Friedrich Weißler: Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler [1 ed.] 9783666301094, 9783525301098


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German Pages [317] Year 2017

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Friedrich Weißler: Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler [1 ed.]
 9783666301094, 9783525301098

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Manfred Gailus

Friedrich Weißler Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler

Manfred Gailus

Friedrich Weißler Ein Jurist und bekennender Christ im Widerstand gegen Hitler

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 31 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-30109-4

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Friedrich Weißler mit seinen Söhnen im Sommer 1932 (NL Weißler) © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG , Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC , Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

In dankbarer Erinnerung an Johannes Weißler (1928–2016)

Inhalt 9 Vorwort einführung 13 Der »Fall Friedrich Weißler« 27

erstes kapitel Angekommen im Bildungsbürgertum: Die Weißlers um 1900

zweites kapitel 51 Eine hochpatriotische Familie im Großen Krieg 81

drittes kapitel »Auf der Höhe des Lebens«: Republik, Karriere und Familie

viertes kapitel 99 Ausgeschlossen aus der »Volksgemeinschaft«: Berufliche und soziale Exklusionen fünftes kapitel 125 Friedrich Weißler im Sommer 1936 und die Denkschrift an Hitler sechstes kapitel 145 Indiskretionen, Verdächtigungen und Gestapohaft siebtes kapitel 169 Tod in Sachsenhausen

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achtes kapitel 191 Weiterleben nach der Katastrophe resümee 217 Reformationsgedenken im Jahr 2017, die protestantische Performance in der Hitlerzeit und Friedrich Weißler

Anhang 237 Ego-Dokumente 271 Anmerkungen 301 Abkürzungen 303 Bildnachweis 305 Quellen- und Literaturverzeichnis 313 Personenregister

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Vorwort Die ersten Anstöße zu diesem Buch gab eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 75. Todestags von Friedrich Weißler im Februar 2012 in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Bei dieser Gelegenheit lernte ich Johannes Weißler kennen, mit dem sich ein produktiver Austausch über seinen Vater Friedrich Weißler und generell über die ­Weißler’sche Familiengeschichte entwickelte. Es folgten mehrere Zusammentreffen in Berlin, als Stolpersteine vor dem Wohnhaus der Weißlers in der Meiningenallee Nr. 7 in Berlin-Charlottenburg verlegt wurden. Fortan gab es einen intensiven schriftlichen Austausch. Auf diesem Weg erhielt ich umfassende Einblicke in diese bewegende Familiengeschichte, die mir in vieler Hinsicht als exemplarisch für die jüdisch-deutsche Geschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erschien. Anlässlich eines Besuchs in Erlangen im Juli 2014 erhielt ich Gelegenheit, das umfangreiche Weißler’sche Familienarchiv auswerten zu dürfen. Ich schulde Johannes Weißler großen Dank für seine vielfältigen Anregungen und Hilfen während meiner Forschungen zur Familiengeschichte der Weißlers. Als sehr hilfreich erwies sich darüber hinaus die Möglichkeit, umfangreiches Material zum Thema aus der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand benutzen zu dürfen. Es handelt sich um Unterlagen, die während der 1990er Jahre durch den Historiker Dr. Klaus Drobisch (Berlin) für die erste Ausstellung über das Schicksal Friedrich Weißlers zusammengetragen wurden. Für die großzügige Benutzungserlaubnis möchte ich dem Leiter der Gedenkstätte, Prof. Dr. Johannes Tuchel, meinen herzlichen Dank sagen. Für sachkundige Führung über das Gelände des ehemaligen KZ Sachsenhausen und informative Gespräche zum Thema des Buches gebührt dem Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen, Prof. Dr. Günter Morsch, ebenfalls mein herzlicher Dank. Von dem Zellenbau, in dem Friedrich Weißler im Februar 1937 die letzten Tage seines Lebens – 9 –

verbringen musste, existieren zwar nur noch die Grundrisse. Aber es ist berührend, an dieser Stelle zu stehen und sich seines furchtbaren Schicksals zu erinnern. Nicht zuletzt möchte ich einer Reihe von Personen für Gespräche, Hinweise und Überlassung von Quellenmaterial danken: Sportwissenschaftlerin Dr. Bettina Ried (geb. Weißler) in Valinhos (Brasilien) und Diplomingenieur Wolfgang Weißler (Höchstadt a. d. Aisch) für Hinweise und Beratung während der Fertigstellung des Buches; Psychotherapeutin Anne Lorbeer-Wittnebel (geb. Koch) in Berlin für wertvolle Informationen zu Pfarrer Werner Koch und auch zu Ernst Tillich, den beiden Mitgefangenen Weißlers im Polizeigefängnis ­A lexanderplatz und im KZ Sachsenhausen; meinen Historikerkollegen Prof. Dr. Michael Grüttner (Berlin) und Armin Nolzen M. A. (Warburg) für kritische Lektüre des Schlusskapitels. Prof. Dr. Armin Höland (Juristische Fakultät der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg) und Peter Hahn (Berlin) danke ich für Hilfen bei der Bereitstellung des Bildmaterials. Manfred Gailus

Berlin, im Oktober 2016

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Friedrich Weißler im Jahr 1933

einführung Der »Fall Friedrich Weißler« Am Samstag, den 20. Februar 1937 dokumentiert der Standesbeamte der Stadt Oranienburg im Norden Berlins in der Sterbeurkunde Nr. 65, dass einen Tag zuvor, frühmorgens zwischen fünf und sechs Uhr, der 45-jährige Landgerichtsdirektor Dr. Friedrich Weißler im Lager Sachsenhausen verstorben sei. Über die näheren Umstände und die Todesursache des Lagerhäftlings gibt die amtliche Urkunde keine Auskunft. Zwei Tage später erhält dessen Ehefrau Johanna Weißler von der Gestapo die telefonische Mitteilung: Sofern sie ihren verstorbenen Mann noch einmal sehen wolle, müsse sie bis 14 Uhr im Kreiskrankenhaus Oranienburg sein. In Begleitung des Spandauer Superintendenten Martin Albertz und des Landgerichtsdirektors a. D. Fritz Günther fährt sie an diesem Montagmittag umgehend mit dem Taxi nach Oranienburg. Im Krankenhaus wird ihr eröffnet, nur sie allein dürfe den Obduktionsraum betreten. Ein Wärter schlägt das Leichentuch ein Stück weit zur Seite. Lediglich der Kopf des Toten und der rechte Oberarm sind zu sehen. Mehr, so lautet die strikte Anweisung, dürfe ihr nicht gezeigt werden. Johanna Weißler identifiziert den Toten als ihren Ehemann. Am Kopf des Leichnams habe sie blaue Flecken, Wunden und Blutspuren erkannt.1 Verwandte und Freunde der Familie aus dem Umkreis der Bekennenden Kirche vermuten sofort, dass Friedrich Weißler eines gewaltsamen Todes gestorben sein müsse. Die schockierende Nachricht verbreitet sich rasch in Kreisen der Kirchenopposition. Ein Suizid des bekennenden Christen, wie von der Lagerleitung und der SS -Wachmannschaft zunächst behauptet, erscheint wenig glaubhaft. Schon bald schaltet sich der Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin ein und ordnet eine Untersuchung der Vorgänge an. Am 25. Februar erfolgt die Beisetzung auf dem Berliner Südwestfriedhof in Stahnsdorf. Die Gestapo hat strenge Auflagen und Kontrollen der – 13 –

­ eremonie angeordnet. Unter die große stumme Trauergemeinde auf Z dem Waldfriedhof mischen sich Zivilbeamte der Gestapo und uniformierte SS -Männer. Aus dem Untersuchungsbericht des Generalstaatsanwalts vom 3. Juni 1937 ergibt sich als vorläufiger Sachverhalt: der Verstorbene sei bereits längere Zeit vor seinem Tod durch Angehörige der KZ -Wachmannschaft körperlich schwer misshandelt worden und schließlich diesen Verletzungen erlegen. Ein Suizid scheide aufgrund sämtlicher Tatumstände aus. Zwei SS -Wachmänner wurden überführt, bei früheren Aussagen nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Auch die Aussagen des Lagerarztes erscheinen inzwischen als zweifelhaft. Der Generalstaatsanwalt ordnet schließlich an, mehrere KZ -Aufseher wegen Verdachts auf Totschlag in Untersuchungshaft zu nehmen. 2 Soweit in knappen Strichen »die Tat«. Sie erweist sich bei genauerem Hinsehen als eine zweifellos abgrundtief böse und grausame, barbari­ sche Tat. Warum geschah sie? Wer war das Opfer – wer war der 45-jährige promovierte Jurist und evangelische Christ Friedrich ­Weißler? Und wer waren die Täter, die offenbar bei nächtlichen Übergriffen unbegrenzte Gewalt über den Häftling hatten und ihn binnen einer Woche Lagerhaft durch fortgesetzte brutale Gewaltmittel buchstäblich zu Tode prügelten? Welche Motive hatten die Täter? Oder hatten sie keine Motive, jenseits nackter Brutalität und sadistischer Gewaltlust? Warum gab es so wenig Unterstützung für den renommierten »nichtarischen« Juristen seitens seiner Juristenkollegen, seiner ehemaligen Studienfreunde und akademischen Bundesbrüder? Und warum ließ es die Bekennende Kirche, der Weißler angehörte, an Einsatz für ihren verfolgten Mitchristen fehlen, als dieser monatelang in Gestapohaft geriet? Und warum ermittelte die Staatsanwaltschaft in diesem Todesfall, wo doch Todesfälle in Konzentrationslagern ein nahezu alltäglicher Vorgang unter den Bedingungen nationalsozialistischer Gewaltherrschaft waren? Und warum weiß man bis auf den heutigen Tag in Juristenkreisen wie auch im Kirchenbereich so wenig von dem Schicksal Friedrich Weißlers, eines Mannes, der schon bald nach seinem Tod als erster Märtyrer der Bekennenden Kirche bezeichnet worden ist? Wurde er im Lager totgeschlagen, weil er ein Christ war – 14 –

und der Bekennenden Kirche angehörte? Oder gab es nicht tatsächlich andere Gründe und Motive für die erschreckend barba­rische Tat? Georg Friedrich Weißler wurde 1891 als jüngster von drei Söhnen des Rechtsanwalts und Notars Adolf Weißler und seiner Ehefrau Auguste in Königshütte (Chorzów) in Oberschlesien geboren. Aus jüdischer Familie stammend und in früher Kindheit evangelisch getauft, wuchs er in bildungsbürgerlich-liberaler Atmosphäre in Halle (Saale) auf. Unverkennbar trat der Heranwachsende in die Fuß­ stapfen seines Vaters, studierte Jura und wurde im Jahr 1913 an der Universität Halle zum Dr. jur. promoviert. Sein aktiver Kriegseinsatz unterbrach die Juristenkarriere. Bei Kriegsende litt die hochpatriotisch eingestellte Familie schwer unter der unfassbaren Kriegsniederlage und mehr noch unter den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags, die als zutiefst kränkend empfunden wurden. Aus Scham und Protest gegen »Versailles« nahm sich Adolf Weißler im Juni 1919 das Leben. Sein Sohn absolvierte zügig die nächsten Schritte einer Juristenlaufbahn: Assessorexamen, Rechtsreferendariat, erste Anstellungen als Richter. Zugleich übernahm er die von seinem Vater begründete Herausgabe des »Preußischen Archivs«, einer fortlaufenden Gesetzessammlung für Preußen und das Deutsche Reich. Als ambitionierter Jurist trat er darüber hinaus mit juristischen Fach­ büchern und zahlreichen Artikeln in Fachzeitschriften hervor.3 Aus der im Jahr 1922 geschlossenen Ehe Friedrich Weißlers mit der Pfarrerstochter Johanna Schäfer gingen die Söhne Ulrich (geboren 1925) und Johannes (1928) hervor. Der soziale Status und die kulturelle Atmosphäre der jungen Familie in Halle waren bildungsbürgerlich, zugleich liberal und christlich geprägt. Politisch ließe sich der aufstrebende Jurist wohl als »Vernunftrepublikaner« beschreiben, der dem Kaiserreich anfangs etwas nachtrauerte, sich jedoch zu den demokratischen und rechtsstaatlichen Grundlagen der Weimarer Republik bekannte. Aber ein sehr politischer Zeitgenosse war er nicht. Faktisch ging der fleißige juristische Arbeiter und strebsame Berufsmensch völlig in seiner Juristenwelt auf. Wohl niemals seit vielen Generationen ging es den jungen Weißlers so gut wie während der ruhigeren Republikjahre – familiengeschichtlich war dies eine entspannte, geradezu glückliche Zeit. Zuletzt, im Jahr 1932, erhielt – 15 –

der 41-jährige Jurist die anerkennende Berufung zum Landgerichtsdirektor nach Magdeburg. Mit besten beruflichen Aussichten zog die junge Familie im Januar 1933 von Halle nach Magdeburg um.4 Hitlers Machtantritt war dann eigentlich schon die Katastrophe. Am 15. Februar 1933 führte Weißler am Magdeburger Landgericht den Vorsitz in einer Verhandlung gegen einen jungen krawallsüchtigen SA-Mann, der unerlaubterweise in SA-Uniform vor Gericht erschien. Das Gericht verhängte gegen den Nationalsozialisten deshalb eine Ordnungsstrafe von drei Reichsmark. Daraufhin entfachte die örtliche Nazi-Presse eine Hetzkampagne gegen den Richter, den sie als »jüdisch« verunglimpfte. Drei Wochen später drangen Angehörige der SA und des Stahlhelm (Bund der Frontsoldaten) in das Gerichtsgebäude ein und hissten auf einem Balkon die Hakenkreuzfahne. Mit Gewalt zerrten sie Landgerichtsdirektor Weißler auf jenen Balkon und zwangen ihn, vor einer versammelten Volksmenge die Hitlerfahne zu grüßen. Tags darauf sah sich Weißler vom Dienst suspendiert. Im Juli 1933 wurde er auf Grundlage des Berufsbeamtengesetzes vom 7. April 1933 aus dem Justizdienst entlassen. Im September 1933 erfolgte der erneute Umzug der Weißlers von Magdeburg nach Berlin. Eine aussichtsreiche Juristenkarriere war binnen weniger Monate durch brutale Maßnahmen des NS -Regimes abrupt beendet.5 Mit dem Umzug nach Berlin ging ein erzwungener Rückzug des Landgerichtsdirektors a. D. in die Privatsphäre und auch in die soziale Isolation einher. Weißler erhielt zwar Ruhestandsbezüge, die jedoch bei der geringen Zahl von Dienstjahren knapp bemessen waren. Die fünfköpfige Familie – Weißlers Mutter gehörte auch dazu – fand eine ansprechende Wohnung im Charlottenburger Westend. Nur bei äußerster Sparsamkeit kamen sie jetzt über die Runden. Als »nichtarischer« Jurist gab es für Weißler so gut wie keine neuen Berufschancen. Auch die Möglichkeit des Publizierens verlor der bis 1933 publizistisch überaus produktive Jurist. Weißler musste erleben, wie sich nicht wenige Berufskollegen, Vereinsfreunde und Bekannte unter dem neuen Zeitgeist von 1933 von ihm abwandten. In Berlin schloss er sich der Bekennenden Kirche an. Sah er sich als Berufskollege und Vereinsmitglied vielfach gemieden und ausgestoßen, so blieb er doch zumindest als christlicher Zeitgenosse in seiner Kirche – 16 –

unter gleich gesinnten »Brüdern« – das glaubte und hoffte er zumindest. Aber auch hier waren die Erfahrungen unterschiedlich. Weißler erfuhr durchaus Solidarität in der Kirchenopposition, aber zugleich gab es auch hier Distanzierung und Ressentiment. Er hielt sich in Berlin zur entschiedenen Fraktion der Bekennenden Kirche um den Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller und den Spandauer Superintendenten Martin Albertz. Für einen »nichtarischen« Protestanten wie Weißler war dies zweifellos eine gefährliche Option. Aber wohin sonst sollte er sich in der auf Exklusion aller »Nichtarier« zielenden nationalsozialistischen »Volksgemeinschaft« wenden? Nach der im November 1934 erfolgten Einsetzung der 1. Vorläufigen Kirchenleitung erhielt Weißler bei diesem Spitzengremium der Bekennenden Kirche eine Anstellung als Bürokraft und juristischer Berater, verbunden mit einer Aufwandsentschädigung. Als sich die Kirchenopposition auf der 4. Bekenntnissynode in Bad Oeynhausen im Februar 1936 endgültig spaltete, rückte Weißler zum Kanzleichef der neu gebildeten 2. Vorläufigen Kirchenleitung auf, einem Gremium, das ausschließlich aus Vertretern der entschiedenen Bekennt­ nis­ opposi­tion der D ­ ahlemer Richtung (»Dahlemiten«) gebildet wurde.6 Die neue Leitung der Kirchenopposition erwog im Frühjahr 1936, ein kritisches Memorandum zur Lage der Christen im »Dritten Reich« zu verfassen und als vertrauliche Eingabe dem Reichskanzler zu überreichen. Die schwierigen Beratungen zogen sich über zwei Monate hin. Weißler war nicht Mitautor, aber als juristischer Fachmann an diesen Beratungen beteiligt und verwaltete als Büroleiter die verschiedenen Entwürfe. Anfang Juni überbrachte Pfarrer Walter Jannasch, der maßgeblich an der Denkschrift mitgewirkt hatte, die abschließende Fassung einem Ministerialbeamten in der Reichskanzlei zur Weiterleitung an Hitler. Die Petition beklagte den staatlich forcierten Trend zur Dechristianisierung in Deutschland, die – wie es hieß – allenthalben eingerissenen Gefährdungen der allgemeinen Sittlichkeit und Verletzungen des Rechts und einen vielfach den Menschen aufgenötigten krassen Antisemitismus. Sie formulierte die eindringliche Frage an die Reichsregierung, ob denn künftig die nationalsozialistische Weltanschauung als Ersatzreligion das Christentum in Deutschland ablösen solle.7 – 17 –

Eine öffentliche Reaktion Hitlers auf die Denkschrift ist nicht bekannt. Berlin und das ganze Deutsche Reich standen zu diesem Zeitpunkt bereits im Zeichen der Olympischen Spiele, die am 1. August beginnen sollten. Aus Rücksicht auf die internationale Öffentlichkeit vermied das Regime zu diesem Zeitpunkt jeden Konflikt, der seinem Ansehen hätte schaden können. Während die Führung der Bekennenden Kirche Woche um Woche auf eine Reaktion des Reichskanzlers wartete, erschien das streng geheim gehaltene Papier seit Mitte Juli in diversen ausländischen Zeitungen. Das war eine Sensation, ein politischer Skandal. Die betont staatsloyale Bekennende Kirche sah sich kompromittiert und geriet in Verdacht, mit ausländischen Mächten zusammen zu arbeiten. Sofort begann die tief verunsicherte Führungsgruppe der Bekennenden Kirche nach undichten Stellen in ihren Reihen zu forschen. Seit September, als die Olympischen Spiele vorüber waren, nahm die Gestapo intensive Ermittlungen wegen des Verdachts »verbotswidriger Betätigung« auf. In Führungskreisen der Kirchenopposition breitete sich während der Monate September und Oktober 1936 eine angespannte Atmosphäre des Argwohns und der Verdächtigungen aus: Jemand musste das brisante Papier nach draußen gegeben haben, rasch war von »Vertrauensbruch« und »Verrat« die Rede. In diesem Zusammenhang geriet auch Weißler in Verdacht, durch dessen Hände sämtliche Varianten des Memorandums gelaufen waren. Am 16. September beurlaubte die Kirchenleitung ihren Büroleiter. Drei Wochen später, am 7. Oktober 1936, verhaftete die Gestapo den Landgerichtsdirektor a. D. in seiner Wohnung und lieferte ihn in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz ein.8 Vier Monate brachte Weißler in diesem Gefängnis zu. Es gab langwierige Verhöre der Gestapo. Sie deckten eine gefährliche Nebentätigkeit Weißlers auf. Parallel zu seiner Bürotätigkeit für die BK-Kirchenleitung hatte sich Weißler vertraulich mit jüngeren Theologen getroffen, um diesen Insiderinformationen über den Kirchenkampf zu liefern mit dem Zweck, diese in ausländische Presseorgane gelangen zu lassen. Diese Verabredungen mit Mittelsmännern hatten subversiven Charakter. Bei einem dieser Treffen im Mai 1936 reichte Weißler auch eine Entwurfsfassung der geheimen Denkschrift weiter, allerdings mit der Anweisung, davon nicht vor einer öffentlichen Re– 18 –

aktion der Regierung Gebrauch zu machen. Auch wenn viele Einzelheiten weiterhin im Dunkeln liegen, kann als sicher gelten, dass sich an dieser Stelle ein Informationsleck auftat, durch das die geheime Petition an die Auslandspresse gelangte. Sicher ist freilich auch, dass diese Verbindung nicht das einzige Leck war. Viele Personen waren in die Textberatungen involviert und mehrere von ihnen hatten vermutlich mit der vorzeitigen Veröffentlichung zu tun. Mehr als alle anderen Verdächtigen geriet nun jedoch der »nichtarische« Jurist Weißler in eine bedrohliche Lage. Auch in Führungskreisen der Bekennenden Kirche rückten viele von ihm ab. Seine Informantentätigkeit, insbesondere seine Weitergabe des Denkschriftentextes, wurde auch in der entschiedenen Fraktion der Kirchenopposition als Vertrauensbruch gewertet. Ende Oktober löste die Kirchenleitung auch offiziell und endgültig die Arbeitsbeziehung mit ihrem seit Wochen in Gestapohaft sitzenden Büroleiter.9 Die Haftbedingungen im Polizeigefängnis waren streng, aber sie erscheinen vergleichsweise korrekt. Im Januar 1937 erschöpften sich die Erkenntnisse aus den Verhören Weißlers und zwei seiner Mittelsmänner. Vermutlich reichten die Ermittlungsergebnisse nicht aus, um ein Gerichtsverfahren wegen Landesverrats oder dergleichen gegen die drei Beschuldigten zu eröffnen. Eine Entlassung aus der »Schutzhaft« erschien den Herrschenden wiederum unangemessen. Denn da war ja tatsächlich etwas gewesen, eine unerwünschte Nachrichtenübermittlung an die Auslandspresse. Das sollte unterbunden werden. Aus diesem Grund wurden am 13. Februar 1937 Weißler sowie die Mithäftlinge Werner Koch und Ernst Tillich in das Lager Sachsenhausen überführt. Für die Aufseher der SS -Wachmannschaft galt Weißler sofort als »Jude«. Während der verbleibenden fünf Tage suchte eine Gruppe von Wachmännern den Häftling in seiner Zelle auf und quälte ihn buchstäblich zu Tode.10 * Schon bald ist Friedrich Weißler als der erste Märtyrer der Bekennenden Kirche bezeichnet worden. War er wirklich der erste? Und ist er im Lager Sachsenhausen wegen seines christlichen Glaubens zu – 19 –

Tode geprügelt worden? Tatsächlich quälten die Totschläger den bekennenden Christen, weil sie in ihm einen »Juden« sahen. Die Haupttäter schlugen mit Weißler einen vermeintlichen Juden tot. Und sie glaubten, mit dieser Tat durchaus im Sinne ihrer »Partei« gehandelt zu haben. In der Nachkriegszeit schmückten sich die evangelischen Kirchen mit Blick auf Weißler einerseits mit der Selbstzuschreibung eines heroischen Etiketts: erster Märtyrer der Bekennenden Kirche. Verbunden war diese Inanspruchnahme mit dem Impetus: Schaut her, wie widerständig wir Evangelischen im »Dritten Reich« waren. Andererseits verwundert zugleich, wie wenig die Nachkriegskirchen für das Gedenken dieses postulierten ersten Märtyrers taten. Vorherrschend war und blieb lange Zeit eine merkwürdig paradoxe Haltung: Reklamierung Weißlers als erster Märtyrer einerseits, mangelnde Erforschung der historischen Kontexte und spärliche öffentliche Würdigung andererseits.11 Spielte vielleicht eine Rolle, dass der erste Märtyrer nicht – wie Dietrich Bonhoeffer – ein Theologe war? Spielte womöglich eine Rolle, dass Weißler in der Denkschriftenaffäre ohne Legitimation den Text weiterreichte und generell Insiderinformatio­ nen an die Auslandspresse vermittelte? War womöglich selbst in der Nachkriegszeit unausgesprochen seine Eigenschaft als »Nichtarier« noch von Belang? Fakt ist, dass es jahrzehntelang nach dem Krieg auffallende Reserviertheiten im »Fall Weißler« gegeben hat. Erst die gewandelten politischen Umstände nach der deutschen Vereinigung von 1990 brachten eine neue Dynamik in Gang. Das gilt sowohl für den Bereich der Justiz wie für die Kirchen. Im Jahr 1996 präsentierten das Bundesverwaltungsgericht in Berlin in Verbindung mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand eine auf gründlichen historischen Recherchen basierende Ausstellung zum »Fall Weißler«. Anlässlich einer Gedenkfeier am 19. Februar 2005, dem Todestag Weißlers, sprachen auf dem Gelände der Gedenkstätte Sachsenhausen die damalige Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries sowie Wolfgang Huber als Ratsvorsitzender der EKD und Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-­Brandenburgs. Während dieser Feier wurde eine von der EKD gestiftete und Friedrich Weißler gewidmete Gedenkstele geweiht.12 Seit November 2008 trägt ein Neubau des Landgerichts Magdeburg den Namen »Friedrich-Weißler-Haus«.13 – 20 –

Vor dem Hintergrund der inzwischen fortgeschrittenen Forschungen zum »Fall Weißler« soll in diesem Buch der Blick auf eine mehrere Generationen übergreifende jüdisch-christlich-deutsche Fami­ lien­geschichte der Weißlers ausgeweitet werden.14 Im Zentrum stehen Adolf Weißler und sein Sohn Friedrich. Diese Familiengeschichte ist in die deutsche Kultur, Politik und Gesellschaft des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts einzubetten. Aus vielen Gründen erscheint sie als Musterbeispiel einer sukzessiven jüdischen Selbstsäkularisierung und Assimilation eines ursprünglich osteuropäischen Judentums an westliche Kulturmuster. Im vorliegenden Fall ließe sich von einer gelungenen Anpassung an die deutsche bürgerliche Kultur sprechen. Als Jude stieß der 1855 in Leobschütz (Schlesien) geborene Adolf Weißler nach Abschluss seines Jurastudiums bei seinem Eintritt in das juristische Berufsfeld des Kaiserreichs (1880er Jahre) noch auf diverse Behinderungen und Restriktionen. Er praktizierte als Rechtsanwalt und Notar und verlegte dabei seine Tätigkeit, da ihm die Richterlaufbahn versperrt blieb, auf das freiberufliche Gebiet. Er trat als Publizist mit der Herausgabe bedeutender juristischer Zeitschriften und Handbücher hervor. Seine drei Söhne ließ er in früher Kindheit taufen. Sein jüngster Sohn Friedrich, geboren 1891, absolvierte im späten Kaiserreich ein Jurastudium. Seine ersten Schritte einer Juristenkarriere zur Zeit der Weimarer Republik scheinen von Behinderungen völlig frei gewesen zu sein. Vorgesetzte stellten ihm die günstigsten Zeugnisse eines ungewöhnlich hoch befähigten Juristen aus, der sich für höhere Positionen empfahl.15 Die religiösen Wandlungen der Familie repräsentieren einen langen und gewundenen Weg der allmählichen Abkehr von einst gelebter jüdischer Frömmigkeit über säkularisierte jüdische Existenz zu kultureller Anpassung an das christliche deutsche Umfeld. Die Reflexionen Adolf Weißlers über Glaube und Religion liefern wichtige Aufschlüsse über seine Abkehr vom Judentum. Der in früher Kindheit getaufte Friedrich Weißler wuchs in der protestantischen Universitätsstadt Halle in einem Milieu auf, das von evangelischem Glauben, von Luthertum und pietistischer Tradition stark geprägt war. Seine aus dem Pfarrhaus stammende Ehefrau Johanna Schäfer brachte evangelische Frömmigkeit und religiöses Brauchtum in die – 21 –

junge Familie ein. Die schweren Schicksalsschläge wie die abrupte Entlassung aus dem hohen Justizamt in Magdeburg (1933) und die Gestapohaft seit Oktober 1936 intensivierten bei Friedrich Weißler eine tiefe christliche Gläubigkeit.16 Eine herausragend prägende Rolle in der Familiengeschichte spielte schließlich ein emphatisches Schwärmen für deutsche Kultur, insbesondere im Leben des Vaters Adolf Weißler. Für seine Biografie liegt die Vermutung nahe, dass die nationalen Bekenntnisse in seinem Seelenhaushalt womöglich an jene Stelle rückten, wo zuvor das Jüdisch-Religiöse in der Familie gestanden hatte. Seine distanzierenden Äußerungen zum Zionismus sowie seine flammenden Bekenntnisse zu Deutschtum und deutscher Kultur lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Mit tiefer Rührung, so schreibt er um 1900, habe er die Schriften des Zionismus gelesen. Aber jene jüdische Nationalbewegung verlange letztlich von ihm Unmögliches: die Aufgabe seines Deutschtums. Es sei ihm bei seiner hohen Wertschätzung deutscher Sprache, Literatur, Kunst und Wissenschaft schlechterdings nicht vorstellbar, seine geliebte »Heimat« aufzugeben. Mit entsprechend hochpatriotischer Haltung verfolgte er im Tagebuch die Ereignisse des Ersten Weltkriegs. Die Kriegsniederlage und die Verhandlungen über den Versailler Vertrag waren für ihn unerträglich. Als die Weimarer Nationalversammlung im Juni 1919 notgedrungen die Bestimmungen des Versailler Vertrags akzeptierte, erschoss er sich, weil er laut Abschiedsbrief »die Schmach« nicht habe ertragen können. Eine vergleichbar hochpatriotische Disposition ist bei Friedrich Weißler nicht zu finden. Die Politik spielte bei ihm während der Weimarer Epoche nur am Rande eine Rolle. Ein politisches Abgleiten in das extrem nationalistische Fahrwasser der politischen Rechtskräfte mit dem Ziel einer Zerstörung der ersten deutschen Demokratie und einer Revision des Kriegsausgangs war bei ihm ausgeschlossen.17 Die vier familiengeschichtlichen Katastrophenjahre von 1933 bis Ende 1936 sind durch die jüngere Forschung in ihren Grundlinien bekannt.18 Diese Forschung erfolgte im Kontext der Affäre um die Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler von 1936, als der geheime Text – 22 –

unautorisiert in der Auslandspresse erschien. Weißler war in diese Affäre verstrickt, die zu seiner Inhaftierung und zu seinem gewalt­ samen Tod im Februar 1937 führte. Es wird sich indessen kaum restlos aufklären lassen, wer aus dem relativ großen Kreis der Mitarbeiter an dieser Pe­tition Textvarianten ›nach außen‹ weiterreichte und über welche Kanäle diese Papiere an die Auslandspresse gelangten. Sicher ist: Es gab mehrere undichte Stellen und mehrere Varianten kamen in Umlauf. Somit ist auch sicher: Weißler, in Verbindung mit den Informanten Werner Koch und Ernst Tillich, war nicht die einzige undichte Stelle. Präziser zu überprüfen ist das Verhalten einer Reihe von Führungspersonen der Bekennenden Kirche wie Martin ­Niemöller, Hans Asmussen, Dietrich Bonhoeffer, Martin Albertz und weiterer Theologen gegenüber Weißler in dem Moment, wo er ins Visier der NS -Verfolgungsorgane geriet. Wie ist der Umstand zu bewerten, dass die Führung der Kirchenopposition in einem fortgeschrittenen Stadium der Affäre, als sich bereits Gefahren für Leib und Leben eines evangelischen »Nichtariers« abzeichneten, die Gestapo beauftragte, in dieser Angelegenheit zu ermitteln?19 Zu untersuchen sind auch die Rückwirkungen, die das verbrecherische Gewaltereignis im nationalsozialistischen Partei- und Staatsapparat auslöste. Es gab offenbar divergierende Bestrebungen, ein Schwanken zwischen Verleugnen und Vertuschen einerseits und Aufklärung sowie strafrechtlicher Ahndung anderseits. Reichsjustizminister Franz Gürtner, Heinrich Himmler und andere NS -Führer schalteten sich in den »Fall ­Weißler« ein. Gegen einige der Täter wurde ein Gerichtsverfahren eröffnet und Strafen verhängt. Fand der plötzliche Todesfall des Juristen und Christen Weißler ein Echo in der internationalen Presse? Mit dem Tod Friedrich Weißlers endete die Familiengeschichte nicht. Für die Familie galt nun: Es musste weitergelebt werden unter den diskriminierenden Bedingungen des Gewaltregimes. Die Ehefrau und Witwe mit zwei halbwüchsigen Söhnen stand ziemlich allein da. Kümmerte sich die Bekennende Kirche um die Angehörigen ihres ersten Märtyrers? Der ältere Sohn Ulrich kam 1939 mit einem durch das »Büro Pfarrer Grüber« vermittelten Kindertransport nach England. Im Juni 1943 wurde die 83-jährige »nichtarische« Mutter Friedrich Weißlers in das KZ Theresienstadt ­deportiert, wo sie im – 23 –

November verstarb. Nach dem Krieg war die Familie auseinander­ gerissen: Johanna Weißler, die Witwe, lebte zunächst in der SBZ bzw. DDR und konnte in den 1950er Jahren nach Berlin-West übersiedeln, wo sie 1978 verstarb. Ulrich Weißler blieb auf Dauer als Pädagoge in England und verspürte auch nach Kriegsende niemals mehr den Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren. Johannes Weißler, der jüngere Sohn, studierte Elektrotechnik an der TU Darmstadt und war später als Diplomingenieur bei großen Firmen wie Siemens im In- und Ausland tätig. Nach seiner Pensionierung pflegte er das Familienarchiv und verfasste eine Vielzahl von Schriften zur Familiengeschichte.20 Fragen stellen sich angesichts des jahrzehntelangen Schweigens und weit reichenden Vergessens. Die deutsche Teilung trennte zunächst die wichtigsten familiengeschichtlichen Erinnerungsorte. Man wird mit guten Gründen von einer stark verzögerten und zugleich »geteilten Erinnerung« sprechen können. Im Osten galt Friedrich ­Weißler vorwiegend als ein »Opfer des Faschismus«, allerdings stand der »christliche Widerstand« dort eher am Rande der staatlich gelenkten Erinnerungskultur und Gedenkpolitik. 21 Im Westen hingegen wurde der christentumsgeschichtliche Aspekt seiner Biografie stärker betont, der ihn zu einem Märtyrer der Bekennenden Kirche machte.22 Von einer berufsständischen Aufarbeitung des »Falls Weißler« im Bereich der Rechtsgeschichte, des Gerichtswesens und der Richterschaft war im Westen bis in die Nachwendezeit hinein kaum etwas zu bemerken. Friedrich Weißler war vermutlich der erste »nichtarische« Richter, der während der NS -Zeit von den Nationalsozialisten in einem Lager umgebracht wurde. 23 Erst die gründlich gewandelten Umstände nach der deutschen Vereinigung brachten hier durch Initiativen einzelner Juristen, namentlich an der Juristischen Fakultät der Universität Halle-Wittenberg, eine neue Dynamik in der rechtshistorischen Aufarbeitung in Gang.24 Alles in allem handelt es sich im »Fall ­Weißler« um eine extrem verzögerte Aufarbeitung, die selbst im Jahr 2017, im Jahr des achtzigsten Todestags Friedrich Weißlers, noch nicht als abgeschlossen gelten kann.25

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Stele für Friedrich Weißler auf dem Gelände der Gedenkstätte Sachsenhausen

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Adolf Weißler, um 1900

erstes kapitel Angekommen im Bildungsbürgertum: Die Weißlers um 1900 Am 1. Juli 1893 siedelten der Rechtsanwalt und Notar Adolf Weißler und seine Ehefrau Auguste mit ihren drei Söhnen im Kindesalter von Königshütte (Chorzów) nach Halle (Saale) über. Mit diesem Umzug verfolgte der wissenschaftlich produktive und publizistisch sehr aktive Jurist einen genau überlegten, sorgfältig vorbereiteten strategischen Plan: Niederlassung in einer mittelgroßen deutschen Universitätsstadt mit einem reichhaltigen Kulturleben und vor allem mit guten wissenschaftlichen Instituten und Bibliotheken, um seine hochfliegenden freiberuflichen Pläne als juristischer Autor und vielseitiger Publizist voranzubringen. Die oberschlesische Industriestadt Königshütte war in dieser Hinsicht tiefste Provinz und setzte seinem beruflichen Vorankommen allzu enge Grenzen. In Königshütte hatte der aus Schlesien stammende junge Rechtsanwalt im Jahr 1882 seine erste Kanzlei eröffnet. Erst mit dem Erwerb des Notariats, einer Prozedur, die mit Schwierigkeiten und längerer Wartezeit verbunden war, hob sich sein Einkommen in Königshütte. Der alles in allem offenbar unterbeschäftigte junge Anwalt in der Provinz hatte sich in diesem Zusammenhang mit der Geschichte des Notariats befasst und festgestellt, dass es an geeigneten Lehrbüchern fehlte. Kurz entschlossen verfasste Weißler eine Geschichte des preußischen Notariats – sein erstes Buch, das im Jahr 1888 publiziert werden konnte.1 Zwei Jahre später ließ Weißler in der Deutschen Notariats-Zeitung einen Aufsatz »Die Zukunft des Deutschen Notariats« folgen, worin er Grundzüge einer reichsrechtlichen Neuordnung des Notariatwesens darlegte. Das war eine viel beachtete Wortmeldung, die dem Verfasser in einschlägigen Juristenkreisen erste Anerkennung einbrachte und ihn reichsweit bekannt machte. 2 – 27 –

Es waren diese ersten Publikationen, die in dem jungen Anwalt noch anspruchsvollere Projekte reifen ließen. In einem Ende 1914 geschriebenen Rückblick auf seinen beruflichen Werdegang erinnerte sich Weißler: »Geschichtliche Studien hatten mich immer gereizt, und ich glaube heut noch, dass ich ein viel besserer Historiker als Jurist geworden wäre. Eine Geschichte der Rechtsanwaltschaft schien mir ein Werk, würdig der Arbeit eines Lebens.«3 Unter schwierigen örtlichen Bedingungen begann Weißler noch in Königshütte mit diesen Forschungen. Er habe seine Studien morgens zwischen fünf und acht Uhr betreiben müssen, da der übrige Tag von Berufsgeschäften erfüllt gewesen sei. Wesentliche Quellen und Literatur waren aus der schlesischen Provinzhauptstadt Breslau zu besorgen, die jedoch mehrere Zugstunden entfernt lag. Historisch reichten seine Forschungen bis auf die Zeit Friedrichs des Großen und weiter zurück. Noch in Königshütte fertigte er ein erstes Manuskript an, das er dem renommierten Rechtswissenschaftler Adolf Stölzel in Berlin zusandte und mit der Bemerkung »Wohlgelungen« zurück erhielt. Einen Verleger fand er jedoch nicht. Daraufhin entschloss sich Weißler, sein Manuskript unter dem Titel »Die Umbildung der Anwaltschaft unter Friedrich dem Großen« auf eigene Kosten drucken zu lassen. Er beschaffte sich die Adressen von etwa dreitausend preußischen Rechtsanwälten, um diesen das Buch gegen eine Spende von drei Mark für die Hilfskasse der deutschen Rechtsanwälte zukommen zu lassen.4 Es zeigte sich indessen, dass die örtlichen Schwierigkeiten eine Fortsetzung dieser Studien nicht zuließen. Bestimmte Quellen­editio­ nen wie die Monumenta Germaniae Historica habe er fortwährend gebraucht, konnte sie jedoch von Breslau nicht ausleihen. Da aber die Fortführung seines einmal begonnenen Werks für ihn inzwischen zur »Lebensaufgabe« geworden sei, habe er den Plan gefasst, in eine Universitätsstadt umzusiedeln. Diese Veränderung sei ihm um 1890 nicht leicht gefallen. Seine Anwaltskanzlei sei inzwischen auskömmlich gewesen. Auch hatte er sich nach einigen Jahren gut eingelebt in Königshütte. In seiner Rückschau von 1914 spricht er von durchaus »angenehmen geselligen Verhältnissen«. Selbst für seine musikalische Leidenschaft habe es diverse Angebote gegeben, wenn auch auf recht bescheidenem Niveau. Aber alles in allem, so resümiert er, – 28 –

sei Königshütte doch eine »öde Stadt« gewesen. Den Marktplatz mit seinem großen Rathaus, die mit Gärten ausgestattete Kaiserstraße und den benachbarten Redenberg mit dem Denkmal des Grafen von Reden, dem Begründer des oberschlesischen Bergbaus – alles das habe er als recht ansehnlich empfunden.5 »Aber im Uebrigen war es eine trostlose Industriestadt. Die gewaltigen Anlagen der vereinigten Königs- und Laurahütte, mitten in der Stadt gelegen, verpufften täglich 20 000 Centner Kohle, und die Stadt war fortwährend in einen Dunst gehüllt, der Abends wie Feuer leuchtete und in dem aus der Bessemerei aufzuckenden riesigen Lichtstrahl einen großartigen Mittelpunkt fand. Die Umgebung erfüllt von Bergwerks- und Hüttenanlagen mit ihren trostlosen Schlackenhalden; der vorhandene Wald war in gewissen Teilen vollständig verdorrt, in anderen allerdings, die ich fleißig durchwanderte, recht hübsch. Kurz, wir sehnten uns fort.«6 Bereits im Jahr 1891 reiste Weißler erstmals nach Halle, um die Stadt näher in Augenschein zu nehmen. Die Stadt gefiel ihm: »Der altersgraue Leipziger Thurm, die schöne Promenade-Anlage, die lebhafte Leipziger Straße, und, wenn man aus ihr heraustritt, der überraschende Anblick der viertürmigen Marktkirche und des freistehenden Roten Turms. Und was ist denn das dort? Ein Standbild, eine mächtige Figur weisend. Das ist ja niemand anders als mein vielgeliebter Händel, der ja hier geboren!«7 Weißler besuchte Justizrat Schlieckmann, einen der namhaften großen Anwälte der Stadt, und Landgerichtspräsident Werner. Es zeugt nicht gerade von mangelndem Selbstbewusstsein, wenn sich Weißler, der junge Anwalt aus der Provinz, bei seinem ersten Besuch in Halle gleich den renommiertesten Juristen am Platz vorstellte, und dies wohl ohne Anmeldung. Beide, so erinnert er sich, hätten ihn bereits durch seine Schriften gekannt. »Es ist doch schön«, so fügte er in seiner Rückschau von 1914 hinzu, »ein Mann von Ruf zu sein. Dabei hatte ich ja noch nicht viel geleistet. Aber in den Kreisen der Praktiker geben literarische Arbeiten, wertvoll oder nicht, schnell einen gewissen Nimbus.« Anlässlich seines Besuches hatte er feststellen können, dass das Notariat in Halle außerordentlich ertragreich sein würde. »Seitdem war die Übersiedlung beschlossene Sache.«8 – 29 –

Adolf und Auguste Weißler, um 1910

Die beruflichen Neuanfänge in Halle gestalteten sich für Weißler als schwierig. Die Anwaltspraxis erfüllte zunächst nicht seine bescheidenen Erwartungen. Für lange Zeit deckten deren Einnahmen nicht einmal die Kosten der Geschäftsstelle. Dreimal wechselte Weißler die Kanzleiadresse, um mehr Kunden zu bekommen. Letztlich sei jedoch die Lage der Geschäftsstelle kaum von Einfluss, so resümierte er 1914. Alles käme auf gute Verbindungen und auf den »Ruf« in der Bevölkerung an. Über beides habe er jedoch in Halle anfangs und für längere Zeit nicht verfügt. Bei seinem Kollegen Schlieckmann machten die Weißlers einen Antrittsbesuch, woraufhin sie eine Einladung zu einem Privatball erhielten. Er habe dort jedoch nicht die maßgeblichen Juristen der Stadt kennen lernen können, sondern lediglich Offiziere und Adel angetroffen, was keine Verbindungen zur Folge hatte. Auch bei zwei jüdischen Kollegen machten die Weißlers ihren Besuch, der jedoch »noch viel weniger« zu einer näheren Verbindung führte. Einigen Anschluss gewann er durch Mitarbeit in einer von Schlieckmann gegründeten Fachschule für Anwaltsgehilfen, wo er mehrere Semester lang die Oberklasse über Elemente der Rechtswissenschaft unterrichtete. Sein guter »Ruf« unter den Fachkollegen brachte ihm einige Aufträge von auswärts ein, die selbst – 30 –

nach zwanzig Jahren in Halle noch die Hauptmasse seiner Anwaltsarbeit bildeten. Um mehr Kundschaft zu akquirieren, besuchte der unterbeschäftigte Rechtsanwalt zeitweilig die Amtsgerichte in den Provinzstädten Wettin und Lauchstädt und lernte zu diesem Zweck eigens das Radfahren. Die meiste Zeit habe er an beiden Orten jedoch während der Gerichtstage untätig im Wirtshaus gesessen und auf Klienten gewartet. Wenn er die trostlosen Fahrten zu den Amtsgerichten unternahm, habe er häufig an seine Eltern denken müssen, die in den Zeiten ihrer geschäftlichen Anfänge in Leobschütz (Schlesien) ihre Handelswaren vergeblich auf den umliegenden Märkten ausgeboten hätten.9 Die Unterbeschäftigung als Anwalt hatte zur Kehrseite, dass Weißler seine schon in Königshütte betriebenen historisch-literarischen Arbeiten intensivierte. Auch die rechtswissenschaftliche Publizistik konnte Einnahmen bringen und erwies sich im Laufe der Jahre sogar als sein wichtigster Einkommenszweig. Weißler begründete in Halle mit der Publikation einer fortlaufenden Sammlung der neuen Gesetze und Verordnungen das Preußische Archiv, das im Jahr 1894 erstmals erschien und sich schon bald zum maßgeblichen juristischen Organ entwickelte, das über den Fortgang der deutschen Gesetzgebung informierte.10 Anfangs brachte ihm dieses Unternehmen fünfhundert Mark jährlich ein, nach 1910 waren es bereits eintausend Mark pro Jahr und mehr. Gegen Jahresende 1914 sprach er in dieser Hinsicht von einem blühenden Unternehmen, von dem er hoffte, dass es in der Familie später einmal vererbt werden könne. Sodann aktualisierte und erweiterte er sein Erstlingswerk über das preußische Notariat, das 1896 in einem Leipziger Verlag erschien. Eine ganze Reihe weiterer Publikationen folgten in den Jahren um die Jahrhundertwende, die den Namen Adolf Weißler zu einer anerkannten Größe in der deutschen Juristenwelt machten.11 Im einschlägigen juristischen Fachorgan, der Deutschen Juristenzeitung, trat der Hallenser Rechtsanwalt mit Aufsätzen hervor. Auf dem Juristentag im Jahr 1900 in Bamberg war Weißler führend an der Neugründung des Deutschen Notarvereins beteiligt und übernahm die Leitung der neuen Vereinszeitschrift.12 Erst ein Jahr zuvor hatte er das Notariat in Halle erhalten. Aber auch damit hoben sich – 31 –

die Einnahmen seiner Kanzlei nicht merklich. Zwar galt er in Fachkreisen als der Experte in Fragen des Notariats, aber das Publikum in Halle, so räumt er ein, habe davon nichts gewusst. »Mein Notariat war das schwächste von allen und ist im Laufe der Zeit noch mehr gesunken. Meine Einnahmen aus Rechtsanwaltschaft und Notariat zusammen waren schließlich ja auf rein 2000 bis 3000 M. gestiegen: das galt bei uns als lächerlich gering. Weil ich mich zu viel mit anderen Dingen beschäftigte, hatte ich keine Praxis, und weil ich keine Praxis hatte, beschäftigte ich mich mit den anderen Dingen.« Und es sei, so resümierte Weißler im Dezember 1914, bis heute dabei geblieben. Immerhin habe ihm »die Schriftstellerei« Einnahmen gebracht, die gereicht hätten, um den Familienunterhalt zu decken. Auch habe er es vermocht, damit die während der einkommensschwachen Hallenser Anfangsjahre verbrauchten Auslagen wieder auszugleichen.13 Weißlers Lieblingsprojekt, die Geschichte der Rechtsanwaltschaft – ein wesentliches Motiv für den Umzug von Königshütte nach Halle –, hatte seither annähernd zehn Jahre lang ruhen müssen. Viele andere Projekte und Tätigkeiten hatten aus Gründen des Gelderwerbs Vorrang gehabt. Erst nach der Jahrhundertwende nahm er die liegengebliebenen Forschungen wieder auf. Nach vier Jahren war das Manuskript zur Publikationsreife gediehen. Weißler machte dem Deutschen Anwaltsverein daraufhin den Vorschlag, das Buchmanuskript für seine etwa 5000 Mitglieder zu erwerben, um es dann bei entsprechend hoher Auflage zu einem sehr kostengünstigen Preis herausbringen zu können. Der Verein nahm sein Angebot nicht an und das vorgeschlagene Projekt kam, zu seinem großen Bedauern, nicht zustande. So musste das Buch anderweitig erscheinen. Es trug seinem Autor zwar immer noch ein ansehnliches Honorar ein, der Verleger machte wegen des relativ geringen Absatzes bei hohem Ladenpreis indessen Verlust.14 Adolf Weißlers »Schriftstellerei« beschränkte sich nicht auf die Publikation der einträglichen juristischen Fachliteratur, die wesentlich zu seinem Berufseinkommen beitrug. Faktisch hatte er als Familienhistoriker sowohl der mütterlichen Linie Hayn wie auch der väterlichen – 32 –

Linie Weißler zahlreiche Urkunden und Dokumente seiner Vorfahren übernommen und kompilierte aus diesem reichhaltigen Familienarchiv die um 1905 abgeschlossene »Weißler’sche Familiengeschichte«, die bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichte. Sie zeigt den Weg mehrerer verwandtschaftlich verflochtener, einst streng jüdischer Familien aus dem polnisch-schlesischen Raum. Geografisch war das eine Wanderung von Ost nach West. Sozial und kulturell war das ein recht erfolgreicher Aufstieg in das akademisch gebildete Bürgertum der Kaiserreichzeit. Im Religiösen war dies ein Prozess fortschreitender jüdischer Selbstsäkularisierung, der kulturellen Assimilation und schließlich der Konversion zum protestantischen Christentum. Weißlers Vater Salomon Weißler, geboren 1820 in Myslowitz (Myslowice) als Sohn eines Rabbiners, heiratete 1847 die jüdische Kaufmannstochter Rosalie Hayn aus Leobschütz und stieg in das Schnittwarengeschäft der Familie ein. Sein Vater sei, berichtet Adolf Weißler, ein Projektemacher gewesen – und so sah er sich selbst auch. Das »elende Kramgeschäft« liebte er nicht sehr. Er versuchte sich in mehreren Geschäftszweigen, in Wollwaren, betrieb zeitweilig eine kleine Textilmanufaktur, brachte es zu einigem Wohlstand in den 1860er Jahren, der es ihm erlaubte, im Jahr 1868 ein ansehnliches Haus in Leobschütz zu erwerben. Das Musikalische und das Rhetorische, so erinnert sich der Sohn, sei sein eigentliches Element gewesen. So wirkte er auch als Synagogensänger in Leobschütz. Zu Hause seien die Verhältnisse streng jüdisch geprägt gewesen, und natürlich habe der Vater versucht, seinen einzigen Sohn jüdisch zu erziehen – jedoch vergeblich, wie Adolf Weißler in seiner Familiengeschichte hinzufügt.15 Der junge Weißler absolvierte ein katholisches Gymnasium in Leobschütz und nahm 1873 ein Studium der Rechte in Berlin auf. Es sei hier gewesen, in der an anspruchsvoller Kultur so überreichen jungen deutschen Hauptstadt, berichtet er, wo er neben dem Studium seine große Leidenschaft zur Musik entdeckte, indem er viele Opernaufführungen besuchte und sich in mehreren Musikvereinen am Chorsingen beteiligte. Nach dem Examen im Jahr 1876 absolvierte er die üblichen Ausbildungsschritte als Rechtsreferendar in seiner Heimatprovinz, zunächst in Myslowitz, sodann in Hirschberg. Hier machte der angehende Jurist erste einschlägige Erfahrungen mit be– 33 –

ruflicher Ausgrenzung und Antisemitismus. Nach der Assessorprüfung im April 1881 in Berlin sei ihm rasch klar geworden, dass er als jüdischer Außenseiter zu dieser Zeit geringe Erfolgschancen hatte, sein ursprünglich angestrebtes Berufsziel – er hatte eigentlich Richter werden wollen – zu verwirklichen. Vor diesem Erfahrungshintergrund entschloss sich der junge Jurist, eine eigene Anwaltskanzlei in seiner Heimatregion Schlesien zu eröffnen.16 Sowohl in seiner »Familiengeschichte« wie auch in separaten Schriften reflektierte Weißler die Wandlungen seiner inneren religiösen Haltung zwischen Judentum und Christentum. Es war vor allem seine Generation – sie sei hier die Kaiserreichgeneration genannt –, die entscheidende Schritte der Abkehr vom Judentum und der Anpassung an die christlich und national geprägte Kultur des deutschen Bildungsbürgertums vollzog.17 Als am 15. Oktober 1884 in Königshütte der älteste Sohn Otto geboren wurde, sei – so erinnert sich Weißler – eine Frage praktisch geworden, über die er viel nachgedacht habe und über die er für sich zu völliger Klarheit gelangt sei: »In welcher Religion sollte das Kind erzogen werden? Oder, wie die Vorfrage lautete: sollte eine Beschneidung stattfinden? Der uralte, angeblich bis auf Abraham zurückgehende Brauch der Beschneidung ist den Juden etwa das, was den Christen die Taufe. Aber anders als die Taufe ist sie ein blutiger, abstoßender, empörender Brauch, den zahlreiche Kreise des gebildeten Judenthums, besonders die Frauen, verabscheuen, ohne jedoch die Kraft zu besitzen, sich von ihm loszusagen. In dieser Lage war meine Frau. Ich selbst verwarf nicht nur die Beschneidung, sondern das ganze Judenthum. Schon längst war ich entschlossen, meine Kinder unter allen Umständen christlich zu erziehen.«18 Bereits zu jenem Zeitpunkt, so bekennt Weißler, sei er dem Judentum religiös und erst recht national »vollkommen entfremdet« gewesen. Er habe nie eine Synagoge besucht und die alten Bräuche und Festtage nicht gehalten. Das Judentum sei ihm eine schwer drückende Last gewesen. Indessen erschien ihm das Christentum weit mehr als diejenige Religion, die vor Gott und den Menschen »angenehm« mache. Probleme habe er allerdings mit der »unverständlichen Dogmatik« des Christentums gehabt. Sie hätte ihn letztlich am Übertritt gehindert.19 – 34 –

Mit der Geburtsanzeige des Kindes teilte er den beiderseitigen Großeltern mit, dass er gewillt sei, von der Beschneidung abzusehen, da das Kind später christlich erzogen werden solle. Daraufhin sei große Entrüstung gewesen: Sein Onkel Leopold [Hayn], der selbst vom Judentum nichts hielt, habe mit Entschiedenheit auf Beschneidung bestanden. Und die Frauen hätten gejammert. Auch seine Frau widersprach. So habe er zunächst nachgegeben und seine Pläne vertagt. Aber auch später habe seine Frau nichts von seinen Plänen wissen wollen. Sie habe kaum jemals die Synagoge besucht und vom Judentum so gut wie nichts gehört. Auch ihr Vater sei dem Judentum ähnlich entfremdet gewesen wie er selbst. Es sei bei ihr vor allem »der Hang am Hergebrachten« gewesen, der ihr Verhalten bestimmt habe. Nachdem er zwei Jahre mit ihr darüber gestritten hatte, beschloss er, die Taufe heimlich vornehmen zu lassen. Anlässlich eines Spaziergangs sei er in das Pfarrhaus gegangen und habe durch Pastor Zawada (»ein milder freisinniger Priester«) das Kind taufen lassen. Die Pfarrfrau sei Taufpatin gewesen. Er werde nie vergessen, wie seine Frau die Nachricht aufnahm: Mit einem unbeschreiblichen Blick sei sie zu Boden gefallen und sprach kein Wort. Bei der Taufe der späteren Kinder Ernst (1887) und Friedrich (1891) habe sie dann keinen Widerstand mehr gezeigt und sich zuletzt seiner Meinung angeschlossen.20 Seit 1909 hatten die Weißlers in Halle eine größere Residenz an der Alten Promenade Nr. 6 bezogen, in deren Räumen sowohl die Anwaltskanzlei wie die Familienwohnung untergebracht waren. Diese vornehme Wohnadresse in großbürgerlicher Umgebung symbolisierte zweifellos so etwas wie beruflichen Erfolg, gesellschaftliches Ansehen und einen gewissen Wohlstand. Und natürlich gehörte es zu den Selbstverständlichkeiten dieses bildungsbürgerlichen Lebensstils, dass die drei Söhne die höhere Schule besuchten. Der älteste Sohn Otto, geboren 1884, begann nach dem Abitur – das ihm einige Schwierigkeiten, besonders in Mathematik, bereitete – ein Studium der Philologie. Ernst Weißler, der mittlere Sohn, geboren 1887, folgte mit dem Abitur im Jahr 1905 und begann zunächst, zur höchsten Verwunderung seines Vaters, ein Studium der Mathematik, wechselte jedoch schon bald über in die Rechtswissenschaft, die – 35 –

ihn aber wenig fesselte. Nach dem recht schleppenden und mühseligen Abschluss des Studiums folgte er, ein musikalischer Enthu­siast, der vor allem für Wagner schwärmte, seinen Leidenschaften für die Musik und begann eine zweite Ausbildung als Opernsänger bei namhaften Lehrmeistern in Berlin. Der jüngste Sohn Friedrich, im Familienkreis nur »Fritz« genannt, erlangte 1909 die Hochschulreife und nahm sogleich und offenbar sehr zielstrebig ein Studium der Rechte auf. Schon sehr früh zeichnete sich hier familiengeschichtlich ab, dass der Jüngste einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten und dessen publizistische Werke fortführen würde.21 Späte autobiografische Aufzeichnungen von Friedrich Weißler aus dem Jahr 1936 erlauben, seine Kindheit und Jugend in Halle in ungewöhnlicher Dichte zu beschreiben. 22 »Mir ist es«, so beginnt der 45-Jährige seine Erinnerungen, »als ob ich als Kind meistens allein gespielt hätte.« Die Beziehung zu den beiden älteren Brüdern sei nicht sehr eng gewesen. Von früh an habe er viel gelesen. Sehr intensiv sei indessen die Beziehung zu seinem Vater gewesen, den er viel auf den ausgedehnten vier- bis fünfstündigen Spaziergängen in Halle und Umgebung an Samstagnachmittagen und Sonntagvormittagen begleitete. Unterwegs sei immer viel erzählt worden. Eine erfundene Geschichte von einem Königreich in Kleinasien hätten Vater und Sohn zusammen mit viel Phantasie über Jahre hinweg mit verschiedenen Rollen fortgesponnen. In der Schule, so heißt es weiter, sei er gut mitgekommen, ohne sich besondere Mühe zu geben. Den meist robusteren Mitschülern gegenüber empfand er Minderwertigkeitsgefühle. Ihre Hänseleien habe er nicht abwehren können. Zeitweise sei ihm der Schulhof während der Pausen zu einer regelrechten »Stätte der Qual« geworden. Im Turnen gehörte er stets zu den Schwächsten. Seine Konfirmation im Jahr 1905 habe tiefe Eindrücke bei ihm hinterlassen. Seine Eltern hätten sich um christliche Erziehung durchaus bemüht, auch hielten sie auf regelmäßiges Tisch- und Abendgebet. »Daß sie selbst keine Christen waren, trat nicht hervor, und ich erfuhr es selbst nur zufällig und nebenbei.« In seiner Konfirmandenzeit habe ihn sein Vater öfter zum Gottesdienst begleitet. Starken Eindruck habe auf ihn sein Konfirmator, Pfarrer Johannes Meinhof, gemacht, der sehr von seinem Glauben erfüllt schien.23 – 36 –

Otto, Ernst und Friedrich Weißler (um 1895)

Mehr authentisch noch als diese Erinnerungen des 45-Jährigen sind tagebuchartige Aufzeichnungen des Jugendlichen aus den Jahren 1906 bis 1909. Unter »Sommerferien 1906« notiert der 15-jährige Gymnasiast am letzten Schultag vor den großen Ferien:24 »6. Juli: Als ich heute um 11 ¼ Uhr aus der Penne nach Hause gekommen war und noch immer keine Nachricht aus Berlin vorgefunden hatte, las ich zunächst die Zeitung und spielte dann ein Stückchen Geige. Nach dem Mittagessen las ich erst den 3. Abschnitt des Generalstabswerks über den südwestafrikanischen Krieg zu Ende, dann wollte ich eine Partie Schach durchspielen, – 37 –

bemerkte aber, dass ein weißer Läufer fehlte, der vermutlich am gestrigen Schachabend bei Saß in ein falsches Spiel geraten war. Deshalb ging ich zu diesem und fand ihn beim Tennisschuhputzen und den Läufer im Vereinsspiel, dann ging ich nach Hause und spielte die Partie durch. Darauf kam mir der Gedanke, in Turnschuhen auf den Tennisplatz zu gehen, wo, wie ich wusste, Saß und Pallas um 3 Uhr spielen wollten. Ich kam bei leisem Regen gegen 3 Uhr dort an, fand aber niemand vor, außer den kleinen Fiedler, der zum Fußballspiel bestellt war und ebenfalls niemand antraf. Wir warteten. Um ¼ 4 Uhr kam Saß und Anton. Ich borgte mir von Wolf einen Schläger für 15 pf, nämlich einen alten, und dann spielten wir. Ich konnte natürlich nichts, aber es fing bald zu regnen an. Wir spielten noch eine Zeitlang im Regen, dann gingen wir in die Baracke, zogen uns an und warteten ein bißchen. Da es aber nicht aufhörte zu regnen, gingen wir im Regen nach Hause. Zu Hause las ich alles mögliche und schrieb dann meine Werke ein, was ich auch nach dem Abendessen tat. Während dieses wurde mir versprochen, dass ich irgendwie einen Tennisschläger bekommen sollte. Uebrigens ging ich noch vor ¼ 10 Uhr schlafen.« Soweit ein Tagesablauf des Gymnasiasten Weißler – recht penibel und minutiös aufgezeichnet das Ganze, stellenweise wirkt das geradezu so, als ob er während des Tages eine Uhr bei sich getragen und stets Uhrzeit und Dauer seiner Tätigkeiten genau abgelesen und ­notiert hätte. Ein halber Satz sticht heraus und kann als überaus charakteristisch für ihn gelten: Natürlich konnte ich nichts – so kommentierte er den Erfolg seines Tennisspiels; ein Eingeständnis, das durch zahlreiche weitere biografische Episoden bestätigt wird. Er war klug in der Schule und furchtbar schwach und ungeschickt im Sportlichen, später wiederholte sich das beim studentischen Fechten oder bei der militärischen Ausbildung im Reiten. Wir schreiben den 6. Juli 1906 – es ist Anbruch der Sommerferien, die Schule ist früh aus, der Junge geht nach Hause und spielt mit sich selbst Schach, musiziert auf seiner Geige, anschließend liest er im Generalstabswerk über den südwestafrikanischen Krieg. Alles dies mutet – 38 –

ein wenig befremdlich an für einen Jugendlichen von gerade fünfzehn Jahren bei Ferienbeginn im Hochsommer. Aber das verweist womöglich auf die Atmosphäre im Hause Weißler und auch auf den allgemeinen Zeitgeist im nationalen Milieu des gehobenen Bürgertums zu jener Zeit.25 Wer ihn zu einer solchen Lektüre anhielt, ist nicht sicher. Vermutlich war das doch eher der hochpatriotische Vater, wie die emphatische Kriegsteilnahme der gesamten Familie wenige Jahre später nahe legt. Stets viel lesen, Schachspiel und Übungen auf der Geige – alles dies dürften zu jener Zeit Hauptbeschäftigungen des Jugendlichen gewesen sein, allesamt Tätigkeiten, die man gut auch allein betreiben konnte. Das Tennisspiel will nicht so ganz passen zu dem jungen Weißler. Aber seine Mitschüler spielten Tennis und Tennis war offenbar zu jener Zeit im gehobenen Bürger­milieu à la mode und so wollte auch der junge Weißler mit dabei sein. Natürlich konnte ich nichts – hält er mit großer Selbstverständlichkeit im Tagebuch fest, geradezu so, als ob er auch selbst von sich gar nichts anderes erwartet hätte. Die Angst vor dem Körperlichen und dem rein Handwerklichen, vor sportlichem Kräftemessen und Geschicklichkeitsproben wird für ihn zu einem Dauerproblem werden. Starke Versagensängste beherrschten den Jugendlichen auf einem nicht ganz unwesentlichen Gebiet des Lebens, auf dem er nicht, wie in allen geistigen Dingen, exzellent war.26 Von der Kirche, so berichtet er, habe er sich nach der Konfirmation zunächst wieder entfremdet. Schuld daran sei der allgemeine Zeitgeist gewesen und auch jener spezielle Geist, der am Gymnasium geherrscht habe. Das Lernen in der Schule sei ihm leicht gefallen. »Ohne viel zu arbeiten war ich fast immer Primus.« Homer regte ihn zu Nachdichtungen an. Latein und selbst die in der Familie allgemein sehr gefürchtete Mathematik beherrschte er gut. Lediglich im Deutschen Aufsatz erreichte er selten eine glatte »Zwei«, was ihn nicht wenig gewurmt habe. Von früh an betätigte er sich viel in Schülervereinen: Schachklub, Leseverein, im Musikverein (der bald missglückte) spielte er Geige, schließlich Stenografenverein und Turnerverein, wodurch er kurz vor dem Abitur, wie er schreibt, wenigstens noch den Aufschwung am Reck erlernte. Eine Zeit lang traf man sich heimlich im »Theaterkränzchen«, wo unter Leitung des Mitschülers – 39 –

