, Wien, 19921, S. 285.
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III. Burians Leidensweg Nach seiner Festnahme durch die Gestapo wurde Karl Burian am 15. Oktober 1938 in das Landesgericht Wien eingeliefert, am 2. Mai 1939 an das Militärgefängnis Wien-Favoriten überstellt und am 1. Februar 1940 neuerlich in das Landesgericht eingeliefert. Wotypka, der in das Polizeigefangenenhaus in der Rossauerlände verschleppt worden war und nacheinander in den Zellen 44a, 32, 10 und 59a einsaß, wurde am 26. Juli 1939 dem Ermittlungsrichter des Volksgerichtshofes beim Landesgericht Wien zugeführt.39 Solange die Freunde im Landesgericht untergebracht waren, gaben die Angehörigen die Hoffnung nicht auf. Man versuchte, über alle möglichen Stellen zu intervenieren oder vielmehr intervenieren zu lassen, und klammerte sich an jeden Strohhalm. Die Schwägerin von Karl Burian schrieb am 22. Februar 1940 an Ernst Prosl v. Chodelbach: „Anny war am Donnerstag bei Deinem Vetter, und heute Freitag war ich bei ihm und hab ihm die Adresse von Karl gebracht. Er wird der Sache nachgehen und uns benachrichtigen, was mit ihm los ist. (…) Wir warten jetzt natürlich sehr auf das, was wir von Karl hören werden. Wir sind ja so froh, daß sich jetzt jemand um ihn kümmert, daß er nicht ganz so verlassen ist, und danken Dir vielmals für Deine Fürsprache.“40 Schließlich wurden die Angeschuldigten wegen Überfüllung der Wiener Gefängnisse im Jänner 1941 mit anderen politisch unzuverlässigen oder gefährlichen Österreichern nach Regensburg verlegt. Das Regensburger Landesgerichtsgefängnis war eine für damalige Verhältnisse sehr modern eingerichtete Aufnahmestelle: „Parkettboden, grüner Ölanstrich in den Zellen, das ist sehr beruhigend, auch für die Augen. (…) Außerdem ist die Verpflegung für damalige Verhältnisse in Ordnung, und mit dem Personal hat sich dort ein sehr gutes Verhältnis herausgestellt, denn diese Wachtmeister haben gewußt, das sind Politische, die stehlen nichts, und haben alle Aufgaben, die eigentlich kontrollmäßig sie hätten ausführen müssen, uns überlassen …“.41 Über die Gruppe Burian hinaus war eine große Anzahl von österreichischen Monarchisten eingeliefert worden. Daher setzte die Gruppe ihre Arbeit unbeirrt weiter fort. Einer von ihnen stellte zu Weihnachten 1942 in Laubsägearbeit mehrere etwa 14 Zentimeter hohe Figuren in voller Ottonen-Montur her, mit grüner Weste, schwarzen Schaftstiefeln und weißen Handschuhen. Nicht vergessen wurde auch der Schmiß auf der rechten Wange! Auf der Rückseite waren über dem Ottonenzirkel und dem Wappen der alten Kaiserstadt Regensburg die Worte zu lesen: „Festum Nativitatis Domini. Ratisbonae, MCMXLII“. Einige andere Häftlinge traten dort dem akademischen Korps der „Ottonen“ bei, unter ihnen das Mitglied der Widerstandsgruppe Hebra, Karl Alfons Portele, und Prälat Jakob 39
Am 24. August wurde er in das Landesgericht überstellt, am 25. August 1939, also fast einen Monat nach seiner Festnahme, wurde ein richterlicher Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er blieb bis 24. Jänner 1941 in Haft. 40 Brief im Besitz des Autors. 41 Krausz-Wienner, Erzählte Geschichte, S. 287.
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Fried. Fried war am 21. Nov. 1938 wegen Kontakten zur Gruppe Burian verhaftet und bei der Verhandlung vom 23. bis 24. Nov. 1939 vom Volksgerichtshof Wien wegen „Mithilfe bei Vorbereitung zum Hochverrat“ und „Nichtanzeige von verbrecherischen Umtrieben“ zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden.42 Karl Alfons Portele berichtet in seinen Erinnerungen:43 „Rückblickend war das wichtigste Ereignis in Regensburg der Kontakt von uns Hebra-Leuten mit den Ottonen. (…) Die Ottonen gaben nicht auf und versuchten auch im Gefängnis, für ihr Corps zu werben. (…) Die Seele der Ottonen war der Hauptmann Burian. Von ihm gingen auch die entsprechenden Initiativen aus. (…) Natürlich war es nicht so einfach, mit ihm in Kontakt zu kommen. Einzelhaft ist eben Einzelhaft. Dieses Problem wurde genial gelöst. Als Zellenarbeit gab es in Regensburg auch die Verfertigung von Zierdeckenuntersätzen aus Holzperlen. Burian bekam die Aufgabe, in seiner Zelle andere Häftlinge in dieser Arbeit zu unterweisen. Eine derartige Unterweisung dauerte meist einige Tage. Vor meiner Haft kannte ich Burian nicht. Er war sich seiner Verurteilung zum Tode bei der kommenden Verhandlung vollkommen sicher, aber scheinbar berührte ihn diese Aussicht wenig. Er war ein heiterer, humorvoller und abgeklärter Mann. Ich hatte den Eindruck, eher mit einem Künstler als mit einem Offizier zu reden. Er hatte zwei Anliegen. Erstens die Zukunft Österreichs und des Donauraumes. Zweitens das Corps der Ottonen.“ Karl Burian, Josef Wotypka, Ludwig Krausz-Wienner, Rochus Kosak, Julius Kretschmer, Dr. Josef Krinninger und seiner Frau Martha wurde schließlich nach über zweijähriger Untersuchungshaft im Oktober 1943 vom Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof der Prozeß gemacht. Sie wurden angeklagt, „vom Frühsommer 1938 bis Mitte 1938 in Wien und im Ausland, und zwar in der Schweiz, in der ehemaligen Tschechoslowakei, in Italien und Frankreich fortgesetzt und gemeinschaftlich untereinander oder mit anderen das hochverräterische Unternehmen, mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt ein zum Reiche gehöriges Gebiet vom Reiche loszureißen, vorbereitet zu haben.“ Burian und Krausz-Wienner wurden des weiteren angeklagt, Staatsgeheimnisse verraten zu haben. Wotypka, Krausz-Wienner, Kosak und Kretschmer wurde vorgeworfen, „zusammen mit Burian bei der illegalen legitimistischen Organisation in Wien mitgewirkt und im Einvernehmen mit dem Prager Bevollmächtigten Ottos von Habsburg, Friediger, führende Funktionen übernommen zu haben. KrauszWienner und Kosak haben sich außerdem an dem Schriftwechsel mit dem Pariser Vertrauensmann Ottos von Habsburg, Wilhelm ,Willy‘ Klein, beteiligt. KrauszWienner hat weiter zu Friediger, der, wie er wusste im tschechischen oder polnischen Nachrichtendienst stand, Beziehungen unterhalten, welche die Mitteilung wehrwichtiger Nachrichten zum Gegenstand gehabt haben.“ 42
Fritz, Herbert / Handl, Reinhart / Krause, Peter / Taus, Gerhard (Hrsg.), Farben Tragen, Farbe bekennen, 1938 – 45, Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung, Wien, 1988, S. 166. 43 Portele, Karl Alfons, Erzählte Geschichte, S. 296.
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In der Anklageschrift wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß Burian die Neuordnung der politischen Verhältnisse so unvereinbar mit seinen politischen Wünschen ansah, daß „er es bei der Vereidigung des früheren Bundesheeres auf den Führer unterließ, die Eidesformel nachzusprechen, weil er glaubte, auf diese Weise seinen im alten österreichischen Heere geleisteten Eid nicht zu brechen“. Damit dürfte Burian einer der wenigen Offiziere gewesen sein, die, wie Hugo von Rheden in Innsbruck, den Eid auf Hitler nicht geleistet hatten, aber doch in der deutschen Wehrmacht verbleiben konnten, sichtlich gedeckt durch hohe, antinationalsozialistisch eingestellte deutsche Offiziere.44 Als Ziel der legitimistischen Organisation des Burian stellt die Anklage die „gewaltsame Lostrennung der Ostmark vom Deutschen Reich und die Errichtung einer alle früheren österreichischen Gebietsteile umfassenden Monarchie unter Otto von Habsburg“ fest. Über die tatsächlich erreichte Tiefe und Breite der von Burian aufgezogenen Zellen finden sich keine weiteren Feststellungen, der Aufbau der Organisation war in der kurzen Zeit bis Mitte Oktober 1938 kaum abgeschlossen, zumal die Anwerbung von Mitgliedern bis Weihnachten 1938 hätte laufen sollen. Nach dem Überfall auf Polen hatte die Gestapo die Akten des polnischen Geheimdienstes mit den darin befindlichen Berichten sichergestellt. Sie kannte daher die Aktivitäten der Angeklagten im Detail. Die 101 Seiten lange Anklageschrift enthielt gegen alle Angeklagten den Vorwurf der „Vorbereitung zum Hochverrat“: alle sieben hätten durch ihre Tätigkeit den äußeren und inneren Tatbestand eines fortgesetzten Verbrechens der Vorbereitung zum Hochverrat unter erschwerenden Voraussetzungen erfüllt. Für Burian und Krausz-Wienner kam Landesverrat „in Tateinheit zum Hochverrat“ hinzu. Als Zeugen der Anklage traten der „Angestellte“ und ehemalige „permanente“ Gast bei den Ottonen, Josef Materna, und der Kriminalassistent Johann Sanitzer45 auf, wobei dieser bereits beim Verhör von Willy Klein im Hotel Metropol durch seine Aggressivität aufgefallen war46. Der Oberreichsanwalt beantragte, gegen die Angeschuldigten die Hauptverhandlung vor dem 2. Senat des Volksgerichtshofes anzuordnen, die Fortdauer der Untersuchungshaft zu beschließen und ihnen Verteidiger zu bestellen. Die Hauptverhandlung vor dem 2. Senat des Volksgerichtshofes fand am 7., 8. und 9. Dezember 1943 in Wien statt. Die Angeklagten erhielten alle ex-officioVerteidiger. Für Krausz-Wienner wurde Dr. Erich Führer, höherer SS-Funktionär, 44
Vgl. Molden, Otto, Ruf des Gewissens, S. 59. Johann Sanitzer war nachrichtendienstlicher Spitzenmann der Wiener Gestapo und leitete von 1942 bis 1945 das Referat für Sabotage, Funk- und Fallschirmagentenbekämpfung; vgl. Neugebauer, Wolfgang, Der NS-Terrorapparat, in: Emmerich, Tálos / Hanisch, Ernst / Neugebauer, Wolfgang / Sieder, Reinhard (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich: ein Handbuch, Wien 2002, S. 732; lt. Krausz-Wienner wurde Sanitzer 1945 zu lebenslänglichem Kerker verurteilt und trieb sich dann als Rußlandheimkehrer in Österreich auf freiem Fuß herum. Krausz-Wienner erstattete am 26. Jänner 1956 bei der Staatsanwaltschaft Anzeige gegen Sanitzer, diese blieb aber ohne Reaktion. 46 Klein, Willy, op. cit., S. 80 ff. 45
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bestellt. Dr. Führer lehnte eine Anzahlung, die Krausz-Wienners Vater leisten wollte, mit den Worten ab: „Nein, behalten Sie das Geld, es ist sowieso ein Todesurteil.“ Auf Drängen eines Bekannten wandten sich die Eltern nun an Dr. Otto Hein, der als Parteimitglied die Gestapo-Akten durchsehen konnte. Man gestattete ihm, die Verteidigung ihres Sohnes zu übernehmen. Bei der letzten Möglichkeit einer Aussprache mit seinem Verteidiger schaute ihn dieser scharf an und sagte: „Also wußten Sie wirklich nichts von der Nachrichtentätigkeit vom Burian? Wissen Sie, man soll einem Arzt immer die Wahrheit sagen.“ Krausz-Wienner verneinte und rettete damit seinen Kopf.47 Die einsitzenden Häftlinge hatten – auf dessen ausdrückliche Aufforderung! – abgesprochen, nach Möglichkeit die Schuld auf Burian abzuwälzen,48 weil absehbar war, daß ihn als Offizier der Deutschen Wehrmacht die Höchststrafe ereilen würde.49 Die Verhandlung hätte eine Woche dauern sollen, mußte aber auf Anordnung des Justizministeriums in drei Tagen erledigt werden. Burian bestritt nicht, daß er Monarchist sei und daß ihm jedes Mittel recht war, um die gewaltsame Loslösung Österreichs vom Deutschen Reich zu erreichen. Dies brachte den Vorsitzenden derart in Wut, daß er brüllte: „Menschen wie Sie habe in der deutschen Volksgemeinschaft keinen Platz und müssen ausgemerzt werden!“ Er wandte sich an die Zuhörer im Saal und rief: „Was sind das eigentlich für Leute, der Saal ist zu räumen!“ Dann fügte er allerdings hinzu: „Wer bleiben will, komme nach vorne und weise sich aus.“ Daraufhin leerten sich schlagartig die Zuschauerbänke. Ruhig, aber zügig verließen alle, die bis dahin den Prozeß verfolgt hatten, den Saal. Ein hoher SS-Mann aus Deutschland zischte: „Den Kopf von Burian muß ich haben.“50 Das Urteil des Volksgerichtshofes vom 9. Dezember 194351 mit den Richtern Senatspräsident Dr. Albrecht als Vorsitzendem, Landesgerichtsrat Dr. Zmeck, Generalmajor a. D. Haas, Generalmajor der Landespolizei a. D. Meissner, NSKKObergruppenführer Offermann und als Vertreter des Oberreichsanwaltes Landesgerichtsdirektor Dr. Lennardt lautete für Karl Burian „wegen Vorbereitung zum Hochverrat und wegen Landesverrates“ auf Tod und Ehrenrechtsverlust auf Lebensdauer.52 Ludwig Krausz-Wienner, Rochus Kosak, Josef Wotypka und Julius 47
Krausz-Wienner, Ludwig, Erzählte Geschichte, S. 288. Interview mit Ludwig Krausz-Wienner, geführt von Dr. Konstantin Kaiser am 20. März 1986, Typograph, S. 11: „Der Burian war ein äußerst nobler Charakter, und hat uns auch wissen lassen vor dem Prozeß, wenn ihr die Möglichkeit habt, irgendwie euer Schicksal auf meine Kosten zu erleichtern, dann könnt ihr es ungeniert machen.“ 49 Othmar Burian im Herbst 2006 zum Autor: „Einen drückte das Gewissen, der kam 1951 zu mir und entschuldigte sich, er habe so gegen meinen Vater aussagen müssen, sonst hätte es auch seinen Kopf gekostet.“ 50 Gespräch mit Othmar Burian im Herbst 2006. 51 Das Aktenzeichen ist 5 H I I0/43. 52 Fritz, Herbert / Krause, Peter (Hrsg.), Farbe tragen, Farbe bekennen 1938 – 1945. Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung. Wien 20132, S. 171 f., auf S. 172 das Todesurteil auszugsweise im Faksimile. 48
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Kretschmer wurden wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu acht bzw. fünf, vier und drei Jahren Zuchthaus und Ehrenverlust verurteilt. Nach Verwerfung eines Gnadengesuchs wurde Karl Burian am 13. März 1944 im Wiener Straflandesgericht mit dem Fallbeil enthauptet.53 Sechs Jahre nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich. Auf den Tag genau.
53 Während des Nazi-Regimes wurde im Landesgericht Wien über 1.000 Männer und Frauen enthauptet. Vgl. Univ. Prof. Stuhlpfarrer, Karl, Vortrag in Berlin am 9. März 2006.
Georg Ferdinand Duckwitz – bewegte Zeit in Dänemark Von Hans Kirchhoff Georg Ferdinand Duckwitz arbeitete während des Zweiten Weltkriegs als Schiffahrtssachverständiger an der Deutschen Gesandtschaft in Kopenhagen. Im Apparat der Besatzungsmacht nahm er eine untergeordnete Position ein. Seine Aufgabe bestand darin, als Ersatz für die torpedierten deutschen Handelsschiffe soviel Tonnage wie möglich aus Dänemark herauszuholen. In dieser Eigenschaft bewegte er sich in einem kleinen Kreis von dänischen Reedern und Werftdirektoren, Beamten und Marineoffizieren. Wäre es dabei geblieben, so wäre Duckwitz heute in Dänemark wahrscheinlich vergessen. Aber in den letzten Jahren des Krieges wurde er zunehmend in die große Politik hineingezogen und spielte in kritischen Situationen eine wichtige Rolle als Puffer zwischen der deutschen Repression sowie den dänischen Behörden und der Bevölkerung. Am bekanntesten ist Duckwitz als „Retter der dänischen Juden“ – ein Titel, den er zu Recht trägt, auch wenn seine Geschichte in den September- und Oktobertagen des Jahres 1943 komplizierter ist als gemeinhin angenommen. Aber Duckwitz kam auch bei anderen Gelegenheiten in eine Schlüsselposition, wie zum Beispiel während des großen Kopenhagener Volksstreiks im Sommer 1944 und ein Jahr später während der Kapitulationskrise. Mit seinem diplomatischen Talent, seiner Fähigkeit Vertrauen herzustellen und seiner konsequenten Ablehnung des Nationalsozialismus schrieb sich Duckwitz in die Geschichte der Besatzungszeit als der „gute Deutsche“ ein, der an Dänemark und den Dänen hing und tat, was er konnte, um sie vor einem härteren Kurs der Besatzungsmacht zu bewahren. „Wenn ich dänischer Bürger wäre, würde ich sozialdemokratisch wählen“, schrieb Duckwitz 1943 in sein Tagebuch, nachdem er den von der Besatzungsmacht kaltgestellten Sozialdemokraten Hans Hedtoft getroffen hatte, der später Ministerpräsident werden sollte. Aber Duckwitz’ eigene Karriere hatte am entgegensetzten Ende des politischen Spektrums begonnen, nämlich als ultranationalistischer Freikorpssoldat und Gegner der Weimarer Republik. Da war er noch keine 20 Jahre alt. Später, nach dem Abitur, schrieb er sich in Freiburg für Nationalökonomie ein, 1924 wurde er beim Corps Rhenania rezipiert.1 Bereits 1927 brach er sein Studium ab, um sich dem Beruf zuzuwenden, und trat eine Stelle bei der traditionsreichen Kaffeerösterei Hag an. 1
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Duckwitz trat 1932 der NSDAP bei. Er tat dies wie viele andere Konservative in der Hoffnung, die Partei würde Deutschland wiederaufrichten und Klassenkampf und Arbeitslosigkeit beenden. Nach der Machtübernahme kehrte er zurück und verdiente sich seine diplomatischen Sporen als Skandinavien-Referent im Außenpolitischen Amt der Partei unter dem Chefideologen Alfred Rosenberg. Duckwitz arbeitete in der Außenhandelsabteilung und erhielt dort die Beurteilung, daß er ein Kenner ganz Skandinaviens und der Ostseeküste sei, über ein genaues Wissen der Wirtschaft dieser Region verfüge und einen ausgeprägten Sinn für den „außenpolitischen Sozialismus“ besitze. Aber bald schwanden im täglichen Umgang mit dem Machtmißbrauch und der Inkompetenz der Partei die Illusionen. Für Duckwitz, wie für andere „idealistische Nationalsozialisten“, war das einschneidende Erlebnis die blutige Abrechnung mit der SA im Sommer 1934, der auch Hitlers persönliche Feinde zum Opfer fielen. 1935 verließ er den Parteiapparat und kehrte in seine Heimatstadt Bremen zurück, wo er bei der Hamburg-Amerika-Linie Karriere machte und nach New York übersiedelte. Er verblieb jedoch als Mitglied Nummer 1.295.253 in der Partei. Duckwitz wurde 1904 in Bremen geboren. Er gehörte damit derselben Generation an wie Werner Best, sein späterer Chef in Kopenhagen, einer Generation, die den Ersten Weltkrieg nicht in den Schützengräben mitgemacht, aber erlebt hatte, daß Väter und Brüder fielen und deren Weltbild von der Niederlage Deutschlands und dem „Versailler Diktat“ geprägt wurde. Duckwitz stammte aus einer hanseatischen Patrizier- und Kaufmannsfamilie. Nach dem abgebrochenen Studium der Nationalökonomie setzte er diese Tradition fort. Die Kaffeerösterei Hag war dafür ein geeigneter Rahmen, man sandte ihn 1928 als Filialdirektor nach Kopenhagen. Während der Zeit dort lernte er Dänisch und baute viele der Kontakte auf, die ihn während der Besatzungszeit zu einer wichtigen Quelle machten. Auf diese Jugendjahre ging seine Liebe zu Dänemark zurück, eine Liebe, die ihn ein Leben lang begleitete. Nach den Jahren in Kopenhagen, im Außenpolitischen Amt in Berlin und als „shippingman“ in New York wurde Duckwitz bei Kriegsausbruch am 1. September 1939 erneut nach Kopenhagen gesandt – diesmal als Schiffahrtssachverständiger. Laut des Berichts, den Duckwitz nach dem Krieg schrieb, versuchte die Partei zunächst, dies zu verhindern – eine Vergeltung für den Bruch von 1935. Aber es gelang Duckwitz, Verbindungen in der Abwehr zu mobilisieren, die ihn als Agenten nach Kopenhagen sandte – und damit erhielt er auch die Stellung als Schiffahrtsattaché. Die praktischen Resultate seiner Abwehrtätigkeit verlieren sich im Dunkeln. Duckwitz berichtete später, daß es reines Theater war, wenn er von Streiks und Sabotageanschlägen gegen Schiffe berichtete. In jedem Falle endete diese Aufgabe, als die Wehrmacht am 9. April 1940 in Dänemark einmarschierte. Nach Abschluß der „Operation Weserübung“ war Duckwitz ohne eigenes Zutun Teil der deutschen Besatzungsmacht geworden. Er wurde dem Büro des „Reichsbevollmächtigten“ zugeordnet, war aber dienstlich zunächst dem Verkehrsministe-
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rium und später dem Reichskommissar für die Seeschiffahrt, Gauleiter Karl Kaufmann in Hamburg, unterstellt. In seinem Nachkriegsbericht erwähnt Duckwitz in Bezug auf diese erste Periode der Besatzung nichts von rein politischen Aufträgen. In diesen Jahren bestand noch die Möglichkeit für ein breiteres Spektrum von Seefahrtsaktivitäten, und Duckwitz hatte genug in seinem eigenen Ressort zu tun. Die relativ ruhigen Verhältnisse der Besatzung gaben keinen Anlaß zu weitergehenden Aktivitäten. Und vielleicht forderte auch sein Privatleben einen gewissen Tribut: Duckwitz heiratete im Sommer 1941 überglücklich die Schweizerin Annemarie Rynert. Im November 1942 wurde die Lage unter dem Druck der Kriegskonjunktur angespannter. Etwa gleichzeitig übernahm SS-Gruppenführer Dr. Werner Best die Position des Reichsbevollmächtigten. So ergab sich eine neue Situation. Duckwitz wurde jetzt in den Kreis der Männer gezogen, denen Best Gehör schenkte. Als Neuankömmling wußte Best Duckwitz’ Urteil, seine Erfahrung sowie seine guten dänischen Kontakte zu schätzen. Es wurde üblich, daß Duckwitz einlud, wenn der Reichsbevollmächtigte seine dänischen Gegenspieler in informeller Atmosphäre zu treffen wünschte. Die Familien Duckwitz und Best verkehrten auch privat miteinander, was als Ausdruck dafür gesehen werden kann, daß das Verhältnis über das rein Dienstliche hinausging. Best war fest in der SS-Ideologie verankert und hatte einen „Führerbefehl“ im Gepäck, der als Endziel die Nazifizierung der Dänen forderte. Aber Best war intelligent genug einzusehen, daß er in Dänemark nur Erfolg haben würde, wenn er mit den dänischen Politikern zusammenarbeitete. Es war genau die Stärkung einer solchen Politik, für die der zweite Mann an der deutschen Gesandtschaft, der SSBrigadeführer Paul Kanstein, in den Sommermonaten 1942 in Berlin geworben hatte. Sein Ziel war es, den unsicheren Karrierediplomaten Cecil von Renthe-Fink durch einen Parteigenossen ablösen zu lassen, der eine selbständige Politik zu führen wagte. Kanstein war 1940 als Beauftragter für Fragen der inneren Verwaltung nach Dänemark gesandt worden. Er war früherer Vizepolizeipräsident in Berlin, aber seine konservative Grundhaltung und sein starker evangelischer Glaube ließen ihn Abstand zum SS-Fanatismus wahren. Sein Ressort, die Sicherheit der Besatzungsmacht, machte ihn zum Anhänger einer pragmatischen Zusammenarbeitspolitik und zum Gegner der Machtergreifungsversuche der dänischen Nazis. Kanstein hatte Kontakt zum Kreis um den 20. Juli 1944. Ihm war die Stellung des Chefs einer neuen Sicherheitspolizei zugedacht und er entging nach dem Attentat auf Hitler nur knapp einer Verurteilung. Bei dieser Gelegenheit wurde ihm auch vorgehalten, in Dänemark zu weich gewesen zu sein. Duckwitz und Kanstein waren eng miteinander verbunden – auch privat – und es war Kanstein, der Ende 1942 für Duckwitz die Verbindung zur deutschen Opposition herstellte. Was Duckwitz’ Status in der zivilen Verwaltung stärkte, war vielleicht auch noch etwas anderes: 1941 wurde er als Skandinavien-Informant für die sogenannte
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Deutsche Informationsstelle III im Auswärtigen Amt gewonnen, die von Unterstaatssekretär Andor Hencke, einem alten Bekannten aus Kopenhagen, geleitet wurde. Die „Abteilung Hencke“ arbeitete konspirativ und sollte Außenminister Joachim von Ribbentrop nachrichtendienstliche Erkenntnisse für Hitler verschaffen, die mit den Informationen der Abwehr sowie des Sicherheitsdienstes der SS konkurrieren konnten, während der Auswärtige Dienst insgesamt als reaktionär und schlecht informiert galt. Duckwitz’ Rolle wurde 1965 von den Russen enthüllt, als er Botschafter in Neu-Delhi war, was eine gewisse Unruhe in Bonn hervorrief. Aber die Dementis ändern nichts daran, daß Duckwitz über einen direkten Kanal zum Außenminister verfügte – und gerade in einer Diktatur bedeutet Zugang Macht. Duckwitz trat voll und ganz für Bests Verständigungspolitik ein. Im Tagebuch findet sich viel Lob für Best als Mensch und Politiker. Duckwitz ging während der Besatzungszeit an seiner Seite durch dick und dünn. Auch nach der Kapitulation, als die meisten Dänen den Namen Bests mit Judenverfolgung, Liquidierungen und Hinrichtungen verbanden, verteidigte er seinen früheren Chef mit nie nachlassender Loyalität. Die Feinde des Reichsbevollmächtigten waren auch seine Feinde: Vor allem das deutsche Militär, die Polizei sowie Reichskommissar Terboven in Norwegen, und Duckwitz fand, daß die Dänen Best nach dem Krieg ungerecht behandelt hätten. Für Duckwitz’ Sicht gibt es mehrere mögliche Gründe: Vor allem zählte das politische Argument, daß Best für Dänemark ein guter Mann gewesen sei, der Schlimmeres verhindert habe, also eine Militär- oder Parteidiktatur, und dem Land eine Besatzungspolitik sicherte, die weit weniger Opfer forderte als in allen anderen besetzten Gebieten. Man mußte nur nach Norwegen blicken, um das bestätigt zu finden. Zweitens sah Duckwitz nur den realistischen, rationalen und wohlmeinenden Best. Aber Best war ein Mann mit vielen Gesichtern und von großer Verstellungskunst. Duckwitz scheint seine Skrupellosigkeit und seinen Ehrgeiz nie durchschaut zu haben, die vor allem zum Tragen kamen, wenn Best die eigene Macht zu mehren oder zu verteidigen suchte. Die Rolle des früheren GestapoOffiziers bei den schlimmsten Verbrechen des Regimes kannte er offenbar nicht. Und damit stand er nicht allein: Tatsächlich hat erst Ulrich Herbert in seiner großen Biographie von 1996 ein umfassendes Bild von Best gezeichnet. Schließlich fühlte Duckwitz – und das sicherlich zu Recht –, daß er Best sein Leben zu verdanken hatte. Denn im letzten Jahr der Besatzung schützte der Reichsbevollmächtigte ihn gegen die zunehmend aggressivere Gestapo, die nur auf eine Gelegenheit wartete, um zuzuschlagen. In seiner Sicht auf die dänisch-deutsche Zusammenarbeit war Duckwitz stark durch seine guten Beziehungen zur sozialdemokratischen Führung beeinflußt – besonders durch die Bekanntschaft und spätere Freundschaft mit Hans Hedtoft, den er im Frühjahr 1943 kennenlernte. Duckwitz übernahm ganz und gar die Auffassung der Sozialdemokraten in Bezug auf die dänische Widerstandsbewegung, die Sabotage und später den Frei-
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heitsrat.2 Auch Duckwitz sah sie als Unruhefaktoren, die das zerstören könnten, was er eine „vernünftige“ Politik nannte und worunter er die Bewahrung des Status quo verstand. Gleichzeitig galt es zu verhindern, daß die Initiative an die „wilden“ und „fanatischen“ Elemente im Besatzungsapparat überging, nämlich das Militär, die Polizei – seit Herbst 1943 – und daneben natürlich das unberechenbare Berlin. Während des Kopenhagener Volksstreiks 19443 verhandelte Duckwitz mit den auf Anpassung eingestellten Politikern – und nicht mit dem Freiheitsrat, den er ganz im Sinne der Sozialdemokraten als rücksichtslosen und opportunistischen „Spielverderber“ betrachtete. Während der Kapitulationskrise im April und Mai 19454 waren seine Partner wiederum die Politiker im Parlament von Christiansborg und der ihnen loyale dänische militärische Nachrichtendienst. Gleichzeitig bemühte Duckwitz sich, den Freiheitsrat als den Faktor, der den gesamten Versuch einer friedlichen Kapitulation in Dänemark zunichte machen konnte, aus allem herauszuhalten. Dementsprechend war Duckwitz ein ausgesprochener Bewunderer der Kollaborationspolitik der dänischen Politiker. 1946, als die dänische Öffentlichkeit die Politik der Zusammenarbeit geradezu als Verrat betrachtete, nannte er sie „eine Meisterleistung der widerwilligen Anpassung“ und charakterisierte sie, ganz in Übereinstimmung mit der Rechtfertigung und dem Selbstverständnis der Politiker, als eine „Politik des hinhaltenden Widerstands“. Diese Politik war unangreifbar, elastisch und gleichzeitig fest. Sie hatte einem böswilligen Gegenspieler nur wenige Entfaltungsmöglichkeiten gegeben und alle Versuche, Dänemark wie die übrigen besetzten Länder zu behandeln, vereitelt. Deshalb mußte Duckwitz auch den am 29. August verkündeten militärischen Ausnahmezustand und den Rücktritt der Regierung als Katastrophe empfinden, welche in erster Linie von der Wehrmacht hervorgerufen worden war.5 „Nun ist es also geschehen, und auch hier wird alles in 2 Der Freiheitsrat wurde im September 1943 als Zentralorgan der gesamten dänischen Widerstandsbewegung gebildet. 3 Am 30. Juni 1944 wurde in Kopenhagen unter Führung des Freiheitsrats als Reaktion auf das von der Besatzungsmacht verhängte Ausgangsverbot (Sperrstunde) sowie andere militärische und polizeiliche Maßnahmen der deutschen Seite ein Generalstreik ausgerufen. Dieser umfassende Streik, an dem die gesamte Bevölkerung der Hauptstadt teilnahm, führte zu gewaltsamen Zusammenstößen mit über 700 verletzten und getöteten Kopenhagenern. Der Streik endete am 5. Juli mit einem dänischen Sieg und einer deutschen Niederlage. 4 Die führenden dänischen Akteure sahen sich im April/Mai 1945 mit der Gefahr eines deutschen „Endkampfs“ auf dänischem Boden konfrontiert, der das Land ruinieren und möglicherweise einen Aufstand der Widerstandsbewegung und der Kommunisten hervorrufen würde. In Zusammenarbeit mit den führenden dänischen Politikern und dem Nachrichtendienst des dänischen Heeres versuchte Duckwitz, durch seinen Kontakt zum Reichsstatthalter Karl Kaufmann in Hamburg sowie über Stockholm und London eine Teilkapitulation für Norddeutschland und Dänemark zu erreichen. Diese Bemühungen wurden durch die Kapitulation am Morgen des 5. Mai überholt. 5 Eine Welle von Generalstreiks und Sabotageakten führte im Sommer 1943 dazu, daß die dänische Regierung die Kontrolle über die Situation verlor. Am 28. August stellte Deutschland der Regierung ein Ultimatum, das die dänische Seite aufforderte, als Reaktion auf Anschläge Geiseln zu nehmen und die Todesstrafe zu verhängen. Die Regierung lehnte das Ultimatum
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Stücke geschlagen“ schrieb er in sein Tagebuch. „Man muß sich verdammt zusammennehmen, um nicht die Haltung zu verlieren und zu heulen. – Vier Jahre Arbeit durch Dummheit und Unvernunft dahin.“ Und weiter: „Nun hassen uns die Bewohner des letzten Landes in Europa aus ganzer Seele. Es ist verflucht schwer, ein Deutscher zu sein.“6 Duckwitz’ Stellung als „Retter der dänischen Juden“ ist bis weit in die achtziger Jahre hinein unangefochten geblieben, wenn man davon absieht, daß Best ihm anfänglich diesen Rang streitig gemacht hatte – aber die wenigsten Dänen waren bereit, Best Glauben zu schenken. Die Erklärung für Duckwitz’ unangreifbare Stellung ist leicht zu finden: Er ist eine zentrale Figur in eben jener Rettungsaktion, die als greatest hour der Dänen während des Zweiten Weltkriegs gilt. Nicht nur in Dänemark, wo aber der Oktober 1943 dazu beiträgt, die Erinnerung an die demütigende Kollaboration in den vorhergehenden Jahren zu verdrängen. Sondern auch international, besonders in Israel und den USA, wo der dänische Einsatz als Licht im Dunkel des Holocaust gerühmt wird. Es gab also gute Gründe, nicht an dieses Bild zu rühren. So überrascht es nicht, daß der Angriff auf Duckwitz von außen kam, von der Historikerin Tatiana Berenstein. Ihre These läuft in aller Kürze darauf hinaus, daß die Besatzungsmacht nach einem auf höchster Ebene – nämlich von Himmler und Eichmann – erdachten Plan die 7.000 bis 8.000 dänischen Juden durch Terror nach Schweden vertreiben hätte wollen, weil man erkannt habe, daß die Kapazität der Polizei nicht dazu ausreichte, sie zu verhaften und nach Deutschland zu deportieren. Die dänischen Helfer – und damit auch Duckwitz – wären so zu Schachfiguren in diesem Spiel der SS geworden, das nun als voller Erfolg der Deutschen erschienen wäre und eben nicht als dänischer Sieg. Denn Dänemark hätte durch ein solches Spiel, wenn es stattgefunden hätte, als „judenfrei“ erklärt werden können. Diese These ist allerdings ex eventu entstanden. Sie beruht auf einer nachträglichen Rationalisierung, die zu erklären versucht, warum die SS in Dänemark, also Best und die Gestapo, offenbar ganz anders als im übrigen besetzten Europa vorging – nämlich mit einer gewissen Mäßigung. Zu beachten ist hier aber, daß sich diese These nur schwer mit dem zeitgenössischen Material vereinbaren läßt. Und auch nicht mit Duckwitz’ großem Bericht von 1946, der eine Hauptquelle für unser Verständnis der deutschen Seite ist. Aus diesem Grund wird Duckwitz’ Bericht von Berenstein auch als glatte Geschichtsfälschung dargestellt. Nach der hier vertretenen Position ist die Berensteinsche These von der großen Verschwörung indes reine
ab, worauf die Wehrmacht, die bereits seit Jahresbeginn einen härteren Kurs in Dänemark gefordert hatte, den Ausnahmezustand erklärte und gleichzeitig die Gelegenheit benutzte, das dänische Heer sowie die Marine zu liquidieren. Die Regierung von Ministerpräsident Scavenius trat zurück und damit war auch die parlamentarische Unterstützung für die Kollaborationspolitik an ihr Ende gelangt. 6 Die Zitate im Folgenden stammen, sofern nicht anders angegeben, aus dem Duckwitzschen Tagebuch.
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Spekulation. Aber immerhin hat sie Bewegung in die dänische Forschung gebracht – und damit gewissermaßen einem Zweck gedient. Bleiben wir bei den Fakten. Heute besteht kein Zweifel daran, daß es der Reichsbevollmächtigte war, der mit seinem Telegramm Nr. 1032 nach Berlin vom 8. September 1943 die „Endlösung“ in Dänemark auslöste. Aber nach der Hypothese, die hier vertreten wird – und wir können aufgrund des spärlichen zeitgenössischen Quellenmaterials nur von Hypothesen sprechen –, deutet vieles darauf hin, daß Best, trotz seines Hintergrunds als eliminatorischer Antisemit, nur mit einem gewissen Widerwillen die Initiative ergriff. Er mußte nämlich befürchten, daß die Judenverfolgungen ihn die Zusammenarbeit mit den dänischen Staatssekretären kosten würde, die das Land verwalteten, nachdem die parlamentarische Regierung infolge des militärischen Ausnahmezustandes vom 29. August zurückgetreten war. Und er mußte mit einem Aufstand der Bevölkerung rechnen, wie er gerade durch den Ausnahmezustand niedergeschlagen worden war. Andererseits wußte Best, daß Eichmann nur darauf wartete in Dänemark einzurücken, sobald das wichtigste Argument dagegen – die Zusammenarbeit mit der dänischen Regierung – weggefallen war. Dies alles legte nahe, der Entwicklung einen Schritt voraus zu sein und sie zu kontrollieren. Das Ergebnis war eine Doppelstrategie. Einerseits spielte Best gegenüber Berlin, wo seine Aktien aufgrund des Scheiterns seiner „Samtpolitik“ schlecht standen, den überzeugten Anhänger einer Judendeportation. Andererseits versuchte er, die Aktion zu bremsen, indem er auf die vielen Schwierigkeiten verwies, die daraus entstehen würden. Als diese Taktik mit dem Führerbefehl vom 17. September gescheitert war, versuchte er, dessen Auswirkungen zu mildern oder ihn sogar zu sabotieren. In diesem Doppelspiel erhielt Duckwitz nun eine Hauptrolle. Sein Verhalten in den September- und Oktobertagen 1943 ist durch seinen Bericht aus der Nachkriegszeit bekannt. Jetzt kann dieser mit dem Tagebuch verglichen werden, das hier zum ersten Mal systematisch ausgewertet worden ist. Es liegt auf der Hand, daß wir uns in wichtigen Punkten weiterhin innerhalb von Duckwitz’ Selbstverständnis bewegen, aber dieses ist jetzt, in die September- und Oktobertage 1943 zurückversetzt, quellenmäßig eine wichtige Verbesserung. Bests Telegramm Nr. 1032 empfahl Berlin, die Deportation der dänischen Juden noch während des Ausnahmezustandes durchzuführen, um Proteste und Aufruhr zu vermeiden, hob aber auch die politischen Probleme hervor, die eine Razzia hervorrufen würde. Best und seine Verteidiger, darunter Duckwitz, behaupteten später, daß die Hauptbotschaft in den Vorbehalten gelegen habe – daß das Telegramm also ein Versuch gewesen sei, die Maßnahmen aus Berlin zu bremsen. Bereits am 11. September weihte Best Duckwitz ein und legte ihm eine seiner Handlungslinien dar, nämlich das Bemühen, die geplante Deportation zu vereiteln oder jedenfalls abzumildern, die andere behielt er für sich. Duckwitz war entsetzt über das, was er als ein gefährliches Spiel des Reichsbevollmächtigten ansah, und flog am 13. mit Bests Segen nach Berlin, um die Angelegenheit über Hencke zu stoppen – eine Mission, die mißlang. Denn das Telegramm war bereits an Ribbentrop weiterge-
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gangen. Duckwitz und Hencke waren sich einig in ihrer Verbitterung über die Passivität des Amts – aber auch darin, daß Best große Schuld trug. „Ein tragischer Konflikt für den Mann, der das Beste wollte und tat“, heißt es in Duckwitz’ Tagebuch. Hencke hatte bereits früher seinem Freund eine Stellung in Stockholm angeboten, und in den folgenden Tagen dachte Duckwitz über das Angebot nach. Die neue, harte Linie, die auch der Reichsbevollmächtigte unterstützte, sprach für einen Weggang, desgleichen die Tatsache, daß auch Kanstein, „der treue Freund“, Kopenhagen verlassen wollte. Dagegen sprach, daß Best Duckwitz zum Bleiben aufforderte und daß die sozialdemokratischen Freunde ihn darum baten, auszuhalten. Er habe noch eine wichtige Rolle in der dänischen Politik zu spielen, erklärte Hedtoft. „Schön gesagt, auch ganz schmeichelhaft – aber verdammt schwer durchzuführen bei der Haltung des RB“,7 notierte Duckwitz. Am 18. September 1943 erhielt Best Bescheid, daß Hitler grünes Licht für die „Aktion“ gegeben hatte, und informierte Duckwitz über die jüngste Entwicklung. „,Judenausweisung‘ im Prinzip angenommen“, heißt es am 19. in dessen Tagebuch. „Ich weiß, was ich zu tun habe.“ Während die nicht minder bestürzten Gleichgesinnten unter den Karrierediplomaten in der Gesandtschaft – zu nennen sind Krüger, Ebner und Barandon – sich einer resignierten Passivität hingaben, hatte Duckwitz bereits am 17. September begonnen, jüdische Bekannte zu warnen. Das geschah im Wettlauf mit dem Eintreffen der neuen deutschen Sicherheitspolizei. „Im Dagmarhus8 nur noch Polizei – Das Haus hat heute seinen Charakter entscheidend verändert. Das Äußere entspricht der inneren Einstellung.“ Am 21. September begab sich Duckwitz auf eine neue Mission, jetzt nach Schweden, um nach Möglichkeit Hilfe von der schwedischen Regierung zu erhalten. Die Reise wurde durch ein Gespräch mit dem schwedischen Gesandten in Kopenhagen, von Dardel, vorbereitet, „der sich sehr bemüht. Er sieht Dänemark schon als deutsche Provinz.“ Sie wurde vermutlich von Nils Eric Ekblad, einem früheren Legationsrat der Gesandtschaft inspiriert, der mit Duckwitz befreundet war und sich gerade in diesen Tagen zu einem seiner häufigen Besuche in Kopenhagen aufhielt. Ekblad hatte ein vertrauensvolles Verhältnis zu Hedtoft, und der schwedische Diplomat hatte Duckwitz ursprünglich mit dem Sozialdemokraten bekannt gemacht. Ekblad hatte auch Zugang zum schwedischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson und in Ekblads Wohnung in Stockholm hatte Duckwitz am nächsten Abend ein dreistündiges Gespräch mit dem Ministerpräsidenten: „Geschlossene Persönlichkeit, die genau weiß, was sie will.“ Duckwitz soll hier das Versprechen erhalten haben, daß die schwedische Regierung, sollte die „Judenaktion“ befohlen werden, in Berlin intervenieren und anbieten würde, die dänischen Juden aufzunehmen und sie für den Rest des Krieges zu internieren. Dieses Gespräch hat eine große Rolle in der dänischen Geschichtsschreibung gespielt. Leider 7 8
Reichsbevollmächtigter. Sitz des Reichsbevollmächtigen.
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hat es in den schwedischen Archiven keine Spur hinterlassen. Und wir können heute in jedem Falle konstatieren, daß ihm keine entscheidende Bedeutung für die schwedische Diplomatie zukam, deren Überlegungen zu diesem Zeitpunkt schon weit gediehen waren und in die gleiche Richtung gingen. Wichtiger ist deshalb, was diese Mission über Duckwitz’ – und damit wohl auch Bests – Absichten aussagt. Denn es ist unwahrscheinlich, daß die Reise nach Schweden ohne Billigung des Reichsbevollmächtigten unternommen werden konnte, so daß die Sondierung als Ausdruck der Best’schen Doppelstrategie in ihrer vollen Entfaltung gesehen werden muß. Aus Schweden brachte Duckwitz den Eindruck „eine[r] völlig ablehnende[n] Stimmung“ mit. „Wie wird das erst werden, wenn in Dänemark die Judenfrage aufgerollt wird!“ Am 25. September berichtete er dem Reichsbevollmächtigten über die Schwedenreise und hörte von Best, daß die endgültige Entscheidung gefallen sei. „Keine Macht kann RB von der schweren Schuld mit ihren unübersehbaren Folgen reinwaschen“, heißt es im Tagebuch. Kanstein und der neue Chef der Sicherheitspolizei, SS-Obersturmbannführer Rudolf Mildner, kehrten aus Berlin zurück, wo sie versucht hatten, die „Aktion“ aufzuhalten. Mildner, der vom Posten des Gestapochefs in Auschwitz kam, argumentierte, daß der Kampf gegen die Widerstandsbewegung durch die Jagd auf die Juden belastet würde. Auch die Wehrmacht versuchte sich aus der „Aktion“ herauszuhalten, wurde aber angewiesen, sie zu unterstützen. Es blieb nur der Versuch, das Schlimmste abzuwenden. „Ich muß alles auf eigene Verantwortung tun. Mich unterstützt dabei mein felsenfester Glaube daran, daß gute Taten niemals verkehrt sein können“, schrieb Duckwitz am 26. September. Seine Frau Annemarie unterstützte ihn bedingungslos. „Gut, daß Annemarie genauso denkt wie ich. Da gibt es kein Verlassen des einmal eingeschlagenen Weges“, notierte er am 27. September: „Es gibt eben doch höhere Gesetze, denen beuge ich mich.“ Mit rastloser Energie begann Duckwitz nun mit der Rettungsarbeit. Durch Ekblad – den Stockholm nach Kopenhagen zurückgesandt hatte, damit er assistieren könnte – sorgte er für laufende Unterrichtung des schwedischen Gesandten und tat, was er konnte, um den verängstigten Juden Visa nach Schweden zu verschaffen. Er versuchte auch, einen seiner dänischen Reederbekannten dafür zu gewinnen, ein Schiff zur Verfügung zu stellen, das die Juden auf dem Öresund aufnehmen sollte – ein Plan, der von der Entwicklung überholt wurde. Und er erreichte, daß ein weiterer Bekannter, der Hafenkapitän Cammann, die deutschen Schiffe im Hafen festhielt – ein billiges Versprechen, wie sich zeigen sollte, denn die deutsche Kriegsmarine besaß nach der Liquidierung der dänischen Flotte überhaupt nicht die Kräfte, um an der Jagd auf Juden teilzunehmen. Am 28. September schließlich erhielt Duckwitz von Best das Datum für die „Aktion“, nämlich die Nacht zum 2. Oktober. Er gab diese Information an seine dänischen und schwedischen Kontakte weiter, darunter Hans Hedtoft und seine Freunde und es war diese Warnung, die entscheidend für den weiteren Verlauf wurde, weil die dänische Seite Duckwitz vertraute und ihn nicht für einen agent provocateur hielt.