Curt Goetz (später ein berühmter Schauspieler und Regisseur) allerhand Stücke eingeübt und außerhalb der Schule, beispielsweise im Stall des Viehhändlers Schwab, aufgeführt worden seien. Als Klassenbester von 37 Schülern bestand er Ostern 1909 das Abitur.27 Direkt im Anschluss nahm Friedrich Weißler ein Studium der Rechte in Halle auf. Nach dem Vorbild seines älteren Bruders Ernst, der bereits seit einigen Semestern studierte, schloss er sich einer studentischen Verbindung an, dem Akademischen Gesangsverein ­A scania. Auf den Rat seines Vaters hin wechselte er für ein Semester an eine auswärtige Universität. Seine Wahl fiel auf Bonn, nicht zuletzt, weil ihm das Verbindungshaus der Bonner Ascania sehr gefiel und er hoffte, dort eine Zeit ungetrübter studentischer Burschenherrlichkeit im Rheinland zu erleben. Zurückgekehrt nach Halle, meldete sich Weißler nach zielstrebigem Studium sofort nach dem sechsten Semester zum Examen und bestand dieses im Juli 1912 mit gutem Erfolg. Alles lief bei ihm wie am Schnürchen, denn am 1. August 1912 wurde er bereits beim Amtsgericht Eilenburg als Referendar vereidigt. Die praktische Anwendung des Rechts, so erinnert er später, habe ihm sehr viel mehr zugesagt als das theoretische Studium. Ein eher unerfreuliches Intermezzo bedeutete indessen die unvermeidliche Militärzeit, das Einjährig-Freiwillige. Am 1. Oktober 1912 trat er beim Feldartillerie-Regiment Nr. 75 in Halle ein, um sein Pflichtjahr »abzudienen«. Hier wiederholte sich offenbar etwas, was er bereits als Schüler auf dem Schulhof und insbesondere beim Sport erlebt hatte: der zarte und eher schwächliche junge Mann wirkte ungeschickt und geriet leicht zum Gespött in der Gruppe. Er habe sich in dieser anderen Sphäre rein körperlicher Tätigkeit äußerst unwohl gefühlt. Zum ersten Mal habe er mit Erstaunen sehen müssen, wie verschieden die »Lebenswelt des Volks« von seiner eigenen gewesen sei. Sobald jedoch geistige Ansprüche gestellt wurden, stieg sein Ansehen. Ein Vortrag beispielsweise, den er vor Unteroffizieren und Mannschaften über die Verfassung des Reichs und Preußens hielt, habe ihm viel Beifall gebracht und seine Stellung etwas verbessert. Das Reiten scheint ein besonders gravierendes Problem gewesen zu sein. Im Dezember erlitt Weißler einen schweren Reitunfall mit Gehirnerschütterung und war wochenlang ans Bett – 40 –

gefesselt. Erst Ende Februar 1913 wurde er wieder für dienstfähig erklärt. Auch anschließend erwies er sich als weithin dienstuntauglich, so dass er im April vorzeitig entlassen wurde. Er setzte nun seinen Vorbereitungsdienst in Eilenburg fort, der ihm im Sommer 1913 immerhin so viel freie Zeit ließ, dass er während dieser Monate seine Doktorarbeit vorbereiten konnte. Das Thema hatte ihm sein Vater gestellt. Im September wurde er zur weiteren Ausbildung für ein Jahr an das Amtsgericht Halle überwiesen. Wenig später, im Dezember, bestand er an der Universität Halle das Rigorosum mit »magna cum laude«. Im Februar 1914 feierte man im Familienkreis die e­ rfolgreiche Promotion des Jüngsten und zugleich den Geburtstag seiner Mutter – es war, wie Weißler 1936 hinzufügt, das letzte ungetrübte Familienfest vor dem »Einbruch der schweren Zeit«.28 In den autobiografischen Aufzeichnungen Adolf Weißlers fehlt es nicht an Episoden und Momenten, die von antijüdischer Zurücksetzung und antisemitischen Ressentiments zeugen. Seine Berliner Studentenzeit (1873–1876) scheint von solchen Erfahrungen noch völlig frei gewesen zu sein. Anders sah es während seiner Referendarzeit aus, als er im Dezember 1879 nach Hirschberg (Schlesien) kam. Die Aufnahme in der örtlichen Tischgesellschaft, die aus Referendaren und Philologen bestand, sei »frostig« gewesen. Er sei von der Gruppe »geschnitten« worden, ohne sich dies zunächst erklären zu können. Auf Nachfrage sei ihm eröffnet worden: mit jüdischen Kollegen wolle die Gruppe lediglich amtlich verkehren, da man schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht habe. Die Richter indessen – also die älteren, etablierten Kollegen am Ort – hätten daraufhin mit einer Ausnahme für ihn Partei genommen. Der Landgerichtspräsident lud sich die Referendare vor und missbilligte ihr Verhalten. Es komme nicht auf Religion und Abstammung an, hielt er ihnen vor, sondern allein auf Tüchtigkeit und Ehrenhaftigkeit. Für Weißler änderte sich praktisch nichts. Er hielt sich von der Gruppe fern und nutzte die Wochen­enden vor allem zu ausgedehnten Wanderungen in der Umgebung. Eine zweite Zurücksetzung erlebte Weißler nach der Asses­sorenprüfung. Er bewarb sich auf zahlreiche Richterstellen, jedoch stets vergeblich. Um der Sache auf den Grund zu gehen, suchte er Oberlandes– 41 –

gerichtspräsident Richard Schultz-Völcker in Breslau auf. Der Justizminister, so lautete dessen Auskunft, habe angeordnet, dass jüdische Assessoren außerhalb ihres Heimatbezirkes nicht angestellt werden sollen. Und er, Weißler, habe sich bei seinen Bewerbungen stets für andere Bezirke gemeldet. Adolf Weißler fügt in seiner Erinnerung von 1914 nicht ohne Bitterkeit hinzu: Der preußische Justizminister Heinrich von Friedberg sei selbst ursprünglich jüdischer Assessor gewesen und hätte sich lange Zeit dagegen gewehrt, zu konvertieren. »Ich habe es ihm nie verzeihen können, dass er, der durch Uebertritt zum Christenthum in seine hohen Stellungen gelangt war, derjenige gewesen ist, der die ungerechte Behandlung der jüdischen Assessoren eingeleitet und dadurch die ehrliche preußische Justizverwaltung mit einem Schandfleck beladen hat.« Nach dieser Erfahrung fasste Weißler den Entschluss, sich als Rechtsanwalt niederzulassen. Manche weitere antijüdische Erfahrung kam bei ihm hinzu, auch noch zu späterer Zeit als angesehener Rechtsanwalt und Notar in Halle. Weißler ließ sich davon in seinem entschiedenen Assimilations­streben an die christlich und deutsch­natio­nal geprägte Bürgerkultur des Kaiserreichs nicht beirren.29 In einem kleinen, unveröffentlichten Aufsatz, geschrieben um 1912, setzte sich Weißler auch mit einer »Gegenbewegung« innerhalb des Judentums auseinander. Seit etwa einem Jahrzehnt, so schreibt er, habe sich die zionistische Bewegung »ziemlich mächtig« ausgebreitet. Es falle ihm nicht leicht, diesem Ansturm zu widerstehen: »Ich habe die Schriften des Zionismus mit tiefer Rührung gelesen, habe mich in seine Gedanken zurück zu lenken versucht, habe fast bedauert, nicht mit tun zu können. Aber der Zionismus verlangt Unmögliches. Er stellt uns die unerhörte Zumutung der Aufgabe unseres Deutschtums. Gewiß, er leugnet das, er umhüllt es mit dem Schleier der Phrase. Aber wenn zuerst und zuletzt natio­ nal­jüdisches Bewusstsein unseren ganzen Menschen erfüllen soll, wenn wir ein Volk mit eigener Kultur, Sitte und Sprache werden sollen (…), so könnten wir zwar unsere Pflichten als Deutsche Staatsbürger daneben erfüllen, hätten aber innerlich nichts mit dem deutschen Volke gemein, wären Deutsche nur der Staats­ – 42 –

ange­hörig­keit nach, wie die Franzosen Schweizer, die Deutschen Amerikaner sind. Eben dies ist das Unannehmbare. Was? Dieses große Deutsche Volk, dessen Sprache wir reden, dessen Sitte wir üben, dessen Macht und Herrlichkeit wir genießen, wäre nicht unser Volk? Sein Schrifttum, das wir bilden helfen, seine Kunst und Wissenschaft, der wir unser Leben geweiht, wäre nicht die unsere? Dies Deutschland, das unsere Väter mitgebaut, wäre nicht unsere traute Heimat? (…) Nein und dreimal Nein.« Diesem um 1912 verfassten, flammenden kulturellen Bekenntnis zum »Deutschtum«, das er in seiner lebensgeschichtlichen Bilanz vollständig zitiert, hat er nun – wir schreiben Dezember 1914 – noch ein aktuelles Wort hinzugefügt: »Das war vor dem Kriege. Seitdem – wer denkt heut noch anders als den deutschen Gedanken?« Vier Tage später ergänzt er im Tagebuch: Er habe das Problem des Zionismus vor Jahren in einem Roman »Der König von Juda« behandelt. Lange Zeit habe er das Manuskript in der Schublade liegen gelassen. Im Jahr 1912 schließlich habe er sich dazu »verleiten« lassen, diesen Text endlich zu publizieren. Das Buch sei allerdings völlig unbeachtet geblieben und habe ihn einen Zuschuss von über 900 Mark gekostet.30 Arriviertheit – um 1910 dürfte dies das vorherrschende Lebensgefühl der Weißlers in Halle gewesen sein. Man war angekommen im sozialen Milieu des gehobenen Bürgertums der Wilhelminischen Epoche. Adolf Weißler war inzwischen ein recht erfolgreicher Anwalt und Notar, er erreichte ein Jahreseinkommen von zehntausend Mark und mehr, wesentlich durch seine juristische Publikationstätigkeit. Sein Familienkapital, das er von Königshütte mitbrachte, hatte er nach anfänglichen Verlusten nicht nur ausgleichen, sondern weiter ausbauen können. Es gab somit Sicherheiten für den Notfall und gegebenenfalls Starthilfen für die berufliche Etablierung der Söhne. Im Jahr 1901 war ihm der Titel »Justizrat« verliehen worden. Seine drei Söhne, in früher Kindheit christlich getauft, waren evangelisch konfirmiert worden. Sie hatten das humanistische Gymnasium erfolgreich durchlaufen und mit dem Abitur abgeschlossen. Inzwischen studierten sie an der Universität und waren im Begriff, sich für akademische Berufe zu qualifizieren. Man lebte gewiss nicht üp– 43 –

pig, nicht verschwenderisch, sondern weiterhin sparsam und eher zurückgezogen. Größere Gesellschaften gaben die Weißlers nicht. Aber die Familie konnte sich doch in wachsendem Maße etwas leisten.31 Ein Gradmesser der inzwischen erreichten Arriviertheit waren sommerliche Urlaubsreisen. Es gab sie nicht in jedem Sommer vor 1914, aber wenn sie stattfanden, so bildeten sie doch gewiss einen familiären Jahreshöhepunkt gemeinsamer Erlebnisse und des Wohlbe­ findens. Anfangs fielen die Reisen eher bescheiden aus, steigerten sich dann offenbar spürbar an Dauer und an Umfang. Die erste »Sommerfrische« der fünfköpfigen Familie geht im Sommer 1905 nach Thüringen, Winterstein am Inselberg, Hotel »Schwarzer A ­ dler«, ein bis zwei Wochen. 1906 (und wohl auch 1907) gibt es keine größere Fahrt. »Fritz« ist lediglich auf Verwandtenbesuch in Berlin bei der Familie seiner Tante Margarete Buki und spielt dort recht brav auf der Geige vor. Im Sommer 1908 fahren Adolf W ­ eißler mit Ehefrau und dem jüngsten Sohn, der nun 17 Jahre alt ist, ins Rheinland. Das ist teilweise geschäftlich bedingt, denn Adolf W ­ eißler, einer der reichsweit bekannten Notare, der einen Namen hat, besucht die Jahrestagung des Deutschen Notarvereins am 12. Juli in Köln. Man bewegt sich hier im Kreise von Justizräten, Geheimräten, Richtern, Gerichtspräsidenten – das hochsommerliche Honoratiorentreffen wirkt stellenweise durchaus als üppig. Die Beratungen des Vereins finden am Sonntagvormittag statt. Parallel dazu gibt es ein Begleitprogramm für die Damen: Stadtrundfahrt im Kutschwagen unter sachkundiger Führung der örtlichen Honoratiorengattinnen. Im Mittelpunkt des Treffens scheint jedoch das ausladende »Diner« zu stehen, das am Sonntagnachmittag von 14 bis 18 Uhr angesetzt ist und damit an Dauer die eigentlichen Vereinsberatungen des Vormittags deutlich übertrifft. Im Anschluss reist die Familie ­Weißler weiter rheinaufwärts: Dampferfahrt nach Koblenz, Weiterfahrt nach Rüdesheim, Stationen in Wiesbaden und Karlsruhe, dort Besuch bei einem befreundeten Geheimrat Dreßler, anschließend nach BadenBaden. Die Reise führt weiter nach Freiburg, es folgen Verwandtenbesuche mit privaten Übernachtungen und Wanderungen im Schwarzwald, sodann vorzeitige Rückkehr wegen Schlechtwetters nach Halle. – 44 –

Als ein Höhepunkt kann die große Alpenreise im Sommer 1909 gelten. Die Fahrt der Eltern mit dem Jüngsten und Grete Buki, der Tante aus Berlin, beginnt am 15. August und führt bis Lindau am Bodensee, dann mit dem Dampfer über den See nach Rorschach und weiter mit dem Zug nach Chur. Man trifft diverse Verwandte in den Schweizer Bergen, unternimmt gemeinsame Bergtouren, und es ist nicht selten ein logistisches Meisterstück, die verschiedenartig Reisenden immer wieder irgendwo zusammengeführt zu sehen. Die Damen reisen dabei meist mit dem Postwagen voraus oder den Wanderern hinterher. Auch anspruchsvolles Bergsteigen steht auf dem Plan, mit einem professionellen Bergführer und Übernachtungen in wenig bequemen Berghütten. Ein bestiegener Gipfel im Oberengadin misst 3442 Meter über dem Meeresspiegel, wie der junge Fritz im Reisetagebuch festhält. Die Reisenden erreichen die oberitalienischen Seen, wandern und baden, baden und wandern, schließlich stehen Sils Maria und St. Moritz noch auf dem Programm. Aus geschäftlichen Gründen muss der Vater schon früher die Rückreise nach Halle antreten. Am 1. September trifft die Reisegesellschaft von München kommend in Halle ein, der Vater holt sie mit »der Elektrischen« vom Bahnhof ab. Wiederholt hatten sie am Alpenrand Ausschau nach einem Zeppelin gehalten, der, so hieß es, gerade von Berlin zurückkehren sollte – jedoch vergeblich.32 Die Weißlers waren angekommen um 1910. Aber es gab doch auch immer wieder Irritationen, unliebsame Zwischenfälle, empfindliche Rückschläge der Integration. Über lange Zeit hinweg war die hochmusikalische Familie der akademischen Verbindung A ­ scania verbunden. Als Studenten gehörten alle drei Söhne ihr zeitweilig an. Auch Vater Weißler hielt sich als »Alter Herr« aufgrund seiner früheren Zugehörigkeit als Student in Berlin zu dieser Richtung von akademischen Gesangsvereinen, die inzwischen im Sondershäuser Verband zusammengeschlossen waren. Die Kontakte zum Halleschen Verein hatte er jedoch vorübergehend abgebrochen, als er erfuhr, dass man dort satzungsgemäß Juden nicht aufnehme:33 »Darum aber habe ich nicht meine Kinder Christen werden lassen«, so resümiert er 1914, »um sie in die erzwungene Absonde– 45 –

rung der jüdischen Studenten hineinwachsen zu lassen. Zudem waren so deutliche Anzeichen dafür vorhanden, dass dieser Anti­ semitismus eigentlich nur noch theoretisch sei, der sich praktisch nicht bemerkbar mache (…) Ich ließ also Ernst aufnehmen, nicht ohne einem älteren Mitgliede, seinem Leibburschen, zu eröffnen, dass ich ein Jude sei, dass mir die betreffende Satzungs­bestim­ mung des Vereins [in Halle] gegen die Satzung des Verbands zu verstoßen scheine, der solche Ausschließung nicht kenne und sich, trotz mancher Ver­ suche, immer davon ferngehalten habe. (…) Eines Tages überraschte man mich mit der Nachricht, dass auch Otto eingetreten sei. Wir waren nun alle darin, eine ganze Familie, und machten uns recht nützlich. Ich selbst wurde mit der größten Hochachtung behandelt, und bei Gelegenheit eines ganz besonderen Festes, der Einweihung des Vereinshauses, zum Alten Herren honoris causa ernannt. Das hatte zur Folge, dass ich mich mit allen Mitgliedern und Alten Herren des Vereins, zumeist ­Pastoren, zu duzen hatte…«. Aber derartige Probleme tauchten immer wieder auf. Als eine Gesamtrevision der Satzungen anstand, erklärte Weißler, er wolle sich die Weitergeltung einer seit langem bestehenden und praktisch nicht mehr gehandhabten Satzungsbestimmung gefallen lassen. Einer Neu­ einführung der so genannten Judenklausel müsste er jedoch widersprechen. Der Brief eines offenbar entschieden antijüdischen, ­einflussreichen Alten Herren drohte mit Zerreißung des Bundes. Die gesamte Weißler-Familie indessen war entschlossen, bei Neueinführung der Klausel aus dem geliebten Verein auszuscheiden. »In letzter Stunde«, so Weißler, sei dann ein Bundesbruder mit einer Kompromissformulierung hervorgetreten, die es erlaubt habe, dass eine Zerreißung des Verbandes habe vermieden werden können. Konflikte dieser Art wiederholten sich. Als eine Nichte Adolf Weißlers ihren jüdischen Verlobten, der in Halle studierte, zu einer Einladung mitbrachte, stieß man sich an dessen – angeblich jüdisch klingenden – Namen, es fielen Redensarten über unerwünschte jüdische Gäste und dergleichen mehr. Wieder drohten die Weißlers geschlossen mit dem Vereinsaustritt, wozu es dann am Ende jedoch nicht kam. Man – 46 –

liebte die Musik und das gemeinsame Musizieren dort zu sehr, auch die Geselligkeit und mancherlei Verbindungen zum Verein und so blieb die Familie der Ascania auf Dauer verbunden.34 Konturen der geistigen Situation im Hause Weißler um 1910: Adolf Weißler war religiös ein Suchender, zählte sich innerlich nicht mehr zum Judentum, hielt sich nicht zur jüdischen Gemeinde, besuchte nicht die Synagoge, beachtete im Privaten nicht mehr die jüdischen Regeln und Feiertage. Aber auch eine Konversion zum Christentum war für ihn nicht gangbar. Die christliche Dogmatik, damit meinte er im Kern wohl die Trinitätslehre, fand er so un­verständlich, dass er sie für sich nicht übernehmen konnte. Er bewegte sich als ein religiös Suchender zwischen Judentum und Christentum. Zeitweilig interessierte er sich stark für einen neuartigen protestantischen Apostel, einen »ganz liberalen Pastor v. Broecker«, wie sich Friedrich Weißler erinnert. Politisch wird man Adolf Weißler als einen Nationalliberalen der wilhelminischen Epoche charakterisieren können, mit stark ausgeprägten, hochpatriotischen Bekenntnissen zu Deutschtum und deutscher kultureller Größe, zugleich aber mit festen liberalen Überzeugungen von der prinzipiellen rechtlichen Gleichheit aller Staatsbürger, ungeachtet ihrer religiösen oder sonstigen Orientierungen. Antisemitischen Haltungen trat er wiederholt entschieden entgegen – nicht nur, weil sie ihn selbst betrafen, sondern aus prinzipiellen rechtsstaatlichen Überzeugungen und menschenrechtlichen Humanitätsidealen. Friedrich Weißler, der jüngste Sohn, stand von allen drei Söhnen dem Vater am nächsten und wies sicherlich am meisten väterliche Prägung auf. Das äußerte sich schon darin, dass er sich von früh an als ein leidenschaftlicher Jurist betätigte, hierin dem Vater ganz in dessen Sinn und Projekten nacheiferte und sehr zielstrebig auf eine glänzende juristische Karriere zusteuerte. Er war christlich getauft, durch Schule, Kirche und Elternhaus weithin protestantisch sozialisiert, hielt sich aber, was die Zeit vor dem Weltkrieg betrifft, noch nicht für einen gläubigen Christen. Er hat in seiner autobiografischen Skizze von 1936 eine dichte Beschreibung seiner geistigen Situation als Jugendlicher geliefert, der gewiss ein hohes Maß an Authentizität beizumessen ist. »Man lebte«, so charakterisiert er die – 47 –

Friedrich Weißler im Jahr 1912

Jahre vor dem Krieg, »im selbstverständlichen Besitz einer festen Staats- und Gesellschaftsform, eines täglich wachsenden Wohlstandes und einer idealistischen oder materialistischen Weltanschauung, die allen Bedürfnissen zu genügen schien. (…) Gewiß gab es noch allerhand problematische Dinge, etwa die soziale Frage, das sexuelle Problem oder auch die Vater besonders interessierende Frage einer religiösen Erneuerung (…). Aber alle diese Dinge lagen doch nur am Rande und berührten den einzelnen nicht tiefer. So ist es kein Wunder, dass die Jugend im Geiste der Selbstgerechtigkeit heranwuchs und von dem Kampf, den einzelne erlauchte Geister bereits begonnen hatten, nichts Rechtes erfuhr. Die Schule paukte ihr klassisches – 48 –

Humanitätsideal und entließ ihre Zöglinge mit festen Scheuklappen vor dem wirklichen Leben. Das Elternhaus stand im Durchschnitt nicht höher.«35 Sein geistiger Standpunkt sei, gleich seinem Vater, der eines »philosophischen Idealismus« gewesen. Damit meinte er »Anerkennung geistiger u. sittlicher Werte, ja ihre Höherbewertung gegenüber dem Materiellen, aber dabei unter absolutem Primat der Vernunft, also unter entschiedener Ablehnung alles Übersinnlichem und Unfassbarem. Von diesem Standpunkt aus konnte man für die christlichen Kirchen nur das Mitleid des turmhoch höher Stehenden aufbringen. Immerhin hielt ich mich nicht für einen Atheisten. Mein Gott war nur über jene vermeintlich plump-sinnlichen Vorstellungen der Christen erhaben u. konnte sich darum auch nicht damit befassen, ihre Gebete anzuhören.« Politisch, so führt er weiter aus, sei er vor dem Krieg »stark reaktionär« gewesen: Gegner des Liberalismus und Befürworter einer »möglichst absoluten Monarchie«. Dass man ein geistig hoch stehendes Volk wie die Deutschen, so schreibt er auf die Vorkriegszeit rückblickend im Jahr 1936, nicht mit »russischen Methoden« regieren könne – dafür habe ihm damals jegliches Verständnis gefehlt. Sein Vater habe damals vergleichsweise viel liberalere Ansichten gehabt.36 Sommer 1914 – der junge Weißler ist inzwischen als Rechtsreferendar am Landgericht Halle tätig und spielt jetzt »richtig Tennis«, nachdem er Anschluss an einen kleinen Freundeskreis gefunden hatte. Den Mittelpunkt dieses Kreises habe eine »üppige Blondine« gebildet. »Hier fand ich«, so deutet er dezent an, »in diesem Sommer meine geselligen Freuden und eine übrigens rein sinnliche, durchaus ungeistige Bindung, die zum Ernst hätte werden können, wenn der Krieg uns nicht auseinandergesprengt hätte.« Die letzten Monate vor dem Krieg habe er im Schein einer solchen ungetrübten Idylle gelebt. Im Beruf ging es mühelos vorwärts. Auch die Geselligkeit in der ­A scania sei höchst angenehm gewesen. Inzwischen sei er, der 23-jährige Herr Doktor und Rechtsreferendar am Landgericht, bereits »Alter Herr« in der Verbindung gewesen und habe dort nur noch Rechte, jedoch keine Pflichten mehr gehabt. »In diese Atmosphäre bürgerlicher Sattheit und Sorglosigkeit«, so schreibt er, »schlug wie ein Blitz der Krieg ein.«37 – 49 –

Vorderseite der »Weissler’schen Familiengeschichte«

zweites kapitel Eine hochpatriotische Familie im Großen Krieg Bei Kriegsausbruch im August 1914 begann Adolf Weißler ein Tage­ buch zu schreiben. Das hatte er zuvor nicht getan, auch wenn er als Publizist ein Vielschreiber war. Im Jahr 1905 hatte er seine Familien­ geschichte abgeschlossen. Sie füllte anfangs lediglich eine einfache schwarze Kladde. Einige Jahre später hatte er sich ein großes stattliches Familienbuch mit aufwändig-prachtvollem Ledereinband und dem Prägeaufdruck »Weissler’sche Familiengeschichte« anfertigen lassen. Zweifellos war dieser Prachtband, dessen Einband auf der Vorderseite einen fruchtbringenden Eichenzweig zeigt, für sich schon eine Art Monument, ein Ausdruck des familiären Selbstwertgefühls im Hause Weißler um 1910. Nous sommes arrivés – diese Grundstimmung von Erfolg repräsentierte das Buch auf den ersten Blick. In dieses »große Buch« hatte Weißler seine familiengeschichtlichen Aufzeichnungen übertragen. Nun, bei Kriegsbeginn Anfang August 1914, nahm er das große Buch erneut vor und begann damit, nahezu täglich Aufzeichnungen über den großen Krieg und seine Wirkungen auf Familie und Alltagsleben einzutragen.1 »Ich wollte dieses Buch nicht weiterführen. Aber die Ereignisse sind zu erschütternd. Ich muß mein beladenes Herz irgendwo ausschütten. Ich will ein Kriegstagebuch führen. Ich will später einmal nachlesen können und meine Nachkommen, wenn welche davon am Leben bleiben, mögen nachlesen, was wir gedacht, gefühlt und gelitten haben in dieser furchtbaren Zeit.« So beginnen die Eintragungen in der ersten Augustwoche 1914 mit einer langen summarischen Aufzeichnung: Er berichtet von umfangreichen Reiseplänen für den Sommer 1914, Vierwaldstätter See, eine Hochzeit in Villingen (Baden), Sitzung des Ständigen Ausschusses des Internationalen Notar-Kongresses in Utrecht, Deutscher Notartag in Düsseldorf – das alles war nun hinfällig. Hochpatriotische Stimmungen mischten sich bei ­Weißler – 51 –

anfangs mit Skepsis und teilweise mit Sorge, doch mehr und mehr ließ er sich von der allgemeinen Kriegspsychose mitreißen: »Diese fürchterlichen Zurüstungen! Der Belagerungszustand im ganzen Reiche! In den Grenzprovinzen sofort der Landsturm aufgerufen! Das war doch 1870 nicht gewesen. Dazu die Spionenfurcht. Alle öffentlichen Gebäude, die Werte bergen, sind militärisch durch Posten mit aufgepflanztem Seitengewehr bewacht, so auch die Post. Ebenso alle Brücken, die Wassertürme. Auf dem Bürgersteig, den der Posten begeht, dürfen Andere nicht gehen. Die ungeheuerlichsten Gerüchte schwirren. Bereits acht russische Spione sollen bei uns in Halle ergriffen und auch schon erschossen worden sein.« Mit Verwunderung las Weißler von der Besetzung Luxemburgs. Vor Neutralitätsverletzungen, so notiert er, hätten wir uns doch sonst gehütet. Ein Kollege habe ihm mitgeteilt, dass dessen Tochter nur mit Mühe aus England habe zurückkehren können. Sie berichtete von politischer Siedehitze, die dort gegen Deutschland bestehe. »Ich konnte die Nacht kaum schlafen. Immer sah ich ein furchtbares Ungetüm auf uns zuschwimmen, Englands ungeheure Flotte, noch verstärkt durch die französische, eine Uebermacht, gegen die kein Widerstand denkbar. Und als am nächsten Morgen wirklich Englands Kriegserklärung gemeldet wurde, da stand mir das Herz still. Ich und mein Sekretär Forke wir reichten uns stumm die Hände, wie bei einem Begräbnis!«2 Wie um sich ein Stück weit zu beruhigen, so rechnete sich Weißler in einer Art Selbstvergewisserung vor, dass der Krieg ihm bei seinen gesicherten persönlichen wirtschaftlichen Verhältnissen eigentlich nicht viel würde anhaben können. Seine jährlichen Haupteinnahmen habe er zuletzt aus der Leitung der Zeitschrift des Deutschen Notarvereins (6000 M) und des Preußischen Archivs (1100 M) bezogen. Beide Einkommen seien vom Krieg unabhängig. Hinzu kämen die Zinsen eines Vermögens von 70 000 Mark. »Mochten also die Einnahmen aus Rechtsanwaltschaft und Notariat, welche bei mir immer klein gewesen waren, gänzlich versiegen: mir konnte nicht viel geschehen. Aber nie in meinem Leben habe ich empfunden, mit welch unzerreißbaren Ketten uns das Vaterland umwindet, wie sehr jede Existenz mit der seinigen verknüpft ist. Nur wer solche Zeiten erlebt hat, weiß, dass das Vaterland Alles bedeutet.«3 – 52 –

Wie einschneidend der religiös skeptische Weißler den Krieg empfand mag auch aus dem Umstand hervorgehen, dass er in jenen August­tagen zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder eine Synagoge besuchte. Generell habe er zu dieser Zeit, so bekennt er, »die Religion« als sehr unvollkommenes Menschenwerk angesehen. Das Judentum, dem er seit Geburt angehöre, habe religiös für ihn keinen Wert mehr besessen. Und dass es auch national für ihn keinen Wert haben könne, das hätten ihn die letzten Tage in aller Deutlichkeit gelehrt. Auch wenn er keinen persönlichen Verkehr mit der hiesigen Judenschaft unterhalte, so habe er »in diesen ernsten Tagen« doch religiöse Bedürfnisse empfunden und anlässlich der allgemeinen Kriegsbettage die Synagoge besucht. »Ich kam während der Predigt und stellte mich, um nicht zu stören, in den nächsten Winkel, wo ich die ganze Zeit über stehen blieb, wie ich mir dachte, ein Symbol der Sonderstellung, die ich in der Gemeinde einnehme. Ich merkte wohl, wie mein Erscheinen bemerkt wurde: hatte man mich bisher doch nie an diesem Orte gesehen. Es sprach ein Leipziger Prediger, denn der eigene stand beim Heere. Die Predigt war ganz annehmbar, doch nicht der Größe des Augenblicks entsprechend. Dann kam ein unerträglicher hebräischer Gesang des Cantors, zuletzt ein hübsch gesungener Chor mit Orgelbegleitung. Erhebung muß man nicht in Kirchen suchen.«4 Während der ersten Kriegstage, so berichtet Weißler, habe er sich in einer »fieberhaften Spannung« befunden. Nur mit Unlust habe er gegessen, auch habe er nichts Rechtes arbeiten können und sei immerfort auf den Straßen umher gelaufen. Patriotische Kriegsgefühle mischten sich bei ihm, wie er eingesteht, mit Kleinmut. Was die politischen Fähigkeiten des Kaisers anlangt, so habe er lange Zeit seine Zweifel gehabt. Womöglich sei jetzt die Prüfungszeit gekommen, in der sich das Staatsoberhaupt werde bewähren müssen. Er habe sich lange gefragt, ob es denn gut sei, sich für einen unhaltbaren Zustand einzusetzen: die Zerrissenheit der slawischen Völker, wie sie durch das Bestehen der österreichisch-ungarischen Monarchie bedingt sei. Auch diese Völkerschaften hätten doch einen berechtigten Anspruch auf nationale Selbständigkeit. Überdies hätten »wir«, sagt er, gesündigt durch unseren politischen Umgang mit Polen, so dass jetzt – 53 –

womöglich ein Strafgericht komme. Schließlich habe der Krieg mit dem offenkundigen Unrecht der Neutralitätsverletzung Belgiens begonnen. Mit seinen trüben Ahnungen stünde er freilich allein da. Allgemein herrsche eine Zuversicht, die ihm angesichts der tatsächlichen Kräfteverhältnisse unbegreiflich erscheine. »Wir stehen wie in einer Wolke eingehüllt.« Täglich kämen nun neue Siegesmeldungen herein. Lüttich sei im Sturm genommen worden. Und wie großartig sei nun die Einigkeit der Parteien. »Da ist nichts mehr zu spüren von Konservativen und Liberalen, Klerikalen, Sozialdemokraten; es gibt keine Antisemiten und keine Juden mehr; nach dem Krieg wird es wahrscheinlich auch keinen Zionismus mehr geben. (…) In unserem sozial­ demokratischen Vereinshause, dem Volkspark, singen sie Deutschland über alles und Heil Dir im Siegerkranz. Welche Wendung!«5 Am 9. August beschreibt der knapp 60-jährige Weißler, für den ein aktiver Kriegseinsatz längst nicht mehr in Frage kam, mit viel vaterländischer Begeisterung, wie er zusammen mit Fritz, seinem jüngsten Sohn, an einem militärischen Übungsmarsch nach dem Petersberg teilgenommen habe: endlose Militärzüge sausten vorüber, beladen mit »Automobilen«, mit Pferden, mit Mannschaften. Sämtliche Wagen gingen nach dem Westen und seien geschmückt. Überall in den Dörfern seien sie bei ihrem Marsch von rauschenden Zurufen begrüßt worden. Allein das Dorf Petersberg, ein Ort von 200 Seelen, entsende 34 Männer, und das noch kleinere Dörfchen Trebitz sogar 36 Männer zum Heer. Ein Gastwirt habe erzählt, es hätten sich bereits 1 300 000 Kriegsfreiwillige gemeldet. Das in Halle stehende 36. Infanterieregiment sei schon jetzt in dreifacher Stärke überbesetzt. Der hiesige Jurist und Universitätsprofessor Horst Krahmer habe seine große Rechtsanwaltspraxis verlassen und gehe nun als »gemeiner Soldat« mit in den Krieg. Viele Reservisten und Landwehrleute füllten jetzt die Straßen, häufig erst sehr notdürftig uniformiert. »Aber auch die voll Uniformierten legen alle preußische Steifheit ab; der Kragen ist geöffnet, der Helm sitzt schief; die ganze feldgraue Uniform mit ihrer Schmucklosigkeit und Bequemlichkeit scheint eine etwas lässige Haltung zu begünstigen. Man nimmt sich manches heraus, grüßt die Offiziere nicht immer; diese sehen ­darüber hinweg.«6 – 54 –

Anfängliche Sorge und Skepsis mischten sich bei Weißler während der ersten Kriegswochen mit überschießender vaterländischer Begeisterung, sobald neue Siegesmeldungen von den Kriegsfronten hereinkamen. Endlich ein entscheidender Erfolg, so notiert er beispielsweise am 21. August über die »Riesenschlacht in Lothringen«, wo der bayerische Kronprinz den Oberbefehl geführt habe. Die letzten Zweifel würden jetzt fallen: »Wir sind wieder siegreich. Es wird wie 1870, aber es wird großartiger. Mindestens 500 000 Menschen müssen sich gegenüber gestanden haben. Ich lief sofort auf die Straße. Aber was ist das hier für eine temperamentlose Menschheit! Nichts von Erregung zu merken! So lauft doch, schrie ich ein paar Weiber an, die gleichgültig das Extrablatt beglotzten, lauft doch und schreit Hurrah! Der Landgerichtsdirektor Giesecke, der in seinem gewöhnlichen Phlegma daherkam, fragte, als ich ihm gratulierend die Hand schüttelte: ›Wozu?‹ Ebenso der Gerichtsrat Grüber. Aber bald wandelte sich das Bild. Immerhin verging wohl eine Stunde, ehe die ersten Flaggen sich zeigten.« Am 27. August, nach weiteren Erfolgsmeldungen von der Westfront und ostpreußischen Kriegsschauplätzen, schreibt er bereits in Siegesstimmung: »Ich meine, die Feldzüge sind im Osten und im Westen jetzt schon entschieden.« Wenige Tage s­ päter (31. August) jubiliert der akribische Front- und Schlachtenbeobachter, der den Vormarsch der deutschen und österreichischen Heere zu Hause in seinem Arbeitszimmer auf Landkarten mit Fähnchen absteckt: »Sieg über Sieg! Es ist kaum fasslich. Die Engländer geschlagen, die Russen bei Ortelsburg geschlagen, und zwar so, dass, wie man heut erfährt, 30 000 Gefangene gemacht sind, ihre Armee also in völliger Auflösung sein muß.« Am gleichen Tag notiert er mit Bewunderung über den Kaiser, dieser werde mit »ungeheurem Kriegsruhm« aus diesem Krieg hervorgehen. Bisher sei er ihm nicht sympathisch gewesen. Er habe viele große Worte gemacht, ohne diesen Taten folgen zu lassen, dazu habe es viele Unbesonnenheiten, ja Dummheiten gegeben. Nun sei er während des Krieges offenbar ein anderer geworden, fast über Nacht sei er »zum Manne geworden«. Am 3. September frühmorgens während des Frühstücks vernimmt die Familie ein Läuten der Kirchenglocken. »Ich stürze hinun­ter: eine überwältigende Nachricht. Zehn Armeekorps der Franzosen zwischen Reims und Verdun ge– 55 –

Kriegsbeginn im August 1914

schlagen und verfolgt. Mir war es als müsste ich in die Knie sinken. So viel Glück, o Gott, haben wir nicht verdient.«7 Nach einigen Wochen der außeralltäglichen Kriegs- und Siegeseuphorie folgten die Ernüchterung und ein langwieriger Kriegsalltag. Schließlich musste irgendwann auch wieder normal weitergearbeitet werden. Am 6. September notiert Weißler, die »Spannung« habe inzwischen nachgelassen. Er müsse nun wieder an seine große juristische Arbeit über das Nachlassverfahren gehen.8 Während dieser Wochen stieg Hindenburg zum alles überstrahlenden Kriegsheld im Osten auf. An der Ostfront erschienen die Schlachtenerfolge allerdings wohlfeil, während es im Westen, das heißt in Nordfrankreich, nicht recht vorangehen wollte. Das bemerkte Weißler als akribischer Kriegsbeobachter, der die Frontlinien auf seinen Landkarten präzise mit Nadeln und Fähnchen absteckte, recht bald. So wunderte er sich bereits am 18. September über die teils sehr widersprüchliche Art der Berichterstattung der Heeresleitung über den Frontverlauf im Westen. Dieser Krieg war total. Wie umfassend er in das Alltagsleben eingriff und wie das Kriegsthema auch an der Heimatfront in alle Poren der Gesellschaft vordrang, belegt das Tagebuch an vielen Beispielen. – 56 –

Gestern Abend, so heißt es am 28. September, hatten wir eine kleine Gesellschaft bei uns. Natürlich sei fast ausschließlich »vom Kriege« gesprochen worden. Ein Gast habe, angeblich aus bester Quelle, Neuigkeiten von Hindenburgs Armee aus dem Osten mitgeteilt. Am 3. Oktober klagt Weißler über das langwierige militärische Ringen zwischen Amiens und Verdun. »Es scheint, als wenn Langwierigkeit das Zeichen der modernen Kriege wäre. Und im Anfange ging es doch Schlag auf Schlag. Schon seit Wochen sehen wir keine Flaggen mehr. Wo sonst das Flaggen nicht aufhörte.« Die Belagerung Antwerpens geriet nun, im Oktober, zu einem großen Tagebuchthema – sicher auch deshalb, weil sein jüngster Sohn dabei war: Antwerpen brennt, heißt es am 9. Oktober, dieser Krieg sei fürchterlich. »Und Fritz steht vor Antwerpen.« Tags darauf notiert der Vater ergriffen: »Antwerpen gefallen. Man flaggt und läutet. Die Freude ist groß. Ich habe eine Freudenspende angeregt und werde jedenfalls für meine Person 50 M für einen von Halle aus abzulassenden Lazarethzug spenden.« Am Abend des 16. Oktober nahm Weißler, der große Musikliebhaber und begeisterte Sänger, an einer Chorprobe teil: zweihundert Sänger, die bekannten Männerchorlieder, in bekannter Liedertafelmanier und, so schreibt er, mit entsetzlicher Süßlichkeit. »Bei ›Morgenroth, Morgenroth‹ musste ich immerfort denken: dass deine beiden Söhne heil aus dem Kriege zurückkommen, darfst du kaum zu hoffen wagen; einer wenigstens wird wohl dran glauben müssen. Ich weiß nicht, was schwerer ist: ins Feld zu ziehen oder Söhne ins Feld herzugeben.« Zwei Tage später folgte die große Siegesfeier an der Pauluskirche. Auf der Freitreppe ganz oben hatten die Sänger Aufstellung genommen, darunter versammelten sich die Kriegervereine mit ihren Fahnen, und unten, in respektvoller Entfernung, lauschte eine riesige Volksmenge. Man sang »Nun danket alle Gott«, gefolgt von einer Art Siegespredigt, sodann das Lutherlied »Ein feste Burg«, anschließend Chorgesänge. Ein Offizier brachte ein Hoch auf den Kaiser aus. Eine ganze Anzahl Frauen seien im Gedränge ohnmächtig geworden und mussten vom Roten Kreuz fortgetragen werden.9 Allmähliche Rückkehr in die banale juristische Kanzleiarbeit, patriotische Verwandtengespräche über die Zeichnung von Kriegsanleihe (Wieviel hast Du gegeben?), schüchterne erste Theater– 57 –

und Konzertbesuche mit künstlerisch eher dürftigen Darbietungen nach den erhebenden Kriegsjubelwochen, Kriegsspenden sammelnde Mädchenschwärme auf den Straßen – so normalisierte sich das Alltagsleben im Krieg, freilich immer wieder unterbrochen von heftigen vaterländischen Aufwallungen. Am 7. Dezember frühmorgens sah sich Weißler durch seinen Sekretär Forke mit der neuen Parole begrüßt: »Gott strafe England! Er strafe es.« Dieses Erlebnis veranlasste Weißler zu einem längeren Räsonnement über den sich ausbreitenden »Haß gegen England«, der nach seiner Beobachtung immer groteskere Formen angenommen habe. Von einigen Seiten werde nun erwogen, Lissauers Hassgesang als »deutschen Gruß« einzubürgern.10 Es fehlte dann lediglich noch, setzt Weißler hinzu, die Schlussformel: »Von Ewigkeit zu Ewigkeit«. Russland und Frankreich, so meint er, hätten immerhin gewisse Gründe zum Krieg. »Aber England, das wir nie bedroht haben, nie bedrohen können, das von uns nichts begehren kann und wir von ihm nichts, von dem uns nicht einmal Rassenhaß trennt, das jetzt ja alle Schleier fallen lässt und offen erklärt, dass es uns vernichten will, weil wir uns so stark machen und ihm die Märkte wegnehmen, das jetzt schon rechnet, wie sich das im Kriege angelegte Kapital verzinsen wird: das muß einen Haß erregen, der bis in ferne Zeiten fortwirken wird. Solchen Haß hat unser Volk noch nie gehegt, vielleicht nicht einmal gegen Napoleon. Von nun an ist Krieg zwischen uns und England auf immerdar, heimlich oder offen.«11 Wie jedes Jahr im Dezember, so hatte Weißler auch nun, gegen Ende des ersten Kriegsjahres 1914, den üblichen Neujahrsartikel für die von ihm herausgegebene Zeitschrift des Deutschen Notarvereins vorzubereiten. In diesen Jahresbilanzartikeln pflegte er eine Übersicht zur Gesetzgebung und Rechtsprechung des vergangenen Jahres zu geben. Mit solch einem nüchternen Bericht, so notiert er am 8. Dezember, könne er sich in diesem Jahr nicht begnügen. Und in der Tat geriet ihm sein Neujahrsartikel 1915 »Das Jahr des ungeheuren Erlebnisses« zu einer hochpatriotischen Ansprache mit stark religiösen Untertönen. Sein schwärmerisches Bekenntnis zu Deutschtum und Weltbedeutung deutscher Kultur sei hier in größeren Auszügen wiedergegeben:12 – 58 –

»In diesem Jahr geschah das Ungeheure. Die Völker der Erde standen auf gegen uns und sprachen: Sie sind uns zu mächtig geworden, wir wollen sie bekriegen, wir wollen sie schlagen, unsere Übermacht soll sie vernichten. Und sie führten heran Kriegerscharen von allen Enden der Welt, zahllos wie Sand am Meer, stark und wild wie das Getier der Wüste, mit Messern und Pfeilen, wie wir nie gesehen, und Schiffe ohne Zahl sperrten uns ab vom Meer, auf dass wir Hungers stürben. Da fasste uns großes Bangen, und wir schrien zum Herrn in unserer Not, und die zu beten verlernt hatten, erkannten ihn wieder und beugten sich vor ihm. Und sprachen: Was haben wir getan, dass Du die Welt gegen uns empörst? Haben wir je unsern Nachbarn bedroht? Haben wir ihr Gut begehrt, ihre Größe ihnen missgönnt? (…) Zu Großem bist Du noch ersehen, mein Volk. Aus Sumpf und Urwald schufst Du blühende Gärten. Mit heiteren Dörfern kränzest Du die getürmte Stadt. Und drinnen herrscht die heilige Ordnung segensreich. Auf sicherer Straße zieht der Wanderer dahin, auf breitem Strome das beladene Schiff. Kein reißend Tier bricht in des Schäfers Hürde, kein Räuber in die unverwahrte Wohnung. Dies Land, dies Volk, der Lehrer aller Völker, der Wissenschaften altberühmter Sitz, der seelenvollsten aller Künste Hort, dies Volk von Denkern und Kriegern sollte sterben? Wir haben Deinen Adlerflug gesehen. Nein, Deutsches Volk, Du wirst nicht untergehen!« Die Wirkung dieses stark religiös geprägten Deutschtumsbekenntnisses war offenbar ganz enorm und ging weit über die engeren Juristenkreise hinaus. Danksagungen kamen von allen Seiten. Vielfach wurde der hohe religiöse Ton bemerkt und als besonders eindrucksvoll hervorgehoben. Ein Justizrat und Leobschützer Jugendfreund bewunderte aus Berlin (11. Januar) in einem Dankschreiben nicht allein den »großen Juristen« Weißler, sondern nun auch den »Dichter«. Ein Justizrat aus Schwelm schrieb am 20. Januar, Weißlers Neujahrsartikel habe so sehr allgemeinen Beifall gefunden, dass vielfach der Wunsch geäußert worden sei, ihn auch in der Kölnischen Zeitung und anderen Blättern nachzudrucken. Viele hätten die – 59 –

»hohen Worte« geradezu als »ein Evangelium« empfunden. Vom Corps Rhenania Tübingen aus Berlin kamen anerkennende Worte für den »Psalm«, verbunden mit der Bitte um Erlaubnis, ihn im eigenen Vereinsblatt publizieren zu dürfen. Es stecke eine Kraft in den Worten, wie man sie sonst nur »von den alten Propheten« kenne.13 In der Tat liest sich Weißlers Ansprache wie eine alttestamentliche Rede an das bedrängte Volk Israel, ganz in der Diktion und vereinfachenden, symbolkräftigen Bildersprache der Bibel – kurz, eine säkularisierte Predigt an das Gott unmittelbare, auserwählte, gesegnete Volk der Deutschen im Kampf gegen eine Welt von Feinden. Zweifellos war dies die literarische Produktion eines säkularisierten Geistes jüdischer Herkunft, der nun biblische Heilsgewissheit und Auserwählung auf Volk und Nation der Deutschen übertrug, denen er sich nun in höchst emphatischer, bekenntnishafter Weise selbst zurechnete. Das erste Kriegsjahr 1914 ging schweigsam zu Ende. Es sei eine »stille Weihnacht« gewesen. »Wir saßen wohl einige Stunden wortlos neben einander Hand in Hand.« In der Silvesternacht habe es, anders als sonst, kein ausgelassenes Neujahrsgeschrei der Volksmenge gegeben. Als die Glocken das neue Jahr einläuteten, hätten einige in der auf dem Markt versammelten Volksmenge Luthers »Ein feste Burg ist unser Gott« angestimmt. Andere stimmten ein und bald sang die ganze Menge mit: der altböse Feind, mit Ernst er’s jetzt meint. Dann sei Stille eingetreten und man habe nur die Glocken hören können. Bald sei das Niederländische Dankgebet »Wir treten zum Beten« angestimmt worden, und bei der Stelle Wir loben Dich oben, Du Lenker der Schlachten hätten viele den Hut abgenommen. Mit »Deutschland, Deutschland über Alles« sei diese Kundgebung in der Silvesternacht auf dem Marktplatz in Halle ausgeklungen.14 Adolf Weißler war nicht allein ein akribischer Beobachter des Kriegsgeschehens an den Fronten und der kriegsbedingten Wandlungen an der Heimatfront. Er hatte drei Söhne im kriegsverwendungsfähigen Alter, die nun – mehr oder minder aktiv – in die Kriegshandlungen einbezogen wurden und damit auch die gesamte Familie unmittelbar am Kriegsgeschehen teilnehmen ließen. Der älteste Sohn Otto, geboren 1884, war bei Kriegsbeginn 29 Jahre alt. Er hatte – 60 –

nach dem Abitur Philologie studiert und konnte sich bald nach dem Studium als Gymnasiallehrer (»Oberlehrer«) in Eilenburg (unweit von Leipzig) etablieren. Im Mai 1913 hatte die Hochzeit mit Margret Wendt in Halle stattgefunden. Von allen drei Brüdern hatte er sich am meisten vom Elternhaus emanzipiert, als der Krieg ausbrach. Hinzu kam ein schweres innerfamiliäres Zerwürfnis zwischen seiner Mutter und seiner Frau, als das junge Paar kurz vor Kriegsbeginn in Halle zu Besuch war. Als erster der drei Söhne wurde Otto Weißler am 2. August eingezogen und stand seither im aktiven Fronteinsatz im Westen. In vieler Hinsicht erscheint er als der frühzeitig vom Hallenser Elternhaus losgelöste und zugleich am meisten von der Familie entfremdete Sohn unter den drei jungen Weißlers.15 Als ein besonderer Fall erweist sich Ernst Weißler, der mittlere Sohn. Bei Kriegsbeginn war er 27 Jahre alt und lebte – zu diesem Zeitpunkt recht orientierungslos – zu Hause bei seinen Eltern in Halle. Die von ihm zunächst eingeschlagene juristische Laufbahn, nach dem Vorbild des Vaters, liebte er überhaupt nicht und brach sie bald nach der ersten Prüfung ab. »Dieser Aktenbetrieb« – so schreibt er in seinen Memoiren – »das geradezu erdrückend Schablonenhafte, es war eine Hölle für mich«.16 Der schwärmerische junge Mann, aufgewachsen in einer überaus musikbegeisterten Familie, liebte die Musik, den Gesang, über alles. Er fühlte sich zum Künstler, zum Musiker, berufen und begann eine akademische Ausbildung als Sänger. Gegen anfänglich einigen Widerstand der Eltern nahm er zunächst Gesangstunden bei einem Opernsänger in Halle. Da die Erfolge nach knapp einem Jahr dürftig waren, wechselte er im Oktober 1911 an die renommierte Hochschule für Musik in Berlin. Mit froh geschwellten Segeln, so erinnert er sich, sei der angehende Musiker im Juni 1914 nach Bayreuth gefahren, um seine erste Bühnentätigkeit als Chorsänger im Festspielhaus anzutreten. Zuerst war der »Fliegende Holländer« zu proben. Die Festspiele hatten bereits begonnen, als die Kriegserklärung kam. Sämtliche Aufführungen mussten abgesagt werden. Und der junge Sänger musste seine hochfliegenden Hoffnungen begraben und nach Hause fahren. Seine recht prekäre Lage zu Kriegsbeginn schildert der Vater im Tagebuch am 27. August 1914: »Ernst will durchaus auch hinaus, worüber Mut– 61 –

ter untröstlich ist. Er ist gesund, aber wegen eines etwas schwachen Herzens marschierunfähig, deshalb nach neunmonatlicher Dienstzeit beim Militär entlassen worden. Aber er kann schießen. Er wird beim Bezirkskommando anfragen, ob man ihn nicht zu etwas anderem gebrauchen kann, als zum Bewachen von Wassertürmen, wenn Niemand naht. In der Tat spielt ein Mann von 27 Jahren, der jetzt zu Hause bleibt, eine traurige Rolle. Noch dazu einer, der zur Zeit gar nichts zu tun hat.«17 Nicht voll kriegstauglich saß also der junge Mann einstweilen zu Hause bei seinen Eltern, bewachte Wassertürme und Bahnhöfe und kam bei einigen notbesetzten ­Theater- und Musikaufführungen in Halle zu ersten Auftritten (kriegsbedingt ohne Gage) auf der Bühne.18 Wie sein Bruder Ernst hatte auch Friedrich (»Fritz«) Weißler, der jüngste Sohn, das einjährig-freiwillige Militärdienstjahr nach einem schweren Reitunfall vorzeitig abbrechen müssen. Die rohe Welt des Militärs lag dem zarten Jüngling überhaupt nicht. Aber im August 1914 zog es ihn, wie fast alle jungen Männer, hinaus – er wollte unbedingt mit dabei sein und meldete sich als Kriegsfreiwilliger. Am 13. August notiert der Vater: »Fritz ist bei der Feld-Artillerie hier gegen die anderen Kriegs-Freiwilligen sehr im Vorteil, da er schon mehrere Monate gedient hat und nur wegen eines Unfalles – er stürzte schwer mit dem Pferde – entlassen werden musste (…) Es geht jetzt viel lockerer zu. Während sonst der Einjährig-Freiwillige nur im Extra-Anzug über die Straße – und wenn es auch nur die wenigen Schritte bis zu seiner Wohnung – gehen durfte und man daher über das fortwährende Aus- und Anziehen klagte, so kam gestern Fritz im Drillich-Anzug mit einem Brot in der Hand den weiten Weg von der Kaserne bis zu unserer Wohnung gegangen. Denn er wohnt und speist bis auf Weiteres zu Hause.« Und schon wenige Tage später (26. August) heißt es im Tagebuch: »Gestern haben wir Fritz verladen. Punkt 3 Uhr, wie angegeben, verließ die Munitions-Colonne, der er angehört, die Kaserne, die Wagen mit Reisig, die Mannschaften und Pferde mit Blumen geschmückt, wie zu einem Feste. Wir, Mutter, ich und Ernst, standen am Thore, reichten Fritz, der auf dem ersten Wagen saß, noch einmal die Hand und warfen ihm und den anderen Blumen zu.« Am Güterbahnhof, so heißt es weiter, konnten – 62 –

die Angehörigen zusehen, wie Wagen und Pferde verladen wurden. Pünktlich und unter dem Gesang »Deutschland, Deutschland über alles« sei der Zug abgegangen. Ziel sei Lothringen – aber das dürfe niemandem gesagt werden. Fritz sei Adlatus seines Leutnants BrunsWüstefeld, »der sich uns vorstellen ließ und als Juristen zu erkennen gab, der mich aus der Zeitschrift des deutschen Notarvereins kannte. Fritz ist der einzige Akademiker im Zuge; er hat das Kriegstagebuch zu führen.«19 Und Fritz steht vor Antwerpen – so hieß es noch am 9. Oktober im Tagebuch des Vaters. Und wenige Tage später: Fritz habe nun endlich »die Feuertaufe« erhalten. Seine Kolonne habe vor Antwerpen unter Granatenbeschuss gestanden und sei gezwungen worden, ein Stück zurück zu gehen. Fritz erweist sich als eifriger Briefschreiber, der den Vater gründlich über seine Kriegserlebnisse unterrichtet. Aus alledem ergibt sich: So großartig, so heroisch, wie vielleicht anfangs erhofft, gestalteten sich die Fronterfahrungen des jüngsten Weißler nicht. Vielmehr geht aus seinen Berichten hervor, dass er sich anfangs wegen Untätigkeit und mancherlei Entbehrungen völlig fehl am Platze gefühlt habe und bedauerte, mitgezogen zu sein. Auch stellten sich im militärischen Dienst wieder allerhand Schwierigkeiten ein, die der Jüngste bereits während seiner einjährig-freiwilligen Zeit erfahren hatte. Alle drei Weißler-Söhne, so wird man schlussfolgern können, waren einfach keine tauglichen Kriegernaturen. Zu diesem Schluss gelangte auch bald der hochpatriotische Vater, wenn er im Tagebuch notiert: »Fritz ist, wie übrigens auch Otto, nie ein guter Soldat gewesen. Alles Körperliche, das Reiten vielleicht ausgenommen, liegt ihm nicht, wie auch mir, der ich von allem Sport nur das Wandern, dieses freilich leidenschaftlich, betreibe. Solch ungeschickte Leute stehen beim Militär nicht ­gerade in Ansehen.«20 Am 22. Oktober telegrafierte Fritz überraschend aus Duisburg, dass er sich auf dem Heimweg nach Halle befinde. Aufgrund der Folgen seines früheren Reitunfalls (1910), so stellte sich bei seiner Rückkehr heraus, seien bei ihm nun wieder »nervöse Kopfschmerzen« aufgetreten. Er habe im Lazareth gelegen und sei nun in die Heimat entlassen worden. »Mutter ist glücklich«, notiert der Vater; er selbst indessen etwas betroffen: zwei Söhne habe er nun – 63 –

im Hause, so räsoniert er, die eigentlich gesund seien und nicht am Krieg teilnehmen könnten. Es ergab sich schließlich aus Fritzens Erzählungen, dass sein Einsatz überhaupt ziemlich unbefriedigend verlaufen sei. »Seine Munitions-Colonne hatte eigentlich nie etwas Rechtes zu tun. Hat nur einmal vor Antwerpen Granaten neben sich einschlagen gesehen.«21 Friedrich Weißler verbrachte nun zehn – vergleichsweise recht komfortable – Monate im Elternhaus, leistete Garnisonsdienste in Halle und hatte Entscheidungen über seine weitere Kriegsverwendung abzuwarten. Wie schon sein Vater bei Kriegsausbruch im August, so begann jetzt auch der jüngste Sohn seit Dezember 1914 ein Tagebuch zu schreiben. In seiner ersten Eintragung vom 7. Dezember befasst er sich damit, was denn ein »richtiges Tagebuch« eigentlich zu leisten habe. Es sollte mehr sein als eine trockene »Tatsachenzusammenstellung«. Vielmehr, so meint er, müsse ein richtiges Tagebuch die »innersten Gedanken« des Verfassers widerspiegeln. Es müsse jener Ort sein, an dem er »getrost sein ganzes Herz ausschüttet«. Besonders für Menschen, die keinen so vertrauten Freund hätten, dem sie »alles« mitteilen könnten – und zu dieser Gruppe zählte er sich zweifellos selbst –, würde das »Ausschütten aller ernster Gedanken« eine große Erleichterung gewähren. In der Tat lassen seine Eintragungen tiefe Einblicke in das Seelenleben eines Jünglings von 23 Jahren zu, der überaus unsicher und schwankend erscheint, häufig hin- und hergerissen zwischen dem Willen zu patriotisch-heldischer Kriegsteilnahme einerseits und der permanenten subjektiven Erfahrung andererseits, als Krieger nicht so recht zu taugen und in brenzligen Situationen leicht zu versagen. 22 Schon am nächsten Tag (8. Dezember) sinnierte der junge Weißler über seine offenbar immer irgendwie prekäre Situation beim Militär: Er werde wohl beim Militär nie ganz »aus dem Druck« herauskommen. Morgen sei eine Art Prüfung der Unteroffiziere und Gefreiten angesetzt – das wäre, befürchtete er, eine Gelegenheit, »mich glänzend zu blamieren« und könnte ihm alle Hoffnung auf baldige Beförderung zunichte machen. »Ich bin und werde nun einmal kein Soldat.« An der befürchteten Prüfung nahm er dann allerdings nicht teil. Häufig sind während dieser Wochen Klagen über den Stumpf– 64 –

sinn des Dienstes zu hören. Für den 16. Dezember war großes Exerzieren in der Stadt befohlen. Weißler hatte im »Reitanzug« zu erscheinen, was ihm wiederum Anstoß zu mancherlei sorgenvollen Erwägungen im Tagebuch gab: »Nun sind zwar meine Aussichten, zum Mitreiten eingeteilt zu werden, sehr gering. Aber möglich wäre es immerhin. Und dann hätte ich eine wunderschöne Abwechslung in dem eintönigen Kasernenhof-Einerlei. Auch kommt [man] sich, wenn es durch die Stadt geht, als Reiter sehr erhaben vor und kann vor etwaigen Bekannten gut protzen. Indessen – der Gedanke an Reiten bereitet mir immer etwas gemischte Gefühle. Nicht gerade Angst – mit körperlicher Angst kann man überhaupt nicht reiten – aber meine schwachen Reitkünste können mich sehr leicht blamieren und so meine Stellung, mein Ansehen untergraben.« Weißler erinnerte sich in diesem Moment an eine offenbar blamable Episode während seines Fronteinsatzes in Belgien: »Ich denke immer an jenen Abmarsch aus Thionville, wo ich auf dem etwas schwierigen Pferd des Gefreiten Lipke und als stellvertretender Zugführer beinahe die ganze Kolonne in Verwirrung brachte. Und jetzt habe ich seit 2 Monaten auf keinem Pferd gesessen.« Den Ritt am gestrigen Tag, so erfahren wir wenig später, habe er dann doch erfolgreich mitgemacht. Alles sei ohne Missklang verlaufen: »Ich hatte ein tadelloses Pferd, das beim Satteln, Aufsitzen usw. lammfromm stand, in der Bewegung aber durchaus nicht phlegmatisch war. Auf den Brandbergen erhielt ich den Auftrag, nach Lettin zu reiten und zu erkunden, wo eine gewisse Rauchsäule herrühre. Ich meldete zurück: ›Rauchsäule rührt her von Schornstein des Gemeindehauses.‹ Womit der Oberleutnant, da ich ihn anbrüllte, sehr zufrieden war.«23 Heute, so notiert Weißler einen Tag vor Heiligabend, seien endlich die »Weihnachtsbeförderungen« herausgekommen – »und ich bin überhaupt nicht dabei.« Seine Enttäuschung darüber konnte er kaum verbergen. Es ginge ihm ja dabei nicht allein um die Ehre, das wäre noch zu verschmerzen. Aber es sei ihm doch peinlich, als »Mantelgefreiter« herumzulaufen, während andere, zum Teil »läppische junge Leute«, die Ehrenzeichen tragen dürften. Für den 27. Dezember war die Vorstellung der Kriegsteilnehmer vor Hauptmann Dietz angesagt. Wieder verspürte Weißler am Vorabend »Druck«. Haupt– 65 –

mann Dietz hielt eine kräftige vaterländische Ansprache, die Weißler offenbar einige Gewissensbisse verursachte, die sich in langen Eintragungen im Tagebuch niederschlugen. Es sei schimpflich, hatte der Hauptmann erklärt, wenn ein Soldat, der nicht wirklich schwer leidend sei, als »felddienstunfähig« zu Hause bleibe. Ist es wirklich schimpflich, fragte sich Weißler nun selbst, wenn er derzeit zu Hause sitze? Einen Tag nach Weihnachten verfiel der Tagebuchschreiber in ausschweifendes Sinnieren über seine Tauglichkeit als Soldat, über Wahrhaftigkeit und genereller darüber, wie er dem Vaterland am besten dienen könne. Dabei kam auch manches über seinen abgebrochenen Fronteinsatz in Belgien zum Vorschein:24 »Zurückgekommen bin ich ja tatsächlich nicht wegen meines Gesundheitszustandes – die nach meiner Lazarettaufnahme aufgetretenen Beschwerden müssen auf Autosuggestion zurückzuführen sein. Aber der Beweggrund war auch durchaus nicht etwa persönliche Angst um mein Leben. Im Gegenteil, aus tiefster Seele wünschte ich mir und wünsche mir noch heute einen ­Posten, auf dem die Kugeln pfeifen wie nur irgendwo. Und geradezu als Ideal erscheint es mir, zu fallen oder verwundet zu werden; die Kämpfe unverwundet zu bestehen erscheint mir lange nicht so schön. Gerade der Mangel an derartigen Aussichten war es ja, der mir den Aufenthalt bei der Kolonne verleidete. (….) Vor allem aber hatte ich aus den langen Biwakwochen die Überzeugung gewonnen, bei meiner Ungeschicklichkeit dem Vaterlande als Soldat nichts, aber auch gar nichts nützen zu können. Ich glaubte, dem Vaterlande einen besseren Dienst zu erweisen, wenn ich mich in anderer Form für es betätigte. Dieses Ziel suchte ich nun auf dem allerdings unlauteren Wege der Vorschützung einer Krankheit.« Der Gewissensmensch und angehende Jurist räsonierte bei dieser Gelegenheit über das moralische Gebot zur unbedingten Wahrhaftigkeit. Den Satz von der »unbedingten Wahrhaftigkeit auch bei der Auswahl der Mittel«, so vertraute er dem Tagebuch an, habe er sowieso schon aufgegeben. Gerade beim Militär, das habe er inzwi– 66 –

schen gelernt, käme man auf »geradem Wege« zu gar nichts. Schließlich war da die große Frage, die ihn ununterbrochen umtrieb: »Soll ich wieder hinausgehen?« Weißler zweifelte angesichts seiner militärischen Fähigkeiten daran, ob ein erneuter Fronteinsatz für ihn richtig wäre Zwar habe er wohl einige Dinge gelernt beim Militär, aber wohl doch nicht genug, um einen »wirklich brauchbaren Geschützführer« abzugeben. Vielleicht könne er im Garnisonsdienst etwas Besseres leisten? Jeder, so meinte er abschließend, sollte an der Stelle zum Einsatz kommen, wo er seinen Fähigkeiten entsprechend das Beste leisten könne.25 Die selbstbezogenen Erwägungen des schwankenden Soldaten Weißler, der über seinen angemessenen Platz im Krieg zauderte, setzten sich bis August 1915 fort. Dann hieß es für den Zauderer plötzlich: Ausmarsch nach Westen an die Front. Bereits im Februar war er zum Unteroffizier befördert worden. An seinen permanenten soldatischen Selbstzweifeln änderte das wenig. Auch ihm selbst war angesichts seiner Tagebuchnotizen aufgefallen, dass sich sein Sinnen und Trachten während des Krieges doch viel zu sehr um ihn selbst drehte. Gleichwohl finden sich bei dem Soldaten im Wartestand, eher selten und eingestreut in seine eng um ihn selbst kreisenden Kriegstauglichkeitserwägungen, auch allgemeine Ansichten über den Krieg und die große Politik. So äußerte sich am 17. März 1915 der zaudernde Krieger als Politiker: »Ich glaube, wir unterliegen nicht, sondern gelangen zu einem Ermattungsfrieden, der im wesentlichen den status quo wiederherstellt, ausgenommen natürlich Belgien, dies können wir nicht hergeben und werden es als neuen Bundesstaat, wohl Republik, dem Reiche einverleiben.« Am 8. Juni 1915 berichtet er von einem Biertischgespräch im »Kaiser Wilhelm« über die künftige Gestaltung Europas. Einer seiner Kameraden entwickelte dabei sehr extreme Kriegsziele: »Außer Belgien stecken wir auch noch Teile Frankreichs (wohl den Industriebezirk und Calais) ein, deren Bevölkerung zwangsweise durch Deutsche ersetzt wird. Dasselbe geschieht mit den deutschen Ostseeprovinzen.« Solche insgesamt noch viel weiter reichenden Neuordnungspläne nach siegreichem Krieg für ein Europa unter deutsch-österreichischer Hegemonie vermochte der junge Weißler im Ganzen nicht zu teilen. Offenbar hatte – 67 –

er ­hierüber anschließend auch zu Hause gesprochen und sein Vater meinte: solche Pläne seien doch gar zu ausschweifend, es wäre schon viel erreicht, wenn sich die Deutschen gegenüber der Übermacht von Feinden auch nur behaupten würden. Die »Umpflanzung« ganzer Bevölkerungsteile in Frankreich hielt der junge Weißler dann doch eher als undurchführbar. Aber dass sich die siegreichen Deutschen auch die Ostseeprovinzen, die ohnehin halb deutsch seien, einverleiben sollten – das erschien dem jungen Mann als durchaus angemessen.26 Kunst, Literatur, Musik – kurz, die Pflege anspruchsvoller Kultur musste im Hause Weißler kriegsbedingt ein Stück weit zurücktreten. Anfang Januar 1915 klagte der junge Weißler: »Sehr vermisse ich meine Musik. Wenn mir Beethovens oder Mendelssohns Konzert in den Sinn kommt, ist es mir ein großer Schmerz, es nicht spielen zu dürfen. (…) Leider bietet die sonstige Musik im Hause gar keinen Ersatz. Ernst spielt fast nur Strauß, Mahler und derartiges mich anekelndes Zeug. Hoffentlich gibt es bald in Konzert oder Theater etwas Gescheutes.« Aber es sei doch eine gute Idee gewesen, so lobte er sich im Tagebuch, dass er gestern Abend habe anfangen können, sei­ ner Mutter aus Paul Rohrbachs »Der deutsche Gedanke in der Welt« vorzulesen. Jedes Gespräch, so meinte er, selbst wenn es zum Thema Krieg zurückkehre, was jetzt nur allzu oft geschehe, erhalte dadurch einen hohen Gesichtspunkt, statt banal zu werden. Als gute Literatur schätzte er Theodor Storm. Auch las er ­Roseggers Novellen, die ihn innerlich sehr erregten. Robert H ­ amerlings ­»Aspasia« erschien ihm zu »süßlich«. Der Soldat im Wartestand las ferner, während der Stallwache, Georg Hermanns »Kubinke«. Auch diese Lektüre regte ihn sehr auf. Die dort geschilderten »Frühlingsgefühle« hätte er selbst oft durchgemacht, bekennt er im Tagebuch. Glücklicherweise habe ihm der Ort keine Gelegenheit zu »Fehltritten« geboten. Im Juni 1915, nach Eintreffen einer Siegesmeldung, notiert er: »Den Tag der Einnahme Przemysls habe ich durch den Einkauf mehrerer Bücher gefeiert. Unter ihnen befindet sich ein englischer Roman! ­Wildes ›Dorian Gray‹ ist für mich ein internationales Kunstwerk, das auch ein Deutscher besitzen darf. Im übrigen kaufe ich ja doch nur wirklich akut – ich finde keinen besseren Ausdruck – natio– 68 –

nale Bücher: Schillers ›Belagerung von Antwerpen‹, Bismarcks Reden, Vaterländische Gedichte, Grimms ›Deutsche Sprache‹, und die ›Eisernen Sonette‹, die ich allerdings beim Einkauf mit den ›Geharnischten Sonetten‹ Rückerts verwechselt hatte.«27 Alles in allem wird hier ein recht bunt gemischtes, teils wohl zufälliges Lektüreprogramm eines notorischen Viellesers (der er immer war) sichtbar, das aber zugleich Vorlieben, Einstellungen und Haltungen bestätigt, die der zaudernde Soldat auch sonst in politischweltanschaulicher Hinsicht zu dieser Zeit kundtat: sehr konservativ, entschieden antiliberal und monarchistisch, kräftig deutsch-national. Diese Haltungen waren bei ihm, dem Jüngeren, sogar deutlich stärker ausgeprägt als bei seinem Vater, der in seinem Tagebuch politisch vergleichsweise liberal erscheint und sich ungeachtet aller Siegesfreude gelegentlich auch kritisch gegenüber der deutschen Kriegspropaganda und ausufernden Kriegszielplänen äußerte. Paul Rohrbach, zu Weltkriegszeiten einer der viel gelesenen Hauptprotagonisten imperialer Kriegsziele, schien dem jungen Weißler sehr zu gefallen. Am 13. Juni 1915 notiert er, dass er seit heute seiner Mutter Rohrbachs »Geschichte der Menschheit« vorlese, eine Schrift, die ihn auch jetzt wieder sehr anziehe. Rohrbachs These, »dass das eigentlich Wertvolle in der jüdischen Religion der arischen Beimischung des Volkes zuzuschreiben ist, leuchtet mir ein. Denn wenn meine Behauptung richtig ist, dass die Semiten mehr Verstandesmenschen, die Arier mehr Gefühlsmenschen sind, so könnten die Juden aus sich heraus nicht fähig gewesen sein, eine wertvolle Religion zu schaffen.« Bemerkenswert erscheint hier zweierlei: das Vordringen von rassischen Begriffen wie »Semiten« und »Arier« im bildungsbürgerlichen Kontext, sodann auch der Umstand, wie empfänglich sich hier ein akademisch gebildeter junger Mann zeigte, der in einem der Herkunft nach jüdischen Elternhaus aufgewachsen war. Während der Vater sehr aufmerksam antisemitische Auffassungen und Haltungen registrierte und auch zurückzuweisen pflegte, scheint hier bei seinem Sohn eine solche Sensibilität geschwunden zu sein. 28 *