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Am 29. September 1943 feierte Duckwitz seinen 39. Geburtstag: „Alles sieht düster und hoffnungslos aus. Die Vorbereitungen für Judenaktion werden eilfertig getroffen. Neue Leute sind gekommen – Experten dieser unsauberen Angelegenheit. Sie werden nicht viele Opfer finden!“ Am 1. Oktober: „Rastlos ausgefüllter Tag. Unermüdlich tätig, um das Schlimmste zu verhindern.“ Und schließlich, nachdem die „Endlösung“ in Dänemark eine Tatsache geworden war, am 2. Oktober: „Diese Nacht wurde die Judenaktion durchgeführt und ein Schiff mit der wertvollen Last von 200 (!!) alten Juden fuhr ab. Dafür also schlagen wir hier im Lande alles kaputt, dafür also haben wir, wie uns v. Dardel heute mit Tränen in den Augen sagte, die Tür nach Skandinavien endgültig zugeschlagen. Dafür also – ach!“9 Wie oben dargestellt, war es die Politik des Reichsbevollmächtigten nach dem 29. August 1943, die die „Endlösung“ in Dänemark auslöste und gleichzeitig sicherstellte, daß die Verfolgung zum Fiasko wurde. Das macht Best indessen nicht zum „Retter der dänischen Juden“. Für Best waren die Juden Volksfeinde, die so oder so ausgestoßen werden mußten, und er ging im Machtspiel um Dänemark zynisch mit ihnen um. Aus dieser Perspektive betrachtet war Duckwitz nicht mehr als ein Werkzeug im Best’schen Doppelspiel. Aber das macht seinen Einsatz nicht geringer. Duckwitz war eine selbständige und dynamische Kraft in der Rettungsaktion und sein Handeln ging weit über das Best’sche Konzept hinaus. Alle Instanzen der deutschen Besatzungsmacht waren in Wirklichkeit gegen die „Aktion“, und wenn es nur aus pragmatischen Gründen war. Aber sie entschieden sich dafür, Berlin zu gehorchen und mitzuspielen oder gaben sich der Ohnmacht hin – alle außer Duckwitz. Sein Mut und seine moralische Größe erheben ihn deswegen über alle anderen Deutschen innerhalb des Besatzungsapparats. Duckwitz war ein deutscher Patriot reinsten Wassers. Er hing an seinem Vaterland und litt unter den deutschen Niederlagen. Bei der Lektüre seines Tagebuchs wird deutlich, in welchem Dilemma Duckwitz sich befand. Ständig hoffte er auf militärische Erfolge, die den Feind auf Distanz halten könnten. Er empfand tiefes Mitleid mit den Soldaten an der Front und verzweifelte, wenn er durch Hamburgs rauchgeschwärzte Ruinen fuhr. Er meinte, daß General Friedrich Paulus in Stalingrad Selbstmord hätte begehen müssen, und er verachtete einen Thomas Mann, der aus dem Ausland so „bequem“ zum Widerstand aufforderte. Er schreibt, er fühle mit einem Furtwängler, der in Deutschland geblieben war und das deutsche Volk mit seiner Musik zu trösten versuchte. Wie andere Nationalkonservative hatte auch Duckwitz mit dem Odium des Verrats zu kämpfen, aber er scheint früher als viele andere in der Opposition eine klare Grenze zwischen dem Vaterland, das er liebte, und einem „zufälligen Führer“ gezogen zu haben. Er war unsentimental und realistisch genug, um zu wissen, daß Hitler und seine Bande verschwinden mußten, und 9 Insgesamt wurden im Oktober 1943 knapp 500 Juden in das KZ Theresienstadt deportiert. Aufgrund einer Vereinbarung zwischen Best und Eichmann sagte die SS zu, dänische Lagerinsassen nicht aus Theresienstadt abzutransportieren. Die große Mehrheit dieser Gruppe überlebte den Krieg, etwa 50 Deportierte starben.
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das Zaudern und die Sturheit der Offiziere frustrierten ihn. Selbst gehörte er zu denjenigen, die handeln mußten. Duckwitz’ Name taucht in den großen Werken über den 20. Juli 1944 nicht auf, denn er operierte an dessen Peripherie, blieb für die meisten Verschwörer anonym und war sozusagen ein „Schläfer“. Was wir über seine Rolle wissen, beruht vorwiegend auf seinen eigenen Berichten und denen seiner Frau Annemarie aus der Nachkriegszeit. Denn seine Kontaktpersonen, Ulrich von Hassell, Adam von Trott zu Solz, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und Oberst Georg Hansen, in der Abwehr wurden alle nach dem Attentat hingerichtet – und nahmen Duckwitz’ Namen mit in den Tod. Einzelne Bemerkungen von Kanstein sind erhalten, sie sind jedoch nicht besonders präzise. Es bleiben neben Duckwitz’ Berichten das zeitgenössische Tagebuch- und Kalendermaterial, das die später angeführten Daten der Reisen nach Berlin, Stockholm und in die Schweiz bestätigt, jedoch Gesprächspartner nur im Einzelfall nennt. Duckwitz’ erste Kontakte zur Opposition wurden von Graf Schulenburg hergestellt, der auf einer Reise am 20. und 21. Dezember 1942 Kopenhagen besuchte. Der war ein guter Freund Kansteins aus gemeinsamer Zeit in der Verwaltung in Ostpreußen sowie später im Polizeipräsidium in Berlin, und es war Kanstein, der den Kontakt zu Duckwitz vermittelte. Schulenburg war wie Duckwitz ein desillusionierter Nationalsozialist, der sich gegen die Brutalität und Korruption des Systems gewandt hatte, und die beiden Männer waren sich vom Temperament her ähnlich. Graf Schulenburg suchte auch den Reichsbevollmächtigten auf, dessen Vorstellungen in Verwaltungsfragen er in vielen Punkten teilte, und führte, einer späteren Aussage Bests zufolge, „ein offenes Gespräch“ mit ihm. Aber trotz Bests wachsender Unzufriedenheit mit Hitler gab er die nationalsozialistische Idee nie auf und blieb bis zum Schluß loyal. Duckwitz’ nächster Schritt war ein Gespräch mit von Hassell, ebenfalls ein alter Bekannter, im Februar 1943 in Berlin. In der Entwicklung des Widerstands war dies die Phase, in der die Militärs nach der Katastrophe von Stalingrad eine Reihe von Attentaten gegen Hitler planten, die jedoch alle mißlangen. Von Hassell bat Duckwitz, bei Polizei und Militär in Dänemark Vertrauensleute zu finden, die nach einem Staatsstreich das Kommando übernehmen könnten. Duckwitz selbst sollte Best ablösen und als Reichsbevollmächtigter und Gesandter der neuen Regierung die Besatzung in Dänemark und Norwegen abwickeln. Als Zeitpunkt für die Aktion gab Hassell Spätsommer oder Herbst 1943 an. Von Trott sollte für die Verbindung zwischen Kopenhagen und Berlin sorgen. Es folgten weitere Kontakte und neue Treffen mit von Hassell, Reisen in die Schweiz, um Kontakt zum dortigen Repräsentanten des Widerstands, eventuell Hans Gisevius, herzustellen und den amerikanischen Nachrichtendienst zu informieren. Gleichzeitig wurden Kontakte zur Gesandtschaft in Stockholm geknüpft, vielleicht zu Legationssekretär Dankworth, der ein guter Bekannter von Duckwitz war und Verbindungen zum Secret Service besaß. Im Juni und noch einmal im August 1943 erhielt Duckwitz die Nachricht, daß die Aktion verschoben sei, im Dezember, daß sie vielleicht im Januar stattfände, und im Januar, daß sie abgeblasen sei, jetzt aufgrund der Liquidierung der Widerstandsgruppe innerhalb der Abwehr durch die Gestapo. Es ist nicht ganz
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einfach, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesen Signalen und dem herzustellen, was wir heute über die Entwicklung der Attentatspläne wissen. Wir müssen jedoch berücksichtigen, daß vieles von Kopenhagen aus anders aussah, und daß die abgeschotteten Entscheidungsprozesse und der fragmentierte Informationsfluß zu Verspätungen und Mißverständnissen beitrugen. Denn Kopenhagen war so unwichtig, daß dort erst reagiert werden mußte, wenn der Staatsstreich gelungen und die Situation in Deutschland geklärt wäre. Der Wechsel der örtlichen Befehlsgewalt von Best zu Duckwitz mußte allerdings reibungslos vor sich gehen, denn der, ein SS-General, konnte Duckwitz jederzeit verhaften und an die Wand stellen lassen. Deshalb sollte, so waren die Planungen, ein aus Offizieren und einem Diplomaten bestehendes Sonderkommando so schnell wie möglich mit einer schriftlichen Bestallung nach Kopenhagen gesandt werden, die Duckwitz die nötigen Vollmachten geben und eine Vereinbarung mit den Dänen möglich machen sollte. Im Juni 1944 erhielt Duckwitz die Nachricht, daß man zwischen dem 5. und 10. August nun endlich handeln wolle. Der 20. Juli kam deshalb als Überraschung, und Duckwitz hielt die Vorgänge zunächst für von der SS inszeniertes Theater. Danach folgte eine chaotische und angsterfüllte Zeit, voller Ungewißheit, ob die verhafteten und gefolterten Kameraden schweigen würden. Für den Fall, daß die Gestapo zuschlagen würde, bereiteten sich Duckwitz und seine Frau auf das Schlimmste vor. Am 5. September wurde Annemarie zu Freunden nach Schweden geschickt – zunächst, um einer Zwangsverpflichtung zum Schanzengraben zu entgehen, aber vermutlich auch, um einer eventuellen Sippenhaft zuvorzukommen. Ein Abschiedsbrief an die Eltern in der Schweiz, auf den 24. Oktober 1944 datiert, zeigt den tödlichen Ernst, mit dem sie die Situation ihres Mannes in Dänemark beurteilte. Duckwitz war davon überzeugt gewesen, daß das Attentat auf Hitler nicht fehlschlagen könne. Um so größer waren der Schock und der Druck, einen Sinn im Scheitern zu finden. Duckwitz fand ihn in der Überzeugung, daß die Deutschen von der Goebbels’schen Propaganda so vergiftet waren, daß Hitlers Tod und eine darauffolgende Niederlage eine neue Dolchstoßlegende geschaffen hätten. Er kam zur schmerzlichen Einsicht, daß nur die totale militärische Katastrophe den Weg für den Wiederaufbau Deutschlands bereiten könne. Duckwitz glaubte daran, daß Geschichte einen Sinn hat und daß er in Dänemark eine Rolle spielen sollte. Heute können wir sehen, daß diese Rolle nicht zufällig war: Duckwitz besaß die politischen und diplomatischen Begabungen, die ihn nach dem Krieg als Botschafter nach Kopenhagen zurückbrachten und ihn später auf die höchsten Positionen des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik führten, zuletzt als Staatssekretär und Vertrauter Willy Brandts. Er besaß Tatkraft und Entschlußfreudigkeit. Dazu kamen die nötige Robustheit und Frechheit, um sich durchzusetzen, sowie Optimismus und die Kraft, auch in den schwierigsten Situationen Auswege zu finden. Er besaß Zivilcourage und Humor, verstand und respektierte die Dänen und war mit ihren Eigenarten vertraut. Er war gesellig und großzügig – es gab nur wenige, die nicht „Duckys“ Charme erlagen. Und zu den beruflichen und menschlichen Qualitäten kamen als ideelle Triebkraft eine zutiefst humanistische
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Grundhaltung sowie ein steter und prinzipienfester Wille, dem Machtmißbrauch und den Verbrechen des Nazisystems entgegenzuwirken. Duckwitz setzte von Hassell – der im September 1944 in Plötzensee gehängt wurde – dieses Denkmal: „Aufrecht, anständig und treu seiner Überzeugung hat er gelebt.“ Diese Worte sind auch eine treffende Charakterisierung seiner eigenen Person. Das Bild, das hier von Duckwitz als aktivem Nazigegner während der deutschen Besatzung Dänemarks gezeichnet wird, ist seit der Veröffentlichung 1999 nicht unangefochten geblieben. Die zeitgeschichtliche Forschung entwickelt sich ständig – laufend tauchen neue Gesichtspunkte, neue Quellen und neue Akzente auf. Entscheidend ist jedoch der Wandel in unserer Sicht auf die Epoche des Zweiten Weltkriegs, der in den 90er Jahren mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges einsetzte. In Dänemark ging dies mit einem Paradigmenwechsel von einer heroischen Betrachtung der „Besatzungs-Generation“ zu einer kritischeren Sicht sowohl der Zusammenarbeitspolitik als auch der Widerstandsbewegung einher. Sie betrifft im übrigen auch den großen Teil der Bevölkerung, der zwischen diesen Polen stand. Dieser Paradigmenwechsel gab auch Raum für Angriffe auf den Heldenstatus, den Duckwitz in der dänischen Konsenstradition besitzt. Ausgehend von der Verschwörungstheorie von Tatiana Berenstein wird Duckwitz vorgeworfen, während der Zeit in Dänemark Krypto-Nazi – vielleicht sogar verkappter SS-Mann – gewesen zu sein. Er wird als Bests Kreatur aufgefaßt und sein Handeln in den Oktobertagen 1943 wird als Ausdruck reinen Opportunismus interpretiert. Sein großer Nachkriegsbericht wird als Versuch der Verschleierung bewertet. Darüber hinaus wird Duckwitz’ Rolle in der deutschen Opposition gegen Hitler in Frage gestellt – was nicht überrascht, weil unser Wissen darüber nahezu ausschließlich auf seinem eigenen Bericht beruht. Schließlich – und am heftigsten – ist Duckwitz wegen seiner Rolle als Schiffahrtssachverständiger vom 1. September 1939 bis zur deutschen Invasion am 9. April 1940 angegriffen worden, also in Bezug auf die Periode, in der Dänemark noch neutral war. In dieser Zeit soll er Spionage betrieben und dänische Handelsschiffe als Ziele für die deutsche Kriegsmarine identifiziert haben. In diesem Lichte gesehen, erscheint Duckwitz als Mörder von mehr als 300 dänischen Seeleuten, die infolge deutscher Angriffe ihr Leben verloren. Dieser Vorwurf wurde schon früh von dänischen Seeleuten vorgebracht und in den 80er Jahren von der Kommunistischen Partei Dänemarks erneuert. All diese Vorwürfe beruhen allerdings auf Vermutungen und Spekulationen und manchmal sogar auf direkten Mißverständnissen wie zum Beispiel der Verwechslung von Namen. Sie sind auch nicht frei von Antipathie gegen einen Mann mit einer Vergangenheit als Freikorpssoldat und Nazi-Parteifunktionär und sie sind geprägt von Mißtrauen gegenüber seiner Wandlung zum Demokraten, weg vom nationalsozialistischen Gedankengut. Wenn die Forschung diese Vorwürfe nicht ohne weiteres zurückweisen kann, liegt das daran, daß wir, wie bereits im Artikel angeführt, für Duckwitz’ „dänische
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Periode“ in hohem Maße auf Quellenmaterial angewiesen sind, das von ihm selbst stammt. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig auf einen Aspekt von Duckwitz’ Wirken hinzuweisen, der bisher wenig beachtet worden ist. Wie andere Nazi-Gegner, die nicht nur in der Hitlerdiktatur überleben, sondern auch deren Verbrechen aktiv bekämpfen wollten, mußte Duckwitz seine Rolle in der Besatzungsbürokratie überzeugend spielen, wo es notwendig war. Das konnte in seiner Umgebung den Eindruck von Doppeldeutigkeit und Ambivalenz hinterlassen und gerade hierauf haben sich die Kritiker konzentriert. Der deutsche Historiker Thomas Sandkühler, der die Rolle eines anderen Judenretters, nämlich die von Berthold Beitz in Galizien, untersucht hat, stellt die Frage, ob nicht gerade diese „Ambivalenz“ eine entscheidende Voraussetzung dafür war, um überhaupt der „Endlösung“ entgegentreten zu können. Die gleiche Frage stellt sich in Bezug auf Duckwitz. Aber es fehlt bislang eine wissenschaftliche Biographie, die Duckwitz’ Rolle in Dänemark in einem größeren Zusammenhang betrachtet und die Zeit vor sowie nach dem Krieg miteinbezieht.10 Dieser Artikel kann nur als ein erster Ansatz für eine solche Studie gesehen werden.11 Ein Hinweis dafür, wie sein Wirken letztendlich zu bewerten ist, könnte die Art und Weise sein, in der seiner in Israel gedacht wird. Am 29. März 1971 erkannte die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem Georg Ferdinand Duckwitz mit ihrer Akte Nr. 0679 den Titel „Gerechter unter den Völkern“ zu.12 10 Anmerkung des Herausgebers: Im September 2013, lange nach der Abfassung dieses Aufsatzes, ist aus der Feder des dänischen Publizisten, Diplomaten und Journalisten Bo Lidegaard eine Studie über die von Duckwitz maßgeblich ermöglichte Rettung der dänischen Juden erschienen. Das war überfällig, denn in Dänemark am 1. Oktober 1943 war das Unmögliche für einen kurzen und in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs beispiellosen Moment möglich. Georg Ferdinand Duckwitz verriet die Order zur Deportation der jüdischen Dänen über die dänische Sozialdemokratie an die Betroffenen. Flüchtlinge und kirchliche Gemeinden verbreiteten die Warnung wie ein Lauffeuer, im Nachbarland Schweden bereitete man sich vom Ministerpräsidenten bis zum einfachen Ferienhausbesitzer auf die Ankunft Tausender Flüchtlinge vor, denn Duckwitz hatte auch hier vorgewarnt; einige deutsche Wachsoldaten schauten weg. Ein Lehrstück über Zivilcourage und Widerstand im Dritten Reich. Was wäre gewesen, wenn Beamte sich den Dienstanweisungen zur Durchführung der Endlösung verweigert hätten? Wenn politische und geistliche Verantwortungsträger die Verfolgten als Mitbürger betrachtet hätten? Wenn Menschen im Haus nebenan der Humanität den Vorzug gegeben hätten vor ihrer eigenen Sicherheit? Das Entkommen der dänischen Juden, der mutige Schritt des Diplomaten Duckwitz, die dadurch erst mögliche Zivilcourage der Mitbürger – ein bewegendes Zeugnis davon, was hätte sein können im Europa der 1940er Jahre. Lidegaard, Bo, Die Ausnahme, Oktober 1943 – wie die dänischen Juden mithilfe ihrer Mitbürger der Vernichtung entkamen, München 2013. 11 Ich danke Frau Hanna Duckwitz für die Erlaubnis, die Tagebücher und Kalender von G. F. Duckwitz im Auswärtigen Amt zu benutzen sowie für die Zurverfügungstellung der Tagebücher ihrer Mutter Annemarie Duckwitz und weiteren wertvollen Materials. Mein Dank gilt auch der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Kopenhagen und dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts für Hilfestellung. 12 Fraenkel, Daniel / Borut, Jacob, Lexikon der Gerechten unter den Völkern, Abt. Deutsche und Österreicher, Bd. 1, Göttingen 2005, S. 103 f.
Wilhelm v. Flügge – Doppelspiel in Istanbul Von Sebastian Sigler Perfekt getarnt hatte Wilhelm v. Flügge seinen Kontakt zu anderen Akteuren des Widerstands gegen Hitler. Auch heute noch ist über ihn zu lesen, er sei „Direktor der I. G. Farben in Berlin“ gewesen, was aber nur sehr bedingt stimmt. Formell ist es für die Zeit von 1937 bis 1943 richtig, daß ihn diese Firma bezahlte. Faktisch stimmt dies jedoch nur für die Jahre 1937 und – teilweise – 1938. Und er hatte auch nicht die Position eines Direktors, sondern er war Auslandsbeauftragter in Beirut. Ab Kriegsbeginn war v. Flügge dann auch in dieser Position nur noch zum Schein tätig. In Wirklichkeit arbeitete er nun verdeckt für das Amt Abwehr, wo er seit spätestens 1937 Kontakte speziell zur Widerstandsgruppe um die hohen Militärs Wilhelm Canaris und Hans Oster hatte; im Rahmen der Sudetenkrise und der Widerstandsaktivitäten dagegen war er Canaris als „Gegner Hitlers“ vorgestellt worden. Ab Kriegsbeginn waren die I. G. Farben lediglich für die Durchleitung von Flügges Honorierung zuständig. Offiziell berichtete er an das Amt Abwehr über wirtschaftspolitische Fragen aus Istanbul, inoffiziell knüpfte er mancherlei Drähte im Widerstand gegen Hitler, davon wird noch zu berichten sein; er hielt den Kontakt zu Akteuren des Widerstands – kontinuierlich. Ab 1942 berichtete Flügge direkt an Hans Oster; nach der Enttarnung der Widerstandsgruppen im Amt Abwehr und der Verhaftung von Canaris war auch seine Tarnung aufgeflogen; er wurde unter einem Vorwand im April 1944 per Flugzeug nach Berlin beordert und bereits bei einer Zwischenlandung in Wien festgenommen. Wilhelm v. Flügge war nacheinander in den Konzentrationslagern Ravensbrück, Sachsenhausen und Dachau interniert und wurde in der letzten Stunde des NSRegimes, am 27. April 1945, als einer von 137 sogenannten Sippen- und Sonderhäftlingen durch ein SS-Kommando auf eine Irrfahrt in die Alpen verschleppt. Maßgeblich trug er zur Befreiung des ganzen Gefangenentrecks bei, bevor militärische Sicherung durch eine Wehrmachts-Einheit, die herbeibeordert werden konnte, erfolgte. Flügge hat zu einem Entwurf für eine neue Reichsverfassung beigetragen, und wahrscheinlich sind seine Ausarbeitungen Gegenstand in den Beratungen des Kreisauer Kreises gewesen. Bis auf ein knappes Lebensbild in einem Sammelband1 ist seine Widerstandstätigkeit überhaupt noch nicht gewürdigt worden. 1 Meyer, Winfried, Wilhelm von Flügge, in: ders., Verschwörer im KZ, Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Bd. 5, Oranienburg 1998, S. 245 – 248: dieser Text
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Die Familie Flügge stammte aus Mecklenburg, und ein Jahr, bevor Albert Eduard Wilhelm v. Flügge am 8. August 1887 in Düsseldorf geboren wurde, war sein Großvater Wilhelm Flügge in den preußischen Adelsstand erhoben worden. Sein Vater war Erich v. Flügge, königlich-preußischer Landrat, studierter Jurist, tätig in den preußischen Rheinprovinzen; seine Mutter war dessen Gemahlin Nelly, die aus einer Stettiner Industriellenfamilie stammte. Angesichts der Herkunft nimmt es nicht wunder, daß Wilhelm das Greiffenberg-Gymnasium in Putbus besuchte. Nach dem Abitur dort zog es ihn wieder nach Westen, er schrieb sich, kaum 18-jährig, im Jahre 1905 an der Heidelberger Ruperto-Carola für Staatswissenschaften ein. Im Wintersemester 1905/1906, noch vor Weihnachten, wurde er beim Corps SaxoBorussia rezipiert2 – wie bereits sein Vater.3 Dieser Schritt war zeitgemäß logisch, und auch die weitere Ausbildung verlief in erwartbarem Rahmen. Studiensemester in München, Bonn und Köln, 1908 das Referendarsexamen, dann „Einjähriger“ bei den Königs-Husaren in Bonn, Referendar in Köln, schon damals mit dem Schwerpunkt Verwaltung, dann 1913 das Assessorexamen. Kurz nur waren seine Amtszeit als Regierungsassessor in Greifswald und, nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, seine Verwendung als Ordonnanzoffizier bei der 4. Kavallerie-Division. Schon 1915 wurde er in das Reichsamt des Inneren bestellt, 1916 wechselte er als Referent zum Kriegsernährungsamt, er war dort mit Düngemitteln und ihrer Beschaffung befaßt, 1917 verfaßte er als Regierungsassessor den Aufsatz: „Der Absatz der künstlichen Düngemittel im Kriege“.4 Ebenfalls 1917 stieg er zum Reichskommissar für die Fischversorgung auf.5 Im Jahre 1921, formell nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, aber de facto in überaus unruhigen Zeiten, wie die Ruhrbesetzung der Franzosen, die Kämpfe an der Ostgrenze des Reiches und hier insbesondere die Schlacht am Annaberg zeigten, wurde er Reichsbeauftragter für die Überwachung der Ein- und Ausfuhr. Da das Deutsche Reich in vielen Belangen unter alliiertem Mandat stand, reiste er oft in die Hauptstädte der Siegermächte England und Frankreich sowie nach Istanbul. Dieses Amt übte er etwas mehr als zwei Jahre lang aus, um sich danach, ab 1924, der Bewirtschaftung der im Familienbesitz befindlichen mecklenburgischen Güter Speck und Jakobsdorf zu widmen. Seine Ehefrau Ellen, die er 1922 geheiratet hatte, starb bereits 1927. Eine zweite Ehe, die er 1929 schloß, wurde bald geschieden; aus keiner der beiden Ehen gingen Kinder hervor.
stellt die derzeit mit Abstand am besten recherchierte, zusammenfassende Quelle zur Widerstandstätigkeit Wilhelm v. Flügges dar, er wurde seiner Bedeutung entsprechend genutzt. 2 Gerlach, Otto (Hrsg.), Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, (künftig: KCL), Nr. 66 – 1169. 3 KCL, Nr. 66 – 818. 4 Flügge, Wilhelm v., Der Absatz der künstlichen Düngemittel im Kriege, in: Großmann, Prof. Dr. H. / Bueb, Rittmeister / Flügge, Wilhelm v. (Hrsg.), Düngemittel im Kriege, Beiträge zur Kriegswirtschaft, Bd. 15, Berlin 1917, S. 38 – 52. 5 Meyer, Flügge, S. 245.
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Die Weltwirtschaftskrise von 1929 beschäftigte Flügge enorm. Zusammen mit Friedrich-Karl v. Zitzewitz-Muttrin6 und Karl-Magnus v. Knebel Doeberitz, beide ebenfalls Gutsbesitzer, die Familien waren seit Generationen freundschaftlich verbunden, verfaßte er einige Denkschriften zur Wirtschaftspolitik, in denen er für ein breit angelegtes gesellschaftliches Bündnis zur Überwindung der Krise warb. Es handelte sich hier um einen Kreis, der bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten versuchte, diesen entgegenzuwirken. Flügge selbst war in diesem von Knebel Doeberitz geleiteten Kreis durchaus aktiv, er schrieb dazu: „Um die Haltung dieses Kreises, seiner Anschauungen seiner Tendenzen und seiner Absichten während der Nazizeit beurteilen zu können, muß man meines Erachtens vor die Nazizeit zurückgreifen und in Sonderheit auf den Kampf und die Kampfziele, die dieser Kreis schon vor der Machtergreifung verfolgte.“7 Flügge war zu Jahresbeginn 1933 hier auch damit befaßt, geeignete Kandidaten für die Besetzung von Ämtern in einer für Februar 1933 geplanten Neuauflage der zivilen Regierung Schleicher zu finden: „Sachlich führte die Tendenz dann zu jener projektierten Bildung des neuen Kabinetts Schleicher, das für den Februar 1933 in Aussicht genommen war. An der personellen Formulierung dieses Kabinetts, soweit die wirtschaftliche Seite in Frage kam (und die war damals bei weitem die Hauptsache), habe ich damals in intensiver Weise teilgenommen.“8 Die Machtergreifung Hitlers machte diese Pläne obsolet. Schon bald erkannte Wilhelm v. Flügge, daß er dem NS-Regime würde ausweichen müssen, denn im Mai 1933 war Knebel Doeberitz, der Kopf der Gruppe Widerständiger, zu der sich auch Flügge zählte, von der Gestapo verhaftet worden. Flügge selbst beschloß, zur Sicherheit nach Wien überzusiedeln. Eine Rolle spielte hier auch, daß ein Urgroßvater mütterlicherseits jüdisch gewesen war. Für Landwirte, zumal wenn sie große Güter bewirtschafteten, wurde die NS-Rassenideologie sehr strikt angewandt. Spätestens durch die Nürnberger Rassegesetze wäre ihm die Berechtigung, als Landwirt tätig zu sein, willkürlich abgesprochen worden. Von Wien aus wurde Flügge erstmals freiberuflich für die I. G. Farben tätig; er trieb in Osteuropa ausstehende Gelder ein. Immer wieder machte er auch Studienreisen, die ihn bis in den Vorderen Orient führten. 1937 wurde er dann, dies beides vereinend, auch offiziell für die I. G. Farben tätig, und zwar als Beauftragter in Beirut. Mehrmals im Jahr reiste er für jeweils einige Wochen nach Deutschland. 1938 sah er sich zu etwas ausführlicheren Heimatkontakten genötigt: „Diese Ver6 Zitzewitz gehörte den Corps Saxo-Borussia Heidelberg und Borussia Bonn an, vgl. KCL, Nr. 66 – 1204, Nr. 9 – 914; im Jahre 1953 wurden ihm wegen seiner Verdienste um die ReEtablierung des Corpsstudententums das Band der Hansea Bonn – vgl. KCL, Nr. 11 – 533 – sowie die Schleife der Starkenburgia Gießen verliehen, s. dazu KCL, Nr. 37 – 870; s. auch: Beitrag Zitzewitz in diesem Buch. 7 Flügge, Wilhelm v., Brief an Friedrich-Karl v. Zitzewitz, Rottach, datiert 29. Dezember 1947, IfZ, ZS 2160; Abschrift im Besitz der Familie des Adressaten, dem Verfasser dankenswerterweise übermittelt durch Dedo Graf Schwerin v. Krosigk. 8 Ebd.
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bindungen erweiterten sich etwas seit der Zeit der Sudentenkrisis. Ich war damals gerade in Deutschland und fürchtete damals mit Recht, daß es bei Ausbruch des Krieges mir nicht ohne weiteres möglich sein würde, meinen Aufenthalt im Ausland durchzuhalten, einmal, weil ich bei den Nazis doch stark suspekt war, und zum anderen, weil auch die Frage der militärischen Einziehung zur Sprache kommen mußte“.9 Angesichts der Vielzahl von Oppositionskontakten, die er hatte und aus denen die Militärs Kurt v. Hammerstein-Equord und Ludwig Beck sowie Wilhelm Canaris vom Amt Abwehr hervorzuheben sind,10 drängt sich der Eindruck auf, Flügge sei in dieser Regelmäßigkeit zurückgekehrt, um sich in einem bestehenden Netzwerk auf dem Laufenden zu halten und neue Instruktionen zu übernehmen.11 Dies um so mehr, als offensichtlich Knebel Doeberitz ihn schon 1933 darin bestärkt hatte, vom Ausland aus zu operieren. Flügges Tätigkeitsfeld vom Osteuropa bis in den Mittleren Osten, das wenig kohärent wirkt, erfährt aus einer eigenhändigen, nachträglichen Schilderung eine gewisse Aufhellung: „Gleich nach den Tagen der ,Machtergreifung‘ wies Knebel darauf hin, daß es für die Überzeugungsarbeit bei den Generälen unerläßlich wäre, dauernd darüber orientiert zu sein, wie sich das Ausland zu dem Militärputsch und den daraus folgenden innerdeutschen politischen Veränderungen stellen würde. Es sei daher unerläßlich, über diesen Punkt dauernd eingehend Informationen zu haben, die nur vom Ausland aus gewonnen werden könnten (die Erkenntnis dieser Notwendigkeit verstärkte sich bei uns in den folgenden Jahren erheblich, als es klar wurde, daß die Westmächte die überaus törichte Politik einschlugen, Konzessionen, die sie der Weimarer Republik und den Regimen Papen und Schleicher verweigert hatten, nun den Brüskierungen der Nazis zuzusprechen; ein Tatbestand, der ja für unsere Überzeugungsarbeit bei den Generälen eine doppelte Schwierigkeit mit sich brachte: einmal, weil sie nun mehr und mehr anfingen, die erfolgreiche Politik Hitlers zu bewundern, und weil sich zum anderen bei ihnen die Befürchtung regen mußte, daß bei Umgestaltung des Regimes zu freundlichen politischen Formen die Westmächte in die alte negative Haltung zurückfallen würden.“12 Tatsächlich war es wohl so, daß sich von Beirut recht unauffällig Kontakte zu Diplomaten dritter Mächte herstellen ließen. Flügge sondierte, wie eine Reaktion des Auslands auf einen Sturz Hitlers sein würde, und arbeitete 9
Ebd. Meyer, Flügge, S. 246. 11 Flügge berichtet im Brief an Zitzewitz, a.a.O.: „Der Hauptansatzpunkt war wohl – richtigerweise – Hammerstein, dem man von allen Generälen wohl am ehesten die Entschlossenheit und die Kaltblütigkeit zutrauen konnte, wirklich und radikal zuzuschlagen. Daß diese Beurteilung richtig war, hat ja auch der 20. Juli ergeben; […] und ich bin persönlich (nach allem, was ich über den 20. Juli inzwischen gelesen und gehört habe) davon überzeugt, daß einmal Becks aktive Haltung doch ganz wesentlich auf Hammersteins angeborene Aktivität zurückzuführen ist; und nebenbei bin ich davon überzeugt, daß, wenn Hammerstein gelebt hätte, viele Unterlassungen, Unklarheiten und Unentschiedenheiten am Tage des Putsches selber nicht vorgekommen wären; Hammerstein wäre an diesem Tage die Zigarre nicht ausgegangen, aber manchem anderen.“ 12 Ebd. 10
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im übrigen an einem Entwurf für eine Reichsverfassung nach dem erhofften Sturz Hitlers, den „Bemerkungen zur deutschen Verfassung“,13 und an einer Verwaltungsreform.14 Die Idee zu dem umfassenden Verfassungsentwurfs stammte dabei wohl nicht von ihm: „Knebel hat selber damals den Anfang einer großen Denkschrift gemacht. […]15 Aber gerade bei den Schwierigkeiten, die das hatte, hat er mich damals gebeten, über die Frage der kommenden Verfassung in diesem Sinn eine grundlegende Arbeit zu machen, die alsbald nach geglücktem Putsch den Generälen in die Hand gedrückt werden müßte und auf die sie von vornherein vereidigt werden müßten.“16 Die Hoffnungen, die der Widerstand gegen Hitler namentlich im Herbst 1938 hegte, zerstoben mit dem Zustandekommen der Münchner Konferenz. Hitler blieb, der Krieg kam. Flügges Ziel damals – und dasjenige Knebels – war „nicht etwa die Hitlersche Diktatur durch eine Militärdiktatur oder eine Hohenzollerndiktatur zu ersetzen, sondern die Herstellung eines einwandfreien Rechtszustandes.“17 Flügge folgend war es das Ziel der Gruppe, „Generäle in einem jeweils psychologisch geeigneten Augenblick zum Zuschlagen zu bewegen und die dazu nötige Überzeugungs- und Überredungstätigkeit zu entwickeln“.18 Er erinnert sich weiter, „daß Knebel während der ganzen zehn Jahre außer mit Sozialdemokraten in dauernder Verbindung mit allen möglichen Gruppen stand. Ich weiß von eingehenden Verhandlungen mit der katholischen Seite, vor allem mit [Andreas] Hermes. Ich weiß von eingehenden Unterhaltungen vor allem mit dem Kronprinzen, und ich weiß, daß die ganze Tendenz seiner Unterhaltungen darauf hinaus ging, einmal alle diese Gruppen hinter die Wehrmacht zu bringen.“19 Der Krieg veränderte die Lage grundlegend. Für Wilhelm v. Flügge wurde es nötig, eine erheblich bessere und raffiniertere Tarnung zu haben. Admiral Wilhelm Canaris verschaffte sie ihm. Flügge, der spätestens ab jetzt zur engeren Widerstandsgruppe um Canaris gezählt werden darf, arbeitete fortan aus Istanbul für den militärischen Nachrichtendienst zu wirtschaftspolitischen Fragen, die I. G. Farben kam formell weiter für sein Gehalt auf. Canaris besuchte ihn in Istanbul. Flügge berichtet, was Canaris ihm sagte: „Ich komme eben von der russischen Front. Mit der Weite dieses Kriegsschauplatzes werden wir nie fertig. Wir werden viele Siege erringen, aber zum Schluß wird dieser Kriegsschauplatz eine brennende Wunde bleiben, an der wir zugrundegehen werden. Vor allem aber: ich habe die Mörderbande SS dort schon genau so am Werk gesehen wie in Polen. So etwas muß 13
Meyer, Flügge, S. 247. Meyer, Flügge, S. 246, leider aber ohne weiterführende Belege. 15 Der Autor verwendet in seinen hier wiedergegebenen Zitaten gern und häufig Klammern. Daher weicht der Herausgeber auf eckige Klammern aus. 16 Flügge, Brief Zitzewitz. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 14
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schlecht ablaufen.“ Dann ergriff Canaris, wie sich Flügge erinnert, „erregt“ dessen Arm und fuhr fort: „Flügge, wenn wir all das an den Schweinen noch einmal rächen können, dann will ich gern daran sterben.“20 Über den Bonner Preußen und Sachsenpreußen-Corpsbruder Friedrich Karl v. Zitzewitz wurde 1942 ein Kontakt zu Hans Oster geschaltet.21 Der empfahl ihn wegen eines Termins bei Oster an Jesco v. Puttkamer: „Puttkamer ist dann zu Oster gegangen, hat ihn über meine Tätigkeit aufgeklärt (und zwar sowohl die außenpolitische, wie auch die Herstellung von Exposés über Maßnahmen nach dem Putsch) und auch zum Ausdruck gebracht, daß ich in beider Hinsicht zur Verfügung stände, ferner auch für die Herstellung von Verbindungen mit maßgeblichen Leuten von der Feindseite.“ Oster empfing Flügge zu einem langen, vertraulichen Meinungsaustausch.22 Rosemarie Heyd-Burkart, die für Adam von Trott zu Solz Abschriften machte und in vertrauliche Vorgänge eingeweiht war, nahm im Frühjahr 1942 eine Botschaft Flügges für Trott mit nach Berlin. Sie überbrachte das gefährliche Wissen mündlich in einem Berliner Café.23 Am 31. Dezember 1942 verstarb plötzlich und unerwartet Karl-Magnus v. Knebel Doeberitz. Flügge, der in Widerstandsdingen eng mit ihm zusammengearbeitet hatte, wurde nun zum direkten Ansprechpartner der Widerstandskämpfer im Amt Abwehr und von General Hans Oster. Teilweise liefen die Kontakte über Eduard Wätjen. Im Juni und Juli 1943 traf Flügge in Istanbul Adam v. Trott zu Solz und Helmuth James Graf v. Moltke, die unter unverfänglichem Vorwand an den Bosporus gereist waren, um Kontakte zu zivilen Kräften bei den alliierten Kriegsgegnern zu sondieren. „Durch Wätgen [sic!] war ich schon ziemlich früh in Verbindung auch mit dem Kreisauer-Kreis gekommen, und durch Wätgen [sic] wurde ich auch seit 1942 über die verschiedenen Attentatspläne und ihren Stand auf dem Laufenden gehalten. Moltke und Trott waren mehrfach in Istambul [sic] und waren an mich verwiesen. Ich habe sie damals im Wesentlichen nicht sehr aussichtsreich bescheiden müssen und zum Ausdruck gebracht, daß in anderen Ländern (Schweiz, Schweden) die Aussichten vielleicht besser lägen.“24 Und Flügge war von der Notwendigkeit eines Attentats auf Hitler absolut überzeugt, er wirkte aktiv darauf hin. Bereits im Frühjahr 1942 hatte er einen ebenfalls im Widerstand Tätigen, den er nur kurz als „Hausen“ bezeichnet, von der Notwendigkeit eines Attentats gegen Hitler überzeugt, so daß, wie Flügge schreibt, „meine Argumentation ihn zu der positiven Schlußfolgerung brachte: ,Dann also ist die Ermordung unabweisbar‘.“25 20
Flügge, Brief Zitzewitz. Vgl. dazu: Schwerin v. Krosigk, Dedo Graf v., Friedrich-Karl v. Zitzewitz, in diesem Band. 22 Flügge, Brief Zitzewitz. 23 Krusenstjern, Benigna v., „daß es Sinn hat zu sterben – gelebt zu haben“. Adam von Trott zu Solz 1909 – 1944, Göttingen 2009, S. 481. 24 Flügge, Brief Zitzewitz. 25 Ebd. 21
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Im Jahre 1943 wurde Flügges Tarnung abermals verfeinert; zu vermuten ist, daß auch hier die Verhaftung v. Dohnanyis am 5. April 1943 eine Rolle spielte. Offizieller Arbeitgeber war spätestens ab Ende 1943 die Nordsee AG,26 für die Flügge, der mit diesem Thema schon 1917 zu tun gehabt hatte, Fischexporte aus der Türkei ins Reich organisierte. Unverändert berichtete er an das Amt Abwehr, und unverändert beteiligte er sich an Planungen für ein Deutschland nach dem erhofften Sturz Hitlers. Er unterhielt eine größere Zahl von Kontakten zu deutschen Gegnern des NS-Regimes, doch weiterhin mißlang die Kontaktaufnahme zu erstrangigen ausländischen Gesprächspartnern. Fatale Folgen für Flügge hatte der Fall des Abwehrmannes Erich Vermehren, der im Februar 1944 nebst seiner Frau Elisabeth ausgerechnet in Istanbul zu den Briten übergelaufen war, was international für erhebliches Aufsehen sorgte. Gestapobeamte kamen den konspirativen Aktivitäten, die Flügge gegen das NS-Regime entfaltet hatte, auf die Spur, als sie eigentlich nach Beweisen gegen die Vermehrens suchten, dabei in sein Büro einbrachen und dort die Entwürfe für eine Reichsverfassung und für eine Bildungsreform fanden – sie hatten nicht danach gesucht, weil deren Existenz dem NS-Apparat bis dato unbekannt gewesen war. Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, berichtete Hitler am 7. und nochmals 26. Februar mit Nachdruck über eine „zweite Verratsquelle in der Türkei“, die sich „um den Baron von Flügge konzentriert“ habe.27 Der Fall Vermehren und die sich in der Folge ergebenden Erkenntnisse waren dann auch der Vorwand für Hitler, das Amt Abwehr de facto aufzulösen und einen neuen Geheimdienst unter der Leitung von Heinrich Himmler zusammenzuführen. Flügge war ohne Auftraggeber, als Agent ohne Legende und, was entscheidend war, durch das NS-Regime als Mann des Widerstands erkannt. Im April 1944 stellte das Reichssicherheitshauptamt, in dem inzwischen personelle Änderungen umgesetzt waren, dem ehemaligen Abwehr-Mitarbeiter Wilhelm v. Flügge eine Falle. Der Canaris-Nachfolger Georg Hansen, der in früheren Jahren als Gegner Hitlers gegolten hatte, wurde gezwungen, Flügge in Istanbul telegraphisch zu dringenden Beratungen nach Berlin zu beordern. Doch der zögerte, ahnte wohl den Verrat. Erst nach mehrmaliger Aufforderung setzte er sich ins Flugzeug, weil am Ende das Vertrauen in die Hitler-Gegnerschaft Hansens überwog. Bereits bei einer Zwischenlandung in Wien schnappte die Falle zu. Flügge wurde aus dem Flugzeug heraus verhaftet. Über Berlin, wohin Flügge auf dem Landweg gebracht wurde und wo er im Hausgefängnis der Kaltenbrunner-Behörde einsaß, wurde er in das KZ Ravensbrück gebracht. Und obwohl sein Entwurf für eine Reichsverfassung den Behörden bereits vorlag, wurde er zunächst von Gestapo-Abteilungsleiter Willy Litzenberg, der ihn vernahm, dem österreichischen Freiheitskampf zugeordnet. Erst 26
Für die Nordsee AG arbeitete auch Eduard Brücklmeier ab 1943, er war über den kaufmännischen Direktor dieser Firma, Wilhelm Roloff, dorthin vermittelt worden; vgl. dazu: Beitrag über Eduard Brücklmeier in diesem Band. 27 Weitere Zitate aus dem Bericht Kaltenbrunners: Meyer, Flügge, S. 247.