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Friedrich Weißler zu Pferde

Als sich im August 1915 der Kriegsbeginn erstmals jährte, befand sich der älteste Sohn Otto ununterbrochen im Kriegseinsatz an der stagnierenden Front im Westen. Am 19. August begleiteten die Eltern ihren jüngsten Sohn Friedrich Weißler, den zaudernden Krieger, zum zweiten Mal durch die Stadt anlässlich seines feierlichen militärischen Auszugs an die Front: »Fritz als Unteroffizier auf einem kleinen rundlichen Pferde zur Seite, Musik voran, Alle mit Blumen geschmückt.« Hassgesänge gegen England gehörten jetzt zu den Tagesthemen. Der U-Boot-Krieg, neue Kriegsanleihen, Aushungerungspläne der Engländer, im Osten Brest-Litowsk gefallen, Knappheit und Teuerung der Lebensmittel – alles das waren vorherrschende Themen im Tagebuch des Vaters. »Erfolge über Erfolge, aber kein Ende, kein Ende!« – so klagte Vater Weißler am 1. Januar 1916 mit einem Anflug von Verzweiflung im Tagebuch. Immer häufiger tauchten nun Schilderungen über unruhige Ansammlungen vor den Lebensmittelläden auf, über mancherlei persönliche Entbehrungen, fleischlose Tage und Ersatznahrungen. Wir leben, heißt es am 17. Juli 1916, infolge der Einschränkungen jetzt so: »Morgens Kaffee mit – 70 –

Brot und Marmelade. Mittags an drei Tagen in der Woche vegetarisch: eine Suppe von Erbsen, Tomaten oder Maggiwürfeln, ein Gericht Gemüse, dazu Kartoffeln, die wir jetzt, aber nur in Folge besonderer Beziehungen zum Lande, reichlich und gut haben, und Compott. Abends Brot mit Käse oder Wurst, für mich wohl ein weiches Ei. Das Brot niemals mit Butter bestrichen. Da auch Zucker knapp ist, trinken wir den Kaffee und Thee jetzt ohne Zucker. (…) Nur mein gewohntes Glas Wein zu Tische entbehre ich ungern, obwohl es ein billiger Säuerling war; denn Wasser ist mir ein Gräuel. Aber jetzt täglich Wein trinken würde mir sündhaft erscheinen: habe ich doch auch eine Anzahl Flaschen teuren Weins (Vino santo von Castel Toblino in Tirol, wo ich ihn selbst getrunken) an die Lazarethe abgegeben.« Im dritten Kriegsjahr (1917) mischte sich die Kriegssiegeszuversicht zusehends mit sorgenvollen und skeptischen Gedanken in den Tagebuchnotizen. Die anfängliche Kriegserklärung Österreich-Ungarns gegen Serbien, so heißt es am 2. Januar, sei doch »frevelhaft« gewesen. Der älteste Sohn Otto, der am längsten an der Front war, berichtete inzwischen über »Kriegsmüdigkeit«. Und auch die vielen Hungerrevolten im Deutschen Reich wurden aufmerksam registriert: in Düsseldorf, in Barmen, in Magdeburg. In Berlin-Steglitz stürmte das Volk die Bäckerläden, schließlich gab es Unruhen in Stettin und anderswo. Zu Jahresbeginn 1918 beunruhigten Streiks in Berlin, sogar in Halle protestierten Arbeiter. »Kein Wort ist stark genug, die Verwerflichung dieses zudem ganz nutzlosen und von Anfang an zur Nutzlosigkeit verurteilten Streiks zu kennzeichnen.«29 Adolf Weißlers hochpatriotische Siegeszuversicht währte fast bis zum Kriegsende. Als er am 6. September 1918 von einer zweiwöchigen Sommerfrische in Thüringen nach Halle zurückkehrte und den jüngsten Kriegsverlauf studierte, musste er »die Nadeln auf meiner Kriegskarte leider sehr zurückstecken.« Im Oktober erfolgte dann die überaus schmerzliche Ernüchterung: der Krieg schien verloren. Eintrag am 18. Oktober: »Traurig und müde schleppe ich mich dahin. Ich arbeite, um mir über meine trostlosen Gedanken wegzuhelfen. Aber die Arbeit ist mir zum Ekel geworden. Am liebsten wäre ich todt.« In seiner tiefen Verzweiflung schrieb er in diesen Tagen einen Brief an den Reichskanzler Prinz Max von Baden:30 – 71 –

»Eure Hoheit bitte ich dringend, einem politisch ganz unbekannten, aber von tödtlicher Angst um das Vaterland erfüllten Bürger in dieser Schicksalsstunde Gehör zu geben. Es ist nicht die Angst, dass wir unterliegen werden, sondern dass es ehrlos geschehen wird. Die Wilson-Noten zeigen das Bestreben, uns von Demütigung zu Demütigung zu treiben; die letzte mutet uns bereits Schmachvolles zu, die späteren werden Aergeres fordern. Man will uns erst moralisch, dann physisch in den Koth treten. Zerreißen Sie, Prinz, die Umgarnung. Brechen Sie die Verhandlungen ab, und das Volk wird aufathmen. Es darf nicht sein, dass wir kapitulieren, wo noch ein Millionenheer im Felde steht. Es darf nicht sein, dass der deutsche Kaiser seine Krone auf Befehl Wilsons niederlegt. Der Eindruck davon würde unermesslich und dauernd sein. Er würde die Bewunderung, die wir trotz Allem der Welt aufgezwungen haben, in Verachtung verwandeln. Dieser ungeheure Krieg darf nicht mit unsrer Schande enden.« Es ist anzunehmen, dass Reichskanzler Prinz Max von Baden diesen Brief in einer politisch dramatischen Situation, als bereits das Kaiserreich in seinen Grundfesten wankte, überhaupt nicht zu Gesicht bekam. Den neuen Heeresberichten, schreibt Weißler, sehe er inzwischen stets mit Angst entgegen. Um den 24. Oktober entwarf er einen Aufruf zu einer machtvollen Kundgebung in Halle, um aller Welt zu demonstrieren, dass »wir« nicht ehrlos kapitulieren würden. Aber seine Entschlossenheit, an letzten heroischen Widerstandsgeist aller »Guten« zu appellieren, wurde während dieser Tage und Wochen immer wieder durch Phasen tiefer Niedergeschlagenheit unterbrochen. Seither war Suizid ein immer wiederkehrendes Thema im Tagebuch. So notiert er am 26. Oktober 1918: »Ich hatte die Tage her allen Ernstes die Absicht, für den Fall, dass man in entehrende Bedingungen willige, meinem Leben ein Ende zu machen. Ich wollte die Schmach des Vaterlandes nicht überleben. Ich war ­bereits fest entschlossen, mir die Adern aufzuschneiden. Mit der Zeit ist die Vernunft gekommen. (…) Komme, was da wolle, ich will den Kopf oben behalten.«31 – 72 –

Mit großer Akribie registrierte Weißler gegen Ende Oktober den Beginn der Revolution, er sprach freilich vorwiegend von »Meuterei«. Er besuchte eine Versammlung der vaterländischen Vereine, die aber auch keine Durchhaltebegeisterung mehr zu entfachen vermochte. Er beklagte die Treulosigkeit des Verbündeten Österreich, für den »wir« doch anfangs in den Krieg gezogen seien, und der nun frühzeitig kapitulieren wollte. Am 9. November 1918 notiert er: »Ich habe ganz gut geschlafen, obwohl ich mir sagte, dass ich heute wahrscheinlich unter der Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrates aufwachen werde. Richtig, heute morgen um 9 Uhr überreicht mir Herr Weiß, unser Haus-Mitbewohner, die Sonderausgabe des Volksblattes, welche meldet, dass die militärische Gewalt auf den Arbeiter- und Soldatenrat übergegangen ist.« Als die Nachricht von der Abdankung des Kaisers eintraf, veranlasste ihn dies zu geschichtlichen Reflexionen: »So endet das ruhmreiche Geschlecht der Hohenzollern. Mutter hat bei der Nachricht geweint. Es ist auch traurig. Durch Friedrich den Großen und Wilhelm I ist die Dynastie fest im Gefühl des Volkes verankert worden. Aber Wilhelm II hat die ererbten Schätze nicht zu hüten gewusst. Die trüben Ahnungen, die ich bei Beginn des Krieges für ihn hegte, haben sich erfüllt. Sein Schicksal ist besiegelt. Es wird sich kein Arm für ihn erheben, auch nicht aus den Reihen derer, die sich bis dahin als treueste Anhänger der Krone geberdeten. Und es hätte auch keinen Zweck. Einen Bürgerkrieg darum zu entfesseln, ob das Haus Hohenzollern weiterhin als kostspieliges Dekorationsstück ein Scheindasein führen soll, lohnt nicht.«32 Am 11. November saß er zu Hause beim Mittagessen, als die Nachricht eintraf, die Waffenstillstandsbedingungen seien angenommen worden. »Ich, rasend, lasse Alles stehen und stürze zur Anschlagstelle, ersuche Jemand, die Depesche (…) vorzulesen und finde das Unglaubliche bestätigt. ›Verhungern werden wir alle‹ schreie ich, und ›Pfui, pfui‹, spucke aus und gehe davon. Mutter konnte mich kaum beruhigen und bewegen etwas zu essen. In meinem Leben war ich nicht so aufgeregt und habe sogleich wieder den Entschluss gefasst, diese fürchterliche Schmach, diese in der ganzen Weltgeschichte unerhörte, freiwillig ohne zwingende Nötigung übernommene Schande meines Volks nicht zu überleben.«33 Nur einige Tage später (17. November) hatte sich Weißler – 73 –

offenbar besonnen und zu einer halbwegs realistischen Lagebeurteilung durchgerungen: er wolle sich auf den Boden der neuen Ordnung stellen; die Monarchie kehre nicht wieder; es habe sich auch gezeigt, dass sie nicht so tief verankert gewesen sei im Volk, wie bisher angenommen; das liberale Bürgertum sollte sich auf den »sozial­demo­ kra­tischen Zukunftsstaat« einrichten und eine koalitionsbereite bür­ gerlich-­soziale Partei werde sich bilden müssen.34 Es folgte nun die Rückkehr der Krieger: Zuerst (18. November) traf Ernst Weißler ein, der ausgebildete Musikkünstler. Er war wegen mangelnder Tauglichkeit erst sehr spät eingezogen worden und zuletzt in Belgien stationiert. Dort verließ er kurz vor Kriegsende seine Truppe und fuhr, zusammen mit anderen Soldaten, mit der Reichsbahn zurück. Dabei, so berichtet er, sei er Augenzeuge großer Unordnung während des recht chaotischen Rückzugs geworden. Ernst, so hielt der Vater im Tagebuch fest, begrüße inzwischen die neue Ordnung. Auch habe er bereits seit längerer Zeit Anzeichen dafür gesehen, dass es zu einem solchen Zusammenbruch von Disziplin und Ordnung würde kommen müssen. Ernst sei inzwischen, so sorgte sich der Vater wenig später im Dezember, durch seine Erfahrungen beim Militär »ein ganz Rother geworden, fast ein Bolschewik«. Am 16. Dezember kam der älteste Sohn Otto nach Halle zurück. Er, der Familie ferner stehend, war bereits seit 1913 verheiratet. Inzwischen hatte er einen kleinen Sohn und fuhr umgehend zu Frau und Kind nach Eilenburg weiter. Zuletzt (30. Dezember) kehrte Fritz, der jüngste Sohn und zaudernde Krieger, zurück. Er war auf zahlreichen Kriegsschauplätzen im Westen und in den Alpen im Einsatz gewesen und schließlich zum Offizier befördert worden. Bei seiner Rückkunft erfuhr er sogleich auf unliebsame Weise von der revolutionären Stimmung (»Disziplinlosigkeiten«), die inzwischen teilweise im Militär und mehr noch im Volk herrschte: Als Offizier erschien es ihm zu Jahresbeginn sowohl in Halle wie in Berlin, wo er noch Dienstliches zu erledigen hatte, ratsam, sich auf der Straße nicht mehr mit seinen militärischen Rangabzeichen sehen zu lassen.35 Anfang Januar 1919 registrierte Adolf Weißler wachsende Aktivi­ täten der Antisemiten. Mehrfach wurden ihm antijüdische Flugblät­ – 74 –

ter anonym zugesandt. Der Bolschewismus, so heißt es in einem dieser Blätter, sei jetzt »der neueste Trumpf der Juden«. Nun wollten sie den christlichen Deutschen eine »staats- und kirchenfeindliche jüdische Gewaltherrschaft« aufzwingen. Das Flugblatt schließt mit der Parole: »Wache auf, deutsche Christenheit! Schütze Deine Heilig­tü­ mer!« Ein anderes Flugblatt propagierte anlässlich der bevorstehenden Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung: »Wählt keine Juden! Lasst ein christliches Land nicht durch Juden regieren und ruinieren! Die Juden mögen eine eigene Partei bilden. Juda den Juden, aber: Deutschland den Deutschen!« Über eine dritte Flugschrift, die in pathetischen Versen von dreieinhalb Seiten Umfang daherkam und eine gewisse ›Kennerschaft‹ verriet, bemerkte Weißler, sie müsse von »beachtlicher Seite« stammen und übertreffe an Hass und »Giftgeschwollenheit« alles, was er bislang auf diesem Gebiet gesehen habe. Am 16. Januar 1919 stellte er Überlegungen zur bevorstehenden Wahl an. Man müsse jetzt so abstimmen, dass der Gegensatz zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie nicht vertieft werde. »Wir werden deshalb für die Deutsche Demokratische Partei stimmen, die zusammen mit der Sozialdemokratie wohl die künftige Regierung stellen wird. Nur Fritz will für die Deutsch-nationale Partei stimmen, die die früheren Konservativen und die unbedingte Opposition darstellt: er will die Revolution nicht als nützlich anerkennen.«36 Viele Streiks, Teuerung und Nahrungsknappheit, Plünderungen, Generalstreik, bewaffnete Straßenkämpfe, schließlich eine Art Bürgerkrieg – die Weißlers erlebten die schweren mitteldeutschen Revolutionsunruhen des Februar und März 1919 aus allernächster Nähe mit. Kurze Zeit regierte in Halle ein revolutionärer Arbeiter- und Soldatenrat. Die Stadt wurde daraufhin von gegenrevolutionären Regierungstruppen unter General Maercker besetzt.37 Es herrschte Belagerungszustand mit drakonischen Strafandrohungen. Wie dramatisch die Unruhen unmittelbar in die Anwaltskanzlei Weißler hinein­wirkten, hielt der Tagebuchschreiber in einer Eintragung vom 3. März fest: »Mein Personal kommt und berichtet über entsetzliche Zustände. In der Geiststraße sind eine Unmasse Läden geplündert. Es wird – 75 –

jetzt noch geraubt. Niemand hindert es. Spartakisten streifen herum und knallen nieder, wen sie von Regierungstruppen vor Augen bekommen. Die früheren Sicherheitswachen haben ihre Abzeichen, Armbinden, abgelegt und beteiligen sich an den Plünderungen. Mein Lehrling Beeg hat vorgestern den Einzug der Spitze der Truppen mit angesehen. Es waren 30 Mann. Auf dem Markt erwartete sie eine Menge Volks, entriß ihnen das Maschinengewehr und die Gewehre, zerschlug diese, beraubte mehrere Kraftwagen und stürzte sie in die Saale. Die Truppen haben zwar den Bahnhof, die Artilleriekaserne und, wie es scheint, alle Hauptpunkte besetzt, auch das Theater ist von den Aufständigen geräumt. Aber sie können sich nicht weit in die Stadt wagen, weil an allen Ecken Spartakisten stehen und schießen. Auf der Bahnbrücke in der Delitzscher Straße steht ein Panzerzug, der die Straße beherrscht. Wir halten heut das Haus geschlossen und auf meinem Tisch liegt ein geladener und entsicherter Revolver. Eben wird gemeldet, dass auch in den anderen Geschäftsstraßen alle Läden ausgeraubt sind. Zum Teil ist auch Feuer angelegt, und in manchen liegen Leichen. (…) Mein Sekretär Vogler lässt melden, dass er nicht erscheinen kann, weil er angeschossen worden ist.« Nach einigen Tagen höchster Anspannung war der revolutionäre Spuk vorüber.38 Das Leben normalisierte sich wieder. Weißler besuchte Konzerte, Volksversammlungen, Vorträge. Besonders faszinierte ihn der Vortrag eines protestantischen Reformpredigers ­A rthur von Broecker über »Neue Bahnen für Religion und Kirche im neuen Deutschland«. Der Theologe habe das Bekenntnis einer neuen Religionsgemeinschaft verlesen. Es seien ganz ähnliche Gedanken, notiert Weißler, wie er sie auch seit langem gehegt habe. Dieser Erneuerer könnte der Mann sein, meinte Weißler, eine neue Kirche zu schaffen, »in der auch die Juden, die ihr Judentum verloren haben, Platz finden«. Der religiös Heimatlose fühlte sich angesprochen und kündigte an, mit dem Prediger in Verbindung zu treten.39 – 76 –

Die Anfang Mai 1919 bekannt gewordenen Friedensbedingungen der Siegermächte lösten bei Adolf Weißler Entrüstung aus. Er beklagte den drohenden Verlust seiner schlesischen Heimat, die er 1893 mit dem Umzug nach Halle verlassen hatte. »Unser schönes, liebes, kerndeutsches Leobschütz, in dessen Umgebung auch nicht ein polnischer oder mährischer Laut zu vernehmen ist, sondern nur unser behäbiger schlesischer Dialekt, soll polnisch werden! Ganz Oberschlesien, mit Ausnahme der Neißer Gegend, soll dasselbe Schicksal teilen! Ein Land, in dem so viel deutsche Arbeit und Kultur aufgehäuft ist, deutsche Sprache so verbreitet ist, das auch seit 800 Jahren nicht zu Polen gehört hat und auch heut wahrscheinlich nicht dahin gehören will.« Noch schlimmer als die territorialen Forderungen sei indessen, dass Deutschland ein »Tributärstaat«, ein »Vasallenstaat« werden solle. Der Kaiser solle ausgeliefert werden, überdies 140 000 Milchkühe und viele hunderttausend Stück anderen Viehs. »Ein wahrhaft teuflischer Gedanke! Aber nein, auch der Teufel wäre auf so etwas nicht gekommen, nur ein französisches Hirn konnte es aussinnen.« Das sei »organisierter Kindermord«, der bethlehemitische Kindermord sei dagegen ein Kinderspiel gewesen. Darauf könne man unmöglich eingehen. »Geschieht es doch, so nehme ich mir das Leben. Unter einem so mit Schmach bedeckten Volke mag ich nicht leben.« Diese Notiz stammte vom 11. Mai 1919. Adolf Weißler durchlebte Wochen in schwankenden Stimmungen zwischen Verzweiflung und neu aufkeimender Hoffnung. Am 20. Juni besuchte er mit seinem jüngsten Sohn Fritz den »Verein junger Demokraten«. Man debattierte über »Annehmen« oder »Ablehnen«. Im Ganzen neigten die jungen Leute zu Nachgiebigkeit und Kompromissen. Fritz, so heißt es, habe aus Empörung das Lokal verlassen wollen. »Ich aber ergriff das Wort und redete mir einmal vom Herzen, was mich bewegt, erinnerte die jungen Leute, meist Studenten, an den antiken Geist, in dem sie erzogen worden, an Carthago und fragte, ob sie lieber in Schmach leben, als in Ehren untergehen wollten.«40 *

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Am 25. Juni 1919 beendete Adolf Weißler sein Leben mit einem Pistolenschuss. Seine letzten Eintragungen im Tagebuch lauten: »Man hat bedingungslos angenommen. Nein, ich ertrage dieses Leben nicht.« (24. Juni). Einen Tag später, morgens fünf Uhr, notiert er: »Ich habe gut und fest geschlafen. Ruhig und fast heiter gehe ich, wie jeden Morgen, zur Peißnitz. Dort vollend ichs.« Im Nachlass fand sich ein Abschiedsbrief an seine Familie vom 24. Juni: »Meine Lieben! Ich habe mit diesem Entschluß seit den Oktobertagen gerungen. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Ich kann das Leben nicht länger ertragen. Seid überzeugt, mich hat kein anderer Grund getrieben, als die Trauer um die tiefe Schmach unseres Volkes; durchaus kein anderer. Es ist jetzt besser gestorben zu sein als zu leben. Ihr Kinder könnt noch bessere Tage erleben, wir Alten nicht. Ich kann nicht anders, Gott helfe mir.« Es folgen noch einige Hinweise zu seinem Testament. Er wünschte Feuerbestattung. Ein städtischer Sängerchor möge bei der Bestattung singen: »Wenn ich einmal soll scheiden«, und sein Berufskollege Herold (ausdrücklich kein anderer) möge eine kurze Grabrede halten. Für den Grabstein wünschte er die Inschrift: »Er wollte die Schmach seines Volkes nicht überleben«. Das Grab, so ordnete er an, solle an der Nordseite des Gertrauden-Friedhofs liegen, genau dort, wo man den Petersberg sehen könne – jenen geliebten Ort, zu dem er so oft wanderte.41 Das war der »schwerste Schlag«, so schreibt Ernst Weißler über drei Jahrzehnte später, ein Schock nicht nur für die Familie und Verwandtschaft, sondern für Juristenkreise in Halle und weit darüber hinaus. »Ich selbst war«, so erinnert sich der Musiker, »an jenem Unglückstag in Eisenach in einem Erholungsheim, wo ich als Akademiker eine Freistelle hatte. Die Depesche meines Bruders Fritz ›Vater verunglückt, sofort kommen‹ erreichte mich erst am Mittag … Ich ahnte gleich irgendwelche Zusammenhänge mit dem Friedensvertrag, doch erst nach einigen Stunden ging mir die traurige – 78 –

Gewissheit auf, dass Selbstmord vorliege. In Weimar, wo ich Aufenthalt hatte bei der Rückfahrt, rief ich telephonisch an und erhielt Bestätigung meiner Vermutung.«42 Die Einäscherung fand am 28. Juni nachmittags um drei Uhr statt, exakt zu jener Stunde, als der Versailler Vertrag unterzeichnet wurde.43 Neben der Verwandtschaft hatte sich eine große Zahl von namhaften Juristen aus Halle und sogar Berlin eingefunden. Auch Pfarrer Meinhof, der Konfirmator der drei Söhne, war gekommen, obwohl es sich nicht um ein christliches Begräbnis handelte, zudem noch mit Feuerbestattung. Die Grabrede hielt, wie testamentarisch von Weißler bestimmt, sein Freund und Berufskollege Rechtsanwalt Herold. An die Vorgabe, lediglich kurz zu sprechen, und dies »ohne zu rühmen«, hielt sich der Redner indessen nicht. Er würdigte ausführlich Weißlers Leben und schriftstellerisches Wirken als Jurist sowie seine berufsgenossenschaftlichen Verdienste. »Seine Gelehrtennatur zog dem Hasten der Gerichtssäle die Stille des Schreibtisches vor. Aber nicht unfruchtbare, unreife Entwürfe brachte die stundenlange Arbeit zu tage, sondern wohlvorbereitete Pläne, die er, frei von jeder persönlichen Eitelkeit, der Allgemeinheit widmete. Die Krone seines unvergänglichen Lebensbaus bedeutet die im Verein mit unserem Elze von ihm geschaffene und 10 Jahre in größter selbstloser Hingabe geleitete Ruhegehalts-, Witwen- und Waisenkasse für deutsche Rechtsanwälte.«44 Wie von dem leidenschaftlichen Musikliebhaber Adolf Weißler gewünscht, sang zum Abschied der Chor der Robert-FranzSingakademie, in dem der Verstorbene lange Zeit mitgesungen hatte: »Wenn ich einmal soll scheiden«.

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drittes kapitel »Auf der Höhe des Lebens«: Republik, Karriere und Familie Friedrich Weißler kehrte am 30. Dezember 1918 wohlbehalten aus dem Krieg zurück und wohnte wieder zu Hause bei seinen Eltern in Halle. Tagebucheintragungen aus diesen Wochen vermitteln ein authentisches Bild seines Befindens. Die »Episode« des Krieges – so heißt das lebenseinschneidende historische Großereignis bei ihm inzwischen – sei für ihn vorbei. Er wolle jetzt mit seinem Leben wieder da anknüpfen, wo er es vor dem Krieg verlassen habe. Freilich sei nun alles ganz anders gekommen, als zu Kriegszeiten gedacht. Alles sei so sehr anders geworden, bekannte er, dass man sich heute schäme, ein Deutscher zu sein. Das »Kriegsgewäsch«, wie er seine Tagebuchaufzeichnungen aus der Kriegszeit nun nannte, war ihm angeblich zum »Gräuel« geworden. Jetzt sei es das Politische, auf das er immer wieder gestoßen werde und das ihn lediglich in die »verzweifeltste Stimmung« führe. »Mein Trost und meine Freude ist jetzt einzig meine Berufsarbeit.«1 Eine Woche später teilt er mit: »Ich habe heute an den Kaiser geschrieben, anläßlich seines morgigen Geburtstag und aus einem vom Vater unterstützten Impuls.« Er habe sich dabei »etwas heldenhaft« gefühlt, eingedenk des Umstands, er könnte sich dadurch im Fall einer radikalen politischen Herrschaft Unannehmlichkeiten zuziehen. Als wichtiger indessen erachte er sein Vorhaben, sich künftig aktiver an der Politik zu beteiligen. Wenn möglich, so wolle er sich der »Deutschen Volkspartei« (DVP) anschließen. Diese Option überrascht, wenn man seine bisherigen politischen Auslassungen berücksichtigt, die stets stramm konservativ, monarchistisch, geradezu reaktionär ausfielen. In seinen Lebenserinnerungen von 1936 resümiert er: Politisch habe er den neuen Machthabern nach Kriegsende »natürlich« in schärfster Ablehnung gegenüber gestanden. In Berlin – 81 –

sei er Ende 1918 Augenzeuge davon geworden, wie man Offizieren beinahe die Achselstücke abriss. »Schon aus Stolz wollte ich mich darum am liebsten zu der Partei halten, die allein noch die Ehre der Feldsoldaten zu schützen schien, der Deutschnationalen Partei; das ging aber nicht, weil sie auch ausgesprochen antisemitisch war.« Schon bald sei er – angeblich unter dem Einfluss Wilhelm ­Schwaners2 – zu der Einsicht gelangt, dass ein mehr demokratisches System als das alte die verhängnisvollen politischen Fehler des Kaiserreichs vermieden hätte und auch gegenüber dem Bolschewismus die einzige Rettung sei. »So wurde ich Demokrat.«3 Am gleichen Tag (26. Januar) als Weißler dem Ex-Kaiser zum Geburtstag schrieb, hatte er eine politische Stellungnahme an die Zeitschrift Deutsche Politik abgeschickt. Sein kleiner Artikel »Brief an die ›Deutsche Politik‹« erschien am 21. Februar in der liberalen »Wochenschrift für Welt- und Kulturpolitik«. Weißler war Leser des Blattes und reagierte auf einige Artikel über die Ursachen der Kriegsniederlage und Revolution. Er schrieb hier im Ton des Frontsoldaten und berief sich auf eigene Erfahrungen: Die Behauptungen eines Herrn Dr. Thimme, es seien Heer und Marine gewesen, welche die Revolution gemacht hätten, träfe vielleicht auf die Etappentruppen und Marine zu, nicht jedoch für das Frontheer. Es habe dort keine »Revolutionsgedanken« gegeben, selbst als der Waffenstillstand beschlossen war. Die Soldatenräte seien auf Befehl aus der Heimat gebildet worden, wussten aber oft nicht recht, was sie anfangen sollten. Auf dem Rückmarsch habe es kaum Disziplinlosigkeiten gegeben. Von einem »Zusammenbruch der deutschen Armee« könne daher keine Rede sein. »Ich meine, das Frontheer hat bis zum allerletzten Augenblick voll und ganz seinen Mann gestanden, (…) Es ist meine feste Überzeugung, daß an der geplanten Maasstellung das Heer wieder erfolgreich hätte Widerstand leisten können. Denn in dieser, vor den Pforten des Reiches liegenden Stellung wäre der Gedanke des Verteidigungskrieges neu belebt gewesen und hätte jedem einzelnen den Mut der Verzweiflung gegeben. Namentlich aber an den ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen, die man uns vorsichtigerweise erst geraume Zeit nach dem 11. November mitteilte, hätte sich der Mut neu belebt.« Die Frage, warum das Heer dann – 82 –

nicht weitergekämpft habe, müssten diejenigen beantworten, die an der Spitze des Heeres standen und die Bedingungen bereits kannten. Weißler schloss sein Statement mit dem Motto eines Regiments anlässlich seiner Rückkehr in die Heimat: »Vom Feinde unbesiegt, vom Freunde verlassen, von der Heimat verraten!«4 Seine Tagebucheintragungen, die nicht zuletzt auch seiner politischen Selbstklärung dienen sollten, waren nicht von Dauer. Wiederholt äußerte er Sorge vor »Spartakus« und schweren Unruhen in Halle. Neben seiner Examensvorbereitung, die er nun mit viel Elan wieder aufnahm, las er Carlyles »Französische Revolution« und Kant. Angesichts des Kriegsausgangs zweifelte er an der »Weltgerechtigkeit«. Bei Konzerten, wie kürzlich im Händel-Verein, falle es ihm schwer, sich auf die Musik zu konzentrieren.5 Seine Sorge vor revolutionären Unruhen in Halle und dem umliegenden Industrierevier erwies sich als berechtigt. Als sie im März 1919 ausbrachen, sei es selbstverständlich gewesen, so schreibt er rückblickend 1936, dass er sich an deren Abwehr beteiligte. Er gehörte einer aus lauter Offizieren bestehenden Kompanie an, die Straßenpatrouillen in Halle machte, Häuser nach Waffen durchsuchte, wichtige Einrichtungen bewachte und dergleichen mehr. Zu eigentlichen Kampfhandlungen sei die Gruppe nicht herangezogen worden und nach ein bis zwei Wochen habe er ins Zivilleben zurückkehren können.6 Die Familienkatastrophe vom 25. Juni 1919 erlebte Weißler als der einzige im Elternhaus lebende Sohn hautnah mit. Auch nach 17 Jahren, so erinnert er sich im Jahr 1936, erscheine ihm das furchtbare Geschehen so nah wie vor 17 Tagen. Schon bald nach dem Ereignis sei allen Familienmitgliedern klar geworden, dass sie für längere Zeit von Halle fortmussten. Weißler zog mit seiner Mutter nach Berlin, wo sie zwei Zimmer bei Clara Buki, einer Schwester seiner Mutter, in der Charlottenburger Uhlandstraße bewohnten. Fast ein Jahr erlebte der junge Weißler nun das nachrevolutionäre Berlin. Berlin – das hieß für den 29-jährigen Rechtsreferendar nun vor allem anderen Vorbereitung auf das 2. Examen, von dessen Ausgang viel für den weiteren Lebensweg abhing. Im Juni 1920 berichtet er von Prüfungsproblemen. Zwei Probearbeiten (»Relationen«) am Kammergericht seien für unbrauchbar befunden worden und das von – 83 –

dort ausgestellte Zeugnis lautete lediglich »genügend«. Für einen notorischen Einserkandidaten wie Weißler war das, wie seine umfassenden Kommentare im Tagebuch anzeigen, ein erhebliches Problem, fast eine Kränkung. Er räumte zwar einige Fehler ein, konnte aber insgesamt »das Urteil« nicht als berechtigt ansehen. In seiner Zurückweisung, die in der Diktion bereits den ausgewachsenen Juristen erkennen ließ, übte er scharfe Kritik an einem der Gutachter, Geheimrat Spener, Mitglied des höchsten preußischen Gerichts. Das ungünstige Ergebnis, so die Befürchtungen des jungen, ehrgeizigen und selbstbewussten Juristen, könne am Ende das angestrebte Prädikatszeugnis gefährden.7 Seine politischen Ambitionen hatten inzwischen deutlich hinter die Berufsanforderungen zurücktreten müssen. Er war zwar Mitglied der DDP geworden, der republiktreuen, liberalen Partei ­Friedrich Naumanns und des jungen Theodor Heuss, beteiligte sich allerdings nicht am politischen Parteileben. Aber ganz ausweichen konnte er der Politik in Berlin nicht. Den Kapp-Putsch im März 1920 erlebte er während seines Vorbereitungsdienstes am Amtsgericht in Berlin-Mitte. Er sei entrüstet gewesen über den »Wahnsinn dieses Unternehmens« und suchte sofort den Amtsgerichtspräsidenten auf. Dieser neuen Regierung, so erklärte er dem Präsidenten, schulde er keinen Gehorsam und wolle seine Tätigkeit einstweilen einstellen. Der Präsident habe diese Erklärung »sehr kühl« zur Kenntnis genommen. Nach wenigen Tagen war der politische Spuk beendet und Weißler setzte seinen Vorbereitungsdienst fort. Diese Episode war gewiss eine Art politische Probe auf die Festigkeit seiner Demokratieüberzeugungen, noch dazu inmitten eines beruflichen Milieus, in dem die junge Republik wenig Zustimmung fand – und Weißler bestand sie.8 Am 14. Juli 1920 gab der Kandidat die Prüfungsarbeit ab. Im Tagebuch notiert er: Im Wesentlichen wohl gelungen, auch wenn er zuletzt noch einige »Unebenheiten« entdeckt habe. An ein Durchfallen glaube er nicht. Das wäre ein derartiger Zusammenbruch seines ganzen Lebens, den er nicht ertragen könnte. Seine Teilnahme an einer anderen Prüfung bestärkte ihn wenig später jedoch in dem Gefühl, mehr leisten zu können als selbst diejenigen Kandidaten, die mit den – 84 –

besten Noten bestanden. Kurz vor der Abschlussprüfung, im August 1920, schienen alle Prüfungsängste verflogen. Voller Optimismus heißt es im Tagebuch am 22. August: »Jedenfalls sehe ich eine große Berufs-Arbeit vor mir und vielleicht noch mehr außerberufliche (Politik?). Ich fühle aber auch eine unbändige Kraft und Lust zum Arbeiten und kann zum ersten mal den Baccalaureus in Faust II verstehen.« Am 2. September bestand Weißler die 2. Juristenprüfung mit dem Prädikat »gut« in Berlin. Noch im selben Monat kehrte er mit großem Tatendrang und einem Richterauftrag für Halle in seine Heimatstadt zurück.9 Als Weißler im Herbst 1920 nach Halle zurückkehrte, war er ein nicht mehr ganz junger Mann von knapp 30 Jahren mit den besten Aussichten. Die Dinge liefen gut für ihn. Er trat sein erstes Amt als Prozessrichter am Amtsgericht Halle an. Politisch hatte er sich auf die neuen Verhältnisse eingestellt. Das war mehr als ein bloßer Vernunftrepublikaner, wie die Episode während des Kapp-Putsches am Berliner Amtsgericht und weitere Beispiele zeigen sollten. Er war aus innerer Überzeugung zum Demokraten geworden. Der Beruf spielte eine Hauptrolle und das Politische war ihm wichtig – aber da war schließlich noch ein Drittes, das inzwischen dringend der Lösung bedurfte: die sogenannte Junggesellennot, eine standesgemäße Gattenwahl und Familiengründung. Das war ein schwieriges Thema, das nur gelegentlich und mit viel Diskretion im Tagebuch angedeutet wurde. Wie fast alle jungen, unverheirateten Männer jener Zeit führte er einen langen inneren, nicht immer erfolgreichen Kampf um das selbstauferlegte Gebot der Enthaltsamkeit. Und es gab »Erlebnisse«, so beispielsweise im April 1920 in Berlin. Im Tagebuch räsonnierte er darüber und meinte schließlich, sein Vater, der doch eigentlich viel lebenslustiger gewesen sei als er selbst, hätte genauso gehandelt. Aber an eine Fortsetzung sei »natürlich nicht zu denken«. Später in Halle (Novem­ ber 1921) berichtet der junge, noch ledige Richter von einer verheirateten Frau, die ihn arg bedrängt habe. Aber eine andere Begegnung zu dieser Zeit schien aussichtsreicher. »In mein Leben aber ist«, so heißt es am 15. Oktober 1921, »jäh und unerwartet, das Hauptproblem eingetreten.« Es handelte sich um eine junge Frau, die ernst– 85 –

Verlobung von Johanna Schäfer und Friedrich Weißler (1921)

haft in Frage kam. Doch war er sich zunächst nicht sicher. Es gab ein erstes Z ­ usammensein in Ferch bei Potsdam, eine offenbar gewissenhafte gegenseitige Prüfung, der aber erst einmal »Enttäuschung« folgte. Schon war bei ihm von »Strohfeuer« die Rede. Aber die Zukunft sollte erweisen, dass es kein Strohfeuer war.10 Am 19. Juli 1922 heiratete der 31-jährige Richter Dr. Friedrich Weißler die Pfarrerstochter Johanna Schäfer aus Plossig (bei Torgau). Die Feier fand im Pfarrhaus des Schwiegervaters Gustav S­ chäfer statt. Die Hochzeitsgesellschaft war auf den engeren Verwandtenund Freundeskreis beschränkt. Hinzu kamen drei Vertreter der Askania, einer studentischen Verbindung, der sämtliche drei Weißler-­ Brüder angehört hatten und mit der sie als »Alte Herren« noch immer in Verbindung standen. Pfarrer Schäfer, der Brautvater, war selbst als Student in Halle ein Askane gewesen und leitete als »Alter Herr« die Askanenzeitung. In seinen Erinnerungen berichtet ­ Friedrich Weißler davon, wie schwierig die Geldverhältnisse zu jener Zeit waren und Einschränkungen vielfacher Art erforderlich machten. Die Hochzeitsreise war lediglich auf drei Tage bemessen und ging in den nahegelegenen Wörlitzer Park. Die Aussteuer der Braut reichte gerade für den Kauf einer einfachen Kücheneinrichtung. Willkommene Hochzeitsgeschenke waren praktische Haushaltsgegenstände – 86 –

wie Eimer, Schüsseln und dergleichen Gerätschaften mehr. Als wichtigste Anschaffung gab Weißler sein bis dahin gespartes Geld für ein gebrauchtes Klavier aus. Aber diese Anschaffung, so schreibt er, »war uns ebenso nötig wie das tägliche Brot.« Butter, Brötchen oder Fleisch seien zu jener Zeit ein Luxus gewesen, den man sich nur selten habe leisten können.11 Beruflich ging es zügig voran mit dem aufstrebenden Juristen. Vier Wochen vor der Hochzeit wurde er zum ständigen Hilfsrichter ernannt. Damit war ihm dauerhaft ein festes Einkommen zugesichert. Als Richter war er zunächst mit Ehescheidungsfällen befasst, sodann mit Nachlass- und Grundbuchsachen, einem Gebiet, auf dem er bereits mit seinem Vater zusammengearbeitet hatte und worin er schon bald als Experte galt. Seit 1923 leitete er Kurse in der Referendarausbildung, was ihm Dank und Anerkennung seiner Vorgesetzten einbrachte. Weißler entwickelte sich zum Spezialisten für Aufwertungsfragen und publizierte dazu in juristischen Zeitschriften. Das war nach dem Ende der Inflation ein vordringliches Thema. Für ein juristisches Sammelwerk »Grundriß der gesamten Rechtswissenschaft« verfasste er den Band über die Hypothekenaufwertung. »Mit größtem Vergnügen«, so erinnert er sich, habe er den Auftrag übernommen. Zwar habe er sich noch einige Verbesserungen in Anlage und Stil gefallen lassen müssen, aber es sei doch sein »erstes eigenes Werk« gewesen, das 1927 erschien.12 Im April 1925 wurde er zum Landgerichtsrat in Halle ernannt. Die Beurteilungen des jungen Juristen durch seine Vorgesetzten in den Personalakten fielen durchweg äußerst positiv aus: »Klug, vielseitig begabt, gründlich wissenschaftlich durchgebildet, mit feinem juristischen Verständnis ausgestattet.« So und ähnlich lauteten die belobigenden Befähigungsnachweise der Oberlandes- und der Landgerichtspräsidenten durchgängig bis 1933. Reiches Wissen, Fleiß, Gründlichkeit, absolute Zuverlässigkeit wurden ihm attestiert. Spezialgebiete seien (1930) das Notariatswesen, die freiwillige Gerichtsbarkeit, Grundbuch­ recht, Aufwertungsrecht, Jugendrecht. Besondere Hervorhebung fand sein guter Stil sowie seine zahlreichen Publikationen. Wie bei seinem Vater entstanden diese durch frühe Tagesarbeit, vor dem eigentlichen Dienst. »Nach seinen Leistungen, – 87 –

nach dem Grad seiner wissenschaftlichen Durchbildung und seiner ­stilistischen ­Gewandtheit überragt er den Durchschnitt ganz erheblich. Er verdient eine bevorzugte Beförderung.«13 Ich fühlte mich jetzt auf der Höhe des Lebens – so heißt es in Weißlers Erinnerungen für das Jahr 1925. Er hatte nun eine Lebensstellung am Landgericht, mit einer Tätigkeit, die ihn ausfüllte und befriedigte. Im März 1925 wurde dem Ehepaar Weißler der Sohn Ulrich geboren, dem im August 1928 mit Johannes ein zweiter Sohn folgte. Zusammen mit Weißlers Mutter bewohnte die junge Familie die alte Wohnung am Universitätsring. Geselligen Verkehr, so räumt der junge Richter ein, hätten sie damals wenig gehabt, aber doch mehr, als dies im Elternhaus der Fall gewesen sei. Es gab mehrere befreundete Familien durch Verbindungen mit der Askania. Mit Rechtsanwalt Schiller, der lange im Büro seines Vaters gearbeitet hatte, gewann er einen Cellisten, der zum Kreis seines Hausquartetts gehörte. Die Pflege anspruchsvoller Hausmusik war Tradition in der musikalischen Familie, wie auch eine fotografische Aufnahme aus dem Jahr 1927 eindrucksvoll bestätigt. Ferner gehörten mehrere Absolventen von Schulpforta, dem renommierten Internat bei Naumburg, mit ihren Familien zum Freundeskreis. Mit Richterkollegen, so heißt es weiter, bestand kein geselliger Verkehr. Im Juristischen Verein, den er regelmäßig besuchte und wo er auch einmal einen Vortrag hielt, waren nur Herren zugelassen. Die Damen hatten einen eigenen »Tee«, von dem sich seine Frau jedoch »fernhielt«.14 Sommerreisen – allmählich, so berichtet Weißler, habe man sich auch wieder kleinere und größere Sommerreisen leisten können. Sie waren nicht von der Üppigkeit wie zu Vorkriegszeiten bei seinen Eltern um 1910, aber sie zeigten doch, wenn auch in Maßen, neuen materiellen Wohlstand seit Mitte der 1920er Jahre an. Weißler betont, dass diese Reisen nicht durch sein eigentliches Gehalt ermöglicht wurden, sondern durch die Erträge seiner literarischen Nebentätigkeiten, insbesondere durch die Einkünfte, die er durch die Herausgeberschaft des Preußischen Archivs erzielte. Neben größeren Anschaffungen für die Wohnung erlaubten sie ihm auch den Abschluss einer Lebensversicherung. Die erste »wirkliche Vergnügungsreise« ging 1926 an – 88 –

Hausmusik bei Weißlers im Jahr 1927

den Rhein. Weißler kannte seit seinen Studienzeiten in Bonn das Rheinland gut und konnte nun seiner Frau auf dieser Tour, die er »unsere zweite Hochzeitsreise« nannte, die Schönheiten des Landes zeigen. Im Sommer 1927 standen Dresden und die Sächsische Schweiz auf dem Reiseprogramm. Im Jahr 1928 verzichteten die Weißlers wegen der bevorstehenden Geburt ihres zweiten Sohnes Johannes auf eine ­Sommerreise.15 Was machten die beiden anderen Brüder? Otto Weißler, der Älteste, hatte zuerst geheiratet und war noch vor dem Krieg »Ober­ lehrer« (Studienrat) in Eilenburg, später in Magdeburg geworden. Von ihm ist wenig bekannt. In der reichhaltigen Überlieferung des Familienarchivs taucht er selten auf. Offenbar hat er kaum Spuren hinterlassen. Von allen drei Brüdern erscheint er als derjenige, der sich von der Familie am meisten abgelöst hatte.16 Anders verhält es sich mit Ernst Weißler, dem mittleren Sohn, der über seine wahrlich bewegte Lebensgeschichte eine hundert Seiten umfassende Autobiografie hinterlassen hat. Er war der Musiker und ein Stück weit auch – 89 –

der künstlerische Luftikus der Familie, mit professioneller Gesangsausbildung, der über weite Strecken seines Lebens eine eher prekäre Künstlerexistenz führte. Ermutigt durch einen Freund, einen musikliebenden Arzt und Askanenbruder, ließ sich Ernst Weißler im Herbst 1919 als »Privatmusiklehrer« in Eberswalde bei Berlin nieder. Er genoss erhebliche Förderung seines Freundes, der als Arzt in Eberswalde ein Sanatorium leitete, und baute sich in der Provinzstadt eine Art »Kunstgemeinde« auf, veranstaltete Konzerte und erteilte Klavierunterricht. Hier lernte er auch Aeone von Stumpfeld kennen, eine mütterliche Freundin und Gönnerin, mit der ihn, wie er selbst schreibt, eine tiefe geistige »Wahlverwandtschaft« verband. 1927 siedelte Weißler mit der »alten Dame«, mit der er einen gemeinsamen Haushalt führte, nach Berlin über. Nach eigenen Worten hoffte er, in der Reichshauptstadt – für ihn die »Quelle des Musiklebens« schlechthin – seinen Beruf als Korrepetitor besser ausüben zu können. Der Machtantritt Hitlers setzte den zahlreichen Musikprojekten und sonstigen hochfliegenden Ambitionen dieses nunmehr »nichtarischen« freiberuflichen Musiklehrers ein Ende.17 Verglichen mit seinen beiden Brüdern repräsentierte Fritz, der Jüngste, die eigentliche Musterkarriere, die ganz in der Tradition des Vaters Adolf Weißler stand. Aber sah alles während der 1920er Jahre für die Weißlers nur rosig aus? Gewiss nicht, es gab auch mancherlei dunkle Flecken, Probleme, Irritationen. Gravierende antisemitische Anfeindungen oder berufliche Zurücksetzungen erfuhr der aufstrebende Jurist während der Weimarer Epoche nicht. Aber verschwunden war das Thema keineswegs. Der Deutschnationalen Volkspartei, der er geistig-politisch nach Kriegsende anfangs am nächsten stand, konnte er sich aufgrund ihres expliziten Antisemitismus nicht anschließen. Die Hakenkreuze auf den Stahlhelmen der Kapp-Putsch-Soldaten vom März 1920 dürfte er während seiner Ausbildungszeit in Berlin wahrgenommen haben. Im Juni 1920 registrierte Weißler eine »Anti­ semi­tis­mus-­Gefahr« im Sondershäuser Verband, dem auch seine ­A skania angehörte.18 Was das Politische betrifft, verflüchtigten sich Weißlers Konturen im Laufe der Weimarer Jahre mehr und mehr. Das war nicht Des– 90 –

interesse an den öffentlichen Angelegenheiten, sondern vor allem den vielfachen beruflichen Anforderungen und neuen Verpflichtungen als junger Familienvater geschuldet. Sein früher Eintritt in die Deutsche Demokratische Partei bedeutete nicht viel, parteipolitisch trat er dort nie hervor. Als 1924 das »Reichsbanner SchwarzRot-Gold. Bund Deutscher Kriegsteilnehmer und Republikaner« gegründet wurde, schloss er sich diesem republikanischen Verband an, weil er ein Gegengewicht zum stark republikfeindlichen »Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten« für dringlich hielt. Vergleicht man diese Haltung Weißlers mit seinen Bekenntnissen als »Frontsoldat« bei Kriegsende, so war das bereits eine bemerkenswerte innere Wandlung. Er habe sich allerdings nie im »Reichsbanner« betätigt. Auch sei ihm bald klar geworden, dass es sich um eine sozialdemokra­tische Kampftruppe handelte, was ihm nicht zusagte. Überdies sei ihm bewusst gewesen, dass der Verband in Kollegenkreisen eher verhasst war, was ihn nicht weiter kümmerte. Im November 1924 richtete die Askania wegen seiner Reichsbanner-­ Mitgliedschaft eine Beschwerde an den Vorstand der Alten Herren. Weißler erwiderte daraufhin, dass er sich als »alter Kriegssoldat« von den heutigen Studenten keine Vorschriften machen ließe, welches die rechte politische Gesinnung sei. Als sein Bruder Ernst ihn mit einem scharfen Protestbrief unterstützte, beschlossen die Aktiven, beide aus der Askania auszuschließen. Ein Konvent der Alten Herren (22. März 1925) bestätigte diese Entscheidung. Sein Bedauern, so schreibt Weißler später, sei nicht allzu groß gewesen, da er schon lange den Geschmack an dem studentischen Treiben verloren hätte. Den Reichsbanner-Bund verließ er 1925/26 bereits wieder. Bis etwa 1930 blieb er Mitglied der DDP, die inzwischen zu einer kleinen Splitterpartei geschrumpft war. Deren Eintreten für die politische Kampagne zur Fürstenenteignung in den Jahren 1926–1927 habe er, der streng rechtlich denkende Jurist, der Partei »sehr übel« genommen. Um 1930 sei er aus der DDP ausgetreten und habe sich bei den Wahlen zum Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) gehalten, einer kirchennahen Absplitterung von der DNVP.19 Friedrich Weißlers religiöse und geistige Positionen waren bei Kriegsende nicht ausgereift, er war ein Suchender. Er las Kants Reli­ – 91 –

Die junge Familie Weißler beim Spaziergang in Halle im Jahr 1927

gionsphilosophie und erhoffte sich davon mehr Klarheit über die »reli­giöse Frage«. Er wolle das Problem seiner Stellung zur Kirche, so lautete eine der ersten Tagebucheintragungen nach dem Krieg, bis zu seinem nächsten Geburtstag – das wäre in drei Monaten ­gewesen – in irgendeinem Sinne lösen. So schnell ging es dann aber nicht. Nach der Kantlektüre meinte er, es würde sich wohl doch noch eine Möglichkeit für ihn finden, in der christlichen Kirche zu bleiben. Lobend äußerte er sich zu dieser Zeit (Februar 1919) auch über eine Schrift des damaligen Gothaer Superintendenten über »Dogmenfreies Christentum«. Damit sei angedeutet, dass der junge Weißler zu dieser Zeit der evangelischen Kirche, der er seit seiner Taufe an­ gehörte, eher fern stand und sich nicht sicher war, ob er überhaupt Kirchenmitglied bleiben könne. Die christlichen Dogmen machten ihm, dem freien Denker, zu schaffen – wie schon seinem Vater. In seiner Rückschau von 1936 sieht alles dies ein wenig frommer, christlicher, kirchlicher aus: bereits durch das Kriegserlebnis habe er eine »Erschütterung seiner religiösen Selbstgenügsamkeit« erfahren. »Namentlich vor Verdun, aber auch sonst hatte ich es erlebt, wie einzig der Mensch ist, wie wenig er mit seinem stolzen Willen vermag, wie gnädig er aber auch behütet wird. Es war das Gefühl der ›schlechthinnigen Abhängigkeit‹, das ich ganz neu erlebte. Von hier bis zum Christentum war freilich noch ein weiter Weg. Aber der erste Schritt war doch getan.«20 Einen wesentlichen Fortschritt seiner religiösen Entwicklung schrieb er tiefschürfenden Gesprächen – 92 –

Großes Familienbild: Friedrich Weißler stehend ganz links (1931)

in Halle um 1921 mit einem Juristenkollegen zu. Schließlich ist anzunehmen, dass ihm auch die Ehe mit Johanna Schäfer, einer Pfarrerstochter, seit dem Jahr 1922 viel christlich-kirchliches Lebensgefühl und religiöses Brauchtum vermittelte, das fortan zum festen Bestandteil der jungen Familie Weißler gehörte. 21 Über Johanna Schäfer, Pfarrerstochter aus Plossig im Kreis Torgau in der preußischen Provinz Sachsen gelegen, ist bis 1933 wenig bekannt. Geboren 1896, verbrachte sie Kindheit und Jugend im ländlichen Pfarrhaus. Ein weiterführender Schulbesuch war unter diesen Umständen vermutlich ausgeschlossen. Faktisch wartete sie nach dem Abschluss der dörflichen Volksschule (oder vielleicht der mittleren Reife) und als im Pfarrhaus mithelfende Haustochter auf den Mann, der einst kommen und sie ehelichen würde. Aber wer sollte in diese ländliche Einöde kommen? Wie viele akademische Verbindungen wirkte die Askania, der sowohl Pfarrer Gustav ­Schäfer wie Friedrich Weißler angehörten, ein Stück weit auch hier als eheanbahnender akademischer Geselligkeitsverein. Auf den festlichen Veranstaltungen der Verbindung pflegte Pfarrer Schäfer aus – 93 –

Plossig als »Alter Herr« seine vier Töchter im heiratsfähigen Alter durchaus mit Absichten zu präsentieren.22 Im Jahr 1927 beabsichtigte Weißler eine berufliche Veränderung und wurde, auf eigenen Wunsch hin, Jugendrichter in Halle. Er habe die schwere Verantwortung gerade in dieser Stellung sehr empfunden. Es sei ihm oft schwergefallen, die jungen Leute ins Gefängnis zu schicken. Diese Arbeit sei ihm schließlich so sehr zur Last geworden, dass er 1930 um Ablösung bat und in einen anderen Aufgabenbereich wechselte. Auf seine Anregung hin betätigte sich seine Frau im Gefängnisverein, wo Juristenfrauen für die Familien von Strafgefangenen Kleidungs- und Wäschestücke nähten. In dieser Eigenschaft als Jugendrichter erhielt er eine Einladung von der »DeutschChristlichen Akademikervereinigung« zu einem Vortragsabend, auf dem der prominente Theologe Günther Dehn über soziale Probleme der Großstadtjugend sprach. »Ich ging natürlich hin, nahm in der Aussprache das Wort und wurde von der Arbeit der D. C. A. V. so eingenommen, daß ich ihr etwa 1930 beitrat.« Weißler besuchte fortan regelmäßig die Veranstaltungen, die teilweise auch in kleinerem Kreis in den Wohnungen stattfanden. Bei einem dieser Abende, so berichtet er, habe er selbst über »die Auferstehung der Toten« gesprochen. In diesem Zusammenhang besuchte Weißler ­ auch »Konfirmationsstunden für Erwachsene«, die der alte Professor Karl Eger abhielt.23 Um 1930 sei dann eine neue, »große wissenschaftliche Arbeit« an ihn herangetreten, die Ausarbeitung eines Kommentars zur Grundbuchordnung. Auf diesem Gebiet war er der Spezialist. Der Plan zu dem Werk sei von Viktor Hoeniger und ihm gemeinsam gefasst worden, die eigentliche Ausarbeitung übernahm er selbst. Wichtige Fragen seien gemeinsam erörtert worden. »Selten wird ein Buch mit mehr Liebe und Eifer bearbeitet worden sein. Schon morgens um 6 Uhr saß ich im Winter am Schreibtisch und nutzte die Zeit aus, bis ich gegen 9 Uhr ins Gericht ging.« Auch Landgerichtspräsident Paul Gülland, Weißlers Vorgesetzter, habe sich sehr für das Werk interessiert. Im Frühsommer 1932 erschien das Buch. Eine zweite Auflage konnte Weißler noch bis 1933 fertigstellen, die Herausgeberschaft musste er aber nun an einen »arischen« Kollegen abtreten.24 – 94 –

Auf der Höhe des Lebens – Weißlers eigene Bewertung der Jahre um 1925 traf für ihn persönlich auch für die letzten, krisenhaften Endjahre der Weimarer Republik noch zu. Dem anerkannten und wohl­ bestallten Richter und seiner Familie ging es gut. Trotz mancherlei Einkommenskürzungen und sonstiger Erschwernisse durch die prekären Zeitverhältnisse, die von Weltwirtschaftskrise, Massenarbeits­ losig­ keit, politischer Radikalisierung und gewalthaften Straßen­ kämpfen geprägt waren, blieben sie von den Erschütterungen weithin unberührt. Auch die Sommerreisen waren weiterhin erschwinglich: 1930 ging es mit der Mutter und Musikerbruder Ernst nach Tirol; 1931 durchwanderte das junge Paar das Ihne- und Riesengebirge, heimatliches Gebiet für die aus Schlesien stammenden W ­ eißlers. Vor allem der Kinder wegen, die inzwischen sechs und vier Jahre alt waren, stand 1932 auf ärztlichen Rat hin eine vier­wöchige Reise an die Nordsee auf dem Programm. Das war kostspielig. W ­ eißler ließ sich zur Finanzierung die bisher angesammelten Dividenden seiner Lebensversicherung auszahlen. Frau und Kinder blieben vier Wochen auf Wan­gerooge. »Ich fuhr selber auf 14 Tage mit; länger hätte ich das untätige Leben an der See nicht gemocht.« Von dieser Reise ist ein Foto überliefert, das den erfolgreichen Juristen in modisch-eleganter Garderobe in der Sommerfrische zeigt, zusammen mit seinen beiden kleinen Jungen in Matrosenanzügen. Wohl selten sah man den jungen Richter so selbstbewusst und so sehr angekommen – auf der Höhe des Lebens. Im August 1932 – Hitlers braune Kolonnen standen vor den Toren – fuhr Weißler mit seiner Mutter sowie in Begleitung eines Mitarbeiters der Halleschen Stadtmission noch einmal nach Tirol, wo die Urlauber günstig wohnten und »schöne Bergpartien« machten. »Auf dem Rückweg in München erfuhr ich, daß in Magdeburg eine Direktorstelle ausgeschrieben sei. Mir war sofort klar, daß ich mich bewerben müßte, und ich fürchtete sehr, sie zu bekommen.«25 Die politische Entwicklung seit 1930, so erinnert sich Weißler, habe ihn oft mit »schweren Sorgen« erfüllt. Aus der DDP, die stark schrumpfte und die unter dem neuen Namen »Deutsche Staatspartei« politisch spürbar nach rechts rückte, trat er aus. Fortan wählte er den kirchennahen »Christlich-Sozialen Volksdienst«, eine christlichvölkische Splitterpartei, die kaum über ein Prozent Stimmenanteil – 95 –

Friedrich Weißler mit Ulrich und Johannes im Sommer 1932

hinaus kam. Ihr Programm und ihre praktische Politik ­während der Endphase der Republik war im Übrigen keineswegs so harmlos, wie ihr Name suggerieren mag. 26 Das Emporkommen der Nationalsozialisten, so schreibt Weißler in der Rückschau von 1936, »betrübte mich tief. Denn ich sah in ihrem Programm, wie ich einem befreundeten Pfarrer schon 1931 ohne Erfolg auseinanderzusetzen versuchte, eine widerchristliche Grundhaltung.« Auch er selbst habe nicht vorausgesehen, dass es zu einem schweren Konflikt mit beiden Kirchen kommen würde. Überhaupt habe man nicht ahnen können, wie sehr die Nationalsozialisten sich durchsetzen und wie brutal sie ihre Macht missbrauchen würden.27 – 96 –

Familie Weißler im Jahr 1932

Friedrich Weißler bekam die neue Richterstelle in Magdeburg. Gutachten des Landgerichtsdirektors in Halle und des Oberlandes­ gerichts­ direktors in Merseburg waren voll des Lobes über den 41-jährigen Juristen. Sicher wollten seine Vorgesetzten einen so befähigten, vielseitigen Juristen nicht gern an andere Gerichtsbezirke verlieren, und mit der Berufung auf die Direktorenstelle in Magdeburg blieb ­ Weißler der preußischen Provinz Sachsen erhalten. Durch Schreiben des Preußischen Justizministers vom 29. Oktober 1932 wurde der Land- und Amtsgerichtsrat Dr. Weißler zum Landgerichtsdirektor ernannt. Er hatte sein neues Amt beim Landgericht in Magdeburg am 1. Dezember anzutreten. Die Abschiede von Halle fielen allen Familienangehörigen schwer. Anfangs, so erinnert sich Weißler, seien alle Familienglieder bei Eintreffen der Beförderungsnachricht »wie verstört« gewesen. Freude wollte sich kaum einstellen. Als Weißler wenige Tage später seine Frau bei einer befreundeten Familie antraf, habe er dort beide Frauen »in Tränen« vorgefunden. Aber nun hieß es: umziehen nach Magdeburg, und das hieß: abmelden, ummelden, anmelden. Der überaus gründlichen preußischen Polizeiordnung verdanken wir eine stattliche Anzahl von Schrift­ stücken, die diesen Vorgang dokumentieren: es existiert eine »Poli– 97 –

zeiliche Abmeldung«, eine »Polizeiliche Ummeldung« und eine »Polizeiliche Anmeldung« der fünfköpfigen Familie. Demnach erfolgte am 12. Januar 1933 die Abmeldung der Mutter, der Ehefrau und der beiden Kinder von Halle, um nach Magdeburg in die Wilhelm Raabe-Straße Nr. 9 überzusiedeln. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit auch, dass die beiden Kinder im Alter von sieben und vier Jahren noch »ledig« waren. Unter der Rubrik »Religion« findet sich für Auguste Weißler die Eintragung »diss.«. Mit dieser Angabe zu ihrer Religionszugehörigkeit als »dissidentisch« be­trachtete sie sich offenbar als nicht mehr dem Judentum zugehörig. Ein formeller ­Austritt aus der jüdischen Gemeinde hatte vermutlich nicht stattgefunden. Es war eher ein stillschweigender, langer Abschied von der Religion ihrer Vorfahren. Drei Wochen später sollte eine solche Information über die Religionszugehörigkeit bereits staatliche Zweifel wecken und konnte fatale persönliche Konsequenzen haben.28

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viertes kapitel Ausgeschlossen aus der »Volksgemeinschaft«: Berufliche und soziale Exklusionen Zwei Wochen nach Hitlers Machtantritt, am 15. Februar 1933, leitete Friedrich Weißler eine Verhandlung am Magdeburger Landgericht gegen einen jungen SA-Mann. Der Angeklagte hatte zu nächtlicher Stunde zwei Polizeibeamte im Dienst beleidigt. Es habe sich um eine sehr alltägliche Sache gehandelt, schildert Weißler das Geschehen, wie sie zu dieser Zeit dutzendweise vorgekommen sei. Der Angeklagte erschien zur Verhandlung in SA-Uniform. Weißler sprach deshalb eine Rüge aus. Der Staatsanwalt beantragte eine »Ungebührstrafe« und die Kammer beschloss dementsprechend eine Strafe von drei Reichsmark. Mit einer politischen Meinungsäußerung oder gar politischen Betätigung habe der Strafbeschluss nichts zu tun gehabt. Ihm sei allerdings klar gewesen, räumt Weißler ein, dass er sich durch diesen Beschluss Unannehmlichkeiten hätte zuziehen können.1 Daraufhin erfolgte eine Hetzkampagne in der örtlichen national­ sozialistischen Presse, die sich zentral gegen den angeblich jüdischen Richter Weißler richtete. Beschimpfung der braunen Uniform, Hass gegen das Deutschtum, Mitgliedschaft im Reichsbanner und dergleichen mehr wurde dem »Juden Weißler« vorgeworfen. Das Landgericht wies in einer Presseerklärung die zumeist falschen und vielfach ehrverletzenden Anwürfe gegen den Landgerichtsdirektor zurück. Das half indessen wenig, der öffentliche Skandal war da, die Kampagne ging weiter. Am 25. Februar sandte die Gauleitung des »Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen« ein Telegramm an Hitler: »Landgerichtsdirektor Weißler Magdeburg hat anlässlich einer Verhandlung am 15. Februar 1933 vor der Strafkammer einen SA-Mann, weil er das braune Ehrenkleid der Freiheitskämpfer trug, wegen Ungebühr vor Gericht bestraft. Über diese Maßnahme herrscht unter der deutschbewußten Bevölkerung – 99 –

­ agdeburgs u M ­ ngeheure Erregung. Wir erbitten sofortiges Einschreiten der Regierung. Heil. Rechtsanwälte Dr. Kuhlmey Dr. Beyer.«2 Am 9. März drangen Angehörige der SA , der NSDAP und des Stahlhelm (Bund der Frontsoldaten) in das Gerichtsgebäude ein und hissten auf dem Balkon die Schwarz-Weiß-Rote Fahne und die Hakenkreuzfahne. Mit Gewalt zerrten sie den verhassten »Juden Weißler« herbei und zwangen ihn, vor einer versammelten Volksmenge die beiden Fahnen zu grüßen sowie sich am Absingen des Deutschlandlieds zu beteiligen. In einem Schreiben an den Gerichtspräsidenten vom selben Tag bat Weißler: »Ich erblicke in dem Verhalten der SA-Leute eine strafbare Nötigung und bitte mich in Schutz zu nehmen. Freiwillig hätte ich der Feier nicht beigewohnt, da ich mit Beschimpfungen gegen mich rechnen musste und in ein Hoch auf Hitler nicht einstimmen wollte.«3 Am Tag darauf wurde Weißler vom Dienst suspendiert. Er musste der Gewalt weichen. Das Gericht konnte seinen Richter im März 1933 gegen die Angriffe angeblich nicht mehr schützen. Ähnliche Gewaltaktionen gegen »nichtarische« Richter fanden in zahlreichen deutschen Gerichten während dieser gewalttätigen Wochen der nationalsozialistischen Machtergreifung statt. ­Sebastian H ­ affner erlebte diese SA-Angriffe im Berliner Kammergericht als junger Assessor und hat sie wenige Jahre später in der englischen Emigration eindrucksvoll geschildert.4 Weißlers Rauswurf geschah mehrere Wochen vor Erlass des Berufsbeamtengesetzes vom 7. April 1933, dessen Bestimmungen schließlich gegen ihn bei der endgültigen Entlassung geltend gemacht wurden. Als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs konnte der sogenannte Arierparagraf gegen ihn nicht geltend gemacht werden. Stattdessen zogen die neuen Machthaber zur Begründung § 4 »politische Unzuverlässigkeit« heran, ohne allerdings einen Beleg dafür erbringen zu können.5 Mit diesen Ereignissen war die unheilvolle Episode Magdeburg für die erst wenige Wochen dort ansässige Familie Weißler so gut wie beendet. In Magdeburg, wo alles das geschehen konnte, was ihnen im Februar und März 1933 widerfahren war, fühlte sie sich zu Recht verfemt und verfolgt. Landgerichtsdirektor Weißler war nicht das einzige Opfer brutaler Gewalt in Magdeburg während dieser Wochen: Oberbürgermeister Ernst Reuter wurde im Rathaus über– 100 –

Entlassungsurkunde Friedrich Weißlers vom 21. Juli 1933

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fallen und verprügelt und anschließend in »Schutzhaft« genommen; am 11. März führten die Nationalsozialisten Bürgermeister Herbert Goldschmidt auf entwürdigende Weise durch die Straßen der Stadt; am 11. April überfiel ein gewalttätiger Mob jüdische Rechtsanwälte im Justizpalast.6 Rückzugsort für die Weißlers war das Pfarrhaus in Plossig, wo die Familie die bedrückenden Sommerwochen 1933 relativ abgeschirmt verbringen konnte. Friedrich Weißler versuchte, sich durch zahlreiche Schreiben an offizielle staatliche Behörden, an Vereine und Verbände, denen er lange angehört hatte, sowie an alte Freunde mit den Mitteln juristischer Argumentation zu rechtfertigen und zu verteidigen. In großer Ausführlichkeit schrieb er am 8. April an seinen »Bundesbruder« Kehrmann, der Mitglied im Vorstand des Altherrenverbandes der Makaria war. »Du weißt, daß ich rein jüdischer Abstammung bin. Was ich im Übrigen bin, wie ich insbesondere zum Deutschtum und zum nationalen Gedanken stehe, weißt Du auch. (…) Mein Vater und die Art seines Todes ist Dir ja wohl auch bekannt. Die gegenwärtigen Maßnahmen gegen Juden haben mich natürlich auch betroffen. Ich bin wie alle anderen jüdischen Richter beurlaubt, und es ist sehr fraglich, ob man mir jemals wieder erlauben wird, meinen von mir innerlich tief geliebten Beruf auszuüben.«7 Weißler schildert sodann das Geschehen und beklagt, dass die Magdeburger Ortsgruppe sich keineswegs hinter ihn gestellt habe. Der Vorsitzende des Ortsvereins, bei dem er noch am 8. März einen »sehr netten Abend« verlebt habe, teilte ihm am 20. März per Einschreiben mit: »Verschiedene Vorkommnisse der letzten Zeit haben dazu geführt, daß in weiten Kreisen eine große Erregung gegen Ihre Person besteht. Ohne zu der Sache selbst Stellung zu nehmen, halten es daher zahlreiche Vbr. [Verbandsbrüder] und ich selbst in Ihrem Interesse für dringend geraten, daß Sie und auch Ihr Bruder von dem Besuch des Bismarckkommers Abstand nehmen, da bei der derzeitigen politischen Stimmung sonst die Gefahr von unliebsamen Zwischenfällen besteht. Sollten Sie eine persönliche Aussprache über diese Angelegenheit wünschen, so stehe ich Ihnen, soweit dies meine Zeit gestattet, zur Verfügung.«8 Weißler teilt seinem Hallenser Bundesbruder K ­ ehrmann weiter mit, dass eine Aussprache nicht stattgefunden habe, und dass er fortan – 102 –

keinen Kontakt mehr zum Magdeburger Ortsverein pflegen wolle. Er sei tief enttäuscht, in dieser »bisher schwersten Angelegenheit meines ganzen Lebens« durch den Sondershäuser Verband keine Unterstützung zu finden. Abschließend kündigt er an, auch seine Mitgliedschaft in der Makaria zur Disposition zu stellen und erwarte eine Entscheidung des Altherrenverbandes.9 Ohne ausdrücklich um Hilfe zu bitten, waren diese Briefe gewiss auch verhaltene Hilferufe eines in seiner beruflichen Existenz schwer gefährdeten Mannes. Einen solchen Hilferuf sandte Weißler zu gleicher Zeit an den in Berlin ansässigen Pastor Hanns Lilje, der Geschäftsführer des Altfreundverbands (AFV) war. Dieser Brief war, über den lutherischen Theologen Lilje hinaus, auch ein allgemeiner Hilferuf an die Evangelische Kirche, der Weißler seit früher Kindheit angehörte. »Wo bleibt der Mut der Kirche und unseres AFV zum Evangelium? Wie oft ist in den letzten Jahren mit Recht gesagt worden, die Kirche müsse das Wort Gottes unabhängig und auch wider Willen der staatlichen Machthaber verkünden! Jetzt ist es an der Zeit, die Versprechen zu erfüllen! Soweit ich sehe, finde ich aber nichts als Unterwürfigkeit und Verbeugungen vor den neuen Machthabern.« Weißlers Brief vom April 1933 an den Theologen Lilje gleicht in Wortwahl und Tonlage sehr weitgehend den aufrüttelnden Hilfe­ rufen der Berliner Historikerin und Pädagogin Elisabeth Schmitz, die an den in Bonn lehrenden renommierten Theologen Karl Barth gerichtet waren.10 Wie Schmitz mahnte Weißler dringlich die Unterstützung der ausgegrenzten »Nichtarier« an. Die gegenwärtige Staatspolitik, so weiter Weißler, sei so unchristlich wie nur möglich. Er meine damit vor allem die »Vergötzung des Nationalgedankens und die Aufhetzung des Volkes gegen die Juden.« Weißler räumte ein, dass er selbst von den Maßregelungen betroffen sei. »Aber nicht das bewegt mich so tief, sondern daß die berufenen Vertreter des Evangeliums diese Ungerechtigkeiten geschehen lassen, ohne dagegen ihre Stimme zu erheben. Meine große Sorge ist, daß sich dies Versäumnis an der Kirche ebenso rächen wird wie ihr früheres Versagen in der sozialen Frage. (…) Für die Kirche ist es (eine) Existenzfrage, daß sie nicht schweigt!« Wie aus anderen Schreiben Weißlers hervorgeht, ­erhielt er von Pastor Lilje keine Antwort auf seinen Hilferuf.11 – 103 –

Ähnlich gelagert war ein Schreiben Weißlers vom 15. August, nun aus Plossig abgesandt, an Pfarrer Curt Duda (Halle), der ebenfalls die Deutsche Christliche Akademiker-Vereinigung vertrat. Nachdem sich dieser Verband eine neue Verfassung gegeben hatte, die Weißler als »ungemein erfreuliches Dokument« kennzeichnet, wolle er doch weiter Mitglied bleiben und bat seinen Bundesbruder, ihn an den Berliner Kreis zu überweisen, da er ab September seinen Wohnsitz in Berlin nehmen werde. Bis Ende Juli sei es in Magdeburg nicht zu der gewünschten Aussprache gekommen – ein Schweigen seiner Bundesbrüder, das Weißler als sehr kränkend empfand. Da er in Magdeburg völlig allein gestanden habe, wäre die Aussprache ihm besonders wichtig gewesen. Das umgehende Antwortschreiben aus Halle war wohlwollend und solidarisch im Ton, wenngleich der Bundesbruder es vermied, sich über das Grundsätzliche der Maßnahmen schriftlich zu äußern. Dies müsse, meinte der Theologe, einer direkten Aussprache vorbehalten bleiben, wobei er andeutete, dass er in diesem Fall mit einem Unterschied in den beiderseitigen Ansichten rechne.12 Weit umfangreicher und grundsätzlicher war ein Schreiben vom 30. August 1933, das Weißler an die Reichskanzlei (faktisch also an Reichskanzler Hitler) richtete und worin der streng rechtlich denkende Jurist versuchte, mit den Mitteln juristischer Argumentation ein Recht zu erlangen, dass inzwischen nicht mehr gewährleistet war. Da er eine Begründung für seine Entlassung aus dem Justizdienst durch den preußischen Justizminister nicht erhalten habe, halte er den »Grundsatz des rechtlichen Gehörs« für verletzt und müsse schon deshalb das Verfahren des Justizministers für anfechtbar ansehen. In weit ausholendem Bogen berichtet der Jurist sodann über die Familie Weißler, insbesondere von den Leistungen seines Vaters im juristischen Bereich, von dessen gemeinnützigen Werken und seiner untadeligen deutsch-patriotischen Haltung. Sodann hebt er seinen vierjährigen aktiven Kriegseinsatz hervor. Bei den Wahlen in der Weimarer Zeit habe er zuletzt – das heißt bei der Reichstagswahl vom 6. März 1933 – die »Deutschnationalen« gewählt. »Die Sozialdemokraten und Kommunisten habe ich stets bekämpft, letztere sogar mit bewaffneter Hand. Denn bei den Spartakistenunruhen 1919 in Halle hielt ich es für meine selbstverständliche Pflicht, – 104 –

dem damals in Halle gebildeten Freikorps beizutreten.«13 Weißler betont ausdrücklich, dass er sich zu keinem Zeitpunkt politisch aktiv betätigt habe und insofern der § 4 des Berufsbeamtengesetzes gegen ihn nicht herangezogen werden könne. Weißler kommt zu dem Schluss, dass seine Dienstentlassung als »eine durch das Gesetz nicht zu rechtfertigende Härte« anzusehen sei. Und auch sei es letztlich nicht persönliches Interesse, das ihn zu diesem Einspruch treibe. »Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, daß das Wohl von Volk und Reich auf das Schwerste geschädigt wird, wenn ein für den Geist der Beamtenschaft so wichtiges Gesetz nicht vollkommen objektiv gehandhabt wird. Nur deshalb bitte ich um Anwendung der Reichsaufsicht.«14 Natürlich hatte Weißler mit dieser Eingabe vom August 1933 keinen Erfolg. Von der Reichskanzlei erhielt er keine Antwort. Sie leitete den Vorgang an das Justizministerium weiter. Der Jurist Weißler war so tief innerlich von der Macht des Rechts überzeugt, dass er diesen Weg der rechtlichen Argumentation noch über Jahre hinaus weiter beschreiten sollte, obwohl er längst in einem Staat lebte, in dem auch das geltende Recht nicht mehr voll angewendet wurde und häufig nationalsozialistische Willkürmaßnahmen an die Stelle traten.15 Das Leben musste neu geordnet werden. Es galt, die Stadt Magdeburg, in der den Weißlers so übel mitgespielt worden war, so schnell wie möglich zu verlassen. Während der Sommerwochen 1933 bot das Pfarrhaus Plossig einen Rückzugsort. Aber auf die Dauer konnte das für den 42-jährigen Landgerichtsdirektor a. D. und seine junge Familie kein Aufenthaltsort sein. Eine Rückkehr nach Halle kam ebenfalls nicht in Frage. In einem seiner Briefe schrieb Weißler, er sei froh, dass er die schmähliche Dienstentlassung nicht in Halle habe erleben müssen, wo er seit Jahrzehnten gelebt hatte und viel bekannter als in Magdeburg gewesen sei. Die Familie beschloss, nach Berlin umzusiedeln. Hier konnte sie im Schutz der Großstadtanonymität neu anfangen. Fast niemand würde sie hier kennen, und der in Magdeburg und vor allem in Halle gravierende öffentliche Makel des »Nichtarischen«, der politischen Dienstentlassung und Berufslosigkeit würde hier entfallen. Nach Erhalt der Entlassungsurkunde des Preußischen Justizministers im Juli 1933, die von Staatssekretär – 105 –

Roland Freisler unterschrieben war, wurden Weißler die bisherigen Dienstbezüge für drei weitere Monate belassen. Danach erhielt er Versorgungsbezüge, die etwa drei Viertel seines bisherigen Einkommens betrugen. Seine früheren Nebeneinkünfte als Publizist juristischer Periodika und Fachliteratur gingen rapide zurück und hörten mit dem Jahr 1935 völlig auf, da er gezwungen wurde, den Fortgang dieser Arbeiten (Preußisches Archiv, Formularbuch für freiwillige Gerichtsbarkeit, Kommentar zur Grundbuchordnung) entweder einzustellen oder in andere Hände zu legen.16 Mit der neuen Wohnung in Berlin, so ließe sich mit der gebotenen Einschränkung wohl sagen, hatten die Weißlers Glück im Unglück. Am 7. August 1933 unterschrieben Friedrich und Johanna Weißler einen Mietvertrag und bezogen im September eine Vierzimmer-Neubauwohnung in der Meiningenallee 7. Das war ein moderner Siedlungsbau im Westen Charlottenburgs, im vornehmen Villenviertel von West­end. Hier wohnten Prominente: Schauspieler und andere Künstler, gefeierte Sporthelden, höhere Beamte, Freiberufler, Geschäftsleute. In der großen Neubauwohnanlage dominierte der kleinere Mittelstand, Beamte und Angestellte. Eine neue »Hausgemeinschaftsordnung« (April 1934) erklärte es zur »vaterländischen Pflicht« der Mieter, allen Luftschutzmaßnahmen nachzukommen. Und um ein Gemeinschaftsleben im Haus zu gewährleisten, seien Vermieter und Mieter verpflichtet, im Sinne einer »wahren Volksgemeinschaft« miteinander zu leben. Für die Weißlers war die neu bezogene Wohnung zweifellos in einem positiven Sinne modern: zweckmäßig, komfortabel, angenehm. Der große Wohnblock, so erinnert sich Johannes Weißler, der hier Kindheit und Jugend verbrachte, war erst um 1930 im damals üblichen sachlichen Stil erbaut worden. Es gab nun sogar einen Fahrstuhl im Haus, was aufregend für die Kinder war. Und natürlich gab es Zentralheizung, dazu ein offenbar richtig schickes Bade­zimmer mit Fliesen, eingebauter Badewanne und einem Wasserklosett mit Druckspüler. Selbstverständlich stand jederzeit fließendes Warm- und Kaltwasser zur Verfügung. Besonders das heiße Wasser aus der Leitung sei, so erinnert sich der Sohn, damals »ein Luxus« gewesen. Auch die Küche war gefliest und mit Gasherd sowie Warm– 106 –

und Kaltwasserspüle gut ausgestattet. Es habe sich damals in Berlin, so Johannes Weißler, um den letzten Häuserblock der Großstadt nach Westen hin gehandelt, der von viel Grün und Brachland umgeben war, und der noch einen freien Blick über Wiesen und Felder bis nach Spandau erlaubt habe.17 Hier also musste im Schatten der Katastrophe das Leben neu eingerichtet werden. Den Mitbewohnern des Hauses sollte möglichst verborgen bleiben, warum der relativ junge und gesunde Landgerichtsdirektor »außer Dienst« war. Und auch die beiden Jungen – inzwischen im Alter von acht und fünf Jahren – sollten, so weit wie möglich, nichts von der beruflichen Ausbootung des Vaters bemerken. Wie zuvor hatte er auch in der neuen Wohnung sein eigenes Arbeitszimmer mit seinen Büchern, Zeitschriften, vielen Papieren, mit Schreibtisch, Schreibmaschine und Telefon, wo er viele Stunden des Tages zubrachte. Und schon bald verließ er wieder täglich die Wohnung, um »zur Arbeit« zu gehen. Was er dort genau machte, war aus der Kinderperspektive nicht so wesentlich. Für die beiden Jungen war Berlin um 1933 zu allererst neu, aufregend, großartig: mit der S-Bahn oder U-Bahn durch die riesige Stadt fahren; ganz in der Nähe die schnurgerade Autorennstrecke der Avus durch den Grunewald; hin und wieder gab es Autorennen mit Sporthelden wie Bernd ­Rosemeyer, der im Villenvorort Westend wohnte; das Messegelände und der imposante Funkturm ganz in der Nähe; der Bau des Olympia­stadions und die Umgestaltung des ganzen umliegenden Geländes um Vorfeld der Olympischen Spiele – kurz, es war immer viel los in der Viermillionenstadt. Ruhiger ging es in der Meiningen­ allee zu: »Auf der geteerten Straße vorne, der Meiningenallee, wurden mit Kreide Linien gemalt für die kleinen Autos, die man anschieben musste (…). Wichtig war, das Innere dieser kleinen Modellautos zu öffnen und sie mit Knete und Bleikugeln möglichst schwer zu machen und die Achsen zu ölen, damit sie beim Anschubsen möglichst weit liefen. Richtige große Autos auf der Straße, die uns hätten stören können, gabs ja fast noch gar nicht. Und wenn mal eins kam, wurde laut gerufen: Achtung, Auto kommt!«18 So ganz neu und so ganz fremd waren die Weißlers in der Hauptstadt nicht. Friedrich Weißler hatte seit Herbst 1919, zusammen mit – 107 –

seiner Mutter, nahezu ein Jahr bei Verwandten in der Charlottenburger Uhlandstraße gelebt. Es gab auch jetzt eine weit verzweigte Verwandtschaft in Berlin, und natürlich besuchte und half man sich, wo es nur ging. Weißlers Bruder Ernst, der Musiker, lebte in Berlin. Und viele neue Kontakte ergaben sich durch die Kinder, gewissermaßen spielerisch. Es stellten sich bald Freunde und Freundinnen, Spielgefährten, Schulkameraden ein. In der Nachbarwohnung gab es beispielsweise drei Mädchen, mit denen die Jungen viel zusammen waren. »Vater Schönwetter war Geschäftsmann und fuhr jeden Morgen mit seinem Auto, mit einem schicken amerikanischen Wagen (…), in die Stadt in sein Geschäft. (…) Wir beide, ­Ulrich und ich, gehörten beinahe auch zur Familie Schönwetter, weil wir so oft mit den Kindern spielten. Und die lebhaften KinderGeburtstagsfeiern hier oder dort, da war immer was los. Als ich ab 1935 zur Volksschule ging, und manchmal erst zur 2. Stunde dort sein musste, durfte ich mit Herrn Schönwetter in seinem schicken Auto mitfahren, weil er immer um halb neun Richtung Stadt in der Nähe der Schule vorbeifuhr. Was war ich stolz!« Vor allem durch die Schule gab es rasch neue Anschlüsse – Rolf Treplin zum Beispiel: »Er wohnte in der Eichenallee und hatte den Vorteil, dass er schon damals eine große elektrische Eisenbahn zu Hause hatte, Spur 0, die man auf dem Fußboden aufbauen musste. Und sein Vater bastelte dazu aus Holz eine große Brücke. (…) In demselben Haus wohnte unten auch ein Mitschüler von uns, Konrad Steche. Wir drei hockten daher oft zusammen, Eisenbahn spielen oder draussen rumtoben. (…) Es wurden auch wunderschöne Kindergeburtstage gefeiert, zumal Rolfs Eltern, wohl finanziell besser gestellt als wir, immer gute Kuchen- und Puddingschlachten lieferten.«19 So ›normal‹ konnte das Leben im Schatten der Katastrophe auch sein, zumindest aus der Kinderperspektive. Es war bei den Weißlers naheliegend, dass sie sich in Berlin schon bald nach kirchlichen Kontakten umsahen. Sie wohnten in der Parochie der Charlottenburger Epiphanien­gemeinde. Da die Kirche relativ weit entfernt lag, hielten sie sich jedoch mehr zur näher liegenden Kirche an der Heerstraße. Berücksichtigt man die häuslichen Gewohnheiten und Gebräuche, so – 108 –

Pfarrer Walter Hoff (Berlin-Charlottenburg) spricht bei NS -Fahnenweihe

zeichnet sich das Bild einer durchaus kirchennahen Familie von verhaltener Frömmigkeit ab. Als Pfarrerstochter brachte die Ehefrau und Mutter gewiss eine Menge christlich-protestantischen Brauchtums in die Familie und Kindererziehung ein. Zu den Mahlzeiten wurde ein Gebet gesprochen. Am Sonntag ging die Familie geschlossen in den Gottesdienst zur Heerstraßenkirche, die Kinder besuchten anfangs den Kindergottesdienst. So sehr gerne, erinnert sich der jüngste Sohn, sei er dort allerdings nicht hingegangen. Es schien ihm alles zu feierlich, »und die Kindergottesdienst-Helferinnen sprachen so gesalbt.« Später besuchten die Kinder den »Kreis«, ein Treffen der evange­lischen Jugend im Gemeindesaal der Lietzensee-Kirche. 20 – 109 –

Weit komplizierter stellten sich das Christsein und der Kirchenbesuch für Friedrich Weißler selbst um 1933 dar. Als ein intellektuell selbständiger, frei denkender Kopf hatte es bei ihm eine langwierige, keinesfalls geradlinige Annäherung an das Christentum gegeben. Er hatte seine eigene Bibellektüre und war in der Lage, daraus eigene Schlussfolgerungen hinsichtlich kirchlichen Verhaltens in der Gegenwart zu ziehen. Sein Brief an den Theologen und Altherrenbruder Lilje vom April 1933 zeugt von seiner kritischen Haltung gegenüber einer Kirche, die offenbar nicht imstande war, gegen die unchristlichen Maßnahmen der Nationalsozialisten ihre Stimme zu erheben. Auch sah er, dass erhebliche Teile der evangelischen Kirche sich den ebenso völkisch wie antisemitisch tönenden Deutschen Christen anschlossen. Das erlebte er nun auch vor seiner Haustür in vielen ­Charlottenburger Kirchengemeinden, nicht zuletzt in seiner Parochie in der Epiphaniengemeinde. Dass er als Christ jüdischer Herkunft in dieser Hinsicht besonders aufmerksam und empfindlich war, liegt auf der Hand. Eine Episode in der Heerstraßengemeinde zeugt von den gemischten Erfahrungen, die Weißler zu dieser Zeit auch im Kirchenbereich machen musste. 21 Um die Weihnachtszeit 1935 bot Friedrich Weißler, der wie schon sein Vater ein leidenschaftlicher Chorsänger war, dem Organisten und Chorleiter der Heerstraßengemeinde seine Mitwirkung im Kirchenchor an. Der Chorleiter zeigte sich zunächst hocherfreut, habe sich jedoch zurückhaltend verhalten, nachdem Weißler ihn darauf aufmerksam machte, dass er »Nichtarier« sei. Der Chorleiter meinte daraufhin, er müsse zunächst die Chormitglieder befragen und würde ihm dann Bescheid geben. Ein Bescheid kam jedoch nicht. Nach einem Monat informierte Weißler Pfarrer Ernst Gürtler, den einzigen Geistlichen der kleinen Gemeinde, über den Vorgang. Zugleich drückte er ihm sein Bedauern aus, dass in der Gemeinde offenbar Unterschiede gemacht würden, die vom Evangelium her nicht geboten seien.22 Die Antwort Pfarrer Gürtlers – er hatte sich im Dezember 1933 dem Pfarrernotbund angeschlossen, bekannte aber schon wenige Wochen später, er könne mit dem Notbund nicht mehr mitgehen – fiel seltsam ausweichend aus. Er sei darum bemüht, seine Gemeinde vom Evangelium her zu bauen. Seine seelsorgerliche Hal– 110 –

tung gegenüber »arischen« oder »nichtarischen« Gemeindegliedern sei die gleiche. Diese Haltung würde jedoch nicht von allen in der Gemeinde geteilt. Der Kirchenchor sei eine freiwillige Vereinigung, auf dessen Zusammensetzung er keinen Einfluss nehmen könne. Es tue ihm leid, dass Weißler die ihm jetzt zuteil gewordene Erfahrung nicht erspart geblieben sei. »Im letzten Grunde«, so Gürtler abschließend, »muß uns Christen das Urteil unseres Herren maßgeblich sein. Dies mag Sie getrost und still machen.«23 Weißler gab sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden. In seiner Erwiderung ist sowohl der bekennende Christ als auch der logisch-­ juristisch argumentierende ehemalige Landgerichtsdirektor zu spüren: Er bedanke sich für die freundlichen Worte, glaube jedoch nicht, dass er (Pfarrer Gürtler) damit den Kern der Sache getroffen habe. »Es war mir nicht darum zu tun, seelsorgerlichen Trost zu erhalten, sondern darum, den Finger auf einen wunden Punkt in Ihrer Gemeinde zu legen. Ihren Standpunkt, dass der Chor eine freiwillige Ver­einigung sei und Sie deswegen auf seine Zusammensetzung keinen entscheidenden Einfluß nehmen könnten, kann ich nicht anerkennen. Ein Chor, der bei gottesdienstlichen Veranstaltungen mitwirkt und darin, wie es scheint, seinen einzigen oder doch hauptsächlichen Zweck sieht, ist eine Einrichtung der Gemeinde selbst, auch wenn die Teilnahme daran freiwillig ist. (…) Dieser Umstand kann also kein Grund sein, den Pfarrer auszuschalten. Bei anderen – auch freiwilligen Veranstaltungen – würde er sich das vermutlich kaum gefallen lassen. Ist aber die Veranstaltung des Chors ein Teil des Gottesdienstes, kann einfach nicht geduldet werden, dass er Personen von der gottesdienstlichen Mitwirkung ausschließt, die nach Bekenntnis und Kirchenrecht ebenso zur Gemeinde gehören wie jeder Andere.« Abschließend erklärte Weißler, er habe sich entschlossen, seinerseits auf eine Mitwirkung in diesem Kirchenchor zu verzichten. 24 Wie ein umfangreicher Schriftwechsel im Nachlass Weißler belegt, führte er seit seiner Entlassung 1933 langwierige und ziemlich aussichtslose Auseinandersetzungen um Anerkennung, um Recht und Gerechtigkeit, mit staatlichen und kirchlichen Stellen wie auch mit – 111 –

Privatpersonen, denen er bis dahin freundschaftlich verbunden gewesen war. Im Juni 1934 erhielt er vom Reichsjustizministerium den Termin zu einer Aussprache mit Staatssekretär Franz Schlegelberger. Er sei, so teilte er dem Staatssekretär vorab mit, vom Preußischen Justizministerium aufgrund des § 4 des Berufsbeamtengesetzes entlassen worden, ohne dass ihm der Grund der Entlassung jemals mitgeteilt worden sei. Er bekräftigte, sich niemals politisch betätigt zu haben. »Durch dieses unbegreifliche Verhalten der obersten Landesbehörde bin ich nicht nur in meiner nationalen Ehre tief getroffen, sondern auch in die in meinem Alter von 43 Jahren unerträgliche Lage versetzt, tatenlos herumsitzen zu müssen, statt meine Kenntnisse und Erfahrungen nutzbringend verwerten zu können. Es liegt aber nicht im Interesse des Reichs und widerspricht vielen Ansprüchen des Führers, Staatsbürger, die loyal mitarbeiten wollen, in den besten Jahren zur Untätigkeit zu verdammen.«25 Die Unterredung mit ­Schlegelberger fand am 14. Juni statt. Noch am gleichen Tag berichtete Weißler brieflich seiner Frau, die zu diesem Zeitpunkt mit den Kindern auf Amrum war. Ein konkretes Ergebnis zeitigte die Aussprache indessen nicht. Weißler wurde darauf verwiesen, sich unter Umständen im Verlauf der nächsten 14 Tage noch einmal zu melden.26 Eine zweite Unterredung mit Staatssekretär Schlegelberger war für den 3. September 1934 vereinbart. Dieser war zum vereinbarten Termin zwar verhindert, jedoch gelang es Weißler, mit einem Ministerialrat Wagner zu sprechen. Auf dessen Empfehlung hin sandte Weißler am 7. September ein Gesuch an den Reichs- und Preußischen Justizminister ­Gürtner mit der Bitte um »Rücknahme einer Maßnahme auf Grund des Berufsbeamten-Gesetzes«. Das Gesuch entsprach im Wesentlichen seiner Eingabe an die Reichskanzlei (August 1933), auf die er weder von dort noch von anderen Stellen eine Antwort erhalten hatte. In lapidarer Kürze antwortete Justizminister Gürtner hierauf Ende Oktober: »Nach Prüfung des Sachverhalts sehe ich mich zu meinem Bedauern nicht in der Lage, in Ihrer Angelegenheit von Reichs wegen etwas zu veranlassen.«27 Damit dürfte auch Weißler klar geworden sein, dass auf diesem Weg der Eingaben an staatliche Organe eine Revision seines Falls nicht zu erwirken war. Mochte seine Entlassung selbst nach den Maßstäben – 112 –

nationalsozialistischen Rechts unzulässig gewesen sein, so musste er einsehen, dass es sich um eine politisch gewollte Willkürmaßnahme handelte, gegen die mit den Mitteln der rechtlichen Argumentation nichts zu erreichen war. Im privaten Verkehr während dieser Jahre der beruflichen und sozialen Exklusionen fällt ein Briefwechsel auf, der einen besonders eklatanten Fall des Abbruchs vormals freundschaftlicher Beziehungen dokumentiert. Anfang Oktober 1935 hatte Weißler der befreundeten Familie Walther und Else Brandis in Hamburg einen Geburtstagsglückwunsch übersandt. Weißler kannte den Juristen und Anwalt Dr. Walther Brandis bereits seit Studienzeiten in Halle. Er hatte in seinem Brief auch über seine Entlassung aus dem Staatsdienst berichtet. »Leider veranlaßt mich diesmal Dein Brief«, so antwortete Else Brandis noch am selben Tag, »zu einer ernsten und aufrichtigen Stellungnahme zu Deinen Klagen gegenüber meiner Rasse und unserer Regierung. Du klagst nur an und stellst Dich als Märtyrer hin. Wie wir geschädigt wurden unter der Vorherrschaft der Juden erwähnst und bedenkst Du nie.« Schon aus diesen ersten Zeilen erhellt, wie inzwischen bei den Brandis in Hamburg gedacht wurde. Als ihr Mann nach Hitlers Machtübernahme in die Anwaltskammer gewählt worden sei, habe er Einsicht in die Liste aller Anwälte nehmen können, die seit 1919 mit Staatsmandaten bedacht worden seien. »Es waren nur Juden. Kein Germane, vor allem kein rechtsgesinnter, kam in Frage, höchstens noch Anwaltsfirmen, die aus Juden (und) Germanen bestanden. Deine Rasse arbeitet still gegen uns, unterminierend und zersetzend. (…) Wir wissen, daß Ihr überall Stammesgenossen findet, in jedem Lande Euch zusammenschließt und als Fremdkörper wirtschaftlich die andern übervorteilen wollt.« Was die Anwalts­gattin hier und im Folgenden ausbreitete, war ohne Zweifel ein komplettes nationalsozialistisches Weltbild, das von ihr mit viel Inbrunst und Vehemenz vertreten wurde. Ob ihr Mann und frühere Studienkollege Weißlers genauso dachte, muss offenbleiben. Seine Frau jedenfalls richtete sodann an Weißler eine Reihe bösartiger Fragen: »Warum willst Du Deine Söhne nicht in die jüdische Schule schicken? Steht Dir Deine eigene Rasse, das Blut Deiner Väter nicht hoch genug? Warum – 113 –

setzt Du das herab? Ich habe immer an Dir geachtet, daß Du mir einmal sagtest: Ich bin stolz, daß ich ein Jude bin. Schließt Euch doch zusammen zu einem Volk mit eigenem Land und Nationalgefühl, seid staatenbildend und nicht staatenzersetzend!«28 Nach allem, was von Weißler durch Tagebücher, Briefe und andere Selbstzeugnisse bekannt ist, dürfte er tatsächlich niemals gesagt haben, er sei stolz, ein Jude zu sein. Das war jetzt vielmehr die gedankliche Vergröberung einer fanatischen Anhängerin nationalsozialistischer Ideologie. Was Weißler, ein religiös Suchender, wiederholt betont hatte, war indessen, dass er seine jüdische Herkunft keineswegs verleugnen möchte, sondern vielmehr stolz darauf sei. »Ich klage an«, so fuhr die enragierte Briefschreiberin fort, »daß Ihr durch Eure schwere Zeit nie Fehler bei Euch sucht. Ich klage an, daß Ihr aufgehen wollt in fremder Rasse, anstatt die eigene Art zu veredeln. Ich klage an, daß Du nicht erkennst, daß unsere Regierung uns Wehrmacht, Ehrgefühl und Stolz wiedergab, uns, unserm geliebten Deutschland, zu dem Du Dich doch auch bekennen willst.« Durch Geschäftsbeziehungen ihres Mannes mit einem amerikanischen Kollegen wisse sie, dass in New York nur jüdische Richter amtierten und kein Deutscher dort Recht bekomme. Else Brandis, das Geburtstagskind, sprach gegen Ende ihres Briefes den Wunsch aus: mögen die Juden endlich ein Land finden, wo sie selbst durch schwere Arbeit der Erde etwas abringen, statt sich dort niederzulassen, wo es am Bequemsten sei. Dann, so meinte sie, würde der unselige Zwist mit dem Judentum verschwinden. Ihr nationalsozialistisches Weltbild suchte sie abschließend noch durch eine Art religiöser Unterfütterung zu bekräftigen: »Gebe Gott, daß auch das jüdische Volk heimfindet. Jede Blume hat ihre eigene Art, von Gott gegeben. Bei einer Kreuzung geht das Ursprüngliche verloren, das, was Gott gab. Jedes Volk hat seine Art, von Gott gegeben. Das ist Religion, ewiges Gesetz. Wenn Du dieses Urgesetz nicht anerkennst, werden wir zwei uns nie mehr verstehen.«29 Das war starker Tobak, auch für Weißler, der seit 1933 einige Zumutungen gewohnt war. Eine Antwort fiel ihm schwer, aber eine Woche später antwortete er der »Lieben Else« dann doch: »Dein Brief hat mich wie ein Keulenschlag getroffen: Wer mir so schrei– 114 –

ben kann, kennt mich entweder überhaupt nicht oder ist nicht mein Freund. Beides habe ich aber bisher von Dir annehmen zu dürfen geglaubt. Nur in dem Gedanken, daß Du wie so viele Andre der ­allgemeinen Psychose der Zeit erlegen bist und im Hinblick auf frühere Gemeinsamkeiten zwinge ich mich zu einer Antwort.« Sein Deutschtum wolle er sich von Niemandem bestreiten lassen. Seine Familie habe seit Generationen deutsche Kultur eingesogen und ihren Willen, deutsch zu sein, unzählige Mal durch die Tat bewiesen. Dies vertrage sich durchaus mit seinem Stolz auf die Vorfahren, die ihm so viele gute Eigenschaften mitgegeben hätten. »Das deutsche Volk ist nun einmal ein Mischvolk, wie bekanntlich selbst Hitler zugeben muß. Weißt Du denn so genau, daß in Deinen Adern kein Tropfen nichtarischen Blutes rollt? Was heißt überhaupt ›arisch‹? Die Rassenforscher sind sich bekanntlich darüber keineswegs einig.« Wer noch jüdisch denke und fühle, möge den Judenstaat aufrichten helfen. Für ihn selbst sei dies jedoch ausgeschlossen. Und noch mehr gelte dies für seine Kinder, die christlich erzogen würden. Schon aus religiösen Gründen wäre es eine Zumutung, sie auf eine jüdische Schule zu schicken. Was sie, seine bisherige Freundin Else, über das »internationale Judentum« klage, berühre ihn nicht. Überdies sei es zum großen Teil unwahr, wie jeder denkende Mensch leicht erkennen müsse. »Hast Du denn noch nicht den Widerspruch bemerkt, der darin liegt, daß das Judentum gleichzeitig den Kapitalmarkt beherrschen und den russischen Bolschewismus verkörpern soll? (…) Die paar Juden auszumerzen, die unter der früheren Regierung ›staatszersetzend und unterminierend‹ gewirkt haben, kann doch einem Staat von der Stärke des heutigen nicht schwer fallen. Warum mußte er gleichzeitig tausende von unschuldigen Existenzen vernichten und unaussprechliche seelische Qualen über sie bringen? Warum zwang er Wissenschaftler von Weltruf, anerkannte Wohltäter der Menschheit, Deutschland den Rücken zu kehren? Seid Ihr Arier denn so minderwertig, daß Ihr Euch vor dem winzigen Bruchteil Juden so fürchten müßt?« Er dürfe wohl erwarten, so schloss Weißler seine Erwiderung, dass Jemand, der sich bisher zu seinen Freunden zählte, auch diese Überlegungen mit dem gleichen Ernst würdige, den er leider einer »verstiegenen Rassenideologie« beimesse. Sein Abschieds– 115 –

gruß lautete »Leb wohl!« und war sicherlich so gemeint, dass er keinen weiteren Umgang mehr mit solchen Freunden wünsche.30 Else Brandis konnte es nicht lassen und musste noch einmal antworten. Sein Schreibmaschinenbrief beweise ihr, dass sie aneinander vorbei reden oder schreiben würden. »Der Jude«, so erklärt sie, habe wohl europäische Kultur eingesogen, er könne sich in Deutschland deutsch, in Frankreich französisch fühlen. Ein starker Mann könne zu Grunde gehen an einem Fremdkörper im Blut, ebenso auch ein starkes Volk. »Wenn Du«, und damit sprach sie wieder Weißler direkt an, »unsern Zeitgeist als Psychose anklagst, so geschieht Dir allerdings recht, wenn Du in Deutschland kein Amt mehr bekleiden darfst. Damit beleidigst Du mein Volk, meine Regierung und uns. Ihr habt genügend seelische Qualen über Deutsche gebracht durch Vernichtung vieler Existenzen auf geschäftlichem Wege. Wenn Du davon nichts weißt oder wissen willst, so sage ich es Dir hiermit. Ein Jude kann auch Großkapitalist sein in dem einen Lande und Bolschewist im andern. Du hast diese Sprache von uns herausgefordert. Leb’ wohl und gehe Deinen Weg, den ich nicht mehr begleiten kann.«31 Es gab nun keinen »lieben Fritz« mehr und ihren Brief schloss sie nicht mit herzlichen Grüßen. Im Verlauf des Jahres 1934 hatte sich Weißler der Bekennenden Kirche zugewandt. Das lag nahe bei ihm, sowohl aufgrund seiner kirchenkritischen Haltung wie auch seiner Eigenschaft als evangelischer »Nichtarier«. Die Deutschen Christen, die große Teile der Berliner und der preußischen Landeskirche beherrschten, hatten den Arierparagrafen übernommen und propagierten mit ihrer völkischen Theologie zugleich einen scharfen Antisemitismus im Kirchenbereich. ­Weißler musste tunlichst vermeiden, solchen Kirchenleuten im Umfeld der ihn umgebenden Kirchengemeinden Charlottenburgs zu begegnen. Er verfügte aber offenbar schon bald über gute Kontakte zu einigen Führungspersonen der Berliner Kirchenopposition um den Dahlemer Pfarrer Martin Niemöller und den Spandauer Superintendenten Martin Albertz. Nach Bildung der 1. Vorläufigen Kirchenleitung unter dem Hannoverschen Landesbischof August Marahrens (November 1934) erhielt Weißler, der Landgerichtsdirektor a. D., bei diesem Spitzengre– 116 –

mium der Kirchenopposition eine provisorische Anstellung als Bürokraft und juristischer Berater, verbunden mit einer Aufwandsentschädigung. Damit hatte er wieder eine Büroadresse und konnte morgens das Haus verlassen, um »zur Arbeit« zu gehen. Das war nicht unwichtig in der »Hausgemeinschaft« seines Wohnblocks, um den Schein der Zugehörigkeit zu wahren. Und vor allem gab es ihm ein Stück weit Anerkennung zurück, die ihm durch die willkürliche Entlassung genommen worden war.32 Als hochgebildeter intellektueller Freigeist hatte Weißler eigene Ansichten über den Kirchenkampf. Er hielt sich grundsätzlich zum entschiedenen Flügel der Bekennenden Kirche, zu den sogenannten Dahlemiten um Martin Niemöller, Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer. Das war für ihn, den evangelischen »Nichtarier«, keine ungefährliche Option. Es war für ihn selbstverständlich, die Verlautbarungen der Kirchenopposition sowie wichtige theologische und kirchenpolitische Schriften oder Zeitschriften wie die »Junge Kirche« zu lesen. Die Sonntagsbetrachtung seines früheren Pfarrers in Halle in den »Hallischen Nachrichten« veranlasste ihn im Oktober 1935 zu einer kritischen Zuschrift an den »sehr geehrten Herrn Pastor«. Es sei nicht richtig, dass das jüngste Eingreifen des Staates in die kirchlichen Angelegenheiten in den Gemeinden »durchaus bejahend aufgenommen« worden wäre. Im Gegenteil hätten sich überall dort, wo von lebendigen Gemeinden gesprochen werden könne, sofort größte Bedenken geltend gemacht. Gewiss, so räumt Weißler ein, seien die Gemeinden des Streites müde und wünschten Frieden. Es sei aber unrichtig, dass der Kirchenstreit den Gemeinden nur Schaden zugefügt habe. Vielmehr sei überall dort, wo unchristliche Gewaltmaßnahmen geschahen, das kirchliche Leben neu erwacht. Alle diese »lebendigen Gemeinden« hätten gespürt, dass der Kirchenstreit kein bloßes »Pastorengezänk« sei, sondern dass es dort »um die Grundlagen des christlichen Glaubens überhaupt« gehe. Auch vom Standpunkt Luthers her sei es doch unerträglich, wenn der Staat sich in kirchliche Dinge einmische. Sie werden mir, so schloss Weißler, als Laie hoffentlich nicht die Befugnis absprechen, bei diesen Dingen mitzureden. Seit einem Jahr, so konstatiert er hier im Oktober 1935, stehe er selbst »mitten in der kirchlichen Arbeit drin«.33 – 117 –

Pfarrer Johannes Fritze von der Mariengemeinde (Marktkirche) in Halle, der sich als gemäßigter Deutscher Christ zu erkennen gab, beharrte in seiner Erwiderung darauf, dass durch den »Kirchenzank« nur Schaden angerichtet worden sei, freilich von beiden Seiten, von den »Bekenntnisleuten« wie durch »gewisse Elemente der Deutschen Christen«. An seiner Gemeinde, wo sich alle drei Pfarrer einmütig den Deutschen Christen angeschlossen hätten, sei das Gemeindeleben nicht erschüttert worden. Der Staat habe letztlich die Pflicht gehabt, ordnend in das Kirchenleben einzugreifen, da der Kirche selbst die Kraft dazu fehlte. »Der Staat kann nicht dulden, dass in demselben Lebensraum, in welchem er Einheit will, kirchenpolitische Aufspaltungen bestehen bleiben.« Der Staat habe allein die äußere, verwaltungsmäßige Ordnung regeln wollen, die Grundlagen des christlichen Glaubens seien unangetastet geblieben. Als Deutscher Christ sehe er die Aufgabe darin, dem deutschen Menschen das Evangelium nahe zu bringen. »Damit spreche ich es doch anderen Menschen, die nicht Deutsche im rassischen Sinne sind, nicht ab! Sie sind mir genausogut Brüder im Glauben, – ob sie in Abessinien leben oder sonstwo.«34 Mit dieser Antwort eines deutschchristlichen Pfarrers mochte sich der streitbare Jurist und bekennende Christ Weißler nicht zufrieden geben. Seine Replik erweist ihn als einen gut informierten und meinungsstarken Angehörigen der Bekennenden Kirche, der im Herbst 1935 mutig deren Positionen verfocht. Er bedankte sich für den Brief seines früheren Pfarrers, stellte aber sogleich klar, dass dessen Erwiderung ihn nicht überzeugt habe. Ungeachtet einzelner Personen hüben und drüben im Kirchenkampf, die infolge Übereifers den Kern des Streits verwischt hätten, müsse doch dieser Kern des Streits ins Auge gefasst werden. »Dieser Kern liegt einfach in der Frage, ob außer der im Wort Gottes geschehenen Offenbarung noch eine andere Offenbarungsquelle, die des geschichtlichen Erlebens, anerkannt wird oder nicht. Die Deutschen Christen meinen, in dem nationalen Umbruch ebenfalls eine göttliche Offenbarung erlebt zu haben, die Bekenntnisleute bestreiten ihnen dies mit dem Hinweis, daß jedes geschichtliche Erleben mehrdeutig und durch die über der Welt liegende Sündhaftigkeit getrübt ist.« Die DC -Lehre habe zur Ver– 118 –

wischung von staatlicher und kirchlicher Gewalt geführt. ­Weißler nennt die Übertragung des Führerprinzips auf die Kirche, die zur Errichtung eines Papsttums zu führen drohte; ferner die Positionen der radikalen Thüringer Deutschen Christen, die erklärten: Erst käme Deutschland, dann Christus! Auch die Bewegung der Deutschgläubigen sei eine konsequente Fortsetzung dieses Denkens. Eine Trennung der äußeren Ordnung der Kirche vom inneren Gehalt sei faktisch unmöglich. Das hätten schon die Gleichschaltungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Kirchenfunktionärs August J­ äger bewiesen, und das zeigten jetzt auch die staatlichen Finanzabteilungen. »Ernstlich widersprechen muß ich endlich auch Ihrem Satz: ›Der Staat kann nicht dulden, daß in demselben Lebensraum, in welchem er Einheit will, kirchenpolitische Aufspaltungen bestehen bleiben.‹ Danach würde also der Wille oder das Bedürfnis des Staats das oberste Gesetz sein. Ich dächte, im kirchlichen Leben kennten wir nur einen einzigen obersten Herrn, Christus, und ihm hätten sich alle anderen Herren, auch der Staat, unterzuordnen.«35 Anfang August 1935 erschien im Blatt der Berliner Stadtmission ein Artikel »Die Juden«, verfasst von Pfarrer Hans Dannenbaum, Mit­ arbeiter bei der Stadtmission. Warum die Stadtmission meinte, gerade zu diesem Zeitpunkt, als eine Welle antisemitischer Propaganda und Gewalt über das Land hinweg ging, sich zu diesem Thema äußern zu sollen, ist nicht klar erkennbar. Womöglich war man dort der Auffassung, mit diesem Artikel, der nahezu alle Klischees eines christlichen Antijudaismus in sich vereinte und zugleich nicht frei von antisemitischen Stereotypen war, eine theologisch korrekte christliche Stellungnahme zur »Judenfrage« abzugeben.36 Wenn in diesem Artikel neben allem anderen, was man den Juden auch zuschrieb, zu lesen stand, Gott habe die Juden als Volk erwählt, so konnte dies im Kontext einer nationalsozialistisch verhetzten Öffentlichkeit durchaus Empörung hervorrufen. Und so geschah es auch: »Unverschämte Herausforderung der Bewegung durch die Berliner Stadtmission«, so war im Völkischen Beobachter zu lesen. Der radikale DC -Pfarrer und stellvertretende Bischof von Berlin, Propst Otto Eckert, ließ verlauten: »Das auserwählte Volk – Ein jüdisches Loblied im Kirchenblatt – 119 –

der Berliner Stadtmission«. Pfarrer Friedrich Tausch, Gau­obmann der Deutschen Christen in Berlin, erhob im Evangelium im Dritten Reich scharfen Protest gegen den seiner Ansicht nach viel zu judenfreundlichen Artikel der Stadtmission.37 Währenddessen sprang Pfarrer W ­ alter Thieme, Leiter der Stadtmission, seinem bedrängten Mitarbeiter bei und verteidigte ihn durch eine Erklärung im Völkischen Beobachter. Die völkische Tonlage dieses Artikels veranlasste Friedrich ­Weißler zu einer Stellungnahme gegenüber dem »sehr geehrten Herrn Pastor«: »In Nr. 32 des ›Evang. Deutschland‹ wird berichtet, Sie hätten an den ›Völkischen Beobachter‹ ein Schreiben gerichtet, in dem Sie feststellen, die Stadtmission sehe die Bereinigung des deutschen Volkslebens von jedem Einfluß jüdischen Geistes als eine der hauptsächlichsten Aufgaben der Staatsführung an und unterstütze diese darin. Wenn diese Mitteilung richtig sein sollte, muß ich als nichtarischer Christ bedauern, die Stadtmission bisher durch Geld und Gaben unterstützt zu ­haben. Ich nehme an, daß auch Sie dann keinen Wert mehr darauf legen können, solche Zuwendungen von mir zu erhalten, und bitte daher, mich aus der Liste der Freunde der Stadtmission zu streichen.«38 Die Pfarrer Thieme und Dannenbaum von der Stadtmission waren keine krass antisemitischen Pfarrer, tatsächlich gehörten sie sogar der Bekennenden Kirche an.39 Aber ihr christlicher Antijudaismus war deutlich ausgeprägt und schloss auch rassisch-völkische Bekenntnisse nicht aus. Nicht nur wegen der Deutschen Christen war die Kirche für Weißler ein schwieriger Ort, selbst in Kreisen der Kirchenopposition gab es ihm gegenüber Vorbehalte, bisweilen unüberbrückbare Distanz. So auch im Fall der Stadtmission: Was sein Kollege Dannenbaum im Blatt der Stadtmission geschrieben habe, antwortete Thieme, sei auch für ihn korrekte »biblische Einstellung in Bezug auf das Volk Israel«. Thieme bekannte sich gegenüber Weißler zur Haltung Adolf Stoeckers, der »nicht das Volk Israel, aber den Einfluss jüdischen Geistes auf unser Volksleben« abgelehnt habe. Der Leiter der Stadtmission meinte, »nichtarische« Christen könnten ein Verständnis dafür gewinnen, was Stoecker gewollt habe. »Die im Glauben stehenden Israeliten nannte er seine Brüder und konnte damit zugleich einen scharfen Kampf gegen den materialistischen und atheistischen Geist in den Kreisen der Reform– 120 –

Juden durchfechten.« In diesem Sinne möchte auch er »die Judenfrage« behandeln. In den Neubekehrten aus dem Judentum, so auch in Weißler, sehe er »einen Bruder des gemeinsamen Glaubens an Christus«.40 Weißler bedankte sich in kurzer Replik für die ihm erwiesene »freundliche Gesinnung«. Er habe allerdings nicht um seiner Person willen, sondern um der Sache willen an Thieme geschrieben. »Und die Sache fordert die Feststellung, daß das, was Sie an den V. B. geschrieben haben, ungefähr das Gegenteil von dem ist, was Sie mir mitteilen. Daß auch der V. B. Ihre Zuschrift nicht im Stoeckerschen Sinn aufgefasst hat, beweist ja die Bemerkung, die er daran geknüpft hat. Ich bedaure deshalb sehr, Ihnen sagen zu müssen, daß ich für Ihr Verhalten kein Verständnis aufbringen kann.« Weißler schloss seinen Brief mit einem sehr kühlen »Hochachtungsvoll«.41 Während der schweren Jahre 1933 bis 1936 waren die Weißlers um ein Familienleben in Normalität bemüht, auch wenn das schwerfiel und nicht immer durchzuhalten war. Die Eltern versuchten gegenüber den Kindern, die Auswirkungen der Katastrophe so weit wie möglich fernzuhalten. Weißler hatte wieder »eine Arbeit«, verließ morgens mit seiner kleinen Aktentasche die Wohnung und hatte auch zu Hause, in seinem Arbeitszimmer, häufig viel zu tun, gelegentlich kamen fremde Herren zu Besprechungen. Seine Tätigkeit als Rechts­ bera­ter und Büroleiter im Leitungsgremium der Bekennenden Kirche brachte ihm Kontakte zu vielen Persönlichkeiten der Kirchenopposition. Besonders eng waren seine Beziehungen offenbar mit Martin Albertz, der sich frühzeitig um die Betreuung der evangelischen »Nichtarier« gekümmert hatte, und zum jungen Dahlemer Hilfspfarrer Franz H ­ ildebrandt, der Niemöller assistierte und selbst teils jüdischer Herkunft war. Wie Weißlers Auseinandersetzungen mit etlichen Theologen zeigen, war er ein gut informierter, kenntnisreicher Vertreter der Bekenntnissache, der ein scharfes Urteilsvermögen besaß und entsprechend in kirchenpolitischen Dingen und selbst auf theologischem Gebiet argumentieren konnte. Ein Mandat als Laienvertreter auf den Bekenntnissynoden oder in den Leitungsgremien der Kirchenopposition hatte er aber zu keinem Zeitpunkt. Er konnte wohl gut informiert mitreden, verfügte aber nicht über Sitz und Stimme. Des– 121 –

ungeachtet war er ganz zweifellos dankbar, dass er überhaupt noch irgendwo im öffentlichen Leben gefragt war und gebraucht wurde. Aus sämtlichen staatlichen Positionen, von der fachjuristischen Publizistik, von nahezu sämtlichen Vereins- und Verbandszugehörigkeiten war er ausgeschlossen oder hatte sich selbst zurückgezogen. Und auch persönliche Freundschaften – wie besonders krass im Fall des Hamburger Rechtsanwalts Walther Brandis und seiner Ehefrau Else – gingen zu Bruch. Die beiden Söhne Ulrich und Johannes, um 1935 zehn und sieben Jahre alt, erlebten eine weithin normale, abwechslungsreiche und gelegentlich aufregende Kindheit in der großen Stadt. In der Schule war zunächst keine Diskriminierung zu spüren. Größere Sommer­ reisen, wie es sie früher gegeben hatte, gab es nicht mehr. Sparsame Lebensführung herrschte in jeder Hinsicht vor, viele Wege wurden zu Fuß oder mit dem Fahrrad gemacht, um Fahrtkosten zu sparen. Es ging nun im Sommer zur Verwandtschaft ins Pfarrhaus nach Plossig, später mit der S-Bahn oder dem Fahrrad nach Potsdam. Nur einmal noch, im Sommer 1934, fuhren sie mit der Mutter an die Nordsee, nach Amrum, der Kinder wegen, die Seeluft bekommen sollten. Jahreszeitliche Höhepunkte waren die hohen christlichen Festtage. Johannes Weißler hat sich erinnert, wie deutsche Weihnachten um 1935 im Hause Weißler begangen wurden: die Kinder mussten einen Wunschzettel schreiben; an einem der vorweihnachtlichen Samstage ging es mit der U-Bahn zu Wertheim in die Leipziger Straße. Besonders interessant in der Spielzeugabteilung waren die Modelleisenbahnen. »Die rauschten so, wenn sie fuhren (auf den Metallschienen von Märklin), so daß man immer hören konnte, wo gerade eine lief. Und dann standen Massen von Kindern davor.« Die beiden Jungen waren angehalten, zu Hause Geschenke zu basteln: ein Bildchen war zu malen oder Laubsägearbeiten entstanden. »Am Weihnachtsabend selbst mußte man schon nachmittags feine Kleidung anziehen, gegen 5 Uhr gingen wir alle zum Gottesdienst, meist in die kleine Heerstraßen-Kirche, das war eine halbe Stunde zu laufen. Die Kirche war natürlich zu diesem Gottesdienst schon rammelvoll, der Pfarrer kam schon vorher mal raus und sagte, alle Kinder sollten sich doch vorne im Altarraum auf den Boden oder die – 122 –

Stufen setzen, damit die Erwachsenen in den Bänken mehr Platz hätten. Für uns dauerte der Gottesdienst immer zu lange, bis wir endlich nach Hause gehen konnten. Und da es ja schon richtig dunkel war, konnte man hier oder dort in einem Fenster schon einen Lichterbaum leuchten sehen.« Zu Hause hatten beide Jungen vor der Bescherung ein Weihnachtsgedicht aufzusagen. Erst danach durfte – unter dem brennenden Lichterbaum – ausgepackt und gespielt werden ohne Ende. Zu Silvester, so erfahren wir auch, seien meistens Gäste gekommen, Verwandte und Freunde. »Wir Kinder haben dazu unser Zimmer mit bunten Papiergirlanden geschmückt und allerlei Ulk-Kleinigkeiten besorgt (…), wie eine schwarze Spinne aus Gummi mit einem dünnen Schlauch mit Handgriff. Wenn man drauf drückte, bewegte sich die Spinne und die Erwachsenen schrieen: Huuuch! Am Sylvester-Abend gabs dann Punsch, ein rotes, warmes Getränk mit Rotwein und Gewürzen.«42

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fünftes kapitel Friedrich Weißler im Sommer 1936 und die Denkschrift an Hitler In diesem Sommer nahm Friedrich Weißler eine Auszeit. Es war wohl sein erster richtiger Urlaub nach Eintritt der beruflichen Katastrophe von 1933. Für drei Wochen trat er eine Badekur im Erzgebirge an. Er fuhr allein nach Oberschlema, während seine Frau mit den Kindern in das Rheinland zu Verwandten gefahren war. In der Berliner Wohnung war allein seine Mutter zurückgeblieben, der er aus der Kur eine Serie ausführlicher Briefe schrieb. Und noch etwas war außergewöhnlich an dieser Reise. Er hatte sein altes Tagebuch mitgenommen, das er im Moment des Kriegsausbruchs von 1914 in Halle begonnen hatte. Seine Eintragungen darin waren unregelmäßig gewesen und seit November 1921 völlig abgerissen. Was hatte er vor? Wollte er wieder Tagebuch schreiben? Am 17. Juni berichtet er aus Oberschlema (Pension ­Wüßing) erstmals und in ­großer Ausführlichkeit seiner Mutter nach Berlin:1 »Ich sitze auf einem geräumigen Balkon, der Aussicht auf ganz Oberschlema und die dahinter liegenden Höhen und Wälder bietet. Der Balkon gehört zwar nicht zu meinem Zimmer, aber zum gemeinsamen Eß- und Aufenthaltszimmer, und es scheint bisher, daß die andern Gäste – fünf an Zahl – ihn nicht oder wenig benutzen. Das Haus selbst liegt in einer nur teilweise bebauten Villenstraße, der höchsten am Abhang, grenzt an Kornfelder an und hat nach allen Seiten einen weiten freien Blick. Mein Zimmer geht nach Südwesten, hat also Nachmittagssonne, ist mit Linoleum ausgelegt und hat fließendes Wasser und schöne helle moderne Möbel. Im ersten Augenblick störte mich die Kleinheit des Raumes – etwa unserm Kinderzimmer – 125 –

entsprechend – sowie insbesondere des einzigen Tisches am Fenster, an dem ich ja viel zu sitzen gedachte, sowie auch die Höhe des Preises.« Weißler hatte außer Erholung und Badekur noch etwas Besonderes im Sinn. Er wollte während der bevorstehenden drei Wochen viel schreiben und beklagte deshalb anfangs den offenbar viel zu kleinen Tisch im Zimmer. Aber schon bald bereute er seine Haus- und Zimmerwahl nicht. Er pries im ersten Brief die ruhige und schöne Hanglage mit bester Aussicht. Die Wirtsleute und die anderen Kurgäste seien angenehm. Und auch das Essen empfand er als »ausreichend«, wie er hinzufügte: »Gestern Abend gab es gefüllte Tomaten und Bratkartoffeln, dann Butterbrot und Käse, dazu Thee nach Wunsch, heute früh zum Kaffee zwei sehr große Brötchen mit ausreichend Butter und reichlich Honig. Ich habe gleich [den Wirtsleuten] gesagt, dass ich auf viel Fleisch keinen Wert lege.« Eine Badekur hat ordnungsgemäß mit der ärztlichen Untersu­ chung zu beginnen. Gleich gestern, so berichtet er nach Berlin, sei er beim Badearzt gewesen, einem angenehm wirkenden jungen Mann. Eine Diät habe dieser ihm nicht verordnet. »Leider«, so schreibt Weißler seiner Mutter, »tat mir gestern eigentlich gar nichts weh. Sogar der linke Arm konnte alle Bewegungen schmerzlos ausführen. Natürlich sagte ich ihm, dass es noch am Sonntag wesentlich anders war. Aber jedenfalls sieht er meinen Fall als leicht an, was er ja schließlich auch ist, wenn man die Anderen sieht, die sich kaum bewegen können.« Der Arzt verordnete dem Kurgast 14 Bäder, jeden zweiten Tag eine Inhalation und täglich »eine Flasche ­Brunnen«. Unterwegs auf der Straße, berichtet der Sohn weiter, habe er bereits einen Bekannten aus Halle getroffen, einen ehemaligen Mitschüler. Sogleich habe sich mit ihm ein »langes Gespräch über politische und kirchliche Dinge« ergeben. Auch in seiner Pension sei ein Gast aus der Gegend von Halle, mit dem sich Anknüpfungspunkte über gemeinsame Kriegserlebnisse herstellten. Überhaupt seien alle Mitbewohner freundlich und am Abendbrottisch habe sich eine angeregte Unterhaltung entwickelt, an der er »lebhaft« teilgenommen habe. »Zu Hemmungen hatte ich gar keinen Grund. Denn die be– 126 –

rüchtigten Plakate sieht man hier nirgends, auch am Kurhaus nicht, und den Hitlergruß hört man auch selten.«2 Dieser Urlaubsbrief erlaubt, Weißlers Befindlichkeiten um die Jahresmitte 1936 in einer Art Nahaufnahme nachzuzeichnen: Leider tat mir gestern eigentlich gar nichts weh – so berichtet er der Mutter über den Verlauf seines Arztbesuchs am Tag zuvor. Er hatte sich gegenüber früher offenbar nicht verändert. Weißler, inzwischen ein Mann von 45 Jahren, war noch immer diese extrem empfindliche, durchaus zur Hypochondrie neigende zarte Person, die wir bereits während seiner Knabenzeit als überaus ängstlichen Schüler, der die Rohheiten des Schulhofs und den Sport fürchtete, und später als ungeschickten Rekruten im preußischen Militär um 1910 kennen lernten. Der Bäderarzt konnte partout nichts bei ihm feststellen und versicherte ihm, dass sein Fall (wohl rheumatische Bewegungsschmerzen) vergleichsweise »leicht« sei. Der Heilung suchende Patient Weißler erscheint in dieser Situation geradezu ein wenig unglücklich, dass er während seines Arztbesuchs schmerzfrei war und keine akuten Beschwerden vorweisen konnte. Blutdruck, Herz – alles normal, stellte der Arzt fest, auch eine Diät sei bei seinem guten körperlichen Zustand nicht erforderlich. Und Fleischkonsum, zu jener Zeit eigentlich unverzichtbarer Bestandteil gutbürgerlicher Speise und eine Art Statusfrage, bedeutete ihm wenig. Offenbar neigte er zu vegetarischer Ernährung. Zugleich wirkt Weißler in der veränderten Umgebung des Kurorts wie befreit – hier kennt man ihn nicht wirklich, niemand weiß von seinem bösen Geschick als berufsentlassener »nichtarischer« Richter, er ist lediglich Kur- und Heilbädergast wie jeder andere Gast auch. Und er brauchte sich, teilt er der Mutter mit, im lebhaften Gespräch mit anderen Pensionsgästen am Abendbrottisch keine Hemmungen auferlegen – Hemmungen, die er offenbar sonst in Berlin in seiner prekären Rolle als »nichtarische« Bürokraft in der Kirchenopposition, oder im oftmals erfahrenen, diskriminierenden Umgang mit Behörden, selbst beim Auftreten in seiner Kirchengemeinde und andernorts spürte. Bei den berüchtigten Plakaten, die er erwähnt, und die glücklicherweise im Badeort nicht zu sehen seien, kann es sich nur um die seit Sommer 1935 immer mehr Verbreitung findenden Nazi-Hetzplakate »Juden – 127 –