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die Verhaftungswelle nach dem Attentat des 20. Juli brachte den Sicherheitsbehörden genug Erkenntnisse, um Flügges Kontakte zu zentralen Persönlichkeiten des Widerstands gegen Hitler im Reich selbst erkennbar werden zu lassen. Flügge selbst war darüber erstaunt, wie schleppend die Recherchen von Gestapo und SS liefen: „Nach dem 20. Juli liegt ein Grund wohl in der starken Überbeschäftigung der Gestapo-Referenten und auch in der scharfen ressortmäßigen Einteilung, bei der ich nun einmal zunächst in die Kategorie Österreichische Freiheitsbewegung gerutscht zu sein schien. Vielleicht konnten sie sich auch nicht vorstellen, daß man bei einem Militärputsch alsbald den Soldaten so deutliche Dinge sagen konnte, wie sie sich in meiner Denkschrift fanden. Noch entscheidender aber ist nach meiner Beobachtung etwas anderes: nämlich die Tatsache, daß zum mindesten eine große Reihe von Gestapoleuten eben doch überzeugte Nazis waren und sich einfach nicht vorstellen konnten, oder nicht wissen wollten, daß es eine so starke und weitverzweigte Bewegung gegen sie gab.“28 Im Herbst 1944 wurde Flügge in das KZ Sachsenhausen gebracht. Dann begann eine Reihe von Transporten, die, wie sich später zeigen sollte, direkt mit dem Kriegsverlauf zusammenhing. Über Berlin, wo er zwischen Februar und April 1945 inhaftiert war, landete er im KZ Flossenbürg und wenige Tage später im KZ Dachau. Dort gehörte er zu einer Gruppe von bis zu 137 Häftlingen,29 die am 27. April in einem Konvoi von Bussen und Lastwagen 30 unter dem Kommando des SS-Obersturmführers Edgar Stiller in Richtung Süden, in Richtung der „Alpenfestung“ geschickt wurden – wohl, um den verbleibenden Nationalsozialisten um Heinrich Himmler möglicherweise als Faustpfand zu dienen. Auf diese Fahrt wurden, bewacht von einem schwerbewaffneten SS-Kommando, solche Häftlinge mitgenommen, von denen seitens der SS angenommen wurde, daß ihr Name im Ausland bekannt sein würde, damit sich ihr Austausch auch lohnte.31 Sie stammten aus 17 verschiedenen Nationen. Mehrere Familienangehörige von Claus Schenk Graf v. Stauffenberg waren ebenso darunter wie die Familie Schuschnigg und Pastor Martin Niemöller. Ganz am Schluß scheint das NS-Regime, das ohnehin verbrecherischer nicht sein konnte, zu einer Erpresserbande verkommen zu sein. Es sollte alles darangesetzt werden, daß diese Häftlinge,32 darunter Flügge, nicht von den Alliierten befreit würden.33 28
Flügge, Brief Zitzewitz. Die Angaben der Zeitzeugen differieren hier; vgl. Richardi, Hans-Günter, SS-Geiseln am Pragser Wildsee, Prags 2006, S. 14; Hassell, Fey von, Niemals sich beugen. Erinnerungen einer Sondergefangenen der SS, Brescia 1987, hier: dt. München 1990, S. 187, spricht von 120 Gefangenen aus 16 Nationen. 30 Vgl. Hassell, Niemals sich beugen, S. 188: hier ist von vier großen Autobussen die Rede. 31 Himmler äußerte dazu: „Diese Art von Juden sind für uns wertvolle Geiseln.“ Vgl.: Richardi, Hans-Günter, SS-Geiseln am Pragser Wildsee, Prags 2006, S. 12. 32 Namentlich bei: Hassell, Niemals sich beugen, S. 189; Vermehren, Isa, Reise durch den letzten Akt. Ravensbrück, Buchenwald, Dachau: eine Frau berichtet, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 147. 29
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Am frühen Morgen des 28. April gelangte der Konvoi, der zunächst in Innsbruck hatte enden sollen,34 wo aber geeignete Gefängnisgebäude fehlten, nach Niederndorf im Südtiroler Pustertal. Flügge und ein Mithäftling, Boleslav von Bonin, belauschten während dieser Fahrt ein Gespräch zwischen Obersturmführer Stiller und dem stellvertretenden Kommandanten des Konvois, Untersturmführer Bader, indem sie sich schlafend stellten. Die beiden SS-Männer tauschten sich mit leiser Stimme darüber aus, daß sie, einem Befehl Heinrich Himmlers folgend, unter bestimmten Bedingungen den ganzen Konvoi mit Bomben, die unter den Fahrzeugen angebracht sein sollten, in die Luft jagen würden – und zwar am Folgetag, dem 29. April.35 Das bedeutete akute Lebensgefahr für die Gefangenen. Flügge und Bonin berieten sich wenig später, flüsternd. Vor Niederndorf stoppte der Konvoi unerwartet in den frühen Morgenstunden des 28. April 1945. Die SS-Männer ließen die in gesonderten Fahrzeugen mitgereisten Wachmänner aufziehen und entfernten sich in Richtung des Städtchens. Flügge und Bonin gelang es, diese Wachen zu bewegen, sie aus dem Bus steigen zu lassen. Das wurde ihnen gestattet, denn die Autorität der beiden SS-Sturmführer war bereits deutlich verkommen. Keine Gruppe traute der anderen: die Wachmänner nicht den SS-Leuten, die Gefangenen weder den Bewachern noch der SS. Und alle waren unsicher, die Wachmänner hatten indes eine Ahnung davon, daß die SSFührer bald entmachtet sein könnten.36 Bonin und Flügge gingen mit äußerster Vorsicht hinter den SS-Männern her, nach Niederndorf. Dort gelang es Bonin, einem fronterfahrenen Offizier handstreichartig, den örtlichen Telefonposten der Wehrmacht dazu zu bewegen, ihm das Feldtelefon zur Verfügung zu stellen. Sofort informierte er General Hans Röttiger, Generalstabchef beim Oberbefehlshaber Südwest, über die Lage. Der sagte Hilfe zu.37 Wenige Stunden später stürmte ein aus Richtung Toblach kommender Stoßtrupp Wehrmachtssoldaten unter Wichard v. Alvensleben38 das Hotel Bachmann, in das sich die SS-Männer und Teile der Wachmannschaft zurückgezogen hatten, in dem aber auch schon v. Bonin und v. Flügge auf die weitere Entwicklung warteten, was die SS-Mannschaft zunächst sehr irritiert hatte. Aber der Wind hatte sich bereits gedreht; sie konnten das zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr verhindern.39 Knapp konnte bei der Stürmung des Hotels Bachmann ein Schußwechsel verhindert 33
Richardi, SS-Geiseln, S. 13. Richardi, SS-Geiseln, S. 14. 35 Hassell, Niemals sich beugen, S. 191. 36 Vermehren, Reise, S. 149; ebd., S. 152: Zwei Stunden später gingen die Gefangenen geschlossen ins Dorf und entmachteten so die Wachmänner, die um ihren Bus postiert gewesen waren. 37 Vermehren, Reise, S. 153; Hassell, Niemals sich beugen, S. 189 f., nennt General Vietinghoff. 38 Richardi, SS-Geiseln, S. 16; Alvensleben: * Wittenmoor, 19. Mai 1902, † Acheberg b. Plön in Holstein, 14. August 1982. 39 Hassell, Niemals sich beugen, 190. 34
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werden, dann wurden die SS-Männer entwaffnet und standen mit erhobenen Händen, durch die Fenster war sogar ein Maschinengewehr auf sie gerichtet.40 Erst langsam entspannte sich die Situation.41 Die Einwohner Niederndorfs nahmen die ehemaligen Gefangenen gastlich auf, nachdem sie schon vorher dabei geholfen hatten, einzelne von ihnen vor den SSLeuten zu verstecken; die Wehrmachtsoldaten trugen dafür Sorge, daß nicht doch noch SS-Kräfte versuchten, den Himmler-Befehl auszuführen, indem sie den SSMann Stiller zwangen, den Tötungsbefehl zu verbrennen, den er bei sich trug, und indem sie die von der SS Bedrohten schützten und versteckten.42 In dem am Pragser Wildsee gelegenen Grandhotel, das wie der See hieß und eigentlich bereits für die Zwischensaison geschlossen war, konnte danach die nunmehr unter militärischem Schutz stehende, besondere Reisegesellschaft Quartier beziehen.43 Wenige Tage später, am 3. Mai, erschienen amerikanische Truppen.44 Alvensleben und seine Soldaten waren ab diesem Zeitpunkt zwar Kriegsgefangene, ebenso wie die SS-Leute und die Wachmannschaften – Flügge und die übrigen Gefangenen aber waren frei. Und sie hatten überlebt. Es dauerte einige Zeit, bis die Gefangenen über Capri und Paris in ihre Heimat zurückkehren konnten. Wilhelm v. Flügge wurde in Rottach am Tegernsee von Freunden aufgenommen. Zunächst beriet er Banken in Fragen des Handels mit Osteuropa und der Levante, gleichzeitig schrieb er auch an seinen im Untergrund und in Istanbul begonnenen Skizzen für eine Verfassung und eine umfassende Reform der Verwaltung in Deutschland weiter. 1948 erschien ein Buch aus seiner Feder mit einem Gesamtentwurf für eine Verwaltungsreform unter dem Titel „Deutsche Verwaltung“. Entsprechend der ursprünglichen, in ersten Entwürfen schon knapp 20 Jahre alten Intention sollte dieses Buch als „Grundlage für eine Diskussion darüber dienen, welche Verwaltungsformen Deutschland auf lange Sicht annehmen sollte.“45 Flügge bezieht sich in seiner „Deutschen Verwaltung“ dezidiert auf die Steinsche Tradition in der preußischen Verwaltung, „der für die Beteiligung breiter Massen der Bevölkerung mehr englische Vorbilder vorschweben“,46 nach denen 40
Richardi, SS-Geiseln, S. 16. Vgl. Vermehren, Reise, S. 152 f.: Hilfreich war, daß sich in Niederdorf schon seit längerem ein verdeckter Kommandoposten der italienischen Partisanen befand, deren Kommandeur Gariboldi auch noch zu den Sondergefangenen gehört hatte und somit von der SS unwissentlich vor die eigene Haustür expediert worden war. 42 Vermehren, Reise, S. 154. 43 Richardi, SS-Geiseln, S. 16. 44 Ringshausen, Gerhard, Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 57; ein möglicher Zeitpunkt ist auch der frühe Morgen des 4. Mai 1945, vgl. dazu: Vermehren, Reise, S. 157. 45 Flügge, Wilhelm v., Deutsche Verwaltung, Hamburg 1948, S 9. 46 Flügge, Verwaltung, S. 10. 41
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breite Gruppen im Staat ertüchtigt werden sollen, um so „einen Organismus der Selbstverwaltung zu erziehen“.47 Er erkennt auch eine Hardenbergsche Richtung in der preußischen Verwaltung und führt beide, die Steinsche wie die Hardenbergsche, auf die französischen „Ideen von 1789“ zurück.48 Diese Sicht ist, insbesondere vor dem Hintergrund, daß von Preußen aus die Freiheitskriege gegen Napoleon und damit gegen Frankreich geführt wurden, durchaus bemerkenswert.49 Sehr interessant ist, als wie bedeutend für das Funktionieren der res publica er „das alte gelernte Berufsbeamtentum“ Preußens einschätzt. Diesen Teil der Verwaltung konnte er einschätzen, und er konstatiert: „Der Nationalsozialismus hat in seinem Totalitätsstreben dieses Beamtentum so gut wie vernichtet“; die Folge benennt er klar und ungeschönt: „Die Bevölkerung hat sich in dieser Zeit weitgehend an willkürliche, rechtlose und sachlich inkompetente Verwaltung gewöhnt“.50 Somit legt er eine der Wurzeln frei, die zum Erstarken der sozialistischen Kräfte – von „links“ wie von „rechts“ – führen konnten: „Unter den vielfältigen Ursachen, die den Nationalsozialismus in Deutschland möglich machten, ist das Mißvergnügen mit der Verschlechterung der Verwaltung, wie sie mit der Revolution von 1918 einsetzte, nicht eine der geringsten gewesen.“51 Für die Zukunft Deutschlands hatte Flügge im übrigen eine düstere Vision. Er hielt es für wahrscheinlich, „daß die Lage eine Bewegung hervorruft oder begünstigt, die wieder mit einer politischen Diktatur endet. Gleichgültig, aus welcher politischen Ecke sie diesmal kommt. Für die Masse der Menschen, die sie erleben, kommt es auf dasselbe hinaus: wieder einmal wird dann die Tyrannis ernten, was radikaler Dilettantismus gesät hat.“52 Noch 1948 siedelte Flügge abermals nach Istanbul um. Er arbeitete als Berater einer türkischen Bank. Zu seinen Erlebnissen im Dritten Reich äußerte er sich offenbar nur ungern. Am 4. Januar 1953 verstarb er in der Bosporus-Metropole. In der Heimat wurde von seiner Tätigkeit im Widerstand nichts bekannt, denn er selbst machte davon kein Aufhebens, und es gab auch keine Nachkommen, die sich darum gekümmert hätten. Auch im SC zu Heidelberg, der sich nach Verbot durch die NSDiktatur und anschließender, vorübergehender Progreß-Tendenz zu Beginn der 1950er Jahre erst allmählich wieder formiert hatte, war es in jenen Jahren noch nicht möglich, eine prosopographische Aufarbeitung von Corpsgeschichte in allen 47
Flügge, Verwaltung, S. 11. Flügge, Verwaltung, S. 10. 49 Hier ist eine Parallele zum alten Corpsstudententum zu bemerken. Dieses hat eine breite kulturelle Basis in den alten Landsmannschaften und den Studentenorden. Die neue Ausformung, die bald unter dem Begriff „Corps“ firmierte, bezog sich in ihren Werten auch auf die Ideale von 1789, übernahm diese prinzipiell, aber mit kritischer Distanz, um dann ausgerechnet im Rahmen der breiten Bewegung des Protestes gegen die Maßnahmen Napoleons an den Universitäten Fuß zu fassen. 50 Flügge, Verwaltung, S. 19. 51 Flügge, Verwaltung, S. 11. 52 Flügge, Verwaltung, S. 123. 48
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Facetten zu betreiben – zu viele Zeitzeugen der unterschiedlichsten Richtungen mußten an einen Tisch geholt werden, zu frisch waren wohl die Kriegsereignisse, zu kurz war vielleicht ein Aufleben der Verbindungen aller Couleur erst wieder möglich. So unterblieben die Fragen an diesen wichtigen Zeitzeugen. Doch es ist jetzt Zeit, Wilhelm v. Flügges so zu gedenken, wie es seiner Haltung und seinem Wirken entspricht.
Widerstand in der Kriegszeit
Eberhard von Breitenbuch – ein verhinderter Attentäter Von Horst-Ulrich Textor Der Name von Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist eng verknüpft mit dem Wissen um den militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus,1 und die Erinnerung an sein Attentat vom 20. Juli 1944 erreicht in der Bundesrepublik trotz des Scheiterns immer noch eine beachtliche Wirkung. In den Gedenkfeiern kommen Bewunderung und Respekt für diesen mutigen Widerständler zum Ausdruck. Allerdings lässt sich die Gruppe der Verschwörer nicht vereinfachend auf ihn fokussieren, wie die mehr als 110 Todesurteile nach dem 20. Juli 1944 zeigen.2 Ohne einen Kreis absolut vertrauenswürdiger Freunde war jeglicher Widerstand gegen Hitler inmitten des Krieges unmöglich, zumal mit Unterstützung durch die Bevölkerung in den Jahren zuvor nicht gerechnet werden konnte. Nach dem siegreichen Blitzkrieg gegen Polen 1939 und den Erfolgen an der Westfront 1940 erreichte die Begeisterung der Deutschen für ihren erfolgreichen „Führer“ einen Höhepunkt. Fast niemand wusste von der großen Zahl durchweg erfolgloser Attentatsversuche,3 die bereits vor der Machtergreifung Hitlers 1933 und dann verstärkt ab 1938 bis in das letzte Kriegsjahr hinein von Menschen zur Beseitigung des Diktators geplant wurden. Menschen, die ihr Leben riskierten, scheiterten aber zum Teil auf groteske Weise, weil Hitler spontan und sprunghaft seine Entscheidungen und Terminplanungen geändert hatte.4 Gegen kommunistische und sozialdemokratische Widerstandszirkel konnte die Gestapo ihre Spitzel einsetzen. Doch die Vielzahl der Oppositionsgruppierungen reichte von der Arbeiterbewegung über die Bekennende Kirche bis zu traditionellen Eliten und sogar bis zum erweiterten militärischen Widerstand.5 Die Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad im Winter 1942/43 galt dann jedoch als Wendepunkt im Kriegsglück und ließ erhebliche Zweifel aufkommen, ob der Krieg jemals zu gewinnen sei. Darum hielten hochrangige Offiziere einen Tyrannenmord für erforderlich, um mit den Alliierten Frieden schließen zu können. Nach Kriegsbe1 Boveri, Margret, Der Verrat im XX. Jahrhundert, Hamburg 1956 – 1960, hier: Band 2: Für und gegen die Nation. Das unsichtbare Geschehen. S. 80 f.: Stauffenberg und sein Kreis. 2 Benz, Wolfgang, Der militärische Widerstand, in: Deutscher Widerstand 1933 – 1945. Informationen zur politischen Bildung, Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Heft 243, Berlin 1994, S. 35 f. 3 Berthold, Will, Die 42 Attentate auf Adolf Hitler, München 1981, passim. 4 Benz, Wolfgang / Pehle, Walter H. (Hrsg.), Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt a. M. 1994, S. 94 – 97. 5 Benz, Der militärische Widerstand, S. 33 – 35.
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ginn war es nur noch ihnen möglich, Hitler trotz aller Sicherheitsvorkehrungen gefährlich werden zu können. Die Gefahren, die von der aggressiven Außenpolitik Hitlers ausgingen, hatten bereits vor dem Kriege die moralische Empörung hoher Offiziere hervorgerufen, obwohl sie keine eigene politische Verantwortung zu tragen, sondern ausschließlich für die militärische Sicherung des Reiches zu sorgen hatten.6 Während aber Männer wie Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg,7 Generaloberst Ludwig Beck,8 Oberst Henning von Tresckow9 oder Oberst Fritz Graf von der Schulenburg10 in die Geschichte eingingen und auch die Namen manch anderer Märtyrer im Gedächtnis haften,11 erinnern sich an Eberhard von Breitenbuch12 nur einige zeithistorische Fachwissenschaftler – und seine Corpsbrüder. Auch von Breitenbuch plante ein Attentat auf Hitler, aber widrige Umstände vereitelten die Ausführung. Den Krieg überlebte er nur, weil die Mitwisser geschwiegen haben und ihm keine Verschwörungspläne nachgewiesen werden konnten.13 Breitenbuch gehörte zum Kreis um Henning von Tresckow, Oberst im Generalstab der Heeresgruppe Mitte, der schon früh von Judenerschießungen durch die Einsatzgruppen der SS und von den Zuständen in den Konzentrationslagern erfahren hatte. Dieser zog seit Mitte 1942 zuverlässige Offiziere in seinen Stab und besetzte die Schlüsselstellungen mit Leuten seines Vertrauens. Er entwarf verschiedene Attentatspläne mit Pistole oder mit Sprengstoff. Durch geschickte Personalpolitik baute er in seinem Umkreis die stärkste Oppositionsgruppe auf, zu der Philipp Frei6 Boveri, Verrat im XX. Jahrhundert, Band 2, S. 95 – 99: Deutsche Tradition der Gehorsamsverweigerung. 7 Krockow, Christian Graf von, Eine Frage der Ehre. Stauffenberg und das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944, Hamburg 2004; Hartmann, Christian, Claus Philipp Maria Graf Schenk von Stauffenberg, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 22, Berlin 2005, S. 679 f.; Claus Schenk Graf von Stauffenberg, * 15. November 1907 in Jettingen, † 21. Juli 1944, standrechtlich erschossen im Hof des Bendlerblocks in Berlin. 8 Müller, Klaus-Jürgen, Generaloberst Ludwig Beck. Eine Biographie, Paderborn 2008, passim. – Ludwig Beck, * 29. Juni 1880 in Biebrich, † 21. Juli 1944, erschossen im Bendlerblock in Berlin. 9 Scheurig, Bodo, Henning von Tresckow. Ein Preuße gegen Hitler, Berlin 2004, passim. – Henning von Tresckow, * 10. Januar 1901 in Magdeburg, † 21. Juli 1944, Selbstmord nahe Ostrów (Polen). 10 Hürter, Johannes, Fritz-Dietlof von der Schulenburg, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 23, Berlin 2007, passim. – Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, * 5. September 1902 in London, † 10. August 1944, in Plötzensee gehenkt. 11 Cartarius, Ulrich, Opposition gegen Hitler. Deutscher Widerstand 1933 – 1945. Ein erzählender Bildband. Mit einem Essay von K. O. v. Aretin. Siedler, Berlin 1984, S. 18 – 23. 12 Fest, Joachim, Staatsstreich – Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994, S. 173 ff. (Tresckow und die Heeresgruppe Mitte); vgl. Knopp, Guido, Sie wollten Hitler töten, München 2004. 13 Stahlberg, Alexander, Die verdammte Pflicht. Erinnerungen 1932 bis 1945, Frankfurt am Main / Berlin 1987, S. 327 ff.
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herr von Boeselager,14 Fabian von Schlabrendorff,15 Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff16 und Axel von dem Bussche-Streithorst17 gehörten. Mehrfach haben sie versucht, Hitler zu töten, aber sie scheiterten. So konnten sie aber später über ihre Erlebnisse berichten. Henning von Tresckow selbst hatte nach seiner Versetzung an die Front keine Möglichkeit mehr, selbst einen Anschlag auf Hitler auszuführen, weil er sich nicht mehr unauffällig in dessen Nähe bewegen konnte. Er hielt aber weiterhin Kontakt zu der militärischen Widerstandsgruppe. Als Rittmeister Eberhard von Breitenbuch im August 1943 Ordonnanzoffizier bei Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge wurde, wies ihn von Tresckow bereits darauf hin, dass er seine politische Einstellung kenne und er ihn deshalb gezielt zur Heeresgruppe Mitte geholt habe.18 Generalfeldmarschall von Kluge war zu dieser Zeit Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, sein Erster Generalstabsoffizier war Henning von Tresckow. Das war die Grundlage, auf der Breitenbuch ein Attentat auf Hitler versuchen sollte – doch alles der Reihe nach. Arthur Eberhard Börries Wolf Alfred von Breitenbuch19 wurde am 20. Juli 1910 als Sohn des Oberförsters Arthur von Breitenbuch und seiner Ehefrau Clementine Freiin von Münchhausen in Dietzhausen bei Suhl geboren. Er entstammte dem thüringischen Uradelsgeschlecht derer von Breitenbuch, das seit 1571 seinen Stammsitz auf der Burg Ranis unweit von Pößneck hatte. Bereits 1911 zog die Familie nach Berlin-Charlottenburg, weil der Vater dorthin als Forstrat und Preußischer Hofkammerrat versetzt worden war; doch schon im Herbst 1914 fiel der Vater im Ersten Weltkrieg. Die Mutter zog nun ihre drei Söhne allein auf. Seit Ostern 1916 besuchte Breitenbuch das Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Charlottenburg, aber aus wirtschaftlichen Gründen musste die Familie auf ein Gut in Thüringen ziehen. Wie vor ihm seine älteren Brüder, so wurde auch Eberhard von Breitenbuch 1924 in der evangelischen, 14 Boeselager, Philipp Freiherr von, „Wir wollten Hitler töten“. Ein letzter Zeuge des 20. Juli erinnert sich, München 2008 u. 2011. – Philipp Freiherr von Boeselager, * 6. September 1917 auf Burg Heimerzheim, † 1. Mai 2008 auf Burg Kreuzberg bei Altenahr. 15 Schlabrendorff, Fabian von, Offiziere gegen Hitler, München 1997. – Fabian von Schlabrendorff, * 1. Juli 1907 in Halle (Saale), † 3. September 1980 in Wiesbaden, überlebte trotz Folterung. 16 Gersdorff, Rudolf-Christoph Freiherr von, Soldat im Untergang, Frankfurt a. M./Berlin 1982. – Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff, * 27. März 1905 in Lüben, † 27. Januar 1980 in München, wurde nicht verraten, überlebte den Krieg, Ehrenkommendator des Johanniterordens. 17 Medem, Gevinon von (Hrsg.), Axel von dem Bussche, mit einer Einleitung von Richard von Weizsäcker, Mainz 1994. – Axel von dem Bussche, * 24. April 1919 in Braunschweig, † 26. Januar 1993 in Bonn, wurde vor dem Attentat schwer verwundet. 18 Textor, Horst-Ulrich, Das 40. Attentat auf Adolf Hitler. Der Corpsstudent Eberhard von Breitenbuch im militärischen Widerstand, in: Einst und Jetzt. Jahrbuch des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung, Band 47, 2002, S. 253 – 261. 19 Hinweise zum privaten Lebenslauf des Eberhard von Breitenbuch gab dessen Sohn, Herr Hans Hildebrand von Breitenbuch, Gut Remeringhausen in Stadthagen.
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humanistischen Klosterschule in Roßleben aufgenommen, einem Gymnasium mit Internat im Unstruttal, nachdem er bis dahin von Hauslehrern unterrichtet worden war. Hier bestand er im März 1929 die Abiturprüfung. Das Zisterzienserkloster Roßleben war im Zuge der Reformation um 1540 aufgegeben worden, und Ritter Heinrich von Witzleben hatte dort eine Knabenschule gegründet. Die Schüler stammten später vor allem aus dem schlesischen und preußischen Landadel. In den 1920er Jahren besuchte eine Reihe von Schülern das Internat, die sich während der NS-Zeit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus anschließen und sich am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 beteiligen sollten, nicht zuletzt wohl deswegen, weil sie neben ihrer familiären Prägung auch von dieser Schule mit einem Kompass für menschliche Werte ausgestattet worden waren. Sechs ehemalige Schüler und ein Mitglied der Stifterfamilie wurden vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet: Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben,20 Peter Graf Yorck von Wartenburg,21 Wolf-Heinrich Graf von Helldorff,22 Egbert Hayessen,23 Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort,24 Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld25 und Nikolaus von Halem,26 weitere Schüler wie zum Beispiel Albrecht von Kessel waren Widerstandskämpfer gegen Hitler.27 20 Witzleben, Georg von, „Wenn es gegen den Satan Hitler geht“. Erwin von Witzleben im Widerstand; Biographie mit einem Geleitwort von Rüdiger von Voß, Hamburg 2013. – Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, * 4. Dezember 1881 in Breslau, Rechtsritter des Johanniterordens, † 8. August 1944, hingerichtet in Berlin-Plötzensee. 21 Brakelmann, Günter, Peter Yorck von Wartenburg: 1904 – 1944. Eine Biographie, München 2012. – Peter Graf Yorck von Wartenburg, * 13. November 1904 auf Gut Klein Oels bei Ohlau (Niederschlesien), ab Oktober 1920 Besuch der Klosterschule Roßleben, 1923 Mitglied des Corps Borussia Bonn, vgl.: Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, Nr. 9 – 981, † 8. August 1944, hingerichtet in Berlin-Plötzensee. 22 Harrison, Ted, „Alter Kämpfer“ im Widerstand. Graf Helldorff, die NS-Bewegung und die Opposition gegen Hitler, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 3. Heft, Juli 1997, S. 385 – 423. – Wolf-Heinrich Graf von Helldorf, * 14. Oktober 1896 in Merseburg, † 15. August 1944, hingerichtet in Berlin-Plötzensee. 23 Fest, Staatsstreich, S. 267. – Egbert Hayessen, * 28. Dezember 1913 in Eisleben, ab 1924 Besuch der Klosterschule Roßleben, † 15. August 1944, hingerichtet in Berlin-Plötzensee. 24 Vollmer, Antje, Doppelleben. Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop, Frankfurt am Main 2010. – Heinrich Graf von LehndorffSteinort, * 22. Juni 1909 in Hannover, Abitur an der Klosterschule Roßleben, † 4. September 1944 in Berlin-Plötzensee. 25 Zechner, Johannes, Wege in den Widerstand. Der 20. Juli 1944 in Mecklenburg-Vorpommern, in: Mecklenburgia Sacra. Jahrbuch für Mecklenburgische Kirchengeschichte, Jahrgang 7, 2004, S. 119 – 133. – Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, * 21. Dezember 1902 in Kopenhagen, ab Ostern 1919 Besuch der Klosterschule Roßleben, Rechtsritter des Johanniterordens, † 8. August 1944, hingerichtet in Berlin-Plötzensee. 26 Groeben, Klaus von der, Nikolaus Christoph von Halem im Widerstand gegen das Dritte Reich, Wien / Köln 1990. – Nikolaus Christoph von Halem, * 15. März 1905 in Schwetz an der Weichsel, im März 1922 Abitur an der Klosterschule Roßleben, Mitglied des Corps Saxo-
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Auch Eberhard von Breitenbuch erhielt in Roßleben entscheidende Impulse für sein Leben durch eine an protestantischer Ethik orientierte Wertebildung und die besonderen Bedingungen des Internatslebens. Von großer Bedeutung war die in dieser Jugendzeit geschlossene Freundschaft zwischen den späteren Widerstandskämpfern. Hier entwickelte sich auch seine Liebe zu Wald und Flur. Aus Interesse an der Wildhege legte er die Jägerprüfung ab, der Umgang mit Jagdwaffen war ihm vertraut. Er entschloss sich deshalb, an der Forstakademie Tharandt Forstwissenschaft zu studieren. Hier fand er sofort wieder gleichgesinnte Freunde beim Corps Silvania Tharandt,28 in das er am 27. Februar 1932 rezipiert wurde. Er war seinem Corps ein verdienstvoller Senior, und es belohnte seinen Einsatz, indem er die erste Charge klammern durfte. Das Studium schloss er mit dem Grad eines Diplom-Forstingenieurs ab. Als im März 1935 in Deutschland die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt wurde, trat Eberhard von Breitenbuch seinen Rekrutendienst beim Schwedter 6. (Preußischen) Reiter-Regiment (R.R.6) an.29 Eigentlich wollte er im Anschluss an den Wehrdienst als Forstmeister einen bürgerlichen Beruf ergreifen. Als Fähnrich hatte er Marie-Luise von Einsiedel kennen gelernt, die er am 18. Oktober 1938 in Erfurt heiratete. Aus der glücklichen Ehe gingen die sechs Kinder Börries, Hans Hildebrand, Arthur, Andreas, Elisabeth und Engel hervor. Marie-Luise v. Breitenbuch war 1913 als Tochter des königlich-sächsischen Rittmeisters Haubold von Einsiedel und der Elisabeth Freiin von Burgk in Dresden geboren worden und hatte bis zur Hochzeit als Sekretärin beim deutschen Militärattaché in London gearbeitet. Während dieses Auslandsaufenthalts hatte sie eine kritische Einstellung zum Nationalsozialismus gewonnen, da sie Zugang zur internationalen Presse gehabt hatte. Zu den Einflüssen aus Breitenbuchs Roßlebener Schulzeit kamen jetzt die Erkenntnisse aus den Gesprächen mit seiner Frau, die seine politische Einstellung formten. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Eberhard von Breitenbuch als aktiver Offizier in die Wehrmacht übernommen und diente als Leutnant und Ordonnanzoffizier bei Generaloberst Erwin von Witzleben. Nachdem von Witzleben aus gesundheitlichen Gründen aus dem Dienst ausgeschieden war, wurde von Breitenbuch, inzwischen zum Rittmeister befördert, Ordonnanzoffizier bei Generalfeldmarschall Hans Günther von Kluge. Dieser war Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Borussia Heidelberg, † 9. Oktober 1944 in Brandenburg an der Havel, wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt und im Zuchthaus Brandenburg erhängt. 27 Steinbach, Peter (Hrsg.), Albrecht von Kessel. Verborgene Saat – Aufzeichnungen aus dem Widerstand 1933 – 1945, Berlin 1992; Schlie, Ulrich, Gegen Hitler und für ein anderes Deutschland. Als Diplomat in Krieg und Nachkrieg. Lebenserinnerungen, Wien / Köln / Weimar, 2008 – Albrecht von Kessel, * 6. November 1902 in Ober-Glauche, Schlesien, † 15. April 1976 in Bad Godesberg, Mitglied der Münchner Gesellschaft (MG). 28 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, Nr. 125 – 157. 29 Stahlberg, Pflicht, S. 81 ff. – Alexander Stahlberg trat gleichzeitig mit Eberhard von Breitenbuch in das Schwedter 6. (Preußische) Reiter-Regiment als Fahnenjunker ein. Als Kamerad berichtet er anschaulich über das Kasernenleben des Regiments unter seinem Kommandeur Rittmeister Arno von Lenski, der trotz seiner Mitwirkung an Todesurteilen des Volksgerichtshofes später in der DDR Generalmajor der Kasernierten Volkspolizei wurde.
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Mitte, sein Erster Generalstabsoffizier war Oberst Henning von Tresckow. Feldmarschall von Kluge kannte und duldete die verschwörerischen Gedanken in seiner Umgebung, da er unter dem Einfluss von Tresckows stand. Er entzog sich aber immer wieder allen aktiven Umsturzbemühungen, weil er nach dem Tode Hitlers eine Übernahme der Befehlsgewalt durch die SS befürchtete. Am 12. Oktober 1943 wurde von Kluge bei einem Autounfall so schwer verletzt, dass er seinen Dienst für längere Zeit nicht mehr ausüben konnte. Sein Nachfolger in der Führung der Heeresgruppe Mitte wurde Generalfeldmarschall Ernst Busch, dessen Ordonnanzoffizier weiterhin Eberhard von Breitenbuch blieb. Aber Busch konnte wegen seiner ausgeprägt nationalsozialistischen Einstellung nicht in die Attentatspläne eingeweiht werden. Bereits bei seiner Antrittsmeldung im August 1943 hatte Henning von Tresckow Eberhard von Breitenbuch angedeutet, dass er dessen politische Einstellung kenne und ihn deshalb zur Heeresgruppe Mitte geholt habe. Über ihn wollte er den wankelmütigen Feldmarschall von Kluge im Sinne der Widerstandsbewegung beeinflussen. Damit war von Breitenbuch von diesem Zeitpunkt ab Mitwisser, mittels verabredeter Stichworte unterrichtete er auch seine Frau über die weiteren Pläne. Am 9. März 1944 erhielt Generalfeldmarschall Busch die telefonische Mitteilung, dass er am 11. März zu einer Lagebesprechung bei Hitler im Berghof auf dem Obersalzberg erwartet werde. Nun musste Rittmeister von Breitenbuch als Ordonnanzoffizier die nötigen Vorbereitungen treffen, denn er sollte Kluge begleiten. Schon kurz nach dem Telefongespräch erschien Henning von Tresckow, seit Januar 1944 Generalmajor, zusammen mit Major Hans Ulrich von Oertzen bei ihm, und sie äußerten unverblümt ihre Ansicht, dass das Schicksal des deutschen Volkes bei dieser vortrefflichen Gelegenheit nun in seiner Hand läge. Major von Oertzen hatte auch sogleich eine in der Schweiz angefertigte Spezialbombe zur Hand, die sich zwischen zwei Knöpfen unter dem Uniformrock verstecken ließ und bei einer Umarmung ausgelöst werden konnte. Zwar war von Breitenbuch von dem plötzlichen Angebot völlig überrascht, ließ sich aber doch die Funktion der Bombe erklären. Trotzdem blieb er skeptisch, weil er keine Gelegenheit sah, um die Wirkungskraft der Bombe zu erproben. Schließlich sollte er bei dem Attentat sein Leben einsetzen, und deshalb musste für ihn auch der Erfolg gesichert sein. Während die beiden Besucher der Meinung waren, dass nur ein Sprengstoffanschlag wirksam sein könne, entschied sich von Breitenbuch trotzdem für den Versuch mit einer Pistole, weil er sich als Jäger und Reiter für einen treffsicheren Schützen hielt. Dabei war er sich bewusst, dass er mit der nächsten Kugel sich selbst richten musste. Er wollte außer seiner Dienstpistole, die er vor Betreten des Besprechungsraumes zusammen mit dem Koppel an der Garderobe ablegen musste, eine entsicherte 7,65-mm-Browning-Pistole in der Hosentasche mit sich führen. Zum guten Gelingen gab ihm Generalmajor von Tresckow noch den Rat, nur auf Kopf und Hals zu schießen, da Hitler eine kugelfeste Weste trage.30 30 Mündlicher Bericht, Eberhard v. Breitenbuch; vgl.: Breitenbuch, Eberhard von, Erinnerungen eines Reserveoffiziers 1939 – 1945, postum herausgegeben vom Sohn Andreas von Breitenbuch, Norderstedt 2010, passim; Hoffmann, Widerstand, S. 410; Fest, Staatsstreich, S. 230.
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Auf dem Obersalzberg benutzte von Breitenbuch die Zeit bis zum Besprechungstermin, um einen Abschiedsbrief an seine Frau vorzubereiten, der zusammen mit seinen Wertsachen abgesandt werden sollte. „Die Birkhahn beginnt“, war der Schlüsselsatz, den er seiner Frau schrieb. Das bedeutete, dass er nicht mehr zurückkehren werde. An diesem Tag waren Generalfeldmarschall Busch, Generalstabschef Oberst von der Groeben und Rittmeister von Breitenbuch die einzigen Offiziere, die von der Front zur Lagebesprechung einbestellt worden waren. Daneben waren Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, General Alfred Jodl und Goebbels anwesend. Als sich endlich die Tür zum Besprechungsraum öffnete und ein SS-Mann die Herren zum Eintreten aufforderte, wollte auch von Breitenbuch mit seiner Aktentasche unter dem Arm, in der sich das notwendige Kartenmaterial befand, mitgehen. Der Rangordnung nach ging er als letzter. Doch da hielt ihn der SS-Mann fest und erklärte, dass die Ordonnanzen heute nicht an der Besprechung teilnehmen dürften. Wenn auch von Breitenbuch heftig protestierte und Busch die Anwesenheit seiner Ordonnanz für dringend erforderlich hielt, weil er ihn zur Unterstützung bei seinem Vortrag benötige, musste er trotzdem draußen warten. Eberhard von Breitenbuch hat später angenommen, dass man offensichtlich Telefonate abgehört hatte, die die SS misstrauisch machten.31 Nun befand sich Rittmeister von Breitenbuch allein in dem großen Vorzimmer, fühlte sich dort aber ständig beobachtet. Aus belanglosen Gründen betrat hin und wieder ein SS-Mann den Raum, um ihn nach seinen Wünschen zu fragen oder um etwas zu holen, manchmal auch nur, um das Zimmer zu durchqueren. Zwar kannte er die Sicherheitsbestimmungen um Hitler von seinen früheren Besuchen her und wusste von dem Zeremoniell der SS-Leute. Doch heute befand sich in seiner Hosentasche die verräterische geladene und entsicherte Pistole. Bange Minuten vergingen, und er hatte eine schreckliche Wartezeit unter größter Nervenbeanspruchung zu überstehen. Bei seiner Aufgeregtheit legte er in jeden noch so belanglosen und zufälligen Blick des SS-Mannes eine tiefere Bedeutung und fühlte sich durchschaut. Es gab aber auch keine Möglichkeit, die nunmehr sinnlose Pistole aus seiner Tasche unauffällig zu entfernen. Endlich, nach zwei nicht endenwollenden Stunden, war die Lagebesprechung beendet, und Eberhard von Breitenbuch flog mit seinem Chef zurück an die Front nach Minsk. Dort im Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte wartete bereits von Tresckow auf ihn und empfing ihn mit den Worten: „Ja, Breitenbuch, die Sache ist verpfiffen worden.“32 Auch von Tresckow war fest davon überzeugt, dass sein Telefon überwacht würde und dass aus seinen Gesprächen mit den Verschwörern in Berlin Verdacht geschöpft worden sei.33 31
Breitenbuch, Eberhard von, Erinnerungen eines Reserveoffiziers 1939 – 1945, postum herausgegeben vom Sohn Andreas von Breitenbuch, Norderstedt 2010, S. 123. 32 Hoffmann, Peter, Widerstand-Staatsstreich-Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 1969, S. 407 – 410. 33 Breitenbuch, Erinnerungen, S. 124.
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Kurze Zeit später war Rittmeister von Breitenbuch noch einmal mit Generalfeldmarschall Busch auf dem Obersalzberg, einen erneuten Attentatsversuch hat er dabei nicht beabsichtigt. Zu seinem früheren Regimentskameraden aus der Schwedter Zeit, Alexander Stahlberg, der inzwischen Ordonnanzoffizier des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein war und gleichfalls an Lagebesprechungen auf dem Berghof teilgenommen hat, sagte er später nach dem Krieg: „So etwas macht man nur einmal.“34 Bei diesen Besprechungen kam es immer wieder vor, dass die Ordonnanzen einmal anwesend sein durften, ein anderes Mal ausgesperrt blieben. Zum letzten Mal war von Breitenbuch zwischen dem 15. und 20. April 1945 mit Busch im Führerhauptquartier in Berlin.35 Er blieb Ordonnanzoffizier bei Busch, auch wenn dieser wegen des militärischen Zerfalls der Heeresgruppe Mitte zwischenzeitlich bei Hitler in Ungnade fiel. Denn als im Zuge der am 22. Juni 1944 beginnenden sowjetischen Sommeroffensiven die Heeresgruppe Mitte zusammenbrach, löste Feldmarschall Walter Model den glücklosen Feldmarschall Busch ab. Eberhard von Breitenbuch hat den Krieg überlebt, keiner der mitwissenden Kameraden hat seinen Namen verraten. Sogar unter der Folter haben sie keine weiteren Geheimnisse preisgegeben, sondern nur bereits Bekanntes gestanden. Persönlich hat er um seine Tätigkeit und um seine Absichten während der Jahre 1943 bis 1945 später kein Aufheben gemacht. Selbst seine Kinder haben Einzelheiten zum Teil erst aus der Fachliteratur erfahren.36 Die Vergangenheit mit ihren schweren Gewissenskonflikten belastete ihn, und er lebte lieber für die Gegenwart mit Beruf und Familie, aber auch als begeisterter Corpsstudent. Im Mai 1945 wurde Eberhard von Breitenbuch in Schleswig-Holstein von den Briten gefangen genommen, und er kam in das Zuchthaus in Neumünster. Im Oktober 1945 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen und durfte endlich in seinem geliebten Beruf als Forstmann wirken, wenn zunächst auch noch unter englischer Administration. Dann wurde er als Forstmeister mit dem Aufbau des Staatlichen Forstamtes Coppenbrügge am Deister betraut.37 Schließlich hatte er nach seiner Ernennung zum Oberforstmeister durch den Niedersächsischen Ministerpräsidenten bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1973 seinen Dienstsitz in Soltau. In den Nachkriegsjahren sammelten sich unter seiner Leitung die noch lebenden Mitglieder des suspendierten Corps Silvania Tharandt, und sie wählten ihn zum Vorsitzenden ihres Altherren-Verbandes. Daneben pflegte er intensiv die Freundschaften, die ihn seit seiner Studentenzeit mit den Freiberger Franken verbanden. Als Aktive hatten sie auf Kneipen, Kommersen und bei den Waldmensuren im Tharandter Wald fröhlich miteinander gefeiert. Nachdem die Franken ihr Corps als Franconia Fribergensis in Aachen restituiert hatten, war er bei den Kneipen und Stiftungsfesten zusammen mit einigen anderen seiner Corpsbrüder regelmäßig zu Gast und besuchte sogar die 34
Hoffmann, Widerstand, S. 410; Fest, Staatsstreich, S. 230. Stahlberg, Pflicht, S. 385. 36 Breitenbuch, Erinnerungen, S. 4. 37 Stahlberg, Pflicht, S. 327.
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Aachener Mensurtage. Er schloss die Aktiven des jungen Corps in sein Herz, und häufig hat er bei deren Mensuren als erfahrener Sekundant gewirkt. Das Corps Franconia Fribergensis dankte ihn für seinen Einsatz, indem es ihm im Feierlichen Corpsconvent am 29. Juni 1957 das grün-gold-rote Band verlieh.38 Mehrere seiner Silvanen-Corpsbrüder folgten ihm zu Franconia, weil ein Wiedererstehen einer Silvania noch als unmöglich erschien. Die meisten lebenden Alten Herren des Corps Silvania Tharandt wurden am 10. Juli 1958 von Arminia München aufgenommen. Eberhard von Breitenbuch, der Rechtsritter des Johanniterordens war, hatte bereits 1952 von einem Onkel das Rittergut Remeringhausen bei Stadthagen im Landkreis Schaumburg geerbt. Das Gut befindet sich seit über 500 Jahren in Familienbesitz und wurde als eines von mehreren Gütern der Familie von Münchhausen oft von kinderlosen Eigentümern an Neffen vererbt. Hier verbrachte von Breitenbuch im Kreise seiner Familie den Lebensabend, bis er am 22. September 1980 nach einer Operation dem schweren Krebsleiden erlag, das er in Würde mit vorbildlicher Tapferkeit ertragen hatte. Mitglieder seiner beiden Corps begleiteten ihn auf seinem letzten Weg in Remeringhausen.
38 Corpsliste Corps Franconia in Freiberg, Sachsen, 5. März 1838 bis 27. Oktober 1935, und Corps Franconia Fribergensis zu Aachen seit 28. November 1953, Stand Sommersemester 1985, S. 29 Nr. B 40.
Der Fall Max Draeger – ein Mord aus Rache? Von Rüdiger Döhler Ein Funkspruch des ostpreußischen Gauleiters Erich Koch wurde Ende Januar 1945, zu Beginn der Schlacht um Königsberg, zum Verhängnis für Max Draeger. Er sei ohne Rücksprache mit Koch nach Westen gereist. Das wäre, für sich genommen, kein besonderer Vorgang, aber der Funkspruch wurde zu einem Zeitpunkt abgesetzt, als der Untergang der preußischen Stadt Königsberg bereits unabwendbar bevorstand. Das Verhängnis für Draeger erfüllte sich in seiner Verurteilung zum Tode aufgrund von Wehrkraftzersetzung, die er allein durch seine Abreise vom Dienstort begangen haben sollte. Allein dadurch ist Draeger noch keiner, der im klassischen Sinne im Widerstand gegen das NS-System engagiert war. Und dennoch hat er arkan gegen das System gearbeitet, wie gezeigt werden wird. Sein Fall ist anschauliches Beispiel der Verstrickung in das System, an sich ohne Schuld, und zugleich widerständige Haltung, die zum Todesurteil führte – stellvertretend für viele Fälle. Draeger wurde 1904, als Student der Jurisprudenz, beim Corps Hansea Königsberg aktiv.1 Über seine Aktivenzeit sind keine Details überliefert, was auch daran liegt, daß die Archive der Königsberger Corps gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verbrannt sind. Auf die Examina folgte eine zielstrebige Karriere. Am 20. Mai 1920 wurde er Landrichter, am 1. Juli, also wenige Wochen später, bereits Landgerichtsrat in Danzig. 1921 schloß er sich der Danziger Deutschnationalen Volkspartei an. Am 1. Januar 1922 wurde er zum Oberregierungsrat in der Justizabteilung des Senats befördert, am 1. Januar 1925 zum Amtsgerichtsdirektor. Draeger war von der alten Hansestadt aus, die durch die Pariser Vorortverträge ein eigenes Staatsgebilde geworden war, international tätig. Insbesondere bearbeitete er die komplizierten Verträge zwischen Polen, Danzig und dem Reich, die mit dem 1919 geschaffenen Korridor zwischen Pommern und Ostpreußen in Zusammenhang standen.2 Dann begann er deutlich schneller die Karriereleiter hinaufzusteigen. Am 1. November 1932 wurde er Landgerichtspräsident in Guben, am 7. Juli 1933 Staatsrat und Leiter der Wirtschaft in Danzig, am 1. Oktober 1935 Landgerichtspräsident in Duisburg, zum 21. August 1937 wurde er als Präsident des Oberlandesgerichts Marienwerder bestätigt und schließlich, am 1. Dezember 1937, trat er 1
Gerlach, Otto, Kösener Corpsliste 1960, Kassel 1961, Nr. 85 – 189, dort falsches Todesjahr: 1944; 1945 ist korrekt. 2 Forstreuter, Kurt / Gause, Fritz, Altpreußische Biographie, Marburg an der Lahn 1975, Bd. III, S. 893.
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die Stellung als Präsident des OLG Königsberg an, die für ihn schicksalhaft werden sollte. Ob ihm sein steiler Aufstieg Neider eingebracht hat, ist nicht bekannt, doch unmöglich ist es nicht. Am 1. Mai 1933 war Draeger in die NSDAP eingetreten, sechs Monate später, am 1. November, auch in die SA. Scheinbar war er ein typischer Gefolgsmann des Nationalsozialismus, so war er Obersturmbannführer in der Stabsgruppe Tannenberg, Abteilung für Gerichts- und Rechtsangelegenheiten. Doch das Bild trügt. Beispielhaft war sein Auftritt gegenüber dem letzten Provinzialbischof der Kirchenprovinz Ostpreußen, Fritz Kessel, im Juni 1934. Der hatte eine Versammlung einberufen, die eine erhebliche Unruhe in den Königsberger Gemeinden beruhigen sollte, denn bei der Sonnwendfeier der SA am 23. Juni 1934 auf dem Galtgarben3 nahe Königsberg hatte Reichsbischof Müller es sich nicht nehmen lassen, das Wort zu ergreifen. Das hatte zu geharnischter Kritik aus der Kirche geführt. Bevor Kessel eine Erklärung abgeben konnte, erhob sich Draeger: „Wir wollen Ihnen aber gleich sagen: Wir halten treu zu unserem Pfarrer und dem ganzen Pfarrhaus!“4 Der Bischof war außer sich vor Wut, und gegen die Bekennende Kirche wurden Untersuchungen eingeleitet. Im Jahre 1936 nahm Draeger als Laienvertreter im Bruderrat der Bekennenden Kirche in Ostpreußen an der BK-Synode vom 2. bis 6. November teil,5 auch 1937 gehörte er dem ostpreußischen Bruderrat der Bekennenden Kirche an,6 für 1938 ist dies ebenfalls bestätigt.7 Diese Aktivitäten Draegers in der regimekritischen Bekennenden Kirche einerseits, zugleich eine leitende Funktion in der Justiz – das bedeutete einen nicht unerheblichen Spagat. Und es ist für die Bewertung seines Falles von Bedeutung, denn in dieser entschieden gegen das NSUnrecht kämpfenden Kirche hielt sich nicht, wer innerlich auf der Linie des Nationalsozialismus lag. Draeger wurde, es wurde bereits erwähnt, am 1. Dezember 1937 zum Präsidenten des Oberlandesgerichts Königsberg ernannt. Er bemühte sich, seinen so stark divergierenden Rollen entsprechend, sehr um Ausgleich mit dem NS-Regime, geriet jedoch immer wieder in Konflikt mit dem ostpreußischen Gauleiter Erich Koch, der ihm zu schaden versuchte.8 Daß er im Amt blieb, mag mit dem äußerst
3 Der Galtgarben ist mit 111 Metern die höchste Erhebung des Samlandes, er liegt etwa 20 Kilometer nordwestlich von Königsberg. Seit spätestens 1818 waren hier Gedenkfeiern für die Befreiungskriege üblich. Der Galtgarben, auf dem sich schon eine alte prussische Fliehburg befunden hatte, war in der Region ein bekannter Ort für Versammlungen mit Symbolwert. 4 Koschorke, Manfred, Geschichte der Bekennenden Kirche in Ostpreußen, Göttingen 1976, S. 113. 5 Koschorke, Geschichte der Bekennenden Kirche, S. 140. 6 Linck, Hugo, Der Kirchenkampf in Ostpreußen, München 1968, S. 219. 7 Ebd., S. 220. 8 Eine von Draeger angestrebte Versetzung an das OLG Kiel wurde 1943 vom Gauleiter der NSDAP in Schleswig-Holstein, Hinrich Lohse, der zugleich in Riga engagiert war und schwere Verantwortung am Völkermord der Nationalsozialisten trug, mit einem – gehässi-
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guten Ruf zu erklären sein, den er bei Kollegen und Untergebenen genoß.9 Ein Freund des Regimes war er bei aller Anpassung nicht, und von Zeitgenossen wurde er sogar dem Umfeld des Kreisauer Kreises zugeordnet. Aber er war eben, so weit man es sehen kann, auch kein Widerstandskämpfer. In Kreisau, im Haus Hardenberg und in der Berliner Hortensienstraße, wo Peter Graf Yorck v. Wartenburg wohnte, war er wohl nie; seine Zuordnung zum Umfeld der Kreisauer waren am ehesten wohlmeinende Mutmaßungen. Angesichts dieser divergierenden Rollen und seiner hohen Beliebtheit sei nochmals darauf hingewiesen, daß er nicht nur Freunde gehabt haben dürfte. Im Spätherbst 1944 wurde allen, die Einblick in Frontberichte und wahrheitsgetreue Nachrichten hatten, völlig klar, daß Ostpreußen verloren war und bald von der Roten Armee überrollt werden würde. Um für die ihm anvertrauten Mitarbeiter, deren notwendige Flucht absehbar war, Anlaufstellen in Stettin und Berlin zu schaffen, reiste Draeger im Januar 1945 von Königsberg nach Westen.10 Derartige Vorkehrungen, die für den Fall einer Flucht vorbauen sollten, waren damals üblich. Aus einem Aktenvermerk des Reichsjustizministeriums vom 28. dieses Monats geht jedoch hervor, daß der inzwischen zum Reichsverteidigungskommissar (RVK) aufgestiegene Koch einen Funkspruch mit der Beschwerde übermittelt habe, „daß der Chefpräsident (Draeger) und der Generalstaatsanwalt Szelinski ohne Fühlungnahme mit dem RVK (Koch) und ohne für ordnungsgemäße Übertragung ihrer Dienstgeschäfte gesorgt zu haben, Königsberg mit ihrem Dienstkraftwagen über Pillau nach Danzig verlassen haben.“11 Die Bevölkerung, so Koch an derselben Stelle weiter, sei über „dieses Verhalten der Vorstandsbeamten“ sehr erregt. Einen Beleg dafür lieferte er nicht. War dies eine Absetzbewegung Draegers? Oder sagte er die Wahrheit und wollte Anlaufstellen schaffen? Beschwerte sich Koch zu Recht? Oder war dies vielmehr ein Racheakt, eine Intrige des Gauleiters, den Draeger immer wieder brüskiert hatte? Reichsjustizminister Thierack, als Nationalsozialist absolut linientreu, ordnete die Einleitung eines Disziplinarverfahrens an. Was Draeger und Szelinski zu ihrer Fahrt motivierte, bleibt unklar. Sie wollten entweder ihre Behörden geordnet auflösen12 oder lediglich im Reichsjustizministerium „auf dem Dienstwege“ über die Lage in Ostpreußen persönlich „vortragen“.13 Das war damals nur mit Dienstwagen, Fahrer und aufgepflanztem Stander möglich, was gegen jede Heimlichkeit und damit gegen eine Absetzbewegung spricht. Die gen – Brief an Curt Rothenberger, Staatssekretär im Reichsjustizministerium, erfolgreich hintertrieben. 9 Schorn, Hubert, Der Richter im Dritten Reich, Frankfurt/Main 1959, S. 232. 10 Forstreuter, Altpreußische Biographie, Bd. III, S. 893. 11 Tilitzki, Christian, Alltag in Ostpreußen 1940 – 1945. Die geheimen Lageberichte der Königsberger Justiz, Leer 1991, S. 310. 12 Schorn, Richter, S. 232. 13 Brief Schmidt, Hamburg, an den Autor Prof. Döhler, Elmshorn.