Zutritt verboten!« oder »Juden unerwünscht!« und dergleichen handeln. Besonders im Bäderbetrieb an der See, aber auch in Kur- und Heilbädern, in Parkanlagen oder an Ortseingängen spielten sie eine einschüchternde Rolle in dem entfesselten bösen Spiel von völkischer Inklusion und Exklusion.3 Mit dem Umzug vom September 1933 nach Berlin in die angenehme Wohnumgebung der Meiningenallee im Berliner Westend hatten sich die Weißlers einigermaßen erträglich neu etablieren können: die vier- bzw. fünfköpfige Familie des Landgerichtsdirektors a. D. musste sparsam wirtschaften (sie konnte wohl auch von Rücklagen zehren), und bald gab es einen Zuverdienst durch Weißlers Tätigkeit im Leitungsbüro der Bekennenden Kirche. Seine Mitarbeit als »Büroleiter« der Kirchenopposition war nicht exakt definiert, er war für Vieles zuständig. Er organisierte die Verwaltung, führte die Akten und den Briefwechsel, war an der Vorbereitung und Organisation der zahlreichen Beratungen des Reichsbruderrats und der Vorläufigen Kirchenleitung sowie der Bekenntnissynoden beteiligt. Da er ein versierter Jurist war, der sich durch zahlreiche Publikationen einen Namen gemacht hatte, wurde er auch als »Rechtsberater« bei den notorischen kirchenrechtlichen Streitfragen herangezogen. Zweifellos war der Landgerichtsdirektor a. D. aufgrund seiner hohen juristischen Qualifikationen schon bald mehr als ein gewöhnlicher Büroleiter in der Kirchenleitung: juristischer Sachberater, ein kenntnisreicher und gewandt formulierender Akteur in kirchenpolitischen Verhandlungen, und nicht zuletzt auch ein christlicher Zeitgenosse mit hohen intellektuellen Ansprüchen und eigenen, sehr entschiedenen Ansichten und Optionen im Kirchenkampf.4 Seine Rolle als Bürochef der Vorläufigen Kirchenleitung sowie die damit einhergehenden Kontakte zu Mitgliedern des Reichsbruder­ rates hatten Weißler im Laufe des Jahres 1935 mit zahlreichen Führern der Kirchenopposition in Verbindung gebracht. Zumeist kannten die Kirchenmänner wohl das berufliche Schicksal des »nichtarischen« Juristen und schätzten den hohen Sachverstand des Büroleiters in kirchenpolitischen Fragen. Eine feste Anstellung erlangte Weißler allerdings zu keinem Zeitpunkt, vielmehr handelte es sich um eine Art prekärer Hilfstätigkeit, für die er eine Aufwands– 128 –

entschädigung erhielt. Auch hatte Weißler als evangelischer Christ niemals ein offizielles kirchliches Amt oder ein Mandat als Synodenteilnehmer inne. Von Seiten der Bekennenden Kirche war seine Beschäftigung als Hilfestellung für einen entlassenen »nichtarischen« Beamten zu verstehen, nicht zuletzt auch als ein karitativer Akt christlicher Nächstenliebe für einen beruflich und weithin auch sozial Ausgestoßenen und seine Familie. Eigene schriftliche Wortmeldungen Weißlers in der bekenntnisfreudigen Debattenkultur waren selten. Seine bis 1933 sehr rege rechtswissenschaftliche Publikationstätigkeit hatte er als »Nichtarier« vollkommen einstellen müssen. In kirchlichen Medien meldete er sich lediglich einmal in der »Jungen Kirche«, der wichtigsten überregionalen Zeitschrift der Kirchenopposition, zu Wort: Im April 1935 erschien dort seine kurze, fünf Druckseiten umfassende Abhandlung »Von der rechtlichen Bedeutung des Bekenntnisses«. In welch schwieriger Gesellschaft er sich dort befand, erhellt schon aus dem Umstand, dass sein Beitrag direkt auf einen Artikel des bayerischen völkischen Theologen und NS -Pfarrers Eduard Putz folgte.5 Es sei die Grundlehre der Reformation, so führt Weißler aus, dass die einzige Quelle und Richtschnur der kirchlichen Verkündigung nur die »Heilige Schrift« sein dürfe. Dieser Satz sei in viele Kirchenverfassungen aufgenommen worden. Er wolle im Folgenden zeigen, was der Sinn einer derartigen Festlegung sei und welche rechtlichen Folgerungen daraus abzuleiten seien. Die Aufnahme der bekenntnismäßigen Grundlage in eine Kirchenverfassung bedeute, »dass auch rechtlich oberster Maßstab für alles, was in der Kirche vorgeht, nur das Bekenntnis ist. Ein anderer Maßstab neben oder gar über dem Bekenntnis ist unzulässig, weil er dem alleinigen Herrschaftsanspruch Gottes widersprechen würde.« Was innerhalb der Kirche gegen das Bekenntnis verstoße, so schlussfolgert der Jurist, sei rechtsunwirksam. Was das theologische Gebiet angehe, so müssten hier Theologen über bekenntnisgemäße Verkündigung urteilen. Aber auch Verwaltungsmaßnahmen, die bekenntniswidrig seien, könnten keine Gültigkeit beanspruchen: »ist eine Maßnahme bekenntniswidrig, so hat sie im Raum der Kirche keine Rechtswirkung, mag sie ausgehen, von wem sie will.« Weißler schlussfolgert für das Predigeramt, also – 129 –

für die Pfarrer: »Das kirchliche Amt erlischt ohne weiteres, sobald es zu einer Verletzung des Auftrages der Kirche missbraucht wird.« Wenn man diese Grundsätze einhielte, meint Weißler, so würden »gewisse unerfreuliche Vorkommnisse der letzten Jahre«, die die Gemeinden unendlich verwirrt hätten, nicht mehr so leicht geschehen. Abschließend resümiert der evangelische Jurist mit sehr deutlichen Zeitbezügen: »Eine Kirche, die Verfälschungen ihres Auftrags zulässt, auch wenn sie nicht so kraß sind wie die, die wir erlebt haben und noch erleben, verstößt auf das gröbste gegen ihren Auftrag. Alles, was dazu dient, die Überwachung der Lehre wirksamer zu gestalten, fördert die Verkündigung des Wortes.«6 Weißler bewegte sich mit diesen juristischen Überlegungen auf der Linie der Barmer Theologischen Erklärung und versuchte, kirchenrechtliche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, die er in eine streng juristische Terminologie kleidete. Faktisch hätten seine – praktisch ganz unrealistischen – Überlegungen sofortigen Amtsverlust für alle deutschchristlichen Pfarrer und völlige Rechtsunwirksamkeit für alle von DC -Kirchenregimentern und teils von staatlichen Stellen vollzogenen Maßnahmen bedeutet. Aber nicht nur bei den völkischantisemitischen Deutschen Christen machte er sich mit solchen rigiden Erwägungen keine Freunde. Selbst im Lager der Bekennenden Kirche, in der 1. Vorläufigen Kirchenleitung und im Reichsbruderrat, gab es bald erhebliche Vorbehalte und auch Ressentiments ge­ genüber einem Büroleiter, der erkennbar eine strikt »dahlemitische Linie« innerhalb der Kirchenopposition verfocht. In der Redaktion der »Jungen Kirche«, wo Weißler seinen Artikel publiziert hatte, mochte man den Landgerichtsdirektor a. D. nicht. Irgendwann im Laufe des Jahres 1935 hatte Hanns Lilje, der 1933 bis 1935 Mitherausgeber des Blattes war und maßgebliche Leitartikel schrieb, der Redaktion vorgeschlagen, Weißler als ständigen Mitarbeiter für kirchenjuristische Fragen zu beschäftigen.7 Hauptredakteur Fritz Söhlmann und Verleger Günther Ruprecht lehnten den Vorschlag Liljes ab und übertrugen dem (hannoverschen) Juristen Arnold Fratzscher das kirchenjuristische Ressort. Der schon vor 1933 stark nationalvölkisch geprägte Journalist Söhlmann bemerkte in einem Brief vom Februar 1936 an Ruprecht, dass Weißler »Halbjude und ein Vertreter – 130 –

des allerextremsten Dahlemer Kurses« sei. Die »Junge Kirche« würde bei regelmäßigen Wortmeldungen seines »überradikalen« juristischen Kurses in erhebliche Schwierigkeiten kommen.8 In seiner ­Replik stimmte Ruprecht, der Göttinger Verleger und Heraus­ge­ber der Zeitschrift, mit Söhlmann überein und erinnerte seinen Mitarbeiter daran, dass er bereits den Aufsatz Weißlers sehr entschieden abgelehnt hätte. Weißlers darin geäußerter Gedanke, dass einem kirchlichen Amtsträger bei einem Verstoß gegen das Bekenntnis das Gehalt rückwirkend mit dem Zeitpunkt des Ausspruchs der Irrlehre abzuerkennen sei, erscheine ihm (Ruprecht) »echt jüdisch gedacht, logisch aber lieblos«.9 Hier mischten sich zwei Vorbehalte gegenüber Weißler selbst im Lager der gemäßigten lutherischen Fraktion der Bekenner: zum einen fanden viele seinen entschieden »dahlemitischen Kurs« in der Kirchenpolitik als anstößig; sodann aber spielten wohl auch anti­ jüdische Ressentiments eine Rolle, die indessen nur in vertraulicher Runde wie hier in einem Briefwechsel durchschienen. Die Behauptung Söhlmanns, Weißler sei »Halbjude«, ist zudem sachlich falsch: Weißler war in früher Kindheit getauft worden und inzwischen durchaus frommer evangelischer Christ; den rassistisch denkenden Nationalsozialisten galt er im Übrigen nicht als »Halbjude«, sondern als vollständig »nichtarisch«, also als »Volljude«.10 Im Januar 1936 hatten sich die von Beginn an vorhandenen Spannungen zwischen den zwei Fraktionen der Kirchenopposition – entschieden oppositionelle Dahlemiten um Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth versus gemäßigt oppositionelle Lutheraner um die Bischöfe August Marahrens (Hannover), Hans Meiser (Bayern) und Theophil Wurm (Württemberg) – derart zugespitzt, dass eine weitere Zusammenarbeit in gemeinsamen Gremien kaum noch möglich schien. Die Unverträglichkeit hatte viele Gründe: theologische und konfessionelle, kirchen- und regionalpolitische, nicht zuletzt auch stark persönlich geprägte Ursachen. Barth, Bonhoeffer und Niemöller mochten Meiser und besonders Marahrens nicht, und Meiser sowie Marahrens mochten Niemöller, Barth und deren jungen Adlatus Bonhoeffer nicht. Die konträren Haltungen dieser beiden Richtungen zu den durch NSDAP -Kirchenminister Hanns Kerrl – 131 –

im Auftrag Hitlers seit Herbst 1935 inaugurierten Kirchenausschüssen, deren Aufgabe eine Befriedung der kirchenpolitischen Kämpfe war, verschärften die Gegensätze noch einmal gravierend. Während Vertreter der »intakten« lutherischen Bischofskirchen eine Mitwirkung an diesem politischen Projekt des NS -Regimes befürworteten, lehnten die entschiedenen Bekenner der bruderrätlichen Opposition ein solches Zusammengehen in der kirchlichen Mitte, das gemäßigte Deutsche Christen einschloss, als bekenntniswidrig strikt ab. Der endgültige Bruch des von Beginn an fragilen Gebildes einer Kirchenopposition hatte sich seit langem angedeutet und wurde auf der 4. Reichsbekenntnissynode Mitte Februar 1936 in Bad Oeynhausen endgültig vollzogen. Schon die Reichsbruderratssitzung vom 3. Januar 1936 hatte mit 17 gegen 11 Stimmen die »Arbeitsunfähigkeit« der 1. Vorläufigen Kirchenleitung unter Marahrens festgestellt. Man konnte gemeinsam nicht mehr weiter, eine neue Synode sollte Klarheit schaffen.11 Vom 18. bis 22. Februar 1936 tagte die 4. Bekenntnissynode in Bad Oeynhausen. Hier, in dem beschaulichen ostwestfälischen Heilbäderstädtchen, residierte Superintendent Karl Koch, Präses der Bekennenden Kirche Westfalens und zugleich Präses der Reichsbekenntnissynoden. Für ein paar Tage beherrschten die aus allen Teilen des Reiches angereisten über einhundert Delegierten der Kirchenopposition mitsamt ihrem umfangreichen Begleitpersonal die kleine Stadt. Auch Friedrich Weißler nahm an der Kirchenkonferenz teil, allerdings nicht als stimmberechtigter Synodaler, sondern in seiner Eigenschaft als Bürochef. Wie zu erwarten stand, war die Synode von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den zwei Fraktionen über die Stellung zu den Kirchenausschüssen beherrscht, als deren Wortführer Niemöller und Marahrens besonders hervortraten. Es gab in dieser Frage keine gemeinsame Position, kein zweites »Wunder von Barmen«. Die in Konventen nach Konfessionen getrennt beratende Versammlung war heillos zerstritten und zerrissen. Einen eindeutigen Beschluss in der Hauptsache (Haltung zu den Kirchenausschüssen) konnte sie nicht fassen.12 Die Synode beschloss die Bildung einer neuen Kirchenleitung und beauftragte einen neu gewählten Reichsbruderrat, das Leitungsgremium endgül– 132 –

tig zu besetzen. Am 12. März wählte der Reichsbruderrat die Theologen ­Martin Albertz (Berlin-Spandau), Fritz Müller (Berlin-Dahlem), Hans Böhm (Berlin), Bernhard Heinrich Forck (Hamburg) und Otto Fricke (Frankfurt a. M.) zur Zweiten Vorläufigen Kirchenleitung. Faktisch war das eine auf die Kirche der altpreußischen Union in Berlin zentrierte und die Fraktion Niemöller (»Dahlemiten«) repräsentierende Leitung. In der neu berufenen Kirchenleitung waren nur noch entschieden Oppositionelle vertreten, die theologisch und kirchenpolitisch auf der Linie Barth-Bonhoeffer-Niemöller lagen. Friedrich Weißler blieb auf seinem Posten als Kanzleichef und verkörperte ein Stück Verwaltungskontinuität bei der Ablösung der alten durch die neue Leitung. Etwa zeitgleich konstituierte sich im März 1936 in Leipzig der »Rat der Evangelisch-­Luthe­rischen Kirche Deutschlands«, kurz »Lutherrat«. Damit war auch die institutionelle Trennung zwischen den zwei Fraktionen der Kirchenopposition endgültig vollzogen. Eine gemeinsame Reichssynode beider Richtungen fand bis zum Ende des »Dritten Reiches« nicht mehr statt.13 So unbefriedigend, ja vielfach deprimierend der chaotische Verlauf und das dürftige Ergebnis der Oeynhausener Versammlung für viele Synodale im Allgemeinen gewesen sein mochten – für Friedrich Weißler stellte sich seine persönliche Lage nach der Synode als eher günstig dar. Er behielt seine Position als Kanzleichef, und zukünftig hatte er es nun mit einem Führungsteam zu tun, dessen theologische und kirchenpolitische Überzeugungen ihm ohnehin näher lagen. Insbesondere zu Martin Albertz, dem reformierten Theologen und Spandauer Superintendenten, der in der neuen Leitung das Referat für die Belange der Christen jüdischer Herkunft führte, entwickelte sich aus dieser Zusammenarbeit ein auf gegenseitiger Wertschätzung beruhendes Nahverhältnis.14 Erstmals im März 1936 wurde in den Gremien der neuen Kirchenleitung erwogen, sowohl ein grundsätzliches »Wort an die Gemeinden« wie auch ein unmittelbar an den Reichskanzler gerichtetes »Wort an den Staat« zu verfassen. Ein Bericht Weißlers an Pfarrer Otto Fricke (Frankfurt), der die VKL -Sitzung vom 1. April vor Abschluss hatte verlassen müssen, gibt Aufschluss über den Stand der Dinge. Überdies zeigt sein Schreiben zugleich auch, wie intensiv Weißler persönlich an den B ­ eratungen – 133 –

teilnahm, auch wenn er selbst kein Amt innehatte. Das im E ­ ntwurf vorliegende »Wort an den Staat«, so schreibt er, sei gestern noch nicht weiter beraten worden. Der vorliegende Entwurf solle zunächst noch von »einzelnen Männern« geprüft werden. Ihm persönlich erscheine es wenig sinnvoll, diesen ersten Entwurf überhaupt zur Grundlage zu machen, da sein Ausgangspunkt nicht aufrechterhalten werden könne. Es wäre vielleicht das Beste, meint Weißler, einen Gegenentwurf aufzustellen, der den bisher gemachten grundsätzlichen Bedenken Rechnung trage.15 Spätestens seit April 1933 hatten besorgte kirchliche Zeitgenossen – auffallender Weise waren dies oft Frauen und nicht Männer – an die Kirchen appelliert, doch endlich ein mahnendes öffentliches Wort an die neuen Machthaber zu richten und sich insbesondere für die verfolgten »Nichtarier« öffentlich einzusetzen. So schrieb die Berliner Historikerin und Pädagogin Elisabeth Schmitz an Professor Barth in Bonn: große Not sei über die jüdischen Mitbürger hereingebrochen, aber die Kirche feiere heute »Siegesfeste«. Die überaus lahmen, in Watte gepackten Verlautbarungen der Kirchenbehörden ließen die Betroffenen verzweifeln. Hätte die Kirche nicht wenigstens die Pflicht, sich um ihre eigenen Glieder jüdischer Herkunft zu kümmern? Sie bat den renommierten Theologen eindringlich, öffentlich das Wort für die Verfolgten zu ergreifen.16 Ebenfalls im April 1933 sandte Edith Stein, zu dieser Zeit in Münster lehrende katholische Philosophin jüdischer Herkunft, einen Brief an Papst Pius XI . mit der eindringlichen Bitte, gegen die Judenverfolgungen in Deutschland zu protestieren. Die Diktion ihres Schreibens verriet, in geradezu verblüffend ähnlicher Weise wie bei Schmitz, starke Empathie für die Verfolgten. Die katholische Pädagogin beklagte das anhaltende Schweigen der katholischen Kirche zu den eingerissenen Gewaltgeschehnissen seit Hitlers Machtantritt.17 Auch Friedrich Weißler hatte – daran sei erinnert – in einem Brief vom April 1933 an den lutherischen Theologen Hanns Lilje das Schweigen der Kirchen kritisiert und ein öffentliches Wort der Solidarität angemahnt.18 Grundsätzlich fehlte es während des »Dritten Reiches« nicht an öffentlichen Erklärungen, Bekenntnissen, Kundgebungen oder Denkschriften aus dem kirchlichen Raum. Es gibt sogar gute Gründe, von – 134 –

Die Berliner Historikerin Elisabeth Schmitz (um 1945)

einer äußerst bekenntnisfreudigen und denkschriftenreichen Zeit zu sprechen – trotz einer durch die Machthaber von Jahr zu Jahr mehr eingeschränkten Öffentlichkeit.19 Ende Mai 1934 hatte eine erste Reichssynode der Kirchenopposition mit der Barmer Theologischen Erklärung den eigentlichen Gründungsakt der Bekennenden Kirche vollzogen. In sechs Thesen wiesen die Synodalen den Anspruch der Deutschen Christen zurück, eine neue völkische und antisemitische Reichskirche zu Hitlers Wohlgefallen zu schaffen. Ein Widerstand gegen das NS -Regime war das Statement allerdings nicht. Die Verfolgung der Juden kam in der Barmer Erklärung nicht vor. 20 Im Mai 1935 verfasste Margarete Meusel, kirchliche Wohlfahrtspflegerin in Berlin-Zehlendorf, im Auftrag des Bekenntnispfarrers ­ Martin ­A lbertz eine Denkschrift »über die Aufgaben der Bekennenden Kirche an den evangelischen Nichtariern«. Hier ging es um die Verpflichtungen der Kirche gegenüber ihren eigenen Mitgliedern jüdischer Herkunft. Tausende »evangelischer Nichtarier«, so heißt es, warteten schon lange auf ein Wort der Bekennenden Kirche und auf tätige – 135 –

Hilfeleistungen. Bereits hier war die Forderung nach einer zentralen kirchlichen Hilfsstelle formuliert, wie sie erst dreieinhalb Jahre später mit dem »Büro Pfarrer Grüber« tatsächlich eingerichtet wurde. Meusels Denkschrift war innerkirchlich ausgerichtet und ausschließlich auf die Belange der Christen jüdischer Herkunft bezogen.21 Aus eigener Initiative und notwendigerweise anonym schrieb die Historikerin und Studienrätin Elisabeth Schmitz im Sommer 1935 ihr aufrüttelndes Memorandum »Zur Lage der deutschen Nichtarier«, das sie Anfang September einem Bekenntnispfarrer – vermutlich Gerhard Jacobi, dem Präses der Berliner Kirchenopposition – zur weiteren Verwendung in den Gremien und Synoden der BK überreichte. Schmitz schilderte die »Aufhetzung der öffentlichen Meinung« und die vielfältig diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden. Sie berichtete von den Folgen der Verhetzung für »nichtarische« Kinder in den Schulen. Sie beschrieb die schlimmen Folgen des Berufsbeamtengesetzes für »nichtarische« Beamte und für Freiberufler wie Ärzte und Rechtsanwälte. Es sei keine Übertreibung, so mahnte sie bereits 1935, wenn von dem Versuch einer Ausrottung des Judentums in Deutschland gesprochen werde. Schließlich beklagte sie das Schweigen der Kirchen, insbesondere der Bekennenden Kirche, der sie selbst seit September 1934 angehörte. Sollte denn alles das, so ihre eindringliche Frage, was mit der derzeit so verachteten Humanität unvereinbar sei, mit dem Christentum vereinbar sein? Mit diesen Fragen und Mahnungen an die Adresse der Bekennenden Kirche, doch nun endlich öffentlich zu sprechen, endete dieser beherzte Appell zum kirchlichen Handeln vom September 1935.22 Die Beratungen über das »Wort an den Staat« in der neuen Kirchenleitung in Verbindung mit dem Rat der DEK erwiesen sich als eine schwierige, zähe Angelegenheit, die sich über zweieinhalb Monate bis Ende Mai 1936 hinzog. Diverse Entwürfe wurden vorgelegt, kontrovers diskutiert, teils verworfen oder abgeändert. Erst die fünfte Vorlage konnte am 27. Mai einvernehmlich als Endfassung angenommen werden. Das Resultat war im wahren Wortsinn eine Kollektivarbeit, an der viele mitgeschrieben hatten.23 Wollte man einen maßgeblichen Akteur des gesamten Unternehmens herausheben, so wäre wohl Wilhelm Jannasch zu nennen. Der oppositio– 136 –

nelle Pfarrer war im Jahr 1934 in Lübeck zwangspensioniert worden und wirkte seit 1936 in unterschiedlichen Positionen im Dienst der Bekennenden Kirche in Berlin. 24 Friedrich Weißler war bei sämtlichen Beratungen als Bürochef zugegen, koordinierte den Diskussionsprozess, verwahrte die diversen Fassungen des Memorandums und unterzeichnete die Sitzungsprotokolle der Gremien. Im strengen Wortsinn war er nicht Mitverfasser der Denkschrift, beteiligte sich aber an den Erörterungen, als versierter Jurist insbesondere bei rechtlichen Aspekten. Auch war er unmittelbar an der Zusammenstellung von 28 Anlagen beteiligt, die der Denkschrift als Beweis­ stücke beigegeben wurden. 25 Die Denkschrift war nicht öffentlich, sondern ein diskretes Unternehmen eines kirchlichen Spitzengremiums mit hoher Geheimhaltungsstufe. Allen Beteiligten war auferlegt worden, über die Beratungen nicht zu sprechen und die Verhandlungspapiere nicht an Außenstehende weiter zu reichen. Man war während der Beratungen dahin übereingekommen, die Schrift im Sinne einer Eingabe an die Obrigkeit (Supplik) lediglich an Reichskanzler Hitler zu richten. In vieler Hinsicht glich dieses Verfahren der traditionellen Praxis untertäniger Eingaben des 18. oder frühen 19. Jahrhunderts an den absolutistischen Monarchen.26 Entsprechend fielen Anrede und Gruß aus: »An den Führer und Reichskanzler« gerichtet, entboten die Absender eingangs dem »Führer und Reichskanzler ehrerbietigen Gruß«. Mit ihrem Schreiben möchten die Verfasser, so heißt es, die Sorgen und Befürchtungen, die viele Christen im Blick auf die Zukunft des evangelischen Glaubens und der Kirche bewegten, zum Ausdruck bringen. Zunächst danken die Männer der Bekennenden Kirche den Nationalsozialisten für den Sieg über den »Bolschewismus« durch die Revolution von 1933. Zugleich beklagen sie jedoch, dass inzwischen ein Kampf gegen die christliche Kirche stattfinde, und zwar heftiger als je zuvor seit 1918. Die Kirche habe sich daher der »angefochtenen Gewissen« ihrer Glieder anzunehmen. Hohe Stellen in Staat und Partei würden den Christenglauben öffentlich angreifen. Die Kirchenmänner richten sodann »die klare Frage an den Führer, ob der Versuch, das deutsche Volk zu entchristlichen, durch weiteres Mitwirken verantwortlicher Staatsmänner … zum – 137 –

offiziellen Kurs der Reichsregierung werden soll.« Beklagt wird weiterhin, dass maßgebliche Persönlichkeiten des Staates und der Partei das im NSDAP -Parteiprogramm (von 1920) postulierte »positive Christentum« willkürlich auslegten. Erwähnt und belegt werden entsprechende Auslassungen von Goebbels, Rosenberg und Reichskirchenminister Kerrl. Niemals sei der Kirche die Möglichkeit eingeräumt worden, solche »Missdeutungen des christlichen Glaubens« zu widerlegen. Die Verfasser beklagen schließlich fortgesetzte Eingriffe des Staates in das innere Gefüge und Glaubensleben der Kirche. Das Befriedungswerk des Kirchenministers Kerrl durch Einsetzung von Kirchenausschüssen halte die Kirche in Abhängigkeit vom Staat und zwinge sie zur Duldung von Irrlehre. Beklagt wird ferner die »Entkonfessionalisierung« des öffentlichen Lebens; diese betreffe vor allem die Jugend, die Schulen und die theologische Ausbildung an den Universitäten. Inzwischen werde die NS -Weltanschauung als Ersatz für das zu überwindende Christentum ausgegeben. »Wenn hier Blut, Volkstum, Rasse und Ehre den Rang von Ewigkeitswerten erhalten, wird der evangelische Christ durch das erste Gebot gezwungen, diese Bewertung abzulehnen. Wenn der arische Mensch verherrlicht wird, so bezeugt Gottes Wort die Sündhaftigkeit aller Menschen, wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhaß verpflichtet, so steht für ihn dagegen das christliche Gebot der Nächstenliebe.« Mit tiefer Sorge sähen die Verfasser, dass eine dem Christentum »wesensfremde Sittlichkeit« in das Volk eindringe und es zu »zersetzen« drohe. Beklagt wird ein Überhandnehmen der Eide und Treueschwüre, selbst schon bei Kindern. Kritisiert wird die eingerissene Willkür in Rechtsdingen: noch immer existierten Konzentrationslager und Maßnahmen der Gestapo seien jeder richterlichen Nachprüfung entzogen. Es bestehe inzwischen die Gefahr, dass ein »antichristlicher Geist« zur Herrschaft gelange. Abschließend wird vor dem »Gift eines antichristlichen Geistes« gewarnt: das Volk wolle sich selbst zum Maßstab aller Dinge machen, dies sei menschliche Überheblichkeit, die sich gegen Gott empöre. Auch die in wachsendem Maße sich ausbreitende Vergötterung »des Führers« müsse Christen mit Sorge erfüllen.27 – 138 –

Titelseite der BK-Denkschrift an Hitler 1936

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Am 4. Juni 1936 übergab Pfarrer Jannasch persönlich ein Exemplar der Denkschrift samt 28 Anlagen in der Reichskanzlei. Angeblich existierten zu diesem Zeitpunkt nur drei Exemplare: das an Hitler gesandte Schreiben; ein zweites Exemplar, das im Safe der Kirchenkanzlei aufbewahrt wurde; und ein drittes Stück, das im Auftrag der Kirchenleitung an Birger Forell, den Pfarrer der Schwedischen Gemeinde in Berlin, übergeben worden sei. Damit sollte sichergestellt werden, dass die Schrift an ausländische Bischöfe gelangte, jedoch mit der Auflage, vorläufig nicht öffentlich davon Gebrauch zu machen. Zunächst wollte die Kirchenleitung keinen Druck durch Einschaltung der Öffentlichkeit ausüben und Hitlers Antwort abwarten. Doch die ließ auf sich warten. Am 24. Juni teilte Jannasch auf einer Sitzung der VKL mit, dass Staatssekretär Otto Meißner ihm auf Anfrage mitgeteilt habe, die Denkschrift sei »zuständigkeitshalber« an das Reichskirchenministerium weitergeleitet worden. Mit einiger Betroffenheit mussten die Verfasser in der Kirchenleitung zur Kenntnis nehmen, dass Hitler sich offenbar überhaupt nicht mit der Eingabe befassen wollte. Gleichwohl war man geneigt, zunächst noch weiter auf eine Antwort zu warten. Zugleich kündigte das Gremium an, ein »Wort an die Gemeinden« zu verfassen und dieses zu einem späteren Zeitpunkt in Bekenntnisgottesdiensten bekannt zu machen. 28 Der Zeitpunkt der Denkschriftaktion war eigentlich günstig: Das NS -Regime wollte im Vorfeld der Olympischen Spiele, die am 1. August 1936 in Berlin begannen, möglichst jeden Zwischenfall vermeiden, der negative Berichterstattung in ausländischen Medien provozieren könnte. Das Regime gab sich friedliebend und auch nach innen relativ weltoffen und tolerant. Antijüdische Maßnahmen wurden abgestoppt, vielerorts diskriminierende Verbotstafeln vorüber­gehend abgenommen. Insofern war es ein günstiger Moment, um seitens der Kirchenleitung einen kritischen Vorstoß zu wagen. Auch war man durch die streng nichtöffentliche Vorgehensweise den Machthabern deutlich entgegengekommen. Während der langwierigen Beratungen waren zahlreiche Gravamina gestrichen oder abgemildert worden. Insbesondere die beratenden Juristen Fritz Günther und Horst Holstein mahnten sehr entschieden zur Vorsicht und drangen darauf, nicht gegen geltendes nationalsozialistisches Recht zu – 140 –

verstoßen. Nicht zuletzt war dieses vorsichtige Verhalten eine Konsequenz des NS -Heimtückegesetzes (1934), das ein »totalitäres Gesinnungsstrafrecht« (Bernward Dörner) sanktionierte und die Kom­ mu­ni­ka­tions­struk­turen in der Gesellschaft des »Dritten Reiches« grundlegend veränderte.29 Grundtenor der Denkschrift war nicht eine Infragestellung des NS -Regimes, vielmehr das Vorbringen von »Sorge« über diverse beunruhigende Trends im Nationalsozialismus, die Christentum und Kirche gefährdeten. »Klage« und »Sorge« bestimmten den vorherrschenden Ton in dieser Bittschrift. * Mitte Juni 1936, nach dem Abschluss der Denkschrift, ging für­ Friedrich Weißler ein arbeitsreiches, anstrengendes Halbjahr zu Ende. Die Sommerferien standen bevor. Als Bürochef der Kirchenleitung hatte er alles aus nächster Nähe miterlebt: die gravierenden Richtungs­ kämpfe im Januar zwischen »Dahlemiten« und »Lutheranern« in der Kirchenopposition, welche die Bekennende Kirche an den Rand der Handlungsfähigkeit brachten; die Oeynhausener Synode im Februar, die sowohl definitive Spaltung wie auch zugleich eine Art interne Klärung der Verhältnisse brachte; die Installierung der neuen, rein dahlemitischen 2. Vorläufigen Kirchenleitung im März; die langwierigen und schwierigen Beratungen über die Denkschrift bis Ende Mai; schließlich die Ablieferung des geheimen Textes Anfang Juni in der Reichskanzlei. Alle einschlägigen Äußerungen Weißlers seit 1933 legen nahe, dass er persönlich völlig einverstanden war mit dieser Aktion und vermutlich auch, dass er sich eher einen noch eindeutiger protestierenden Ton in der Denkschrift gewünscht hätte. Aber auch so, wie sie ausfiel, erschien die Schrift ihm als ein notwendiges und seit langem überfälliges Statement. Endlich hatte sich die Kirche – wenn auch nur ihr entschiedener Flügel in der Kirchenopposition – zu einer so expliziten Stellungnahme durchgerungen. Mit dieser inneren Zufriedenheit und wohl auch nicht geringer Arbeitserschöpfung trat Weißler seine Heil- und Badekur Mitte Juni im Erzgebirge an. Und sicher war da bei ihm auch eine gewisse innere Anspannung: Wie würde Hitler auf das Memorandum reagieren? – 141 –

Wie eigentlich alles in seinem Leben, so absolvierte Weißler auch die Heil- und Badekur mit großer Sorgfalt. Im zweiten Brief an seine Mutter (24. Juni) berichtet er, dass er heute das sechste Bad genommen habe und anschließend noch zum Arzt gehen werde. Am 29. Juni schreibt er nach Berlin, dass er jetzt das neunte Bad erhalten habe, außerdem jeden Tag »eine Flasche Brunnen« trinke und jeden zweiten Tag eine dreiviertel Stunde lang inhaliere. »An meinem Zustand ist kaum eine Veränderung festzustellen«, resümiert er lakonisch nach zwei Wochen Kur. Eine besonders empfindliche Stelle an seinem Körper habe sich leider verschlechtert und verursache ihm bei manchen Bewegungen »heftige Schmerzen«. Indessen: »Der Arzt fand bei der letzten Untersuchung alles in bester Ordnung. Auch Herz, Blutdruck, Nieren. Auf meine Frage, ob ich lieber noch eine vierte Woche bleiben solle, sagte er nur, er hätte nichts dagegen.«30 Während der drei Wochen dauernden Kur hatte Weißler neben allen übrigen Dingen etwas Besonderes vor. Er hatte sein altes Tagebuch mitgenommen. Die Eintragungen dort reichten bis November 1921. Mit den letzten dort formulierten Sätzen, so notiert er am 20. Juni 1936 in Oberschlema, dürfe sein altes Tagebuch unmöglich aufhören. Er hatte dort zuletzt von ersten Begegnungen mit seiner späteren Frau berichtet und von »Strohfeuer« gesprochen. Heute könne er besser darüber urteilen. Er wolle jetzt, im Alter von 45 Jahren, einen Rückblick auf sein bisheriges Leben werfen. »Denn manches spricht dafür, dass ich nichts Wesentliches mehr vor mir habe, vielleicht überhaupt nicht mehr lange lebe. Der Gedanke schreckt mich nicht, mahnt aber zur Selbstbesinnung.« Innerhalb von zwei Wochen verfasste Weißler einen umfassenden Lebensrückblick, den er offenbar ohne alle Hilfsmittel aus dem Gedächtnis niederschrieb.31 Kindheit in Halle, die überlebensgroße Figur des Vaters, Schule, Studium und Verbindungsleben, Militärdienst mit dem schweren Reitunfall und mancherlei Traumatisierungen, Doktorarbeit, die schwierige Kriegszeit des wenig kriegerischen Soldaten, Revolutionsunruhen in Halle 1919, Suizid des Vaters im Juni 1919 aus Scham über »Versailles«, juristische Examina und erste Berufserfolge als Richter, Heirat 1922 und Familiengründung, seine breit gefächerte rechtswissenschaftliche Publikationstätigkeit, zuletzt die – 142 –

ehrenvolle Beförderung zum Landgerichtsdirektor in Magdeburg. Weißler lässt diese Rückschau mit dem Jahr 1933 abreißen. Es sei jetzt, so vermerkt er im abschließenden Ausblick, weder Zeit noch Raum, »den Sturz von 1933« zu schildern, auch wenn über das »Seelisch-Geistige« der jüngsten Zeit viel zu sagen wäre. Am Schluss des gut siebzigseitigen Berichts, so notiert er am 5. Juli 1936, wolle er »nur noch die Bilanz meines Lebens ziehen.« Sein Jugend- und Jünglingsalter habe er nicht so »ausgenutzt«, wie es hätte sein sollen. Besonders die Studentenzeit erscheine ihm im Rückblick fast ganz unergiebig für seine innere Entwicklung. Sein Mannesalter sei hingegen »sichtlich von Gott gesegnet«. In Beruf und Familie habe er »reines Glück« erleben dürfen. Auch die schweren Ereignisse von 1933 scheinen ihm nun, so meint er, zum Segen gereichen zu sollen. Nicht nur im Blick auf seine persönliche »innerliche Vertiefung«, sondern auch in äußerer Beziehung. Vielleicht sei seine jetzige Tätigkeit in der Bekennenden Kirche die Vorstufe zu einer dauernden und noch mehr befriedigenden »Arbeit für die Kirche Jesu Christi«. Vielleicht aber – und er bitte täglich darum – sei ihm auch eine Rückkehr ins Richteramt vergönnt und die Gelegenheit, dieses Amt unabhängig von politischen Einflüssen ausüben zu dürfen. Nicht ganz frei von einer fatalistischen Tönung fügt er noch hinzu: »Vielleicht stehe ich auch schon an der Neige meines Lebens und habe keine größeren Aufgaben mehr vor mir.«32 Die Kur war beendet. Weißler verbrachte anschließend noch erholsame Sommertage im Pfarrhaus Plossig, wovon ein weiterer Brief an seine Mutter vom 13. Juli 1936 zeugt. Es war eine Sommeridylle auf dem Lande: Ulrich, der ältere Sohn, beschäftige sich den ganzen Tag über mit dem »Unterstand« und den Gräben, die er im Garten gebaut habe. Johannes, sein jüngerer Bruder, habe gestern Nachmittag beim Tanz im Dorfgasthaus zugesehen und sei davon »entzückt« gewesen. Auch habe er beim Kegeln geholfen und die Kegel aufgestellt. Das schlechte Wetter störe die Jungen überhaupt nicht. Sie kämen immer »heiß und schmutzig« von ihren Spielen zurück. »Mit Ulrich arbeite ich aber täglich eine Stunde Latein.« Ihm selbst, schreibt Weißler, sei das Regenwetter weniger angenehm, da es ihn an das Zimmer fessele. Bisher habe er sein »Mittagsschläfchen« im– 143 –

Sommeridylle im Pfarrhaus Plossig (Juli 1936). Es handelt sich um die letzte von Friedrich Weißler überlieferte Aufnahme.

mer im Hof im Liegestuhl halten können und anschließend dort oder in der Veranda sitzen und lesen können. Die kühle Witterung mache sich bei ihm sofort in vermehrten Rheumabeschwerden bemerkbar. Zum Glück schlafe er hier gut, nachdem zuvor die Radiumkur seinen Schlaf doch sehr gestört hätte. Aus Berlin, von seinem Kirchenbüro am Johannistisch, höre er ab und zu und müsse dann auch antworten. Im Übrigen versuche er jedoch, möglichst wenig zu lesen und zu schreiben und widme sich ganz der Familie.33

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sechstes kapitel Indiskretionen, Verdächtigungen und Gestapohaft Zwei Wochen vor Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin, am 16. Juli 1936, erschien in der New York Herald Tribune ein Artikel über die sorgfältig geheim gehaltene Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler. Der Artikel setzte eine genaue Kenntnis der vertraulichen Denkschrift voraus, die doch angeblich nur in drei Exemplaren vorhanden sein sollte. Für die NS -Machthaber war das zweifellos ein politisch ärgerlicher, peinlicher Zwischenfall, so kurz vor Beginn des großen internationalen Sportereignisses in der deutschen Hauptstadt. Denn das NS -Regime war aus diesem Anlass sichtlich bemüht, sich vor aller Welt von seiner besten Seite zu zeigen: modern, effizient, erfolgreich, weltoffen, tolerant. Ärgerlich war das schon, aber verkraftbar, denn längst hatte das allgemeine Olympiasportfieber um sich gegriffen und beherrschte die Straßenöffentlichkeit und die Medien.1 Und wer im Deutschen Reich oder in Berlin las schon die New York Herald Tribune? Auch war das Blatt unter den restriktiven Bedingungen nationalsozialistischer Öffentlichkeit für den gewöhnlichen deutschen Leser kaum greifbar. 2 Am 23. Juli erschien die Denkschrift in den Basler Nachrichten im Wortlaut. Das war schon weit bedrohlicher, da dieser deutschsprachige Text aus dem Nachbarland in Kopien oder Abschriften rasch erhebliche Verbreitung in kirchlichen Kreisen fand. Weitere Zeitungsmeldungen in der New York Times, der Londoner Times und in anderen Blättern folgten zeitnah. Bereits am 28. Juli brachte die Herald Tribune eine englische Übersetzung des kompletten Denkschriftentextes. Alles dies geschah geradezu termingerecht zum Auftakt der Olympischen Spiele in Berlin.3 Direkte unmittelbare Reaktionen der NS Machthaber auf das ›Ärgernis‹ sind nicht bekannt. Sie alle befanden sich bereits, mehr oder weniger, inmitten des deutschen nationalen – 145 –

Sporterfolgsfiebers, das während der zweiwöchigen Olympiashow vorherrschen sollte, und auch Hitler, Goebbels und Parteigenossen brachten offenbar zu diesem Zeitpunkt wenig Aufmerksamkeit für ausländische Zeitungsartikel über Verlautbarungen der »Bekenntnisfront« auf. In den Tagebüchern des Propagandaministers, der als ein wichtiger Seismograf politischer Erwägungen und Absichten Hitlers gelten kann, fanden die Vorgänge um die Denkschrift und Indiskretion kein Echo.4 Anders lagen die Dinge in Kreisen der Bekennenden Kirche, aus denen die Denkschrift als streng geheime Eingabe an die NS -Obrigkeit hervorgegangen war. Allen Mitwirkenden an den Beratungen war eingeschärft worden, kein Wort über das Memorandum nach außen dringen zu lassen. Diverse Fassungen, Varianten und sonstige Papiere, die den Mitgliedern der Kirchenleitung und des Rates der DEK während des Beratungsprozesses ausgehändigt wurden, sollten nach Gebrauch vernichtet, das heißt explizit »verbrannt« werden. Absicht war, Hitler ohne Druck durch die internationale Presse­öffent­lichkeit über die evangelischen »Sorgen« und »Nöte« zu informieren. Bis zu einer Rückäußerung des Reichskanzlers war, so die Vereinbarung, unbedingtes Stillschweigen zu bewahren. Und nun brachten ausländische Zeitungen Artikel und sogar den Wortlaut der Denkschrift: Allenthalben herrschte Empörung, Unruhe, Besorgnis. Wie konnte das passieren? Und wer war »der Täter«? Nicht nur für die herrschenden Nationalsozialisten, nicht nur für die völkischen Deutschen Christen in der Kirche, selbst für etliche Führungsmänner der Bekennenden Kirche bedeutete diese Indiskretion eine Art »Verrat« aus den eigenen Reihen und stand im Geruch von Landesverrat. Große Unruhe, Verwirrung, Bestürzung und zahl­ reiche Gerüchte machten sich seit dem 20. Juli 1936 in den Reihen der »Dahlemiten« breit, denn die Denkschriftenaktion war ihre Aktion gewesen. Alle diese Besorgnisse galten in erhöhtem Maße für Friedrich Weißler, der als Kanzleichef an den Beratungen mitbeteiligt war, als Organisator des Diskussionsprozesses alle Papiere kannte und für die sichere Aufbewahrung zuständig war. Wann und wo ­Weißler zuerst von der Indiskretion erfuhr, ist nicht genau bekannt. Es könnte – 146 –

noch während der ländlichen Sommeridylle im Pfarrhaus Plossig gewesen sein, wo er nach der Kur zwei Wochen mit seiner Familie verbrachte und wo ihn möglicherweise ein Anruf aus Berlin erreichte; oder spätestens um den 20. Juli bei seiner Rückkehr aus dem Sommerurlaub nach Berlin. Man wird ihn, den Verwahrer und Verwalter der Papiere, bei Rückkehr ins Kirchenbüro am Johannistisch sofort gefragt haben, ob er eine Erklärung für diese fatale Indiskretion habe. Wie alle anderen konnte auch er zunächst keine Angaben machen, die zur Aufklärung beitrugen. Gleichwohl dürfte Weißler seit den letzten Julitagen starkes inneres Unbehagen empfunden und geahnt haben, dass sich dunkle Wolken über ihm zusammenzogen. In dieser Situation richtete er eine Anfrage an den jungen Theologen Werner Koch, der zu dieser Zeit Vikar in Wuppertal-Barmen war. Weißler kannte Koch seit Herbst 1935 und hatte dem angehenden Pfarrer seither wiederholt mündlich wie schriftlich Informationen aus dem Führungskreis der Bekennenden Kirche zur Verfügung gestellt. Er wusste, dass Koch im Kontakt mit ausländischen Presseagenturen und Journalisten in Berlin stand und diese Informationen an sie weitervermittelte. Aber auch Koch hatte, wie sich herausstellte, zu diesem Zeitpunkt keine Erklärung für die vorzeitige Heraus­gabe der Denkschrift.5

Auftritt Dr. Horst Michael Es gab während dieser beunruhigenden Tage und Wochen im Juli, August und September 1936 besonders einen Mann im Umkreis der Bekennenden Kirche, der sich auffallend intensiv für die Aufklärung der Indiskretion und die Identifizierung möglicher »Täter« hervortat – der promovierte Historiker Horst Michael. Als Laienmitglied gehörte er dem Berliner Bruderrat an und hatte an Synoden der Bekennenden Kirche Preußens und des Reichs teilgenommen. Michael wirkte bis August 1933 als Assistent bei dem konservativen Historiker Erich Marcks an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Im Jahr 1932, während der umstürzenden politischen Ereignisse in der Endphase der Weimarer Republik, pflegte er enge Kontakte zu Carl – 147 –

Schmitt und beriet zusammen mit ihm die kurzfristig amtierende Regierung Schleicher.6 Nach Hitlers Machtantritt verfügte der politisch umtriebige Historiker über nicht näher spezifizierbare »Verbindungen« zu einigen Stellen in NS -Regierungskreisen. Zugleich belieferte er, offenbar mit Wissen und Erlaubnis der NS -Machthaber, die ausländische Presse, insbesondere die Londoner Times, mit Informationen über deutsche kirchliche Zustände. Seinem eigenen Bericht zufolge habe er der Kirchenleitung bereits am 17. Juli, also einen Tag nach Erscheinen des Aufsehen erregenden Artikels der New Yorker Zeitung, Mitteilung von der Indiskretion gemacht. Noch am gleichen Tag sei es ihm gelungen, den Text eines anonymen Anschreibens zu erlangen, das der mutmaßliche »Täter« zusammen mit der Denkschrift an diverse Presseagenturen übersandte. Durch »Mittelsleute«, deren Namen Michael nicht preisgeben wollte, habe er Hinweise auf die Identität des Absenders erhalten. Demnach handelte es sich um einen pensionierten Pfarrer Hermann Kötzschke, der etwa am 8. Juli die Denkschrift an einen Korrespondenten der New York Herald Tribune übergab. Der 74-jährige Pfarrer bediente Presse­agenturen und Auslandsjournalisten mit Informationen über den Kirchenkampf und verdiente sich offenbar mit dieser Tätigkeit ein Zubrot zu seiner schmalen Rente.7 »Schriftsteller« Michael – selbst auch in diesem etwas zwielichtigen ›Gewerbe‹ tätig – war nun überzeugt, mit Kötzschke den Verursacher der Indiskretion gefunden zu haben und breitete seine ›Erkenntnisse‹ seit Ende Juli in den Spitzengremien der Bekennenden Kirche aus. Seither befand sich die von M ­ ichael propagierte »Hypothese Kötzschke« in Umlauf, die zwar nicht alle Fragen beantwortete, aber doch eine gewisse Plausibilität besaß.8 Aber wirklich aufgeklärt war der obskure »Fall« damit nicht: Den­ gesamten Monat August über beherrschten wachsender Argwohn und mancherlei Gerüchte die Spitzengremien der Kirchenopposition. Etliche Kirchenmänner nahmen zunächst die »Hypothese Kötzschke« auf und meinten nun auch: Kötzschke war es. Aber damit war die Frage nicht beantwortet, wie das Memorandum, eine geheime Verschlusssache, aus den Reihen der BK-Spitzenvertreter herausgekommen war. Es musste ein Leck in den eigenen Reihen geben, und das – 148 –

war das zutiefst Beunruhigende. Gerhard Jacobi, Pfarrer an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und Präses der BK Berlin-Brandenburgs, kannte Dr. Michael vom Berliner Bruderrat und machte sich zunächst dessen »Hypothese Kötzschke« zu Eigen. Am 5. August äußerte ­Jacobi einen solchen Verdacht gegenüber der Gestapo, die inzwischen begonnen hatte, ihre eigenen Ermittlungen in der Angelegenheit aufzunehmen.9 Während die Olympischen Spiele mit großen deutschen Sporterfolgen ihren Lauf nahmen und einen Rausch nationaler Begeisterung entfachten, rumorte es weiter in der Bekennenden Kirche. Es war inzwischen nicht mehr so sehr die Denkschrift selbst mit ihren kritischen Fragen an Hitler, sondern die Indiskretion, der »Verrat«, der im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und viele Beteiligte beunruhigte. Am 11. August wandte sich der Präses der Reichsbekenntnissynode Karl Koch aus dem beschaulichen Bad Oeynhausen persönlich an die Reichskanzlei und bat um Ermittlung der Schuldigen. In gleicher Sache schrieb er wenige Tage später auch an Reichsjustizminister Franz Gürtner und regte die Einleitung einer offiziellen Untersuchung wegen der Denkschriftenaffäre an. Größte Besorgnis vieler Spitzenvertreter der Bekennenden Kirche war zu diesem Zeitpunkt, dass die Kirchenopposition wegen der brisanten Auslandsveröffentlichungen in den Geruch nationaler Unzuverlässigkeit oder gar landesverräterischer Umtriebe geriet.10 Ungeachtet aller internen Beunruhigung kam das von Beginn an beabsichtigte »Wort an die Gemeinden« am 23. August als ­Kanzelabkündigung in Bekenntnisgemeinden zur Verlesung. Inhaltlich war das eine neu formulierte, entschärfte Version der Denkschrift unter dem Titel: »An die evangelische Christenheit und an die Obrigkeit in Deutschland!«. Besorgt wird eingangs die Frage gestellt, »ob der christliche Glaube in Deutschland Heimatrecht behalten soll oder nicht.« Anknüpfend an die Darlegungen in der Denkschrift beklagt das Wort zahlreiche Maßnahmen der Machthaber, die eine wachsende »Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens« bezweckten. Das Reichskirchenministerium untersagte eine Verlesung der Erklärung. Wie einzelne Schilderungen belegen, kostete es einzelnen Pfarrern viel Mut und Überwindung, den Text nach dem sonntäglichen Gottesdienst von der Kanzel zu verlesen. Keineswegs – 149 –

alle Bekenntnispfarrer waren dazu bereit. Eine präzise Übersicht, wie häufig diese Erklärung an jenem Augustsonntag tatsächlich in den Kirchen verlesen wurde, lässt sich vorläufig nicht erbringen.11 Da er offenbar von seiner eigenen Enthüllung nicht restlos überzeugt war, forschte »Schriftsteller« Dr. Michael während der Augustwochen weiter und unterrichtete die BK-Spitzengremien Anfang September von neuen Erkenntnissen. Demnach sei die Denkschrift durch eine Indiskretion des VKL -Bürochefs Weißler in Verbindung mit einem »Vikar« Ernst Tillich an ausländische Pressevertreter gelangt. Michael trug diese Entdeckung, wohl ohne vollständige Namensnennung, am 7. September im Berliner Bruderrat und am 10. September auf einer Sitzung der Kirchenleitung vor und forderte die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Natürlich schlug diese Enthüllung wie eine Bombe ein, und zweifellos wurde es jetzt sehr eng für Weißler. In einem Gespräch am 15. September mit Pfarrer Hans Böhm, Mitglied der Kirchenleitung, gab Weißler verdeckte Beziehungen zu Tillich zu und informierte über seine Zusammenarbeit mit ihm, die der Unterrichtung ausländischer Pressevertreter über Vorgänge des Kirchenkampfes gedient habe. Dabei räumte der Bürochef ein, dass er etwa Ende Mai auch einen Entwurf der Denkschrift an Tillich übergeben habe, jedoch mit der ausdrücklichen Auflage, diesen ausschließlich zur persönlichen Information zu verwenden und nicht an andere Stellen herauszugeben. Tags ­darauf wurde Weißler vorläufig vom Dienst suspendiert. Aus einer Erklärung der Kirchenleitung vom 22. September geht indessen hervor, dass man sich hinsichtlich seiner Täterschaft keineswegs sicher war: Weißler habe darlegen können, so heißt es, dass er keine unehrenhafte Handlung begangen habe; seine Beziehungen zu Tillich könnten zwar nicht gebilligt werden, aber es bestünde derzeit keine Veranlassung, weitere Schritte gegen Weißler zu ergreifen. Aber seit September 1936 stand nun neben der »Hypothese Kötzschke« auch ein zweiter Verdacht im Raum, die »Hypothese Weißler-Tillich«, durch die die gesamte Denkschriftenaktion der 2. Vorläufigen Kirchenleitung in ein Zwielicht zu geraten drohte.12 Am 7. Oktober 1936 kurz vor Mitternacht verhaftete die Gestapo Friedrich Weißler in seiner Wohnung in der Meiningenallee und lie– 150 –

Das Berliner Polizeipräsidium mit Polizeigefängnis am Alexanderplatz

ferte ihn in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz ein. Zugleich durchsuchte die Gestapo bei dieser nächtlichen Aktion sein Arbeitszimmer und beschlagnahmte diverse Papiere und andere Gegenstände. Am selben Tag wurde der bereits erwähnte »Vikar« Ernst Tillich verhaftet und ebenfalls in das Gefängnis Alexanderplatz gebracht. Der Haftgrund lautete in beiden Fällen: »wegen Verdachts illegaler Betätigung«. In seiner ersten Vernehmung einen Tag später erklärte Weißler: Er gebe zu, die »Denkschrift in einem korrigierten Exemplar, das aber noch nicht die endgültige Fassung enthielt und ohne die dem endgültigen Dokument beigefügten Anlagen dem Herrn Tillich zur Durchsicht gegeben zu haben. Ich tat [dies] nur unter dem ausdrücklichen Versprechen seitens des T ­ illich, die Denkschrift niemanden zu zeigen und nach Durchsicht sofort zu vernichten.« Tillich selbst berichtete bei seiner ersten Vernehmung am 8. Oktober, er habe seit Mai 1936 in Verbindung mit dem Nachrichtenbüro Reuter gestanden und dort monatlich Informa­ tionen über die »kirchenpolitischen Streitigkeiten« abgeliefert, so auch eine ­Abschrift der Denkschrift, für die er fünfzig Reichsmark – 151 –

erhalten habe. Er habe geglaubt, der Bekennenden Kirche durch seine Tätigkeit zu helfen, da er annahm, man würde gegen die Pfarrer in Deutschland nicht so scharf vorgehen, wenn ausländische Zeitungen darüber berichteten.13 Damit begann eine staatspolizeiliche Untersuchung gegen Weißler und Tillich sowie eine Reihe weiterer Personen, die mehr oder weniger in diesen »Fall« involviert waren. Über vier Monate zog sich das Verfahren hin. Vier Personen wurden inhaftiert, neben W ­ eißler und Tillich der Hilfspfarrer Werner Koch und vorübergehend Dr. Heinrich Schmidt, ein junger Jurist, der im Büro der Kirchenleitung angestellt war.14 Als Chefermittler hatte die Gestapo Ludwig Chantré eingesetzt. Der aus Rheinhessen stammende Pfarrersohn war Jurist und gehörte seit dem 1. Februar 1931 der NSDAP an. Zum 1. April 1936 war er nach Berlin versetzt worden und in gehobenen staatspolizeilichen Stellungen tätig. Wie seine SS -Personalakten ausweisen, hielt man höheren Orts große Stücke auf diesen strebsamen jungen Juristen, der zum Zeitpunkt des Verfahrens erst 29 Jahre alt war und bereits eine NS -Musterkarriere vorzuweisen hatte. Im Personalbericht der Staatspolizeileitstelle Berlin heißt es im Jahr 1938, also nach Abschluss der Sache Weißler-Tillich, in der Rubrik besondere Vorzüge und Fähigkeiten: »vorbildliche Dienstleistung i. d. Bekämpfung kultureller Staatsfeinde«.15 Für die in der jüngeren Literatur wiederholt geäußerte Vermutung, die Gefangenen seien während der Haft oder der Vernehmungen Folterungen ausgesetzt gewesen, finden sich indessen keine Anhaltspunkte. Der Vollzug im Polizeigefängnis Alexanderplatz war sicherlich streng, aber bewegte sich im Jahr 1936 durchaus noch in halbwegs geregelten Bahnen traditioneller preußischer Praxis des Justizvollzugs.16

Auftritt Ernst Tillich Zweifellos nahm der 26-jährige Ernst Tillich im Jahr 1936 für ­Friedrich Weißler die Rolle einer Schicksalsfigur ein und verdient deshalb, an dieser Stelle mit schärferen Konturen in einer Nahaufnahme gezeichnet zu werden. Geboren 1910 in Marienwerder (West– 152 –

Einlieferungsanzeige Friedrich Weißler

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preußen), wuchs Tillich als Sohn des Amtsgerichtsrats Franz Tillich in Berlin auf.17 Nach dem Abitur begann er um 1930 ein Theologiestudium, zunächst in Bonn, seit 1932 in Berlin. Zu dieser Zeit bewegte er sich unter anderem auch im Umkreis Dietrich Bonhoeffers, der als Privatdozent der Theologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität lehrte, und womöglich hörte Tillich dort auch gelegentlich dessen Vorlesungen. Bei seiner Einlieferung in das Polizeigefängnis Alexanderplatz im Oktober 1936 gab Tillich als Beruf an: »Cand. Theol.«. Als letztes Studiensemester nannte er das Wintersemester 1932/33. Mit anderen Worten: Tillich hatte sein Theologiestudium im Frühjahr 1933 abgebrochen und seither nicht mit einem Examen abgeschlossen. Insofern kann auch die von ihm des Öfteren gebrauchte Berufsbezeichnung »Vikar«, die ein theologisches Examen voraussetzt, nicht stimmen. Der junge Mann heiratete bereits im Jahr 1932. Mit seinen 22 Jahren war das außerordentlich früh und als unfertiger Theologiestudent ohne Examen zudem äußerst ungewöhnlich. Nur wenig später, im Jahr 1934, ging er jedoch eine außereheliche Beziehung ein, aus der in den Jahren 1935 und 1936 zwei Kinder hervorgingen.18 Insgesamt erscheint Tillichs Lebenssituation in den Jahren um 1935 als schwierig, um nicht zu sagen, gründlich verfahren: ein abgebrochenes Theologiestudium; eine fortdauernde Ehe, die nicht geschieden war; nebenher eine außereheliche Beziehung mit zwei kleinen Kindern. Hinzu kam durchgängig während dieser Jahre eine prekäre Einkommenssituation sowie, infolge seines ungewöhnlichen Lebenswandels, der Verlust sämtlicher Berufsaussichten im kirchlich-theologischen Bereich. Seine eher peripheren kirchlichen und theologischen Verbindungen lösten sich mehr und mehr auf. Tillich konnte offenbar »zu Hause« bei seinen Eltern in BerlinSteglitz nicht mehr wohnen; auch teilte er nicht mit sei­ner Ehefrau die Wohnung. Für längere Zeit lebte ­Tillich möbliert in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße 22, »bei N ­ athanson«. Zugleich betrieb er diverse Studien und Geschäfte, die sich nicht restlos aufklären lassen. Nach eigenen Angaben betätigte er sich, um Geld zu verdienen, auf »psychotherapeutischem« Gebiet und hatte wohl für diesen Zweck einen Geschäftsraum »Am Ostbahnhof Nr. 17« gemietet.19 Sein – 154 –

Hauptproblem während dieser prekären Jahre lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Geld. Der junge Mann brauchte Geld. Wiederholt sah man ihn hier und dort, auch im kirchlichen Bereich, um Unterstützung oder Beschäftigung nachfragen. In dieser Situation kam im März 1936 sein ehemaliger Studienfreund Werner Koch, den er von Bonn her noch flüchtig kannte, auf ihn zu und fragte, ob er einen Job suche. Koch hatte in Verbindung mit Weißler kirchenpolitische Nachrichten an ausländische Pressevertreter geliefert. Da er (Koch) nun als Hilfspfarrer nach Wuppertal-Barmen versetzt werde, suche er einen Nachfolger. Er könne auf diesem Weg, so kündigte er Tillich an, etwa 150 Reichsmark monatlich verdienen. Natürlich nahm Tillich dieses Angebot an – in seiner prekären Lage war das ein Geschenk des Himmels.20 Die staatspolizeilichen Vernehmungen brachten eine Menge an brisanten Details über die Verbindung Weißler-Tillich und darüber­ hinaus über das Innenleben der Kirchenopposition zu Tage. Allen Beteiligten war bewusst, dass Falschaussagen wenig Bestand haben würden, da ihre Ausführungen mit den Aussagen anderer Personen abgeglichen und bei Unstimmigkeiten direkte Gegenüberstellungen vorgenommen wurden.21 Sehr schnell stellte sich heraus, dass durch die Verbindung zwischen Werner Koch, Weißler und später Tillich kirchenpolitische Informationen an Nachrichtenbüros und ausländische Presseleute geliefert worden waren. Weißler räumte das unumwunden ein und meinte zu seiner Verteidigung, alle diese Aktivitäten seien keine strafbaren Handlungen gewesen. Auf die Frage, weshalb denn die Veröffentlichung von Nachrichten aus der Bekennenden Kirche in der Auslandspresse in deren Interesse gelegen hätte, antwortete er: die Bekennende Kirche sei mit den Kirchen in der Ökumene verbunden; es sei Wunsch der Christen im Ausland, mehr Kenntnis über die Vorgänge in Deutschland zu haben; überdies gelte der theologische Kampf der Bekennenden Kirche auch international als vorbildlich. Auf die Frage, ob man die Veröffentlichung in ausländischen Blättern nicht für »staatsgefährlich« hielt, entgegnete Weißler, in der Bekennenden Kirche herrsche die Ansicht vor, ein Christ müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. Konfrontiert mit der Frage, – 155 –

warum er ohne Wissen der Kirchenleitung die Nachrichten weitergegeben habe, lautete seine Antwort: Er sei überzeugt gewesen, im Interesse der BK zu handeln. Schließlich richtete der Gestapobeamte Chantré an Weißler die Frage, ob er als »Jude« (so die Formulierung im Protokoll) sich nicht größere Zurückhaltung hätte auferlegen sollen? Weißlers Antwort: In der Bekennenden Kirche gebe es keinen Unterschied zwischen »Ariern« und »Nicht­ ariern«; auch habe er­ Tillichs Gesinnung für vollkommen lauter gehalten und es nicht unehrenhaft gefunden, dass jener Geld für die Nachrichten nahm, er sei dringend darauf angewiesen gewesen.22 Während in Berlin die Vernehmungen in vollem Gange waren, wurde der Hilfsprediger Werner Koch in Wuppertal-Barmen am 13. November von der Gestapo verhaftet und zur Staatspolizeistelle Düsseldorf zur Vernehmung überführt. Koch war der eigentliche Erfinder des inoffiziellen kirchlichen Nachrichtenkanals, um den sich das Berliner Ermittlungsverfahren drehte. Eine biografische Nahaufnahme erscheint angebracht.

Auftritt Werner Koch Werner Koch, geboren 1910 in Bielefeld, absolvierte zwischen 1929 und 1933 ein Theologiestudium mit den Stationen Marburg, Tübingen, Paris und seit dem Sommersemester 1931 am intensivsten in Bonn, wo er freundschaftliche Verbindungen zu Karl Barth anknüpfte. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung im November 1936 führte er die Berufsbezeichnung »Pastor (Hilfsprediger)« in Barmen. Nach dem 1. Theologischen Examen 1934 in Bonn trat er im Rheinland in den Kirchendienst als Vikar ein, wurde jedoch wegen seiner Zugehörigkeit zur jungen Bruderschaft der Bekennenden Kirche entlassen. Bereits seit Frühjahr 1935 schrieb der junge Theologe für britische und schweizerische Blätter unter Pseudonym Artikel über den deutschen Kirchenkampf. In Bonn, wo er zuletzt studierte und Examen gemacht hatte, erreichte ihn Ende Oktober 1935 eine Einberufung in das durch Bonhoeffer geleitete BK-Predigerseminar Finkenwalde bei Stettin. Koch sollte dort seine unterbrochene Pfarrerausbildung abschließen.23 Bei seinen häufigen Aufenthalten in Berlin ergaben sich – 156 –

Theologiestudent Werner Koch im Jahr 1931

seit Herbst 1935 Kontakte zu Nachrichtenbüros wie Reuter und zu ausländischen Journalisten. Wie seinen Schilderungen zu entnehmen ist, waren diese Stellen ausgesprochen ›hungrig‹ auf präzise »Stimmungsberichte« aus dem Innenleben des Kirchenkampfes.24 Von Finkenwalde aus fuhr der Vikar nun an Wochenenden regelmäßig in die Hauptstadt, um hochrangige Auslandskorrespondenten über kirchenpolitische Vorgänge zu unterrichten. Im Unterschied zu ­Tillich stand bei Koch ein genuines Geldinteresse nicht im Vordergrund. Gleichwohl genoss der junge Mann von 25 Jahren nun seine plötzliche Bedeutung, das Gespräch auf Augenhöhe mit namhaften internationalen Journalisten, eilte im Taxi von Adresse zu Adresse, von Hotel zu Hotel, und ließ sich seine Unkosten durch gut dotierte – 157 –

Aufwandsentschädigungen ausgleichen. Daraufhin angesprochen in einer Vernehmung, entgegnete Koch zu seiner Rechtfertigung sinngemäß: er sei es schon von Hause aus gewohnt gewesen, auf großem Fuß zu leben. Der widerständige Theologieprofessor Barth, der Deutschland im Sommer 1935 verlassen musste und inzwischen in Basel lehrte, und Bonhoeffer als BK-Seminarleiter in Finkenwalde wussten von Kochs riskanten Nachrichtenverbindungen und billigten diese. Eines Tages im Oktober 1935 tauchte Bonhoeffers Vikar in Weißlers Büro am Johannistisch in Berlin-Kreuzberg auf und weihte den VKL -­Bürochef, der gewissermaßen an der Quelle saß, in seine Tätigkeit ein. Weißler ließ sich ohne Wissen seiner Arbeitgeber auf das nicht ungefährliche Spiel ein. Anlässlich der 4. Reichsbekenntnissynode in Bad Oeynhausen im Februar 1936 beispielsweise schleuste er Koch als seinen ›Sekretär‹ mit zu den Verhandlungen ein und ermöglichte ihm auf diese Weise exklusive Berichte für englische und amerikanische Zeitungen. 25 Am 24. November traf der »Schutzhäftling« Koch von Düsseldorf im Polizeigefängnis Alexanderplatz ein und wurde am folgenden Tag erstmals dem Gestapobeamten Chantré vorgeführt. Im Wesentlichen bestätigte seine Vernehmung das bereits entstandene Bild. Zur Nachrichtenübergabe habe Koch Bürochef Weißler nur in dessen Privatwohnung getroffen. Bei Telefongesprächen oder im Briefverkehr seien Deck­namen benutzt worden: Weißler hieß »Ulrich«, Tillich »Peter« und Koch »Küchenmeister«. Diese Praxis ließ die Gestapo aufhorchen, trug ein solcher Umgangston doch einen Anflug von Illegalität und womöglich gar von Spionage an sich. Weißler, daraufhin befragt, äußerte zu den Decknamen: es sei nichts Ungewöhnliches in der Bekennenden Kirche gewesen, auch andere Personen hätten Deck­namen getragen: Niemöller habe etwa »Martin« geheißen (von anderer Seite wird für Niemöller als Deckname »der Kommandant« genannt); August Mar­ ahrens, der lutherische Landesbischof aus Hannover und Vorsitzende der 1.  VKL , habe »August« oder auch »Der Erhabene« geheißen. 26 Im Dezember 1936 erschöpften sich die Erkenntnisse aus den Vernehmungen. Es kam kaum noch Neues zu Tage. Aus Sicht der Er– 158 –

mittler bot sich das folgende Bild dar: Die Untersuchung hatte die Existenz einer verdeckten Nachrichtentätigkeit von Angehörigen der Bekennenden Kirche (Koch und Weißler, mit Einschränkungen auch Tillich) für ausländische Pressestellen ergeben. Gegenstand waren kirchenpolitische Vorgänge des Kirchenkampfes. Diese Tätigkeit war nicht eindeutig illegal, allerdings aus Sicht des Regimes aus politischen Gründen unerwünscht. Der junge Vikar Koch mit seinen schon zu Studienzeiten angeknüpften internationalen Kontakten war der eigentliche Inspirator, Weißler hatte sich auf Kochs Anfrage hin angeschlossen, der nicht wirklich kirchennahe Tillich, in prekären Verhältnissen lebend, kam zuletzt und vornehmlich aus Geldgründen hinzu. Einen Auftrag von Seiten der BK-Spitzengremien gab es für Koch oder Weißler nicht. Im Gegenteil: die BK-Kirchenleitung wünschte ausdrücklich einen solchen Informationsdienst nicht, um nicht Zweifel an ihrer nationalen Zuverlässigkeit aufkommen zu lassen. Im Zusammenhang dieser Verbindung kam es auch zur Herausgabe einer Frühfassung der Denkschrift durch Weißler an Tillich. Erwiesenermaßen reichte Tillich diese Fassung an internationale Presseleute weiter. Allerdings entsprach die in der Presse erschienene Endfassung der Denkschrift nicht exakt der Weißler-Tillich-­Version. Darauf berief sich Weißler immer wieder: es sei nicht die von ihm weitergereichte Version gewesen, die in der Presse erschien. So blieb für die Gestapo die Frage offen, ob die politisch unerwünschte Indiskretion tatsächlich über diesen Kanal zustande kam. Zugleich hatte sich inzwischen herausgestellt, dass die Denkschrift auch über andere Kontakte (zum Beispiel die Verbindungen des Ex-Pfarrers Kötzschke) ins Ausland gelangt war. Gestapo und NS -Justizorgane berieten zu diesem Zeitpunkt, ob die ermittelten Sachverhalte ­hinreichend wären, um Anklage gegen die Inhaftierten zu erheben. Offenbar neigte man dahin, wegen mangelnder Erfolgsaussichten (oder aus anderen Gründen) auf die Einleitung eines Gerichtsverfahrens zu verzichten. Da sich keine weiteren Erkenntnisse aus den Vernehmungen ergaben und man kurz vor Weihnachten stand, erwarteten die Inhaftierten gegen Ende Dezember 1936 ihre baldige Freilassung. Wie reagierte die Bekennende Kirche in dem Moment, als zwei ihrer Mitglieder in Gestapohaft gelangten? Schon im August und – 159 –

September hatte es von BK-Seite Kontakte zur Reichskanzlei und Justizminister Gürtner gegeben, verbunden mit der Bitte, die peinliche Indiskretion durch staatliche Organe aufklären zu lassen. Auch gab es ein Schreiben der Kirchenleitung unmittelbar an die Gestapo gerichtet mit der Bitte, Ermittlungen in dieser Sache aufzunehmen.27 Bei internen Untersuchungen waren die BK-Spitzengremien zu keinen klaren Ergebnissen gelangt. Aber seit Oktober rückten immer mehr Kirchenmänner in den Leitungsorganen von Weißler ab. Während einer Besprechung am 14. Oktober in den Räumen der Kirchen­leitung kritisierten Niemöller und Asmussen die fehlende Information zum »Fall Weißler« scharf und erklärten, eine weitere Beschäftigung des Büroleiters sei »schlechthin unmöglich«. Der Reichsbruderrat diskutierte am 29. Oktober über den Konflikt, wobei eine entschiedene Distanznahme gegenüber ­ Weißler überwog. Vielfach war die Rede von »Vertrauensbruch« und von Missbrauch seiner Stellung als Büroleiter. Für entschiedene Distanzierung plädierten maßgebliche Führungspersonen, so der westfälische Präses Karl Koch, Martin Niemöller, Hans Asmussen und Gerhard Jacobi, während die VKL -Mitglieder Fritz Müller und Hans Böhm eher eine verhalten solidarische Position einnahmen. Von ­Niemöller sind harte Sätze wie die folgenden überliefert: »Gegen Weißler muß sofort ein klarer Strich gezogen werden. Wir müssen sauber und klar handeln, das sind wir der BK schuldig.«28 In einer gemeinsamen Erklärung vom 21. November 1936 stellten Präses Koch und Pfarrer Müller für die BK fest: Gerüchte, wonach die »verantwortlichen Männer der Vorläufigen Leitung« an der Veröffentlichung der Denkschrift i­rgendwie beteiligt gewesen seien, würden zurückgewiesen. »Die Vorläufige Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche hat ein ihr zugegangenes Belegstück der Auslandsveröffentlichung unverzüglich der Staatspolizeistelle Berlin mit der Bitte um Ermittlung des Schuldigen übersandt.« Bis auf den heutigen Tag wisse die Leitung nicht, wie die Denkschrift an die Öffentlichkeit gelangen konnte. »Sollte sich die Schuld eines Angestellten der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche ergeben, so könnte die Veröffentlichung nur auf einem Vertrauensbruch beruhen.«29 In einem Schreiben an Reichsführer- SS Heinrich – 160 –

Himmler vom 4. Februar 1937 – die Inhaftierten saßen zu diesem Zeitpunkt noch im Polizeigefängnis Alexanderplatz – bat die Kirchenleitung um Akteneinsicht, um zu einer restlosen Aufklärung des Falls beizutragen. Man habe Weißlers bisheriger Erklärung geglaubt, dass er mit der Indiskretion nichts zu tun habe. Zudem habe Weißler, so heißt es distanzierend weiter, »niemals in einem mit Gehalt verbundenen festen Anstellungsverhältnis zur VKL gestanden, sondern nur die Büroleitung gegen ein mäßiges Auslagenpauschale gehabt.«30 * Während der viermonatigen Haftzeit im Polizeigefängnis am Alexan­ derplatz entwickelte sich ein intensiver Briefwechsel zwischen der Weißler-Familie in der Charlottenburger Meiningenallee und dem inhaf­tierten Sohn, Ehemann und Vater.31 Zwei Tage nach der Verhaftung, am 9. Oktober, schrieb Johanna Weißler erstmals an ihren Mann:32 »Lieber Fritz, die Nachtsachen, die ich heute morgen dort abgab, hast du gewiß erhalten. Ich hätte dir gern einen Gruß mit ein­gelegt, aber es war nicht erlaubt. Lesestoff u. Schreibsachen ständen dort zur Verfügung, meinte der Beamte, ebenso könntest du dir wohl dort Mittel geben lassen vom Arzt, denn die Schmerzen plagen dich gewiß wieder Tag u. Nacht. […] Hänschen brachte eine gute Zensur nach Hause: außer im Gesang eine 3! lauter Zweien. Aufmerksamkeit sehr gut. Ulrichs lautet gut u. genügend. ›Sein ­Betragen ist einwandfrei, er ist fleißig und zuverlässig. Er arbeitet still, doch eindringlich mit.‹ So lautet seine Charakterisierung.« Wo solle sie nun das Wirtschaftsgeld herbekommen? – sorgte sich Johanna Weißler wenige Tage später im zweiten Brief an ihren inhaftierten Mann: morgen sei die Halbmonatsmiete zu zahlen, und die Kinder bräuchten Winterkleidung. Auch benötige sie dringend eine Vollmacht, um über das Postscheckkonto verfügen zu können. Wir alle hier zu Hause hoffen, heißt es in diesem Brief vom 14. Oktober, – 161 –

auf deine tägliche Rückkehr.33 Weißlers erstes Lebenszeichen aus dem Gefängnis datiert von Dienstag dem 13. Oktober. Der Dienstag war »Schreibetag« im Gefängnis und nur einmal pro Woche durfte geschrieben werden. In der Regel benötigten die Gefängnisbriefe etwa eine Woche, bis sie ihr Ziel erreichten, und mindestens ebenso lange dauerten die Verzögerungen, bis Nachrichten von draußen bei Weißler im Gefängnis ankamen. »Endlich darf ich Euch schreiben. Es ist sehr hart für Euch, gar nichts von mir zu erfahren. Ich bekomme doch wenigstens Eure stummen Liebeszeichen: die Wäsche. – Also zunächst: Körperlich geht es mir gut. Kaum eine Spur von Rheuma noch. Auch der ­Magen ist in Ordnung, trotz des ungewohnten Essens. Die Behandlung lässt nichts zu wünschen übrig. Seelisch ist die Lage natürlich viel schwerer. Aber Gott hat mir bisher Kraft gegeben und wird es auch weiter tun.« Er habe am Samstag an Rechtsanwalt Horst Holstein schreiben dürfen. Wende Dich an ihn, empfiehlt er seiner Frau, für Rat und Beistand. Und wie, so fragt er besorgt, habe nur seine Mutter diesen »neuen Schlag« aufgenommen? Statt einer katholischen Bibel, die er am Samstag bekommen habe, wünsche er eine Lutherbibel. »Die Kinder haben doch die Wahrheit über mich erfahren? Traurige Ferien für sie. Ich darf nicht mehr schreiben, um die Beamten nicht zu überlasten, die den Brief prüfen.«34 Trotz penibler Briefkontrolle durch Gefängnisbeamte erfahren wir eine Menge über die Befindlichkeiten der Familie während dieser schweren Zeit. Es gab eine ganze Reihe von Tabuthemen, über die nicht geschrieben werden durfte: über den »Fall Weißler« selbst, über die Mitgefangenen Werner Koch und Ernst Tillich, und erst recht nicht über kirchenpolitische oder allgemeinpolitische Themen. Erlaubt waren Privates und Familiensachen, gesundheitliche Befindlichkeiten, Glaubensdinge. Eine ganz prominente Rolle im Austausch spielen die Kinder: Schule, Freizeit, Spiele und alles, was sonst über sie zu berichten war. Davon zeugen auch etliche Kinderbriefe der Söhne Ulrich (11 Jahre) und Johannes (8 Jahre), die den – 162 –

Johanna Weißler an ihren inhaftierten Ehemann (Nov. 1936)

sorgenvollen Zeilen der Frau und Weißlers Mutter beigelegt sind. ­Ulrich, der Ältere, habe kaum noch Zeit übrig für Spiele: Schulunterricht, Klavierstunden, Latein lernen mit Onkel Ernst, dem Bruder des Inhaftierten, Besuch kirchlicher Jugendkreise und Freizeiten. Der Jüngere, Johannes, spielt viel mit der elektrischen Eisenbahn. Vor Weihnachten schläft er mit dem Märklin-Katalog im Bett und erträumt sich allerhand Geschenke: Schienen, Wagen, Weichen, Signalstangen. Den Kindern war nicht völlig bewusst, wo der Vater sich aufhielt und warum er nun so lange fort war. Sie ahnten sicher, dass es etwas Schlimmes sein müsse. Der Vater sei jetzt fortgekommen und könne nicht zu Hause sein – etwa so dürfte die Sache ihnen erklärt worden sein. Einmal beschrieb der Vater den Kindern seinen neuen Aufenthaltsort, eine bemerkenswerte Schilderung, die in voller Länge zitiert sei:35 »Nun will ich Euch erzählen, wie ich wohne. In dem Raum steht ein Bett, ein Schemel und ein Klosett – das ist alles. Das Bett muß also als Tisch dienen zum Essen, Schreiben usw. An der Wand hängt ein kleines offenes Regal zum Abstellen des Eßnapfes, des – 163 –

Bechers, Seife, Bürsten u. dergl. Unten an dem Regal sind Holzpflöcke, an denen man Kleider und Handtücher aufhängt. Das Fenster ist etwa 2 m über dem Boden, so dass man nicht hinaussehen kann. Zu öffnen ist nur die oberste Klappe mit einer Stange, die daran hängt. Durch das Fenster sehe ich zum Glück nur Himmel, keine Steinmauern. Ich wohne nämlich 4 Treppen hoch und habe dadurch auch viel Sonne, jetzt schon von 9 Uhr an. Die Lampe an der Decke wird von außen an- und zugeknipst. Bei Nacht kommt manchmal ein Aufseher, knipst an und guckt durch das Guckloch – wie bei uns in der Korridortür –, ob ich auch da bin. Spaßig, nicht? Nun wißt Ihr aber genau, wie ich wohne. Wenn Ihr mir wieder schreiben sollt und gerade keine Lust habt, so denkt daran, was Ihr mir damit für Freude macht und daß ich natürlich auch ›keine Lust‹ habe, hier zu wohnen. Aber wann ich wiederkommen darf, ist leider ganz ungewiß. Gott wird mich schon zur rechten Zeit nach Hause bringen. Er behüte Euch bis dahin! Euer Vati.« Körperliche und seelische Befindlichkeiten spielen im Briefwechsel eine große Rolle: Sorgen über den fragilen Gesundheitszustand des Inhaftierten, über Schmerzen, Ernährungsfragen, Arzneien und ärztliche Betreuung. Natürlich war der Gefängnisalltag mit allen seinen Einschränkungen und Härten für den extrem sensiblen Weißler ein schweres, bitteres Los. Er hat Magenschmerzen. Zeitweilig erhält er Diät anstelle grober Gefängniskost. Bohnen, Linsen, Erbsen – er verträgt die alltäglichen Hülsenfrüchte nicht gut. Das Rheuma macht sich wieder bemerkbar, besonders in beiden Armen. Nachts, so klagt er wiederholt, sei es empfindlich kalt, es ziehe vom Fenster her. Zusätzliche warme Kleidung soll helfen, warme Decken, ein Katzenfell. Hin und wieder stellt sich Herzrasen ein oder Schlaflosigkeit. Bei Einzahlung in die Gefängniskasse kann dem Gefangenen Zusatznahrung bereitgestellt werden, so gibt es zeitweilig Weißbrot statt Kommissbrot.36 Und die Zeit – was anfangen mit so viel Zeit? Hauptlektüre in der Zelle ist die Bibel, das Neue Testament, dazu kommt ein kirchliches – 164 –

Gesangbuch. Fast jeder Brief, der hinausgeht, enthält Hinweise auf ausgewählte Bibelstellen, die unbedingt zu lesen seien, Hinweise auf Lieder, die zu singen seien. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt auch ein chiffrierter Modus der Kommunikation. Weißler kann so indirekt seinen Angehörigen etwas sagen, was direkt nicht geschrieben werden darf. Die Prüfbeamten im Polizeigefängnis schlagen gewiss nicht sämtliche angegebenen Bibelstellen nach. Den Himmel, das Wetter, den Gang der Sonne kann er beobachten durch sein in zwei Metern Höhe eingelassenes Zellenfenster, das gewiss auch vergittert ist. Er erwähnt Turmuhren, deren Schlag er manchmal hören könne, besonders nachts, in der Nähe des Alexanderplatzes; aber nur bei Westwind, nicht jedoch bei Ostwind. Was Weißler hörte, könnten die Turmuhren der nahe gelegenen Marienkirche oder der Nikolaikirche gewesen sein. Und hin und wieder dringe Musik zu ihm in die Zelle. Das müsste, vermutet er, die Musikkapelle der Polizei sein, sie habe hier irgendwo Proberäume und übe ihre Melodien ein. Sie spielten die »üblichen Biergartensachen, Märsche, Potpourris, viel Wagner, sogar Parsifal!«37 Zuspruch von Freunden: Ja, es gibt noch Freunde, aber im Ganzen machen sie sich doch eher rar. Am meisten kümmert sich um den inhaftierten »Bruder Weißler« der junge Hilfspastor Franz­ Hildebrandt, zu dieser Zeit noch in Dahlem als Geschäftsführer des Pfarrernotbunds bei Niemöller tätig. Auch der reformierte Pfarrer Friedrich Middendorff, ein Mitunterzeichner der Denkschrift an Hitler, lässt gelegentlich grüßen. Hildebrandt, der selbst einen teilweise »nichtarischen« Familienhintergrund hat, sucht wiederholt die Familie in Charlottenburg auf, spricht, tröstet, hilft. Auch ­darüber hinaus, so berichtet die Ehefrau, gebe es Zuspruch und Nachfrage: »die Damen« aus dem VKL -Büro, das jetzt nach D ­ ahlem ins ­ Burkhardthaus umgezogen sei, hätten sich nach ihm erkundigt; ebenso der »Herr Geheimrath« (vermutlich Landgerichtsdirektor a. D. Fritz Günther). Einige weitere Personen werden in den Briefen nur mit ihren Initialen erwähnt. Weißler selbst erhält zwei oder drei Mal Grußkarten von Pfarrer Friedrich Middendorff im Gefängnis, aber sonst sei, so vermerkt er einmal nicht ohne Enttäuschung, von draußen nichts gekommen.38 – 165 –

Die Gefängnisbriefe gewähren tiefe Einblicke in die Frömmigkeit einer christlichen Familie. Johanna Weißler besucht während dieser schweren Wochen, zusammen mit dem älteren Sohn Ulrich, Gottesdienste in der nahe gelegenen Heerstraßenkirche; einmal ist sie in der Charlottenburger Epiphanienkirche, als ein neuer BK-Pfarrer eingeführt wird. Häufiger fährt sie nach Dahlem, wo sie Predigten von Pastor Hildebrandt und ein oder zwei Mal von Niemöller hört, von dessen scharfer Rede gegen den VKL -Bürochef sie natürlich nichts weiß. Weißlers Briefe aus dem Gefängnis zeugen von tiefer Gläubigkeit. Fast in jedem Brief sind Bibelstellen und Gesangbuchlieder für die Angehörigen notiert, die »zu Hause« nachzulesen und zu singen seien. Gleich im ersten Brief schreibt er: »Seit Sonnabend habe ich eine Bibel. Bitte lest auch fleißig darin, besonders Hebr. 12, 6–11 u. 13, 18, 19.« Wer dort nachschlägt, wird finden (Vers 6): »Denn wen der Herr liebhat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt.«39 Weißler deutete seine beruflichen und sozialen Diskriminierungen seit 1933 als göttliche Zeichen, die ihn in seiner christlichen Glaubensgewissheit eher bestärkten statt verunsicherten. Sämtliche Negativerfahrungen seit seiner entwürdigenden Berufsentlassung als Landgerichtsdirektor in Magdeburg im Frühjahr 1933 intensivierten seinen christlichen Glauben innerhalb weniger Jahre – ein Glaube, der sich über eine lange Wegstrecke von Jahrzehnten vorbereitet und immer wieder auch Schwankungen gezeigt hatte. Seine Gefängnisbriefe von Oktober 1936 bis Februar 1937 – es sind die letzten Wortmeldungen, die von ihm existieren – sind erfüllt von einer überschießenden, bisweilen hoch euphorisierten Glaubensgewissheit. Besonders die Weihnachtsbriefe 1936–37 sind davon geprägt. Am 29. Dezember berichtet er, wie es ihm zu Weihnachten ergangen sei. Die Weihnachtstage habe er wider Erwarten – trotz der großen Enttäuschung über die Fortdauer der Haft – »sehr schön verlebt«: »Das Christkind kam auch bei mir, ›nur‹ im Geiste natürlich, aber Gott ist ja Geist, u. das Christkind kommt lieber in Niedrigkeit als in Pracht. Christbaum, Geschenke und Leckereien habe ich gar nicht vermisst, nur Euch, denen ich so gerne von meiner inneren Fülle abzugeben hätte. Auch hatte ich deinen lieben Advents– 166 –

zweig, der jetzt am Kopfende des Bettes prangt. Am 1. Feiertag war ich sogar im Gottesdienst, wo auch ein brennender Baum war. Sonst habe ich die Feiertage viel im Bett gelegen, Heil. Abend aber nicht. Sicher wart Ihr viel trauriger als ich. Mir ist eben ein Wunder begegnet.« Als Marginalie findet sich in diesem Weihnachtsbrief am Rande die Mitteilung: »Für den Magen nehme ich noch Gastronida.«. Und an anderer Stelle die Randnotiz: »Ich brauche Schnürbänder u. Schuhkreme. Ulrich soll mehr lesen!«40 In noch gesteigertem Maße euphorisiert wirkt Weißlers Brief vom 12. Januar 1937. Am rechten oberen Rand des ersten Blattes, über dem Datum, findet sich als Frage und Ausruf zugleich die Marginalie: »Meine Hand zittert – vor Freude?!« »Meine Liebe!! Schreibetag – Freudentag. Tagelang freue ich mich darauf u. überlege genau, was ich schreiben soll. Ich bin so voll Dankes gegen Ihn u. gegen Dich für alles, was Du schreibst u. mir tust, u. kann ihm nicht Worte geben. Das ist wohl meine größte Not jetzt. […] Eine besonders große Freude war mir Dein Brief v. 30., den ich am 5. gleich nach Deinem Besuch erhielt. Du schreibst darin, wie reich u. glücklich Du Dich innerlich fühlst. Darum habe ich so viel gebetet, daß Sein Segen nicht bloß mir zuteil würde, sondern auch Euch. Ich bin erhört! Lob u. Preis für Ihn! […] Mir geht es seelisch sehr gut, leiblich ausreichend.« Der Brief schildert sodann in großer Ausführlichkeit die schwierigen Haftbedingungen: Magen, Verdauung, Ernährung; die nächtliche Kühle in der Zelle (»Natürlich kommt Katzenfell u. Strickjacke nicht mehr vom Leibe«), die Wärmflasche, hin und wieder wärmender Sonnenschein in der Zelle, Wanzen.41 Die staatspolizeilichen Vernehmungen der drei Hauptgefangenen Weißler, Tillich und Koch hatten sich bereits im Laufe des Dezembers erschöpft. Weißler und seine Mitgefangenen rechneten wohl mit Freilassung, vielleicht Amnestie zu Weihnachten. Aber die blieb aus. Im Januar 1937 gab es keine weiteren Vernehmungen mehr. Man – 167 –

­ artete auf eine Entscheidung. Offenbar berieten Gestapo, Justizw ministerium und andere Stellen mehrere Wochen lang, wie denn nun im »Fall Weißler« weiter zu verfahren sei. Es gab unter den Bedingungen des NS -Regimes drei Möglichkeiten: eine Anklage erheben mit dem Ziel einer Gerichtsverhandlung; Freilassen der »Schutzhäftlinge« wegen geringer Erfolgsaussichten vor Gericht; oder, drittens, Überweisung der Gefangenen in ein Lager. Aus Weißlers Gefängnisbrief vom 9. Februar ist zu ersehen, dass er an diesem Tag von einer Entscheidung, die vielleicht schon gefallen war, noch nichts wusste. Am Vortag hatte er seine Frau noch einmal sprechen können. Es war ihr letztes Zusammentreffen. Weißlers Brief vom 10. Februar enthielt dann die furchtbare Nachricht – Konzentrationslager. »Ich komme nun doch noch ins Lager! Wann, wohin und auf wie lange, ist unbekannt. […] Gestern wurden wir auf Lagerfähigkeit untersucht. Mein Herz fand der Arzt bei allerdings flüchtiger Untersuchung gesund. Schwere körperliche Arbeit käme für mich nicht in Betracht, sagte er, nur Büroarbeit. Auch meine RheumaAnfälligkeit soll berücksichtigt werden. […] Arme Frau, arme Mutter, arme Kinder! Gott wird Euch trösten, ich kann es nicht. Lest Ps. 27. Ich habe wunderbare Ruhe u. Kraft gestern erhalten. Denn ich weiß, dass der Herr auch dort täglich mir helfen wird, wie Er es bisher hier so wunderbar getan hat.« Weißler bittet seine Frau, demnächst seine sämtlichen Habseligkei­ ten vom Polizeigefängnis abzuholen. Bücher und andere Dinge werde er nicht mitnehmen können. Eine Jacke, den »blauen Rock«, müsse er allerdings dabehalten, da er ihn noch für die »Reise« brauche, und auch das Katzenfell sei ihm unentbehrlich. Seltsamerweise empfindet er sogar eine Art von Erleichterung: Es sei ihm eine »Erlösung«, aus der Öde und Ungewissheit im Polizeigefängnis befreit zu werden. Dort, also im Lager, so meint er, werde er doch wenigstens eine tägliche Arbeit haben. Weißler schreibt diesen letzten Brief am Mittwoch, den 10. Februar 1937. Am darauf folgenden Samstag werden die drei »Schützhäftlinge« Weißler, Koch und Tillich nach Sachsenhausen überführt.42 – 168 –

siebtes kapitel Tod in Sachsenhausen Am Montag den 15. Februar 1937 machte Johanna Weißler sich auf den Weg zum Polizeigefängnis Alexanderplatz, um frische Wäsche für ihren Mann abzugeben. Dort angekommen, erfuhr sie bei dieser Gelegenheit eher zufällig: der Häftling Weißler sei doch gar nicht mehr anwesend, sondern »ins Lager« gekommen. Die Überführung in das Konzentrationslager Sachsenhausen hatte bereits am Samstag stattgefunden, ohne dass Weißlers Angehörige davon Kenntnis erhielten. Am Tag darauf, es war Dienstag früh, fuhr J­ohanna ­Weißler spontan zum Lager Sachsenhausen, um sich nach ihrem stark durch Rheuma gefährdeten Mann zu erkundigen und wärmende Sachen für ihn abzugeben. Aber schon am Eingangstor wurde sie zurückgewiesen: Es gebe hier keinen Zutritt für unangemeldete Besucher. Auch würden keine Gegenstände für Häftlinge entgegengenommen. Sie müsse die Sachen, so wurde ihr mitgeteilt, mit der Post schicken. Nach Berlin zurückgekehrt, packte sie sofort eine Sendung an ihren Mann zusammen. Der beiliegende Brief ist adressiert: »Herrn Dr. Friedrich Weißler, K.-L. Lager, Sachsenhausen«. Es ist nicht wahrscheinlich, dass ihr Mann diese Sendung überhaupt noch zu sehen bekam. Im Brief erkundigte sie sich nach den für das Lager geltenden Sprech- und Schreibmöglichkeiten. Voller Sorge befragte sie ihren inhaftierten Mann nach seinem Befinden, nach Herz, Magen und vor allem nach seinem Rheuma. Auch hatte sie das Katzenfell mit eingepackt, das sich im Polizeigefängnis am Alexanderplatz bewährt hatte. Das private Kassenbuch führe sie einstweilen »aus Rücksicht auf Deine Sauberkeit und Ordnung« nicht weiter. Sie meinte, er könne ja später alles nachtragen, denn sie hebe alle Belege sorgfältig auf. »Von der Braut« – das heißt von Gerritdina ­Stokman, der Verlobten seines Mithäftlings Werner Koch – habe sie gestern einen Brief erhalten. »Die Braut« lasse ihn und ihren – 169 –

­ erlobten sehr herzlich grüßen. Johanna Weißler fragte schließlich, V ob sie ihre Zahnarztrechnung – »lediglich Reparaturen« – bei der Kasse zwecks Rückerstattung einschicken solle? Oder sei das zwecklos geworden inzwischen, da sie ohnehin »für nichts« zahlen werde? Und was solle mit den abonnierten Zeitschriften geschehen, erkundigte sie sich bei ihrem Mann – wäre es nicht vielleicht besser, diese jetzt abzubestellen?1 In seinen Lebenserinnerungen (1982) hat Weißlers Mithäftling Werner Koch die Überführung vom Polizeigefängnis Alexanderplatz in das Konzentrationslager Sachsenhausen im Detail geschildert:2 »Der 13. Februar 1937 ist ein strahlend schöner, wenn auch kalter Wintertag. Im Innenhof des ›Alex‹ besteigen wir vormittags gegen zehn Uhr zu dreizehn Mann die berüchtigte ›grüne Minna‹, einen jener kleinen vergitterten Gefängniswagen, mit denen in aller Welt Gefangene transportiert werden. Zwei SS -Soldaten ­nehmen vorne neben dem Fahrer Platz. Sie verbieten uns, miteinander zu sprechen. Schweigend fahren wir durch die winterliche Stadt. Auf den Bürgersteigen überall verschmutzte Schneehaufen. Nach einer knappen halben Stunde sind wir auf offener Landstraße. Wir fahren nordwärts in Richtung Rostock. Dann biegt der Wagen rechts ab. Durch das kleine Gitterfenster sehen wir einen Wegweiser: Oranienburg. Ein Stück märkischer Kiefernwald. Wieder Häuser, schmutzig und grau. Da stehen an der Straße die ersten SS -Posten mit geschultertem Gewehr; etwa alle 50 m ein Mann. Wir nähern uns dem Lagerbereich. Ein paar SS -Kasernen. Wir durchfahren das Tor, über dem wir in großen Buchstaben die Verheißung lesen: ARBEIT MACHT FREI . – ›Hier haben wir wenigstens frische Luft‹, flüstert Weißler mir zu. Mit einem Ruck hält der Wagen vor Turm A, dem Kommandantur­gebäude mit dem kleinen Turmaufbau, unter dem sich der Tor­bogen befindet.« Über die weitere Behandlung der Neuankömmlinge berichtet Koch aus der Erinnerung: der Größe nach mussten die Männer in einer Reihe auf dem Appellplatz antreten; ein aggressiver Aufseher trat scharf an jeden Mann heran und befragte ihn aufdringlich: Warum – 170 –

bist Du hier? Es setzte Ohrfeigen, Schläge, Stöße mit dem Gewehrkolben in den Rücken. Am schlimmsten sei es dem »kleinen, schmächtigen Weißler« ergangen. Auf der Transportliste habe ein Vermerk gestanden, dass er »Jude« sei. In der Effektenkammer mussten die Neuankömmlinge alle Privatsachen abgeben. Jeder erhielt Häftlingskleidung, einen dreieckigen »roten Winkel« und ein Stück Stoff mit der Häftlingsnummer. Sämtliche Gefangenen wurden anschließend kahl geschoren. Trotz alledem, so die Erinnerung des Mithäftlings Koch, »flüstert Weißler mir zu: ›Das ist ja noch einmal ziemlich gnädig abgegangen!‹ Dies sind die letzten Worte, die ich von ihm höre, denn plötzlich kommt ein SS -Mann und führt ihn ab in den Zellenbau, den die Häftlinge den Bunker nennen.«3 Ernst Tillich und Werner Koch wurden in den »Block 7« verlegt, wo sie mit rund 180 Mann in einer Baracke untergebracht waren. Sie waren zu einer »Strafkompanie« abkommandiert, wo sie zu schweren Erdarbeiten eingesetzt wurden.4 Friedrich Weißler wurde separiert und im so genannten Zellenbau (»Bunker«) in einer Einzelzelle untergebracht. Dies war eine Anordnung des Lagerkommandanten SS -Obersturmbannführer Karl Koch. Als Gründe machte er, im Rahmen einer späteren Untersuchung, geltend: »Weißler hätte als Jude entsprechend einer kurz zuvor ergangenen Anordnung des Reichsführer SS . und Chefs der deutschen Polizei nicht nach Sachsenhausen gebracht werden dürfen, sondern hätte nach Dachau überführt werden müssen, da nach der erwähnten Anordnung jüdische Häftlinge grundsätzlich nach Dachau kommen sollen. Es sei also damit zu rechnen gewesen, dass Weißler demnächst nach Dachau überführt werden würde. Weiterhin war für die Verlegung in den Zellenbau maßgeblich der Umstand, dass Weißler von dem Oberstarzt der Landespolizei Dr. Rauschling nur als für leichte Arbeiten genügend bezeichnet worden war.«5 Der Zellenbau war ein besonderes, etwas abseits vom anderen Lager liegendes Gebäude. Es war mit Einzelzellen »nach Art eines Gefängnisses eingerichtet«. Weißler war im B-Gang dieses Gebäudes in der Zelle Nr. 60 untergebracht. Über die Einrichtung der Zelle Nr. 60 wird berichtet: »An den Längswänden stehen mit den Kopfenden zum Fenster rechts und links vom Eingang je 1 Bett. Während des Aufenthaltes des Weißler – 171 –

Lagerkommandant Karl Koch vor dem Zellenbau im KZ Sachsenhausen

in der Zelle war nur das eine, links vom Eingang stehende Bett mit diesem belegt. Es handelt sich um eiserne Militärbettstellen. Weiterhin befand sich in der Zelle ein kleiner hölzerner Tisch mit einem hölzernen Schemel, ein an der Wand angebrachtes Regal und ein Heizkörper.«6 In dieser Zelle Nr. 60 im Gang B des Zellenbaus im Lager Sachsenhausen hat Friedrich Weißler die letzten sechs Tage und Nächte seines Lebens zubringen müssen. Ein zuverlässiger Augenzeuge, der bekunden könnte, was genau während dieser Tage und Nächte mit ihm geschah, existiert nicht. Begegnungen Weißlers mit Mitgefangenen hat es seit seiner Einlieferung ins Lager am Samstag offenbar nicht mehr gegeben. An der allen Häftlingen des Zellenbaus täglich zustehenden »Freistunde«, die durch Spaziergang auf einem Platz neben dem Zellenbau zu verbringen war, habe Weißler – so wird berichtet – nicht teilgenommen. Als der im Zellenbau diensthabende SS Oberscharführer Paul Zeidler am 19. Februar gegen 6 Uhr morgens die Häftlinge weckte und auch die Tür zur Zelle Nr. 60 öffnete, habe er Weißler leblos auf dem Boden liegend vorgefunden und d ­ arauf­ – 172 –

hin sofort telefonisch den Lagerarzt, SS -Hauptsturmführer Dr. Karl Heinz Schröder, und den Lagerkommandanten Koch benachrichtigt. Der promovierte (und sogar habilitierte) Arzt hielt nach Untersuchung der Leiche seinen Befund in einem Bericht fest, worin es heißt: der Tod des Häftlings sei »›durch Abschnürung des Halses entweder durch Erstickung oder durch Abschnürung der Halsschlagadern in der Weise erfolgt (…), dass Weißler sich selber wahrscheinlich mit dem Taschentuch im Stehen den Hals zugeschnürt und dann nach Verlust des Bewusstseins auf das Gesicht gefallen sei‹.«7 Die Nachricht vom Tode Weißlers verbreitete sich bereits einen Tag später in Kreisen der Bekennenden Kirche. Landgerichtsdirektor i. R. Fritz Günther – er war als juristischer Experte an den Denkschriftberatungen beteiligt gewesen und kannte Friedrich Weißler persönlich – erhielt am Samstagvormittag (20. Februar) einen Anruf des VKL -Mitarbeiters Dr. Heinrich Schmidt, der ihm die Todesnachricht übermittelte.8 Um die Mittagszeit habe ihn Schmidt in seiner Wohnung aufgesucht und das Nähere mitgeteilt: Demnach hätten am Freitag­abend »2 Herren der Staatspolizeistelle Berlin« den Pfarrer Adolf Lichtenstein von der Charlottenburger Epiphaniengemeinde unterrichtet und ihn gebeten, die Todesnachricht der Familie Weißler zu überbringen. Die Wohnadresse Weißlers kannte die Gestapo sehr gut, denn sie hatte ihn vor vier Monaten aus seiner Wohnung heraus »in Schutzhaft« genommen. Nun entledigte sie sich dieser Aufgabe, indem sie einen Pfarrer aus der Epiphaniengemeinde einschaltete, jener Kirchengemeinde, in deren Parochie die Weißlers wohnten. Vielleicht noch am Freitagabend, spätestens am Samstagvormittag überbrachte Pfarrer Lichtenstein der Familie in der Meiningenallee die furchtbare Nachricht.9 Landgerichtsdirektor Günther rief am Samstagmittag sofort die Staatspolizeistelle Berlin an, um nähere Informationen zu erfragen. Ludwig Chantré – jener Gestapobeamte, der die Polizeiuntersuchung gegen Weißler geleitet hatte – teilte ihm mit, Weißler habe sich in seiner Zelle »erhängt«. Das sei einwandfrei festgestellt, erklärte er auf Nachfrage.10 Am Montagmorgen (22. Februar) traten die Spitzengremien der Bekennenden Kirche (2. VKL und Rat der DEK) zu einer Sitzung in Dahlem zusammen. Im Zentrum der Besprechungen stand die – 173 –

­Angelegenheit Weißler«. Zur Mittagszeit erschien der im Hause » arbeitende Jurist Dr. Schmidt in der Sitzung und berichtete über einen Anruf Johanna Weißlers: Sie habe soeben von der Gestapo die telefonische Mitteilung erhalten, dass sich die Leiche ihres Mannes im Kreiskrankenhaus Oranienburg befinde. Falls sie ihren Mann noch sehen wolle, müsse sie bis 14 Uhr im Krankenhaus sein. Frau Weißler, so berichtet Schmidt, habe darum gebeten, dass »irgend ein Herr« von der Kirchenleitung sie auf dieser Fahrt begleiten möchte. Die Sitzung entsandte Superintendent Martin Albertz und Landgerichtsdirektor Günther umgehend mit dem Taxi, um die Ehefrau abzuholen und nach Oranienburg zu fahren. Pünktlich um 14 Uhr trafen sie am Kreiskrankenhaus Oranienburg ein. Im Empfangsraum wurde ihnen mitgeteilt, dass eine Obduktion angeordnet sei und dass ausschließlich die Ehefrau die Leiche sehen dürfe. Während Johanna Weißler und Superintendent Albertz im Krankenhaus warteten, begab sich Günther auf den Hof, um sich ein wenig umzuhören. Zwei Tage später hat er die dabei gemachten Beobachtungen minutiös aufgezeichnet:11 »Auf dem Hof standen 3 Herren (2 in Zivil, einer in einer SS -Uniform). Alle drei waren jüngere Herrn; an den Schmissen, die alle 3 aufwiesen, waren sie als Akademiker zu erkennen. Ich stellte mich den 3 Herren als ›Landgerichtsdirektor Dr. Günther‹ vor, damit sie wussten, wen sie vor sich hatten. […] Aus dem Gespräch, das ich mit den beiden Zivilisten hatte (der daneben stehende SS Mann beteiligte sich nicht an dem Gespräch) gewann ich den Eindruck, dass ich nicht den [angekündigten] Amtsgerichtsrat, sondern Herren aus dem Konzentrationslager vor mir hatte. […] Ich fragte die beiden Zivilisten im Laufe des Gespräches, warum sie denn eine Obduktion machten, eine Leichenschau müsse doch genügen […] Einer der Zivilisten erwiderte mir darauf, eine Obduktion würde gemacht, ›um ganz sicher zu gehen‹. […] Während dieser Zeit hatte sich eine vierte Person hinzugesellt, welche eine im feldgrauen Ton gehaltene Uniform trug, bartlos war, ein gut aussehendes Gesicht hatte und auf mich den Eindruck machte, als sei es ein früherer Wachtmeister, der wohl jetzt im Konzentrations– 174 –

lager einen Aufsichtsposten habe. Ich stellte mich auch diesem Mann in gleicher Weise vor. Er hatte wohl den letzten Teil unseres Gespräches mit angehört und erklärte in höflichem, aber bestimmtem Ton, der Reichsführer SS habe befohlen, dass nur die Witwe selbst die Leiche sehen dürfe.« Kurz darauf sei Johanna Weißler durch einen Krankenwärter zu einem anderen Haus geführt worden, in dem sich die Leiche befand. Albertz und Günther warteten vor diesem Haus. Nach wenigen Minuten erschien die Witwe wieder. »Wir bestiegen die Autodroschke und fuhren nach der Wohnung von Frau Weißler zurück. Wir sprachen unterwegs zunächst nichts. Ich saß im Auto neben Frau Weißler und sah ihre schwere innere Bewegung. Nach einiger Zeit fragte ich sie, ob die Züge ihres Mannes einen friedlichen Eindruck gemacht hätten. Sie erwiderte darauf, sie würde uns das Nähere zu Hause erzählen. Wir sind schweigend bis zu ihrer Wohnung gefahren.«12 Sehr zeitnah (24. Februar) hielt Johanna Weißler in einer Aufzeichnung ihre Wahrnehmungen anlässlich dieses Besuchs fest. In dem Raum habe sich neben dem Krankenwärter ein »Herr in Uniform« befunden. Der Wärter habe, als sie erschien, das Tuch, mit dem die Leiche vollständig bedeckt war, bis wenig unter das Kinn zurückgeschlagen, so dass der Kopf und ein Stück des Halses sichtbar wurden. »Das Gesicht war stark geschwollen oder gedunsen, die Augen ¾ geschlossen, Nasenlöcher und die geschlossenen Lippen mit geronnenem Blut verklebt, an der linken Backe ein großer Fleck, ähnlich der Narbe eines Blutschwammes. Oberhalb des Halses sah ich an dieser Seite einen roten Streifen. Haar und Bart waren abgeschoren. Der Kopf wies blau-rote Farbe auf.« Der Krankenwärter habe ihr zugesagt, sie dürfe auch auf die andere Seite hinübertreten. Von jener gegenüber liegenden Seite aus habe sie am Gesicht ihres Mannes nichts Besonderes bemerken können. Sie kehrte dann wieder zurück und habe den Wärter gefragt, ob sie auch die Hand ihres Mannes sehen dürfe. Der Wärter verständigte sich mit dem »Herrn in Uniform«: unbedenklich und Da ist ja nichts dran habe sie hören können. Hand und Unterarm ihres Mannes habe sie unverändert gefunden. Der übrige Körper musste vollständig bedeckt bleiben. Beim – 175 –

Hinausgehen fragte der Wärter, ob sie den Ehering ihres Mannes ­zurück haben wolle. Dieser sei ihr dann später mit den Papieren auch ausgeliefert worden.13 Den Angehörigen der Familie Weißler, ihren Freunden und Bekannten, den Führungsmännern der Bekennenden Kirche in der Kirchenleitung sowie im Rat der DEK war sofort klar, dass es sich im Fall Weißler nicht um Suizid handeln könne. Auch die hyperaktive Umtriebigkeit von NSDAP, SS und Gestapo sprachen eine deutliche Sprache. Dieser Todesfall, der ein hohes Skandalpotenzial in sich barg, sollte unbedingt ohne jede Öffentlichkeit, möglichst stillschweigend beigelegt werden. Die vielfache Präsenz von zivilen und uniformierten Partei- und SS -Männern im Kreiskrankenhaus Oranienburg, die strenge Polizeikontrolle des Umgangs mit der Leiche und weitere Indizien verweisen auf Nervosität des NS -Regimes. Am 23. Februar erhielt Johanna Weißler einen Anruf der Gestapo. Die Geheime Staatspolizei wollte von ihr sämtliche Details der bevorstehenden Beerdigung genauestens wissen:14 Frage Gestapo: Wen haben Sie mit der Überführung der Leiche beauftragt? Antwort Johanna Weißler: Ein Beerdigungsinstitut. Frage: Haben Sie nicht einen Herrn damit beauftragt? Antwort: Nein, ich bin selbst in dem Institut gewesen. Gestapo: So, dann muß ich noch mit Herrn Assessor sprechen. Rückfrage Weißler: Worum handelt es sich denn heute? Gestapo: Wir dachten, Sie hätten die Angelegenheit einem Herrn übergeben. Antwort: Nein. Frage Gestapo: Herr Pfarrer Asmussen wird die Rede halten? Antwort: Ja. Frage Gestapo: Ich höre, der Herr ist weg, verreist? Antwort: Ja. Frage: Aber er wird wohl bis dahin zurück sein? Antwort: Ja.

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Es ist offensichtlich – das NS -Regime und seine Sicherheitsorgane befürchteten, dass die Beerdigung Weißlers zu einer religiösen Zeremonie mit unliebsamen, politisch-demonstrativen Begleiterscheinungen geraten könnte. Die Gestapo hatte den Auftrag, dies unbedingt zu verhindern. Alle Einzelheiten der Beerdigung Weißlers am 25. Februar auf dem Südwestfriedhof in Stahnsdorf unweit von Berlin waren mit strengen Kontrollen und Auflagen versehen: der Sarg war auf polizeiliche Anordnung amtlich verschlossen worden und durfte nicht wieder geöffnet werden; Pfarrer Hans Asmussen, der die Ansprache in der »Holzkirche« auf dem Friedhofsgelände hielt, waren strenge Auflagen erteilt worden. Einige Hundert Personen – Verwandtschaft, Freunde und Bekannte der Familie, zahl­reiche Pfarrer im Ornat und weitere Angehörige der Bekennenden Kirche – waren zur Trauerfeier erschienen. Die Trauergemeinde wurde von Zivilbeamten und von Uniformierten begleitet, deren Aufgabe es war, jeden Ansatz einer politischen Anklage und womöglich des Protests der Trauergemeinde zu unterbinden. Pfarrer Asmussens Totenrede ist dokumentiert.15 Sie macht nicht den Eindruck, dass der lutherische Theologe in dieser angespannten Situation tatsächlich mutig war und bis an die Grenze dessen ging, was zu diesem skandalös kriminellen Todesfall im Konzentrationslager nun doch unbedingt zu sagen war. Seine Predigt begann mit der Lesung des Losungstextes (Jer. 20, 9) und des Lehrtextes (Apg. 4, 20). Während der erste Bibeltext kaum einen Bezug auf die aktuelle Situation erlaubte, hieß es im zweiten immerhin: »Wir könnens ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollten, was wir gesehen und gehört haben.« Dieses Bibelwort hätte sich der Prediger, mit mehr Mut, sehr wohl zu Herzen nehmen können und davon reden sollen, was er »gesehen und gehört« hatte. Es folgte der Gesang »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen«. Sodann trug Pfarrer Asmussen sehr längliche Worte ­Luthers »beim Tode eines Gatten« vor. Anschließend verlas er eine Passage aus der Offenbarung des Johannes (21, 1–8). Hier konnte sich die stumme Trauergemeinde, der gewiss der Mund zugebunden war, den einen oder anderen Vers mit Bezug auf den schmerzlichen Anlass ihres Zusammenseins aneignen: die zitierten Verse der Apokalypse preisen die Rechtgläubigen und ver– 177 –

dammen nicht nur die ­»Ungläubigen«, sondern – ganz wörtlich – auch die »Totschläger« und »Lügner«, denn – so heißt es in der biblischen Vision weiter – sie werden in dem [Höllen-] Pfuhl sein, der mit Feuer und Schwefel brennt. Totschläger und Lügner hatte es bei dem an diesem Tage zu beklagenden Todesfall zuhauf gegeben – das wussten oder ahnten zumindest die meisten Trauergäste. Nach einem abschließenden Gebet folgte noch eine kurze Ansprache am Grab: »So übergeben wir denn unseren Bruder in die gerechten und barmherzigen Hände Gottes, der an seinem Tage das Verborgene richten wird und ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist. Unser Gott ist nicht tot. Er lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Hallelujah.«16 Ein 29 Seiten umfassender Ermittlungsbericht des Generalstaatsan­ walts beim Landgericht Berlin vom 3. Juni 1937 fasst die Ergebnisse der wochenlangen staatsanwaltlichen, gerichtsmedizinischen und polizeilichen Untersuchungen im Todesfall Weißler auf beeindruckend präzise Weise zusammen. Demnach hatte Reichsjustiz­ minister Gürtner diesen Auftrag zur Ermittlung der Todesursache am 14. April erteilt. Ein erstes medizinisches Gutachten, das Privat­ dozent Dr. Wilhelm Hallermann und Dr. Max Meixner vom Institut für gerichtliche Medizin der Universität Berlin im Anschluss an ihre am 22. Februar in Oranienburg durchgeführte Obduktion verfasst hatten, erwies sich als völlig unhaltbar. Sie hatten in ihrem Bericht noch geschlussfolgert, alles spräche dafür, dass sich Weißler in »selbstmörderischer Weise« erhängt habe.17 Ein daraufhin von der Staatsanwaltschaft angeordnetes zweites gerichtsärztliches Gutachten (19. März) kam aufgrund präziser Beschreibungen der schweren Verletzungen Weißlers an Kopf und Gehirn, an Hals und Rachen, an Brust und Rippen sowie an Unterleib und Genitalien zu dem Ergebnis, dass ihm die meisten dieser schweren inneren Verletzungen bereits mehrere Tage vor seinem Tode zugefügt worden sein mussten. Umfangreiche Vernehmungen im Polizeigefängnis Alexanderplatz ergaben darüber hinaus, dass der »Schutzhäftling« Weißler bis zu seiner Überführung nach Sachsenhausen (13. Februar) keine Anzeichen von Misshandlungen oder körperlichen Verletzungen aufgewie– 178 –

sen habe. Dies bestätigten auch Befragungen der Ehefrau sowie der Mutter Weißlers, die ihn bei ihren Besuchen am 8. und am 11. Februar zuletzt gesehen hatten. Die anschließenden Ermittlungen im Konzen­ trations­ lager Sachsenhausen ergaben nach Vernehmungen der im Zellenbau zur fraglichen Zeit diensthabenden Wachmänner bei der Staatsanwaltschaft den »bestimmten Eindruck, dass die dem ­Weißler zugefügten Misshandlungen sich im Konzentrationslager Sachsenhausen zugetragen haben.« Insbesondere hätten die bisherigen Aussagen der SS -Scharführer Christian Guthardt, Paul Zeidler, Kaspar Drexl und Fritz Nordbrink nicht den Eindruck der Glaubwürdigkeit erweckt. Gleiches gelte auch für das Verhalten des Lagerarztes SS -Hauptsturmführer Dr. Schröder. »Insbesondere war Schröder in seinen Aussagen so unsicher und unklar, wie man es von einem Menschen seines Bildungsgrades im allgemeinen nicht erwarten kann. Schröder war bald nach diesem Vorfall zur Dienstleistung nach dem Konzentrationslager Lichtenburg bei Prettin abkommandiert worden und wurde dort vernommen. Hierbei erwähnte er, dass er am Tage der Vernehmung eine Fernschreibernachricht von dem Kommandanten des Konzentrationslagers Sachsenhausen erhalten habe, worin ihm eine Reihe von Mitteilungen für seine bevorstehende Vernehmung gemacht worden seien, über die er jedoch nicht reden dürfe.«18 Aufgrund dieser Vernehmungen gelangten die Bearbeiter der Staatsanwaltschaft zu der Auffassung, dass die Misshandlungen an Weißler seit Montag (15. Februar) eingesetzt hätten und dass der Scharführer Guthardt als Haupttäter gelten müsse. Guthardt habe sich, so führt der Bericht aus, als »fanatischer Judenhasser bekannt und erklärt, dass ein Jude für ihn noch weniger als ein Stück Vieh sei. Sein starker Judenhass habe sich bei ihm aus dem Grunde eingewurzelt, weil sein Vater, der eine kleine Landwirtschaft besitze, von einem jüdischen Viehhändler um sein erspartes Geld betrogen worden sei.« Gleichwohl habe Guthardt während der Vernehmungen beteuert, persönlich würde er Juden niemals angreifen.19 Um ganz sicher zu gehen, gab die Staatsanwaltschaft ein drittes Gutachten in Auftrag, zu dem nun Professor Dr. Victor Müller-Hess zusätzlich herangezogen wurde. Anlässlich einer Ortsbesichtigung im – 179 –

KZ Sachsenhausen wurde überprüft, ob die Möglichkeit bestanden

habe, dass sich Weißler am Bettpfosten selbst aufgehängt haben könnte. Diese Versuche ergaben, dass weder diese noch andere Möglichkeiten für ein »Selbsterhängen« in der Zelle bestanden hätten. Das dritte Gutachten (1. Juni 1937), worin präzise gerichtsmedizinische Untersuchungen »unter Hinzuziehung neuster wissenschaftlicher Forschungsergebnisse« berücksichtigt wurden, kam zu dem Schluss, dass die schweren Verletzungen des Gehirns mindestens drei, wahrscheinlich vier bis fünf Tage vor Weißlers Tod erfolgten. Auch die Strangulierungen am Hals müssten zu einer solchen Zeit, also Tage vor seinem Tod, entstanden sein. Der entscheidende Satz in diesem dritten Gutachten lautet: »Ein Selbstmord des Weißler ist nach dem medizinischen Befund sowie nach den sonstigen Umständen schlechterdings ausgeschlossen.« Abschließend plädierte der Generalstaatsanwalt für folgende Maßnahmen: die Scharführer Guthardt, Drexl, Nordbrink und Zeidler seien in Untersuchungshaft zu nehmen; Guthardt wegen »Verdachts des Totschlags«, die übrigen wegen des Verdachts der Begünstigung. Von einer Verhaftung des Lagerarztes Dr. Schröder sowie des Leiters des Zellenbaus SS Hauptsturmführer Anton Waldmann könne vorerst Abstand genommen werden. Es sei allerdings zu empfehlen, eine Entschließung des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei Himmler herbeizuführen, »dass es Waldmann und Schröder von ihren Dienstvorgesetzten zur unbedingten Pflicht gemacht wird, wahrheitsgemäße Angaben zu machen.«20 Über ein Jahr später, Ende Juli 1938, kam es in der »Strafsache gegen Guthardt und Andere« zur Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht beim Landgericht Berlin. In einem mit dem Vermerk »Geheim!« versehenen Schreiben informierte der Generalstaatsanwalt die Justizpressestelle, er werde »wegen Gefährdung der Staatssicherheit« den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen. Der Reichsminister der Justiz Gürtner habe ihn angewiesen, alle zur Geheimhaltung der Sache erforderlichen Maßnahmen, insbesondere ein Veröffentlichungsverbot in der Presse, zu treffen. Der Hauptbeschuldigte Guthardt, der sich seit Monaten in Untersuchungshaft befand, hatte am 25. Februar – 180 –

1938 – also ziemlich genau ein Jahr nach der Tat – im Gefängnis Moabit Suizid begangen. Der Angeklagte Zeidler wurde in der Hauptverhandlung zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Die Beschuldigten Drexl und Nordbrink waren bereits vor dem Prozess aus ihrer Untersuchungshaft entlassen worden.21 Wer waren die Täter? Der mutmaßliche Haupttäter SS -Scharführer Christian Johann ­Guthardt, geboren am 8. September 1911, war Sohn eines kleinen Landwirts aus Bundorf (Landkreis Hofheim) in Unterfranken. Er war bereits mit 19 Jahren zum 1. April 1931 der NSDAP beigetreten. Zu diesem Zeitpunkt führte er die Berufsbezeichnung » ­ Bäcker«. Zur Tatzeit war er 25 Jahre alt. Bei den Vernehmungen hatte er sich als »fanatischer Judenhasser« zu erkennen gegeben, leugnete aber jegliche Gewaltanwendung gegenüber Weißler. Laut Untersuchungsbericht habe er den Eindruck eines unbeherrschten Menschen gemacht, der zum Jähzorn neige. Im Verlauf der Vernehmungen räumte er ein, dass er während seiner früheren Dienstzeit im Konzentrationslager Dachau wegen seines Verhaltens bei einer »Schlägerei« eine Verwarnung bekommen habe. Guthardt verübte fast genau ein Jahr nach der Tat von Sachsenhausen Suizid im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit.22 SS -Oberscharführer Paul Zeidler, der zweite Hauptbeschuldigte, wurde am 7. September 1911 in Wang (Landkreis Freising) in Oberbayern geboren. Zeidler begann seine KZ -Karriere im KZ Dachau und wurde um 1936 in den Kommandostab des Lagers Sachsenhausen versetzt. Wie Guthardt war er zur Tatzeit 25 Jahre alt. Er entdeckte Weißler am 19. Februar frühmorgens leblos in seiner Zelle, bestritt aber jede Tatbeteiligung. Im Mitteilungsblatt der SS -Totenkopfverbände (Mai 1937) teilte der Inspekteur der Konzentrationslager Theodor Eicke mit, dass SS -Oberscharführer Zeidler infolge unerlaubter Gewalthandlungen zum einfachen SS -Mann degradiert und »für dauernd« aus der SS ausgeschlossen worden sei. Durch ein Berliner Gerichtsurteil (29. Juli 1938) wurde Zeidler wegen »Begünstigung zur Körperverletzung mit Todesfolge« und »Körperverletzung im Amte« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Aufgrund der – 181 –

Anrechnung seiner langen Untersuchungshaft galt Zeidlers Gefängnisstrafe am 5. September 1938 als verbüßt. Bei Kriegsbeginn wurde Zeidler zur Wehrmacht eingezogen. Er fiel am 21. Mai 1940 bei Tournay in Frankreich.23 SS -Unterscharführer Kaspar Drexl, geboren am 31. Dezember 1899 in Wildenroth (Landkreis Fürstenfeldbruck) in Oberbayern, war Sohn eines Kleinbauern und Tagelöhners. Mit 37 Jahren war er der Älteste innerhalb des Täterkomplotts. Zum Zeitpunkt seines Parteieintritts (1. März 1932) gab er als Beruf »Maurer« an. Sein häufiger Wohnortwechsel (Dachau, Esterwegen, Sachsenhausen) verweist auf eine ausgedehnte Karriere des einstigen »Maurers« als SS -Wachmann in Konzentrationslagern. Aus katholischem Hause stammend, war er 1936 aus der Kirche ausgetreten und bezeichnete sich seither als »gottgläubig«. Ein ärztlicher SS -Bericht bescheinigte ihm im April 1937 einen »durchschnittlichen« Gesamteindruck; die »Fortpflanzung im völkischen Sinne« sei wünschenswert. Drexl ­erschien durch die Vernehmungen zwar als weniger belastet, galt jedoch zumindest als ein Mitwisser, der sich durch falsche Angaben der Begünstigung schuldig gemacht habe. Auch Drexl kam zunächst in Untersuchungshaft, wurde aber noch vor Prozessbeginn wieder entlassen. Im Verlauf eines Nachkriegsprozesses wurde er im Jahr 1969 in München wegen anderer SS -Gewaltverbrechen noch einmal gerichtlich belangt und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.24 SS -Unterscharführer Fritz Nordbrink, geboren am 15. November 1906 in Bahrenbostel (Grafschaft Diepholz), war zur Tatzeit 30 Jahre alt. Nordbrink war zunächst Ziegeleiarbeiter; 1932 Eintritt in die NSDAP und SA ; im Jahr 1933 Einsatz im KZ Esterwegen, 1934 Eintritt SS , seit 1936 im Kommandanturstab des KZ Sachsenhausen, später Wachdienst im KZ Buchenwald. Nordbrink galt im »Fall Weißler« als Mitwisser, kam aber nach kürzerer Untersu­ chungshaft frei und gehörte in der Berliner Hauptverhandlung vom Juli 1938 nicht zu den Angeklagten. Nordbrink überlebte die NS Zeit und kehrte nach dem Krieg in seine norddeutsche Heimatregion zurück. Am 16. Juli 1965 kam er bei einem Verkehrsunfall ums Leben.25 – 182 –

SS -Unterscharführer Kaspar Drexl

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Zieht man sämtliche Informationen zu den Tätern und zum Tathergang zusammen, so entsteht das Bild eines aus wenigen SS -Wachmännern bestehenden und eher zufällig gebildeten Totschlägerkomplotts. Guthardt und Zeidler, die beiden eigentlichen Gewalttäter, waren mit 25 Jahren die jüngsten in dieser SS -Gewaltkumpanei. Das Motiv für ihre Gelegenheitstat war blinder Hass. Berücksichtigt man die Vielzahl und die außerordentliche Schwere der Wunden am Körper des Toten, so muss von einem mehrere Tage und Nächte andauernden Gewaltexzess gesprochen werden. Weißler war im Zellenbau am Ende des mittleren B-Ganges untergebracht. In diesem Gang waren zur Tatzeit fast alle benachbarten Zellen leer. Die Wände im Zellenbau, so betont der Untersuchungsbericht, waren schalldicht. Hier konnte ein Opfer folglich ungehindert, ohne Störung durch unerwünschte Zeugen, dauerhaft gefoltert werden. Es fehlen jegliche Indizien für die Annahme, dass diese Tat von langer Hand vorbereitet gewesen sei. Allem Anschein nach war sie nicht ›von oben‹, also durch die SS -Führung oder andere höhere Stellen des NS -Regimes, angeordnet worden. Die Gelegenheit zu diesem Gewaltexzess ergab sich eher durch Zufall. Weißler war im Februar 1937 der einzige »Jude« im Lager. Dieser wurde durch Anordnung des Lagerkommandanten Koch von allen anderen Häftlingen im Zellenbau separiert. Nun hatte eine kleine Gruppe von SS -Männern, die Aufsicht im Zellenbau führte, absolute Gewalt über »den Juden«. Diese Konstellation war offenbar eine verführerische Gelegenheit zu einer extremen Explosion von Hass und Gewalt. Die Täter wussten faktisch nichts von ihrem Opfer. Sie kannten Weißlers Biografie nicht. Auch seine Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche und seine Verstrickung in die Denkschriften-­ Indiskretion spielte für die Gewalttäter keine Rolle. Maßgeblich für die Täter war einzig der Umstand, dass es sich bei Weißler, dem gläubigen Christen, in ihren Augen um einen »Juden« handelte. Mit ihrem eigenmächtigen Gewalthandeln verstießen die Täter zweifellos gegen ihre Dienstvorschriften, letztlich gegen eine offiziell geltende ›Ordnung des Lagers‹. Aber vermutlich glaubten die Täter – allesamt untere Chargen der SS -Totenkopfverbände – mit ihrem überschießenden Gewaltexzess im Sinne der Bewegung und Partei zu handeln, der sie sich alle frühzeitig verschrieben hatten.26 – 184 –

Eine eigentliche Publizität hatte der »Todesfall Weißler« unter den Bedingungen einer strikt regulierten Öffentlichkeit im »Dritten Reich« nicht. Zeitungsberichte im Inland zu dem Verbrechen gab es nicht. Einige Auslandszeitungen brachten knappe Meldungen zum Tod des VKL -Bürochefs im Konzentrationslager. Auch innerkirchlich gab es lediglich eine uneigentliche Öffentlichkeit zum Todesfall ­Weißler. Das Verbrechen wurde nur schwach und indirekt kommuniziert. Furcht und Betroffenheit waren in den meisten Fällen so groß, dass viele es vorzogen, zu schweigen. Die Bekennende Kirche nahm Weißler während seiner Haft nicht in ihre Fürbittelisten auf. Somit gehörte er nicht zum Kreis jener Verfolgten, deren Namen bei den sonntäglichen BKGottesdiensten von der Kanzel verlesen wurden. Letztlich handelte es sich aus Sicht der Bekennenden Kirche bei der Denkschriftenaffäre um Weißler-Koch-Tillich um einen politischen Vorgang. Und politische Dinge, gar politischer Widerstand, sollten per se nicht in den Fürbittelisten der Kirchenopposition berücksichtigt werden. Der Vater des Mithäftlings Werner Koch erhielt im April 1937 diesbezügliche Erläuterungen durch einen Bekenntnispfarrer: »Am Mittwoch ist nun der große Bittgottesdienst. In dem neuesten, uns amtlich zugestellten Verzeichnis der Verhafteten […] fehlt W ­ erners Name wiederum, wie schon immer. Auf Ihre diesbezügliche Anfrage weise ich auf Folgendes hin: Werner hat gegen die ausdrückliche Warnung und ohne jeden amtlichen Auftrag der Kirche gehandelt. Die Kirche ordnet aber öffentliche namentliche Fürbitte nur für solche Personen an, für deren kirchliche Handlungen, falls sie als solche vom Staat verfolgt werden, sie ihrerseits die Verantwortung übernimmt. Werner aber hat mit politischen Zeitungsagenturen gearbeitet. Also, da ist wirklich nichts zu machen. Eine ganz andere Frage ist, ob in der Stille für Werner gebetet wird. Dieses geschieht selbstverständlich. Aber eine öffentliche Fürbitte ist nach Lage der Dinge unmöglich.«27 Aber unvermeidlicherweise wirkte der gesamte Komplex Denkschriftenaktion – Indiskretion – Gestapogefängnis und Lagerhaft mit Todesfolge stark in das innere Gefüge der Bekennenden Kirche hinein und auch auf kirchliche Kreise weit darüber hinaus. Zunächst: Es gab keine Solidaritätskampagne im Oktober oder November 1936, als Weißler, Koch und Tillich in Gestapohaft kamen. Viel– 185 –

mehr beauftragte die Kirchenleitung in dieser Situation die Gestapo ausdrücklich, sie möge helfen, den oder die Täter zu ermitteln. Und auch gab es keinen Aufschrei im Februar 1937, als Weißler binnen Wochenfrist im KZ Sachsenhausen zu Tode geprügelt worden war. Am meisten schützenden Rückhalt von »draußen« erfuhr während der Haftzeit zweifellos der junge Vikar Koch. Das hatte mehrere Gründe: er hatte »Stallgeruch«, war ein ›richtiger‹ Theologe mit Examen und verfügte über einige exzellente kirchliche Verbindungen. Seine Barmer Kirchengemeinde sorgte sich um ihn, als er ihr im November 1936 durch Verhaftung entzogen wurde. Das Ausbildungsamt der BK-Synode Rheinland sowie die BK-Kreissynode Wuppertal setzten sich für ihn ein. Kochs Verlobte, die aus Holland stammende Gerritdina Stokman, und sein Vater warben höchst engagiert durch eine Vielzahl von Gesprächen und Briefen für seine Freilassung und intervenierten bei prominenten politischen Stellen wie im Reichsjustizministerium oder bei dem mächtigen Reichsmarschall Hermann Göring. Auch Bonhoeffer und seine junge Finkenwalder Theologentruppe engagierten sich stark für Koch, denn er war einer der ihren. Sie unterrichteten nach Kräften ausländische Kirchenführer, um Solidaritätsbekundungen ökumenischer Art zu bewirken. Zu Weihnachten 1936 erhielt Koch einen Kartengruß von B ­ onhoeffer aus Finkenwalde: »Alle Brüder grüßen Sie, besonders auch unser Bruder Glocke [der englische Bischof von ­Chichester George Bell], der einer der treusten ist. Ich werde ihn demnächst wieder sehen und freue mich darauf. – Finden Sie Zeit und Ruhe zum Arbeiten? Ich hoffe sehr. Lassen Sie sich doch Kittels Wörterbuch zum neuen Testament schicken! Da hat man viel daran!«28 Schließlich wirkte Karl Barth, als dessen Schüler Koch auch gelten konnte, für seine Freilassung aus der fernen Schweiz über den Generalsekretär des Ökumenischen Rates Willem A. Visser’t Hooft in Genf, der ein Bittschreiben an Himmler sandte. Und unmittelbar vor Ort setzte sich der Oranienburger Bekenntnispfarrer Kurt Scharf sowohl bei dem Gestapobeamten Chantré in Berlin wie auch bei der Lagerleitung Sachsenhausen für den Häftling Koch ein.29 Viel ungünstiger lagen die Dinge im Fall Weißler: Seine Studienund Verbindungsfreunde von einst und seine Juristenkollegen hatten – 186 –

sich längst von dem verfemten »nichtarischen« Kollegen abgewandt. Auch hatte Weißler keine Kirchengemeinde in Berlin im Rücken, die sich für ihn einsetzte. Es ist zweifelhaft, ob die Heerstraßengemeinde mit dem lauen Pfarrer Gürtler, zu deren Gottesdiensten die Familie vorwiegend ging, überhaupt von seinem Schicksal wusste. Auch die Charlottenburger Epiphaniengemeinde, in deren Parochie die Familie wohnte, und die eine starke BK-Gruppe hatte, wird vermutlich nichts von der Lebensgefahr gewusst haben, in der Weißler seit seiner Haft schwebte. Jedenfalls sind Reaktionen von dorther nicht bekannt. Führungskreise der Bekennenden Kirche, also die Vorläufige Kirchenleitung und der Rat der DEK – besorgt um Wahrung ihrer Reputation als eine zuverlässige, politisch loyale nationale Kraft – ließen ihren »nichtarischen« Bürochef wegen »Vertrauensbruchs« fallen und beendeten die Arbeitsbeziehung mit Weißler seit Oktober 1936 endgültig. Nicht eine Institution der Bekennenden Kirche brachte zu Lebzeiten Weißlers ein öffentliches Votum für ihn zustande. Es gab lediglich einzelne Theologen aus dem Kreis der »Dahlemiten« wie den Spandauer Superintendenten Albertz, die Berliner Pfarrer Böhm, Müller und Hildebrandt, den reformierten Theologen Middendorff oder den jungen BK-Kirchenjuristen Schmidt, die eine verhaltene Solidarität mit Weißler bekundeten und die sich intensiver um den inhaftierten »Bruder Weißler« und seine Familie kümmerten.30 Wohl noch schlechter dran war Ernst Tillich, was Solidaritätsbekundungen von »draußen« betraf. Tillich hatte in den Augen seiner kirchlichen Zeitgenossen, als ein junger Mann mit abgebrochenem Theologiestudium und relativer Kirchenferne, keinen guten Ruf. Mit Theologen- oder Kirchensolidarität konnte er kaum rechnen. Maßgeblich für das Bild, das seine nähere Umgebung von ihm damals hatte, war seine schwierige private Lebenssituation. Verheiratet zu sein und zugleich zwei nichteheliche Kinder mit einer anderen Frau zu haben, mit der er zusammenlebte – das überschritt die Grenzen der recht engen, moralisch-sittlichen Wertvorstellungen in der evangelischen Kirche der dreißiger Jahre doch erheblich. An eine Kirchenlaufbahn des Theologiestudenten war unter diesen Umständen überhaupt nicht mehr zu denken. Es ist fraglich, ob sich seine – 187 –

Eltern für ihn einsetzten. Möglicherweise hatten auch sie mit ihm angesichts seiner Eskapaden gebrochen, so dass er von dort nur wenig Rückhalt erfuhr. »Fräulein Giessler«, die Mutter seiner Kinder, hielt indessen zu ihm und besuchte ihn im Polizeigefängnis Alexanderplatz. Aber alles in allem vermittelte Tillich den Eindruck einer reichlich orientierungslosen, verfahrenen und prekären Existenz, eines stets ›hungrigen‹ jungen Mannes auf mancherlei Irrwegen, der Vieles probierte und nirgends reüssierte, und dem vor allem eines fehlte – Geld. Und schließlich war Tillich einer derjenigen gewesen, der die Denkschrift, gegen die ausdrückliche Anweisung von Weißler, vorzeitig an die Auslandspresse weitergab – nicht für 30 Silberlinge, sondern für 50 Reichsmark. Eine Episode aus der Haftzeit belegt, dass Tillich zu dieser Zeit schwere Schuldgefühle gegenüber Weißler empfand. Eingeteilt zum Ausfegen der Gefängniszellen im November 1936, warf er bei dieser Gelegenheit einen Zettel unter Weißlers Bett. »Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung«, hatte Tillich darauf geschrieben, »dass ich Sie während der Zeit von Juli ab wegen der Veröffentlichung des Dokumentes beschwindelt habe. Dies lag die ganze Zeit schwer auf mir. Gott segne Sie. E. T.«31 Aus Kirchenkreisen fanden sich keine Fürsprecher für den inhaftierten »Vikar Tillich«. Nur die Quäker, so berichtete Tillich selbst nach dem Krieg, hätten sich während der Lagerhaft um ihn gekümmert.32 Ob Reichskanzler Hitler überhaupt die an ihn persönlich gerichtete Denkschrift zu sehen bekam, ist fraglich. Eine Reaktion von ihm ist nicht überliefert. Im Tagebuch von Joseph Goebbels, der als ein zuverlässiger Seismograf politischer Gedanken Hitlers anzusehen ist, sucht man für die Jahre 1936 und 1937 vergeblich nach Niederschlägen des Gesamtkomplexes BK-Denkschrift, Indiskretion und Tod Friedrich Weißlers. Gleichwohl hatte diese Angelegenheit erhebliche politische Dimensionen und zeitigte Rückwirkungen bis in höchste Kreise von Staat und Partei hinein. Göring, Himmler, Reichsjustizminister Gürtner, Kirchenminister Hanns Kerrl und weitere politische Führer waren mit dem Fall konfrontiert worden. Offensichtlich kam es dabei zu internen Kontroversen in der Bewertung der unerwünschten Nachrichtenübermittlung an die Auslandspresse und über den angemessenen Umgang mit den »Tätern«. – 188 –

Rechtsstaatliche Traditionen, wie sie vor allem in den präzisen staatsanwaltlichen Ermittlungen nach Weißlers Tod erkennbar werden, vermochten sich dabei ein Stück weit gegenüber den brutalen kriminellen Exzessen von unteren SS -Chargen und gegenüber dem Trend zu ungesetzlichen politischen Willkürakten des diktatorischen Maßnahmenstaates zu behaupten. * Martin Niemöller hatte im Oktober und November 1936 zu denjenigen Theologen unter den Führungsmännern der Bekennenden Kirche gehört, die einen scharfen Schlussstrich gegenüber Weißler forderten. In seinen Dahlemer Predigten während der vier Monate dauernden Gestapo- und KZ -Haft Weißlers findet sich kein Widerhall des Martyriums dieses »nichtarischen« Christen.33 Vier Monate nach W ­ eißlers Tod wurde der Dahlemer Pfarrer durch die Gestapo verhaftet. Sofort setzte eine umfassende öffentliche Solidaritätsbewegung für ­Niemöller ein, von der nicht zuletzt die seither täglich gehaltenen Fürbittgottesdienste in seiner Dahlemer Gemeinde zeugen. Nach mehreren Monaten Untersuchungshaft in Moabit und nach dem Abschluss seines Prozesses, der eigentlich mit Freilassung endete, wurde Niemöller im März 1938 als »persönlicher Gefangener« Hitlers in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Niemöller kam in Einzelhaft in jenen Zellenbau, den berüchtigten »Bunker«, wo Friedrich Weißler ein Jahr zuvor auf brutale Weise zu Tode gemartert worden war.