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beiden fuhren ab Pillau per Schiff nach Danzig14 und dann weiter nach Stettin. Die Behörde in Königsberg mit allen ihnen anvertrauten Beamten hatten sie nicht ordnungsgemäß übergeben, das spricht angesichts der äußerst verantwortungsvollen Art, mit der Draeger sein Leben lang die ihm unterstellten Stellen und Behörden geführt hatte, ebenfalls gegen eine Absetzbewegung. In Danzig wurden Draeger und Szelinski noch auf dem Schiff verhaftet. Reichsjustizminister Thierack hatte schnell reagiert – es lag bereits ein in Berlin ausgestellter Haftbefehl vor. Die beiden bekamen einen Staatsanwalt und einen Wachtmeister zugewiesen, sie wurden per Reichsbahn nach Berlin verfrachtet.15 Nach ihrem Eintreffen wurden sie ins Untersuchungsgefängnis gebracht, wo Szelinski bereits in der ersten Nacht Selbstmord beging.16 In den folgenden Wochen wurde der Fall Draeger instrumentalisiert. In den noch nicht von der Roten Armee eroberten Gebieten Ostpreußens wurden am 7. Februar 1945 Richter und Justizbeamte unter Druck gesetzt; Absetzbewegungen angesichts der aussichtslosen Lage sollten offenkundig verhindert werden. Das Reichsjustizministerium berichtete in seinem Erlaß Nr. 9131 Ia9 186 ohne Namensnennung über den Fall Draeger. Der wurde damit indirekt als „schuldig“ gebrandmarkt und als „Wehrkraftzersetzer“ dargestellt, ohne daß ein Prozeß stattgefunden hätte. Mutmaßlich – eigentlich: offenkundig – geschah dies, um durch Druck und Angst vor Strafverfolgung möglichst lange ein Funktionieren der Justiz im zusammenbrechenden Reich zu gewährleisten.17 Draeger wurde in Berlin vor Gericht gestellt. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn am 29. März 1945 in einem Schnellverfahren zum Tode. Die Version, er habe für die ihm unterstellten Staatsanwälte und Richter angesichts der nachweislich bereits zum Erliegen gekommenen Rechtspflege in Ostpreußen18 Aufnahmepunkte schaffen wollen, wurde nicht als entlastende Möglichkeit gewürdigt. Vielmehr wurde ihm seine Fahrt nach Westen als Wehrkraftzersetzung und Fahnenflucht ausgelegt.19 Dabei wurde aufgrund eines Beweises dem Anschein nach geurteilt, 14 Ende Januar 1945 war es quasi unmöglich, einen Platz auf einem Schiff von Ostpreußen nach Westen zu bekommen. Der Kommandant des Schiffskonvois, zu dem auch das Schiff gehörte, das Draeger und Szelinski aufnahm, war eine Neffe des OLG-Präsidenten, das mag geholfen haben; vgl. dazu: Schorn, Richter, S. 232. 15 Tilitzki, Alltag, S. 312. 16 GStA Szelinski erhängte sich in seiner Zelle, nachdem er durch Reichsjustizminister Otto Georg Thierack persönlich vernommen worden war: Schorn, Richter, S. 232. 17 Schorn, Richter, S. 99; auf S. 233 nennt Schorn dann – wohl irrtümlich – unter derselben Signatur den 7. März 1945. 18 Tilitzky, Alltag, S. 300 ff. 19 Am Todesurteil gegen Draeger war Harry Haffner, der ehemalige Generalstaatsanwalt von Kattowitz, beteiligt. Nach Freislers Tod während der amerikanischen Bombardierung des Reichsjustizministeriums am 3. Februar 1945 wurde er als dessen Nachfolger der letzte Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes. Getarnt als Heinrich Hartmann lebte Haffner ab 1946 in Nordhessen; 1953 stellte er sich der Justiz.
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denn wenn es schon keinen Beleg für die Version Draegers gab, war ein Beleg für die Sichtweise, die die NS-Justiz einnahm, in noch weiterer Ferne. Der zynische Ton des oben zitierten Funkspruchs, den der ostpreußische Gauleiter Koch absetzte, spricht im übrigen Bände. In Wahrheit dürften die führende Mitarbeit Draegers in der Bekennenden Kirche und seine Gegnerschaft zu Gauleiter Koch die Gründe dafür gewesen sein, daß er sterben mußte. Zugleich ein Karrierejurist und insgeheim in kirchlicher Gegnerschaft zum Regime stehend – dieser Grenzgang funktionierte nicht. Nicht im sehr stark vom Nationalsozialismus durchsetzten Ostpreußen. Nicht 1944. Was der Gauleiter Koch am wenigsten gebrauchen konnte, war ein überlebender Zeuge, der nach Kriegsende, und das war absehbar, dokumentieren würde, was er in Ostpreußen verbrochen hatte. Die völlige Zerstörung Königsbergs durch die Rote Armee ist ursächlich dafür, daß dieser Wunsch Kochs weitgehend in Erfüllung gegangen ist.20 Nach dem Todesurteil gegen ihn wurde Max Draeger am 4. April 1945 in das Zuchthaus Brandenburg eingeliefert. Am 20. April 1945, die Infanterie der Roten Armee feuerte schon Granaten ins Stadtzentrum von Berlin, wurde er im 40 Kilometer westlich der Hauptstadt gelegenen Brandenburg erschossen. Im Protokoll ist vermerkt, diese Erschießung sei „ehrenhaft“ gewesen. Die Angehörigen Draegers haben von der Hinrichtung erst im Dezember 1945 erfahren.21
20 Die zweimaligen Luftangriffe auf Königsberg Ende August 1944 und die im Januar 1945 einsetzende Schlacht um die Hauptstadt Ostpreußens zerstörten auch die wertvollen Archive der Königsberger Corps. Nur wenige Stücke und Akten konnten in Flucht und Vertreibung nach Westdeutschland gerettet werden. Hanseas Archivreste, und damit wohl auch manche Nachrichten über Max Draeger, wurden von ahnungslosen Erben entsorgt. Littuanias Archivreste fielen einem Wasserschaden zum Opfer; 2009 wurden Teile im Staatsarchiv Allenstein entdeckt. Da Hansea, Littunania und Baltia Königsberg – Letztere das Corps von Hans Koch und Wolfram Knaak – sich im Jahre 1950 zum Corps Albertina Hamburg zusammenschlossen, findet die Pflege der Traditionen dieser drei Königsberger Corps zwar eifrig und offen sichtbar, aber doch gewissermaßen in transformierter Form statt. Die Abgrenzung gegeneinander im freundschaftlichen Wettbewerb, die die Traditionen der Corps immer neu schärft und so lebendig erhält, ist ohne einen regulären SC-Betrieb kaum möglich – und unter einem gemeinsamen Dach wird dies nochmals schwerer. Der Hamburger Albertina ist es aber jedenfalls zu danken, daß das Couleur und die Gebräuche dieser drei Corps nicht gänzlich untergegangen sind. 21 Draegers 1916 geborene Tochter, Lore Helbich aus Kassel, berichtete dies dem Verfasser im Jahre 2007.
Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und das Corps Saxonia zu Göttingen1 Von Christian-Erdmann Schott Fritzi, wie Fritz-Dietlof in der Familie und von seinen Freunden genannt wurde, war der achte Schulenburg im Corps Saxonia.2 Nach ihm sind noch fünf weitere dazu gekommen.3 Sein Vater, der General der Kavallerie und Generaladjutant Friedrich Bernhard Graf von der Schulenburg, hatte als Militär dem Corps nicht angehört, hielt aber viel davon und ermunterte seinen dritten und seinen vierten Sohn, WolfWerner, geboren am 14. September 1899 in Muskau, Oberlausitz, und Fritz-Dietlof,4 geboren am 5. September 1902 in London, zum Eintritt. Zu dieser positiven Einstellung des Vaters dürfte in hohem Maße beigetragen haben, dass beide Großväter von Fritzi – Werner Ludwig Graf von der Schulenburg-Hehlen, 1832 bis 1880, und Werner Graf von Arnim, 1845 bis 1881, aber auch sein Stiefgroßvater Hermann Graf von Arnim-Muskau, 1839 bis 1919 – das Band der Göttinger Sachsen getragen hatten.5 Zudem erhoffte sich der Vater einen heilsamen, auch politisch günstigen Einfluss durch die Corpserziehung auf seine Söhne, die er als in der Kriegs- und Nachkriegszeit „ein wenig verwildert“ ansah.6 Dabei ist davon auszugehen, dass der alte Graf über den bei Saxonia herrschenden Geist Erkundigungen eingezogen und dabei erfahren hatte, dass große Übereinstimmungen gegeben waren. Diese Vermutung drängt sich auf, wenn man liest, wie die spätere Frau von Fritzi Schulenburg, Charlotte, geborene Kotelmann, im Rückblick 1
Dieser Beitrag wurde aktualisiert. Erstmals ist er erschienen in Mecklenburgia sacra, JB für Mecklenburgische Kirchengeschichte 7, 2004, S. 41 – 60; erweitert: Corps Saxonia zu Göttingen, Corpszeitung Nr. 149, Mai 2005 S. 27 – 48; weiterentwickelt in: Sigler, Sebastian (Hg.), Freundschaft und Toleranz. 200 Jahre Corps Bavaria zu Landshut und München, (FS) München 2006 S. 229 – 246. 2 Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten, Kassel 1961, Nr. 45 – 677 (künftig: KCL). 3 Verzeichnis der Mitglieder des Corps Saxonia zu Göttingen sowie der Landsmannschaft Saxonia (1840 – 1844), o. O. nach dem Stand vom 13. Februar 1972 (künftig: „Verzeichnis“), S. 236; Anschriftenverzeichnis der Mitglieder des Corps Saxonia zu Göttingen o. O., Stand November: 1999, S. 57 f. 4 Groeben, Wolf von der, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg (1902 – 1944), in: Baum, Rolf-Joachim (Hg.), „Wir wollen Männer, wir wollen Taten!“. Deutsche Corpsstudenten 1848 bis heute, FS zum 150. Jubiläum des Kösener Senioren-Verbandes, Berlin 1998, S. 426 – 427. 5 Verzeichnis, Nr. 105, 194, 230; KCL, Nr. 45 – 106, Nr. 45 – 195, Nr. 231. 6 Krebs, Albert, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Zwischen Staatsraison und Hochverrat, Hamburg 1964, S. 42.
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den Geist im schwiegerelterlichen Haus beschrieben hat. „Die starke Betonung des nationalen Elements kam natürlich aus dem Elternhaus; in Tressow (bei Wismar/ Mecklenburg) wurden unentwegt politische Diskussionen geführt, der Vater und die Brüder waren gleichermaßen politisch-historisch interessiert. Es war nicht nur der verlorene Krieg, über den man trauerte, man fühlte sich auch vom Kaiser verraten. Mein Schwiegervater hatte im November 1918 zu denjenigen gehört, die Wilhelm II. gesagt hatten, er müsse in Deutschland bleiben und an der Spitze seiner Truppen nach Berlin zurückkehren, was immer ihm dabei zustoßen möge. Mit der Weimarer Republik und dem Liberalismus konnte man im Hause Schulenburg nichts anfangen“.7 Der Wechsel, den der Vater den Söhnen zukommen ließ, war mit monatlichen 100 bis 120 Mark ausgesprochen eng bemessen.8 Durch die heraufziehende Inflation wurde er in seinem Wert zudem schleichend gemindert. Zu einem ausschweifenden Lebensstil waren die Söhne von daher nicht verführt, wenn er denn in dem biederen Göttingen, im deutlichen Unterschied zu Bonn und Heidelberg, überhaupt möglich gewesen ist. Dass Wolf und Fritzi Schulenburg dem Jurastudium, für das sie eingeschrieben waren, mit exzessivem Eifer nachgegangen sind, wird man wiederum auch nicht vermuten dürfen, jedenfalls nicht für die ersten Semester. Nach einem Bericht ihres Corpsbruders Fritz von Werder, aktiv 1920/21,9 den Krebs auswerten konnte,10 waren sie vor allem damit beschäftigt, im Göttinger Studenten-Bataillon mitzuwirken. Dabei handelte es sich um Zeitfreiwilligen-Formationen, die von Offizieren der späteren Reichswehr inoffiziell als Reserve für den Fall innerer Unruhen und lokaler Grenzkonflikte aufgestellt und schon vor der Aktivenzeit von Fritzi Schulenburg tätig geworden waren. So hatte am 15. März 1920, kurz nach dem Kapp-Putsch, eine Kompanie der Burschenschaften die Göttinger Kaserne besetzt. Am 16. März nahmen die Zeitfreiwilligen die Reichsbank und die Post ein, am 19. März zog die Kösener-Senioren-Verbands-Kompanie nach Heiligenstadt im Eichsfeld, um eine Räteregierung auszuheben. Bremensia, Saxonia und Hannovera bildeten den ersten Zug der Kompanie. Die Aktion verlief erfolgreich. Am 23. März ging es zurück. „Nach strammem Marsch kamen wir in Göttingen an, wo inzwischen beinahe sämtliche Studenten sich zu den Zeitfreiwilligen gemeldet hatten“.11 Vom 27. März bis 2. April 1920 gab es einen weiteren Einsatz in der Gegend von Nordhausen, ebenfalls in Thüringen, der aber wenig spektakulär verlief.
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„Charlotte von der Schulenburg“. in: Dorothee von Meding (Hrsg.), Mit dem Mut des Herzens. Die Frauen des 20. Juli, Berlin 1997, S. 241 f. 8 Krebs, Schulenburg, S. 45. 9 Verzeichnis, Nr. 647; KCL, Nr. 45 – 674; Werder lebte von 1901 bis 1994. 10 Krebs, Schulenburg, S. 43. 11 Kayser, Bruno von, Beiträge zur Geschichte der Göttinger Sachsen. FS zum 90jährigen Stiftungsfest, Oldenburg i. O. 1930, S. 269.
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Nach Werders Bericht haben sich Wolf 12 und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg 1921 zum Oberschlesischen Selbstschutz gemeldet. Die Formation aus Göttingen stand unter der Führung von Wolf Schulenburg, der im Krieg Leutnant gewesen war. Sie kam zum Einsatz vom 23. Mai bis 4. Juni 1921 in den Stellungskämpfen südlich der Kreisstadt Rosenberg/Oberschlesien; vom 7. Juni bis 5. Juli 1921 beim Grenzschutz gegen die Polen bei Kreuzburg und vom 12. bis 14. Juni 1921 bei den Abwehrkämpfen bei Zembowitz und Pruskau. Werder schreibt in diesem Zusammenhang über Fritz-Dietlof Schulenburg: „Fritzi zeigte sich (…) in prekären Situationen von großer Kaltblütigkeit, so als wir eines Mittags in einer Försterei bei einer Mahlzeit saßen und die Polen uns von verschiedenen Seiten in die Fenster schossen. Die Maxime ,Lebe gefährlich!‘ und das Bedürfnis, sich mit seiner ganzen Person für etwas einzusetzen, war ihm wie allen Tressower Schulenburgs in hohem Maße eigen. Als Kamerad war auf ihn unbedingter Verlass. Ich war in Oberschlesien an einer Ruhr erkrankt und delirierte in so hohem Fieber, dass mir schon alles egal war. Die Brüder Schulenburg ruhten nicht, bis sie einen renommierten Breslauer Arzt, der in einem Nebenabschnitt Dienst tat, herbeigeholt hatten, der mich kuriert hat.“13 Der seit Göttingen sichtbarste Ausdruck der Zugehörigkeit von Fritzi Schulenburg zu einer schlagenden Verbindung waren die Schmisse und Zieher, die sein Gesicht als auffallend zerhackt erscheinen ließen. Der äußere Eindruck, der auf einen „tollen Kerl“ und „wilden“ Corpsstudenten schließen lässt, besteht völlig zu Recht. Seine Corpsbrüder haben ihn so gesehen.14 Auch sein Kartellbruder Klaus von der Groeben, der von 1902 bis 2002 lebte, bei Saxo-Borussia aktiv15 und später, von 1936 bis 1945, Landrat des Samlandkreises in Ostpreußen war, nach dem Krieg Landrat des Kreises Stormarn, zuletzt Staatssekretär im Innenministerium von Schleswig-Holstein – dieser Klaus von der Groeben also hat ihn so erlebt: „Fritzi hatte ich bei einem Kartellbesuch bei Saxonia-Göttingen im Winter 1922/23 kennengelernt. Bei einer wilden Kneipe imponierte er durch seine ungestüme, überlegene Art. Ich fand ihn nicht sehr anziehend und konnte nicht ahnen, dass das der Mann sein sollte, der meinen Lebenslauf stärker beeinflussen würde als fast jeder andere. Wir waren sehr verschieden, (…) uns verband aber die gleiche Einstellung zur Lebensführung, das Gebundensein an Verantwortung und Gewissen, die Geringschätzung materieller Werte und das Gesetz der Selbstbeherrschung.“16 Fritzis Schwester Tisa (Elisabeth), die sich gerade mit diesem Bruder besonders verbunden wusste, bemerkte, dass er sich in Göttingen veränderte: „Fritzi wurde im Studium ein anderer Mensch. Keck, lebhaft, übermütig, geistreich, witzig. Er fand
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KCL, Nr. 45 – 662. Krebs, Schulenburg, S. 43. 14 Ebd., S. 44; Heinemann, Ulrich, Ein konservativer Rebell. Fritz Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli, Berlin 1990, S. 3. 15 KCL, Nr. 66 – 1388; Vorname dort in der Schreibweise: Claus. 16 Groeben, Klaus von der, Streiflichter. Persönliche Erinnerungen, Raisdorf 1997, S. 39. 13
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viele Freunde.“17 Zugleich habe er die Fähigkeit eingeübt, sich eine „Maske“ zuzulegen, „um sich dahinter zu verbergen, um andere irrezuführen. Ihm lag Verwegenheit und Bluff“.18 Zugleich spricht alles dafür, dass sich in Göttingen auch jene Anziehungs- und Überzeugungskraft, mit der er andere Menschen für sich und seine Ideen einnehmen, ja, begeistern konnte, entwickelt hat. Die Corpsbrüder übertrugen ihm gleich zwei Mal die Charge des Conseniors, vertrauten ihm also die Organisation und Überwachung des Paukbetriebes des Corps an. Traditionell hatte „der Zweite“ dafür zu sorgen, dass das Corps eine optimale Fechtausbildung erhält und, zur damaligen Zeit wichtiger als heute, jederzeit satisfaktionsfähig ist. Zum anderen handelt „der Zweite“ mit den anderen Corps am Ort die Mensurtage und die jeweiligen Gegenpaukanten aus. Bei der auf die Mensur folgenden Mensurkritik muss er seine Maßnahmen im Corps-Convent (CC) vertreten, gegebenenfalls verteidigen. Nicht notwendig gehört zur Funktion eines Zweitchargierten, dass er als Sekundant tätig wird. Schulenburg hat diese Aufgabe aber zusätzlich übernommen und als Inaktiver am Ort noch eine gewisse Zeit ausgeübt. Es ist von Interesse, hier anzumerken, dass der Sekundant nicht vom CC bestimmt, sondern vom Paukanten ausgewählt und gebeten werden muss. Der Sekundant ist auf Mensur Partei. Er vertritt die Interessen des Paukanten, was vor allem bedeutet, dass er ihn in dem Ziel unterstützt, eine vom Corps anerkannte Partie zu fechten, und erst in zweiter Linie, ihn, falls nötig und möglich, zu schützen. Im Falle nicht commentmäßigen Verhaltens des Gegenpaukanten ist er zum Einfallen verpflichtet. Der Sekundant muss alle Regeln bestens beherrschen, sehr schnell reagieren und dazwischenfahren, sein Handeln sofort, auch frech-witzig, begründen und das Ende einer Partie ausrufen können. Der Paukant ist vom Sekundanten sehr abhängig. Darum ist es wichtig, dass ein Vertrauensverhältnis besteht und der Paukant sich vom Sekundanten sicher geführt weiß. In der Corpsgeschichte findet sich denn auch der ehrenvolle Satz: „Von den Inaktiven wirkten Fritzi Schulenburg und ,Pferdchen‘ Werder als begehrte Sekundanten“.19 Schulenburg hat also das besondere Vertrauen vieler Corpsbrüder besessen, die sich ihn gezielt als Beistand aussuchten. Selbst hatte sich Fritzi Schulenburg seinen Bruder Wolf zum Sekundanten gewählt. Das war nicht unbedingt von Vorteil. Denn Wolf wollte den Anschein vermeiden, dass er seinen jüngeren Bruder bevorzugt und mehr schützt als andere Corpsbrüder. So hat Wolf unter gleichwohl strenger Beachtung des Fechtcomments zugelassen, dass Fritzi die schweren Hiebe einstecken musste, die sein Gesicht dann so markant gezeichnet haben.20
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Schulenburg, Tisa von der, Ich hab’s gewagt. Bildhauerin und Ordensfrau – ein unkonventionelles Leben, Freiburg / Basel / Wien 1992, S. 80. 18 Ebd. S. 123, 80. 19 Kayser, Beiträge, S. 276. 20 Schulenburg, Tisa von der, Ich hab’s gewagt, S. 123. Das Kneipenfoto stammt aus der Zeit vor dieser Partie.
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Das corpsstudentische Fechten unterscheidet sich vom reinen Sportfechten vor allem durch die hohe Bewertung der „Moral“. Damit ist die Fähigkeit gemeint, die normal-natürliche Reaktion bei einem Hieb oder Schlag zu unterdrücken. Normal wäre in einem solchen Fall Weglaufen, Ausweichen oder Zucken. Diese Reaktionen gilt es zu beherrschen und zu „stehen“, auch wenn erkennbar ist, dass der Hieb kommt und sitzen wird. Fritzi Schulenburg hat sich diese Moral eisern anerzogen. Seine Schwester berichtete davon in ihren Erinnerungen: „In den Ferien kam er und sagte: ,Schlag mit einem Stock an meinem Gesicht vorbei, bis ich nicht mehr mit der Wimper zucke‘. Andächtig stand ich da und schlug und schlug“.21 Diese Episode zeigt, dass Schulenburg die corpsstudentische Fechterziehung absolut bejaht und in den Dienst seiner Selbsterziehung gestellt hat. Er wollte sich den Herausforderungen des Lebens mit den Charaktereigenschaften stellen, die auf Mensur gefordert sind: Mut, Selbstbeherrschung, Stehvermögen. In einem Brief, in dem er der Witwe eines im Krieg gefallenen Regierungsassessors kondolierte, machte er klar, was er an diesem Mitarbeiter geschätzt hatte. Es waren corpsstudentische Tugenden: „Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich ihn (…) ganz in mein Herz geschlossen hatte. (…) Ich wußte, wo man ihn hinstellt, würde er stehen und nicht wanken.“22 Zwanzig Jahre nach der Göttinger Zeit schrieb er aus Russland: „Ich wünsche, so in Gott zu ruhen, dass ich alles, was er mir zumisst, ohne mit der Wimper zu zucken, hinnehme!“23 I. Freundschaften mit Corpsbrüdern Mit einigen Corpsbrüdern hat sich Fritzi Schulenburg in lebenslanger Freundschaft verbunden gewusst. Leider gibt es darüber nicht viele Aufzeichnungen. Das wenige, was an zerstreuten Orten gelegentlich festgehalten ist, soll hier wenigstens zusammengetragen werden. So ist belegt, dass er mit Kurt Stürken,24 1922/23 aktiv, den er in seiner Inaktivenzeit in Göttingen kennen gelernt hatte, 1924 für drei Monate nach Südamerika gefahren ist, „um etwas von der Welt zu sehen“. Da der Vater diesen Plan finanziell nicht unterstützen konnte oder wollte, verdienten sich die beiden die Schiffsreise als Tellerwäscher.25 Stürken bewirtschaftete später das Gut Stolpe im Kreis Anklam, Vorpommern. Am Krieg nahm er als Rittmeister der Reserve teil. Nach dem Krieg lebte er als Versicherungskaufmann in Hamburg.26 Den mit ihm gleichzeitig aktiven Fritz von Werder, dessen Bericht über die Zeitfreiwilligen-Einsätze hier schon erwähnt worden ist, hat Schulenburg mit Ehefrau im 21
Ebd., S. 80. Groeben, Klaus von der, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, in: Corps Saxonia zu Göttingen, Corpszeitung Nr. 119, April 1990, S. 26 – 31, hier: S. 30. 23 Krebs, Schulenburg, S. 45. 24 Verzeichnis, Nr. 678; KCL, Nr. 45 – 708; Stürken lebte von 1902 bis 1990. 25 Dönhoff, Marion Gräfin, „Um der Ehre willen“. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli 1944, Berlin 1994S. 84 f.; Krebs, Schulenburg, S. 63 f. 26 Nachruf auf Rüdiger von Flemming, in: Corps Saxonia zu Göttingen, Corpszeitung Nr. 119, April 1990, S. 32 f. 22
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März 1933 zu seiner Hochzeit eingeladen. Tisa Schulenburg ist damals aufgefallen, „wie offen ich mit seinen anwesenden Freunden (über die politische Lage) reden konnte“.27 Werder war Chemiker, Dr. phil., in der Firma Ernst Merck AG in Darmstadt, zuletzt als Oberleiter und Prokurist in der Leitung der Forschungsabteilung tätig. Eine ebenfalls in Göttingen begründete Freundschaft verband Schulenburg mit Karl von Oppen.28 Der wegen seiner leicht rundlichen Erscheinung von den Corpsbrüdern „Toennchen“ genannte Oppen war ebenfalls mit Schulenburg zusammen 1920/21 aktiv gewesen. Als Referendare haben die beiden später in Berlin ein Zimmer bewohnt,29 danach in einem losen Briefwechsel gestanden30 und sich bei ihren Kindern gegenseitig zu Paten gebeten. Während der Vorbereitung des Attentates war das Gut Oppens, Altfriedland im Kreis Ober-Barnim, einer der konspirativen Tagungsorte für die Verschwörer.31 Vier Wochen vor dem Attentat, nämlich vom 18. bis 21. Juni 1944, waren Schulenburg und seine Frau noch einmal bei Oppens. Die Eintragung im Gästebuch zeugt von der inneren und äußeren Wärme der Begegnung: „Fritzi mit herzlichem Danke und mit Charlotte, die zwei unerhört schöne Friedländer Sonnentage sehr genoß“.32 Die Söhne von Karl Oppen erinnern sich noch heute daran, dass ihr Vater und Fritzi Schulenburg bei dieser letzten Begegnung auf stundenlangen Spaziergängen sehr intensive Gespräche geführt haben. Dabei ist es auch um die Frage gegangen, ob Oppen bereit wäre, im Falle des Gelingens des Staatsstreiches die Position des Landrates im Kreis Ober-Barnim zu übernehmen.33 Karl von Oppen, zunächst Rechtsanwalt in Wriezen, 1938 bis 1968 Syndikus der Vereinsbank in Hamburg, 1962 bis 1970 ehrenamtlicher Bundesarbeitsrichter, im Krieg zuletzt Hauptmann, hat in seinen Erinnerungen unter der Überschrift „Letzter Herr auf Altfriedland“ über seine Zeit im Corps geschrieben: „Ich habe mich sehr wohl gefühlt in diesem Kreis gleichgesinnter, in vieler Hinsicht interessierter Corpsbrüder, von denen ich den durch seine führende Stellung in der Widerstandsbewegung bekannt gewordenen Fritz-Dietlof Schulenburg hervorhebe. (…) und mache kein Hehl daraus, dass ich sehr Wesentliches aus meinem Leben streichen müsste, wäre ich nicht Göttinger Sachse. Ich kann nicht gerade behaupten, dass die drei Göttinger Semester juristisch fruchtbar gewesen wären, aber die ,allgemeine Bildung‘, wenn ich einmal so sagen darf, besonders auf historischem und politischem Gebiet, das uns fast alle besonders interessierte, ist lesend, hörend, diskutierend nicht zu kurz
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Schulenburg, Tisa von der, Ich hab’s gewagt, S. 124. Verzeichnis, Nr. 651; KCL, Nr. 45 – 678; Oppen lebte von 1901 bis 1974. 29 Krebs, Schulenburg, S. 62. 30 Ebd., S. 65, 185 ff., 191. 31 Ebd. S. 260. 32 Mitgeteilt durch den Sohn, Matthias v. Oppen, in Bad Homburg. 33 Schwerin, Detlef Graf von, „Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt“. Die junge Generation im deutschen Widerstand, München 1991, S. 343. 28
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gekommen“.34 In den Widerstand war Oppen nicht eingebunden. Aber er gehörte zu den zuverlässigen Freunden mit gleicher Einstellung, auf die sich Schulenburg abgestützt hat.35 Im Unterschied zu Stürken, Werder und Oppen hatte sich die Verbindung zwischen dem Grafen Schulenburg und Adam von Trott zu Solz erst lange nach der Zeit bei den Göttinger Sachsen ergeben und entwickelt. Trott war sieben Jahre jünger und entsprechend später aktiv;36 zu einer Zeit, in der Schulenburg schon nicht mehr in Göttingen war. Wann sie sich das erste Mal begegnet sind, ließ sich nicht feststellen. Als späteste Möglichkeit kommt Berlin Anfang des Jahres 1939 in Betracht, nach der Rückkehr Trotts von seiner im März 1937 begonnenen 20-monatigen USA-ChinaReise.37 Schulenburg war seit Juli 1937 als Polizeivizepräsident von Ostpreußen nach Berlin versetzt. Die Begegnung dürfte Albrecht von Kessel, Botschaftsrat im Außenministerium, arrangiert haben. Er war ein Freund Trotts und sammelte den auf einen Regimewechsel hinarbeitenden „Grafenkreis“ um sich. Dazu gehörte Schulenburg, aber auch Peter Graf Yorck von Wartenburg, Ulrich Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, Botho von Wussow, Eduard Brücklmeier, Helmuth James Graf von Moltke, Caesar von Hofacker.38 Mit Kessel hatte Trott zwei Monate nach der Rückkehr aus Fernost, die Anfang Dezember 1938 gewesen war, den Kontakt wieder aufgenommen.39 Im Jahr 1938, als sich der Widerstand gegen Hitler dergestalt zu formieren begann, haben die Corps des Weißen Kreises als aktive Verbände schon nicht mehr bestanden. Saxo-Borussia war von den Nationalsozialisten verboten worden, Saxonia und Borussia haben sich selbst aufgelöst, um einem Verbot oder der Umwandlung in eine NS-Kameradschaft zuvor zu kommen. Die Altherrenverbände und die Beziehungen untereinander bestanden aber weiter. Es bestanden auch die Prägungen weiter, die die einzelnen in ihrer Zeit als aktive Corpsstudenten erfahren hatten. Was auch weiter Bestand hatte, war das Netzwerk an verbindlichen Freundschaften, die auch Empfehlung an Dritte ermöglichten. So wurden die „Verbindungen“, die wirksam blieben, zu einem Instrument, um das Netzwerk des Widerstands gegen Hitler voranzutreiben. Anfang 1939 wurde Schulenburg als Regierungspräsident nach Breslau versetzt, Trott war in seiner Eigenschaft als Legationssekretär des Außenministeriums verschiedentlich im Ausland, so dass die Verbindung zumindest zeitweise nicht beson34 Oppen, Karl von, Letzter Herr auf Altfriedland, in: Lebensskizzen aus der Familie v. Oppen, vornehmlich im 20. Jahrhundert. Ein zeitgeschichtliches Lesebuch. Unter Mitwirkung von zahlreichen Verwandten zusammengestellt und bearbeitet von Dietrich v. Oppen, Selbstverlag 1985, S. 210 – 229, hier: S. 216. 35 Ebd., S. 219, S. 221, S. 224. 36 Verzeichnis, Nr. 754; KCL, Nr. 45 – 787. 37 Dönhoff, „Um der Ehre willen“, S. 161 f. 38 Schwerin, „Dann sind’s die besten Köpfe…“, S. 136 f. 39 Ebd., S. 174.
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ders intensiv sein konnte. Erst im Krieg wurden die Kontakte enger, nun im Zusammenhang mit dem Kreisauer Kreis, dem beide angehörten. Clarita von Trott zu Solz hat in den Erinnerungen an ihren Mann darüber geschrieben: „Auch die Beziehung zu einem anderen älteren Freund und Corpsbruder intensivierte sich erst im Laufe der Kriegsjahre, die zu Fritzi von der Schulenburg. Er (Adam) mochte ihn sehr gerne und hat viel von ihm gehalten. Innerhalb des Freundeskreises gehörte er mit Adam zu den unbedingt zur Handlung Drängenden.“40 Von jetzt ab gehörten Schulenburg wie Trott zum harten Kern des Widerstandes und den eindeutigen Befürwortern eines Attentates auf Hitler. Bei den letzten Zusammenkünften in Berlin kurz vor dem Attentat waren es neun Freunde, die, zum Äußersten entschlossen, die abschließenden Vorbereitungen getroffen haben: die beiden Brüder Stauffenberg, Oberst Georg Hansen, Hofacker, Merz von Quirnheim, Schulenburg, Schwerin, Trott, Yorck.41 Sie sind alle nach dem 20. Juli 1944 erschossen oder hingerichtet worden. Schulenburg gehörte zum inneren Kreis der Widerstandskämpfer und war somit aktiv an der Planung der Operation Walküre beteiligt. Nach dem erfolgreichen Umsturz sollte er Reichsinnenminister werden. Am 20. Juli 1944 befand sich Schulenburg in der Zentrale des Staatsstreiches, im Oberkommando der Wehrmacht. Im Bendlerblock wurde er nach dem Misslingen des Vorhabens am selben Tag verhaftet. Am 10. August 1944 stand er mit Erich Fellgiebel, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, Alfred Kranzfelder und Georg Hansen vor dem Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler. In seinem Schlusswort nach dem Todesurteil erklärte er: „Wir haben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor namenlosem Elend zu bewahren. Ich bin mir klar, dass ich daraufhin gehängt werde, bereue meine Tat aber nicht und hoffe, dass sie ein Anderer in einem glücklicheren Augenblick ausführen wird.“ Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg wurde noch am Tag des Urteils in Berlin-Plötzensee gehenkt. II. Das Corps während der Vorbereitungen zum Staatsstreich Zu den Personen, die Schulenburg Anfang 1943 in die Vorbereitungen für die Organisation eines geordneten Ausnahmezustandes nach einem Staatsstreich auf Hitler einzubeziehen suchte, gehörte auch sein Corpsbruder Claus Joachim von Heydebreck.42 Der war von Hause aus Rechtsanwalt und damals als Kriegsverwaltungsrat in Berlin tätig. Er wurde später Rechtsanwalt in Glückstadt, von 1959 bis 1964 Präsident des Schleswig-Holsteinischen Landtags, von 1964 bis 1969 Kultusminister in der Landesregierung in Kiel. In seinen „Lebenserinnerungen“ hat Heydebreck be40 Trott zu Solz, Clarita von, Adam von Trott zu Solz. Eine Lebensbeschreibung, Berlin 1994, S. 166. 41 Schwerin, „Dann sind’s die besten Köpfe…“, S. 373 – 395. 42 Verzeichnis, Nr. 728; KCL, Nr. 45 – 760.
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richtet, „an einem der ersten Tage des Jahres 1943“ habe Schulenburg ihn aufgesucht und mit ihm ein Gespräch geführt,43 in dem er ihm einen „demnächst“ stattfindenden Staatsstreich in Aussicht gestellt habe. Schulenburgs Sorge galt zu diesem Zeitpunkt der Sicherstellung der Weiterarbeit der Ministerien während des zu erwartenden Ausnahmezustandes. „Mich wollte er fragen, ob ich bereit sei, an dieser Aktion mitzuwirken. Die gleiche Frage sollte ich an meinen damaligen Dienststellenleiter Ludolf Bismarck44 und möglicherweise auch an andere mir bereit und geeignet erscheinende Corpsbrüder richten. Einen davon, Kurt Stürken, sollte ich nach Möglichkeit auf dem (…) Dienstwege aus dem Osten nach Berlin beordern lassen“. Heydebreck zögerte und gab zu Bedenken, „dass ein solches Unternehmen eine neue Dolchstoßlegende produzieren könnte, wie es sie 1918 gegeben hatte. Damals war bekanntlich die Ansicht verbreitet worden, der erste Weltkrieg sei nur deshalb verloren worden, weil in der Heimat die Revolution ausgebrochen sei.“45 Trotz seiner Bedenken hat Heydebreck die Bitte Schulenburgs erfüllt und Ludolf von Bismarck und andere Corpsbrüder unterrichtet. Über die Reaktionen schreibt er: „Die Meinungen der Angesprochenen waren geteilt. Wie der weitere Verlauf der Ereignisse beweist, hat keiner von ihnen etwas verraten. Einige waren aber der Meinung, dass das herrschende System nicht durch einen Putsch gestürzt werden dürfe, sondern an sich selbst zugrunde gehen müsse, weil andernfalls unweigerlich eine Dolchstoßlegende entstehen müsse.“46 Wegen der Luftangriffe musste Heydebrecks Dienststelle im Sommer 1943 Berlin verlassen und nach Westpreußen ausweichen. Damit hatte sich in seinem Fall die Frage einer Mitwirkung bei einem Staatsstreich erledigt. Unter den Angesprochenen war auch Ernst-Friedemann Freiherr von Münchhausen, bei Saxonia aktiv 1926/27,47 Dr. jur., bis 1936 in verschiedenen juristischen Stellungen in Berlin tätig, danach auf seinem Gut Herrengosserstedt in der Provinz Sachsen, 1940 bis 1945 bei der Wehrmacht, ab 1951 Richter, zuletzt Landgerichtspräsident in Bielefeld, 1967 bis 1970 Staatssekretär im Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Münchhausen hat später festgehalten: „Überzeugte Nationalsozialisten wüsste ich im Corps nicht zu nennen, selbst formale Parteigenossen waren eine Ausnahme. Ich erinnere mich, wie auf einem Corpsabend 1942 oder 1943 in Berlin (…) ein (…) Corpsbruder mit dem Parteiabzeichen am Revers erschien. Er wurde unisono für verrückt erklärt. (…) Daß Fritz Schulenburg und Adam von Trott zu Solz ein Attentat auf Hitler vorbereiteten, wussten einige von uns. Schulen43
Lebenserinnerungen unseres Vaters, Claus Joachim von Heydebreck, bis 1945. Nach dem Tode des Verfassers von seinen Kindern herausgegeben, Privatdruck o. O., o. J. (1986) S. 116. 44 Verzeichnis, Nr. 682; KCL, Nr. 45 – 712. Bismarck lebte von 1900 bis 1979. 45 Lebenserinnerungen Heydebreck, S. 117. 46 Ebd. S. 118. 47 Verzeichnis, Nr. 735; KCL, Nr. 45 – 767; Münchhausen lebte von 1906 bis 2002.
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burg oder jemand in seinem Auftrag, vielleicht Heydebreck, frug mich und andere an dem Abend, ob wir bereit seien, uns, wie auch immer, zu beteiligen: ,Ich würde es mir nie verzeihen, mich nicht zu beteiligen‘, antwortete ich damals. Wir hatten das schon 1936 in einem kleinen Kreis mit Hans Bernd Gisevius besprochen, an dem auch Kleist-Schmenzin beteiligt war. Unternommen haben wir nichts, trotz der Erfolgsaussichten eines Attentats während der Olympiade, und obwohl wir es für nötig hielten, um die unausweichliche Katastrophe abzuwenden. Mich belastet diese Unterlassung noch heute, auch wenn das kokett klingen mag.“48 Zu den Corpsbrüdern, die von der treibenden Rolle Schulenburgs bei der Vorbereitung eines Sturzes von Adolf Hitler wussten, gehörten auch Dietrich Wilhelm von Menges, 1909 bis 1994, aktiv 1928/29,49 und Hasso von Etzdorf, 1900 bis 1989, aktiv 1919/20.50 Menges, Dr. jur., ab 1934 Referent im Reichs- und preußischen Wirtschaftsministerium in Berlin, 1938 Prokurist der Ferrostaal AG, von 1939 bis 1945 bei der Wehrmacht, zuletzt Hauptmann und Generalstabsoffizier, 1947 Vorstandsvorsitzender der Ferrostaal AG, 1966 der Gutehoffnungshütte Aktienverein, lag 1942 mit der 23. (Potsdamer) Division in Dänemark, „als Fritzi Schulenburg mich eines Tages ansprach: Der Feldmarschall von Manstein sei bereit, nachdem sich ein ,Ende‘ in Stalingrad abzeichne, an die Spitze der Reichsregierung zu treten, wenn Hitler vorher beseitigt würde. Für den Tag des Umsturzes fehle aber in Berlin eine zuverlässige Truppe etwa in Bataillonsstärke, die den Machtwechsel durchsetzen könne. Ich schlug Schulenburg daraufhin vor, dass die 23. Division zu ,Ausbildungszwecken‘ ein Bataillon nach Döberitz verlegt. (…) Die Vorbereitungen liefen von Dänemark aus an, als mich kurz vor Weihnachten 1942 eine Nachricht Schulenburgs erreichte, dass Manstein nicht zur Verfügung stehe und alles abzublasen sei.“51 Hasso von Etzdorf,52 Dr. iur., seit 1928 im Auswärtigen Dienst, 1931 bis 1934 Legationssekretär in Tokio, 1937 und 1938 in Rom, 1934 bis 1936 persönlicher Sekretär des Reichsaußenministers, während des Zweiten Weltkrieges Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Oberkommando des Heeres, zuletzt in Genua, nach dem Krieg Ministerialdirigent in Bonn, Botschafter in Ottawa, 1961 bis 1965 in London, hat im Oktober 1939 durch eine Denkschrift „Das drohende Unheil“53 leitende Persönlichkeiten des Generalstabes für einen Umsturz zu gewinnen versucht. Von den Vorbereitungen zum 20. Juli 1944 dürfte er gewusst haben. Aber – so Dietrich Wilhelm von Menges: „Etzdorf hat sich immer dagegen verwahrt, als ein Beteiligter des 20. Juli zu gelten, dem er keine Erfolgschancen zubilligte; ich bin aber sicher, dass er für viele 48 Freiherr von Münchhausen, Ernst-Friedemann, In der Saxonia Göttingen, in: Blasius, Rainer A. (Hg.), Hasso von Etzdorf. Ein deutscher Diplomat im 20. Jahrhundert, Zürich 1994, S. 64 – 69, hier S. 68 f. 49 Verzeichnis, Nr. 766; KCL, Nr. 799. 50 Ebd., Nr. 628; KCL, Nr. 45 – 655. 51 Menges, Dietrich Wilhelm von, in: Blasius, Etzdorf, S. 59. 52 Zu Etzdorf ausführlich: vgl. das ihm gewidmete Lebensbild in diesem Band. 53 Abgedruckt bei: Blasius, Etzdorf, S. 138 – 148.
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Leute eine ,Schutzfunktion‘ ausgeübt hat. Über seinen Tisch sind viele Dinge gelaufen, er hat gesehen, wie ein Militärputsch vorbereitet wurde, schließlich ausgeführt durch einzelne Offiziere von hohem Mut, aber ohne große Resonanz in der vom Kriegsgeschehen erfassten deutschen Bevölkerung, außerdem äußerst unbequem für die Alliierten.“54
III. Das Corps Saxonia und der Widerstand des Grafen v. d. Schulenburg Die Frage, ob sich bei Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg eine Verbindung zwischen der Mitgliedschaft im Corps und dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten ableiten lässt, kann nach der politisch-weltanschaulichen Seite hin nur eindeutig verneint werden. Die Geisteshaltung der Göttinger Sachsen, die nach 1918 aktiv gewesen waren, dürfte Claus Joachim von Heydebreck zutreffend beschrieben haben: „Politisch war das Corps damals in seiner Mehrheit auf konservativer Grundlage angesiedelt. Man wählte deutschnational, gehörte aber keiner Partei an.“55 Das dürfte heißen: Man war sich einig in der Ablehnung des Versailler Vertrages, in der Kritik an der Weimarer Republik und in der Hoffnung auf eine Wiederherstellung Deutschlands in nationaler Größe. Aus dieser Einstellung heraus waren Einzelne sehr offen für die Angebote der Nazis. Zu diesen gehörten Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg, seine drei Brüder wie auch zahlreiche weitere Mitglieder der Familie Schulenburg, die sich denn auch mit Überzeugung und großen Erwartungen zum Nationalsozialismus bekannt haben. Diese Option war im Corps aber eher selten. Heydebreck im Rückblick auf 1925: „Bemerkenswert ist es, dass damals wie auch später so gut wie keine Sympathien für die damals schon am Rande des politischen Spektrums agierende NSDAP im Corps vorhanden waren.“56 Dass sich Schulenburg später in einem längeren Prozess vom NS-Parteigenossen zum Widerstandskämpfer entwickelt hat, ist auf das Corps nicht zurückzuführen. Es ist vielmehr Ausdruck seiner preußischen Wertorientierung und seiner tiefen christlichen Glaubensüberzeugungen. Es war seine persönliche Entwicklung und Entscheidung, die ihn in den Widerstand getrieben hat. So wie es auch bei Adam von Trott zu Solz eine persönliche Entwicklung gewesen ist, die ihn auf diesen Weg gezwungen hat. Andere Göttinger Sachsen sind bei letztlich gleicher Grundeinstellung diesen Weg nicht mitgegangen. Im Grunde lässt sich keine Entscheidung, die damals gefällt worden ist, ob für oder gegen die Nazis, ob für oder gegen den Staatsstreich, zwingend aus der Mitgliedschaft zum Corps ableiten. Etwas anders fällt die Antwort aus, wenn die Erziehung in den Blick genommen wird, die Schulenburg durch das Corps erfahren und dann auch verinnerlicht hat. Die Stärkung der charakterlichen und kommunikativen Fähigkeiten – Mut, Selbstbeherr54
Menges, Dietrich Wilhelm von, in: Blasius, Etzdorf, S. 59 f. Lebenserinnerungen Heydebreck, S. 31. 56 Ebd., S. 31.
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schung, Stehvermögen, Selbstbehauptung in der Gruppe, Überzeugungs- und Durchsetzungskraft – hat er im Widerstand brauchen können. Bei dem Doppelleben, das die Verschwörer führen mussten, um unentdeckt ihre Ziele verfolgen zu können, waren sie auf derartige Fähigkeiten angewiesen. Aber auch hier gibt es keine einseitige und eindeutige Zuweisung. Denn unter den Männern des 20. Juli 1944 hat es viele gegeben, die nicht durch die Erziehung eines Corps gegangen waren. Dass sich diese Erziehung bei Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg positiv ausgewirkt hat, wird man aber wohl sagen können. Im letzten Gedenkjahr, 2004, ist gleich zwei Mal herausgehoben daran erinnert worden, dass Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg dem Corps Saxonia zu Göttingen angehört hat. Einmal war es das Corps selbst, das anlässlich seines Stiftungsfestes in einer Feierstunde am 3. Juli 2004 beim alten Corpshaus, Theaterplatz 5, eine Gedenktafel enthüllt hat. Auf dieser Ehrenplatte, ausgeführt in der schlichten Art, wie sie in der geschichtsbewussten Universitätsstadt Göttingen an Häuserfronten und öffentlichen Gebäuden zur Erinnerung an bedeutende Bewohner angebracht wird, stehen die Worte: Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg / Widerstandskämpfer / 1920 – 21. Die Laudatio hielt der Göttinger Historiker Professor Bernd Weisbrod. Für das Corps sprach das Ehrenmitglied des Corps, Dr. Thedel Freiherr von Cramm. Es ist die zweite Ehrentafel, die an dieser Stelle angebracht werden konnte. Die andere ist dem Widerstandskämpfer Adam von Trott zu Solz, 1909 bis 1944, aktiv bei Saxonia in den Jahren 1927 und 1928, gewidmet.57 Zum anderen waren es der Verband Alter Corpsstudenten (VAC), die Alten Herren des Kösener Senioren-Konventes (AHSC) zu München und das Corps Bavaria, die am 19. Juli 2004 auf dem Bayernhaus in München-Bogenhausen eine Vortragsveranstaltung durchführten, in der an die sieben damals bekannten Corpsstudenten58 erinnert wurde, die im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944 von den Nationalsozialisten hingerichtet worden sind. Den Vortrag hielt der Historiker und DokumentarFilmautor Maurice Philip Remy.59 Der Einladung waren Worte vorangestellt, die Graf von der Schulenburg vor dem Volksgerichtshof gesprochen hatte. In ihrem Buch „Um der Ehre willen. Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli 1944“ hat Marion Gräfin Dönhoff in knappen Essays sehr eindrucksvoll auch Peter Graf Yorck, Adam von Trott zu Solz und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg porträtiert,60 alle drei waren persönliche Freunde von ihr; nachrichtlich war die Gräfin Dönhoff mit einer Vielzahl von Vorgängen im Widerstand befasst. Darauf möchte ich hier in Ergänzung zu dem, was Charlotte Gräfin von der Schulenburg 57 Krusenstjern, Benigna v., „dass es Sinn hat zu sterben – gelebt zu haben: Adam von Trott zu Solz 1909 – 1944“, Biographie, Göttingen 2009. 58 Groeben, Wolf von der, Corpsstudenten als Widerstandskämpfer, in: Deutsche Corpszeitung, 1984, S. 167 – 170. 59 Sigler, Sebastian, 20. Juli 1944: Corpsstudenten im Widerstand, in: Corps – Das Magazin, Nr. 3, 2004, S. 5, dort eine Zusammenfassung. 60 Dönhoff, „Um der Ehre willen“, passim.