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achtes kapitel Weiterleben nach der Katastrophe Am 28. April 1937 wäre Friedrich Weißler 46 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass versammelten sich Familienangehörige und Freunde einen Tag zuvor in der Berliner Wohnung der Weißlers in der Meiningenallee zu einer Gedenkfeier für den Verstorbenen. Noch waren viele Angehörige der weit verzweigten und verwandtschaftlich verbundenen »nichtarischen« Familien Weißler, Worm, Hayn und Hoeniger in der Region Berlin und anderswo im Deutschen Reich Hitlers ansässig, und etliche von ihnen waren zu diesem Treffen zusammengekommen. Von den drei Brüdern lebte jetzt nur noch der mittlere, der Musiker Ernst Weißler. Otto Weißler, der älteste der drei Brüder, hatte zuletzt als Studienrat in Magdeburg im Schuldienst gestanden und war im Mai 1935 im Alter von 51 Jahren an den Folgen einer schweren Krankheit verstorben. Friedrich Weißler, der jüngste Bruder, war im Alter von 45 Jahren im KZ Sachsenhausen erschlagen worden. Nun war Ernst Weißler der letzte Überlebende dieser Brüder-Generation. Ihm fiel die Aufgabe zu, anlässlich der Gedenkfeier am 27. April eine Rede zu halten. Musikliebend und künstlerisch anspruchsvoll, wie man ihn seit jeher kannte, war in dieser Ansprache vielleicht etwas zu viel von sei­nem ehrgeizigen Musikprogramm und etwas zu wenig von seinem Bruder die Rede, der doch eigentlich geehrt werden sollte. Er habe vor, so kündigte er nach einleitenden Worten den »so zahlreich erschienenen« Angehörigen der Weißlers an, die ganze Eroica-Symphonie Ludwig van Beethovens zu spielen. Das mag vielleicht »etwas anspruchsvoll« sein, besonders für diejenigen, die musikalisch nicht so bewandert seien, räumte er ein, daher wolle er seine Wahl erläutern:1

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»Nun, wir wissen, dass mein Bruder Fritz den Opfertod gestorben ist für seinen Glauben. Wir wissen aber noch mehr, und zwar weiss ich persönlich dies erst seit ganz kurzer Zeit aus berufenem, zweifellos sachkundigen Munde: Dieser Opfertod war innerhalb der Bekennenden Kirche der erste seiner Art überhaupt. Das Wissen um diese Tatsache muss uns ein Gefühl der Tröstung und Erhebung verschaffen, mag jeder Einzelne von uns sonst zu Kirche und Kirchentum überhaupt stehen wie er wolle. Der Verstorbene hat in den letzten 4 Monaten seines Lebens schwere seelische Leiden zu tragen gehabt. Er hat diese Leiden getragen mit einem stillen Heldenmut. Er hat das fertig gebracht, was das Ziel hochstrebender Naturen ist, aber nur ganz selten erreicht wird: Das Leiden so zu tragen, dass es ihn nicht nur nicht niederdrückt, sondern dass es ihn sogar innerlich grösser und reicher macht. Dass dies so war, wissen wir ganz genau aus seinen Briefen, es sind seine eigenen Worte. Dass dies innere Kämpfe kostet und nicht ohne Leiden vonstatten geht, ist einleuchtend.« Ernst Weißler, der ausgebildete Opernsänger und letztlich niemals so recht reüssierende freiberufliche Konzertimpressario, wohnte mit seiner mütterlichen Freundin Aeone von Stumpfeld (geb. Gräfin von Wintzingerode) seit 1927 in Wohngemeinschaft in Berlin. Seine stets hochfliegenden musikalischen Unternehmungen, seine Konzertprojekte und privaten Opernaufführungsideen florierten bis 1933 nicht sonderlich und waren seit Machtantritt der Nationalsozialisten nahezu vollständig zu Fall gebracht worden. Er lebte zurückgezogen und wohl recht eingeschränkt als stellungsloser Musiklehrer. Als »Nichtarier« hatte er beruflich seither keine Auftrittschancen. Der Kontakt zur Familie seines Bruders war während der schwierigen Jahre seit 1933 enger geworden. Die ungleichen Brüder rückten näher zusammen und halfen sich gegenseitig in bedrängter Lage. Seit Haftbeginn seines Bruders im Oktober 1936 stand Ernst seiner Schwägerin Johanna Weißler häufig zur Seite. Wiederholt kümmerte er sich um den älteren Sohn Ulrich. Der Gymnasiast tat sich etwas schwer mit Latein. »Onkel Ernst«, so schreibt die Mutter in den Gefängnisbriefen an ihren Mann, »arbeitet mit ihm Latein«.2 – 192 –

Kämpfe, Leiden, Heldentum – so sähen wir denn auch in Beet­ hovens Eroica, erläuterte der auftrittsverhinderte Musiker den Trauerfeiergästen, Anklänge an Leid und Klage. Schon im 1. Satz, der sonst vorwiegend im Zeichen der schwungvoll feurigen Kraft stehe, tauchten sie auf. Andererseits seien im 2. Satz, dem Trauermarsch, auch manche sehr kraftvolle Stellen zu finden:3 »Das eine Mal klingt es wie ein grossartiger Befreiungs-Hymnus: Alles Leid ist von ihm genommen. Das andere Mal ist es wie ein unentwegtes, kraftvolles Arbeiten. Der dritte und der 4te Satz sind nicht unmittelbar mit dem Gedanken des Heldentums verknüpft. Der dritte Satz huscht leicht an uns vorbei und ist ein ganz klein wenig geheimnisvoll geisterhaft angehaucht. Im 4ten Satz wird die menschliche Schöpferkraft versinnbildlicht. Das Urmotiv ist von einer geradezu unglaublichen Einfachheit, sodass es hart an das Lächerliche streift: Es besteht zunächst aus zwei Tönen. Dann erweitert es sich, es treten immer mehr Stimmen hinzu, eine Melodie erwächst daraus und endlich mündet es in einen brausenden Hymnus.« Gegen Ende dieser gewiss sachkundigen musikalischen Erläuterungen, die annähernd die Hälfte seiner Gedenkworte ausmachten, hielt der Redner noch einmal inne und meinte, sich vielleicht ein wenig einschränken zu sollen, indem er versicherte, er habe hier keinen Vortrag über die Symphonie halten, sondern lediglich darlegen wollen, warum er gerade diese Symphonie Beethovens ausgewählt habe. Es ist anzunehmen, dass Johanna Weißler, die Witwe, Auguste Weißler, die Mutter des Toten, und die beiden elf- und achtjährigen Söhne U ­ lrich und Johannes bei dieser Feier zugegen waren und gewiss lieber mehr Schlichtes und Konkretes über ihren verstorbenen Ehemann, Sohn und Vater gehört hätten, als ihn bereits kunstvoll in die Sphären des Heroischen entrückt zu sehen. Bevor er schließlich an »den Vortrag der Symphonie« ging, bat der Interpret die A ­ nwesenden noch, sie mögen sich zu Ehren des Verstorbenen von ihren Plätzen erheben. Es musste nun ohne das Familienoberhaupt weitergelebt werden. Und der Alltag der Hinterbliebenen in der Meiningenallee, der – 193 –

Johanna Weißler mit den Söhnen Ulrich und Johannes (1937)

jungen Witwe Johanna Weißler mit den zwei halbwüchsigen Kindern und der inzwischen 76-jährigen Schwiegermutter, war schwierig genug. Es war nun noch sparsamer zu wirtschaften als zuvor. ­Friedrich Weißlers Ruhegehalt seit seiner Entlassung im Sommer 1933 hatte, bei knapp 26 Dienstjahren, 337 Reichsmark betragen. Durch seine Bürotätigkeit bei der Bekennenden Kirche hatte er noch etwas hinzuverdienen können. Als »Nichtarier« waren ihm seine schriftstellerischen Einnahmen als Jurist nahezu vollständig genommen worden. Am 13. Mai 1937 erhielt Johanna Weißler von der Oberjustizkasse Berlin eine Berechnung ihrer Witwenbezüge. Die Familie musste künftig – einschließlich aller Zulagen für die Kinder und abzüglich dreier allgemeiner Gehaltskürzungsverordnungen sowie Lohnsteuer und Bürgersteuer – mit 301 Reichsmark im Monat auskommen. Möglicherweise konnte die Familie noch weiterhin von einem älteren Familienfonds zehren, den Adolf Weißler vor Jahrzehnten eingerichtet hatte. Wie knapp es während der Jahre bis Kriegsende zuging, ist vor allem den Kindheitserinnerungen von J­ohannes Weißler zu entnehmen: alle Wege waren zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu machen, nur bei sehr weit entfernten – 194 –

Zielen durften öffentliche Verkehrsmittel benutzt werden; die Kindergeburtstage und die Geschenke fielen immer ein Stück weit bescheidener aus als bei den Schulfreunden; Ferienreisen fanden nur ausnahmsweise noch statt, meistens ging es nach Potsdam zu den Verwandten, und auch das häufig nicht mit der S-Bahn, sondern mit dem Fahrrad.4 Natürlich bestimmten Trauer und Schmerz die Monate und die Jahre danach. Zwei zusammenhängende Zettel mit tagebuchähnlichen Notizen von Johanna Weißler, die sich auf die Jahre 1937 und 1938 beziehen, vermitteln Eindrücke von den familiären Befindlichkeiten nach dem schweren Verlust. Vieles muss dabei ein wenig kryptisch bleiben, nicht zuletzt wegen der Kürze der Notizen und der teilweise schwer zu entziffernden Schrift. Überwiegend sind hier Kinderaussprüche gesammelt, die zumeist den Verlust des Vaters berühren. H.[änschen]: Wenn Vati weg ist haben wir Sorge u. wenn Vati wieder da ist haben wir keine mehr. U.[lrich]: Mutti du sollst nicht traurig sein, denk an einen sch.[önen]Spruch. H.[änschen]: Mutti ich finde du hast schon 3 Abende hinter­ einander nicht gebetet, dass Vati wiederkommen soll. U.[lrich]: Nun krieg ich doch nie Taschengeld weil Vati nicht da ist, u. da kann man sich eben nichts leisten. U.[lrich]: Ach Mutti, ich bete immerzu zum lb. Gott, dass du wenigstens bei uns bleibst. Sieh mal, es wäre doch noch viel schlimmer, wenn der lb. Gott dich weggenommen hätte u. Vati wäre da. U.[lrich]: Mutti, können Witwen auch Kinder kriegen? Eingestreut zwischen diese protokollierten Kindergedanken sind stichwortartige Notizen, die sich auf Vorgänge in der Bekennenden Kirche beziehen und die anzeigen, dass Johanna Weißler auch nach dem Tod ihres Mannes am Leben der Bekennenden Kirche durch Gottesdienstbesuche und persönliche Kontakte mit Pfarrern teilnahm: – 195 –

Niemöller Gottesdienst Schmidts Brief. »Von Stillesein in Gott.« 9. Jan. Oxforder Gruppenbewegung. Friedenskirche. Breslauer [?] Synode Ultimatum Studenten Christen od. Nazi. Bunke-Glogau K. Lager (Organist Siebert).5 Erwähnung finden neben Niemöller unter anderem die Pfarrer Jannasch und Albertz sowie der junge Kirchenjurist Dr. Schmidt, der zuletzt eng mit Weißler zusammen im Büro der Kirchenleitung arbeitete und sich seit der Haft intensiv um die Familie kümmerte. Von ernsten Dingen handeln Notizen, die am Ende des zweiten Blattes, deutlich abgesetzt vom bisherigen Text, eingetragen sind. Sie verweisen auf Dissonanzen innerhalb der Kirchenopposition: Pfarrer Hildebrandt habe ihr erzählt, so heißt es dort, er missbillige das Verhalten der »V. K.«, womit die Vorläufige Kirchenleitung gemeint sein dürfte. »Nun ist mir klar«, schreibt Johanna Weißler, »warum die V. K. alles verschweigt u. auch Holst.[ein] nichts tut.« Dieser etwas rätselhafte Satz, der von kirchlichem Verschweigen und Nichtstun handelt, ließe sich möglicherweise auf die Vorläufige Kirchenleitung und ihr Verhalten im Kontext der Denkschriftenindiskretion vom Sommer 1936 und der Verhaftung Weißlers im Oktober beziehen. Der junge »nichtarische« Theologe Hildebrandt hatte unmittelbar nach Niemöllers Verhaftung im Juli 1937 zuletzt in Dahlem gepredigt, war daraufhin selbst für vier Wochen verhaftet worden und emigrierte Anfang September nach England. An vielen Beispielen der Jahre 1935 bis 1937 lässt sich nachweisen, dass Hildebrandt dem reservierten Umgang der Bekennenden Kirche mit der »Judenfrage« sehr kritisch gegenüberstand und deren Nichthandeln als schweres Versäumnis auffasste. Was er hier der Witwe Weißler gesprächsweise aus dem Innenleben der Bekennenden Kirche im Detail anvertraute, lässt sich aus dieser knappen Notiz allerdings nicht vollständig erkennen.6 Johannes Weißler, der jüngere Sohn, hat in den Erinnerungen an seine Berliner Kindheit aufgezeichnet, wie sich die dramatischen Vorgänge um seinen Vater aus der Kindheitsperspektive darboten. Am späten Abend des 7. Oktober, als die Gestapo kam, hätten beide Jun– 196 –

gen schon im Bett gelegen, aber die plötzliche Unruhe in der Wohnung noch wahrgenommen. Am nächsten Tag habe die Mutter ihnen erklärt, der Vater sei in der Stadt zu einer »Untersuchung«. Erst viel später habe er erfahren, dass sein Vater im Gefängnis am Alexanderplatz während seiner langen Abwesenheit verhört worden sei.7 »Nun war die Familie plötzlich kleiner, Vatis Zimmer war unbe­ nutzt, am Esstisch fehlte jemand, und wir vermissten den lieben, fürsorgenden, Gedichte liefernden Vater. (…) Nach draussen hin, zu Freunden oder so, sollten wir gar nichts sagen. Wir hatten zwar von außen etwas gehört über Judenverfolgungen, aber dass wir auch dazu gehörten, darüber sollten wir schweigen. Ulrich erfuhr wahrscheinlich etwas mehr, weil er ja schon 11 Jahre alt war, und vielleicht auch mal gefragt wurde, warum er nicht in der Hitlerjugend war, diese Pflicht-Organisation für alle Jungen ab 10 Jahren. Als ich in dieses Alter kam, und die Frage ›Hitlerjugend‹ auftauchte, sagte Mutti mir, ich solle antworten: meine Mutter möchte das nicht. Und das haben auch alle Frager so akzeptiert. Als dann Vati gar nicht mehr wiederkam und am 19. Februar 1937 die Nachricht über seinen Tod eintraf, waren Mutti und Hapu [die Großmutter] sehr traurig und still. Mutti sagte uns nur, er sei gestorben, keine Einzelheiten. Warum und wo, das erfuhr ich erst viele Jahre später. (…) Ulrich als der Ältere (damals fast 12 Jahre) hat sicher etwas mehr erfahren, aber nie darüber gesprochen.« In seinem Verhältnis zu Schule und Freunden habe sich für den Achtjährigen »eigentlich fast nichts geändert«. Dass der Vater bei seinem Tod mit knapp 46 Jahren noch recht jung war, sei ihnen als Kindern damals nicht sonderlich aufgefallen. Die Mutter habe nun schwarze Kleider getragen und die Großmutter habe sich noch mehr in ihr Zimmer zurückgezogen. Wir Jungen, so erinnert sich der jüngere Sohn, erhielten um den Ärmel des Mantels eine schwarze Binde zum Zeichen der Trauer. »Und der Alltag ging eben weiter. Nur musste jetzt Ulrich als der Ältere immer das Tischgebet sprechen.« Während der folgenden Monate seien sie oft nach Stahnsdorf im Südwesten Berlins zum Friedhof gefahren. Die Fahrt sei recht einfach gewesen, – 197 –

da es am nahe gelegenen U-Bahnhof Neu-Westend eine Haltestelle der Buslinie M gab, die bis zur Endstation Stahnsdorf führte. »Das war allerdings über eine Stunde Fahrzeit, kostete aber nur einen einfachen Fahrschein, und man wurde ganz schön durchgeschuckelt vom dauernden Bremsen, wieder Anfahren, schlechtem Pflaster u.s.w. (…) Auf dem riesigen Waldfriedhof war es immer ganz still, man hörte nur die Vögel zwitschern oder Bäume rauschen.«8 Berlin in den Jahren 1936 oder 1937 – eine aufregendere Erlebnis­ kulisse für Kinder von zehn, elf oder zwölf Jahren lässt sich kaum denken. Wo im Deutschen Reich gab es mehr Betrieb, wo war mehr zu bestaunen als in der großen, expandierenden, dynamischen Viermillionenstadt? Natürlich hätten sie als Kinder damals, erinnert sich Johannes Weißler, viel »mitgekriegt« von den Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele im Sommer 1936 und von den Sportwettkämpfen selbst im August. Die Meiningenallee in Neu-Westend, dem Wohnviertel der Weißlers, lag ganz nahe am Olympiastadion, nur 20 Minuten Fußweg entfernt. »Wir konnten es [das Stadion] von der Meiningenallee aus nicht sehen, aber in der Nähe bewunderten wir die vielen Fahnen an dem großen Rund des Stadions. Dazu gab es kleine Heftchen, oder Blätter, in denen die Fahnen dargestellt waren und zu welchem Land sie gehörten. (…) An der Vorderfront des Olympia­ stadions, in der Mitte … zwischen den beiden Türmen, wurden während der Wettkämpfe nachmittags immer die Fahnen hochgezogen, welche Nation Gold, Silber und Bronze gewonnen hatte. Und dazu hörte man von drinnen die Menschenmenge jubeln. Ich war nie in dem riesigen Zuschauer-Rund, eine Eintrittskarte wäre zu teuer… Ulrich hatte mal das Glück, von einer Dame vor dem Stadion eine Karte geschenkt zu bekommen.« In den Zigarettenschachteln befanden sich kleine Bildchen von prominenten Sportlern, »die sammelten und tauschten wir natürlich.« Ein Onkel habe den Kindern öfter solche Bildchen geschenkt; er habe deshalb extra die Zigarettenmarke geraucht, deren Schachteln solche Bildchen enthielten. Es sei daran erinnert, dass die sportbegeisterten Deutschen im August 1936 viel Anlass zum Jubeln hatten: Deutsche Sportlerinnen und Sportler gewannen fast 90 Medaillen, darunter 33 Goldmedaillen, und in der – 198 –

Medaillenwertung aller Nationen belegten sie den ersten Platz, was nicht nur Hitler und die Nazi-Deutschen stolz machte.9 Auch das traurig-schwere Jahr 1937 bot den Kindern mancherlei Sensationen. Im Sommer gab es ausnahmsweise noch einmal eine Ferien­reise an die See auf die Insel Sylt. Johannes Weißler schildert sie als eine schöne Zeit. Da viele seiner Schulfreunde während der Sommerferien auch an die See fuhren, so erinnert er sich, habe er dieses Mal nach den Ferien auch etwas mitreden können. Und kaum zurück aus den Ferien, folgte im August die 700-Jahrfeier der Stadt als ein besonderes Erlebnis. Auf vielen Plakaten überall in der Stadt sei der Berliner Bär zu sehen gewesen. Wir Kinder, berichtet ­Johannes Weißler, wurden in der Schule dazu angehalten, das Berliner Wappentier zu malen, wenn auch häufig »etwas schief und krumm«. Er könne sich noch gut an den Festumzug erinnern, ein langer Korso mit vielen blumengeschmückten Wagen, »und immer wieder die große 700 drauf«. Besonders eindrucksvoll sei für ihn ein Wagen gewesen, »auf dem ein ganzer gelber U-Bahn-Wagen geladen war, komplett und vollständig. Toll, dachte ich mir, wie haben die den schweren U-Bahn-Wagen von den Schienen auf den Tieflader drauf gebracht?«10 Im Februar 1938, ein Jahr nach dem gewaltsamen Tod Friedrich Weißlers, erhielt dessen Witwe mehrere Kondolenzbriefe, darunter ein offizielles Schreiben der Kirchenleitung, das von dem Dahlemer Pfarrer Friedrich Müller unterzeichnet war. »An dem Tage, an dem vor einem Jahre Ihr Gatte Ihnen so jäh genommen wurde, möchten wir Ihnen gern unser herzliches Gedenken zum Ausdruck bringen. Mit Ihnen standen wir vor einem Jahre erschüttert und in tiefer Trauer an der Bahre Ihres Gatten, der mit so großem Eifer und hingebender Treue für die Bekennende Kirche tätig gewesen und dann ein Opfer seiner Arbeit geworden war. Sie wissen, dass wir ihn nicht vergessen haben und dass sein Andenken unter uns lebendig bleiben wird. Darum ist es uns ein herzliches Bedürfnis, Ihnen auch unsere Verbundenheit mit Ihnen deutlich werden zu lassen.« Die Kirchenleitung werde morgen (19. Februar) am Grab in Stahnsdorf einen Kranz »in Dankbarkeit für alle Treue« niederlegen. Ihr Gatte, so heißt es weiter, habe das ihm auferlegte Leid »um der Kirche Christi – 199 –

willen« mit großer Geduld ertragen. Die Kirchenleitung wolle der Familie nach besten Kräften zur Seite stehen und biete Hilfe und Unterstützung an. »In Gottes Händen dürfen wir Ihren Gatten wissen. Das ist uns ein rechter Trost. Menschenhände haben ihm viel Schmerz und Leid bereitet. Gottes Hände haben ihn zum Frieden der Heimat geleitet.«11 Aus Hamburg traf ein persönlich gehaltener Brief von Pastor Bernhard Heinrich Forck an Johanna Weißler ein, worin der leitende Bekenntnistheologe Schmerz und Anteilnahme am plötzlichen Tod Weißlers zum Ausdruck brachte.12 Ein Brief von Franz Hildebrandt, abgesandt am 10. Februar 1938 von London, bestätigt eindrucksvoll eine besonders ausgeprägte, mitfühlende Nähe dieses »nichtarischen« Pfarrers zu den Weißlers.13 Er versichert der Witwe eingangs, dass er viel mehr an das tragische Schicksal ihres Mannes und an die Familie habe denken müssen, als sie dies vielleicht ahne. Dieses »ganze Kapitel« habe ihn mehr im vergangenen Jahr beschäftigt als das meiste andere. Er sei nicht zuletzt mit dem Wunsch »herausgegangen«, ein wenig von dem wieder gut zu machen, was die Kirche, und gerade auch die »uns zugehörige«, auf diesem Gebiet versäumt habe. So richtig gingen ihm erst hier, also in London, Umfang und Tiefe der Leiden vieler Kinder und Eltern auf, die Opfer dieser Zeit seien. Das bedeute für ihn auch wachsende Distanz gegenüber vielem, worum seine Brüder drüben mit Leidenschaft kämpften. Alles das erscheine ihm sekundär und geringfügig gegen das, was Lukas Vers 10.30 und Sprüche Verse 31.3 f. geschrieben stehe und wozu sie geschwiegen hätten. Die Bibelstelle bei Lukas erzählt die Geschichte vom barmherzigen Samariter: Ein Mensch fiel unter die Räuber, die schlugen ihn und ließen ihn halbtot liegen; ein Priester, der des Weges kam und ihn so liegen sah, ging vorüber. »Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind« – so wiederum heißt es unter Sprüche Vers 31.8. Beide biblischen Verweise können kaum anders als ein kritischer Kommentar Hildebrandts zu den deutschen Gewaltzuständen und auch zum Verhalten der Bekennenden Kirche in der Sache Weißler verstanden werden, das einer Politik des Schweigens gleichkam. Der emigrierte Pfarrer erkundigte sich in diesem Brief des Weiteren nach Auguste Weißler, der Mutter des Verstorbenen, und danach, ob sie wohl den – 200 –

Franz Hildebrandt (M.) und Bischof George Bell (l.) in London (1941)

Weg zu einem seiner Pfarrerkollegen gefunden habe.14 Ebenso ließ er die beiden Jungen grüßen und bat um Nachricht, falls einer von ihnen »mal hier draußen untergebracht werden soll.«15 Im März 1938, im Alter von 13 Jahren, begann Ulrich Weißler mit regelmäßigen Tagebuchaufzeichnungen.16 Er wünschte sich zum Geburtstag Rollschuhe, die er zum 22. März auch bekam. Nun konnte er mit »Evchen«, der ältesten Tochter der benachbarten Familie Schönwetter, zusammen Rollschuhlaufen gehen, was er offenbar sehr gern tat. Wir erfahren allerhand Bedeutendes und Unbedeutendes aus der Welt eines 13-jährigen Jungen: Kinderkostümfest bei Schönwetters (wo Ulrich, der Gymnasiast und Lateiner, als C ­ äsar auftrat), Rollschuhlaufen mit Evchen, Klavierstunde, Osterferien 1938 bei Verwandten in Potsdam. Zurück in Berlin, heißt es dann am 20. April: »Nun soll die Schule anfangen, außerdem ist Geburtstag des Führers. Als am Ende der Feier der Direktor sagte: Ihr könnt heute nach Hause gehen, morgen bekommt ihr nur den Stundenplan, kannte unsere Freude keine Grenzen. (…) Ich ging gleich wieder Rollschuhlaufen, gegen abend klebte ich wieder Laternen mit Evchen.«17 Wir erfahren Vieles aus diesem Tagebuch, nicht allein das scheinbar ganz gewöhnliche Leben (Nach dem Essen schnitt Mutti uns – 201 –

die Haare). Auf subtile Art und Weise mischte sich die große Politik hinein. Was machen wir heute, war die Frage am Nachmittag des 13. Mai: »Fritz kam um 4 ungefähr und wollte mit uns etwas unternehmen. Wir fuhren [per Rad] in den Grunewald und sahen uns den Bau der wehrtechnischen Fakultät an. Es arbeiten dort große Kräne und ein Teil von dem Sand wird bei Schildhorn ins Wasser geschüttet.«18 Am 18. Juni fuhren Johanna Weißler und die beiden Jungen zur Wilmersdorfer Straße, um Einkäufe zu machen. »Dort sahen wir wie gerade Oppenheim als jüdisch geschlossen wurde. Auch sah ich heute morgen am U-Bahn­hof verschiedene Geschäfte mit »JUDE« beschmiert. (…) Tante Mariechen meldete, dass aus dem geplanten Ausflug zum Schiffshebewerk nichts werde, denn im Inneren von Berlin seien furchtbare Dinge vorgekommen und Onkel Erich habe sich deshalb dorthin aufgemacht.«19 Dies seien, so kommentiert J­ ohannes Weißler, die ersten Hinweise im Tagebuch seines Bruders über Ausschreitungen gegenüber Juden. Zu Hause, so fügt er aus der Erinnerung hinzu, sei über das Thema »Hitler und die Juden« nicht gesprochen worden. Sicher auch deshalb, vermutet er, weil seine Mutter noch zu sehr über die Ereignisse um den Tod des Vaters erschüttert gewesen sei. Das Tagebuch Ulrich Weißlers erweist sich als eine der ergiebigsten Quellen zur Weißler’schen Familiengeschichte der Jahre 1938 und 1939. Die langen Sommerferien verbrachte die Familie wieder bei Verwandten in Potsdam und vor allem in Ferch. Ferch am großen Schwielowsee – das hieß vor allem Baden, Bootfahren, Radtouren, Eis essen. Es gab Autotouren im September 1938 mit der verwandten Familie Eugen und Grete Freund nach Schloss Rheinsberg; ein anderes Mal mit »Onkel Erich« zum Schiffshebewerk Niederfinow. Freunds, so erinnert sich Johannes Weißler noch Jahrzehnte später, hatten einen »Adler-Trumpf-Junior mit zu öffnendem Verdeck«. So eine Ausfahrt im offenen Wagen imponierte den Jungen ungemein: »Wir zwei Jungs durften hinten in der Gepäckklappe sitzen, das waren zwei Notsitze. Ein tolles Erlebnis, wie er so etwa mit 60 km/h fuhr und die Bäume über uns vorbei rauschten!« Herbstferien wieder in Potsdam, Kastaniensammeln im Park Sanssouci, für den Zentner gab es 1, 30 Reichsmark – doch in jenem Jahr war die – 202 –

Ernte schlecht: »wir verdienten aber nur 15 Pfg.«. Am 30. Oktober ging es ins Zeughaus Unter den Linden: »Ich war enttäuscht: es sind ja nur Kriegsgeräte dort.« Anschließend flanierte die Familie über den Hauptstadtboulevard Unter den Linden: der Volksmund, so erfahren wir, habe sie neuerdings in »Kahlbaumallee« umbenannt.20 Zum 3. November 1938 lesen wir im Tagebuch: »Es war ein großer Tag. Die 1. Stunde fiel aus, die zweite war Turnen und die 3. wurden wir geimpft. Das tat nicht weh. Danach hatten wir Schule. Am Nachmittag arbeitete ich für die griechische Arbeit und ging dann mit Eva zum Postamt in der Soorstraße, um einen internationalen Antwortschein zu holen.«21 In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 überzog eine Welle pogromartiger Gewalt die jüdischen Gemeinden im Deutschen Reich, in deren Verlauf Hunderte von Synagogen angezündet, jüdische Einrichtungen zerstört, Geschäfte geplündert und Tausende jüdischer Männer verhaftet wurden. Allein in Berlin verwüsteten marodierende Gruppen von SA , SS und Hitler-Jugend ein Dutzend Synagogen, zahllose jüdische Geschäfte und Privatwohnungen. 22 Ernst Weißler, der Musiker, berichtet in seinen Erinnerungen, wie unmittelbar die Gewaltexzesse auch in seine Verwandtschaft eingriffen: »Edgar [Worm] wurde verhaftet und in das Lager Buchenwald verbracht; Walter [Worm] in das Lager Sachsenhausen; beide wurden aber nach etwa drei Wochen wieder entlassen, während die meisten anderen Verhafteten weit länger im Lager verbleiben mussten. Victor ­[ Hoeniger], Heinrich [Hoeniger] und ich blieben wie durch ein Wunder verschont.«23 Der 13-jährige Ulrich hielt am 10. November im Tagebuch fest: »Als ich nach der Schule noch ein Unterhemd kaufen wollte, sah ich, wie an allen jüdischen Geschäften die Scheiben eingeschlagen waren und die Ware aus den Schaufenstern geraubt war (das ist Tagesgespräch).« Während der folgenden Tage und Wochen gab es zahlreiche Verwandtentreffen in der Meiningenallee, um im Schatten des Pogroms Informationen über die drohende Gefahr und erlittene Erfahrungen auszutauschen. Und immer stärker rückte die Frage in den Vordergrund: Bleiben oder Fortgehen? Am 12. November notierte der Gymnasiast: »Onkel Erich (nicht verhaftet!) und Tante Mariechen kommen zu Besuch. Später erschien auch – 203 –

Marianne. Alle tief erschüttert.« Einen Tag später berichtet Ulrich von einem erneuten Verwandtentreffen zu Hause: Gerhard Weißler und Gerhard Hayn sowie Onkel Ernst seien gekommen. »Gerhard H. will sich morgen seinen Pass holen, übermorgen die Bescheinigung für die Instrumente und dann nach Holland fahren.«24 Weiterleben wie bisher? Oder alle Zelte abbrechen in diesem Land? Beide Erwägungen lagen im Widerstreit während der folgenden Wochen und Monate bei den betroffenen Familien. Manches normalisierte sich wieder. Am 16. November war Buß- und Bettag und die Weißlers besuchten den Gottesdienst bei Pfarrer Gürtler in der Heerstraßenkirche. Nach allem, was wir von diesem Pfarrer wissen, gehörte er nicht zu den wenigen mutigen Theologen wie Helmut Gollwitzer, die an diesem Tag die kaum eine Woche zurückliegenden Pogromereignisse in der Predigt thematisierten.25 »Ich arbeite an der Wissenschaftlichen Arbeit«, notierte Ulrich am 26. November im Tagebuch. Die Gymnasiasten hatten eine »wissenschaftliche Arbeit« nach freier Themenwahl zu fertigen. Ulrich, der viel bastelte und baute mit elektrischen Eisenbahnen, Telefongeräten und Radioapparaten, hatte als Thema »Etwas aus der Elektrizität« gewählt. Als er die Arbeit im Januar zurückbekam, lautete das Lehrerurteil: »eine ganz hübsche Arbeit, 2 (gut)«. Häufig und gern besuchte er in der freien Zeit den Jugendbibelkreis in der Charlottenburger Lietzenseegemeinde. Nur das Liedersingen, das lag ihm noch immer nicht: »Beim Kreis flöte ich jetzt, wenn die anderen singen.« Kurz vor Weihnachten (18. Dezember) erfahren wir aus dem Tagebuch: »Mit Tante Liesel, die seit dem 28.11. bei uns ist (Onkel Edgar ist verhaftet), gingen wir am Vormittag zum Gottesdienst zu Jakobi.« Edgar Worm war folglich noch immer in Buchenwald inhaftiert. Seine Frau hatten die Weißlers bei sich aufgenommen. Zusammen besuchte man an diesem 4. Advent den Gottesdienst des Bekenntnispfarrers Gerhard Jacobi in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis­ kirche.26 Weihnachten 1938 – es war das letzte Mal, dass Ulrich Weißler das Fest im Kreis seiner Familie miterlebte. Dass er im neuen Jahr nach England kommen würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. An Heiligabend war viel Betrieb:27 – 204 –

»24.12., Am Vormittag bauten wir im Kinderzimmer den Tisch für die Großen auf. Auch übten wir das Theaterstück. Dann gingen wir mit Schönwetters rodeln. Nach dem Essen räumten wir im Kinderzimmer auf. Dann zogen wir uns um und gingen in die Kirche. Als wir wiederkamen, sagten Johannes und ich unsere Gedichte her und führten dann das Theaterstück auf. Danach steckte Mutti den Baum an und klingelte mit einer Glocke. Das war das Zeichen zum Hereingehen. In der Ecke am Buffet stand der Weihnachtsbaum. Daneben stand der Schreibtisch mit den Geschenken für uns. Von Großmama und Tante Erna bekamen wir BoschRadlampen mit Dynamo, von Tante Liesel eine Eisenbahnlampe und ein Läutewerk (das wir umtauschen). Dann hatten wir noch eine Kreissäge zur Dampfmaschine und Spiritus, einen Volks­ wagen und den des Führers (in Miniatur), ein paar Handschuhe, eine Federtasche, ein paar Weichen und anderes mehr. Nach dem Abendessen bauten wir unsere Bahn auf…« Natürlich bekamen auch die Großen von den Kindern etwas geschenkt, zumeist eigene Bastelarbeiten: Briefständer, Brezelständer, einen Kalender oder bunte Transparente aus Sperrholz, mit der Laubsäge gearbeitet. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit, dass auch Edgar Worm wieder da war, inzwischen zurückgekehrt aus der KZ Haft von Buchenwald. Am ersten Feiertag traf ein Paket von Dr. Heinrich Schmidt, dem ehemaligen Mitarbeiter des Vaters im Büro der Kirchenleitung, für die Jungen ein: ein Buch für Johannes und Kasperlestücke für Ulrich. Am zweiten Feiertag stand der obligatorische Verwandtenbesuch in Potsdam an. Während die Großen Kaffee tranken, gingen die Jungs ins Kino, ein Luis-Trenker-Film: Liebesbriefe aus dem Engadin. »Das ist sehr lustig und alles auf Schiern.« Am letzten Tag des Jahres war viel Schnee gefallen, das bedeutete Schlittenfahren in Berlin, und nachmittags Kinderkarneval bei Schönwetters. Abends durften die beiden Jungen zum ersten Mal aufbleiben. Die Kinder spielten Silvesterstreiche. Onkel Edgar, gerade von Buchenwald zurückgekehrt, boten sie »spritzende Streichhölzer« an und ließen ihn mit einem falschen Bleistift mit Gummispitze schreiben. Der Onkel wird das sicher sehr amüsant gefunden – 205 –

haben. Um Mitternacht »sahen wir vom Fenster Raketen steigen und hörten die Rufe: Prosit Neujahr!«28 Prosit Neujahr rief man sich am Ende dieses fatalen Jahres von Fenster zu Fenster in der Meiningenallee zu: Prosit 1939! Aber gewiss nicht alle Nachbarn werden an diesem Silvesterabend erwartungsfroh in diesen Ruf eingestimmt haben. Was war zu erwarten vom neuen Jahr im Großdeutschen Reich Hitlers, nach den Exzessen des November 1938? Wie die Erinnerungen von Ernst Weißler zeigen, war die (erzwungene) Auswanderung in seinem weit verzweigten Verwandtenkreis jetzt das Gebot der Stunde. Fritz Worm war bereits im November 1935 nach Rio de Janeiro abgereist. Hans Freund wanderte 1937 nach Buenos Aires aus. Eugen und Margarete Freund fuhren im September 1938 zu Besuch nach Stockholm, wo bereits ihr Sohn Fritz mit Familie lebte, und kehrten nicht zurück. Heinrich H ­ oeniger war im Jahr 1938 mit dem Ziel Vereinigte Staaten herausgegangen. Gerhard Weißler, der 20-jährige Sohn des 1935 in Magdeburg verstorbenen Otto Weißler, hatte einige Semester Physik an der Technischen Hochschule Berlin studiert. Als ihm aus rassischen Gründen das Betreten der Hochschule verboten wurde, wanderte er im Januar 1939 nach San Francisco aus, wo bereits Verwandte lebten.29 Im April 1939 gingen der Arzt Edgar Worm und sein Sohn Wolfgang, ebenfalls Mediziner, nach China und ließen sich unter Schwierigkeiten in Schanghai nieder. Ernst Weißler schließlich war spätestens seit dem Pogrom fest entschlossen, das Land zu verlassen. Im Januar 1939 löste er seinen Haushalt auf und verkaufte seinen Bechsteinflügel weit unter Wert. Er wohnte vorübergehend bei Verwandten und schiffte sich am 13. Juni 1939 in Bremerhaven nach Schanghai ein.30 Am 22. März 1939 feierte Ulrich Weißler seinen 14. Geburtstag. Wie das Tagebuch verrät, war er wieder ganz mit technischen Geräten befasst, denn »von jetzt an baue ich ein Telefon mit gekauftem Mikrofon (50 Pfg.) und Kopfhörern.« Aber zugleich bereitete sich schon seit Wochen ein großer Lebenseinschnitt vor: Der Junge, so hieß es jetzt, soll nach England, denn es stand zu befürchten, dass ihm als »Mischling« der Weg zum Abitur versagt würde. In Gesprächen mit der befreundeten Familie Freudenberg in Dahlem sowie mit Pfarrern und mit kirchlichen Hilfsstellen wurde wohl zu diesem – 206 –

Schritt geraten und viele halfen bei der Vorbereitung der Ausreise.31 Seit Februar erhielt er privaten Englischunterricht. Ende April holte seine Mutter den Reisepass ab. Für seine Ausstattung auf der regnerischen, nasskalten Insel erhielt er im Mai einen »wunderbaren dunkelblauen Wintermantel (33.- M).« Am 13. Mai notierte Ulrich: »Ich hatte zum 1. Male bei Mr. Lichlett Moon einem Engländer englisch. Der spricht kaum deutsch. Er spricht nur englisch, tut, als ob er kein deutsch versteht, kann es aber sehr gut. Sehr zweifelhafte Person!« Auch ein Gesundheitsattest war beizubringen: zu dicke Mandeln, stellte der Arzt zwar fest, aber Nieren ganz einwandfrei.32 In höchst aufdringlicher Weise griff die große Politik während dieser Monate in das Leben eines Schülers ein; zumal eines Schülers, der aus guten Gründen nicht der Hitler-Jugend angehörte und der gewiss kein Motiv hatte, irgendetwas Positives mit dem NS -Regime zu verbinden. Am 9. Februar hielt er fest: Ich arbeite an meinem Vortrag in der Schule zum 25.2. »Peter Henlein«. Am 20. März hatten dann die Schüler wegen der Tschechei … schulfrei. 33 Erneut kein Schulunterricht am 20. April: Nationalfeiertag wegen Adolf Hitlers Geburtstag. Zur Parade standen Johannes und ich neben dem Opernhaus. Als wir nur Autos, Motorräder und Tanks (ohrenbetäubend) gesehen hatten, gingen wir. Am 28. April notiert er im Tagebuch: Übertragung der Führerrede in der Schule. Eine schöne Sache. Eine schöne Sache? Hier, so ist zu vermuten, urteilte wohl vor allem der Radiobastler, der beeindruckt von der modernen Technik war, vielleicht auch der Schüler, der sich über Unterrichtsausfall freute. Vormittags hörte er die »Führerrede«, und am selben Tag nachmittags fuhren er und seine Familie zum Stahnsdorfer Friedhof und pflanzten Stiefmütterchen am Grab des Vaters. Und wie oft sollte schulfrei noch folgen in diesem Mai 1939: Da am 18.5. (Himmelfahrt), 19.5. (Volkszählung) und am 22.5. (Ciano) schulfrei war, konnte ich viel basteln…34 Und in diesem Rhythmus ging das ­Schülerleben weiter in jenem hochgradig politisierten Sommer von 1939: am 30. Mai war schulfrei wegen des Besuchs des Prinzregenten von Jugoslawien; kurz darauf hieß es wieder schulfrei wegen Abreise des Prinzregenten.35 Einen Tag später lautete die Parole in den Schulen: die Spanienkämpfer kommen wieder! Also erneut schulfrei, Spalierbilden, – 207 –

jubelnde Schulkinder begrüßen die Hilfstruppen des spanischen Diktators Franco.36 Für uns Jungs, so kommentierte Johannes Weißler diese angeordneten politischen Jubelwochen der Schüler viele Jahre später, sei das natürlich prima gewesen. Die Ausreise nach England war auf den 22. August 1939 festgelegt. Zuvor aber gab es während der Sommerferien eine letzte große Ferienreise zu Verwandten nach Freiburg und an den Bodensee, mit Abstechern in die Schweiz bis nach Lugano im Süden, wo es für die Kinder italienisches Eis und sogar Pfirsiche gab. Die beiden Jungen aßen viel Eis während dieser Reise, am liebsten mit Schlagsahne, die zu Hause schon rationiert war. Letzte Wochen in Berlin: Der Adolf-Hitler-Platz (der heutige Theodor-Heuss-Platz), so erfahren wir am 8. August, soll nun zum Mussolini-Platz umgebaut werden. Am 19. August war für Ulrich Weißler der letzte Schultag. Es sei ein »rührender Abschied« gewesen: »Jeder drückte mir mehrmals die Hand.« Am Dienstag, den 22. August war der schwere Tag der Abreise herangekommen:37 »Nachdem wir gestern alle Vorbereitungen beendet hatten, brachten mich Mutti und Johannes (…) an den Schlesischen Bahnhof. In dem Sonderwartesaal mussten wir von 7 Uhr bis ½ 8 warten. Dann wurden die Namen aufgerufen (es waren etwa 150) und jeder gab seinen Koffer und Pass ab. Um ½ 9 Uhr mussten wir uns verabschieden und es ging in dieser Reihenfolge auf den Bahnsteig, wo die Eltern nicht hindurften. Um ¾ 9 Uhr ging der Zug ab auf der Stadtbahnstrecke über Zoo, Friedrichstrasse und Charlottenburg. Auf den Bahnhöfen, wo der Zug hielt, waren auch immer wieder Eltern, die mit der Stadtbahn uns überholt hatten. Dieser jüdische Kindertransport hatte einen Wagen und einige Abteile reserviert. Am Savignyplatz sah ich Tante Else [Hayn] und noch jemanden, der wahrscheinlich Lina [das Dienstmädchen] war, winken. Dann fuhren wir die Strecke über Spandau-West am Reichssportfeld vorbei. (…) Um 3 Uhr waren wir in Osnabrück, wo die Devisenkontrolle einstieg. Während der Weiterfahrt wurden wir nach unserm Geld gefragt. Als ich meine 10 M zeigte, war es in Ordnung, da ich einen Pass hatte, obwohl ich schon einmal im August 4 M mit in die Schweiz genommen hatte. (…) Dicht – 208 –

Auguste Weißler und Ulrich Weißler im Sommer 1939

hinter der Grenze wurde Brauselimonade verteilt. In der Dämmerung sahen wir dichten Nebel aufsteigen. Um ½ 10 Uhr waren wir in Hoek van Holland, wo wir gleich aufs Schiff gingen. Die Koffer wurden im Abteil gelassen und dann in den Laderaum gebracht. Zu Vieren hatten wir eine Kabine. Ich hatte das obere Bett. Es waren immer zwei übereinander. Um 12 Uhr fuhr das Schiff ab, was ich gar nicht merkte, denn ich war gleich eingeschlafen. Die Überfahrt war sehr ruhig.« Und noch ein weiterer Abschied geschah in diesem August 1939. Am 8. August notierte Ulrich Weißler sehr knapp und lakonisch: »Heute vormittag brachte Mutti Schönwetters an die Bahn.« Ihre Nachbarn, die Familie des jüdischen Kaufmanns Adolf Schönwetter mit den drei Töchtern im Kindesalter, emigrierte mit dem Ziel Vereinigte Staaten. Als die Weißlers im September 1933 aus Magdeburg – 209 –

geflüchtet waren, um in Berlin neu anzufangen, hatten sie nicht nur Glück mit ihrer neuen Wohnung in der Meiningenallee. Sie hatten auch Glück mit ihren unmittelbaren Nachbarn in der ersten Etage, mit denen sie Tür an Tür wohnten. Es waren immerhin keine Nazis, denen sie auf dem Flur begegneten und die sie, wenn sie sich Schwierigkeiten ersparen wollten, mit »Heil Hitler« hätten grüßen sollen. Die Beziehungen zwischen beiden Familien waren eng und freundschaftlich. Das ergab sich schon aus dem gemeinsamen Spiel der Kinder. Bei insgesamt fünf Kindern war fünf Mal im Jahr Kindergeburtstag zu feiern, drei Mal bei Schönwetters, zwei Mal bei Weißlers. Und was gab es nicht sonst alles an gemeinsamen Vergnügungen: Kostümfeste, Kinderkarneval, Kasperle-Theater, Rollschuhlaufen, Kartenspiel (»Poch«). Anlässlich der Beerdigung Friedrich Weißlers im Februar 1937 war es Adolf Schönwetter, der die Familie in seinem Wagen zum Friedhof nach Stahnsdorf fuhr. Schönwetters dürften eingeweiht gewesen sein in die näheren Umstände der Verhaftung und schließlich der Ermordung ihres Nachbarn im KZ Sachsenhausen. In den Wochen nach der »Kristallnacht«, als der jüdische Geschäftsmann sich vor Gestapo-Besuch zu fürchten hatte, übernachtete er häufiger in der Nachbarwohnung, um einer Verhaftung zu entgehen. Die Pogromereignisse dürften ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass die fünfköpfige Familie im August 1939 gerade noch rechtzeitig vor Kriegsbeginn Hitlerdeutschland verließ.38 Als im September 1939 Hitlers Krieg begann, war Johannes ­Weißler soeben elf Jahre alt geworden.39 Der Beginn des Krieges habe sich bei ihm zu Hause nur wenig bemerkbar gemacht, schreibt er. Man habe im Radio die Berichte vom »Polen-Feldzug« gehört. »Ab und zu gabs Sondermeldungen, wenn irgendein Sieg errungen wurde. Dazu wurde als Einleitung eine Musik aus ›Les Preludes‹ von Liszt gespielt, die recht bombastisch-eindrucksvoll ist. Man hörte diese Musik manchmal durchs offene Fenster der Nachbarn.« Wir Jungs, so berichtet er, lasen gern die kleinen 10-Pfennig-Heftchen mit Kriegsberichten, die man jede Woche neu in den Zeitungsläden kaufen konnte. Diese Geschichten seien natürlich spannend für die Jugend gewesen, Heldentaten deutscher Soldaten. Gleich im ersten Kriegswinter sei Verdunkelung eingeführt worden. Straßen– 210 –

lampen blieben ausgeschaltet. Autofahrer mussten dunkle Kappen über die Scheinwerfer legen, mit einem dünnen Schlitz, der kaum Licht herausließ. »Das mussten wir Jungs natürlich auch für unsere Fahrradlampen haben.« Es sei doch häufig gespenstisch gewesen, so im Stockfinstern nach draußen zu gehen. »Man konnte auch kleine Ansteck-Plaketten kaufen mit Phosphorfarbe, die leuchteten im Dunklen so blass-­grün-gelb. Das war noch unheimlicher, wenn solche glimmenden Punkte rumliefen und man sich ab und zu doch mal anrempelte. Uns Kindern machte es jedenfalls viel Spass so im Dunklen.« Fast alle Lebensmittel waren rationiert und nur noch auf Karten zu erhalten.40 Seit Sommer 1941 seien erste feindliche Flieger bis Berlin gekommen.41 Als die ersten Bomben fielen, sei das noch eine Sensation gewesen, erinnert sich Johannes Weißler, die Zeitungen hätten von »Barbarei gegen Mütter und Kinder« berichtet. Wenn nachts die Sirenen heulten, mussten alle Hausbewohner mit Notköfferchen in den Luftschutzkeller. Durch die NS -Propaganda sei bekannt gewesen, »dass Juden nicht mit in den Luftschutzkeller gehen durften. (…) Meine Grossmutter Hapu war Jüdin, und Herr Stickel, als Luftschutzwart für diesen Umstand zuständig, fragte im Keller die Hausgemeinschaft, ob die alte Frau Weißler auch im Keller Schutz suchen dürfte. Keiner sprach dagegen, denn alle kannten uns ja seit vielen Jahren.« In dem Haus Meiningenallee 7 seien zu dieser Zeit nur noch Frauen anwesend gewesen, außer dem Luftschutzwart ­Stickel, einem Diplomingenieur mit kriegswichtigen Arbeiten bei Siemens. In der Schule – Johannes Weißler besuchte inzwischen die Herder-Realschule – gab es im wöchentlichen Wechsel mal vormittags, mal nachmittags Unterricht. An den freien Nachmittagen oder am frühen Abend hätten die Jugendlichen gern Kriegsfilme im Kino gesehen. »Dass das alles Propaganda war, fiel uns nicht so auf, die Helden im Luftkampf oder hinter den feindlichen Linien waren ganz toll.«42 Die Familie war im Laufe der Hitlerjahre kleiner geworden. Als die Weißlers im September 1933 nach Berlin kamen, bewohnten fünf Personen die Vierzimmerwohnung in der Meiningenallee. Nach dem Tod des Familienoberhaupts im Februar 1937 und der Ausreise – 211 –

­ lrichs nach England im August 1939 waren sie nur noch zu dritt. U Zu Kriegszeiten, sofern nicht Bombenalarm war, ging es abends ruhig zu. Nach dem Essen, erinnert sich Johannes, saßen seine Mutter und er mit Hapu, der Großmutter, im Wohnzimmer: »ich las Jungsbücher, Mutti strickte oder nähte, Hapu las auch, im Radio hörte man nur Kriegs-Erfolgsmeldungen, soundsoviele Bruttoregistertonnen versenkt, diese und jene Stadt eingenommen. Uns interessierte es wenig.« Im Juni 1943, wieder spät in der Nacht wie sieben Jahre zuvor, kamen erneut Polizisten in die Wohnung. Auguste Weißler, die 83-jährige Mutter Friedrich Weißlers, wurde »abgeholt« und in die Hamburger Straße in ein Sammellager gebracht. Sie hatte sich 1938 nach dem Pogrom taufen lassen, aber bekanntlich schützte die Taufe Christen jüdischer Herkunft nicht vor der NS -Rassenpolitik und ihren Konsequenzen.43 Von der Sammelstelle ging sie mit einem Transport nach Theresienstadt. Schon zuvor war Fritz Hirschfeld, ein Verwandter der Weißlers, dorthin deportiert worden. Ende November 1943 teilte er auf einer Postkarte mit, dass die Großmutter in Theresien­stadt am 20. November verstorben sei.44 Neue Ausführungsbestimmungen zu den Nürnberger Gesetzen verlangten gegen Ende 1942, dass »Mischlinge« keine weiterführenden Schulen besuchen durften.45 Für Johannes Weißler bedeutete dies zu Ostern 1943, im Alter von 14 Jahren die Herder-Real­ schule zu verlassen und eine Lehre zu beginnen. Mit der Mutter ging es zur Berufsberatung am Alexanderplatz. Es gab viel Hin und Her, das Ergebnis lautete schließlich: der Junge soll Technischer Zeichner lernen, was ihm, dem »Techniker«, durchaus lag. Es fand sich eine Lehrstelle bei einer Schiffbaufirma, die eine Versuchsabteilung in der Charlottenburger Schlüterstraße (2. Hinterhof) hatte. Nun ging es jeden Morgen um 6.30 Uhr mit dem Fahrrad zur Werkstatt in der Schlüterstraße. Am Anfang waren Eisenstücke zu feilen: »So feilten wir Woche für Woche, es war stinklangweilig, immer nur von morgens bis abends am Schraubstock stehen, und der [Eisen-] Würfel wurde kleiner und kleiner. Nach 3 oder 4 Wochen war der Meister dann endlich zufrieden.« Erst im Laufe der Wochen und Monate bemerkte der Lehrling nach und nach, dass er indirekt in eine kriegswichtige Produktion einbezogen worden war. – 212 –

In der Werkstatt wurden probeweise Tragflächen für einen ganz neuen Schiffstyp gebaut, »eine höchst kriegswichtig-geheime Geschichte«. Im November 1943 nahm der Lehrling mit einem älteren Monteur an einer Dienstreise nach Travemünde teil. Es waren Hydraulik-Steuerungen in ein Tragflächenboot einzubauen. Nach längeren Arbeiten im Trockendock kam dann endlich die aufregende Probefahrt. Sogar der Chef war aus Berlin gekommen, auch hohe Nazi-Funktionäre waren beim Test dieser ›Wunderwaffe‹ mit an Bord: »Das Boot fuhr erst langsam die Trave heraus, im freien Meer dann etwas schneller, und nach ca. 1 Stunde drehte man auf, man merkte, wie sich das Boot langsam aus dem Wasser hob und nur auf den Tragflächen glitt. (…) Es durfte kein Fenster, keine Tür geöffnet werden, der Fahrtwind draussen war enorm, denn wir fuhren ca. 80 km/h schnell, wir konnten es ja im Kommandoraum ablesen. (…) Wir waren richtig stolz, so was mit zu erleben. Nach mehreren grossen Kurven gings zurück in die Werft, es mussten doch einige Kleinigkeiten geändert werden.«46 Langweilig war die Kriegszeit für einen Jugendlichen wie Johannes Weißler nicht, vielmehr äußerst aufregend, abwechslungsreich und teilweise lebensgefährlich. Der Heranwachsende (bei Kriegsbeginn war er 11 Jahre, bei Kriegsende 16 Jahre alt) kam von einer »Verwendung« in die nächste: Lehre als Technischer Zeichner in Berlin, Dienstreise nach Travemünde mit Tragflächenboot-Probefahrt auf der Ostsee, Montage in Hamburg-Harburg, Einsatz im Stammwerk in Dessau-Rosslau, im September 1944 militärische Übungen im Wehr-Ertüchtigungslager bei Mittweida, zuletzt noch die Einberufung zur Organisation Todt (OT), einer Einrichtung, die damals – teilt Johannes Weißler mit – von den Betroffenen als »mildes KZ« bezeichnet worden sei.47 Zusammen mit anderen OT-Männern kam der junge Weißler zum Arbeitseinsatz auf einer Baustelle bei Dresden, von wo aus er in einer Februarnacht 1945 das lichterloh brennende Dresden sah. Schließlich kehrte er in abenteuerlicher Reise mit dem letzten Zug vor Kriegsende von Dresden am 19. und 20. April 1945 zurück nach Berlin.48 * – 213 –

Friedrich Weißlers Martyrium und sein früher Tod im Lager Sachsenhausen waren angesichts so vieler in rascher Folge sich überstürzender Ereignisse seit 1937 bald in den Hintergrund gerückt, wenn nicht völlig vergessen. Ein öffentliches Gedenken für den erfolgreichen Juristen und bekennenden Christen, der in der NS -Öffentlichkeit als »Jude« galt, konnte es bis Kriegsende nicht geben. In der Familie gab es stilles Gedenken, besonders an jenen Tagen, wenn sich der Todestag im Februar jährte. Familienangehörige besuchten den Friedhof in Stahnsdorf, solange die schwierigen Kriegsverhältnisse dies noch zuließen. Der letzte lebende Bruder Ernst Weißler hielt sich mühsam als Musiker im fernen Schanghai über Wasser. Der älteste Sohn Ulrich war im August 1939 nach England verschickt worden und blieb auf Dauer dort. Friedrich Weißlers Mutter war im Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert worden, wo sie nach wenigen Monaten verstarb. Auch die dicht geknüpften verwandtschaftlichen Zusammenhänge der Familien Weißler, Hayn, Hoeniger und Worm lösten sich mehr und mehr auf: es gab Todesfälle, Emigrationen, Lagerhaft und später in mehreren Fällen auch die tödliche »Evakuierung« nach dem Osten.49 Auch die Verbindungen zu nahestehenden Pfarrern der Bekennenden Kirche lösten sich mehr und mehr. Zum zweiten Todestag sandte der emigrierte Pfarrer Hildebrandt von Cambridge einen einfühlenden Brief an die Witwe. Er berichtete von vielen emigrierten deutschen »Leidensgenossen«, die er inzwischen in England zu betreuen habe.50 Engere Kontakte bestanden weiterhin zum Kirchenjuristen und früheren Mitarbeiter des Verstorbenen in der Kirchen­leitung Heinrich Schmidt, den Johanna Weißler einmal in Suhl besuchen konnte. Wie sie dabei erfuhr, stand er unter Gestapo-Überwachung.51 Etliche Pfarrer, die den Weißlers mehr oder weniger eng verbunden gewesen waren, gerieten nun in wachsendem Maße selbst in die Verfolgung. Martin Niemöller befand sich seit Juli 1937 ununterbrochen bis Kriegsende in Haft. Der Spandauer Superintendent Martin Albertz kam als unerschrockener Frontmann der Kirchenopposition während der Kriegsjahre mehrfach in Haft. Pfarrer Friedrich Müller von der Kirchenleitung war im Jahr 1939 seines Dahlemer Pfarramtes enthoben worden und befand sich seit Dezember 1939 als Gräberoffizier im Kriegseinsatz im Osten, wo er 1942 – 214 –

Postkarte von Johannes Weißler an seine Mutter (Februar 1944)

unter mysteriösen Umständen verstarb. Eine handlungsfähige Bekennende Kirche, die sich während der Kriegsjahre ihres ersten Märtyrers im Gedenken irgendwie hätte annehmen können, gab es im Raum Berlin-Brandenburg faktisch nicht mehr.