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über ihren Mann,61 die beiden Schulenburg-Biographen Albert Krebs62 und Ulrich Heinemann63 sowie Detlef Graf von Schwerin über die junge Generation des deutschen Widerstandes64 festgehalten haben, besonders hinweisen. Nicht zu vergessen die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die Schulenburg als evangelischen Märtyrer des 20. Jahrhunderts verehrt.65
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„Charlotte von der Schulenburg“. in: von Meding, Dorothee (Hg.), Mit dem Mut des Herzens. Die Frauen des 20. Juli, Berlin 1997, S. 221 – 255. 62 Krebs, Albert, Schulenburg, passim. 63 Heinemann, Ein konservativer Rebell, passim. 64 Schwerin, Detlef Graf von, „Dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt“. Die junge Generation im deutschen Widerstand, München 1991, zu Schulenburg siehe insbes. S. 104 – 120. 65 Ramm, Hans-Joachim, Schulenburg, Fritz-Dietlof Graf von der, in: Schulze, Harald / Kurschat, Andreas (Hrsg.), „Ihr Ende schaut an…“ Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig 20082, S. 462 – 463.
Ernst Vollert – ein Corpsbruder rettete ihn aus dem Prager Gestapokeller Von Sebastian Sigler Ernst Vollert, geboren am 25. August 1890 im westpreußischen Städtchen Konitz, hat sich im März 1943 für den Neuaufbau Deutschlands nach einem Putsch gegen den NS-Diktator Hitler zur Verfügung gestellt. In die Vorbereitungen für die verschiedenen Attentate war er nicht eingebunden, denn er war weder Angehöriger des Militärs noch hatte er direkten Zugang zu Hitler. Zudem war er in den Monaten, die dem 20. Juli 1944 vorausgingen, in Prag ansässig. Gleichwohl wurde Vollert, da sein Name auf den Namenslisten der Attentäter verzeichnet war, am 22. Juli verhaftet. Maßgeblich durch die Hilfe mehrerer Corpsbrüder wurde er nach zwei Wochen aus der Gestapo-Haft entlassen. Die Umstände, die sein Überleben letztlich ermöglichten, waren abenteuerlich. Seinem Corps, den Marburger Westfalen, war Vollert zeitlebens sehr verbunden. Zum Sommersemester 1909 war er dort aktiv geworden, nach dem Sommersemester 1910 wurde er inaktiviert, als Fuchsmajor durfte er „klammern“, also das geklammerte Kürzel FM hinter seinem Namen führen – ein Zeichen dafür, daß er in dieser Funktion tadellos und vorbildlich tätig gewesen war.1 Im November dieses Jahres verließ er Marburg als „bemooster Bursch“, also als Inaktiver, mit Band. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er: „Rückblickend stelle ich fest, daß mir unsere liebe Guestphalia, vor allem durch die Freundschaften mit prachtvollen Männern, zu allen Zeiten meines Lebens unendlich viel gegeben hat. Die Begriffe über Ehre, Freundschaft, vornehmes und selbstbewußtes Auftreten, die in den Corps und allen guten Verbindungen gepflegt wurden, gaben uns ein gutes Fundament für den Kampf des Lebens mit. Korpsstudententum und altes, preußisches Offizierscorps waren sich ähnlich. Wer das eine begriffen hatte, war in dem anderen zu Hause.“2 Nach der Referendarzeit und nach der Promotion zum Dr. jur., letztere jedoch um Jahre verzögert durch den Ersten Weltkrieg, bewarb sich Vollert für eine höhere Beamtenlaufbahn im Reichsfinanzministerium. Im Jahre 1923 wurde er eingestellt. Wenig später nahm er ein Angebot aus dem Reichsinnenministerium an, dort fun1
Gerlach, Otto (Bearb.), Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961, Nr. 98 – 233 (künftig: KCL). 2 Vollert, Ernst, Aus meinem Leben, Bad Hersfeld 1968 (Typoskript, Selbstverlag), S. 22, siehe: Bibliothek der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin, Signatur W 308 – 1.
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gierte er bereits 1926 als Leiter der Abteilung für Vermessungswesen und Grenzlandfragen – eine Tätigkeit, die ihn sehr interessierte, weil seine Heimatstadt Konitz mit dem Versailler Vertrag an Polen gefallen war und weil er, lebenslang in besonderem Maße heimatverbunden, dies als enorm deprimierend empfand. Vollert war mit Lieselotte Pforr, einer Altherrentochter seines Corps, glücklich verheiratet. Dem Paar wurden zwei Töchter und ein Sohn geschenkt.3 Am Wohlergehen seiner aktiven CC und der übrigen Corpsbrüder konnte er mit ausdrücklicher Billigung der Ehefrau immer großen Anteil nehmen. Schon früh waren Vollert die Umtriebe der Nationalsozialisten ein großer Kummer, mit der Machtübernahme 1933 wurden sie ihm zu einer schweren Sorge. Die Verdrängung der Corps aus dem akademischen Leben und den Druck des drohenden und schließlich nicht aufzuhaltenden Verbots nahm er rückschauend wie folgt wahr: „Schmerzlich berührte uns der gegen die Korporationen seit 1933 geführte Kampf. Unser schönes Corpshaus, dessen Gartengrundstück auf meinen Namen im Grundbuch eingetragen ist, haben wir nie aufgegeben; während des Krieges war es von der Wehrmacht für Bürozwecke beschlagnahmt.“4 1939, mit dem Polenfeldzug und der Zerschlagung der zweiten polnischen Republik, stand die Rückgliederung der ehemals preußischen Gebiete, die seit 1919 unter polnischer Verwaltung gestanden hatten, auf der politischen Tagesordnung. Aus dem Reichsinnenministerium heraus bemühte sich Vollert, die verwaltungsmäßige Organisation Westpreußens wieder im preußischen Sinne zu gestalten. Dazu war das Kataster eine gute Möglichkeit. Es unterstand dem preußischen Finanzminister Johannes Popitz. Hier sah Vollert eine Möglichkeit, wieder in der geliebten Heimat tätig sein zu können. Angelegentlich waren sich Vollert und Popitz bereits mehrmals begegnet, doch nun hatte Vollert ein Anliegen. Er ersuchte im März 1943 Popitz, dem Reichsinnenministerium – und damit de facto ihm – die preußische Katasterverwaltung zu unterstellen. Popitz bat, so erinnert sich Vollert, dringend darum, von dieser Maßnahme abzusehen, da diese Aufgabe „noch die einzige Säule“ sei, die seinem Ministerium verblieben sei.5 Mit der Entgegnung Vollerts, er werde doch als neuer Reichsschatzmeister gehandelt, das alte preußische Kataster brauche ihn doch nicht mehr zu interessieren, nahm das Gespräch jedoch eine dramatische Wendung. Popitz teilte schroff mit: aus Hitlers Hand nähme er kein Amt an. Ausführlich und zunehmend erregt begründete er dies damit, daß alles, was im Reich gegen Recht und Gesetz geschehe, unmittelbar auf Hitler zurückginge.6 Vollert war über diese Eröffnung entgeistert, weil er – wie so viele andere auch – daran geglaubt hatte, daß die Übergriffe allerorten auf die Konten „diensteifriger 3
Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Vollert_(Jurist), Abruf am 21. März 2014. Vollert, S. 26. 5 Vollert, S. 159. 6 Ebd., S. 159 ff. 4
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Schergen“ gingen. Popitz’ Worte klärten diesen Irrtum auf; Vollert war tief betroffen. Noch 1968 schrieb er: „Diese Unterredung, die mich unendlich aufregte, ist mir noch heute in allen Einzelheiten in Erinnerung.“7 Er habe das NS-Regime, dem er schon zuvor kritisch gegenübergestanden hatte, von einem Moment zum anderen als „unheilvolle Macht“8 erkannt. Popitz verpflichtete Vollert daraufhin zur absoluten Verschwiegenheit und stellte klar, daß jedes einzelne Wort des vertraulichen Gesprächs zum Todesurteil für beide werden könne, wenn es der Gestapo bekannt werde. Sodann deutete er an, daß ein Umsturz geplant sei: „Wir rechnen mit ihnen. Sind Sie einverstanden?“ Vollert bejahte. Damit stellte er sich für die Neuordnung eines demokratischen Deutschen Reichs nach einem erfolgreichen Putsch gegen das NS-Regime zur Verfügung.9 Ab diesem Zeitpunkt, seiner Verpflichtung gegenüber Popitz, die er auch als solche erkannte, war Vollert in ständigem Kontakt mit Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg, der ihn von Zeit zu Zeit anrief. Man vereinbarte sich verschiedentlich zu einem Treffen, dazu kam es jedoch nicht.10 Allerdings wurde Vollert von Schulenburg nicht auf seine Bereitschaft zur Mitwirkung am Staatsstreich angesprochen – daß der unauffällig den Kontakt zu ihm aufrecht hielt, um ihn für den Widerstand in Reichweite zu haben, wurde ihm erst allmählich klar. Mit Popitz hatte er dagegen keinen Kontakt mehr, was darauf zurückzuführen sein könnte, daß sich Popitz nach Meinungsverschiedenheiten mit dem militärischen Zweig des Widerstands aus der ersten Reihe des Kampfes gegen Hitler zurückgezogen hatte.11 Im August 1943 wurde Reichsinnenminister Frick durch Heinrich Himmler abgelöst. Vollert, der dafür bekannt war, daß er dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstand, wurde durch den neuen Dienstherrn sofort seines Amtes als Ministerialdirektor enthoben. Ihm wurde zudem nahegelegt, das Ministerium ganz zu verlassen. Zwar war seine Verpflichtung gegenüber den Verschwörern gegen Hitler nicht bekannt, bekannt war aber, daß er dem Regime sicher nicht „eifrig ergeben“ war. Frick selbst wurde nach Prag versetzt, wo er das Amt des Reichsinspektors für Böhmen und Mähren übernahm. Vollert hatte sich zunächst standhaft geweigert, eine ihm von Frick abermals zugedachte Aufgabe, diesmal im Stab des Reichprotektors, zu übernehmen, und Frick hatte sich nach personellen Alternativen umgesehen. Nachdem er jedoch nicht fündig geworden war, kam er auf Vollert zurück und bat ihn nochmals, mit nach Prag zu kommen. Im Falle einer abermaligen Ablehnung werde er ihn allerdings zwangsverpflichten.12 Vollert stimmte nolens vo-
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lens seiner Versetzung zu. Frick ließ ihm eine Wohnung im Hradschin, der Prager Burg, zuweisen. In Prag hatte Vollert bald ernste Schwierigkeiten mit den Mitgliedern der SS, die sich von ihm nicht genug gewürdigt fühlten. Er berichtet darüber im Rahmen der Schilderung der Feierlichkeiten anläßlich des fünften Jahrestages der Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren, die er in der Funktion eines QuasiHofmarschalls betreute.13 Nach diesen Festivitäten, die am 15. März 1944 stattfanden, bat er um seine Ablösung, doch Frick bestand zunächst darauf, daß er bleibe. Erst im Laufe des Juli 1944 gab er dem Gesuch nach. Von den Vorbereitungen Stauffenbergs zu einem Bombenanschlag auf Hitler sowie den direkten Vorbereitungen zum Staatsstreich nach einem geglückten Attentat hat Vollert keine Kenntnis gehabt. Dieser Feststellung muß jedoch angefügt werden, daß aus Sicherheitsgründen nur die direkt beteiligten und vor Ort befindlichen Mitglieder der Verschwörung Kenntnis haben konnten. Das durfte auch nicht anders sein, denn jedes Schriftstück, jedes Telephonat, jedes Telegramm konnte abgefangen werden. Es stellte eine potentielle Bedrohung für die Verschwörer dar, ganz wie es Popitz in seinem Gespräch, in dem er Vollert für den Widerstand gewonnen hatte, gesagt hatte. Die Ereignisse des 20. Juli 1944 zeigen es deutlich: nur diejenigen, die unmittelbar benötigt wurden, waren eingeweiht. Für Vollert, der erstens in Prag war, der zweitens keinen Zugang zum militärisch abgeschirmten Hitler hatte, der drittens keine Funktion im Ersatzheer hatte und der viertens schon in Konflikt mit SS-Größen gekommen – also potentiell verdächtig! – war, bedeutete dies, daß er in keine der Aktionen der Verschwörer eingeweiht sein durfte. Der fünfte und letztlich in seinem Fall letztlich segensreiche Grund war, daß Uneingeweihte bewußt von der Gefahr befreit wurden, in möglicher Haft und unter GestapoFolter Kenntnisse verschweigen zu müssen: weil sie keine hatten. Vom Attentat des Grafen Stauffenberg erfuhr Vollert auf offiziellem Weg keine Details. Erst zwei Tage danach kam er mit dem Geschehen in Berührung, als der Rektor der Karls-Universität, Professor Friedrich Klausing, bei ihm nachfragte, ob er eine Verbindung zu dessen Sohn herstellen könne, der im Oberkommando der Wehrmacht bei General Olbricht Dienst tat und Stauffenberg bei den Attentatsversuchen vom 11. Juli 1944 auf Hitlers Berghof bei Berchtesgaden14 und am 15. Juli 1944 in die Wolfsschanze bei Rastenburg15 begleitet hatte. Professor Klausing hatte seit dem 20. Juli keinen Kontakt zu seinem Sohn, und der letzte Brief, kurz vor dem Attentat abgesandt, hatte beunruhigende Andeutungen enthalten. Vollert aktivierte die Direktleitung von Prag nach Berlin. Er erhielt keine klare Auskunft, aber ebenfalls Andeutungen, die unheilvoll klangen. Auch wenn er zunächst beruhigend
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Vollert, S. 164. Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, München 19793, S. 469. 15 Hoffmann, Widerstand, S. 471 ff. 14
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auf Klausing einwirkte, kam ihm nun der Gedanke, daß das Attentat auf Hitler etwas mit seinem Gespräch mit Popitz aus dem März 1943 zu tun haben müsse. Sein Gefühl trog ihn nicht. In der Nacht vom Samstag, dem 22., zu Sonntag, dem 23. Juli, wurde Ernst Vollert von zwei Gestapo-Beamten aus seiner Wohnung heraus verhaftet. Die Geheimpolizisten kamen, wie das üblich war, in den frühen Morgenstunden. Vollert wurde abtransportiert und in einem Kellerverlies, unter ständiger Bewachung durch drei Polizeibeamte, gefangen gehalten. Die einzige Information, die er erhielt, war, daß ein Telegramm aus dem Reichssicherheitshauptamt gekommen sei, nach dem er zu verhaften sei.16 Was er offenbar selbst nicht wußte, war, daß die Verschwörer ihn als politischen Kommissar – als Oberpräsidenten – für seine Heimatregion Westpreußen, den Wehrkreis XXI mit Sitz in Posen, vorgesehen hatten.17 Nach vier Tagen Haft wurde Vollert aus seiner Zelle in einen Vernehmungsraum geführt. Ein Offizier erschien. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Vollert über diese Szene: „Als ich am Donnerstagvormittag diesen SS-Offizier, der mich vernehmen sollte, näher ansah, kam mir das Gesicht sehr bekannt vor, und auch er lächelte mich an und gab seinem Protokollführer irgendeinen Auftrag, so daß wir beide allein waren. Er war ein Corpsbruder von mir, der zwar mindestens 15 Jahre jünger war, wir hatten uns aber bei einem Stiftungsfest in Marburg gesehen; als er hörte, daß ich verhaftet sei, hat er sich darum bemüht, diese Vernehmung durchzuführen. Er selbst war inzwischen Rechtsanwalt geworden und war zur SS eingezogen, wobei er dann auf diesen Posten bei der geheimen Staatspolizei in Prag kam. Als ich ihm erklärte, daß ich von den ganzen Vorgängen nichts wüßte, die Unterredung mit Popitz habe ich natürlich verschwiegen, sowohl in meinem Interesse als auch in dem von Popitz, setzte er ein Protokoll auf, in dem er sehr deutlich auf meine Verdienste hinwies.“18 Offenbar hatte sich auch Walter Schellenberg hinter den Kulissen für Vollert eingesetzt; er war zu diesem Zweck eigens nach Prag gereist und hatte – möglicherweise persönlich – dafür gesorgt, daß genau dieser Offizier die Vernehmung durchführte: es handelte sich um einen „schwarzen Westfalen“,19 Adolf Bode, aktiv 1922.20 Schellenberg war einflußreich, denn Himmler war schon früh von ihm beeindruckt gewesen, er hatte eine steile Karriere gemacht; im Juli 1944 bekleidete er den Rang eines SS-Brigadeführers und Generalmajors der Polizei – und im übrigen war auch er Marburger Westfale.21 Bode und 16
Vollert, S. 166. Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954, 19552, S. 605; Zeller, Eberhard, Geist der Freiheit – der 20. Juli, München 1965, S. 318. 18 Vollert, S. 167. 19 Ein in Corpskreisen üblicher Name für die Marburger, denn sie hatten – und das ist bis heute als mit Suevo-Borussia Hamburg fusioniertes Corps noch so – schwarze Mützen und Kneipjacken. 20 Kruse, Hermann (Bearb.), Kösener Corpslisten 1996 (künftig: KCL 1996), o. O. 1998 (Selbstverlag), Nr. 54 – 355; Vollert, S. 173. 21 KCL 1996, Nr. 54 – 423. 17
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Schellenberg handelten couragiert, als sie ihren Corpsbruder Vollert aus der Schußlinie holten, denn einem führenden und als äußerst skrupellos bekannten Vertreter des NS-Regimes waren ihre Namen sehr wohl bekannt – Reichsjustizminister Georg Thierack, aktiv 1910, ebenfalls bei Guestphalia Marburg.22 Thierack war ein Gleichzeitiger Vollerts23, der allerdings das Corps 1935 verlassen hatte, weil er ein fanatischer Nationalsozialist war und seinem Corps vorwarf, nicht „regimetreu“ zu sein. Nach dem für ihn günstig verlaufenen Verhör durch Bode wurde Vollert in ein Haus überstellt, das dazu diente, Internierte festzuhalten, ansonsten aber einigermaßen komfortabel war. Auf eine persönliche Intervention seines Vorgesetzten, des Reichsprotektors Frick, der das günstige Verhörprotokoll bei Gestapo-Chef Kaltenbrunner plazierte, kam er nach vierzehn Tagen wieder frei. Seinen Posten verlor er jedoch – diesmal war er im Sinne des Regimes endgültig kaltgestellt. Den Sinn für Recht und Gerechtigkeit hat er jedoch ebensowenig verloren wie seine Zivilcourage. So schickte er der Familie Klausing in Prag ein Beileidsschreiben, nachdem am 8. August 1944 Friedrich Karl Klausing als Mitverschwörer und Adjutant Stauffenbergs gehenkt worden war.24 Vollert mußte mit seiner Familie kurz vor Kriegsende aus Prag fliehen, überlebte jedoch das Kriegsende und fand eine neue Heimat im hessischen Bad Hersfeld. Noch bis in seine letzten Jahre blieb er seinem Corps treu. In den 1968 erschienenen Erinnerungen schreibt er: „Wenn ich an meine Marburger Zeit denke, wird mir warm ums Herz. Der Glanz der Sonne, die der Jugend köstlichen Frohsinn umstrahlte, erhellt auch noch des Abends Dämmerung. Solange wir alten Westfalen leben, wollen wir es halten, wie wir es oft beim feierlichen Landesvater gelobten: Halten will ich stets auf Ehre / stets ein braver Westfale sein.“25 Am 3. Februar 1977 ist Ernst Vollert, der den Verlust seiner westpreußische Heimat nie verwinden konnte, in Bad Hersfeld verstorben.
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Gerlach, Otto (Bearb.), Kösener Corpslisten 1930, Frankfurt am Main 1930, Nr. 100 – 235. In den KCL 1960 ist Thierack nicht mehr verzeichnet. 23 Thierack und Vollert haben also die Stationen des Aktivenlebens vom Fuchs zum Corpsstudent und weiter zum Inaktiven ganz zeitgleich durchlaufen. 24 Leber, Annedore, Das Gewissen steht auf, Berlin 1963, S. 28; zur Rolle Klausings am 20. Juli 1944 vgl. Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 471 ff.; ebd., S. 600; ebd., S. 625; Ueberschär, Gerd R., Stauffenberg. Der 20. Juli 1944, Frankfurt am Main 2004, S. 156. 25 Vollert, S. 26.
Das soziale und das korporierte Umfeld der Corpsstudenten im Widerstand Von Sebastian Sigler Der Erste Weltkrieg war verloren. Die Welt hatte sich dramatisch verändert. Im Deutschen Reich regierten ab 1919 zeitweise Arbeiter- und Soldatenräte in Städten wie Kiel und München, die Grenzen im Osten waren in höchster – real sichtbarer – Gefahr. Bei den von den Siegermächten angesetzten Volksabstimmungen von Ostpreußen bis Oberschlesien war das Unrecht mit Händen zu greifen, der Vertrag von Versailles wurde als unglaubliche Schmach empfunden, vielerorts herrschte auf materieller Ebene die nackte Not. All dieses weckte etwas wieder, das aus der Urgründungszeit der alten Landsmannschaften stammte: den Widerstandsgeist der Korporierten,1 also der Angehörigen von Studentenverbindungen. Aus diesem kritisch-wachen Geist waren einst ihre ersten Zusammenschlüsse entstanden, weil sie sich den für die Universitäten ungünstigen, ja fatalen Zeitläuften der Zerschlagung des Alten Reiches nicht beugen wollten. Damals, also um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, hatte sich in einer gewissen, durchaus kritisch-distanzierten Reaktion auf die Französische Revolution2 und in den unmittelbar folgenden Freiheitskriegen gegen das napoleonische Frankreich die heute sehr allgemein als „Verbindung“ überschriebene Gesellungsform, im wesentlichen als eine Ausprägung des Deutschen Idealismus,3 verfestigt. Das geschah zuerst in den alten Landsmannschaften, die sich bald Corps nannten, und in der Folge dann in immer neuen Spielarten, beginnend mit der Urburschenschaft in Jena. Die Corps blieben 1 Für die Entstehungszeit der Verbindungen heutiger Prägung ist dieser Begriff auf die Angehörigen der alten Landsmannschaften zu beziehen, teils auch auf die Mitglieder von Vorformen dieser Verbindungen, also zumeist der Studentenorden. Für die beiden nachfolgenden Jahrhunderte ist dieser Begriff auf die sukzessive entstehenden Verbindungen unterschiedlichster Prägung anwendbar, wobei hier sowohl die aktiven, also studierenden Mitglieder gemeint sind als auch die „Alten Herren“. 2 Vgl. beispielhaft: Kloosterhuis, Jürgen, Westfalen – Preußen – Guestphalia, in: ders. / Westphalenverein e. V. (Hrsg.), Guestphalia Halle zu Münster 1789 – 1989, Münster 1989, S. 51; Hümmer, Hans Peter, Stammbuch Carl Davidis, Landsmannschaft Guestphalia Halle 1828 – 1830, in: Verein für corpsstudentische Geschichtsforschung (Hrsg.), Einst und Jetzt, Bd. 48, o. O. 2003, S. 155 – 158; Baxhenrich, Bernhard, Streit um eine Fußnote? Zur Rückdatierung der Guestphalia Halle, in: ebd., Band 50, o. O. 2005, S. 503 – 519, insbes. S. 506 sowie S. 518, dort Anm. 27, 28, 29. 3 Döhler, Rüdiger, Deutscher Idealismus und Corpsstudententum, in: Sigler, Sebastian (Hrsg.), Freundschaft und Toleranz – 200 Jahre Corps Bavaria zu Landshut und München, München 2006, S. 183 – 188.
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dabei unpolitisch, was sich schon früh darin zeigte, daß bei Auseinandersetzungen politischer Natur Corpsstudenten in aller Regel auf beiden Seiten zu finden waren, so zum Beispiel im Vormärz4 oder bei der Revolution 1848.5 Die Korporationen wurden in einer von Kriegen geprägten Epoche geformt, und das wirkte sich auf die Meinungen in der keinesfalls friedlichen Nachkriegszeit ab 1918 aus. Die alten Landsmannschaften hatten den Nationalismus, der ab der Französischen Revolution zu beobachten war, nicht in ihre Konstitutionen übernommen, waren aber doch von Persönlichkeiten, die an kriegerischen Auseinandersetzungen auf Seiten der Franzosen aktiv teilgenommen hatten, durchaus beeinflußt. Verbindungsformen, die sich später ausprägten, nahmen teilweise aktiver an politischen Entwicklungen Anteil. Und nun war der Weltkrieg verloren. Französische Truppen waren wieder in deutschen Städten präsent. In vielen politischen Fragen – von der sogenannten „Kriegsschuldlüge“ über die Bewertung des so empfundenen „Siegerdiktats“ von Versailles bis zu einem weitverbreiteten Antisemitismus und zu einer fast allgemeinen Verachtung der „grauen Republik“6 – stimmten daher die Mitglieder der verschiedenen Korporationen in Einzelfragen mehrheitlich mit der allmählich aufkommenden Bewegung des Nationalsozialismus überein. Nicht aber, und das soll bewußt betont werden, stimmte eine wie auch immer geartete Mehrheit der Ideologie von der Überlegenheit der arischen Rasse zu: speziell hierfür ist die Anhängerschaft auch unter den Korporierten als sehr klein einzuschätzen.7 Mit der Grundhaltung schon in den alten Landsmannschaften, daß jedes Mitglied gleich viel wert sei und niemand wegen seiner Herkunft herabgesetzt werden dürfe, und diese Haltung setzte sich analog in die allermeisten nachgegründeten Verbindungen fort, war eine solche Ideologie nicht vereinbar. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand und mit „der damit verbundenen Erweiterung und Vertiefung unseres Wissens um die deutsche Opposition im Dritten 4 Weiß, Egbert, Corpsstudenten im Vormärz – „Verfolgte“ und „Verfolger“, in: Einst und Jetzt, 33. Band, 1988, S. 47 – 63. 5 Exemplarisch ist dies zu beobachten bei dem Gefecht von Kandern, das den Hecker-Zug, einen Teil der Revolution von 1848, blutig beendete. Dort standen sich am 27. April 1848 Friedrich Hecker als Kommandant der Aufständischen und Generalleutnant Friedrich von Gagern als Vertreter des badischen Markgrafen Maximilian und des Deutschen Bundes gegenüber; Hecker gehörte den Heidelberger Corps Hassia, Palatia und Rhenania II an, s. dazu: Rügemer, Karl, Kösener Korps-Liste 1798 – 1904, Starnberg bei München 1905, Nr. 114 – 123, Nr. 118, 13, Nr. 119, 211; Gagern war Mitglied der Corps Hannovera und Rhenania Göttingen, ebd., Nr. 70 – 2, 83 – 2. 6 Schott, Christian E., Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg und das Corps Saxonia Göttingen, in: Sigler, Freundschaft und Toleranz, S. 229 – 246, hier: 231 – 234; Baum, Rolf-Joachim, Zwischen nationaler Pflicht und nationalistischer Verführung – Studentenschaft und Kösener SC-Verband zwischen 1914 und 1933, in: ders., „Wir wollen Männer“, S. 137 ff., 151 f. 7 Zu diesem Themenkomplex vgl.: Goodrick-Clarke, Nicholas, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, Wiesbaden 20043.
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Reich“ nähert sich die Bewertung ebendieser Opposition einem Mittelwert und damit „nüchterner Betrachtung und sachlicher Analyse ohne emotionale Beeinflussung“;8 die Fakten sind bedrückend genug. Wichtig für die Betrachtung dieses Zeitabschnittes ist jedenfalls seine Vorgeschichte.9 Ein weiteres Instrument zur besseren Beurteilung ist die Untersuchung des enorm komplexen Sachverhalts, den der Widerstand im Dritten Reich darstellt, mit Hilfe der Netzwerkforschung. In einer Pionierarbeit dazu ist von einer „bisher fehlenden quantitativen Aufstellung des Gesamtnetzwerks des auf einen Umsturz abzielenden zivil-militärischen Widerstands von 1938 bis 1944“10 die Rede. Hier geht es darum, „die Dynamik von Strukturen und Personengruppen des Widerstandsnetzwerks“11 zu beleuchten mit dem Ziel, besser erklären zu können, „wie und wann die Beteiligten des Attentats und des Staatsstreichversuchs vom 20. Juli 1944 zueinander gefunden haben“.12 Von der auf diesem Gebiet begonnenen Forschungsarbeit sind wesentliche neue Erkenntnisse zum Widerstand im Dritten Reich zu erwarten.
I. Die Fatalität von Versailles Ab 1919 war im Deutschen Reich durch den Vertrag von Versailles der Keim zu neuer, radikal-nationalistischer Gesinnung ohne rationale Begrenzung gelegt, mit großem, teils kaum nachvollziehbarem Pathos wurde der Niederlage gedacht. Anfang der 1920er Jahre war die Gesamtgesellschaft, verunsichert durch die Nieder8
Beide Zitate bei: Büchel, Regine, Literaturbericht, in: dies., Der deutsche Widerstand im Spiegel von Fachliteratur und Publizistik seit 1945, München 1975, S. 1 f. 9 Zur Geschichte der Weimarer Republik allgemein und der Korporationen speziell: Wippermann, Wolfgang, Der konsequente Wahn. Ideologie und Politik Adolf Hitlers. Mit einem Essay von Saul Friedländer, München 1989; ders., Männer und Mensuren. Waffenstudenten in geschlechtergeschichtlicher Sicht, in: Harm-Hinrich Brandt, Matthias Stickler (Hrsg.), „Der Burschen Herrlichkeit“. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens, Würzburg 1998, S. 231 – 248; ders., Täter oder Opfer? Die Corps und der Nationalsozialismus im Urteil der Historiker, in: R.G.S. Weber, Die deutschen Corps im Dritten Reich, Köln 1998, S. 245 – 254; ders. zus. mit Schmidt-Cotta, Ralf-Roland, Kampf um die Erhaltung der Tradition – die Corps im Dritten Reich, in: Rolf-Joachim Braun (Hrsg.), „Wir wollen Männer, wir wollen Taten!“ Deutsche Corpsstudenten 1848 bis heute, Berlin 1998, S. 180 – 206; ein umfassender Forschungsüberblick bei: Lönnecker, Harald, Quellen und Forschungen zur Geschichte der Korporationen im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Ein Archiv- und Literaturbericht, Koblenz 2005. 10 Keyserlingk, Linda v., Das Netzwerk vom 20. Juli 1944. Über die Rekonstruktion eines Beziehungsgeflechts, in: Studt, Christoph / Hiemann, Michaela (Hrsg.), Weder überflüssig noch unterlegen – Neue Forschungen zum Dritten Reich, Tagungsband der XXVI. Königswinterer Tagung im Februar 2013, Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944 e.V., Bd. 18, (im Erscheinen). Keyserlingk stellt in diesem Beitrag ihr laufendes Dissertationsprojekt vor, das unter dem Titel „Zur Dynamik von Strukturen und Personengruppen im Beziehungsgeflecht von zivilem und militärischem Widerstand 1938 – 1944“ an der Universität Potsdam betreut wird. 11 A. a. O. 12 A. a. O.
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lage trotz gefühlter militärischer Stärke, durch anhaltende Kämpfe im Osten und durch die Besetzung der Kohle- und Stahlreviere im Westen anfällig geworden für okkulte Theorien und pseudo-wissenschaftliche Heilslehren.13 Zunehmend wurde sie außerdem von Antisemitismus durchsetzt. In diesem diffusen gesellschaftlichen Umfeld äußerten sich die studentischen Verbände sehr unterschiedlich, sie gaben keinesfalls ein einheitliches Bild ab.14 Schon in den 1920er Jahren begannen NS-Gruppen, an den Universitäten für ihre Ziele zu werben und deren Gremien zu unterwandern. Auch die Korporationen gehörten zu den Zielen derartiger Agitation. Dagegen wurde erstaunlich wenig opponiert. Dieses Phänomen ist nur erklärlich, wenn die eingangs geschilderte Ausgangslage in Betracht gezogen wird. Eine akademische Generation, die großteils in Freikorps gekämpft hatte, war anders für völkische Ideen ansprechbar als frühere und spätere Studentengenerationen. Der Weg in Verstrickung und Schuld war beim Blick auf die Ziele, die die Nationalsozialisten hatten, klar vorgezeichnet, wäre aber nicht unabwendbar gewesen. Die Studentenschaft war etwas früher als die sonstige Bevölkerung von der NSIdeologie mehrheitlich vereinnahmt worden; das wurde deutlich auf dem Deutschen Studententag im Juli 1931, der in Graz stattfand.15 Diese Beobachtung ist ernüchternd. Der neuen Mehrheit gegenüber regte sich individueller Widerstand in den studentischen Verbänden, und dann, spätestens ab dem 30. Januar 1933 und dem „Tag von Potsdam“, auch in der übrigen Gesellschaft. Zu diesem Widerstand sind auch viele korporierte Studenten zu zählen. Zumindest widerständiges Verhalten war ab 1933 in hunderten von Fällen zu beobachten.16 Der scheinbare Widerspruch zwischen den handelnden Personen und den Verbindungen, denen sie angehörten, läßt sich auflösen, wenn der Ursprung des Korporationswesens als Protest Einzelner gegen Obrigkeit und Unterdrückung einbezogen wird. Aktiv leisteten ganze Verbindungen als Körperschaften – oder Gruppen daraus – also keinen
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Vgl. dazu: Goodrick-Clarke, Nicholas, Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus, dt. Graz 1997, Wiesbaden 20042, S. 130 ff., S. 136 f.; Hakl, Hans Thomas, Mögliche Quellen des NS-Okkultmythos, in: ebd., S. 209 – 217, wobei nicht versäumt werden darf, darauf hinzuweisen, daß Hakl trotz augenscheinlich seriöser Arbeitsweise durchaus nicht unumstritten ist. 14 Die Forschung hat bislang versäumt, Habitus-Unterschiede zwischen den einzelnen Korporationsverbänden zu beschreiben und zu erklären. Zu wenig ist vor allem bisher bedacht worden, daß sowohl durch ihre mehrheitliche Herkunft als auch durch ihre Sozialisierung im Aktivenbetrieb ihrer jeweiligen Corps den Corpsstudenten der Habitus von Opfern fehlte; ihre strikt auf Widerstand gegen das NS-Regime ausgerichtete Haltung wurde deswegen verschiedentlich verkannt. 15 Mach, Manfred, Deutsche Studenten auf ihrem Weg in das Dritte Reich und danach, in: Sigler, Sebastian (Hg.), Die Vorträge der 73. deutschen Studentenhistorikertagung 2013, Essen 2014, derzeit in Druck, passim. 16 Fritz, Herbert / Krause, Peter, Farbe tragen – Farbe bekennen: 1938 – 1945, Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung, Wien 20132, passim.
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Widerstand.17 Die Frage, weshalb einzelne Korporationen sich gegen die nach und nach entstehende Mehrheit in ihren Verbänden auch nach jahrelangem, massivem Druck durch das NS-Regime nicht beugen wollten, findet wiederum genau in dieser unbeugsamen Haltung von Individuen eine Antwort. Zwei Tendenzen stechen zahlen- und qualitätsmäßig hervor. Zum einen haben Angehörige katholischer Verbindungen zu Hunderten unter dem NS-Regime leiden müssen. Ihre Leidenswege sind dokumentiert in einem lexikalischen Werk, das der Österreichische Verein für Studentengeschichte herausgegeben und jüngst in eindrucksvoll erweiterter Version neu aufgelegt hat.18 Andererseits war der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Die ehemaligen Mittelmächte, also Deutschland und Österreich, waren, wie wohl gesagt werden kann, am härtesten betroffen. Prozentual waren hier die Mitglieder der großbürgerlich geprägten Corps nochmals stärker involviert. Die Staatsform, in der es sich gerade auch die Korporierten in ihrer Gesamtheit so bequem, ja, feudal eingerichtet hatten, war gestürzt. Den Corpsstudenten unter denjenigen, die Widerstand leisteten, ist der hier vorliegende Band in seiner Gänze gewidmet. Doch auch diejenigen, die anderen studentischen Verbänden angehörten, sollen in dem nun folgenden Abschnitt in exemplarischer Auswahl gewürdigt werden. Eine Vollständigkeit ist dabei keinesfalls zu erwarten. Vielmehr werden einzelne Fälle dargestellt, dies auch als Anregung zu weiterer Forschung. Den wohl wichtigsten Unterschied zwischen zwei Mentalitäten im Bereich aller Korporierten gab es wohl zwischen Burschenschaften und Corps. Auf der einen Seite stand das burschenschaftliche Bekenntnis zur Volksnation, es wirkte in wichtigen Fragen geradezu als Gegenentwurf zum corpsstudentischen, landsmannschaftlich gebundenen Toleranzprinzip.19 Dies erklärt das unterschiedliche Selbstverständnis der Burschenschafter und Corpsstudenten: Letztere konnten – und können – sich zwar politisch betätigen, ihre Corps als Institutionen dürfen und wollen dies aber nicht. Burschenschafter waren – und sind – dagegen zu einer zumindest allgemeinen politischen Betätigung geradezu verpflichtet. Die mentalen Unterschiede zeigten sich auch in einer tendentiell unterschiedlichen Bewertung von Duell und Mensur, was von Wichtigkeit ist, denn dies manifestierte sich nicht nur im Comment, sondern auch im Habitus. Widerstand im generellen Sinne wurde von Corpsstudenten, diesem Habitus entsprechend, mehrheitlich in der Ablehnung von Enge, Spießigkeit und Intoleranz gelebt, andernorts eher über die besonders 17 Eine bekannte Ausnahme ist das legitimistische Corps Ottonen in Wien; vgl. dazu: Krause / Fritz, Farbe tragen, S. 182; Prosl v. Chodelbach, Christian, Karl Burian und das Corps Ottonen, in diesem Band, passim. 18 Krause / Fritz, Farbe tragen, passim. 19 Das – immerhin! – erkennt sogar Dietrich Heither, erbitterter Kritiker aller Korporierten, an. Vgl.: Heither, Dietrich / Elm, Ludwig / Schäfer, Gerhard (Hg.): Füxe, Burschen, Alte Herren – Studentische Korporationen vom Wartburgfest bis heute, Köln 1993. Dieser generelle – und gewissermaßen generalisierte – Kampf von Heither und Kollegen gegen Band und Mütze ist natürlich ernstzunehmen, führt gelegentlich aber doch zu gewisser „Heither“-keit.
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hingebungsvolle Hinwendung zum christlichen Glauben oder die besonders emphatische Pflege nationaler Rituale. Für die Burschenschafter stand am ehesten unter den Korporationsverbänden eine Solidarisierung mit dem „einfachen Volk“ im Vordergrund.20 Die Corpsstudenten betonten dagegen ihre Anciennität und forschten gerade in den 1920er Jahren verstärkt nach ihrer Frühgeschichte. Sie konnten ihre – deutlich vom Widerstand gegen Obrigkeiten geprägten – Wurzeln aus der Zeit ab 1789 auch deutlich machen,21 was von Burschenschaften teils bestritten, jedenfalls aber beneidet wurde – und wird. All dies sind Feinheiten, die zunächst nur für Korporierte von Interesse zu sein scheinen. Nur auf den ersten Blick sind sie für die übrige Forschung unwichtig, denn Korporationen an sich traten nicht politisch in Erscheinung, und sie mögen in ihrem Tun banal gewesen sein; indes: „In besonderen Zeiten kann jedoch auch das Unpolitische politisch und das Banale wichtig sein.“22 Es ist erfolgversprechend, diesen Teil der Mentalitätsgeschichte in alle Überlegungen zur Epoche des Nationalsozialismus einzubringen. Teils schon in den 1920er Jahren, jedenfalls aber ab 1933 wurden politische Unterschiede und Bruchstellen sichtbar, an denen sich Konflikte zwischen den Korporationen – die sich ausnahmsweise hier einig waren – und der heraufziehenden NS-Diktatur entzündeten. Wenn ein großer Teil der Korporierten geneigt war, dem Nationalsozialismus und vor allem dem „Führer“ zunächst zuzustimmen, so sehr fühlten sie sich von dem rücksichtslosen, plebejischen Vorgehen verschiedener mit der Studentenpolitik befaßten Unterführer und Parteifunktionäre abgestoßen.23 Es gab gravierende Unterschiede, die sowohl in dem Selbstbild der Korporationsverbände als auch in ihrer Einschätzung durch die Nationalsozialisten begründet lagen. Die NSDAP erhob Anspruch auf eine totale Erfassung, Indoktrination und Kontrolle aller Bereiche der Gesellschaft. Nun wurde wirklich das scheinbar Banale wichtig, das Unpolitische politisch. Und obwohl die Korporationsverbände nahezu gleichermaßen von den Repressalien betroffen waren, haben die keinesfalls einheitlich geprägten Gruppierungen darauf sehr individuell reagiert, 20
Es gab auch weitere, tiefgreifende Differenzen – zum Beispiel die konfessionsbedingte Kluft zwischen mensurbeflissenen und „nichtschlagenden“ Verbänden. 21 Weigel, Martin, Zur Entstehung der Corps, in: Denecke, Teodor / Frommel, C. M. (Hrsg.), Wende und Schau, Bd. 2, Frankfurt am Main 1932, S. 1 – 32, insbes. S. 5 – 24; Hümmer, Hans Peter, Die Entstehung der Corps im Zeichen des klassischen Idealismus – ihre Vorläufer und Abgrenzung gegen die Burschenschaft, in: Baum, Rolf-Joachim, „Wir wollen Männer, wir wollen Taten!“ – Deutsche Corpsstudenten 1848 bis heute, Berlin 1998, insbes. S. 15 – 18; Kloosterhuis, Westfalen – Preußen – Guestphalia, S. 37 f. sowie S. 48 f. (Abb.); Bender, Jürgen-Dietrich et al., 200 Jahre Guestphalia, in: Kloosterhuis / Westphalenverein e. V. (Hrsg.), Guestphalia Halle zu Münster 1789 – 1989, Münster 1989, S. 62 – 66. 22 Wippermann, „Wer seine Geschichte…“, S. 36. 23 Wenn derartige „kleine Führer“ die Oberhand in einer Verbindung bekamen, konnte das bedeuten, daß Mitglieder, die aus dem gehobenen Bürgertum oder gar dem Großbürgertum stammten, austraten. Das ist zum Beispiel bei Walter Eucken zu beobachten, der aus ebendiesem Grund sein Corps, Saxonia Kiel, verließ; vgl. dazu den Beitrag über Walter Eucken in diesem Band.
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was wiederum weitgehend auf die Unterschiede in der Mentalität zurückzuführen ist.24 Ab 1933 wurden die Korporationen schrittweise in die Illegalität gedrängt. Doch es war kein bewußter, politischer und auf den Sturz des nationalsozialistischen Regimes abzielender Widerstand aus den studentischen Verbänden festzustellen.25 Es gab lediglich in Wien eine Verbindung, das legitimistische Corps Ottonen, das aktiv als Gemeinschaft im Sinne des Wortes Widerstand leistete.26 Aber es gab sehr wohl korporierte Persönlichkeiten, die mit zivilem Ungehorsam oder passivem Widerstand handelten, einige gerieten deswegen in die Mühlen von Gestapo und NS-Justiz. Und es gibt auch eine überschaubare Anzahl korporierter Widerstandskämpfer, die ihr Leben riskierten – und mehrheitlich verloren. Auf einige von ihnen – die Corpsstudenten wurden schon gewürdigt – soll im Folgenden beispielhaft eingegangen werden. Denn in dem Sinne, daß es eine erwähnenswerte Anzahl von Persönlichkeiten von ihnen gab, die sich in bewußtem Rückgriff auf die Werte, denen man zugeschworen hatte, nicht gleichschalten ließen, können die Studentenverbindungen durchaus als ein „widerständiges Milieu“ bezeichnet werden.27 Das liegt an ihrem Ursprung. Korporationen, die aus der Individualität von Einzelpersonen lebten und daraus ihren Gemeinsinn speisten, konnten dem NS-Staat nur als auszurottende Exemplare einer gehaßten Spezies erscheinen, denn sie liefen dem Egalitarismus des Nationalsozialismus zuwider. II. Fast überall – Vereinnahmung durch NS-Regime Der Druck auf die Korporationen verstärkte sich nach dem Tag von Potsdam von Monat zu Monat.28 Der erste Angriff zielte, wie andernorts auch, auf Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft sowie auf deren Familienangehörige. Einige wenige Corps weigerten sich, ihre „jüdischen und jüdisch versippten“ Corpsbrüder auszuschließen. Fünf taten dies öffentlich, weshalb sie ihrerseits 1934 aus dem Dachverband ausgeschlossen wurden. Es handelt sich um Borussia Halle, Vandalia Heidelberg, Rhenania Straßburg zu Marburg, Suevia München und Suevia Tübingen.29 Einige andere Corps weigerten sich, gaben dies aber nicht bekannt.
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Zur Schilderung dieser Auseinandersetzungen zwischen den – unter sich zerstrittenen – Nationalsozialisten und den sich ebenfalls erbittert bekämpfenden Korporationsverbänden vgl. Weber, Rosco G. S., Die deutschen Corps im Dritten Reich, Köln 1998, S. 82 – 90, S. 158 – 189. 25 Vgl. Wippermann, „Wer seine Geschichte…“, S. 49 – 61. 26 Prosl v. Chodelbach, Christian, Tödliche Romantik. Das legitimistische Corps „Ottonen“, Wien / Berlin 2008, passim; ders., Karl Burian und das Corps Ottonen, in diesem Band. 27 Diese Formulierung bei: Wippermann, „Wer seine Geschichte…“, S. 35. 28 Timter, Reiner M., Studium im Dritten Reich. Die nationalsozialistischen Maßnahmen an den Hochschulen nach der „Machtübernahme“, in: Einst und Jetzt, Bd. 39, 1994, S.45 ff. 29 Wippermann, „Wer seine Geschichte…“, S. 48.
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Bisher bekannt ist dies von Palaiomarchia Halle30 und von Austria Prag zu Frankfurt am Main, auf deren Haus eine Gedenktafel an die verfolgten und von den Nationalsozialisten ermordeten Corpsbrüder erinnert;31 das Corps Hasso-Nassovia Marburg hat ebenfalls eine solche Tafel, sie hängt dort prominent plaziert in der Eingangshalle. Beim Corps Bavaria München verweigerte sich die Altherrenschaft im Frühjahr 1935 dem Ansinnen einiger CB und iaCB, mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) zusammenzuarbeiten. Diejenigen, die für den NSDStB votiert hatten, traten aus. Einer denunzierte das Corps, das führte zu einem Verbot im Mai jenes Jahres.32 Interne Streitigkeiten gab es bei vielen Verbindungen, und sie lähmten sich damit selbst. So war das reiche Verbindungsleben an den deutschen Hochschulen im Grunde längst vor dem förmlichen Verbot aller Verbindungen im Jahre 193833 und – für die Kösener Corps – der Selbstauflösung am 5. Mai 193834 weitgehend ruiniert. Doch die Haltung einzelner Corps kann über eine Tatsache nicht hinwegtäuschen: Die Übernahme des sogenannten Arierparagraphen, also des Verbotes, jüdische Studenten aufzunehmen, die durch den Kösener Senioren-Convents-Verband erfolgte, und andere Verbände handelten in dieser Sache quasi analog, war zutiefst uncorpsstudentisch. Die Rezeption und Umsetzung dieses Beschlusses fanden allerdings je nach Corps sehr individuell und unterschiedlich statt; ein Corps konnte ihn – noch – unbeachtet lassen, ohne sanktioniert zu werden. Wenig später, im Frühsommer 1935, war es dann die sogenannte Heidelberger Spargel-Affäre,35 wiederum ein von einem Corps ausgehender Skandal, der, obschon konstruiert und an den Haaren herbeigezogen, einem völligen Verbot aller Korporationen den Weg ebnen sollte. Das NS-Regime suchte jede noch so kleine Möglichkeit, eine totale Kontrolle im Staat durch Gleichschaltung und Verbote aufzurichten. Mitglieder des Corps Saxo-Borussia Heidelberg hatten sich in einem Lokal darüber unterhalten, ob „der Führer Spargel mit Messer, Gabel oder Pfoten essen“ würde. Es soll auch die Bemerkung gefallen sein, der Führer „esse den
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Hachmeister, Lutz, Schleyer – Eine deutsche Geschichte, München 2004, S. 125. Vgl.: http://commons.wikimedia.org/wiki/File: Gedenktafel Corps Austria.jpg, Abruf am 7. Juli 2011. 32 Weber, Rosco G. S., Die deutschen Corps im Dritten Reich, Köln 1998, S. 171 f.; Parr, Hans, Aktivsein in der Kaulbachvilla. Der „Parr-Bericht“, in: Sigler, Sebastian (Hrsg.), Freundschaft und Toleranz, München 2006, S. 93 f. 33 Zinn, Holger, Die studentische Selbstverwaltung in Deutschland bis 1945, in: Steinbach, Matthias / Gerber, Stefan (Hrsg.), „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena 2005, S. 470 ff.; Wippermann, „Wer seine Geschichte…“, S. 61; vgl. auch: Grüttner, Michael, Studenten im Dritten Reich, Paderborn 1995, passim. 34 Kösener Archive, Bad Kösen, Rundschreiben Nr. 57, 5. Mai 1938; Aufruf der Führer der waffenstudentischen Altherrenverbände, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 5. Mai 1938. 35 Hachmeister, Schleyer, S. 121 ff.; Baum, Rolf-Joachim, „Wir wollen Männer…“, S. 193 ff. 31
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Spargel quer, weil er das Maul immer so weit aufreiße“.36 Die Sachsenpreußen waren vielen Funktionären im NS-Regime besonders verhaßt, denn Adel und alte Familien mit ihren gewachsenen Strukturen wurden von eingefleischten Nationalsozialisten als eine reale Gefahr betrachtet; die sozialistischen Wurzeln des NSStaates müssen hier beachtet werden. So kam, was kommen mußte: die Sachsenpreußen wurden denunziert, die – längst gleichgeschaltete – Presse nahm diese puerilen Scherze zum Anlaß, um eine regelrechte Kampagne gegen die als „bourgeois“, „dekadent“ und „reaktionär“ empfundenen Corps zu veranstalten. In manchen Corps, nicht nur in Heidelberg, wurde ernsthaft über die Selbstauflösung diskutiert. Hitler scheint sich über die Spargel-Geschichte derart geärgert zu haben, daß er sich am 15. Juli 1935 in einer internen Unterredung mit Parteifunktionären für einen „langsamen Tod der Korporationen“ aussprach.37 Der NS-Studentenbund sah darin einen absolut bindenden „Führerbefehl“ und kündigte die Zusammenarbeit mit allen Korporationen in der „Gemeinschaft studentischer Verbände“ auf. Dies nützte die Deutsche Burschenschaft aus, indem sie den sofortigen Ausschluß auch der gesetzlich 1935 immer noch geschützten jüdischen Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs forderte,38 sich in den NSDStB überführen ließ und schließlich offiziell ihr Couleur strich und die Fahne der Urburschenschaft an diesen übergab.39 Die Kösener Corps dagegen widersetzten sich erneut, wurden aber nur noch vom evangelischen Wingolf und dem ganz kleinen Wernigeroder Verband unterstützt. Dies alles konnte nur zum Ende aller Korporationen führen. Am 28. September 1935 wurde „nach Anhörung des Mitarbeiterkreises und im Einvernehmen mit dem früheren Verbandsführer, Dr. Max Blunck“,40 die Selbstauflösung des Kösener Corpsverbandes verfügt. Dies wurde von der Londoner Zeitung „The Times“ am 15. Oktober 1935 mit überraschend positiven Worten kommentiert: „Mit hoch erhobenen, wehenden Fahnen und einer völlig unkompromittierten Tradition ist aus dem öffentlichen Leben Deutschlands, jedoch keineswegs für immer das Corpsstudententum herausmarschiert.“41 Diese Selbstauflösung geschah parallel zur 36 Diese Geschichte wird an verschiedenen Orten mit divergierenden Details, stets aber mit demselben Tenor berichtet. 37 Wippermann, „Wer seine Geschichte…“, S. 53. 38 Es handelt sich hier um das sogenannte Frontkämpferprivileg, in dem es vor allem um Beamte jüdischen Glaubens ging; Ende 1935 wurden die letzten von ihnen aus ihren Ämtern verdrängt, vgl. dazu: Hilberg, Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt am Main 1990, Bd. 1, S. 88 f. 39 Thullen, Alfred, Der Burgkeller zu Jena und die Burschenschaft auf dem Burgkeller 1933 – 1945, Jena 1998, S. 651; Weber, Die deutschen Corps, S. 188. 40 Dr. Max Blunck, Angehöriger der Corps Franconia Jena, heute Corps Franconia-Jena zu Regensburg; Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1960, Kassel 1961 (künftig: KCL), Nr. 26 – 578. 41 „The Times“, London, 15. Oktober 1935, zitiert nach: Wippermann, „Wer seine Geschichte…“, S. 58.
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Verabschiedung des „Gesetzes über die Vereidigung der Beamten und der Soldaten der Wehrmacht“ vom 24. September 1935,42 nach dem der Stab des Führers ein Mitspracherecht bei der Beförderung höherer Beamter erhielt. Tatsächlich existierten sehr viele Verbindungen in anderer Form arkan weiter. Ihrer vom NS-Staat immer argwöhnischer betrachteten, weil grundsätzlich abgelehnten Gesellungsform hatte der „Stellvertreter des Führers“, Rudolf Heß, ein Ende zu machen versucht, als er am 14. Mai 1936 einen förmlichen Unvereinbarkeitsbeschluß zwischen der Mitgliedschaft in der NSDAP und jedweder Korporation erließ.43 Trotzdem hielten einige Widerständige immer noch – zumindest teilweise – am Aktivenbetrieb in ihren Verbindungen fest. Dieses Beharren fand selbst die mehrheitlich nicht unbedingt korporationsfreundliche SPD bemerkenswert. In ihrer im Prager Exil herausgegebenen Zeitschrift „Deutschlandberichte“ erschien im Oktober 1936 ein Artikel, in dem es unter anderem hieß: „Die studentischen Verbindungen sind noch nicht aufgelöst. (…) Die entschiedensten Gegner der Nazis sind die Korps und Burschenschaften. Denn gerade ihre alte Tradition will man treffen und beseitigen. Und in diesem Kampf um die Erhaltung ihrer Tradition sind sie derart fanatisch, daß sie, wenngleich auch reaktionär, es ablehnen, mit den Nazis irgend etwas zu tun zu haben.“44 Woher kam diese Haltung? Ein Blick hinüber zu anderen Gruppen des Widerstands mag hilfreich sein. Marion Gräfin Dönhoff hat zur Struktur des zivilen wie des militärischen Widerstands gegen das NS-Regime in einem Buch, das sie zu Ehren ihrer „Freunde vom 20. Juli“ verfaßte, einige bemerkenswerte Passagen zur Struktur des Widerstands formuliert. Über die Bezeichnung „Kreisauer Kreis“ – doch gilt dies nicht auch für die Offiziere und die Diplomaten? – schrieb sie: „Diese Bezeichnung erweckt die irrige Vorstellung, daß es einen Kreis von Verschwörern gab, der häufig zusammenkam, alle Fäden in der Hand hatte, gemeinsam beriet und die Aktivitäten dirigierte. So war es nicht. Es gab viele kleine Kreise, die sich zum Teil überschnitten, aber keine feste Organisation – schon deshalb nicht, weil äußerste Geheimhaltung lebenswichtig war.“45 Das formulierte auch der preußische 42
Reichsgesetzblatt (RGBl.), Bd. I, S. 1203 f. Anordnung des Stellvertreters des Führers vom 14. Mai 1936, Bundesarchiv Berlin, Sammlung Schumacher 279 I, Bl. 236 ff. 44 Deutschland-Berichte der Sopade (dies war der Tarnname der Exil-SPD), 3. Jg., 1936, Frankfurt/M. 1980 ND, S. 1338. 45 Dönhoff, Marion Gräfin v., Um der Ehre willen – Erinnerung an die Freunde vom 20. Juli, Berlin 1994, S. 13. Zur Namensgebung „Kreisauer Kreis“ ist weiterhin zu bemerken, daß die hier Versammelten sich selbst keinen Namen gegeben hatten und gegenseitig in der Regel von „den Freunden“ redeten. Die Titulierung nach dem Gut Kreisau, das der Familie Moltke gehörte, stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von Walter Huppenkothen, einem SSStandartenführer, der die Mehrzahl der „Kreisauer“ nach ihrer Verhaftung verhörte und für viele Todesurteile die Verantwortung trägt. Dieser Mann sortierte einfach jeden, der im Verhör ein oder mehrere Treffen in Kreisau erwähnte, in eine Schublade. Erstens handelt es sich bei dieser willkürlichen Zuordnung um Menschen, die teils nur wenig miteinander zu tun hatten, zweitens haben insgesamt nur drei Treffen – von insgesamt hunderten im Widerstand der 43
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Finanzminister Johannes Popitz, als er den Marburger Westfalen Ernst Vollert46 im März 1943 auf die Mitarbeit im Widerstand verpflichtete. Popitz stellte klar, daß jedes einzelne Wort des vertraulichen Gesprächs zum Todesurteil für beide werden könne, wenn es der Gestapo bekannt werde.47 Gräfin Dönhoff sprach oft mit Ulrich v. Hassell Sueviae Tübingen: „Wir waren befreundet, politisch der gleichen Meinung, haben auch miteinander korrespondiert, jedoch ohne zu wissen, daß wir beide in der gemeinsamen Sache tätig waren. Allergrößte Geheimhaltung war einfach existentiell notwendig.“48 Diese Schilderung ist von großer Wichtigkeit für die Beurteilung der Täter wie der Opfer. Diejenigen, die mit dem Regime gingen, waren in der großen Überzahl, und sie waren bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sogar der Meinung, das Richtige zu tun. Sie benötigten keine Geheimhaltung. Diejenigen dagegen, die den gefährlichen Weg des Widerstands gewählt hatten, hatten nur wenige Kontakte, waren sehr einsam, hofften auf eine Besserung der Lage, auf einen Akt der Befreiung, auf ein Attentat. Aber sie wußten – bis auf die direkt Beteiligten – in aller Regel nicht, wann und wo wieder ein Attentatsversuch auf Hitler geplant war; insgesamt sollte es 42 Versuche geben, Hitler zu töten. Die Vereinsamung war aufgrund des enormen Verfolgungsdrucks eine zwangsläufige Folge. Für die weitaus größte Gruppe der Korporierten dürfte – völlig analog zur Gesellschaft, in der sie lebten – die Aussage zutreffen, daß sie in einem unbestimmten, indifferenten Verhältnis zur Diktatur lebten, das auf unscharfe Weise zwischen Zustimmung und Ablehnung, zwischen bequemer Anpassung und widerständigem Verhalten in kleinen, unspektakulären Dingen zu verorten ist. Für die übergroße Mehrheit dürfte gelten, was Helmuth James Graf v. Moltke an seine Frau schrieb: „Sie sind wie Chamäleons: in einer gesunden Gesellschaft machen sie einen gesunden Eindruck, in einer kranken, wie der unseren, einen kranken. In Wahrheit sind sie weder das eine noch das andere. Sie sind Füllsel. Auch Füllsel muß es geben. Aber unerträglich ist es, wenn Füllsel, der die kranken Teile vergrößert, so tut, als habe er eine moralische Berechtigung.“49
„Freunde“ gegen Hitler – auf dem Moltke-Gut stattgefunden. Natürlich war aber unter den vielen, die mit in die Schublade gesteckt wurden, auch der engste Kreis um Moltke und Yorck, die Gründer des Kreises, erfaßt; vgl. dazu: Yorck von Wartenburg, Marion, Die Stärke der Stille. Erinnerungen an ein Leben im Widerstand, Moers 1998, S. 58. Auch Freya v. Moltke schreibt an ihren Mann über „die Freunde“, wobei der wegen der Gestapo-Zensur verklausulierte textliche Zusammenhang nahelegt, daß hier Yorck und die anderen „Kreisauer“ gemeint sind. Exemplarisch: Moltke, Helmuth James und Freya von, Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel, September 1944 – Januar 1945, München 2011, S. 129. 46 KCL Nr. 98 – 233. 47 Vollert, Ernst, Aus meinem Leben, Bad Hersfeld 1968 (Typoskript, im Selbstverlag), S. 159 f.; vgl. Beitrag über Ernst Vollert in diesem Band. 48 Dönhoff, Um der Ehre willen, S. 13. 49 Moltke, Helmuth James Graf v., Brief vom 8. November 1941, in: Briefe an Freya 1939 – 1945, München 2007, S. 314.
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III. Widerstand gegen das NS-Regime Für sich genommen relativ groß, im Vergleich zur Gesamtheit der Gesellschaft aber beschämend klein ist die Zahl von Korporierten, die sich dem Nationalsozialismus nicht beugten und aktiv dagegen vorgingen. Die folgende Auswahl soll zeigen, daß die NS-Gegner aus unterschiedlichsten Richtungen kamen, daß sie sich aber alle in ihrer Grundmotivation einig waren. Der Heeresrichter Karl Sack,50 geboren 1896, soll am Anfang stehen. Zu Studienzeiten war er aktiv bei der Burschenschaft Vineta in Heidelberg; bis 1938 besuchte er allsonntäglich die Gottesdienste von Martin Niemöller, und ab dessen Verschleppung ins Konzentrationslager setzte er sich aktiv für dessen Befreiung ein.51 Im Jahre 1942 wurde er zum Chef der Heeresjustiz befördert. In die Pläne der Gruppe Stauffenberg und in das „Unternehmen Walküre“ war Sack, übrigens Sohn eines Pfarrers, trotz seines hohen Postens später bis in alle Einzelheiten eingeweiht, bei einem Gelingen des Umsturzes war er als Reichsjustizminister vorgesehen.52 Nachdem das Attentat und der Umsturzversuch gescheitert waren, wurde Sack am 9. August 1944 verhaftet. In den letzten Kriegstagen verurteilte ihn ein SS-Standgericht im KZ Flossenbürg zum Tode, er wurde noch am selben Tag hingerichtet. Auch der Studienrat Hermann Kaiser,53 Mitglied der Burschenschaft Alemannia auf dem Pflug zu Halle an der Saale, der heutigen Burschenschaft der Pflüger in Münster/Westfalen, war vollständig in die Operation Walküre des Heeres einbezogen. Als Offizier rückte er in die Rolle eines wichtigen Organisators des geplanten Umsturzes nach einem Attentat auf Hitler. Einen Tag nach dem Scheitern des Stauffenberg-Attentats wurde Kaiser festgenommen. Am 17. Januar 1945 wurde er vom NS-Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und sechs Tage später in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Erwähnung verdient auch Ernst v. Harnack, Mitglied der Burschenschaft Germania Halle. Harnack war bereits 1933 in Gestapo-Haft genommen worden, weil er versucht hatte, einen politischen Mord aufzuklären; ab 1938 dokumentierte er Begräbnisse und Umbettungen von Toten, speziell von Opfern des NS-Regimes. Ohne 50
Brunck, Helma, Die deutsche Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, München 1999, S. 393 ff.; Bösch, Hermann, Heeresrichter Dr. Karl Sack im Widerstand, München 1967; Dignath, Stephan, Dr. Karl Sack. Ein Widerstandskämpfer aus Bosenheim – Bekenntnis und Widerstand, Bad Kreuznach 1985, passim; Haase, Norbert, Generalstabsrichter Karl Sack, in: Ueberschär, Gerd R. (Hg.), Hitlers militärische Elite. Vom Kriegsbeginn bis zum Weltkriegsende, Bd. 2, Darmstadt 1998, S. 201 – 209; vgl. Raveaux, Corpsstudenten, S. 98 ff. 51 Ringshausen, Gerhard, Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus, Lüneburger Theologische Beiträge, Bd. 3, Berlin 2007, S. 478. 52 Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1984; vollständige Ministerlisten im Anhang, S. 617 – 621. 53 Roon, Ger van, Hermann Kaiser und der deutsche Widerstand, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 24. Jg., 1976, S. 263; Brunck, Burschenschaft, S. 389 ff.; vgl.: Raveaux, Corpsstudenten, S. 94 und 96.
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konkrete Tatvorwürfe wurde er als „Beteiligter am Stauffenberg-Attentat“ am 1. Februar 1945 zum Tode verurteilt und am 5. März jenes Jahres in Berlin-Plötzensee hingerichtet.54 Nach Rudolf Breitscheid, Burschenschaft Arminia Marburg, ist der Breitscheidplatz im Zentrum Berlins benannt. Breitscheid war Sozialist und Sozialdemokrat.55 Er emigrierte frühzeitig nach Paris und agitierte von hier aktiv und schon Mitte der 1930er Jahre gegen Hitler. Nachdem die Nazis in Paris einmarschiert waren, schrieben sie ihn zur Fahndung aus. Vichy-treue französische Kräfte verhafteten ihn in Arles in der Provence und lieferten ihn an die deutschen Besatzer aus. Er war Insasse verschiedener KZs und wurde am 24. August 1944 in Buchenwald durch einen alliierten Luftangriff getötet.56 Der Widerstandskämpfer Helmut Himpel, er wurde 1907 geboren, schloß sich 1926 der Burschenschaft Germania Karlsruhe an.57 Er studierte zunächst Elektrotechnik in Karlsruhe und wechselte dann nach Freiburg im Breisgau und München, um dort Zahnmedizin zu studieren. Seine Verlobte Maria Terwiel konnte er nicht heiraten, weil sie Halbjüdin war. Im Dritten Reich behandelte Himpel heimlich und kostenlos jüdische Patienten. Bald kamen er und seine Verlobte in Kontakt zur Gruppe von Harro Schulze-Boysen, die als „Rote Kapelle“ bekannt ist. Himpel und Terwiel nahmen an vielen Aktionen dieser Gruppe teil, insbesondere an der Verbreitung von Schriften und Flugzetteln. So halfen sie zum Beispiel bei der Verbreitung der Predigten von Kardinal Clemens August Graf von Galen, in der die als Euthanasie getarnten Krankenmorde scharf angeprangert wurden. Im Zuge von Ermittlungen der Gestapo gegen Mitglieder der „Roten Kapelle“ wurde auch die Beteiligung Himpels aufgedeckt. Am 13. Mai 1943 wurde er in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Offen ist, wie viele Menschen nur deshalb sterben mußten, weil sie eine dem Nationalsozialismus widersprechende Gesinnung hatten. Ein Beispiel hierfür ist Paul Oswald, geboren 1920, aktiv bei der Burschenschaft Arminia auf dem Burgkeller in Jena. Aufgrund allgemeiner kritischer Äußerungen, die ihm als „Wehrkraftzersetzung“ ausgelegt wurden, kam er am 7. Juli 1943 in Haft. Im Juni 1944 wurde er hingerichtet, ohne daß weiteres belastendes Material vorgelegen hätte. Oswald war wohl kein Widerstandskämpfer im engeren Sinne – sicher aber ein Opfer der NS-Diktatur.58 54 Gustav-Adolf v. Harnack (Hrsg.), Ernst von Harnack. Jahre des Widerstands 1932 – 1945, Pfullingen 1989, S. 220 ff. 55 Pistorius, Peter, Rudolf Breitscheid 1874 – 1944. Ein biographischer Beitrag zur deutschen Parteiengeschichte, Köln 1970 (Diss.). 56 Brunck, Burschenschaft, S. 400. 57 Die Tradition der Karlsruher Germania, gegründet am 16. Februar 1877, wird heute von der dortigen Burschenschaft Teutonia fortgeführt. 58 Dvorak, Helge (Hrsg.), Biographischen Lexikon der Deutschen Burschenschaft, Bd. 1: „Politiker“, Teilband 4, Heidelberg 2000, S. 258 f.
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Wegen „Wehrkraftzersetzung“ wurde auch der Karlsruher Armine Hans Menges denunziert und zwei Tage nach dem Stauffenberg-Attentat verhaftet. Er hatte sehr fundierte Kritik am NS-Regime geäußert, und zwar zu politischen Maßnahmen wie zur Kriegsführung. Menges wurde zum Tode verurteilt und starb am 27. November 1944 in Berlin-Plötzensee durch Hinrichtung.59 Auch Harro Schulze-Boysen, führendes Mitglied der bereits erwähnten „Roten Kapelle“ verdient besondere Beachtung.60 Er gehörte einer schwarzen Verbindung an,61 Albingia Freiburg im Miltenberger Ring.62 Im Widerstand gegen das NS-Regime war er äußerst aktiv; die Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ zeichnete sich unter anderem dadurch aus, daß sie Kontakte in die Sowjetunion unterhielt.63 Am 19. Dezember 1942 wurde Schulze-Boysen wegen der „Vorbereitung zum Hochverrat“ und wegen angeblichen „Landesverrats“64 zum Tode verurteilt und auf Befehl Hitlers am 22. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee gehenkt. IV. Der Glaube als Motivation zum Widerstand Die Mitglieder religiös gebundener Korporationsverbände, die unter die Widerstandskämpfer einzureihen sind, verdienen besondere Beachtung. Allein das Bekenntnis zum christlichen Glauben reichte im Regime des Nationalsozialismus, um verfolgt zu werden. Den Nationalsozialisten war bewußt, daß der gelebte Katholizismus und auch die strikt protestantische Bekennende Kirche65 mit ihrer Ideologie absolut unvereinbar waren. Beide Konfessionen haben ihre Widerstandskämpfer. Die katholische Seite, in der Gesamtschau wohl ein gutes Stück weniger vereinnahmt, macht in der Reihenfolge hier den Anfang. 59
Brunck, Burschenschaft, S. 395. Coppi, Hans, Harro Schulze-Boysen – Wege in den Widerstand, Koblenz 19952 ; Coppi, Hans und Andresen, Geertje, Dieser Tod paßt zu mir. Harro Schulze-Boysen – Grenzgänger im Widerstand, Berlin 1999, 20022. 61 „Schwarz“ wurde eine Verbindung genannt, die keine Farben, also keine Bänder trug. Das ist auch heute noch so. 62 Wippermann, Wolfgang, Widerstand für Polen und Juden – Rudolf von Scheliha, in diesem Band, passim; vgl.: de.wikipedia.org/wiki/Harro_Schulze-Boysen, Abruf am 12. Januar 2014. 63 Coppi, Hans / Kebir, Sabine, Ilse Stöbe: Wieder im Amt. Eine Widerstandskämpferin der Wilhelmstraße, Hamburg 2013; Petrescu, Corina L., Widerstand im Dritten Reich. Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation, in: Hermand, Jost / Mödersheim, Sabine (Hrsg.), Deutsche Geheimgesellschaften, Köln / Weimar / Wien 2013, S. 164 – 170 und 174 – 178. 64 Es ist ratsam, bei der Untersuchung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sorgfältig zwischen Hochverrat und Landesverrat zu unterscheiden. Eine Wertung dieses Unterschiedes kann jedoch in diesem stark lexikalisch geprägten Aufsatz nicht vorgenommen werden. 65 Die Bekennende Kirche stand in scharfem Gegensatz zu den „Deutschen Christen“, bei denen, salopp gesprochen, ein Hitlerbild auf dem Altar stehen mußte – oft genug war es tatsächlich so, daß Führerbilder dort eine zumindest quasi-religiöse Verwendung fanden. 60
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Wie zahlenmäßig stark der Widerstand aus den Reihen der Angehörigen von CVVerbindungen66 war, belegt – exemplarisch für die katholischen Verbände – das von Herbert Fritz und Peter Krause herausgegebene Sammelwerk „Farbe tragen – Farbe bekennen“, das die Verfolgung der Korporierten in Österreich unter den Nationalsozialisten mit großer Akribie dokumentiert.67 Dort werden hunderte von Lebenslinien nachgezeichnet, die mit der Nazi-Ideologie unvereinbar waren und mit dem NS-System kollidierten. Es wird auch großer Männer des Widerstands gedacht, die in mensurbeflissenen Korporationen aktiv waren, zum Beispiel des Seniors des legitimistischen Corps der Ottonen, Karl Burian,68 oder die im Deutschen Reich ihre Stimme erhoben, wie etwa des Münsteraner Bischofs Clemens August Kardinal Graf von Galen;69 beide werden später gewürdigt. Die Sichtweise einer Anthologie der Corpsstudenten im Widerstand gegen Hitler muß unvollständig bleiben ohne eine zumindest summarische, besser aber erklärende Sammlung der Namen derer, die aus den Reihen der christlich gebundenen Korporationen Widerstand leisteten.70 Aus seiner christlichen Haltung heraus erklärt sich die Bedeutung des Zentrumspolitikers Eugen Bolz, Mitglied der CV-Verbindungen Guestphalia Tübingen, Bavaria Bonn und Suevia Berlin. Bolz gehörte dem Landtag des Freien Volksstaats Württemberg und dem Berliner Reichstag an. Als Anhänger der katholischen Soziallehre wurde er von den Nationalsozialisten als gefährlicher Gegner eingestuft und am 19. Juni 1933, nach seiner Verdrängung aus allen Ämtern, für mehrere Wochen im KZ Festung Hohenasperg interniert. Spätestens Anfang 1942 kam er in Kontakt mit Carl Goerdeler;71 in der Kabinettsliste der Widerstandskämpfer des 66 CV bedeutet Cartellverband; damit sind katholische, farbentragende Verbindungen gemeint, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, nachdem aus dem Vatikan ein Mensurverbot für Katholiken ergangen war. CV-Bünder lehnen das Mensurfechten demzufolge komplett ab. 67 Vgl. oben Anm. 10: Fritz, Herbert / Krause, Peter, Farbe tragen – Farbe bekennen: 1938 – 1945, Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung, Wien 20132. 68 A.a.O., S. 144 f., S. 171. Ebd., auf S. 172, im Faksimile abgedruckt: ein Auszug aus dem Todesurteil gegen Burian. Mehr zu diesem österreichischen Widerstandskämpfer in einem deswegen speziell ihm gewidmeten Aufsatz in diesem Band, weil Burian Angehöriger eines Corps war, und zwar einem, das, wie zum Beispiel die heute noch bestehende Danubia Graz, der legitimistischen Richtung angehörte. 69 A.a.O., S. 85. 70 Stellvertretend für viele Todesopfer sei hier der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuss genannt, Angehöriger der K.D.St.V. Franco-Bavaria Wien und der K.D.St.V. Germania Berlin, später Mitgründer des K.D.St.V. Pflug zu Wien, der am 28. Juli 1934 einem Terroranschlag von Untergrund-Nationalsozialisten zum Opfer fiel; vgl. Fritz / Krause, Farbe tragen, S. 263 f.; eine überaus umfangreiche Auflistung, die von mehrwöchigem Arrest bis zum Tod durch das Fallbeil alle Stufen der Verfolgung auflistet, bei: Fritz / Krause, Farbe tragen, S. 224 – 611; ergänzend sei darauf hingewiesen, das viele der österreichischen Widerstandskämpfer in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. 71 Miller, Max, Eugen Bolz. Staatsmann und Bekenner, Stuttgart 1951, S. 480 – 492; Köhler, Joachim, Christentum und Politik. Dokumente des Widerstands, Sigmaringen 1996, S. 75;
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20. Juli war er als Reichskultusminister nach einem Umsturz vorgesehen.72 Am 12. August 1944 wurde Bolz verhaftet, am 21. Dezember zum Tode verurteilt, am 23. Januar 1945 in Plötzensee enthauptet.73 Zum Goerdeler-Umfeld im Widerstand gegen das NS-Regime sind neben Bolz der CVer Hans Lukaschek, früherer Oberpräsident von Oberschlesien und Angehöriger der Rheno-Palatia Breslau,74 ebenso zu zählen wie Cuno Raabe, Oberbürgermeister von Hagen, V. K. D. St. Rhenania Marburg.75 Zu nennen sind auch die Rechtsanwälte Reinhold Frank76 und Otto Lenz;77 beide waren Freiburger Arminen. Der österreichische Bauernführer Joseph Reither gehörte dem ÖCV an.78 Pater Rupert Mayer war Mitglied der CV-Verbindungen Teutonia Fribourg, Aenania München und A. V. Guestfalia Tübingen. Im Ersten Weltkrieg noch mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse dekoriert, kämpfte er mit immer neuen Predigten gegen den Nationalsozialismus. Er wurde ab 1937 von der Gestapo verfolgt und verschiedentlich inhaftiert. Im KZ Oranienburg wurde er schwer gefoltert, und die Haftfolgen waren wohl die Ursache für seinen plötzlichen Tod am Allerheiligentag 1945. „Apostel Münchens“, so wurde Pater Rupert schon zu Lebzeiten genannt. Sein Grab auf dem Jesuitenfriedhof der 20 Kilometer südlich von München gelegenen Gemeinde Pullach wurde bald von vielen Menschen besucht, an manchen Tagen waren es Hunderte. Daher wurden seine sterblichen Überreste schon 1948 in die Unterkirche der Münchner Bürgersaalkirche überführt.79 1950 begann ein formeller Seligsprechungsprozeß; am 3. Mai 1987 wurde Pater Rupert Mayer durch Johannes Paul II. anläßlich des Papstbesuches in Deutschland im Münchner Olympiastadion seliggesprochen. Ebenfalls völlig furchtlos protestierte Clemens August Kardinal Graf v. Galen gegen das NS-Regime. Schon in den 1920er Jahren hatte er gegen die Nationalsozialisten gepredigt, und nach der Machtergreifung tat er dies mit wachsender VeheGesellschaft für Studentengeschichte und studentisches Brauchtum (GGB) e. V. (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung im CV, München 1983 (Selbstverlag), S. 13; vgl. hierzu: http:// de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Bolz, Abruf am 24. August 2011. 72 Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, München 19793, S. 454; an anderer Stelle wird Bolz auch als für den Posten des Justizministers vorgesehen genannt, vgl. dazu: Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 19844. Vollständige Ministerlisten im Anhang, S. 617 – 621. 73 Köhler, Joachim, Eugen Bolz. Württembergischer Minister und Staatspräsident, in: Bosch, Michael / Niess, Wolfgang (Hrsg.), Der Widerstand im deutschen Südwesten 1933 – 1945, Stuttgart 19844, S. 227 – 235; vgl.: GGB, Widerstand und Verfolgung im CV, München 1983, S. 66 – 70. 74 GGB, Widerstand und Verfolgung im CV, S. 135 ff. 75 A.a.O., S. 163 ff.; V. K. D. St., lies: Verein Katholischer Deutscher Studenten. 76 A.a.O., S. 81 ff. 77 A.a.O., S. 131 ff. 78 A.a.O., S. 13, dort auch zusammengefaßt die Namen der Vorgenannten. 79 Gesellschaft für Studentengeschichte und studentisches Brauchtum (GGB) e. V. (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung im CV, München 1983 (Selbstverlag), S. 140 – 144.
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menz. Im Jahre 1936 wurde Graf Galen Mitglied der katholischen Studentenverbindung F. A. V. Rheno-Guestfalia Hannoversch Münden zu Göttingen im CV.80 Die Aufnahme war 1936 nur noch heimlich möglich, weil das NS-Regime bereits die Auflösung aller Verbindungen angeordnet hatte. Graf Galen, seit 1933 Bischof der Diözese Münster, protestierte offen und strikt gegen die Tötung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen unter dem Decknamen „T4“. Seine drei wichtigsten Predigten dazu hielt er im Mai 1941. Sie führten dazu, daß Hitler die von ihm persönlich angeordnete Aktion „T4“, also die „Tötung lebensunwerten Lebens“, und andere Morde an behinderten Menschen schließlich stoppen ließ.81 Karol Woityla, der spätere Papst Johannes Paul II., der als Priester unter der deutschen Besetzung in Polen ab 1942 Zwangsarbeit in einer Chemiefabrik leisten mußte, hat die Predigten des streitbaren Münsteraner Bischofs lange vor der Befreiung von der NS-Herrschaft in Abschriften erhalten.82 Die unbeugsame Haltung Graf Galens, des „Löwen von Münster“, hat einer unbekannten, aber mutmaßlich sehr großen Zahl von Menschen mit Behinderung das Leben gerettet. Das ist heute eine gesicherte Erkenntnis, bemerkenswert ist aber, daß dies auch viele Zeitzeugen schon so wahrnahmen. Es gibt in der Forschung divergierende Meinungen zu der Frage, ob die Predigten eines Bischofs wie Graf Galen allein als Widerstand gegen das NS-Regime zu werten seien. Neuere Beiträge weisen indes zunehmend die Tendenz auf, dies so zu sehen.83 Galen wurde noch 1946, kurz vor seinem Tod, zum Kardinal erhoben. Karol Woityla, inzwischen Papst Johannes Paul II., hatte das Verfahren zu Graf Galens Seligsprechung vorangetrieben und abgeschlossen; kurz vor dem formellen Vollzug dieser Erhebung starb er jedoch. So hat sein Nachfolger, Papst Benedikt XVI., selbst CVer und KVer,84 den CVer Graf Galen am 9. Oktober 2005 in Rom seliggesprochen.85 80 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Clemens_August_Graf_von_Galen, Abruf am 13. Februar 2011, Abschnitt „sonstiges“, Abruf am 13. Februar 2011. 81 Löffler, Peter, (Hrsg.), Bischof Clemens August Graf von Galen – Akten, Briefe und Predigten 1933 – 1946, Paderborn/München/Wien/Zürich, 19962, S. 852 – 902; Jähnichen, Traugott, Selbstbehauptung – Protest – Widerstand, in: Brakelmann, Günter / Keller, Manfred, Der 20. Juli 1944 und das Erbe des deutschen Widerstands, Münster 2005, S. 57 f.; Stern, Fritz / Sifton, Elisabeth, Keine gewöhnlichen Männer. Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi im Widerstand gegen Hitler, München 2013, S. 95. 82 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Clemens_August_Graf_von_Galen, Abruf am 13. Februar 2011, Abschnitt „Widerstand“, Abruf am 13. Februar 2011. 83 Kuropka, Joachim, Hat Bischof Clemens August Graf von Galen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet?, in: Joachim Kuropka (Hrsg.), Neue Forschungen zum Leben und Wirken des Bischofs von Münster, Regensberg, Münster 1992; Grevelhörster, Ludger, Kardinal Clemens August Graf von Galen in seiner Zeit, Münster 2005; Beaugrand, Günter, Kardinal von Galen – Weder Lob noch Tadel, Münster 2005. 84 Der ehemalige Papst Benedikt XVI. ist Alter Herr des KV Rupertia Regensburg, des K.D.St.V. Alemannia München, der KAV Capitolina zu Rom im CV, des KStV Isaria zu Freising-Weihenstephan sowie Träger des Ehrenbandes der verbandsfreien CV-Verbindung Rhaetia München.
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Knapp sechs Jahre später, am 15. Mai 2011, wurde in Würzburg die Seligsprechung des Priesters Georg Häfner gefeiert.86 Der am 19. Oktober 1900 geborene Häfner war Mitglied der Würzburger Unitas Hetania. Konsequent war er auf Einhaltung der kirchlichen Lehre bedacht. Das zeigte sich, als er im November 1934 seine erste Stelle als Gemeindepfarrer in Oberschwarzach im fränkischen Steigerwald antrat. Er beugte sich nicht, verweigerte konsequent den Hitlergruß, spendete weiter die kirchlichen Sakramente und wurde so bei örtlichen Parteigrößen verhaßt. 1941 erteilte er einem Gemeindeglied, das NSDAP-Mitglied war, die Sterbesakramente. Dieser Vorfall rief die Gestapo auf den Plan; Häfner wurde in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Dort starb er, geschwächt durch vielfache Folter und Krankheiten, für die ihm die medizinische Behandlung bewußt versagt worden war, am 20. August 1942 – er verhungerte schließlich, weil er zu schwach war, um Nahrung zu sich zu nehmen.87 Ebenfalls Unitarier – Alter Herr bei Rheno-Moenania Frankfurt und Ruhrania Münster88 – war Johannes Prassek.89 Er hatte sich intensiv um die Seelsorge für polnische und ukrainische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter gekümmert und wurde deswegen am 10. November 1943 im Hamburger Gefängnis Fuhlsbüttel ermordet. Am 25. Juni 2011 wurde Prassek seliggesprochen.90 Etwa 500 Unitarier dürften insgesamt unter Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes gelitten haben;91 stellvertretend sei Joseph Schmidlin genannt, Mitglied bei Unitas Freiburg und Unitas Frisia sowie Begründer der katholischen Missionswissenschaft.92 Stellvertretend für viele KVer, die zugleich Blutzeugen Christi sind, sei hier zuerst Josef Wirmer genannt.93 Wirmer wurde am 19. März 1901 in Paderborn geboren. Er studierte zunächst in Freiburg im Breisgau und dann in Berlin, wo er sich 1928 als Rechtsanwalt niederließ. In Freiburg wurde er Mitglied des KV Flamberg, in Berlin gehörte er als Philister der Brisgovia, der Guestphalia und der Langemarck 85
Benedictus XVI., Litterae Apostolicae „Veritatis splendor“, in: Acta Apostolicae Sedis (A.A.S.), Jg. 98, 2006, Nr. 4, S. 317. 86 Würzburger Diözesanblatt, 157. Jahrgang, 2011, Nr. 2, S. 54 f.; Häfner war bereits im Juli 2009 von Papst Benedikt XVI. seliggesprochen worden. 87 Studentenkurier, Heft 2, 2011, S. 28. 88 Ruhrania ist heute in Essen ansässig. 89 Mihm, Bernhard, Gedenktafel für Johannes Prassek, in: Studentenkurier, Heft 4, 2011, S. 27. 90 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Prassek, Abruf am 15. Januar 2012. 91 Mihm, Gedenktafel, S. 27. 92 Schmidlin, ein gebürtiger Elsässer, wurde am 10. Januar 1944 im elsässischen Konzentrationslager Schirmeck erschlagen; vgl.: Mihm, Gedenktafel für Johannes Prassek, Studentenkurier Nr. 4, 2011, S. 27; http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Schmidlin, Abruf am 15. Januar 2012. 93 Lange, Gerhard, Joseph Wirmer, in: Moll, Helmut (Hg.), Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Paderborn 20105, S. 150 – 153; Feldkamp, Michael F., Josef Wirmer, in: Biographisches Lexikon des KV, Bd. 3, Schernfeld 1994, S. 125.
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an, zudem war er Ehrenphilister der dortigen Semnonia. Als engagierter Gegner der Nationalsozialisten kam Wirmer 1936 in Kontakt zum Widerstandskreis um den Gewerkschafter Jakob Kaiser, der sich bereits damals am Programm für den Wiederaufbau eines demokratischen Gewerkschaftswesens mit dem Ziel der Errichtung einer Einheitsgewerkschaft beteiligte. Ab Ende 1941 begann die Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister und Tübinger Turnerschafter Carl Friedrich Goerdeler, dem politischen Führer des deutschen Widerstandes. 1944 befürwortete und unterstützte Wirmer ausdrücklich den Attentatsplan Stauffenbergs. Nach dem mißglückten Attentat auf Hitler wurde Josef Wirmer am 4. August 1944 verhaftet und am 8. September zum Tode durch den Strang verurteilt. Sein Todesurteil, das ihm der furchtbare Roland Freisler verlas, quittierte er mit folgendem Satz: „Wenn ich hänge, Herr Präsident, habe nicht ich die Angst, sondern Sie!“ Freisler schrie ihn an: „Bald werden Sie in der Hölle sein!“ Wirmer darauf: „Es wird mir ein Vergnügen sein, wenn Sie bald nachkommen, Herr Präsident!“94 Andreas Hermes, ein gebürtiger Kölner, studierte ab 1896 an den Universitäten Bonn, Jena und Berlin Landwirtschaft und Philosophie. 1898 trat er der katholischen Studentenverbindung K.St.V.95 Rheno-Borussia in Bonn bei, einer KV-Verbindung. In den 1920er Jahren bekleidete er höchste Ämter in der Verwaltung der Landwirtschaft, war Abgeordneter im Preußischen Landtag und bis 1933 auch im Reichstag. Im März 1933 wurde er aufgrund seiner offenen Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten erstmals verhaftet und zu vier Monaten Haft verurteilt. Er ging 1936 ins Exil nach Kolumbien, kehrte 1939 nach Deutschland zurück, um seine Familie ins Exil nachzuholen, wurde aber durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges an der Ausreise gehindert. Hermes engagierte sich im Widerstand gegen das NS-Regime, hatte Kontakte zum Kreis um Carl Friedrich Goerdeler und zum Kreisauer Kreis. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet. Als Hauptmotiv für seine Beteiligung am Widerstand nannte er seine christliche Weltanschauung.96 Da er auf einer Ministerliste von Goerdeler als möglicher Landwirtschaftsminister oder Ernährungsminister genannt war,97 wurde er am 11. Januar 1945 zum Tode verurteilt. Die kriegerischen Ereignisse in Berlin vor der Eroberung durch sowjetische Truppen bewahrten ihn vor der Vollstreckung des Urteils.98 Nach 1945 war er mit bedeutenden Aufgaben in der Bundesrepublik betraut.99
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Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Wirmer, Abruf am 12. November 2010. Katholischer Studenten-Verein. 96 Morsey, Rudolf, Andreas Hermes. Ein christlicher Demokrat in der ersten und zweiten deutschen Demokratie, in: Historisch Politische Mitteilungen, Nr. 10, 2003, S. 129 – 149. 97 Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich –Attentat, S. 454. 98 Ebd., S. 648. 99 Weiterführend zu Hermes vgl.: Schwerin v. Krosigk, Dedo, Friedrich-Karl v. Zitzewitz, Aufsatz in diesem Band. 95
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Drei Mitglieder der Münchner Rheno-Bavaria, die mit gewisser Einschränkung100 zum KV gehört, sind zum Kreis der Widerstandskämpfer zu zählen; als Gegner des NS-Regimes sind mehrere weitere Rheno-Bavaren in Erscheinung getreten. Hier soll zunächst Wilhelm Emanuel Frhr. v. Ketteler Erwähnung finden, ein Diplomat und erklärter Gegner des NS-Terrors, der außer bei Rheno-Bavaria auch bei der KV-Verbindung Frisia Bonn aktiv war. Ketteler gehörte zum Mitarbeiterstab des ehemaligen Reichskanzlers Franz von Papen, zu den „Papenschweinen“ – so der Jargon der Nationalsozialisten. Als Papen ab 1934 „Sondergesandter des Reichspräsidenten“ in Wien war, zählte er zu dessen Mitarbeitern. Von Wien aus schaffte er Akten, die Papen ent- und Hitler belasteten, in die neutrale Schweiz. Unter anderem deswegen wurde er von Nationalsozialisten ermordet – wahrscheinlich noch am Tag des Einmarsches der Deutschen Wehrmacht nach Österreich, am 13. März 1938.101 Ebenfalls bei der Münchner Rheno-Bavaria aktiv war Max Ulrich Graf v. Drechsel. Er war über Alfred Delp in Kontakt mit Widerstandskreisen in Kontakt gekommen. Ludwig Frhr. v. Leonrod102 weihte Drechsel, der Offizier war, im Juni 1944 in die Pläne Stauffenbergs ein; kurz vor dem Attentatsversuch vom 20. Juli wurde Drechsel als Verbindungsmann für den Wehrkreis VII – München – vorgesehen.103 Weil schon sehr bald die Gestapo diese Liste fand, wurde Drechsel am 12. August 1944 verhaftet, vom Volksgerichtshof am 3. September zum Tode verurteilt und tags darauf in Plötzensee gehenkt.104 Der dritte aus dem Kreis der Münchner Rheno-Bavaren ist Karl Ludwig Reichsfreiherr v. und zu Guttenberg. Der kam bereits 1942 als Mitarbeiter Hans Osters in Kontakt mit Carl Goerdeler.105 Im Verlauf des Jahres 1943 geriet er in Kroatien in das Visier der dortigen Gestapo-Agenten, weil er auf eigene Faust Gefangenenaustausche organisiert und grausame Befehle abgeschwächt hatte. In die Attentatsvorbereitungen der Widerstandskämpfer um Graf Stauffenberg war zu Guttenberg eingeweiht;106 nach dem 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und nach 100
Formal gesehen ist die Rheno-Bavaria eine KV-Verbindung, jedoch sehen die RhenoBavaren sich selbst nicht „im“, sondern „am“ KV. 101 Schilling, Gerhard, Sie folgten der Stimme ihres Gewissens, Düsseldorf 1989, S. 33 ff. 102 Leonrod war mit Stauffenberg über das 17. Reiterregiment der Kaiser-Ulanen, die „Bamberger Reiter“, verbunden. Im Seitenschiff des Bamberger Doms erinnert eine Gedenktafel an die Offiziere dieses Regiments, die nach dem Attentat des 20. Juli hingerichtet wurden. Der Name Leonrods ist darauf ebenso verzeichnet wie der Stauffenbergs. 103 Schilling, Stimme ihres Gewissens, S. 43 ff.; bei Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954, 19552, S. 604, findet sich noch der Name von Ludwig Frhr. v. Leonrod. Dieser von Leonrod selbst betriebene und wohl auch schon mit Goerdeler besprochene Wechsel konnte offenbar nicht mehr schriftlich nachvollzogen werden. 104 Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv, Nr. ZS/A-26a/1 – 147. 105 Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 338. 106 Schilling, Stimme ihres Gewissens, S. 63.
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Berlin in das Gefängnis Lehrter Straße gebracht. Trotz Folter hatte er offenbar keine Namen von Mitverschwörern preisgegeben; in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1945, Berlin war bereits teilweise von der Roten Armee erobert, wurde er von SSLeuten abgeholt und auf einem Ruinengrundstück im Zentrum Berlins ermordet. Sie hatten vorgegeben, ihn zusammen mit Mitgefangenen in die Prinz-AlbrechtStraße bringen zu wollen, um ihn von dort aus auf freien Fuß zu setzen.107 Herbert Kosney, ein Mitgefangener, dem dasselbe Schicksal tags zuvor durch die SS zugedacht war, der aber „nur“ in Wange und Hals getroffen wurde, bei Bewußtsein geblieben war und sich geistesgegenwärtig totgestellt hatte, übermittelte die Nachricht von dieser mehrere Tage andauernden Todesmission der Gestapo, einer großangelegten Mordserie an besonders verhaßten Regimegegnern.108 In seinen Erinnerungen erwähnt Kosney auch den Dichter der „Moabiter Sonette“, Albrecht Haushofer, der eine Nacht vor Guttenberg sein Leben lassen mußte.109 Die militärische Lage in Berlin-Moabit war in der Nacht zum 24. April nochmals ungleich prekärer als tags zuvor. Die sowjetischen Soldaten, die zu Guttenberg hätten befreien können, standen zu diesem Zeitpunkt nur wenige Kilometer entfernt. Guttenberg wurde wahrscheinlich wie Haushofer durch einen Genickschuß getötet. Seine Leiche wurde nie gefunden.110 Nur durch Herbert Kosney haben wir Angaben zu seinem Schicksal. In der Erinnerungskultur der Stadt Bamberg heute noch präsent ist der KVer Hans Wölfel, der am 30. März 1902 im österreichischen Bad Hall geboren wurde. Als Jurastudent war er Mitglied im KStV Rheinfranken in Würzburg geworden.111 Als Rechtsanwalt ließ er sich durch die Nationalsozialisten nicht vereinnahmen,112 zudem stand er mit verschiedenen Widerstandskreisen in Kontakt.113 Im berüchtigten Zuchthaus Brandenburg wurde er am 3. Juli 1944 ermordet. In Bamberg
107 Siehe dazu: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Royce, Hans (Bearb.), 20. Juli 1944, Bonn 1969, S. 329. 108 Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 656; Schilling, Stimme ihres Gewissens, S. 67. 109 Kosney, Herbert, The Other Front, in: Boehm, Eric H., We Survived. Fourteen Histories of the Hidden and Hunted in Nazi Germany, Cambridge, MA (USA), 1985, 20032, S. 47 ff.; ders., Im Trümmerfeld ermordet, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Royce, Hans (Bearb.), 20. Juli 1944, Bonn 1969, S. 228 ff. – Der Dichter Albrecht Haushofer hinterließ aus den letzten Wochen seines Lebens die ergreifenden Moabiter Sonette; sie wurden in einem Heft, das er noch im Tode in der Hand hielt, gefunden. Möglicherweise, auch diese Lesart gibt es, waren die Texte auch ganz oder teilweise in das Sakko, das er trug, eingenäht. 110 Zu dieser Gruppe gehörte auch der Rechtsanwalt Hans Koch, dem ein Aufsatz in diesem Band gewidmet ist. 111 Studentenkurier Nr. 4, 2012, S. 20 f. 112 Biographisches Lexikon des KV, 1, 1991, S. 106 f. 113 Fritz, Herbert / Krause, Peter (Hrsg.), Farbe tragen, Farbe bekennen 1938 – 1945. Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung, Wien 20132, S. 595 f., dort ausführliche Quellenangaben.
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erinnert ein Denkmal an ihn, zugleich wurde es übrigens Claus Schenk Graf v. Stauffenberg gesetzt.114 Mehrere Bonner Arminen haben sich aktiv dem NS-Regime widersetzt; einige schreckte dabei weder persönliche Verfolgung noch der Tod. Zu diesen gehören Leo Trouet, „Märtyrer des Erzbistums Köln“,115 in der Haft in Köln zu Tode gefoltert, Benedikt Schmittmann, ebenfalls „Märtyrer des Erzbistums Köln“,116 1933 von der Gestapo erstmals verschleppt und 1939 im KZ Sachsenhausen-Oranienburg zu Tode gefoltert. Walther Hensel, Mitglied des Rheinischen Widerstandskreises, von der Gestapo in Düsseldorf verhaftet und gefoltert, ist ebenso zu nennen wie Paul Franken. Letzterer trug außerdem das Band der Semnonia Berlin, bis zur Auflösung der Arminia im Jahre 1936 war Franken „Korporationsführer“. Franken war ebenfalls aktiv im Rheinischen Widerstandskreis, ab 1937 saß er für fünfzehn Monate wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ in Düsseldorf in Gestapohaft.117 Nach dem Ende der NS-Diktatur war er in der Bundesrepublik an führender Stelle publizistisch tätig. Beim Blick in das Nachbarland Österreich relativiert sich die Frage nach der Anzahl der Korporierten, die im aktiven Widerstand waren. Das Werk „Farbe tragen – Farbe bekennen“ von Herbert Fritz und Peter Krause enthält Informationen zu rund 800 Korporierten, die Opfer des nationalsozialistischen Regimes wurden. Indirekt, aber mit großer Energie im Widerstand tätig und durch die Vielzahl von Weisungen, die er gab, immer präsent war der österreichische Thronfolger Otto v. Habsburg, Mitglied der Verbindungen Tegethoff Wien, Nibelungia Wien und Maximiliana Wien.118 Über Mittelsmänner hatte er auch Kontakt zu Karl Burian, dem in diesem Band ein Beitrag gewidmet ist. Ein frühes Opfer des Nationalsozialismus war auch der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuss, Mitglied 114 Diesem Denkmal ist bisher in der Literatur kaum Beachtung geschenkt worden; löbliche Ausnahme: Studentenkurier Nr. 4, 2012, S. 21. 115 Moll, Helmut (Hrsg.), Leo (Léon) Trouet, in: ders., „Wenn wir heute nicht unser Leben einsetzen …“ – Märtyrer des Erzbistums Köln aus der Zeit des Nationalsozialismus, 20065, Bd. I, S. 338 – 341. 116 Moll, Helmut (Hrsg.), Benedikt Schmittmann, in: ders., Märtyrer des Erzbistums Köln, Bd. I, S. 74. 117 Vgl. Esser, Theodor Richard, Erinnerungen an Paul Franken, in: Arminen-Blätter 107, 1988, S. 10 – 16; Gielen, Victor, Paul Franken (1903 – 1984), in: Feldkamp, Michael F. (Hrsg.), Arminia 1863 – 1988. Festschrift zum 125. Bestehen des katholischen Studentenvereins Arminia, Bonn 1988, S. 221 – 224; Feldkamp, Michael F., Paul Franken, in: Biographisches Lexikon des KV, Teil 6: Schriften der Historischen Kommission des Kartellverbandes katholischer deutscher Studentenvereine (KV) in Zusammenarbeit mit der Gemeinschaft für deutsche Studentengeschichte (GDS), Band 7, hrsg. von Koss, Siegfried und Löhr, Wolfgang, Köln 2000, S. 30 – 34; siehe auch: ders., Paul Franken (1903 – 1984), in: Buchstab, Günter / Kaff, Brigitte / Kleinmann, Hans-Otto (Hrsg.), Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union, Freiburg / Basel / Wien 2004, S. 172 – 178. 118 Fritz / Krause, Farbe, S. 180, dort ausführliche Quellenangaben, auch für die folgend Genannten.
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oder Ehrenmitglied in insgesamt 23 österreichischen Verbindungen. Er wurde am 25. Juli 1934 von Otto Planetta erschossen, nachdem zuvor Angehörige der illegalen SS-Standarte 89 das österreichische Bundeskanzleramt besetzt hatten.119 Exemplarisch seien weitere Namen genannt. So wurde der Landtagsabgeordnete Karl Krumpl, Ehrenmitglied der Nibelungia im MKV, im Wiener Landesgericht am 22. März 1945 durch das Fallbeil hingerichtet; Krumpl wollte den in das KZ Sachsenhausen verschleppten österreichischen Regierungschef Kurt Schuschnigg120 befreien, die Vorbereitungen dafür waren weit gediehen.121 Der Aktivist der Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs (AFÖ), Ernst Ortner, Urphilister der Cimbria Kufstein, wurde fast zeitgleich am selben Ort enthauptet.122 Am 13. November 2011 wurde in Dornbirn die Seligsprechung von Carl Lampert verlesen. Lampert, Mitglied und Urphilister der Raetia Rankweil, war vor seiner Verhaftung im Jahre 1938 Provikar und Apostolischer Administrator der Diözese InnsbruckFeldkirch. Er hatte sich dem nationalsozialistischen Totalitätsanspruch aktiv widersetzt.123 V. Vorbild Dietrich Bonhoeffer und die Bekennende Kirche Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer124 war eine Persönlichkeit, die in ihrer Wirkung kaum zu überschätzen ist. Eine theologische Würdigung würde hier den Rahmen sprengen. 1927, im Alter von 21 Jahren, wurde Bonhoeffer in Berlin promoviert, zuvor hatte er sich in Tübingen der Akademischen Verbindung Igel angeschlossen,125 die mit großer Ironie den wilhelminischen Zeitgeist rezipierte126 und im übrigen 1920 das Mensurfechten abgeschafft hatte.127 24 Jahre alt 119
Ebd., S. 264. Schuschnigg gehörte der CV-Verbindung A. V. Austria Innsbruck an, heute im ÖCV, außerdem war er Stifter der K. A. V. Rheno-Danutia Innsbruck. 121 Ebd., S. 394 f. 122 Ebd., S. 448 f. 123 Ebd., S. 399 ff. 124 Über Bonhoeffer gibt es eine Vielzahl von Büchern, sowohl allgemein biographisch als auch speziellen Themen gewidmet; pars pro toto seien hier zwei Biographien als grundlegend empfohlen: Metaxas, Eric, Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet, Nashville / Tennessee (USA) 2010, dt. Holzgerlingen 20112 ; Bethge, Eberhard, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, Darmstadt 20048 ; vgl. auch: Ackermann, Josef, Dietrich Bonhoeffer – Freiheit hat offene Augen. Eine Biographie, Gütersloh 2005. 125 Schon Bonhoeffers Vater hatte dem „Igel“ angehört, Dietrich war also „Altherrensohn“; vgl.: Metaxas, Bonhoeffer, S. 64. 126 Die „Igel“ tragen die Spottfarben schwarzgrau-silbergrau-mausgrau – eine Persiflage auf die mitunter hypertrophe Farbenwelt der Korporationen in der wilhelminischen Ära. 127 Metaxas, Bonhoeffer, S. 64 – 67, beschreibt die Aktivenzeit Bonhoeffers knapp, aber einigermaßen objektiv. Das Mensurfechten betrieben die „Igel“ in Tübingen nur von den 1880er Jahren bis 1920, Bonhoeffer hat demnach selbst nie auf Mensur gestanden; vgl.: http:// de.wikipedia.org/wiki/Akademische_Verbindung_Igel_Tübingen, Abruf am 25. Dezember 120
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war Bonhoeffer, als er sich habilitieren konnte. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, dieses großartige Lied – Bonhoeffer hat es in der Gestapo-Haft gedichtet. Am 8. April 1945 wurde er im KZ Flossenbürg zum Tode durch den Strang verurteilt. Tags darauf wurde das Urteil vollstreckt. Am selben Tag, an derselben Stelle starb der Burschenschafter Karl Sack, auch die Abwehr-Offiziere Wilhelm Canaris und Hans Oster mußten hier ihr Leben lassen. Constantin v. Dietze, der Freiburger Agrarwissenschaftler, Volkswirt, Jurist und Theologe, nach 1945 auch Rektor der Universität, ist auch zu den Korporierten im Widerstand zu zählen. Der aus Barby im Kreis Calbe bei Magdeburg stammende Dietze engagierte sich ab 1938 im Widerstandskreis „Freiburger Konzil“, an dem auch Walter Eucken führend beteiligt war.128 Im Jahre 1942 erhielt Dietze durch Dietrich Bonhoeffer den Auftrag, zusammen mit den Freiburger Mitstreitern Vorschläge für eine Neuordnung der Wirtschaft in Deutschland nach Adolf Hitler zu erarbeiten. Das ist schon angesichts der Persönlichkeit und Qualifikation von Dietzes keine Überraschung, und doch hätte Bonhoeffer nicht ihn, sondern auch jeden anderen der führenden Köpfe in den Freiburger Widerstandskreisen ansprechen können. Doch Bonhoeffer und v. Dietze hatten offenbar einen besonderen Zugang zueinander, denn wie Bonhoeffer war Dietze Mitglied der Tübinger Verbindung A. V. Igel. Die Art des Spotts, die dort als Grundlage für eine eigene studentische Kultur genommen wurde, beeinträchtigte nicht die Intensität des Kontakts der einzelnen Bundesbrüder untereinander – schließlich war man sich einerseits einig in der kritischen Distanz zum Corpsstudententum, erkannte andererseits jedoch die traditionsreiche Kultur studentischer Gesellung an. Constantin v. Dietze wurde nach dem Attentat vom 20. Juli im Rahmen der „Aktion Gitter“ inhaftiert, und zwar im September 1944, aus einem laufenden Rigorosum heraus.129 Der von seinen Studenten mit dem Spitznamen „CvD“ – Christ vom Dienst130 – belegte v. Dietze wurde in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt; es gelang ihm, seiner Frau Margarethe ein Manuskript mit 444 engbeschriebenen Seiten zukommen zu lassen – in einer Art Privatkurzschrift abgefaßt, die nur sie entziffern konnte: seine Lebenserinnerungen131 und politische Ausführungen zu 2011. Das Mensurfechten als besondere Art der studentischen Traditionspflege wird überdies – zumindest in der deutschen Ausgabe der Metaxas-Biographie – nicht ganz korrekt dargestellt, vgl.: ebd., S. 66. 128 KCL, Nr. 77 – 177. 129 Kienberger-Markwalder, Ursula, Doktor-Examen bei Walter Eucken und Constantin von Dietze im September 1944, in: Goldschmidt, Nils (Hrsg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit. Freiburger Wirtschaftswissenschaftler und der Widerstand, Tübingen 2005, S. 449 – 452, hier: S. 450; Gallegos Sánchez, Katrin, 18. März: Constantin von Dietze. Kalenderblatt des Konradsblatts online, vgl.: http://www.konradsblatt-online.de/html/liste/maerz.html?&tab=detail&scene=detail&m=32697&e=32786&id=223, Abruf am 12. Dezember 2013; vgl. dazu: Beitrag über Franz Böhm in diesem Band. 130 Gallegos Sánchez, 18. März: Constantin von Dietze, a.a.O. 131 Linßner, Thomas, Chaos der letzten Kriegstage rettet von Dietzes Leben, in: Magdeburger Volksstimme, 25. März 2011.
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seiner Denkschrift „Politische Gemeinschaftsordnung“.132 Im April 1945 war er Zellennachbar vieler Widerstandskämpfer im gefürchteten Gefängnis Lehrter Straße 3. Er wurde jedoch nicht ermordet, sondern aus Umständen, die im Dunkeln blieben, in letzter Minute freigelassen. Vermutlich war der Tod von Roland Freisler, der seine Verurteilung wegen „Hoch- und Landesverrats“ betrieben hatte, mitursächlich für sein Überleben. Der Pfarrer Paul Schneider, unter dem Ehrennamen „Prediger von Buchenwald“ bekannt, gehörte zum Gießener Wingolf. Ein Jahr lang trug er auch das Band des Marburger Wingolf; aber die dortigen Trinksitten hatten ihm nicht behagt.133 Ab 1934 gehörte Schneider zur Bekennenden Kirche. Bereits am 13. Juni jenes Jahres wurde er erstmals von der Gestapo in Schutzhaft genommen, weil er bei der Beerdigung eines Hitlerjungen auf der Einhaltung des christlichen Ritus bestand.134 Im März 1935 verlas Schneider dann ein Kanzelwort der Bekennenden Kirche. Darin war im Bezug auf den Nationalsozialismus von „Wahnglaube“, „Abgötterei“ und „Antichristentum“ die Rede. Abermals verhaftete ihn die Gestapo. Anfang 1937 schloß Paul Schneider die Mitglieder der „Deutschen Christen“ vom Abendmahl in seiner Gemeinde aus. Im Oktober 1937 wurde er deshalb in Koblenz inhaftiert und später ins KZ Buchenwald gebracht. Von seinem Zellenfester aus ermutigte er dort die Mitgefangenen auf dem Appellplatz, auf Gott zu vertrauen, und predigte laut aus seinem Zellenfenster heraus, weswegen er dort zum „Prediger von Buchenwald“ wurde. Ohne angeklagt oder verurteilt worden zu sein, wurde er am 18. Juli 1939 nach schwerer Folter durch den Lagerarzt Erwin Ding-Schuler mit einer hohen Dosis Strophanthin – einer Giftspritze – ermordet.135 Aktiv stellte sich Werner Sylten, geboren 1893 als Sohn des jüdischen Chemikers Dr. Albert Silberstein,136 dem Treiben der Nationalsozialisten entgegen. Als Student der evangelischen Theologie war er 1913 der Marburger Schwarzburgverbindung Frankonia beigetreten. Bereits 1934 hatte er den Haß des Regimes auf sich gezogen. In Gotha und später in Berlin half er vielen Mitbürgern, die aufgrund ihrer Herkunft verfolgt wurden. Ein Blankovisum des britischen Innenministeriums, das ihn gerettet hätte, lehnte er ab, um „dringenderen Fällen“ den Vortritt zu lassen.137 1941 132 Dietze, Burkart v., Constantin v. Dietze, in: Heinrich, Guido und Schandera, Gunter (Hrsg.), Magdeburger Biographisches Lexikon 19. und 20. Jahrhundert., Magdeburg 2002, S. 133 f. 133 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Schneider_(Pfarrer), hier der Abschnitt: 1918 – 1926: Studium, Vikariat und Hilfsdienst, Abruf am 11. Dezember 2013. 134 Ringshausen, Widerstand und christlicher Glaube, S. 52 ff. 135 Ebd.; Wesseling, Karl-Gunther, Paul Schneider, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 9, Herzberg 1995, Sp. 563 – 568. 136 Silberstein trat 1897 zum christlichen Glauben über und schloß sich der evangelischlutherischen Kirche an. 137 Vollrath, Karsten, „Man kann mir Deutschland neiden, wehren nicht, es als mein Heimatland zu leiben“, in: GDS-Archiv, Bd. 9, 2011, S. 61; bereits 1935 hatte seine Frau angesichts der Verfolgung durch das NS-Regime Selbstmord verübt, s. dazu: ebd., S. 60.
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wurde er von den Nazis beschuldigt, auf einem Flugblatt die Verfolgung von christlich-jüdischen Mitbürgern in Österreich publik gemacht zu haben. Sylten wurde verhaftet, in das KZ Dachau gebracht und am 12. August 1942 im KZ Hartheim bei Linz in der dortigen Gaskammer ermordet.138 VI. Goerdeler als Netzwerker Abschließend sei Carl Friedrich Goerdeler erwähnt, der unermüdliche Netzwerker, der wohl aktivste Mann des zivilen Widerstands.139 Seine Tübinger Kontakte in Korporiertenkreisen waren Teil des Widerstands im schwäbischen Umfeld, über den Goerdeler sein Netzwerk zur Beseitigung des NS-Regimes und zur Schaffung von Strukturen für ein Deutschland nach Hitler wesentlich erweitert hat;140 an hervorgehobener Stelle ist hier die Unternehmerfamilie Bosch zu nennen.141 Goerdeler, der nach einem erfolgreichen Attentat Reichskanzler werden sollte, war der wahrscheinlich profilierteste Kopf des zivilen Widerstands – er gehörte der Akademischen Turnerschaft Eberhardina an, heute Alte Turnerschaft Eberhardina-Markomannia Tübingen. Gemeinsamkeiten wie eine Korporationszugehörigkeit dienten unmittelbar der Bildung des Netzwerks der Widerständigen. Sie sind als ein integraler Teil des „Gesamtnetzwerks Widerstand“ zu sehen, aus dessen Möglichkeiten sich erst der Umsturzversuch vom September 1938 und der nicht-militärische Teil der Verschwörung des 20. Juli 1944 speisten. Goerdeler wurde am 23. Januar 1945 zum Tode verurteil und am 2. Februar in Plötzensee gehenkt. Ein jüngerer Goerdeler-Bruder142 – und Bundesbruder –, Fritz Hermann Goerdeler, war diesem in den Widerstand gefolgt. Bis 1933 war er Bürgermeister von Schneidemühl gewesen, auf Druck der Nationalsozialisten war er 1933 abgesetzt worden. In Königsberg, wo er als Stadtkämmerer fungiert hatte, suchte er spätestens ab 1943 aktiv nach Mitverschwörern gegen Hitler und unterstützte den Bruder, der so Kontakt zu seinem umfangreichen ostpreußischen Netzwerk unterhielt. Nach dem Attentat vom 20. Juli wurde er verhaftet, am 23. Februar 1945 wurde er zum 138
A.a.O., S. 61. Zu Goerdeler siehe: Ritter, Gerhard, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 19844 ; Meyer-Krahmer, Marianne, Carl Goerdeler und sein Weg in den Widerstand. Eine Reise in die Welt meines Vaters, Freiburg 1989; unverzichtbar ist: Tiefensee, Gerd-Dietrich, Dr. Carl und Dr. Fritz Goerdeler, in: Krause / Fritz (Hrsg.), Korporierte im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Wien 1997, S. 184 – 194. 140 Zum Netzwerken, hier betreffend den Solf-Kreis, vgl. Ringshausen, Widerstand und christlicher Glaube, S. 448 f. 141 Scholtyseck, Joachim, Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen Hitler 1933 bis 1945, München 1999, passim, insbes. S. 188 – 223. 142 Die Eltern Goerdeler hatten fünf Kinder: Gustav, Franz, Carl Friedrich, Fritz Hermann und Else. Der Vater, Julius Goerdeler, war übrigens Mitglied der Corps Guestphalia Leipzig und Guestphalia Berlin; vgl. dazu Gerlach, Otto, Kösener Corpslisten 1930, Kassel 1930, Nr. 92 – 134, Nr. 4 – 149. 139
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Tode verurteilt. Er starb am 1. März 1945. An derselben Stelle wie sein Bruder, am Strang von Plötzensee.143 So umfangreich sich diese Auflistung auch ausnehmen mag, sie bleibt unvollständiges Stückwerk. Der Widerstand im Dritten Reich war vielgestaltig; sehr unauffälliges Widerstreben, das gleichwohl wirksam war, steht neben entschiedenem Handeln, ja, in Einzelfällen ostentativem Protest ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Viele Namen sind hier unerwähnt; eine Gesamtschau Korporierter im Widerstand gegen das NS-Regime ist in diesem Rahmen nicht zu leisten. Auch nach dieser durchaus beeindruckenden Reihe von Namen muß klar sein: Der Widerstand im Dritten Reich war zahlenmäßig klein – die Zahl der kleinen und großen Täter, Mittäter und Mitläufer ging in die Millionen. Unter mehr als hunderttausend Korporierten waren es wenige, die gegen Hitler aufstanden. Sie kamen nicht aus einem bestimmten Lager, sie repräsentierten in ihrer Herkunft und ihrem Status vielmehr einen Querschnitt der bürgerlichen Gesellschaft. Damit liegt nahe, daß ihr widerständiges Handeln mit den Werten ihrer Verbindungen in direktem Zusammenhang stand. Andererseits waren es in den allermeisten Fällen aber eben nicht die Verbindungen, die sie zum Widerstand motivierten. Täter und Opfer – beide Seiten gab es, die Angehörigen von Studentenverbindungen bilden keine Ausnahme. Eines darf nicht ohne das Andere genannt werden.
143 Tiefensee, Dr. Carl und Dr. Fritz Goerdeler, S. 184 – 194; Schultze, Harald / Kurschat, Andreas (Hrsg.), „Ihr Ende schaut an …“. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Evangelische Verlagsanstalt 20082, S. 282 f.
Corpsstudentische Kurzbiographien aus dem Widerstand Jede Geschichte, jede Biographie ist höchst individuell zu verstehen und zu werten. Auch im Widerstand, gerade im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Bereitschaft, sich selbst zu opfern, war die eine Seite – nicht jeder hatte Gelegenheit, sie umzusetzen. Um wie Stauffenberg ein Attentat auf Hitler zu versuchen, brauchte derjenige zunächst Zugang zum Diktator. Und so gilt es für viele Bereiche. Die Haltung soll daher für die Aufnahme in diesen Band ausschlaggebend sein und nicht etwa die Bestrafung, die ihm seitens eines mörderischen, sich immer weiter selbst radikalisierenden Regimes gegebenenfalls zugemutet wurde. Alfred Etscheit Geboren wurde Alfred Etscheit am 2. August 1879 in Koblenz; seine Akzeption ist für den 15. Januar 1901 aktenkundig, am 6. Juni 1902 wurde er zum Corpsbursch bei Suevia München rezipiert,1 am 5. November 1903 inaktiviert. Sein juristisches Staatsexamen legte er in Kiel ab; am 26. Oktober 1905 wurde er philistriert. Etscheit scheint zunächst Schwierigkeiten gehabt zu haben, beruflich Fuß zu fassen; im Jahre 1913 fand er eine Anstellung in Duala, damals Deutsch-Kamerun, als Syndikus des Landwirtschaftlichen Verbandes für Nord- und Mittelkamerun. Den Ersten Weltkrieg hat er in Afrika mitgemacht, er geriet dabei in englische Gefangenschaft. 1924 heiratete Etscheit Alexandra v. Malutina. Mit ihr zusammen – sie war ebenfalls promovierte Juristin2 – betrieb er eine Anwaltskanzlei in Berlin, Unter den Linden 34. Dem Paar wurden keine Kinder geschenkt. Alfred Etscheit war ein Gegner des Nationalsozialismus. Er gehörte zum Widerstandskreis um Johanna Solf, Witwe des Politikers und Diplomaten Wilhelm Solf, der 1936 gestorben war. Solf könnte kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf Etscheit aufmerksam geworden sein, da er damals das Reichskolonialamt geleitet hatte, während Etscheit gleichzeitig für die Landwirtschaft in Kamerun zuständig war. Ende 1939 verfaßte Etscheit die erste Version einer Denkschrift: „Die innere und äußere Lage“; auf den 1. Januar 1940 datiert, übermittelte er dieses Papier dem Oberquartiermeister IV, Generalmajor Kurt v. Tippelskirch, das diesen auch er1
KCL, Nr. 112 – 1219. Brief von Alfred Etscheit an Karl-Theodor Schmitz, dat. 24. September 1936, Archiv Corps Suevia München. 2
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reichte.3 Im ersten Satz schreibt er von einer „Sackgasse, in die das deutsche Volk durch die Politik seiner Regierung geraten ist“.4 Insbesondere prangert er den Pakt mit der Sowjetunion, mit „den Bolschewisten“, an.5 Offen kritisiert er Greueltaten des NS-Regimes im eroberten Polen: „Durch zahllose Augenzeugen dringen Schilderungen der in Polen von SS und Polizei verübten Greuel […] in das Volk.“6 Dies sei ebenso unhaltbar wie die Art, in der die doch so gefürchteten Sowjets mit den Menschen in ihrem Machtbereich umgingen. Für den Fall einer Ausweitung des Krieges und der Unmöglichkeit eines Verständigungsfriedens prognostiziert er vage den Untergang der gesamten europäischen Kultur.7 Diese pessimistische und in ihren Forderungen nach „klarer Autorität“ auch schwierige Denkschrift enthielt auch Formulierungen, in denen eine „vom Staat gestiftete Einheit gesellschaftlicher Kräfte“ befürwortet wurde, was aber unter dem Eindruck des eben entbrannten Krieges besser verständlich wird. Nicht zuletzt enthielt das Papier unmißverständliche Kritik am Nationalsozialismus. Etscheit denkt in seinem Traktat expressis verbis über einen Sturz des NS-Regimes nach, der durch feste Zusagen der deutschen Kriegsgegner an die deutsche Opposition, sie zu stützen, möglich gemacht werden sollte, und er spricht vom „gemeinsamen Aufbau der inzwischen in Europa eingetretenen Zerstörung“.8 Das ist entscheidend, wenn es um die Einordnung Etscheits in den Widerstand gegen Hitler geht, insbesondere vor dem Hintergrund, daß generell das Widerstandshandeln „von den zeitgebundenen politischen Voraussetzungen aus“ zu analysieren ist: „Zu letzteren gehörte der grundlegende politische Tatbestand, daß das demokratisch-parlamentarische Prinzip mit Ausnahme der Benelux- und der skandinavischen Staaten auf dem europäischen Kontinent als gescheitert galt und der Widerstand, in dem bezeichnenderweise die liberale Mitte fehlte, nach geschichtlich nicht verbrauchten Alternativen zu greifen versuchte […]“.9 Etscheit war neben seiner anwaltlichen Tätigkeit für das Amt Abwehr tätig10 und hatte Kontakt zu der sehr aktiven Widerstandsgruppe, die sich an dieser Stelle im Oberkommando der Wehrmacht um Hans Oster und Hans Dohnanyi gebildet
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Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, München 19793, S. 189. Bundesarchiv, Militärarchiv, Freiburg i. Br., Nr. N 104/2, dort Abschrift, datiert auf den 1. Januar 1940, abgedr. bei: Groscurth, Helmuth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938 – 1940, Hrsg.: Krausnick, Helmut / Deutsch, Harold C., Stuttgart 1970, S. 514 – 518, ausführlich gewürdigt bei: Mommsen, Hans, Alternative zu Hitler – Studien zur Geschichte des deutschen Widerstands, München 2000, S. 104 ff. 5 Etscheit bei Groscurth, S. 515. 6 Etscheit, a.a.O. 7 Etscheit, S. 519. 8 Hoffmann, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, S. 190. 9 Mommsen, Alternative, S. 8. 10 Moltke, Helmuth James Graf v., Im Land der Gottlosen. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45, München 2009, S. 325, Anm. 1. 4
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hatte.11 Er betrieb einen eigenen Kreis von Systemkritikern, der sich in gewisser Regelmäßigkeit bei ihm eingefunden haben muß,12 Details dazu fehlen. Etscheit hatte die anwaltliche Vertretung des Prälaten und Vorsitzenden der Zentrumspartei, Ludwig Kaas, übernommen.13 Weiter erfaßte er zusammen mit dem ebenfalls in Berlin praktizierenden Psychiater Fred Dubitscher Abstammungsgutachten, mit deren Hilfe 40 bis 50 Menschen vor der möglichen Deportation in ein Vernichtungslager bewahrt werden konnten. Dies bestätigten seine Mitarbeiterin Ursula Wolff sowie weitere Geschäftspartner.14 In den Solf-Kreis hatte sich ein NS-Spitzel eingeschlichen, der Arzt Paul Reckzeh.15 Wahrscheinlich deswegen erfolgte die Verhaftung durch die Gestapo am 26. Januar 1944.16 Am 6. Februar 1944 wurde er zusammen mit Moltke, Kiep, Albrecht Graf v. Bernstorff, Hilger v. Scherpenberg und Richard Kuenzer in den berüchtigten „Prominententrakt“ im Konzentrationslager Ravensbrück verlegt.17 Sie alle wurden dort inhaftiert, obwohl dieses Konzentrationslager eigentlich für weibliche Häftlinge errichtet worden war, nachträglich war dort ein Trakt für politische Gefangene des NS-Regimes eingerichtet worden, nachdem die Zahl der Verhafteten immer weiter stieg. Dubitscher führte seine am 26. Januar 1944 erfolgte Verhaftung durch die Gestapo darauf zurück, daß er in Kontakt mit Etscheit gestanden habe.18 Am 5. September 1944 verstarb Etscheit im Konzentrationslager Flossenbürg.19 (Sebastian Sigler, Hans-Bernd Herzog) 11 Doetz, Susanne, Alltag und Praxis der Zwangssterilisation. Die Berliner Universitätsfrauenklinik unter Walter Stoeckel 1942 – 1944, Berlin 2010 (Diss.), S. 136. 12 Lommatzsch, Erik, Hans Globke und der Nationalsozialismus. Eine Skizze, in: Historisch-Politische Mitteilungen, 10, 2003, S. 124. 13 May, Georg, Ludwig Kaas: der Priester, der Politiker und der Gelehrte aus der Schule von Ulrich Stutz, Amsterdam 1982, Bd. 3, S. 509; vgl.: Nix, Claire (Hrsg.), Heinrich Brüning. Briefe und Gespräche 1934 – 1945, Stuttgart 1974, S. 97 f.; Deutsch, Harold Charles, The conspiracy against Hitler and the twilight war, Minnesota (USA) 1968, S. 116, 131 ff., 216, 259, 288. 14 Entnazifizierungskommission Berlin-Steglitz, 5. Dezember 1947, LAB, C-Rep., 031 – 02 – 12, Nr. 19: Begründung im Fall Dubitscher; Landesarchiv NRW, NW Pe-5780, Bl. 17,14. Januar 1948: „Feststellung zu den Angriffen gegen Dubitscher“. 15 Moltke, Im Land der Gottlosen, S. 19. 16 Brief Richard Carl Wolff an Lippmann, dat. 13. November 1944, Archiv Corps Suevia München. 17 Moltke, Im Land der Gottlosen, S. 20, S. 318; Brakelmann, Günter, Helmuth James v. Moltke. Eine Biographie, München 2007, S. 315. 18 Mommsen, Alternative, S. 105; Doetz, Susanne, Alltag und Praxis, S. 136 f.: Dubitscher hatte im Jahre 1943 bei Etscheit um Kontakte zum Widerstand nachgesucht, und Etscheit hatte ihn an die in der Schweiz aktive Gruppe um den ehemaligen Reichskanzler Joseph Wirth vermittelt. 19 Brief Ursula Wolff an Kastl, dat. 30. Oktober 1944, Archiv Corps Suevia München; vgl. Lommatzsch, Globke, S. 124.
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Wolfgang Bonde Wolfgang Bonde, 1902 im thüringischen Altenburg geboren, wurde im Alter von 18 Jahren bei Bremensia Göttingen aktiv.20 Nach seinem Referendarexamen in Jena und seiner Promotion zum Dr. jur. war er von 1928 bis 1932 als Gerichtsassessor in Weimar tätig. 1938 ließ er sich als Rechtsanwalt in Berlin nieder, später wurde er auch als Notar bestellt. Von 1940 bis 1944 war er an der Deutschen Gesandtschaft in Stockholm als Wissenschaftlicher Hilfsangestellter (WHA) in der Kultur- und in der Informationsabteilung tätigt. Am 24. Oktober 1944 wurde er anlässlich einer vom Auswärtigen Amt angeordneten Dienstreise in Berlin von der Gestapo verhaftet und zunächst „als Defätist“ in das Gestapo-Gefängnis in der Prinz-AlbrechtStraße eingeliefert. Von dort kam er im Dezember 1944 in das KZ Sachsenhausen und im Februar 1945 in das KZ Bergen-Belsen. Dort ist er kurz vor Kriegsende gestorben. Bonde galt als entschiedener Gegner des NS- Regimes. Die Nachforschungen nach dem Schicksal von Wolfgang Bonde kamen in den Wirren der Nachkriegszeit zunächst nicht voran. Sie konnten erst zu einem Abschluss gelangen, als das Auswärtige Amt wieder auf seine 1945 in die sowjetische Besatzungszone geratenen und ihm von der DDR niemals zugänglich gemachten Akten zurückgreifen konnte. Aus den vorhandenen Dokumenten ergab sich, dass der Drahterlass, mit dem Bonde nach Berlin zitiert wurde, „auf Wunsch des Gesandten Dr. Six“ ergangen war. Six, SS-Brigadeführer, war von 1943 bis 1945 Leiter der Kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes und bis dahin Angehöriger des Reichssicherheitshauptamts und als solcher 1941/42 Leiter des Einsatzgruppen-Vorkommandos B in der Sowjetunion; er wurde 1948 zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er war es, der die Verhaftung Bondes nach seinem Eintreffen in Gang setzte. An der Gesandtschaft in Stockholm gab es nach den Akten offenbar oppositionelle Strömungen. Der Londoner „Daily Express“ hatte am 13. Mai 1944 einen Bericht seines Korrespondenten über die Tätigkeit und persönlichen Verhältnisse von Gesandtschaftsangehörigen gebracht, in dem diesen Sympathien für westliche Werte bescheinigt wurden. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, ordnete schriftlich eine Untersuchung an; sein Vertreter Ernst Kaltenbrunner gab eine ausführliche Stellungnahme ab, in der er „manche der Angaben“ des „Daily Express“ als zutreffend bezeichnete.21 Mit einiger Verzögerung, am 6. Dezember 1944, teilte die inzwischen zum wahllosen Morden übergehende Gestapo dem Auswärtigen Amt unter dem Dienstvermerk „Geheim“ mit, dass Bonde „durch Zeugenaussagen überführt [worden sei], sich in Stockholm immer wieder staatsfeindlich geäußert zu haben“. Bonde wurde konkret zur Last gelegt, erklärt zu haben, dass das Recht im
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KCL, Nr. 39 – 1194. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, R 100690.
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Jahre 1933 in Deutschland abgeschafft worden und die deutsche Regierung eine „Gangsterregierung“ sei.22 Bei seinen Kontakten zu schwedischen Bürgern machte Bonde in der Tat kein Hehl aus seiner politischen Einstellung, weil er ein besseres Deutschland vertreten wollte. Von dortigen Zeugen ist bekannt, dass er „seine typische ,anti-NS-Einstellung‘ in einer freimütigen und offenen Art äußerte“.23 Von schwedischen Gesprächspartnern wurde das als mutig empfunden, weil zu jener Zeit in Schweden offene Kritik von Deutschen für sie als gefährlich angesehen wurde. Es steht damit fest, dass Bonde aus politischen Gründen verhaftet wurde. In Stockholmer deutschen Kreisen war allgemein bekannt, dass ein Ruf nach Deutschland den Kopf kosten konnte.24 So weigerte sich ein Mitglied der Stockholmer Handelskammer, der in jenen Tagen nach Berlin reisen sollte, es zu tun; später erfuhr er, dass man gegen ihn wegen „Feindverkehrs“ ermittelte. Kurz vor seiner Verhaftung war ein Kollege Bondes in Stockholm „abgesprungen“, als er sich dienstlich in der Zentrale melden sollte. Obwohl er die Gefahr erkannte, sah Bonde wohl keinen anderen Ausweg, als der Dienstreise-Anordnung nachzukommen. Er hat seine Ablehnung des NS-Regimes wirksam vertreten, und dafür mit dem Leben gezahlt. (Ernst F. Jung) Karl Wilhelm v. Dewitz Nicht immer war es ein Engagement im engeren Kreis des Widerstandes, das zur Verhaftung führte – und trotzdem stand am Ende ein Todesurteil. So erging es Karl Wilhelm Dietrich Ernst v. Dewitz, genannt v. Krebs, einem lupenreinen preußischen Offizier, geboren 1887, der einige Semester Jura studiert hatte und 1905 in Heidelberg Mitglied des Corps Saxo-Borussia geworden war, 1906 wurde er dort rezipiert.25 Dewitz war Rechtsritter des Johanniterordens, tief gläubig und von Anfang an erbitterter Gegner des Nationalsozialismus.26 Dennoch erfüllte er seine Pflicht als Offizier, auch im Zweiten Weltkrieg. Er war nie in einem Truppenteil eingesetzt, in dem er auf Aktivisten des Widerstands gegen Hitler treffen konnte, und er setzte seine Gegnerschaft zum NS-Staat auch nicht sichtbar um. Dewitz ließ sich weder beugen noch korrumpieren. Gegen Ende seiner bis dahin langen und ruhmvollen Karriere geriet er im Oktober 1944 während eines Einsatzes 22 Dieses Schreiben der Gestapo vom 6. Dezember 1944 ist nicht überliefert, es wird jedoch in einem Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an das Auswärtige Amt vom 29. März 1945 auf ein „Hies[iges] Schreiben v. 6. 12. 1944 – IV A 1 b 1 – 3787/44 g“ Bezug genommen. Die Zitate „durch Zeugenaussagen …“ und „Gangsterregierung“ stammen aus dem Entwurf für ein Schreiben des AA an den Gesandten in Stockholm Thomsen aus dem April 1945, vgl. dazu: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Personalakte 1481, „Bonde“. 23 Mitteilung Botschafter a. D. Dr. Karl Wand, Stockholm. 24 Vgl. dazu den Beitrag über Wilhelm v. Flügge in diesem Band. 25 Gerlach, Otto, Kösener Corpsliste 1960, Kassel 1960 (künftig: KCL), Nr. 66 – 1178; Ehrengedächtnisbuch der Familie v. Dewitz, Eigendruck im Selbstverlag, 1956, S. 13. 26 Ehrengedächtnisbuch v. Dewitz., S. 14.
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auf dem Balkan in serbische Gefangenschaft. Er forderte aus dem Arrest seine – im übrigen aus der Not nach Partisanenart zusammengestellte – Truppe auf, sich nicht bis zum letzten Mann aufreiben zu lassen, sondern ihre Stellung zu räumen. Doch ein deutscher Gegenstoß entsetzte die eingekesselte, zusammengewürfelte Truppe, der Befehl wurde in diesem Zusammenhang dem Oberkommando offenbar. Dewitz wurde auf Betreiben der deutschen Seite gegen 20 jugoslawische Partisanen ausgetauscht und vor ein Kriegsgericht gestellt. Er hätte seinen Kopf wahrscheinlich retten können, wenn er mitgeteilt hätte, daß der Befehl unter Zwang gegeben worden war. Danach aber hätte er sich offen zu Hitler als oberstem Befehlshaber bekennen müssen, und das hätte er nie getan. Wegen seiner entschlossenen Gegnerschaft zu Hitler entlastete er sich selbst nicht. Selbst das Kriegsgericht, dessen Todesurteil unvermeidlich war, wollte noch ein Gnadengesuch erwirken, doch Generalfeldmarschall Keitel lehnte ab.27 So wurde Karl v. Dewitz am 19. April 1945 in Torgau standrechtlich erschossen,28 am selben Tag, an dem US-Truppen Magdeburg erreichten. Wenige Tage später befreiten die Amerikaner auch Torgau – zu spät für Karl v. Dewitz. (Jobst v. Dewitz)
Alexander v. Kameke Alexander Leopold Georg v. Kameke wurde am 3. Oktober 1887 in Berlin geboren. Er studierte Rechtswissenschaften in Greifswald, Lausanne, Göttingen und Breslau. Seine akademische Ausbildung schloß er mit der Promotion zum Dr. jur. ab. Bereits in seinem ersten Studiensemester, Winter 1906/07, war er beim Corps Pomerania zu Greifswald aktiv geworden, im Wintersemester 1908/09 wurde er inaktiviert.29 Kameke war Referendar a. D., Leutnant d. R., Ehrenritter der Pommerschen Genossenschaft des Johanniterordens und lebte nach Beendigung seiner Studien als Gutsbesitzer auf Varchminshagen bei Köslin. Mit seiner Frau Margot, geborene v. Oven, verwitwete Schloenbach, hatte er zwei Söhne.30 Im Ersten Weltkrieg wurde Alexander v. Kameke, der zu jener Zeit als Leutnant bei den Pasewalker Kürassieren im Feld stand, mehrfach schwer verwundet. Er geriet, noch nicht genesen, in russische Gefangenschaft. Unter dem Eindruck des Krieges und der Leiden als Verwundeter in Gefangenschaft hatte er gelobt, sein ganzes weiteres Leben Gott zu widmen. Er war spätestens seitdem in der Tat ein sehr engagierter Christ, ab 1933 gehörte er zur Bekennenden Kirche. Der Kirchenkampf des NS-Regimes hat ihn tief erschüttert. Er argwöhnte großes Unheil, falls es nicht gelänge, die Politik aus der Kirche zu verbannen. Wie viele Menschen, die guten Glaubens waren, war er davon überzeugt, daß der Führer von den Umtrieben seiner Schergen nichts oder zumindest nicht alles wisse. Er wollte den 27
Ebd., S. 15. A.a.O. 29 KCL, Nr. 53 – 599; Stammrollen der Pomerania Nr. 528. 30 Genealogisches Handbuch des Adels Bd. 34, 1965 S. 153. 28
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diktatorischen Führer daher auf die von ihm erkannte Gefahr aufmerksam machen, nicht in Erwägung ziehend, daß Unrecht, Ausgrenzung und tausendfacher Mord von Hitler und seinem Umfeld ausgelöst worden waren. So verfaßte er eine Denkschrift, die er Ende Juli 1938 Hitler bei einer Besichtigung des Truppenübungsplatzes Groß Born überreichen wollte. Bei dem Versuch, sich der Diktator zu nähern, wurde er von der Gestapo festgenommen, seine Denkschrift wurde beschlagnahmt. Nach zweimonatiger Haft im Gestapo-Keller in Köslin wurde er mit der Verwarnung entlassen, daß es ihm nicht wieder so „glimpflich“ ergehen werde, wenn er je wieder ähnliches zu tun versuchen würde. Doch Kameke stritt weiter für seinen Glauben. Nach einer Sonnenwendfeier der Hitlerjugend am 22. Juni 1939 protestierte er laut gegen eine Rede des Kreisleiters der NSDAP, der von der „jahrhundertelangen Irreführung des deutschen Volkes durch das Christentum“ gesprochen hatte, und bat die anwesenden jungen Menschen, doch weiter an der Kirche festzuhalten und das Wort Gottes zu glauben. Daraufhin überprüften zwei Gestapo-Beamte seine Personalien. Nach Lesart des Regimes war er damit wieder „auffällig“ geworden. Zwei Tage später wurde er erneut verhaftet und zunächst zur Untersuchung seines Geisteszustandes in die Irrenanstalt in Lauenburg in Pommern gebracht, doch dort erklärte man ihn für „völlig normal“. Daraufhin ließ ihn die Gestapo in eine ähnliche Einrichtung in Treptow an der Rega einweisen. Nachdem ihn auch dort die Ärzte für geistig gesund erklärt hatten, wurde er in das Gefängnis in Stettin verlegt. Der Gefängnisarzt hielt ihn wegen seiner schweren Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg nicht „für KZfähig“. Nachdem er sich geweigert hatte, Urfehde zu schwören, also ein Schriftstück zu unterzeichnen, in dem er sich darauf festlegt hätte, nie wieder Kritik am NS-Staat zu äußern, wurde seiner Frau nahegelegt, die Unterbringung in einer Heilanstalt zu beantragen. Sie lehnte diese Zumutung „empört“ und „energisch“ ab.31 Keine Ablehnung, kein Intervention, keine Bitte half. Alexander v. Kameke wurde ab 1939 von einer Heilanstalt in die andere verlegt, wobei die behandelnden Ärzte weiterhin immer wieder feststellten, daß er völlig gesund sei. In einer Fürbittenliste, Anlage zu einem Vermerk der Reichskanzlei vom 1. Oktober 1939, wurde Kameke als „in Haft“ genannt.32 Diese Liste stammt wahrscheinlich von einem Fürbittengottesdienst der Bekennenden Kirche für Inhaftierte, wie sie regelmäßig verlesen wurden. Nach 1939 konnten solche gottesdienstlichen Fürbitten für Kameke jedoch nicht mehr abgehalten werden. Sie wurden unterbunden, da er nach offizieller Lesart nicht inhaftiert, sondern krank war. Fünf lange Jahre dauerte die Odyssee des Alexander v. Kameke. Zuletzt kam er in die psychiatrische Abteilung des Landeskrankenhauses in Meseritz-Obrawalde. 31
Michaelis, Wilhelm, Die Familie von Kameke 1298 – 1971, ergänzt durch Karl-Friedrich v. Kameke, in: Deutsches Familienarchiv, Bd. 49, Neustadt an der Aisch 1972, S. 246. 32 Röhm-Thierfelder, Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz, Stuttgart 1982, S. 8.
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Dort konnte ihn seine Frau vom 18. bis 21. Juni 1944 besuchen – sie sollte ihn danach nicht mehr lebend sehen. Bei diesem Besuch hat Kameke die Befürchtung geäußert, daß er bei nächster Gelegenheit „dran glauben“ müsse, denn er habe einem Arzt gegenüber protestiert, daß dieser jeden Tag 40 bis 50 Kranke beziehungsweise Gefangene töte. Seine Frau war nach dem 20. Juli 1944 fester denn je davon überzeugt, daß Alexander v. Kameke sich in akuter Lebensgefahr befinde, denn „nun war ja der Anlaß gegeben, ihn zu beseitigen“.33 Am 13. August erhielt Frau v. Kameke über ihren Vetter Georg ein Schreiben der ärztlichen Leitung in Meseritz-Obrawalde an den General v. Knobelsdorff-Pasewalk, der sich wenige Wochen zuvor fürsorglich nach Alexander v. Kameke erkundigt hatte. In diesem Brief schrieb der leitende Arzt,34 Kameke sei als „sensibler Psychopath, nicht jedoch als Geisteskranker anzusehen, weil gegen ihn der Vorwurf erhoben worden war, unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen aufgestellt zu haben, welche in der Öffentlichkeit nicht geduldet werden könnten“. Für Margot v. Kameke war es ein Schicksalstag. Eine halbe Stunde nach Eintreffen dieses Briefes klingelte der Postbote. Er brachte ein Telegramm, dem zu entnehmen war, daß ihr Mann einem Herzschlag erlegen sei. Am 11. August 1944, zwei Tage zuvor, war Alexander v. Kameke gestorben. Seine Witwe wußte bei Erhalt der Nachricht sofort, was die Wahrheit sein mußte. An einen plötzlichen Herzschlag ohne Fremdeinwirkung glaubte sie keinen Moment. Ein Vetter, L. G. v. Kameke, konnte wenig später ermitteln, daß die amtliche Lesart des Todes von Alexander v. Kameke war, er sei „in Bereinigung schwebender Verfahren“ gestorben. Damit war klar, daß er ermordet worden war.35 Das NS-Regime plante im Anschluß an die Ermordung Alexander v. Kamekes auch die Enteignung des Gutes Varchminshagen. Außerdem war beabsichtigt, seine Familie in Sippenhaft zu nehmen. Nach einer Intervention des Schwiegersohns von Frau v. Kameke wurden diese Maßnahmen jedoch „bis zum Kriegsschluß“ aufgeschoben. Der stellvertretende Kreisleiter von Köslin erklärte in diesem Zusammenhang, daß v. Kameke selbst zwar unschädlich gemacht worden sei, „daß aber die Gesamtaktion gegen ihn und seine Familie noch zum Abschluß kommen“ müsse.36 Dies, immerhin, wurde durch das Kriegsende verhindert. (Wolfgang v. der Groeben)
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Michaelis, Die Familie v. Kameke, S. 246. Schreiben des ärztlichen Leiters der Psychiatrischen Abteilung der Landeskrankenanstalten Meseritz-Obrawalde vom 15. Juli 1944. 35 Die Familie v. Kameke, Sonderdruck aus: Deutschen Familienarchiv, Bd. 49, S. 55 ff., hier: Eidesstattliche Erklärung des Schwiegersohns von Frau v. Kameke, Dr. Hermann Ringsdorff, vom 29. Januar 1949; vgl.: Schmettow, Matthias Gottfried v., Gedenkbuch des deutschen Adels, Bd. 1, Limburg an der Lahn 1967, S. 158. 36 Michaelis, Die Familie v. Kameke, S. 247. 34
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Gotthard v. Falkenhausen Gotthard Freiherr v. Falkenhausen wurde am 20. Januar 1899 in Steinkirchen in der Niederlausitz geboren. Nachdem er noch am 1. Weltkrieg teilgenommen hatte, studierte er in Göttingen und Halle Rechtswissenschaften. In den Jahren 1919 und 1920 war er beim Corps Saxonia, dem auch schon sein Vater angehört hatte, aktiv. Er wurde am 8. November 1919 mit der Verleihung des Bandes ins engere Corps rezipiert und war Fuchsmajor.37 Nach dem Gerichtsassessorexamen und der Promotion zum Dr. jur. wurde er Bankkaufmann. 1938 ging er als persönlich haftender Gesellschafter zum Privatbankhaus Burkhardt & Co.38 Falkenhausen war ein aktiver Gegner des Nationalsozialismus, der über vielfältige Verbindungen zu Oppositionsgruppen verfügte.39 Nach Ausbruch des Krieges beschäftige ihn die Frage, wie man zu einem Frieden kommen könne, bevor das Chaos über Europa hereinbräche. Auf eigenen Wunsch zum Oberkommando des Heeres (OKH) eingezogen, knüpfte er Verbindungen zu gleichgesinnten Freunden und Bekannten, darunter auch seine Corpsbrüder Hasso v. Etzdorf40 und FritzDietlof Graf v. der Schulenburg.41 Im Juli 1940 wurde Falkenhausen zum Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich als Bankenkommissar nach Paris versetzt, wo er bis zu seiner Verhaftung blieb. Er lernte dort Caesar v. Hofacker kennen und teilte zeitweise eine Wohnung mit ihm. Gemeinsame Interessen und Anschauungen, dazu die Erbitterung über die deutsche Täuschungs- und Ausplünderungspolitik unter der Maske einer Verständigungsbereitschaft in den westlichen Ländern – das hatte sie zusammengeführt. Mit Hofacker war er sich schon bald darüber einig, dass das Hitler-Regime um jeden Preis beseitigt werden müsse. Seine zivile Stellung gab Falkenhausen weitgehende Bewegungsfreiheit, die er auch im Interesse des Widerstandes nutzte. Hofacker wurde im Herbst 1943 Adjutant des Militärbefehlshabers General v. Stülpnagel,42 Falkenhausen beriet ihn weiterhin in wirtschaftlichen und politischen Fragen. Gemeinsam arbeiteten sie an Plänen für die Ausschaltung der SS und anderer Organisationen im Falle eines Umsturzes in Berlin. Die Pläne wurden auch mit Schulenburg besprochen. 37 Verzeichnis der Mitglieder des Corps Saxonia zu Göttingen 1844 – 2007, Nr. 662, KCL 45 – 658. 38 Später firmierte diese Bank unter Trinkhaus und Burkhardt. Seit 1967 war Falkenhausen dort Vorsitzender des Verwaltungsrates, außerdem Inhaber vieler Ehrenämter, Präsident der Industrie- und Handelskammer Essen sowie Präsident und dann Ehrenmitglied des Vorstandes des Bundesverbandes der Deutschen Banken. Falkenhausen wurde mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet; starb am 1. November 1983 in Essen. 39 Der Bericht beruht im Wesentlichen auf seinen „Erinnerungen an die deutsche Widerstandsbewegung“, nicht veröffentlichtes Manuskript, 1945. 40 KCL, Nr. 45 – 655. 41 KCL, Nr. 45 – 677. 42 Stülpnagel wurde am 30. August 1944 hingerichtet.
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Falkenhausen beschreibt eindrücklich die Motivation der „Pariser Gruppe“: „Es bestand kein Zweifel, dass jede sich bietende Gelegenheit zum Attentat ausgenutzt werden müsste, obwohl klar war, dass eine neue Dolchstoßlegende alle um Ehre und Reputation bringen konnte. (…) Wir glaubten aber, dieses unvermeidliche Risiko in Kauf nehmen zu müssen: Es durfte bei keinem Beteiligten auch nur einen Augenblick der Gedanke an persönlichen Ruhm oder Stellung aufkommen, sondern es konnte nur darum gehen, dem Volk weitere Opfer an Blut und materiellen Gütern zu ersparen, die die unvermeidliche Katastrophe doch nicht hätten abwenden können.“43 Falkenhausen hatte vielfältige Kontakte zu Persönlichkeiten des Widerstandes, unter anderem zu Stauffenberg, Goerdeler, Moltke, Üxküll, Plettenberg. In seinen Erinnerungen berichtet er über viele Gespräche zur ethischen Problematik des Widerstandes und die dabei deutlich gewordenen sehr differenzierten Auffassungen und Erwartungen der einzelnen Kreise und Gruppen. Deutlich wird auch die Enttäuschung über das Unverständnis der Alliierten: „Wir sprachen dabei auch über die Resonanz, die unsere Pläne im Ausland, insbesondere in England, bisher gefunden hatten, und stellten fest, wie verhängnisvoll für die Tätigkeit der Widerstandsbewegung die völlige Verständnislosigkeit auf der anderen Seite war.“44 Auch während des Krieges gab es vielfältige Versuche, zu englischen und amerikanischen Stellen in Kontakt zu kommen: „Mir ist kein Fall bekannt geworden, in dem von der anderen Seite den Vertretern eines neuen Deutschland eine Chance gegeben worden wäre. Das sterile Schlagwort von ,unconditional surrender‘ beherrschte die alliierte Politik. Jede deutsche Regierung, die nach Hitlers Sturz die Macht übernommen hätte, wäre mit leeren Händen, gleichsam als Vertreter einer Konkursmasse vor das deutsche Volk getreten, ohne eine Zusage für die deutsche Zukunft, mit der sie den Vertretern einer Dolchstoßlegende hätte entgegentreten können.“45 Nach der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 wurden in der Pariser Gruppe die Chancen einer selbständigen Aktion des Westheeres diskutiert. Auf Veranlassung Hofackers erarbeitete Falkenhausen im Juli 1944 eine Denkschrift für den Militärbefehlshaber in Paris, General Carl-Heinrich v. Stülpnagel, in der dargelegt wurde, daß eine selbständige Aktion des Westheeres nur nach einem Schlag in Berlin möglich sei. In diesem Fall müßten von den Militärbefehlshabern sofort alle Angehörigen der SS- und SD-Stellen in Frankreich verhaftet und alle sonstigen NS-Organisationen einschließlich der deutschen Botschaft außer Funktion gesetzt werden. Gleichzeitig müsse der Oberbefehlshaber West um einen sofortigen Waffenstillstand nachsuchen. Dieser könne im Hinblick auf die militärische Lage nur in einer Kapitulation münden. In den Verhandlungen solle versucht werden zu erreichen, daß alle nicht zur Wehrmacht gehörenden Deutschen unbehelligt abziehen können, die Bombenangriffe in Deutschland und den besetz43
„Erinnerungen“, 1945. „Erinnerungen“, 1945. 45 „Erinnerungen“, 1945, vgl. dazu: Beitrag über Adam v. Trott zu Solz in diesem Band. 44
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ten Gebieten sofort eingestellt werden. Die Verwaltung der Westgebiete sollte geordnet an britische oder amerikanische, nicht aber an De Gaulle und die Franzosen übergeben und die Genfer Konvention in den Westgebieten und beim Einmarsch in Deutschland beachtet werden. Dafür sollte den Alliierten eine weitgehende Unterstützung durch die deutschen Kommandobehörden im Interesse eines möglichst schnellen und weiten Vordringens nach Osten angeboten werden. Am 19. Juli 1944 wurde Falkenhausen von Hofacker nach dessen letztem Gespräch mit Stauffenberg in Berlin, das tags zuvor stattgefunden hatte, über den bevorstehenden Anschlag auf Hitler informiert. Ein Code, der die Beseitigung der SS in Paris auslösen sollte, wurde vereinbart. Die Maßnahmen, die nach Eintreffen des Stichworts in Paris getroffen werden sollten, wurden durchgesprochen. Hofacker sollte die Leitung der politischen Beratung des Militärbefehlshabers übernehmen, Falkenhausen sollte ihn dabei unterstützen, insbesondere selbständig den Presse- und Informationsdienst leiten und unmittelbar nach der Machtübernahme Kommuniqués für die deutsche und französische Presse herausgeben. Den 20. Juli 1944 verbrachte Falkenhausen in seinem Büro. Gegen Abend wurde er von Hofacker über den Verlauf des Tages und die in Paris angelaufenen Maßnahmen zur Durchführung des Walküre-Befehls informiert. Auch in den folgenden Tagen ging er zum Schein seinen normalen Geschäften nach. Angebote französischer Freunde, ihm beim Untertauchen zu helfen, lehnte er im Hinblick auf mögliche Gefährdungen seiner Familie ab. Am 25. Juli 1994 wurde er von der Gestapo verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis nach Berlin-Moabit gebracht.46 Nach langwierigen und nervenaufreibenden Vernehmungen wurde er am 12. Januar 1945 vom Volksgerichtshof unter Freisler mangels Beweisen freigesprochen. Er wurde aber nicht aus der Haft entlassen, sondern blieb bis Ende Februar 1945 in Gestapohaft,47 der danach strafweise vorgesehene Fronteinsatz48 unterblieb nur wegen seines schlechten Gesundheitszustands. (Wolfgang v. der Groeben, Sebastian Sigler) Max v. Ruperti Viele, die wirksam hätten Widerstand leisten können, wurden schon früh aus dem Weg geräumt. So zum Beispiel Max v. Ruperti, der 1872 in Grubno, Westpreußen, zur Welt gekommen war. Nach dem Abitur am Gymnasium Kulm an der Weichsel studierte Ruperti Rechtswissenschaft in Heidelberg. 1892 wurde er vom Corps Saxo-Borussia Heidelberg rezipiert.49 Nach den Examina und der Referendarausbildung trat Ruperti in preußischen Staatsdienst. 1908 wurde er Landrat des Kreises Pleß in Oberschlesien. Als Pleß 1922 an Polen abgetreten werden mußte, wechselte Ruperti als Regierungsvizepräsident nach Breslau und zwei Jahre später 46
Hoffmann, Peter, Widerstand – Staatsstreich – Attentat, München 19793, S. 638. Ebd., S. 868, Anm. 72. 48 KCL, Nr. 66 – 998. 49 KCL, Nr. 66 – 998. 47
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als Regierungspräsident nach Allenstein. Eine seiner ersten Amtshandlungen war dort die Grundsteinlegung für das Tannenberg-Denkmal. Adolf Hitler hatte die Anlage schon früh für seine Propaganda genutzt. Einen im Jahre 1932 geplanten, natürlich der Machtergreifung dienenden Auftritt der NSDAP im TannenbergDenkmal untersagte Ruperti, weil „sie dem Charakter der Überparteilichkeit des Denkmals entgegenstehe.“ Nach einem Bericht des „Völkischen Beobachters“ vom 21. April 1932 „legte Hitler nur einen Kranz nieder und verweilte in stillem Gedenken einige Minuten bei seinen toten Brüdern“. Der nachmalige Diktator hatte nachgegeben, doch er vergaß nicht. Im März 1933 „revanchierte“ sich Hitler, indem er den 61jährigen Ruperti telegraphisch aus seinem Amt entließ. Ruperti konnte sich nicht einmal von den nachgeordneten Stellen verabschieden. Die Entlassung wurde allseits bedauert. Der Kreis Pleß erinnerte an die „so ungeheure Arbeit, die im Kriege geleistet“ worden sei. Der Bischof von Ermland bedauerte die Entlassung „herzlich“.50 (Rüdiger Döhler) Volkmar Herntrich Volkmar Herntrich stammte aus einer alten Pastorenfamilie. Daher war der Studiengang Theologie für ihn vorgezeichnet. So schrieb er sich im Jahre 1927 in Tübingen ein, wo er dem Corps Borussia Tübingen beitrat.51 Später studierte er in Berlin bei Reinhold Seeberg und Ernst Sellin, bei dem er promovierte; eine Fortsetzung der Studien in Kiel schloß sich an. 1930 legte er sein Examen ab, bereits 1933 lehrte er als Privatdozent an der Kieler Universität. Bereits ab der Machtergreifung Hitlers, wahrscheinlich punktuell schon früher, kam Herntrich mit den Nationalsozialisten in Konflikt. Er kritisiert Rosenberg, der von der „Gottgleichheit der deutschen Seele“ sprach, offen und unmißverständlich.52 Weiter prophezeite er eine harte Auseinandersetzung zwischen christlichem Glauben und dem „neudeutschen Heidentum“, wie er die NS-Ideologie nannte – ja, er äußerte bereits 1933 Überraschung darüber, daß es dazu nicht schon gekommen sei.53 Herntrich gehörte zu den Begründern des Pfarrernotbundes in SchleswigHolstein und war einer der Köpfe der Bekennenden Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus. Bereits kurz nach seiner Habilitation wurde ihm im Jahre 1934 die Lehrbefugnis entzogen. Daraufhin wurde er Dozent an der theologischen Hochschule in Bethel, arbeitete eng mit dem berühmten Friedrich von Bodelschwingh zusammen und wurde von diesem – wie mancher NS-Gegner – beschützt, so gut es ging. Herntrich 50
Ohne wieder ein öffentliches Amt zu bekleiden, lebte Ruperti später wie viele heimatvertriebene Ostpreußen in Göttingen. Er starb schon bald: 1945 in Einbeck. 51 KCL, Nr. 126 – 542. 52 Herntrich, Volkmar, Völkische Religiosität und Altes Testament, Gütersloh 1933, S. 13; Rosenberg, Alfred, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, S. 232. 53 Herntrich, Völkische Religiosität, S. 15.
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hielt auch weiterhin – von 1934 bis 1939 – zahlreiche Gastvorträge gegen die „neuheidnische“ Religiosität in der NS-Zeit und damit gegen die massive Umwertung quasi aller wesentlichen Inhalte der Bibel. Bei Hitler konstatierte er eine „Überspannung des Volkstumsgedankens“; diese Kritik äußerte er kaum verhohlen.54 Verhöre durch die Gestapo, mehrfache Verhaftung und schließlich ein Gefängnisaufenthalt waren die Folge.55 Ab 1940 fungierte Volkmar Herntrich als Direktor des Evangelischen Reichsverbandes der Weiblichen Jugend Deutschlands, dem Burckhardthaus in BerlinDahlem. Er enthielt sich nun öffentlicher Kritik; 1942 wurde er in Hamburg zum Hauptpastor der St. Katharinenkirche gewählt. An den späteren Attentatsplänen gegen Hitler nahm er keinen Anteil, obwohl er ein überzeugter NS-Gegner war – dies aber auch deswegen, weil ihm jedweder Bezug zu Militär und Diplomatie fehlte. Ein Zugang zu relevanten Personen und militärischen Örtlichkeiten – am besten: zu Hitler selbst – war ihm als Theologe versperrt.56 (Sebastian Sigler) Namen und Zeichen – pars pro toto Stellvertretend für viele, die sich nicht mit dem Nationalsozialismus arrangieren wollten, die sich widerständig verhielten, die zu Opfern wurden, seien hier noch einige Corpsstudenten genannt – ihre Namen stehen für all diejenigen, die im Verborgenen standgehalten haben, die sich trotz allem nicht verbiegen ließen. Eine Auflistung aus einer höchst komplexen und teils in sich widersprüchlichen Epoche wie dem Nationalsozialismus kann kaum je vollständig sein. Der Landwirt Herko v. Hayessen, 1926 bei Guestphalia Halle rezipiert, starb 1942 im KZ Oranienburg.57 Er war denunziert worden, eine Liebesbeziehung zu einer auf seinem Gut, der Domäne Bornstedt, eingesetzten „Fremdarbeiterin Ost“ unterhalten zu haben,58 doch dieser Vorwurf blieb unbewiesen; es könnte sich um 54
Ebd., S. 20. Vgl. dazu http://de.wikipedia.org/wiki/Volkmar_Herntrich; Abruf am 8. Januar 2014; leider ohne weiterführende Belege. 56 Ab 1945 engagierte Herntrich sich in vielen hohen Kirchenämtern im In- und Ausland. Symbolhaft der Wiederaufbau „seiner“ Hamburger Katharinenkirche, die durch den Krieg quasi komplett zerstört worden war. An der von ihm mitgegründeten Kirchlichen Hochschule Hamburg, der späteren Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Hamburg, wurde er Rektor und Professor für alttestamentliche Exegese. Mehrere Universitäten verliehen ihm die Ehrendoktorwürde. Herntrich starb im September 1958 bei einem Autounfall in der damaligen DDR. Sein Auto prallte ungebremst auf einen unbeleuchteten sowjetischen Konvoi, der bei Nauen, westlich von Berlin, eine Landstraße blockierte. 57 KCL 1960, Nr. 116 – 1181; Hayessen ist nicht zu verwechseln mit dem Offizier Egbert Herko v. Hayessen, der am Aufstand des 20. Juli unter Graf Stauffenberg beteiligt war. 58 Zu den gesetzlichen Vorschriften und gesellschaftlichen Forderungen seitens des nationalsozialistischen Regimes gegenüber sogenannten Fremdarbeiterinnen, vor allem denen aus Polen, vgl.: Gellately, Robert, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung 55
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eine böswillige Verleumdung handeln. Erwiesen ist dagegen, daß v. Hayessen sich dem Gebot der NS-Machthaber, Zwangsarbeitern ein menschliches Miteinander zu verweigern, widersetzt hat.59 Georg Diederichs, aktiv bei Hercynia Göttingen,60 als niedersächsischer Ministerpräsident bekannt, wurde im Januar 1935 verhaftet und am 18. Juni zu einem Jahr Haft verurteilt, die er im Gefängnis Fuhlsbüttel verbüßte61; anschließend wurde er ohne Urteil mehrere Monate im Konzentrationslager Esterwegen interniert. Diederichs, ein Sozialdemokrat, hatte Geld für in Not geratene Parteigenossen gesammelt62 und wohl auch corpsstudentischen Freunden geholfen. Diese widerständige Tätigkeit muß erheblichen Umfang gehabt haben, doch sein Leben ist wissenschaftlich gesehen unerforscht.63 Bruno von Siebert und Hanns-Gero von Lindeiner, gen. von Wildau, beide kurz vor der NS-Zeit aktiv bei Saxo-Borussia Heidelberg,64 wurden nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und zwei Monate lang im Zuchthaus Moabit unter dem – naheliegenden – Verdacht verhört, in die Verschwörung und das Attentat, die sich mit dem Namen Graf Stauffenberg verbanden, involviert zu sein. Den Gestapo-Beamten gelang es aber nicht, ihnen irgend etwas nachzuweisen;65 Lindeiner wurde später Bundestagsabgeordneter, von 1966 bis 1971 war er deutscher Botschafter in Kamerun.66 Seine christliche Haltung wurde dem Marburger Teutonen Ernst Jüngst,67 der 1934 sein Studium als Bergingenieur abschloß und in den Bibelkreisen der Evangelischen Kirche von Westfalen sehr aktiv war, zum Verhängnis. Seine wiederholten Zeugnisse für Jesus Christus wurden ihm 1935 von einem Sondergericht in Dortmund als „abfällige Äußerungen über den Nationalsozialismus“ ausgelegt, der Rassenpolitik 1933 – 1945, Oxford 1990, dt. Paderborn 1993, S. 255 f., S. 259 f., insbes. S. 263 ff. 59 Mitteilung Margarethe Wühlisch, Ahrensburg, im November 2011 an den Herausgeber. 60 KCL, Nr. 43 – 195; heute: Corps Teutonia-Hercynia Göttingen. 61 Vogt, Hannah, Georg Diederichs, Hannover 1978, S. 14. 62 Nach dem Krieg, den er als Soldat überlebte, wandte sich Diederichs wieder der Politik zu. Ab 1955 war er Vizepräsident des Landtages in Hannover. 1957 wurde er niedersächsischer Sozialminister, vom 29. Dezember 1961 bis zum 8. Juli 1970 amtierte er als Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. Vgl. dazu Vogt, Hannah, Georg Diederichs, hrsgg. durch die Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Hannover 1978, passim. 63 Das Corps Teutonia-Hercynia Göttingen hat verschiedene Gedenkveranstaltungen ausgerichtet; die Fassade des Corpshauses schmückt eine Gedenktafel für ihn. 64 Siebert: KCL, Nr. 66 – 1501, rezipiert 1932; v. Lindeiner: KCL, Nr. 66 – 1508, rezipiert 1933. 65 Für diese Information dankt der Herausgeber Robert v. Lucius Saxo-Borussiae Heidelberg, Borussiae Bonn. 66 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hanns-Gero_von_Lindeiner, Abruf am 8. Januar 2014; dort einige weiterführende Quellenangaben. 67 KCL Nr. 102 – 1300; nach dem Blaubuch der Marburger Teutonen, Nr. 1275, am 30. Juli 1930 rezipiert, stud. rer. mont. in Marburg und Berlin.
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nach dem NS-Heimtückegesetz wurde er zu sieben Monaten Gefängnis und Wehrunwürdigkeit verurteilt. Jüngst war danach arbeitslos, kam erst 1939 als Steiger – also weit unter seiner Qualifikation – bei Mannesmann im böhmischen Aussig unter, konnte aber ab 1945 als Bergingenieur arbeiten. Er starb, weiterhin in Kirchenkreisen hoch anerkannt, am 24. Februar 1962 in Essen. Der Erlanger Bayer Alfons Stauder, ab 1927 Leiter der Deutschen Ärztetage, von 1929 bis 1933 als erster Vorsitzender des Verbandes der Ärzte Deutschlands im Amt, ist ebenfalls ein Opfer seiner kritischen Haltung. Stauder, in seinem Corps durch sein überragendes Engagement hochverdient, wurde 1933 aus allen Ämtern gedrängt, obwohl er sich nicht einmal dezidiert im Sinne eines Umsturzes, sondern lediglich in allgemeiner Form kritisch gegenüber dem NS-Regime geäußert hatte.68 Stauder, überaus verbittert, starb 1937 an einem Herzleiden, das zuerst im Ersten Weltkrieg aufgetreten war. Auf dem Haus des Corps Austria Prag zu Frankfurt am Main ist, das sei abschließend mitgeteilt, an prominenter Stelle eine Gedenktafel für die Corpsbrüder Leopold Kohn, Richard Koreff, Wilhelm Reismann, Sigmund Wotitzky, Karl Ried, Karl Bondy, Max Löwner und Alfred Tieber, alle jüdischen Glaubens, angebracht, die alle in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet wurden.69 Wie viele Menschen, auch Corpsstudenten – erkannt oder unerkannt – in ihren Möglichkeiten, die häufig sehr begrenzt waren, gegen das NS-Regime arbeiteten und opponierten, muß offenbleiben. Die Forschung stößt hier an eine Grenze, denn die Quellenlage ist in aller Regel beklagenswert. (Sebastian Sigler)
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Paschke, Robert, In memoriam Alfons Stauder, in: Deutsche Corpszeitung, 64. Jahrgang, 1963, Nr. 4, S. 226 f. 69 http://commons.wikimedia.org/wiki/File: Gedenktafel Corps Austria.jpg, Abruf am 7. Juli 2011.
Autorenverzeichnis Henning Aretz, Jahrgang 1956, Volljurist, ist Partner einer international tätigen Gesellschaft für Unternehmenstransaktionen, Presbyter und Kreissynodaler in Essen, Rechtsritter des Johanniterordens, Mitglied des Bundesvorstandes des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU und des Kuratoriums der Kaiserswerther Diakonie, Vorsitzender des AHSC zu Essen und Sprecher des Beirats des Corps Borussia Bonn. Dr. phil. Rainer A. Blasius, Jahrgang 1952, von 1980 bis 1990 Referent am Gesamtdeutschen Institut, bis April 2000 Leiter der Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte im Auswärtigen Amt, heute Verantwortlicher Redakteur für „Politische Bücher“ bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Honorarprofessor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Prof. Dr. Günter Brakelmann, Jahrgang 1931, ist ein deutscher evangelischer Theologe und Soziologe. Von 1972 bis 1996 war er Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Fakultät für Evangelische Theologie der Ruhr-Universität Bochum. Er ist einer der besten Kenner der Geschichte des Kreisauer Kreises und seiner Mitglieder. Prof. Dr. Rüdiger Döhler, geboren 1948 in Sachsen, Chirurg im Ruhestand. Als Angehöriger des Corps Masovia befaßt er sich seit langem mit Ostpreußen. Seit 2009 ist er Vorsitzender des Vereins für corpsstudentische Geschichtsforschung. Michael Eggers, Jahrgang 1936, Studium der Jurisprudenz in Göttingen, dort aktiv bei Corps Hannovera, Fluchthelfer bei Corps Lusatia; Assessor, Ministerialdirigent, zuständig für Polizei und Verfassungsschutz in Thüringen, Oberst der Reserve und Regimentskommandeur bei den Fallschirmjägern, dort hochdekoriert. Klaus Gerstein, geboren 1930 in Hamm, Mitglied der Corps Rheno-Guestphalia Münster und Rhenania Tübingen, Rechtsanwalt und Notar a. D. in Siegen, von 1981 bis 2005 Vorstand der Vereinigte Hoffmann- und Ludwig-Stiftung, seit 1995 tätig im Förderkreis Kurt-Gerstein-Haus in Hagen-Berchum, von 1985 bis 2009 Leiter des Arbeitskreises der Studentenhistoriker. Dr. Wilhelm Girardet, geboren 1935 in Essen, Studium der Betriebswirtschaftslehre in Tübingen, Hamburg und Wien, Dipl.-Kfm., 1964 Eintritt in das Familienunternehmen W. Girardet Druck und Verlag, Essen. 1972 bis 1988 dort Geschäftsführender und persönlich haftender Gesellschafter. 1989 bis 1996 Geschäftsführer des Druckhauses Beltz in Hemsbach/Bergstraße. Ehrenamtlich tätig in nationalen und internationalen Organisationen der Druckindustrie.
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Autorenverzeichnis
Wolfgang v. der Groeben, Jahrgang 1937, Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen und Kiel sowie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Mitglied der Corps Saxonia Göttingen und Pomerania Greifswald, Verwaltungsbeamter in Nordrhein-Westfalen und Mecklenburg-Vorpommern, Direktor beim Landesrechnungshof Mecklenburg-Vorpommern a. D. Rechtsritter des Johanniterordens. Erica Marianne v. Hagen, geborene v. Berg, war die Ehefrau des Widerstandskämpfers Albrecht v. Hagen, Saxo-Borussiae Heidelberg. Prof. Dr. phil. Hans Kirchhoff, Jahrgang 1933, ist emeritierter Professor am Institut für Geschichte der Universität Kopenhagen. Forschungsschwerpunkte: Zweiter Weltkrieg, deutsche Besatzung in Dänemark, dänische Flüchtlingspolitik 1933 – 1945, Holocaust. Robert v. Lucius, geboren 1949 in Berlin, ist Journalist und Autor, Heidelberger Sachsenpreuße und Bonner Preuße. Für die Frankfurter Allgemeine berichtete er als Afrika-Korrespondent aus Johannesburg, über Nordeuropa von Stockholm aus und in Hannover über Teile Norddeutschlands. Der Jurist schrieb Bücher über Südafrika, das Baltikum, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen sowie die Geschichte seines Corps in Heidelberg. Dr. Christian Prosl v. Chodelbach, geboren 1946 in Eisenstadt, ist österreichischer Diplomat. Verwendungen in London, Washington, Wien und als Generalkonsul in Los Angeles. Von 2003 bis 2009 österreichischer Botschafter in Berlin, danach in derselben Funktion in Washington. Seit 2012 Präsident der Österreichischen Kulturvereinigung. Dr. jur. Hans Christoph v. Rohr, geboren 1938 in Stettin als Sohn von Hansjoachim von Rohr, studierte Jura und Politische Wissenschaften in Heidelberg – dort aktiv bei Saxo-Borussia –, Princeton (USA) und Bonn. Anschließend arbeitete er als Manager in Deutschland, Südamerika und den USA, zuletzt als Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzender. Dr. theol. Christian-Erdmann Schott, 1932 in Liegnitz/Schlesien geboren, 1945 Flucht aus Oppeln. Studium der Ev. Theologie in Berlin, Göttingen, Bossey/Genf. 1955 bis 1957 aktiv bei Saxonia Göttingen. 1966 Pfarrer in Mainz-Gonsenheim, 1997 emeritiert. Von 1984 bis 2006 Bundespfarrer der JUH, seit 1993 Vorsitzender der „Gemeinschaft ev. Schlesier (Hilfskomitee)“ e. V. Dedo Graf Schwerin v. Krosigk, geboren 1933 in Berlin. Jurastudium in München, Bonn, dort aktiv bei Borussia, und Speyer. Volljurist 1960. Beruflich durchgängig in der Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsplanung, in der Wissenschaftsförderung und -verwaltung tätig: ab 1961 beim Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, 1963 bis 1978 beim Wissenschaftsrat, von 1978 bis 1996 bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dr. phil. Sebastian Sigler, Jahrgang 1964, Historiker und Journalist, gehört dem Corps Bavaria München an und ist Ehrenritter des Johanniterordens. Er arbeitete für
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ARD, ZDF, mehrere Privatsender sowie für große Tages- und Wochenzeitungen. Heute Chefredakteur einer Börsenzeitung. Buchveröffentlichungen zur Studentengeschichte und zu seiner Heimatregion, Ostwestfalen. Dr. Henning Freiherr v. Soden, geboren 1977 in Düsseldorf. Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn, Freiburg i. Br. und Lausanne/Schweiz, 2010 Promotion zum Dr. iur. Rechtsanwalt und Personalleiter bei einem amerikanischen Industriegroßkonzern. Vorstandsmitglied und Archivar des Corps Palatia zu Bonn. Horst-Ulrich Textor Franconiae Fribergensis, geboren 1933 in Gelsenkirchen, rec. 1955, Dipl.-Ing., amtlich anerkannter Sachverständiger für Elektrotechnik und Fördertechnik beim RWTÜV Essen; 1991 bis 2012 Mitglied der Historischen Kommission des WVAC, bis 2011 deren Vorsitzender, seit 1995 Veröffentlichungen zur Studentengeschichte und zur Geschichte der Bergakademie Freiberg. Maximilian Waldherr, Jahrgang 1940, Dipl. Forstwirt (Univ.), war stellvertretender Leiter der Nationalparkverwaltung Bayerischer Wald, Leiter des ehemaligen Forstamts Zwiesel und zuletzt Abteilungsleiter für Biologische Produktion an der ehemaligen Forstdirektion Regensburg. 2003 wurde ihm die Karl-Gayer-Medaille der Technischen Universität München für Verdienste um Forstwirtschaft und Forstwissenschaft verliehen. Markus Wilson-Zwilling, Jahrgang 1966, studierte Geschichte, Volkskunde und Kunstgeschichte in Regensburg, Mitglied der Corps Franconia München und Franconia-Jena zu Regensburg. Magister Artium 1998. Danach bis heute Tätigkeit als Pressereferent in der Energiewirtschaft. Er ist Rechtsritter des Johanniterordens. Prof. Dr. Wolfgang Wippermann, geboren 1945 in Bremerhaven; Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin, Mitglied der Corps Hildeso-Guestphalia Göttingen und Vandalia Rostock. Habilitation 1978 über „Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels“; Gastprofessuren in Innsbruck, Peking, Bloomington, Minneapolis und Durham. Veröffentlichungen zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, der Juden, Sinti und Roma und Studenten sowie zu Bonapartismus, Faschismus, Fundamentalismus und Totalitarismus.
Abbildungsnachweise Bundesarchiv Hagen / Yorck, 1
Corps Borussia Bonn Yorck, 4
Corps Palatia Bonn Mumm, 11
Corps Saxo-Borussia Heidelberg Corpshaus, 14
Corps Saxonia Göttingen Etzdorf, 8 Falkenhausen, 32 Trott, 15, 16 Schulenburg, 33
DAPD picture-alliance Böhm, 18
Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin Plötzensee, 36 Scheliha, 13 Trott, 17 Vollert, 31
Michael Eggers Abegg, 21
Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Hassell, 10 Prittwitz, 3
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Abbildungsnachweise
Privat Arnim, 22 Brücklmeier, 5, 6 Burian, 28, 29 Gerstein, 12 Kameke, 35 Planke, 25 v. Rohr, 26 Zitzewitz, 27
Rainer A. Blasius Etzdorf, 9
Wilhelm v. Halem Halem, 7
Wikipedia Breitenbuch, 23 Corps Masovia in Königsberg 1930, Schutzumschlag Draeger, 34 Duckwitz, 30 Eucken, 19 Hodler / Eucken, 20 Knaak, 24 Koch, 2
Personenregister Abegg, Wilhelm 269 – 280 Adenauer, Konrad 115, 138, 247 f., 360 Alvensleben, Wichard v. 368, 415 f. Arnim-Lützlow, Wilhelm v. 174, 281 – 288 Bachem, Karl Joseph 366 Ballestrem, Carl Wolfgang Graf v. 142 Ballestrem, Hubertus Graf v. 147, 184 f. Ballestrem, Nikolaus Graf v. 150 f. Beck, Ludwig 16, 49, 52, 76, 97, 124, 127, 135, 149, 160, 367, 410, 422 Beckerath, Erwin v. 79, 240, 242, 251, 259, 261 Behr-Behrenhoff, Carl Graf v. 367 Bernstorff, Albrecht Graf v. 98, 151, 487 Best, Werner 394 – 396, 398 – 405 Blandenier, Petrus 382 Boddien, Hans Albrecht v. 354 Böhm, Franz 78 f., 229 – 248, 251 f., 255 f., 259, 262 f. Boeselager, Philipp Freiherr v. 423 Bolz, Eugen 301, 471 f. Bonde, Wolfgang 488 f. Bondy, Karl 499 Bonhoeffer, Dietrich 52, 240 f., 243, 256, 258, 289, 320, 479 f. Borsig, Ernst v. 73, 143 Brauchitsch, Walther v. 100 f., 123 f., 126–128 Breitenbuch, Eberhard v. 18, 421 – 429 Breitscheid, Rudolf 469 Brücklmeier, Eduard 15, 17, 52, 91 – 113, 131, 203, 255, 413, 443 Bülow, Bernhard Wilhelm v. 61 f., 96, 120 Burian, Karl 375 – 391, 471, 478 Busch, Ernst 426 – 428 Bussche-Streithorst, Axel Freiherr v. dem 24, 423 Caesar, Hans Joachim 313 Canaris, Wilhelm 16, 76, 97, 126, 135, 325 f., 368, 407, 410 – 412, 480
Carossa, Hans 329, 338 f. Churchill, Winston, Sir 139, 150, 225, 359 Cohen-Reuß, Max 366 Darré, Walter 348, 351 – 354 Delbrück, Justus 141 f., 149 Delp, Alfred SJ 81 f., 476 Dewitz, Karl Wilhelm v. 146, 489 f. Dewitz, Oskar v. 146 Diederichs, Georg 498 Dietze, Constantin v. 78, 233, 240, 242 – 245, 252, 254 – 257, 259 – 262, 356, 480 f. Dohnanyi, Hans v. 17, 52, 76, 141 f., 413, 486 Dollfuss, Engelbert 471, 478 Draeger, Max 431 – 435 Drahowzal, Erwin 377, 380, 382, 385 Drechsel, Max Ulrich Graf v. 476 Duckwitz, Georg Ferdinand 393 – 406 Eichmann, Adolf 306, 358, 398 f., 402 Erhard, Ludwig 115, 229, 234, 246 f., 360 Etscheit, Alfred 485 – 487 Etzdorf, Hasso v. 15, 17, 96 f., 115 – 140, 144, 223, 446, 493 Eucken, Walter 78 f., 231 f., 234 f., 239 f., 244 – 246, 249 – 265, 462, 480 Eulenburg-Prassen, Fritz Graf zu 366 Falkenhausen, Gotthard v. 117 f., 132, 493 – 495 Fellgiebel, Erich 131, 444 Flemming-Paatzig, Richard v. 365 f. Flügge, Wilhelm v. 18, 366 – 368, 407 – 418 Frank, Reinhold 472 Franken, Paul 478 Freisler, Roland 65 f., 110 – 113, 132, 153, 183, 187, 240, 369, 434, 444, 475, 481, 495 Fried, Jakob 387 f.
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Personenregister
Gablentz, Otto Heinrich v. der 80 f. Galen, Clemens August Kardinal Graf v. 204, 300 f., 469, 471 – 473 Geiler, Karl 245 Gersdorff, Christoph Freiherr v. 423 Gerstein, Kurt 51, 238, 289 – 322 Gerstenmaier, Eugen 81, 83 – 85, 225 Gisevius, Hans Bernd 51 – 53, 100, 403, 446 Goebbels, Joseph 27, 31, 49, 60, 120, 123, 275, 352 f., 404, 427 Goerdeler, Carl Friedrich 17, 52, 62, 79, 102, 109, 127, 135, 158, 160, 238, 240 – 243, 256 f., 258, 262, 368 f., 471 f., 475 f., 482 f., 494 Goerdeler, Fritz Hermann 482 f. Göring, Hermann 106, 279, 336 Groscurth, Helmuth 123 – 127, 129 Großmann-Doerth, Hans 232, 235, 245, 251 f. Guttenberg, Karl Ludwig Reichsfreiherr v. und zu 54 f., 81, 148 f., 184, 355, 369, 476 f. Habsburg, Otto v. 361, 377, 380, 382 – 386, 388 f., 478 Häfner, Georg 474 Haeften, Hans Bernd v. 81, 97 f., 128, 131, 225 Haeften, Werner v. 84, 131 Hagen, Albrecht v. 11, 18, 23 – 43, 142, 144 – 146, 210 Halder, Franz 76, 97, 100 f., 122 – 127, 129, 149 Halem, Nikolaus Christoph v. 69, 141 – 155, 182 – 187, 203, 210, 424 Hammerstein-Equord, Kurt Freiherr v. 49, 149, 410 Hansen, Georg 403, 413, 444 Hardenberg-Neu-Hardenberg, Carl-Hans Graf v. 42, 366 f. Harnack, Arvid 202, 206 Harnack, Ernst v. 468 f. Hase, Paul v. 76 Hassell, Ulrich v. 15, 17 f., 112, 121 f., 127 f., 131, 135, 157 – 162, 163 – 176, 183, 203, 239, 403, 405, 467 Haubach, Theodor 81 Haushofer, Albrecht 55, 477
Hayessen, Egbert 69, 424 Hayessen, Herko v. 497 f. Hedtoft, Hans 393, 396, 400 f. Heidegger, Martin 232, 245 Heinz, Friedrich Wilhelm 101 Helldorff, Wolf-Heinrich Graf v. 424 Hensel, Karl Paul 261 Hensel, Walther 478 Herfurth, Otto 110 Hermes, Andreas 360, 370, 411, 475 Herntrich, Volkmar 496 f. Heß, Rudolf 466 Heydebreck, Claus Joachim v. 98, 223, 444 – 447 Heydrich, Reinhard 105, 107 f., 123, 306 Himmler, Heinrich 66, 96, 123, 130, 132, 279, 306, 336, 380, 398, 413 – 415, 453, 455, 488 Himpel, Helmut 469 Hindenburg, Paul v. 59, 115 f., 118 f., 125, 180, 349 f. Hitler, Adolf (Person, Politik, auch Stichworte „Führer“ und „[Reichs]kanzler“) 15, 24, 26, 28, 32, 38, 47, 50 f., 57, 60 f., 70, 75, 77, 79, 83, 93, 95 f., 99 – 109, 112, 115, 119 – 128, 132, 134, 136, 140 f., 144, 146, 149 – 151, 154, 159 – 161, 165, 182, 198 f., 217 – 219, 223, 232 f., 236, 241, 252, 256, 264, 275, 278, 301, 315, 350 – 354, 357 f., 366, 379, 383, 394, 396, 400, 403, 409 – 411, 413, 421 f., 426 – 428, 452, 454, 462, 464 – 466, 470, 473, 476, 490 f., 496 Hoepner, Erich 126 Hofacker, Caesar v. 76, 131, 443 f., 493 – 495 Huch, Ricarda 145, 230, 235, 249 Hugenberg, Alfred 350 – 354, 365 Husen, Paulus van 81 Jessen, Jens Peter 239 f. Jordans, Carl v. 148, 150 Jüngst, Ernst 498 f. Kaiser, Hermann 468 Kameke, Alexander v. 490 – 492 Kanstein, Paul 395, 400 f., 403 Kegel, Gerhard 201 f. Kessel, Albrecht v. 15 f., 69, 76, 93 f., 97, 101, 103 f., 143 f., 290, 424, 443
Personenregister Ketteler, Wilhelm Emanuel Freiherr v. 149 f., 476 Kiep, Otto 98, 183, 487 Klamroth, Bernhard 15, 33 – 36, 38 f. Klausing, Friedrich 454 – 456 Klein, Willy 379 – 384, 386, 388 f. Kleist-Schmenzin, Ewald-Heinrich v. 18, 113, 446 Knaak, Hans-Wolfram 323 – 327, 435 Knebel Doeberitz, Karl-Magnus v. 365 – 368, 409 – 412 Koch, Erich 431 – 433, 435 Koch, Hans 45 – 56, 285, 301, 369, 477 König, Lothar SJ 81 f. Köster, Roland 61 f. Kohn, Leopold 499 Kordt, Erich 97 – 99, 101 – 103, 107, 109, 118, 123 – 126, 128, 138 Kordt, Theo 97 – 99 Koreff, Richard 499 Kosak, Rochus 382, 384, 386, 388, 390 Kosney, Herbert 55, 477 Krausz-Wienner, Ludwig 379 f., 386, 388 – 390 Kretschmer, Julius 379, 382, 384, 388, 390 f. Krinninger, Josef 382, 384 f., 388 Krumpl, Karl 479 Kuenzer, Richard 151, 487 Lampe, Adolf 78 f., 232, 235, 239 f., 242 – 245, 254 – 257, 260 – 262 Lampert, Carl 479 Lanken, Fritz v. der 110 Leber, Julius 81, 84 Leeb, Wilhelm Ritter v. 126 f. Lehndorff-Steinort, Heinrich Graf v. 69, 130 f., 424 Lenz, Otto 472 Leonrod, Ludwig Freiherr v. 476 Leuschner, Wilhelm 81 Lindeiner, Gero v. 498 Löwner, Max 499 Lukaschek, Hans 72, 81, 472 Lynar, Wilhelm Friedrich Graf zu 110 Maaß, Hermann 81 Materna, Josef 381 f., 384 – 386, 389 Mayer, Rupert SJ 472
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Meichßner, Joachim 110 Mendelsohn, Franz 366 Menges, Dietrich Wilhelm v. 223, 446 Menges, Hans 470 Mierendorff, Carlo 81 Moellendorff, Wichard v. 366 Moltke, Hans Adolf v. 73, 195, 198 – 203, 205, 212 Moltke, Helmuth James Graf v. 17, 72 f., 80 – 84, 147, 161, 232, 242, 368, 412, 443, 467, 487, 494 Müller, Heinrich 358 Münchhausen, Ernst-Friedemann Freiherr v. 31 f., 35 f., 218, 223, 445 Mumm v. Schwarzenstein, Herbert 15, 18, 141, 150 – 152, 177 – 190 Neurath, Konstantin v. 60, 120, 122, 159 f., 198 f. Niemöller, Martin 45, 48 – 51, 285, 301, 310, 313, 315, 414, 468 Nostitz, Gottfried v. 97 Olbricht, Friedrich 16, 454 Ortner, Ernst 479 Oster, Hans 16, 52, 76, 97, 101 f., 123, 126 f., 325, 368, 407, 412, 476, 480, 486 Oswald, Paul 469 Otter, Baron Göran v. 310 f., 318 Papen, Franz v. 121, 169, 349 f., 476 Peters, Hans 72, 81 Planke, Josef 329 – 341 Poelchau, Harald 81 Popitz, Johannes 369, 452 – 455, 467 Portele, Karl Alfons 387 f. Prassek, Johannes 474 Prittwitz, Karl Maximilian Friedrich-Wilhelm v. 57 – 63, 144 Prosl v. Chodelbach, Ernst 378, 380–382, 387 Quirnheim, Merz v. 444 Raabe, Cuno 472 Rabenau, Friedrich v. 18 Rahn, Rudolf 118, 132 f. Rauch, Wendelin 255 Reichwein, Adolf 72, 81
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Personenregister
Reismann, Wilhelm 499 Reither, Joseph 472 Ribbentrop, Joachim v. 91, 95 f., 100, 102 – 104, 106, 108, 109, 121 – 123, 128 – 130, 160, 396, 399 Ried, Karl 499 Ritter, Gerhard 243 – 245, 254, 256, 262 Römer, Josef „Beppo“ 149, 151, 153, 184 – 188 Rösch, Augustin SJ 81 Rohr, Hansjoachim v. 146, 343 – 362 Ruperti, Max v. 146, 495 f. Sack, Karl 468, 480 Scheliha, Rudolf v. 17, 141 f., 144, 146, 153, 182, 185, 191 – 216 Schellenberg, Walter 305, 455 f. Schlabrendorff, Fabian v. 141 f., 149 – 151, 153, 184, 188, 423 Schlange-Schöningen, Hans 73, 360 Schmidlin, Joseph 474 Schmittmann, Benedikt 478 Schneider, Paul 481 Schulenburg, Fritz-Dietlof Graf v. der 17, 77, 91, 98, 111, 131, 144, 146, 204, 223, 403, 422, 437 – 449, 453, 493 Schulze-Boysen, Harro 202, 206, 211, 469 f. Schuschnigg, Kurt 379 f., 414, 479 Schwerin v. Krosigk, Johann Ludwig Graf 198, 351 Schwerin v. Schwanenfeld, Ulrich Wilhelm Graf 15 f., 17 f., 69, 91, 111, 143, 424, 443 f. Siebert, Bruno v. 146, 498 Siri, Guiseppe Bf. 133 f., 137 Solf, Johanna 180, 183, 485 Solf, Wilhelm-Heinrich 180, 183, 485 Stauder, Alfons 499 Stauffenberg, Berthold Schenk Graf v. 77, 444 Stauffenberg, Claus Schenk Graf v. 24, 34 – 36, 38, 53, 76, 84 f., 130 f., 146, 163, 225, 414, 421 f., 444, 454, 468, 475 – 478, 485, 494 f. Steengracht v. Moyland, Gustav Adolf Baron 70, 129, 132 Steltzer, Theodor 81
Stöbe, Ilse 201 f., 206, 211 – 215 Stülpnagel, Carl-Heinrich v. 126 f., 131, 493 Sylten, Werner 481 f. Tellenbach, Gerd 265 Thierack, Georg 343, 357, 433 f., 456 Thüngen, Karl Freiherr v. 110 Tieber, Alfred 499 Tresckow, Henning v. 16, 84, 288, 357, 422 f., 426 f. Trott zu Solz, Adam v. 15, 17, 18, 81, 98, 131, 141, 144, 150, 184, 195, 204, 212, 217 – 226, 246, 255, 368, 403, 412, 443 – 445, 447 f. Trouet, Leo 478 Ubbink, J. Hermann 304, 311 f., 316 Üxküll, Nikolaus v. 77, 494 Vermehren, Elisabeth 413 Vermehren, Erich 413 Visser ‘t Hooft, Willem 224 f., 246 Vollert, Ernst 451 – 456, 467 Wagner, Eduard 125, 130 f. Wagner, Josef 75, 77, 79 Wartenburg, Peter Graf Yorck v. 15, 17 f., 65 – 88, 91, 144, 147, 203, 204, 232, 239, 242, 255, 368, 424, 433, 443 f., 448, 467 Weizsäcker, Ernst v. 16, 70, 97, 98, 104 f., 108, 122, 127 – 129, 137, 166 Wentzel-Teutschenthal, Carl 368 f. Winckler, Karl v. 141 f., 148 – 151, 185 Wirmer, Josef 474 f. Witzleben, Erwin v. 18, 76, 97, 100 – 102, 126, 155, 325, 424 f. Wölfel, Hans 477 f. Woermann, Emil 369 Wolff, Karl 132 Wotitzky, Sigmund 499 Wotypka, Josef 380, 382, 384, 387 f., 390 Wühlisch, John v. 199 f., 203, 205 Wussow, Botho v. 69, 97, 143, 443 Zechlin, Egmont 132, 137 f. Zitzewitz, Friedrich-Karl v. 144, 146, 363 – 372, 409, 412
Sachregister Bekennende Kirche 47 – 49, 83, 244, 254, 281, 284 f., 288, 297 – 303, 313, 421, 432, 435, 470, 479, 481, 490 f., 496 Freiburger Konzil, s. Freiburger Kreise Freiburger Kreise 79, 229, 232 – 235, 238 – 246, 249, 253 – 262, 264, 480 Hitler-Attentat, konkret geplant oder durchgeführt 16, 24, 38, 42, 52, 65, 91, 98 f., 101 – 103, 105, 107, 109, 123, 125 f., 130 f., 137, 139, 150 f., 153 f., 157, 160 f., 184 f., 188, 205, 217, 279, 325, 357, 381, 395, 403 f., 412 f., 421 – 423, 426, 444 f., 454 f., 467 f., 475, 485, 494 f. Jordans-Kreis 148, 150, 185 Juden Europas, Völkermord 146, 204 f., 238, 240, 289 – 321, 358 Juden in Dänemark, Deportation 396–402 Kontaktkreis Beck–Goerdeler–Canaris 135 Kontaktkreis Goerdeler–Beck–v. Hassell 127, 160 Kreis Zitzewitz–Knebel–Flügge 366 – 368, 409
Kreisauer Kreis 17, 42, 72 – 74, 76 – 85, 113, 143, 147, 160 f., 184, 203, 222, 229, 232, 242, 245, 249, 260, 368, 407, 412, 433, 444, 466 f., 475 Mittwochsgesellschaft 239, 369 Obersalzberg 100, 108, 426 – 428, 454 Rote Kapelle 203, 206 – 208, 211, 214, 469 f. Solf-Kreis 141, 148, 150 f., 154, 183 – 186, 485, 487 Wannseekonferenz 306 Widerstand [Opposition] gegen Hitler 11 – 13, 18, 34, 62, 74, 76, 91, 93, 99, 104, 107, 112, 123, 127, 130, 135, 137, 141, 146, 149, 161, 181 – 184, 188 f., 191, 203, 210, 212, 215, 221, 223, 229, 232, 238 f., 242, 244, 249, 254 – 257, 260, 278 f., 323, 334, 337 f., 352 – 354, 360, 365 – 369, 383, 389, 402, 405 – 407, 411, 413 f., 421, 424, 443 f., 446, 451 f., 467, 469, 471, 474, 476, 480, 482 f., 486, 489 f., 493, 496 f. Wolfsschanze 24, 34 f., 110, 128, 130, 454