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resümee Reformationsgedenken im Jahr 2017, die protestantische Performance in der Hitlerzeit und Friedrich Weißler Nicht wenige Leser werden fragen: Warum musste diese furchtbare Totschlaggeschichte in aller Ausführlichkeit noch einmal erzählt werden? Die Antwort lautet: Weil sie die »deutsche Katastrophe« des frühen 20. Jahrhunderts wie im Brennglas in einer einzigen Biografie aufzuzeigen vermag. Man könnte einwenden: Das alles ist doch längst vorbei, und über die Katastrophe wissen wir doch inzwischen alles. Sicher, die »deutsche Katastrophe« ist Vergangenheit – aber wissen wir über sie und warum sie geschah wirklich alles? Warum ist es nötig, werden andere einwenden, diese furchtbare Geschichte vom armen Weißler ausgerechnet im Gedenkjahr 2017 aufzutischen, wo deutsche Protestanten und mit ihnen Katholiken und viele Christen weltweit die Erfolgsgeschichte von 500 Jahren Reformation feiern wollen? Antwort: Weil diese Totschlaggeschichte viel mit der Christentumsgeschichte und vor allem mit der deutschen Protestantismusgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts zu tun hat. Und letztere kann über weite Strecken – bedauerlicherweise – nur als eine Versagensgeschichte aufgefasst werden. Jedes Reformationsgedenken wäre unehrlich, das nicht gleichzeitig auch Geschehnisse wie die Weißler-Geschichte erinnern würde. Wer immer die 500 protestantischen Jahre feiern will, muss auch die zwölf fatalen Hitlerjahre mitbedenken.1 Die protestantische Performance im »Dritten Reich« lässt sich nicht ausklammern. Gewiss, nicht alle Wege der deutschen neuzeitlichen Geschichte führten von Luther zu Hitler – aber einige eben doch. Die Von-­ Luther-­zu-Hitler-These war nicht allein die böse Erfindung während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ersonnen von – 217 –

einem US -amerikanischen Archäologen und Politikwissenschaftler (William M. McGovern) und einem englischen Lehrer jüdischer Herkunft, der aus Deutschland emigrieren musste (Peter F. Wiener), um die ohnehin stark kompromittierten Deutschen noch ein Stück weit mehr zu diskreditieren. 2 Tatsächlich waren es doch viele Protestanten der Hitlerzeit selbst gewesen, die auf eine Traditionslinie von Luther zu Hitler verwiesen – und sie taten dies voller Stolz, mit ihrem neu gewachsenen Selbstbewusstsein von 1933. Denn sie bewunderten Hitler und seine Bewegung, gehörten vielfach ihr selbst an und wollten mit der gedenkpolitischen Konstruktion dieser Traditionslinie ihren Luther aufs Neue ehren und zum Nationalheros des »Dritten Reiches« emporheben.3 Dabei wurden Luthers böse »Judenschriften« aus dem 16. Jahrhundert um 1933 allenthalben wiederentdeckt, neu aufgelegt und auch in Kirchenkreisen zustimmend popularisiert. Zweifellos wirkten diese fatalen Schriften wie ein Brandbeschleuniger für einen ohnehin schon kräftig ausgeprägten deutsch-christlichen Antisemitismus.4 Die Feiern zum 450. Geburtstag des Reformators im Herbst 1933 erzählen von diesem völkischen Lutherenthusiasmus in aller Anschaulichkeit, besonders an urprotestantischen Erinnerungsorten wie Eisleben, Coburg, Eisenach und Wittenberg. Die Stadt Wittenberg, neben der Wartburg der deutsche Erinnerungsort schlechthin zu Luther und Reformation, erhielt im Jahr 1938 ihren offiziellen Zusatznamen »Lutherstadt«, den sie heute wieder mit viel, gelegentlich allzu viel Stolz führt. Der protestantische Lutherfeierdrang von 1933 war so groß, dass der katholische Reichskanzler und seine politische Führungstruppe bremsen mussten, da sie das andere Drittel der Deutschen, die katholisch ­waren und auch der »Volksgemeinschaft« angehören sollten, nicht allzu sehr verprellen wollten.5 Für die meisten Deutschen und auch für die meisten jüdischen Deutschen war das 19. Jahrhundert eine famose Erfolgsgeschichte: ein stetiger wirtschaftlicher Aufstieg, Zugewinn an bürgerlichen Rechten und politischen Freiheiten, die gloriose Reichseinigung von 1871, eine lange Friedensperiode und gegen Ende des Jahrhunderts bei vielen Zeitgenossen das erhebende Gefühl von neuer Größe, von neuer deutscher Weltgeltung. Viele partizipierten an diesem deut– 218 –

schen Aufstieg in Europa, die Protestanten mehr als die Katholiken, die Preußen mehr als die Bayern oder Sachsen, das Bürgertum mehr als die unteren Schichten.6 Auch für die deutschen Juden war dies ein erfolgreiches Jahrhundert: Judenemanzipation mit dem Ziel der rechtlichen Gleichstellung, Teilnahme am wirtschaftlichen Aufstieg, Erwerb bildungsbürgerlicher Qualifikationen und Berufspositionen, kreative Beiträge zu allen Bereichen von Wissenschaft, Kultur und Kunst. Die Weißlers und die mit ihnen verflochtenen jüdischen Familien gingen diesen Erfolgsweg des 19. Jahrhunderts mit. Geografisch war dies ein Weg aus dem osteuropäischen Raum in Richtung Westen, sozial für viele ein Aufstieg in die akademischen Professionen des Bildungsbürgertums, politisch ein Anschluss an den nationalen Liberalismus, religiös bedeutete diese Entwicklung vielfach eine Abkehr vom orthodoxen Judentum, es gab Schritte einer jüdischen Selbstsäkularisierung über mehrere Generationen hin, in vielen Fällen erfolgte eine weitreichende kulturelle Assimilation und Konversion zu christlichen Konfessionen oder in das konfessionsfreie Dissidententum.7 Adolf Weißler, der Vater von Friedrich Weißler, verkörperte diesen Erfolgsweg der jüdischen Kaiserreichgeneration in exemplarischer Weise. Auch er ging von Ost nach West, von der oberschlesischen Grenzregion in die preußisch-protestantische Universitätsstadt Halle. Er absolvierte ein juristisches Studium im neuen deutschen Kraftzentrum Berlin und konnte sich beruflich trotz mancher Widerstände als Rechtsanwalt, Notar und vor allem als erfolgreicher rechtswissenschaftlicher Publizist etablieren. Politisch orientierte er sich an der nationalliberalen bürgerlichen Mitte des Kaiserreichs, ohne sich parteipolitisch zu exponieren. Im Religiösen repräsentiert er eine Generation zwischen Judentum und Christentum, einen religiös skeptischen, suchenden Mann des Übergangs. Sein beruflicher Enthusiasmus für das Juristenfach, insbesondere seine über alles geliebte juristische »Schriftstellerei«, okkupierte ihn vollständig und ließ wenig Zeit für religiöse Praxis oder parteipolitisches ­Engagement. Begeisterung für klassische deutsche Kunst und Kultur, mehr noch, eine Art deutscher Kulturreligion war bei ihm an die Stelle des alten Glaubens getreten. Vom religiösen Judentum und – 219 –

auch vom Zionismus distanzierte er sich in mehreren nicht veröffentlichten Schriften überaus deutlich. Vieles im Kulturprotestantismus der Gebildeten um 1900 sah er als angemessene religiöse Haltung für einen modernen Zeitgenossen an, zu einem Übertritt konnte er sich jedoch nicht entschließen. Solche Schritte, die er selbst noch nicht tun wollte, setzte er ziemlich rigoros gegen familiäre Widerstände für seine drei Söhne durch: keine Beschneidung, dafür Taufe im frühen Kindesalter. Angekommen im preußisch-deutschen, protestantischen Bildungs­ bürgertum der wilhelminischen Epoche – das war um 1910, nach zwanzig Jahren erfolgreichen Berufslebens in Halle, das vorherrschende Lebensgefühl bei den Weißlers. Es war eine Zeit kontinuierlichen Zuwachses an Berufserfolgen, auch an Einkommen, an Anerkennung und öffentlichem Ansehen. Im Wesentlichen verdankte der Rechtsanwalt und Notar diese Anerkennung seiner fachwissenschaftlichen Arbeit als Publizist und seinem sozialen Engagement in den juristischen Berufsverbänden, besonders im Deutschen Notarverein, den er mitbegründete. Adolf Weißler war um 1910 in Fachkreisen ein reichsweit geschätzter Jurist, der durch seine Publikationen hohes Renommee erworben hatte. Die Familie konnte sich inzwischen eine ansehnliche Residenz in bester Stadtlage für die Anwaltskanzlei und Wohnung leisten. Ein nach Halle 1893 mitgebrachtes Familienkapital war nach anfänglichen Verlusten auf fast das Doppelte angewachsen. Das erbrachte nebenher erhebliches jährliches Zinseinkommen, bürgerliche Sicherheiten, und half mit, die Ausbildung der drei Söhne zu finanzieren. Es war schon nahezu selbstverständlich, dass alle drei Söhne das humanistische Gymnasium mit Griechisch und Latein absolvierten und anschließend fast gleichzeitig studierten, was offenbar keine finanziellen Probleme bereitete. Über die Musik partizipierte die hochmusikalische Familie an den maßgeblichen Musikvereinen und Chorveranstaltungen in einer Stadt mit hoher Musikkultur, die in der Tradition Georg ­Friedrich Händels stand. Auch das schuf wichtige Bindungen und Verbindungen auf der Honoratiorenebene der Stadt. Nahezu unmerklich wuchs die zwischen den Religionen stehende Familie in das liberale Milieu des Kulturprotestantismus der Epoche hinein. Das – 220 –

geschah wesentlich durch die Jugenderziehung in den evangelisch geprägten Schulen und auch durch Kontakte zu den Kirchen. Die getauften Kinder nahmen selbstverständlich am schulischen Religionsunterricht teil, und sie wurden im kirchlichen Konfirmandenunterricht gewiss mit dem Kleinen Katechismus Martin Luthers und den Kirchenliedern Paul Gerhardts traktiert. Zu Hause prägten die kirchlichen Fest- und Feiertage den Lebensrhythmus wesentlich mit. An Sonntagvormittagen zog Vater Weißler das Wandern mit den Kindern in freier Natur dem Kirchenbesuch vor. Zu Weihnachten stand ein Christbaum im Wohnzimmer. Vielleicht keine anderen Aktivitäten drückten gesellschaftliche Anerkennung, bürgerliche Arriviertheit und ein gewisses Hochgefühl besser aus als die splendiden Sommerreisen der Weißlers vor dem Krieg: so im Jahr 1908 – im Anschluss an die üppige Jahrestagung des Deutschen Notarvereins in Köln – rheinaufwärts bis in den Schwarzwald, und vor allem die ausgedehnte Familienreise im Sommer 1909 in die exklusive Höhenluft der Schweizer Berge und bis an die landschaftlich so herrlich gelegenen oberitalienischen Seen. Es waren nicht »Schlafwandler«, die im Sommer 1914 in den großen europäischen Krieg stolperten.8 Es waren vielmehr christliche Regierungen und Eliten in christlichen europäischen Nationen, die ihre Völker sehenden Auges in ein bis dahin nicht gekanntes Kriegsgemetzel führten. Und das protestantische preußisch-deutsche Kaiserreich marschierte dabei mit viel Hybris und Aplomb vorneweg. Es wäre klüger im Sinne eines wohlverstandenen Patriotismus gewesen, diesen Krieg gegen eine voraussehbare Übermacht um beinahe jeden Preis zu vermeiden, was durchaus in der Macht der deutschen Reichsführung gestanden hätte. Die von den preußisch-deutschen, protestantischen Eliten so sehr erpichte Hegemonialstellung in Europa wäre dem jungen deutschen Kraftprotz in der Mitte Europas bei ruhiger Fortführung aller Wachstumstrends der Friedensperiode ganz von allein zugefallen. Aber sie waren historisch zu ungeduldig, politisch zu maßlos und – nach einer langen Serie siegreicher Kriege zuvor – militärisch zu übermütig.9 Im prägenden protestantischen Milieu der Epoche bedeutete der Kriegsbe­ ginn nicht Abbruch des allgemeinen Hochgefühls, sondern brachte – 221 –

noch einmal eine Steigerung der nationalen Euphorie. Wo zuvor die Kirchen leer waren und viele Menschen sich abwandten oder gar schon begannen, aus der Kirche auszutreten, gab es nun Zustrom und Überfüllung. Die Geistlichen erlebten neue Hochgefühle gesellschaftlicher Anerkennung.10 Nach Jahren der Abstinenz besuchte der religiös eher skeptische Adolf Weißler in jenen Augusttagen 1914 wieder eine Synagoge. Er empfand sich dort als Außenseiter, nicht mehr recht zugehörig. Es war der Ernst des Krieges, der religiöse Bedürfnisse bei ihm weckte. Hochpatriotische Kriegsgefühle mischten sich bei ihm mit Sorge und manchmal mit Kleinmut. Die Verletzung der Neutralität Belgiens und andere deutsche Unrechtshandlungen übersah der an Recht und Gerechtigkeit glaubende Jurist nicht. Aber bald überwog auch bei ihm der Jubel: Wir sind wieder siegreich, alles wird wie 1870, aber noch großartiger! Als leidenschaftlicher Chorsänger nahm er aktiv an einer Siegesfeier vor der Pauluskirche in Halle teil: Nun danket alle Gott, Kriegsansprache des Pfarrers, Luthers Ein feste Burg. Über den bis ins Groteske gesteigerten Hass gegen England mokierte er sich allerdings auch. Seine Neujahrsansprache 1915 in der Zeitschrift des Deutschen Notarvereins geriet ihm zu einer säkularisierten Kriegspredigt an das von Gott auserwählte Volk der Deutschen im Kampf gegen eine Welt von Feinden. Alt­ testamentliche Heilsgewissheit übertrug er hier in wirkungsvoll biblischer Sprache auf Volk und Nation der Deutschen, deren Kultur er sich in religiös-­bekenntnishafter Weise zurechnete. Der U-BootKrieg, Kriegsanleihen, Aushungerungspläne der Engländer, das brutale deutsche Friedensdiktat von Brest-Litowsk gegenüber Russland, Knappheit und Teuerung der Lebensmittel – alles dies waren vorherrschende Themen in seinem Kriegstagebuch. Im dritten Kriegsjahr 1917 häuften sich sorgenvolle Gedanken. Die Kriegserklärung Österreich-Ungarns gegen Serbien zu Beginn des Krieges sei doch »frevelhaft« gewesen. Nachrichten von Hungerrevolten beunruhigten. Seit Oktober 1918, noch vor der militärischen Kapitulation, stellten sich Suizidgedanken bei ihm ein. Die Revolution 1918–1919 war für ihn Meuterei, aber rasch stellte er sich auf die Gegebenheiten der demokratischen Republik um. Die Zustimmung des deutschen – 222 –

Parlaments zum Versailler Vertrag ertrug er indessen nicht. Am Tag der Unterzeichnung in Versailles schied er durch eigene Hand aus dem Leben. Die drei Weißler-Söhne waren keine besonders tauglichen Krie­ gernaturen, auch wenn sie alle drei ganzzeitig oder vorübergehend zum militärischen Einsatz kamen. Das musste selbst der hochpatriotische Vater bald einsehen, wenngleich er stolz war, zwei und zeitweilig sogar drei Söhne im Dienst für das Vaterland draußen stehen zu haben. Nach ersten Kriegserfahrungen notierte er im Tagebuch: Solch ungeschickte Leute stehen beim Militär nicht gerade in Ansehen. Das galt allemal für seinen jüngsten Sohn Friedrich Weißler, einen höchst gewissenhaften, skrupulösen Zauderer in Uniform. Dessen Tagebuch gewährt Einblicke in das Seelenleben eines zarten Jünglings von inzwischen bereits 23 Jahren, der überaus schwankend und unsicher erscheint, immer wieder hin- und hergerissen zwischen dem Willen zu patriotisch-heroischer Kriegsteilnahme einerseits und seiner häufig wiederkehrenden, frustrierenden Erfahrung andererseits, als Krieger doch nicht recht zu taugen und in schwierigen Situationen leicht zu versagen. Er gelangte schon bald während des Krieges zu der selbstkritischen Einsicht: Ich bin und werde nun einmal kein Soldat. Aber wenigstens musste man doch in diesen heroischen Zeiten so tun als ob. Politisch und weltanschaulich äußerte sich der zaudernde Krieger entschieden konservativ, monarchistisch, betont deutsch-national. Und was die deutschen Kriegsziele anbelangte, so übertrumpfte der junge Mann seinen hochpatriotischen Vater deutlich: die Einverleibung der Ostseeprovinzen und auch Belgiens erschienen ihm angemessen. Er las vorzugsweise nationale Literatur wie die Schriften Paul Rohrbachs, eines Hauptprotagonisten imperialer deutscher Kriegsziele. Ende Dezember 1918 kehrte er als Offizier unversehrt von der Front zurück. Seine militärischen Rangabzeichen trug er mit Stolz. Allerdings nötigte ihn nun die revolutionäre Stimmung auf den Straßen, sich damit in der Öffentlichkeit nicht mehr sehen zu lassen. Die staatsbürgerliche und weithin auch rechtliche Gleichstellung der Juden, ihre kulturelle Assimilation und politische Partizipation, ihre akademischen Karrieren an den Universitäten, ihre teilweise – 223 –

erfolgte religiöse Konversion sowie ihre soziale Integration – alles dies verlief bei den jüdischen Deutschen der Kaiserreichzeit bekanntlich nicht ohne erhebliche Widerstände, die von völkisch-antisemitischen Bewegungen, nationalen Verbänden und Vereinen wie auch von den großen christlichen Konfessionen genährt wurden. Es gab weiterhin Benachteiligungen, Zurücksetzungen und viele Ausdrucksformen antijüdischen Ressentiments.11 Solche Erfahrungen machten auch die Weißlers, deren sozialer Aufstieg auf den ersten Blick so ungetrübt erscheint. Adolf Weißler war Zeitgenosse des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker, einem einflussreichen Mitbegründer des modernen deutschen Antisemitismus. Dessen christlich-antijüdische Verlautbarungen und politische Bestrebungen dürften ihm bekannt gewesen sein, die extrem antijüdischen »Judenschriften« des protestantischen Urvaters Martin Luther hingegen weniger.12 Während seiner Ausbildungsjahre hatte der angehende Jurist diverse Zurücksetzungen erlebt. Mit Juden verkehren wir nur dienstlich – so hieß es von Seiten seiner jungen christlichen Berufskollegen ihm gegenüber einmal. Auch in akademischen Verbindungskreisen gab es für Adolf Weißler wie für dessen Söhne einschlägige antisemitische Vorkommnisse, gegen die sie sich wehrten. Letztlich hatten Adolf Weißlers freiberufliche »Schriftstellerei« und sein berufsverbandliches Engagement, die sein juristisches Lebenswerk ausmachten, wesentlich damit zu tun, dass er seinen ursprünglichen Berufswunsch, Richter und damit Staatsbeamter zu werden, unter den gegebenen Zeitumständen nicht hatte realisieren können. Alle diese negativen Erfahrungen in einer christlich geprägten Gesellschaft hinderten Weißler nicht daran, seine Kinder taufen und ihnen eine evangelisch-christliche Erziehung angedeihen zu lassen. So wollte er ihnen, nach seinen eigenen Worten, ersparen, was er selbst noch erfahren hatte. Der Alltag der Weißlers um 1910 in Halle war nicht von anti­ semitischen Anfeindungen durchdrungen. Auch für die Kriegszeit spiegeln die Tagebücher wenig Antisemitisches wider. Die völkischantisemitisch motivierte Judenzählung im Militär (1916) betraf die getauften Söhne nicht, sie findet auch keine kritische Erwähnung im Tagebuch. Mehrere Indizien zu Beginn des Krieges veranlassten – 224 –

Weißler zu der optimistischen Beobachtung, dass es nun keine Parteien mehr gebe, selbst die radikalen Antisemiten hielten sich zurück, und nach dem Krieg werde es wohl auch keine Zionisten mehr geben. Das war ein Trugschluss. Die giftigsten antisemitischen Elaborate, Flugblätter, Pamphlete tauchten in Halle unmittelbar nach Kriegsende im Kontext der bevorstehenden Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung auf und wurden von Adolf Weißler mit Besorgnis kommentiert.13 Die Epoche der Weimarer Republik geriet dem jungen Friedrich Weißler zur glücklichsten Zeit seines Lebens. Er hatte Fortüne. Nahezu alles, was er anfasste, gelang. Zielstrebig beendete er seine Juristenausbildung und erhielt sofort und ohne alle Probleme Anschlussstellen, schon bald war er Richter und damit wohlbestallter Staatsbeamter. Dieser Karriereweg, der seinem Vater noch versagt blieb, stand ihm jetzt weit offen. Daneben setzte er die juristischen Publikationswerke seines Vaters fort und trat durch eigene Fachpublikationen, mit ersten Büchern sowie zahlreichen Artikeln in Zeitschriften hervor. Nach wechselnden Richterpositionen in Halle erhielt er Ende 1932 die Berufung zum Landgerichtsdirektor in Magdeburg. Durch seine Ehe mit der Pfarrerstochter Johanna ­Schäfer etablierte er sich auch familiär auf glückliche Weise, zwei Söhne wurden dem Ehepaar 1925 und 1928 geboren. Weißler selbst resümierte in einem späteren Lebensrückblick für diese Zeit: Ich stand jetzt auf der Höhe des Lebens. Das Politische trat hinter der leidenschaftlich betriebenen Juristerei – Weißlers eigentlicher Lebenswelt, in der er ganz aufging – zurück. Die Anforderungen sei­ ner erfolgreichen Berufskarriere und seiner Familiengründung füllten ihn weithin aus. Unpolitisch war er indessen nicht. Er hatte sich zum Demokraten gewandelt, gehörte zeitweilig der DDP und kurzfristig dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold an, aber das a­ lles lag bei ihm doch eher am Rande. Als streng rechtlich denkender Jurist nahm er der DDP deren Engagement in der politischen Kampagne zur Fürstenenteignung »sehr übel«, um 1930 verließ er die schrumpfende liberale Partei und wählte den kirchennahen Christlich-Sozialen Volksdienst, bei den letzten Reichstagswahlen vom März 1933 sogar die mit Hitler koalierenden Deutschnationalen. – 225 –

Geistig und religiös blieb er lange Zeit ein Suchender. Er zweifelte an Christentum und Kirche, auch noch während der Weimarer Jahre. Gewiss förderte seine Ehe mit der Pfarrerstochter Johanna Schäfer seit 1922 ­Friedrich Weißlers evangelisch-kirchliche Inkulturation. Die Pfarrhaustochter verkörperte protestantisch-kirchliches Lebensgefühl und christliches Brauchtum par excellence und prägte damit die geistige Atmosphäre in der jungen Familie der säkularen Weimarer Republik wesentlich mit. Zwei Drittel der Deutschen von 1933 waren Protestanten, und die meisten von ihnen begrüßten den mit Hitler verbundenen politischen Umschwung. Die beiden großen christlichen Kirchen verabscheuten die »Gottlosenrepublik« von Weimar und sehnten sich nach einer religiösen und geistig-politischen Wende, die sie mit der nationalen Koalition unter Reichskanzler Hitler endlich gekommen sahen. Der ausgiebig und reichsweit gefeierte »Tag von Potsdam« am 21. März 1933, deren symbolträchtige Hauptzeremonie nicht ­zufällig in einer Kirche stattfand, steht dafür in exemplarischer Weise.14 An der Spitze der kirchlichen Jubelfront marschierte die »Glaubensbewegung Deutsche Christen«, angeführt von jungen fanatischen Pfarrern wie Joachim Hossenfelder und Siegfried Nobiling. In ihren Schriften von 1933 bekannten sie ihren völkisch-christlichen Glauben, der Rasse, Blut und Boden als unwandelbare Grundgegebenheiten der Schöpfungsordnung einschloss und in Hitler einen von Gott gesandten Erlöser der Deutschen sah. Ein richtiger Christ, so meinten sie, müsse zugleich gläubiger Nationalsozialist sein, und im Nationalsozialismus sahen sie ein wahres Christentum der Tat. Ihrem Alter nach gehörten diese Theologen derselben Generation an wie Friedrich Weißler. Wie er wurden sie in den 1880er und 1890er Jahren geboren und gehörten damit der Kriegsgeneration von 1 ­ 914–18 an. Wie er hatten sie als Frontkämpfer am Weltkrieg teilgenommen, zogen dann allerdings völlig konträre Schlussfolgerungen aus dem Erlebnis von Kriegsniederlage, Versailles und Republik. Als völkische Theologen schlossen sie sich schon vor 1933 der Hitlerpartei an und bekannten sich zu einem arteigenen deutschen Christentum unter Ausschluss aller »Nichtarier«. Nationalsozialistische Theologen wie sie beherrschten im Herbst 1933 die Hauptstadtkirche, – 226 –

als die Familie Weißler Magdeburg nach der gewalthaften Vertreibung des Landgerichtsdirektors fluchtartig verlassen musste und nach Berlin kam.15 Während die deutschen Protestanten das Jahr 1933 im Allgemeinen als wunderbares Wendejahr erlebten, waren beruflicher »Absturz« und soziale Exklusion die Haupterfahrungen des evangelischen Christen Friedrich Weißler und seiner Familie. Der gewaltsame Rauswurf des Landgerichtsdirektors in Magdeburg und seine anschließende Entlassung aufgrund des Berufsbeamtengesetzes; das fluchtartige Verlassen der Stadt Magdeburg, die den W ­ eißlers so übel mitgespielt hatte; die vergeblichen Versuche des unbeirrt an Recht und Gerechtigkeit glaubenden Juristen während der Jahre bis 1935, im Justizministerium und bei anderen Stellen »rechtliches Gehör« zu finden; der erzwungene Abbruch seiner bis 1933 äußerst regen fachjuristischen Publikationstätigkeiten; ausbleibende Solidarität, Schweigen und Abwendung seiner juristischen Berufsgenossen sowie einstigen Verbandskollegen und Verbindungsfreunde – das alles bestimmte die bitteren Erfahrungen der Jahre 1933 bis 1935. Zu den schlimmsten Erlebnissen dieser Art zählte sicherlich der brutale Abbruch privater Beziehungen wie im Fall der befreundeten Familie des Rechtsanwalts Walther Brandis und seiner Frau Else in Hamburg. Else Brandis entpuppte sich in einem Briefwechsel vom Oktober 1935 als fanatische Antisemitin. Ihr harsches Antwortschreiben auf Weißlers Geburtstagswünsche habe er als »Keulenschlag« empfunden. Eine Verständigung zwischen den einst befreundeten Familien war, wie der Fortgang des Briefwechsels zeigt, nicht mehr möglich. Bleibt anzumerken, dass Rechtsanwalt Walther Brandis und seine Frau kirchlich aktive evangelische Christen in der Hansestadt Hamburg waren. Aber wohin nun? Für einen Christen jüdischer Herkunft, einen in der NS -Öffentlichkeit verfemten »Nichtarier«, blieb in der zunehmend nazifizierten Gesellschaft seit 1933 eigentlich nur die Kirche übrig – aber was war das für eine evangelische Kirche im Wendejahr 1933! Die meisten Landeskirchen waren von den antisemitischen Deutschen Christen überrollt worden. Anfang September, gerade als die Weißlers nach Berlin kamen, hatte die braune Preußische – 227 –

­ eneralsynode den Arierparagrafen für die mit Abstand größte deutG sche Landeskirche beschlossen. In den Hauptstadtkirchen wurden im Jahresverlauf bei zahlreichen Gelegenheiten Dankgottesdienste für Hitler und seine Bewegung gehalten, auch in Charlottenburger Kirchengemeinden, wo die Weißlers wohnten. Deutschchristliche Pfarrer hielten jetzt Vorträge im allenthalben vorherrschenden Von Luther zu Hitler – Geist und über den angeblich wahren christlichen Standpunkt zur »Judenfrage«, der sich vom nationalsozialistischen häufig kaum unterschied. Die Weißlers konnten sich folglich nur sehr selektiv an ausgewählte Pfarrer und deren separierte Bekenntnisgemeinden halten, die sich einer entstehenden Kirchenopposition gegen die Deutschen Christen anschlossen. Aber auch dort begegnete ihnen vielfach ein tief eingewurzelter christlicher Antijudaismus, der sich vom herrschenden Antisemitismus nur graduell unterschied. Weißlers Auseinandersetzung im August 1935 mit zwei Theologen von der Berliner Stadtmission, die der Bekennenden Kirche angehörten, zeugt davon.16 In zweierlei Hinsicht hatten die Weißlers Glück bei so viel Unglück: zum einen mit der neuen Wohnung und den unmittelbaren Nachbarn, die nicht Nazis waren, sowie mit dem für die ganze Familie günstigen Wohnumfeld im liberalen Berliner Westend; zum andern mit der dem entlassenen Juristen durch engagierte Bekenntnispfarrer gewährten Chance, als Büroleiter bei der Vorläufigen Kirchenleitung der Bekennenden Kirche mitarbeiten zu können. Dies war, in Anbetracht der deutschchristlichen Kirchenvorherrschaft, von bekenntniskirchlicher Seite aus gesehen ein Wagnis und durchaus auch als ein Zeichen christlicher Barmherzigkeit zu verstehen. Weißler war nicht der einzige stellungslose Christ jüdischer Herkunft, den die Kirchenopposition zur Mitarbeit aufnahm – allerdings verblieb er dort in prekärer Anstellung mit geringer Aufwandsentschädigung. Als versierter Jurist wurde er auch als »Rechtsberater« in kirchenpolitischen Streitfragen herangezogen. Ein offizielles kirchliches Amt hatte er niemals inne. Theologisch und kirchenpolitisch bezog Weißler Positionen der entschiedenen Fraktion der Bekennenden Kirche um Karl Barth, Martin N ­ iemöller und Dietrich Bonhoeffer. In seiner Eigenschaft als Büroleiter der – 228 –

Kirchenkanzlei und juristischer Experte war er im Frühjahr 1936 an den Beratungen der 2. Vorläufigen Kirchenleitung über eine vertrauliche Denkschrift an Hitler beteiligt. Weißler koordinierte den langwierigen Diskussionsprozess und verwahrte die geheimen Entwürfe des Memorandums. In vielerlei Hinsicht glich dieses Unternehmen in Stil und Tonlage untertänigen Eingaben (Suppliken) an den absolutistischen Monarchen des 18. Jahrhunderts. Grundtenor der Denkschrift war die tiefe Sorge der Kirchenopposition über eine staatlich forcierte Entchristlichung der deutschen Gesellschaft, nicht jedoch eine generelle Infragestellung des NS -Regimes. Durch Indiskretionen erschien der Denkschrifttext vor jeder Re­ aktion des Reichskanzlers in ausländischen Zeitungen und brachte die politisch regimetreue Kirchenleitung in arge Erklärungsnot. Neben anderen Personen geriet auch Weißler in Verdacht, die Auslandsveröffentlichungen veranlasst zu haben. Intern zeigte sich die Kirchenleitung außerstande, die Quelle der Indiskretion aufzuklären und bat die Gestapo um Mithilfe. Während Weißler Anfang Oktober 1936 in Gestapohaft kam, rückten immer mehr prominente BK-Pfarrer von ihrem Mitarbeiter ab. Man sah einen schwerwiegenden »Vertrauensbruch« und meinte mehrheitlich, nach den Worten Niemöllers, dass gegenüber Weißler ein klarer Trennungsstrich zu ziehen sei. Die staatspolizeilichen Vernehmungen brachten brisante Details zu Tage. Es stellte sich heraus, dass Weißler in Verbindung mit Werner Koch, einem jungen Theologen und Vikar bei Bonhoeffer, und mit dessen Freund Ernst Tillich kirchenpolitische Informationen an ausländische Presseleute geliefert hatte, darunter auch einen Entwurf der Denkschrift. Weißler erklärte zu seiner Verteidigung, alle diese verdeckten Aktivitäten seien keine strafbaren Handlungen gewesen; zudem sei es Wunsch der Christen im Ausland gewesen, mehr über die kirchlichen Vorgänge in Deutschland zu erfahren. Nachdem sich die Ermittlungen im Dezember 1936 erschöpft hatten, berieten Himmlers SS , die Gestapo, das Justizministerium und andere Stellen längere Zeit, wie im Fall Weißler zu verfahren sei. Für eine Anklage und erfolgreiche Gerichtsverhandlung reichten die Erkenntnisse offenbar nicht aus. Ein Freilassen der »Schutzhäftlinge« wurde – 229 –

­ egen möglicher Fortsetzung ihrer politisch unerwünschten Tätigw keit verworfen. Blieb nach Nazi-Logik als Drittes: aus dem Verkehr ziehen – und das hieß Überweisung in ein Lager. Am 13. Februar 1937 wurden die drei »Schutzhäftlinge« nach Sachsenhausen überführt. Knapp eine Woche später fand man den Häftling Weißler tot in seiner Zelle liegend. Wie präzise staatsanwaltliche Ermittlungen und gerichtsmedizinische Untersuchungen ergaben, war der »Nichtarier« Weißler Opfer eines aus wenigen SS -Wachmännern bestehenden Totschlägerkomplotts geworden. Die Gelegenheit zu diesem Gewaltexzess ergab sich wohl eher durch Zufall, man könnte fast von einem ›Betriebsunfall‹ im NS -Unterdrückungsapparat sprechen. Der »nichtarische« Christ Weißler war zum Zeitpunkt der Einlieferung der einzige »Jude« im Lager. Die Täter wussten faktisch nichts von ihrem Opfer, sie kannten seine Biografie nicht. Auch seine Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche und seine Verstrickung in die Denkschriften-Indiskretion spielte für sie keine Rolle. Maßgeblich für sie war allein der Umstand, dass es sich bei Weißler in ihren Augen um einen »Juden« handelte. Allein dies veranlasste einen extremen Ausbruch antisemitischer Gewalt einer kleinen Gruppe von SS -Wachmännern, in dessen Verlauf der Häftling buchstäblich zu Tode gemartert wurde. War Friedrich Weißler der erste Märtyrer der Bekennenden Kirche, wie es bald nach seinem Tod aus Kreisen der Kirchenopposi­ tion hieß? Wurde er erschlagen, weil er ein bekennender Christ war, weil er Angehöriger der bei vielen Nationalsozialisten verhassten »Bekenntnisfront« war? Doch wohl eher nicht! Was wussten diese kirchenfernen, geistig unbedarften Totschläger im Konzentrationslager Sachsenhausen vom Kirchenkampf? Vermutlich nichts. Das Furchtbare, was hier geschehen war, erscheint in mehrfacher Hinsicht wie ein böser Irrtum: die Kinder von christlichen Eltern (denn das waren die beiden 25-jährigen Haupttäter!) schlugen als fanatisch gläubige Nationalsozialisten einen Christen tot, den sie – fälschlicherweise – für einen Juden hielten. Einer der Haupttäter machte in der Untersuchung geltend, sein Vater in Unterfranken sei von einem jüdischen Viehhändler um seine Ersparnisse gebracht worden. Zweifellos glaubten die Totschläger, im Sinne der Bewe– 230 –

gung zu handeln, der sie sich frühzeitig angeschlossen hatten. Es gibt bislang keine Belege dafür, dass die Tat von höheren NS -Stellen angeordnet worden wäre. Die Täter, untere Chargen der SS Totenkopfverbände, handelten im Affekt, just in dem Moment, wo ihnen absolute Gewalt über den zu diesem Zeitpunkt einzigen »Nichtarier« im Lager zufiel. Das Verhalten der Bekennenden Kirche – und zwar ihres theolo­ gisch, kirchenpolitisch und moralisch am wenigsten kompromittierten Flügels innerhalb der Kirchenopposition – sieht nicht günstig aus, als einer der ihren unter die Räuber fiel. Gewiss, für seine Nachrichtentätigkeit hatte Weißler von der Kirchenleitung keine Legitimation. Die Kirchenleitung wünschte eine solche Tätig­keit ausdrücklich nicht. Weißler handelte hier, sicher nach reiflicher Überlegung, eigenmächtig. Im Gestapoverhör begründete er sein Verhalten mit guten christlichen Argumenten. Seine kirchlichen Arbeitgeber bewerteten sein Verhalten indessen als »Untreue« oder »Vertrauensbruch«. Der Büroleiter hatte hier eine Grenze überschritten, die die Bekennende Kirche selbst nicht überschreiten wollte: vom Kirchenkampf in eigener Sache zur politischen Handlung, letztlich zu Schritten auf dem Weg in einen christlich begründeten Widerstand. Untreue, Vertrauensbruch, Verrat – so lauteten die vorwiegenden Bewertungen seines Verhaltens in Kreisen der Kirchenopposition, des Reichsbruderrats und teilweise wohl auch in der 2. Vorläufigen Kirchenleitung, ganz zu schweigen vom gemäßigten Flügel der »intakten« lutherischen Landeskirchen, die sowohl die Denkschriftenaktion ablehnten wie auch starke Vorbehalte gegenüber Weißler hatten. Alles dasjenige, was man in kirchlich-­obrig­keit­licher Tradition als korrekte nationale Haltung ansah, war ein hohes Gut in der Kirchenopposition und sollte unbedingt auch gegenüber dem NS Regime gewahrt bleiben. Daher ging man den Weg der Zusammenarbeit mit staatlichen Organen bei der Aufklärung der Indiskretion. Daher erklärt sich wohl auch großenteils die schmähliche Zurückhaltung gegenüber Weißler und das unbrüderliche Fallenlassen des Bruders, als die Gestapo ihn verhaftete. Dass die Gestapo im Fall Weißler einen »Nichtarier« verhaftete, hätte wohl nach allem, was man im Oktober 1936 über Judenverfolgung der N ­ ationalsozialisten – 231 –

wusste, besondere Alarmstimmung auslösen müssen. Das war nicht der Fall. Weißler stand nicht einmal auf den Fürbittelisten der Bekennenden Kirche, die in ihren Gottesdiensten verlesen wurden. Manche Indizien weisen darauf hin, dass selbst in BK-Kreisen generelle Reserviertheit gegenüber einem Christen jüdischer Herkunft vorhanden war. Nur wenige im BK-Führungskreis spürten die Versäumnisse, am klarsten sind diese Einsichten wohl in Briefen und Gesprächen des mit Bonhoeffer eng befreundeten jungen Theologen Franz ­Hildebrandt formuliert, der selbst einen teilweise »nichtarischen« Hintergrund hatte, und der noch im Jahr 1937, Weißlers Schicksal vor Augen, nach England emigrierte. Seine erste größere Veröffentlichung im Ausland handelte von der christlichen Verpflichtung zur Humanität. Unwillkürlich ist an den stillen Widerstand der Berliner Historikerin und Pädagogin Elisabeth Schmitz zu denken. Sollte denn alles, so hatte sie in ihrer anonymen Denkschrift zur Lage der »deutschen Nichtarier« von 1935 an ihre Bekennende Kirche gerichtet gefragt – sollte denn alles, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein?17 Märtyrer, Helden und Heilige – auch die in ihrem Glauben so hochgebildeten, stets etwas kopflastigen Protestanten brauchen sie in ihrer Erinnerungskultur. Und sie brauchen sie besonders für die erinnerungspolitische Verarbeitung so schwieriger Zeiten wie den Nationalsozialismus, als geistige Mittäter und Komplizen in der akademischen Theologie und auf den Kanzeln das Erscheinungsbild der Evangelischen so nachhaltig prägten. Die protestantischen Heldinnen und Helden der NS -Zeit indessen – sie sind rar. Alle Welt kennt Dietrich Bonhoeffer, viele haben von Martin Niemöller gehört, manche kennen Jochen Klepper. Doch wer war Friedrich Weißler? Es ist erstaunlich und ein Stück weit rätselhaft, wie unbekannt der proklamierte erste Märtyrer der Bekennenden Kirche während sieben Nachkriegsjahrzehnten in der deutschen Öffentlichkeit geblieben ist. Lag es daran, dass der Makel des »Vertrauensbruchs« an ihm haftete? Lag es daran, dass er nicht ordinierter Theologe, ein offi­ ziell zur Wortverkündigung Geweihter, sondern nur ein Laie unter den bekennenden Christen war? Lag es daran, dass sich in seinem – 232 –

Schicksal zugleich ein gravierendes Versagen der Bekennenden Kirche spiegelte? Und spielte vielleicht auch unausgesprochen eine Rolle, dass er jüdischer Herkunft war? Von alledem wird etwas mit im Spiel gewesen sein mit dem Ergebnis, dass man bis zur Wende von 1989 fast nichts über die Weißler-Geschichte wusste. Seit der deutschen Vereinigung von 1990 sieht es besser aus. Es hat seither sowohl Forschungen wie auch Würdigungen bei den Juristen wie auch im Kirchenbereich gegeben. Aber wie im Fall der mutigen Historikerin und Pädagogin Elisabeth Schmitz am Rande der Bekennenden Kirche, deren Solidarität mit den Verfolgten erst seit dem Jahr 1999 bekanntgeworden ist, ist auch das Wirken des bekennenden Christen, der die engen Grenzen der Bekennenden Kirche überschritt und als »Nichtarier« das hohe Risiko des Widerstands auf sich nahm, noch nicht angemessen gewürdigt worden. Im Raum der Kirche Berlin-Brandenburg ist bisher keine nennenswerte kirchliche Einrichtung bekannt, die den Namen Friedrich Weißlers trägt. Und sollte nicht sein Todestag jährlich durch besondere Erinnerung und Gedenkaktivitäten gewürdigt werden?18 Gewiss, 500 Jahre protestantischer Geschichte seit Martin Luthers mutiger theologischer Tat im Jahr 1517 sind ein bedeutender Anlass zu historischem Gedenken. Die Kirchen können und sollen das feiern. Aber man sollte sich im Gedenkjahr 2017 zugleich vor der stolzen Attitüde hüten: Ach, wie haben wir deutschen Protestanten es doch so herrlich weit gebracht! Die protestantische Performance in den Kriegen und Katastrophen der Jahre 1914 bis 1945 erzählt eine andere Geschichte. Und der Historiker muss schließlich auch dies kritisch fragen: Hatten denn die deutschen Protestanten bis zum Jahr 1933 so wenig Zeit für die derzeit in ihrer Gedenkpropaganda so vielfach reklamierte »Lerngeschichte«, dass nach über 400 Jahren akademischer Theologiearbeit und Kirchenpraxis eine solche historische Performance herauskommen konnte, wie sie dann während der Hitlerjahre tatsächlich geschehen ist?19 Friedrich Weißler mag wohl einer der Geringsten ihrer »Brüder« damals gewesen sein. In dem Brief der BK-Kirchenleitung vom Februar 1937 an Heinrich Himmler, der besser nie geschrieben worden wäre, heißt es in diesem Sinne distanzierend gegenüber Weißler, er sei nur provisorisch – 233 –

beschäftigt gewesen im Büro der Kirchenleitung, und das lediglich gegen eine geringfügige Unkostenpauschale. Kannten denn diese Bekennenden Christen der Hitlerzeit nicht die mahnenden Worte im Neuen Testament (Mt. 25. 40): Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

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Anhang

Ego-Dokumente (1) Schreiben Friedrich Weißler (Magdeburg) vom 6. April 1933 an Pastor Hanns Lilje (Berlin)1 Sehr geehrter Herr Pastor! Als Mitglied des Altfreundverbandes halte ich mich für berechtigt und verpflichtet, Ihnen als unserem Geschäftsführer folgende Frage vorzulegen:2 Wo bleibt der Mut der Kirche und unseres AFV [Altfreundverbandes] zum Evangelium? Wie oft ist in den letzten Jahren mit Recht gesagt worden, die Kirche müsse das Wort Gottes unabhängig und auch wider Willen der staatlichen Machthaber verkünden! Jetzt ist es an der Zeit, die Versprechen zu erfüllen! Soweit ich sehe, finde ich aber nichts als Unterwürfigkeit und Verbeugungen vor den neuen Machthabern. Dabei ist es offenbar, dass jedenfalls ein Teil der gegenwärtigen Staatspolitik so unchristlich wie nur möglich ist, mögen auch andere staatliche Maßnahmen sich darin vorteilhaft von denen früherer Regierungen unterscheiden. Ich meine die Vergötzung des Nationalgedankens und die Aufhetzung des Volkes gegen die Juden. Die selben Personen, die seit Jahrzehnten keinen anderen Wunsch haben als deutsch zu sein, die diesen Wunsch durch Mitarbeit an deutscher Kultur, durch Teilnahme am Krieg, durch Einheirat in christliche Familien, durch Eintreten für das Christentum bestätigt haben, werden jetzt verfolgt und geschmäht, nur weil sie jüdischer Abstammung sind. Ich weiß natürlich, dass das Gesagte nicht auf alle Juden zutrifft. Aber für sehr viele gilt es. Die Verhetzung und Verfolgung macht aber keinen Unterschied, sondern stellt Behauptungen über die Juden im allgemeinen auf, die völlig unbewiesen sind und höchstens auf eine kleine Minderzahl zutreffen könnten. Auch gegenüber diesen wäre aber die Art der Verfolgung unchristlich. – 237 –

Ich will nicht verschweigen, dass ich selbst jüdischer Abstammung und von den Maßregelungen mit betroffen bin. Aber nicht das bewegt mich so tief, sondern dass die berufenen Vertreter des Evangeliums diese Ungerechtigkeiten geschehen lassen, ohne dagegen ihre Stimme zu erheben. Meine große Sorge ist, dass sich dies Versäumnis an der Kirche ebenso rächen wird wie ihr früheres Versagen in der sozialen Frage. Zeitungen, Berufsverbände und andere sonst berufene Vertreter der öffentlichen Meinung müssen jetzt schweigen, weil sonst ihre Existenz bedroht ist. Für die Kirche ist es Existenzfrage, dass sie nicht schweigt!3 In tiefer Sorge ergebenst und hochachtungsvoll [Friedrich Weißler]

(2) Schreiben von Else Brandis (Hamburg) vom 6. Oktober 1935 an Friedrich Weißler4 Lieber Fritz! Dein Glückwunschbrief erreichte mich schon heute am Sonntag morgen. Habe herzlichen Dank dafür. Laß mich Dir und Deiner Mutter mein aufrichtiges Beileid aussprechen zum Heimgange Deines Bruders. Möge Deine Schwägerin doch noch ein einigermaßen fähiges Glied der Menschheit bleiben, und sei es nur leistungsfähig für private Dinge.5 Wie traurig ist das Ende dieses anfänglich scheinbaren­ Glückes, das wir in Halle mit beobachten durften! Leider veranlasst mich diesmal Dein Brief zu einer ernsten und aufrichtigen Stellungnahme zu Deinen Klagen gegenüber meiner Rasse und unserer Regierung. Du klagst nur an und stellst Dich als Märtyrer hin. Wie wir geschädigt wurden unter der Vorherrschaft der Juden erwähnst und bedenkst Du nie. Laß Dir nur ein Beispiel sagen. Als Walther mit dem Umsturz in die Anwaltskammer gewählt wurde, konnte er Einsicht nehmen in eine Liste aller Anwälte, die mit Staatsmandaten bedacht wurden – 238 –

seit 1919.6 Es waren nur Juden. Kein Germane, vor allem kein rechtsgesinnter, kam in Frage, höchstens noch Anwaltsfirmen, die aus Juden [und] Germanen bestanden. Deine Rasse arbeitet still gegen uns, unterminierend und zersetzend. Wir in Hamburg wissen, dass kein deutscher Seemann in fremdem Hafen eine Heuer bekommt. (…) Wir wissen, dass Ihr überall Stammesgenossen findet, in jedem Lande Euch zusammenschließt und als Fremdkörper wirtschaftlich die andern übervorteilen wollt. Schon hört man hier von Holland bittere Klagen, bitteres Bereuen über die Gastfreiheit den Juden gegenüber. Von Frankreich ebenfalls. Und nun frage ich Dich: Warum willst Du Deine Söhne nicht in die jüdische Schule schicken? Steht Dir Deine eigene Rasse, das Blut Deiner Väter nicht hoch genug? Warum setzt Du das herab? Ich habe immer an Dir geachtet, dass Du mir einmal sagtest: Ich bin stolz, dass ich ein Jude bin. Schließt Euch doch zusammen zu einem Volk mit eigenem Land und Nationalgefühl, seid staatenbildend und nicht staatenzersetzend! Ihr werdet sofort die Achtung aller Welt haben, würdet Ihr ein ­eigenes zusammengeschlossenes Volk mit Landarbeit, Handwerkern, Kaufleuten und Gelehrten. Aber nie hat sich ein Jude gefunden, der diese Sehnsucht nach eigener Heimat empfand, geschweige denn eine so starke hinreißende Persönlichkeit war, aus aller Herrenländer die Juden zusammenzurufen zu einem Volk, einem Seelenvolk, Stolz und Achtung sich selbst und seinem Blut gegenüber. Noch ist die Erde nicht aufgeteilt. Ich klage an, dass Ihr durch Eure schwere Zeit nie Fehler bei Euch sucht. Ich klage an, dass Ihr aufgehen wollt in fremder Rasse, anstatt die eigene Art zu veredeln. Ich klage an, dass Du nicht erkennst, dass unsere Regierung uns Wehrmacht, Ehrgefühl und Stolz wiedergab, uns, unserm geliebten Deutschland, zu dem Du Dich doch auch bekennen willst. Ich klage an, dass in New York nur jüdische Richter sitzen, gewählt von der jüdischen Mehrheit dieser Millionenstadt und kein Deutscher dort Recht bekommt. Jeder Deutsche verlegt einen Prozeß in einen andern Staat der U. S. A. ­Walther weiß das von einem amerikanischen Kollegen, der kürzlich von drüben geschäftlich zu ihm kam. Wir hören hier vieles, von dem Du vielleicht nichts ahnst. Ich klage an, dass das internationale Judentum mit Moskau zusammengeht, siehe die Vorgänge – 239 –

auf der ­Bremen.7 Und ich flehe um eine gütige Wandlung für Euch, dass auch Ihr einmal einen Helden, einen Großen unter Euch finden möchtet und Ihr, wie in grauer Vorzeit, Euch zu Euch selber finden möchtet, dass Ihr einmal auch schwere Arbeit tut, Euch etwas abringt von der Erde, und das Land liebt, was Ihr entbehrt habt, nicht das Land, wo Ihr es am bequemsten habt. Dann würde dieser unselige Zwist mit dem Judentum verschwinden. Besinnt Euch auf Euch selbst, für Euch und Eure Kinder. Werdet das tapfere Judenvolk des Alten Testamentes und beschäftigt Euch mit der eigenen Art. Wir wollen Euch achten und gleichstellen jedem Volk, mit dem man Verträge schließt und Handel treibt. Mein Herz tut mir weh, dass Du mich zu dieser Antwort gezwungen hast. Euer Problem ist tragisch, weil Ihr Euch selbst verloren habt. Und wer sich selbst verliert, hat alles verloren. Gebe Gott, dass auch das jüdische Volk heimfindet. Jede Blume hat ihre eigene Art, von Gott gegeben. Bei einer Kreuzung geht das Ursprüngliche verloren, das, was Gott gab. Jedes Volk hat seine Art von Gott gegeben. Das ist Religion, ewiges Gesetz. Wenn Du dieses Urgesetz nicht anerkennst, werden wir zwei uns nie mehr verstehen.8 Bitte versuche es zu verstehen. Du kannst als denkender Mensch Dich dem gegenüber nicht verschließen. Versuche es um unserer alten Freundschaft willen. Ich schreibe diesen Brief mit meinem Herzblut am Ende dieses Lebensjahres. Nie wird Euer Problem gelöst, wenn Ihr nicht an Euch arbeitet, heimfindet zu Euch selbst. Gott gebe Euch Land und Heimat für Euch allein und uns den Frieden! Mit aufrichtigen ernsten Wünschen Deine Else Brandis.

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(3) Antwortschreiben Friedrich Weißler vom 12. Oktober 1935 an Else Brandis9 Liebe Else! Dein Brief hat mich wie ein Keulenschlag getroffen: Wer mir so schreiben kann, kennt mich entweder überhaupt nicht oder ist nicht mein Freund. Beides habe ich aber bisher von Dir annehmen zu dürfen geglaubt. Nur in dem Gedanken, dass Du wie so viele Andere der all­ gemeinen Psychose der Zeit erlegen bist und im Hinblick auf frühere Gemeinsamkeiten zwinge ich mich zu einer Antwort. Zunächst sollst Du wissen: Mein Deutschtum lasse ich mir von Niemandem bestreiten. Wer seit Generationen deutsche Kultur eingesogen und seinen Willen, deutsch zu sein, unzählige Male durch die Tat bewiesen hat, ist deutsch, allen Rassentheorien zum Trotz. Das verträgt sich durchaus mit Stolz auf die Vorfahren, die einem so viel gute Eigenschaften mitgegeben haben. Das deutsche Volk ist nun einmal ein Mischvolk, wie bekanntlich selbst Hitler zugeben muß. Weißt Du denn so genau, dass in Deinen Adern kein Tropfen nichtarischen Blutes rollt? Was heißt überhaupt »arisch«? Die Rassenforscher sind sich bekanntlich darüber keineswegs einig. Wer noch jüdisch denkt und fühlt, mag den Judenstaat aufrichten helfen. Für mich ist das ebenso ausgeschlossen, als wenn man z. B. Dich wegen etwaigen wendischen Einschlags nach Polen verweisen wollte. Stell Dir das bitte vor und dann überlege, was Du mir antust. Noch mehr gilt das aber für meine Kinder. Sie haben schließlich von ihrer Mutter her ebenso viel Anspruch auf Deutschland wie Du und andere »Arier«. Oder haben bei Dir Mischkinder überhaupt keine Rechte mehr? Dann sieh sie Dir erst einmal an und Du wirst zugeben müssen, dass sie ebenso viel gute und schlechte Eigenschaften aufweisen, wie jedes andere Kind. Zahlreiche Beispiele in meiner weiteren Familie und meiner Bekanntschaft beweisen sogar, dass solche Kinder meist die guten Eigenschaften ihrer Eltern vereinigen. Überdies sollen doch aber meine Kinder christlich erzogen – 241 –

werden. Die Zumutung, sie auf die jüdische Schule zu schicken, ist also schon aus religiösen Gründen unerträglich. Was Du endlich über das »internationale Judentum« klagst, berührt mich nicht, weil es mich nichts angeht. Es ist überdies zum ­großen Teil unwahr, wie jeder denkende Mensch leicht erkennen müßte. Hast Du denn noch nicht den Widerspruch bemerkt, der darin liegt, dass das Judentum gleichzeitig den Kapitalmarkt beherrschen und den russischen Bolschewismus verkörpern soll? Ich kann ferner feierlich bezeugen, dass in meinen Kreisen (Verwandtschaft, jüdische Bekanntschaft) nicht das Geringste von internationalen Beziehungen besteht. Auf die Allgemeinheit der Juden trifft also dieser Vorwurf bestimmt nicht zu. Die paar Juden auszumerzen, die unter der früheren Regierung »staatszersetzend und unterminierend« gewirkt haben, kann doch einem Staat von der Stärke des heutigen nicht schwer fallen. Warum musste er gleichzeitig tausende von unschuldigen Existenzen vernichten und unaussprechliche seelische Qualen über sie bringen? Warum zwang er Wissenschaftler von Weltruf, anerkannte Wohltäter der Menschheit, Deutschland den Rücken zu kehren? Seid Ihr Arier denn so minderwertig, dass Ihr Euch vor dem winzigen Bruchteil Juden so fürchten müsst? Ich schätze Euch höher ein. Und endlich: War die »jüdische Vorherrschaft«, unter der z. B. der Deutsche Notarverein zu Lebzeiten meines Vaters stand, ihm wirklich so abträglich? Jedermann weiß, was mein Vater damals für das deutsche Notariat und für das deutsche Recht – nicht für internationale Interessen – geleistet hat. Vergiß nicht, dass Du mit den Juden auch ihn schmähst, ihn, den deutschesten Idealisten, den man sich nur denken kann. Von jemandem, der sich bisher meinen Freund nannte, darf ich erwarten, dass er auch diese Überlegungen mit dem gleichen Ernst würdigt, den er leider einer verstiegenen Rassenideologie beimisst. Leb wohl! [Friedrich Weißler]

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(4) Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen von 1936: das Schlusskapitel10 Rück- und Ausblick Zeit und Raum reicht nicht mehr, den Sturz von 1933 zu schildern. Die äußeren Ereignisse sind in den Urkunden enthalten, die ich im Familien-Archiv aufbewahre. Über das Seelisch-Geistige wäre viel zu sagen. Hier sei nur niedergelegt, dass Gott mir Kraft schenkte und noch täglich neu schenkt, diese schwerste aller Zeiten zu ertragen, und dass der Segen der tiefen Gemeinschaft unsrer Ehe sich jetzt voll zeigte. Vielleicht kann ich später einmal diese Jahre im Zusammenhang schildern und auch von meinem neuen, so andersgearteten Beruf etwas erzählen. Hier will ich nur noch die Bilanz meines Lebens ziehen. Sie scheint mir folgendes zu ergeben: Jugend und Jünglingsalter habe ich nicht so ausgenutzt, wie ich es hätte tun sollen. Namentlich die Studentenzeit erscheint mir rückblickend fast ganz unergiebig für mein Inneres. Ob die Schuld daran außer mir selbst und dem Zeitgeist noch Andere trifft, bleibt eine offene Frage. Dagegen war mein Mannesalter sichtlich von Gott gesegnet. In Beruf und Familie durfte ich reines Glück erleben und glaube auch keine erheblichen Missgriffe begangen zu haben. Die Ereignisse von 1933, so schwer sie zu tragen sind, scheinen mir ebenfalls zum Segen gereichen zu sollen. Nicht bloß wegen der innerlichen Vertiefung, die sie mir gebracht haben, sondern auch in äußerer Beziehung: Ich darf mein Gewissen bewahren, mich von allem äußeren Betrieb fernhalten und habe das Beste, mein Familienglück, unversehrt erhalten. Vielleicht ist meine jetzige Tätigkeit die Vorstufe zu einer dauernden und noch mehr befriedigenden Arbeit für die Kirche Jesu Christi. Vielleicht – und darum bitte ich täglich – ist es mir vergönnt, wieder ins Richteramt zurückkehren und es unabhängig von politischen Einflüssen ausüben zu dürfen. Vielleicht stehe ich auch schon an der Neige meines Lebens und habe keine größeren Aufgaben mehr vor mir. – 243 –

Auf jeden Fall begleitet mich aber die Verheißung Jos. 1, 9, die mir an einem dieser trübsten Tage geschenkt wurde und die sich seitdem bereits wunderbar bewahrheitet hat.11 Darum glaube ich fest, dass Er mir immer wieder Kraft schenken wird, dass Er besonders meine beiden lieben Kinder wie bisher auch in Zukunft gnädig behüten und ihnen Lebensmöglichkeit im deutschen Vaterland gewähren wird. Heute sieht man kaum einen Weg dazu. Aber der Wille des Allmächtigen tut Wunder und ein Reich, das in sich uneins ist, kann keinen Bestand haben. Eins lehrt mich mein Leben deutlich: Gottes Wille ist gut und gnädig. Er gereicht uns zum Segen, auch wo er uns unbegreifliches und scheinbar unverdientes Unheil auferlegt. Möchten auch meine Nachfahren dies begreifen und danach zu leben versuchen! Das ist mein Wunsch und meine Bitte für sie. Oberschlema, 5. Juli 1936 Fr. Weißler

(5) Auszug aus den Verhörprotokollen der Gestapo (Berlin, 14.10.1936)12 Vorgeführt erscheint der Landgerichtsdirektor a. D. Friedrich Weissler und erklärt auf Vorhalt: Der Inhalt der sogen. Anlagen zu dem Wort an den Führer13 ist im Hause der VKL . von den Mitarbeitern zusammengestellt worden auf Grund der verschiedenartigsten Unterlagen, z. B. Nachrichten, die wir in unseren Akten hatten oder Berichte aus Tageszeitungen und kirchlichen Zeitschriften, in einzelnen Fällen auch aus Büchern z. B. Rosen­berg’s Mythus. In unseren Akten befand sich u. a. auch solches Nachrichtenmaterial, das uns von einzelnen Bruderräten oder auch unmittelbar von einzelnen Geistlichen oder noch anderen Stellen z. B. Rechtsanwälten übersandt worden war. Wenn uns von einem Rechtsanwalt etwas übersandt wird, so handelt es sich fast ausnahmslos um einen juristischen Bericht über einen Fall, in dem der Rechtsanwalt – 244 –

als solcher tätig ist. In der Regel ist dieser Rechtsanwalt Mitglied der Bekennenden Kirche. Frage:

»Weshalb lag eine Veröffentlichung von Nachrichten der BK . in der Auslandspresse im Interesse der BK .?«

Antwort: »Die Bekennende Kirche ist mit den christlichen Kirchen des Auslands mit Ausnahme der röm.-kath. Kirche in der sogen. Ökumene innerlich eng verbunden. Diese Verbundenheit beruht auf christlichen Glaubensgrundsätzen, wonach die christliche Kirche sich über alle nationale Spaltungen hinweg als die eine christliche Kirche fühlt und zu betätigen versucht. […] Diese Verbundenheit macht es den einzelnen christlichen Kirchen zur Pflicht, ihre Nöte und Erfahrungen miteinander auszutauschen. Da dies nun auf dem Wege persönlicher Besuche und ökumenischer Konferenzen nicht ausreichend geschehen kann, muss dazu auch die Tagespresse herangezogen werden. Damit wird ein Wunsch der Christen im Ausland erfüllt, die gern möglichst genaue Kenntnis über die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland erlangen wollten. Sie sind an dem theologischen Kampf in Deutschland um des Willen besonders stark interessiert, weil sich in anderen Ländern bereits Ansätze zu einem ähnlichen Kampf zeigen, z. B. in Schweden und England und weil der Kampf der Bekennenden Kirche daher weithin als vorbildlich für den zukünftigen Kampf der eigenen Kirchen erscheint.« Frage: »Woher bekamen Sie die Unterlagen für die an die Bruderräte herausgegebenen Mitteilungen? Haben Sie diese Mitteilungen auch an Personen im Ausland versandt oder an dort bestehende kirchliche Körperschaften?« Antwort: »Einen regelmäßigen Nachrichtendienst hat die Vorläufige Leitung selbst nie unterhalten. Sie hat nur in einzelnen Fällen die angeschlossenen Kirchenregierungen und Bruderräte von wichtigen Vorkommnissen durch Brief unterrichtet. […] Ein Versand dieser Nachrichten ins Ausland hat nicht stattgefunden.« – 245 –

[…] Auf die Frage, ob man die Veröffentlichung in politischen ausländischen Blättern nicht für staatsgefährlich halten konnte, selbst wenn manche Tatsachen wahr sein sollten: »Es kann natürlich vorkommen, dass auch eine wahre Nachricht als staatsgefährlich angesehen wird. Ob und wann das der Fall ist, kann im einzelnen Fall zweifelhaft sein. Unter Umständen könnte hier das religiöse Gebot in Frage kommen, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, d. h. vom kirchlichen Gesichtspunkt aus konnte unter Umständen eine Nachricht auch dann nötig erscheinen, wenn sie dem Staat gefährlich erschien.« […] Auf die Frage, warum haben Sie ohne Wissen der Vorläufigen Kirchenleitung die Nachrichten an Tillich weitergegeben, statt sich bestätigen zu lassen, dass eine solche Berichterstattung im Sinne der Bekennenden Kirche liegt: »Das sind Sachen, die man besser nicht fragt.« – »Ich war überzeugt im Interesse der Bekennenden Kirche zu handeln, aber ebenso überzeugt, besser daran zu tun, wenn ich die Sache auf meine eigene Kappe nahm ohne andere in die Verantwortlichkeit mit hineinzuziehen.« Auf die Frage, weshalb Andere von der Verantwortlichkeit ausgeschlossen werden sollten: »Ich war mir darüber klar, dass ich mit polizeilichen Maßnahmen zu rechnen hätte und strafrechtlich hielt ich mein Tun für erlaubt.« […] Auf die Frage: Ob er niemals daran dachte, dass er als Jude sich gerade in solchen Dingen eine grössere Zurückhaltung hätte auf­ erlegen müssen: »In der Bekennenden Kirche gibt es keinen Unterschied zwischen Ariern und Nichtariern. Ich habe als Glied der Bekennenden Kirche gehandelt. Ich habe auch in meiner Eigenschaft als Staatsangehöriger keinerlei Bedenken bei meiner Handlungsweise gehabt. Ich fand nichts dabei, dass Tillich für seinen Nachrichtendienst Geld bekommt. Ich habe Tillich’s Gesinnung für vollkommen lauter gehalten.«

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(6) Gefängnisbriefe: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Weißler, seiner Frau Johanna und den Kindern (Oktober 1936 bis Februar 1937)14 Johanna Weißler vom 9. Oktober an ihren inhaftierten Mann im Berliner Polizeigefängnis am Alexanderplatz: Lieber Fritz, die Nachtsachen, die ich heute morgen dort abgab, hast Du gewiß erhalten. Ich hätte Dir gern einen Gruß mit eingelegt, aber es war nicht erlaubt. Lesestoff u. Schreibsachen ständen dort zur Verfügung, meinte der Beamte, ebenso könntest Du Dir wohl dort Mittel geben lassen vom Arzt, denn die Schmerzen plagen Dich gewiß wieder Tag u. Nacht. […] Hänschen brachte eine gute Zensur nach Hause: außer im Gesang eine 3 ! lauter Zweien. Aufmerksamkeit sehr gut. Ulrichs [Zeugnis] lautet gut u. genügend. »Sein Betragen ist einwandfrei, er ist fleißig u. zuverlässig. Er arbeitet still, doch eindringlich mit.« – So lautet seine Charakterisierung. Ich bekomme Besuch, erfahre viel Teilnahme, Beistand u. Trost, wovon ich Dir so gern abgeben möchte. Aber Du weißt ja selbst am besten, woher der einzige Trost u. die Kraft kommen. Denk an unser schönes Morgengebet. In dem Sinne grüßt Dich Deine Hanna.

Eine Woche später: Johanna Weißler vom 14. Oktober 1936 an ihren Mann: Mein lieber Fritz, meine Hoffnung, Dich sprechen zu können, ist bisher leider vergeblich. Wo soll ich nun Geld herbekommen? Auf Deinem Postscheckkonto – 247 –

ist zwar verschiedenes eingegangen, aber ich habe doch keine Verfügung darüber. Morgen ist der 15. u. die halbmonatliche Miete muß doch bezahlt werden. Auch sind die nötigen Winteranschaffungen für die Kinder zu bezahlen und mit meinem Wirtschaftsgeld bin ich natürlich auch am Ende. Vielleicht ist es doch möglich, dass Du mir eine Vollmacht geben kannst über Dein Postscheckkonto, dass ich wenigstens das nötigste Geld zur Hand habe? […] Wir denken so viel an Dich und hoffen täglich auf Deine Rückkehr. Schreibe mir was Deine Schmerzen machen und ob Du Mittel dagegen bekommst. Alle grüßen Dich herzlich, besonders Deine Hanna.

Am Dienstag, den 13. Oktober schreibt Friedrich Weißler erstmals an die Familie: Liebe Frau, liebe Mutter, liebe Kinder. Endlich darf ich Euch schreiben. Es ist sehr hart für Euch, gar nichts von mir zu erfahren. Ich bekomme doch wenigstens Eure stummen Liebeszeichen: die Wäsche. Also zunächst: Körperlich geht es mir gut. Kaum eine Spur von Rheuma noch. Auch der Magen ist in Ordnung, trotz des ungewohnten Essens. Die Behandlung lässt nichts zu wünschen übrig. Seelisch ist die Lage natürlich viel schwerer. Aber Gott hat mir bisher Kraft gegeben und wird es auch weiter tun. Seit Sonnabend habe ich eine Bibel. Bitte lest auch fleißig darin, besonders Hebr. 12, 6–11 u. 13, 18, 19. Sonnabend durfte ich an Rechtsanwalt Holstein schreiben u. fügte einige Mitteilungen für Euch bei.15 Ob der Brief angekommen ist? Ich bat darin um eine Schuh- u. Kleiderbürste. Jedenfalls wende Dich an ihn um Rat und Beistand; ich hoffe, dass auch andere Freunde Dir beistehen. Wie gern würde ich Dich einmal sprechen oder ein paar Zeilen von Dir lesen. […] – 248 –

Ich habe also keinen Wunsch als die beiden Bürsten und möglichst bald wieder bei Euch zu sein. Wie oft ich an Euch denke, wisst Ihr. Wie hat Mutter den neuen Schlag nur aufgenommen? Betet Jes. 51, 11–13, u. 54, 7–10 für Euern Vati. [PS] Statt der kath. Bibel, die man mir am Sonnabend gab, hätte ich gern eine Lutherbibel, vielleicht Deine Mädchenbibel. Andern Lesestoff brauche ich nicht dringend. Die Kinder haben doch die Wahrheit über mich erfahren? Traurige Ferien für sie. Ich darf nicht mehr schreiben, um die Beamten nicht zu überlasten, die den Brief prüfen.

Johanna Weißler, Samstagabend, den 17. Oktober an ihren Mann: Mein lieber Fritz, endlich das erste Lebenszeichen von Dir! Der Brief von Dienstag. Wie glücklich sind wir alle, dass wir wenigstens etwas von Dir in Händen haben. Aber sehr traurig ist, dass Du noch immer nichts von uns hast. Dies ist der 4. Brief, den ich schreibe. Auch Herr Rechts­ anwalt H. [= Holstein] erhielt bis heute nichts von Dir, wie ich telefonisch erfuhr. Ich erfahre so viel Beweise rührender Teilnahme, könnte ich Dir nur davon abgeben! Wegen der Geldangelegenheiten hätte ich Dich so gerne gesprochen, aber es war bis jetzt nicht möglich. Die Bürsten will ich versuchen mit abgeben zu dürfen. […] Heute Nachmittag war ich mit den Kindern in Dahlem, wo Herr Dr. S. [Schmidt] ihnen die neuen [Büro-] Räume zeigen wollte u. das auch ausgiebig getan hat u. sich so nett mit den Kindern beschäftigte. Leider konnten wir wegen des schlechten Wetters nicht mit d. Rädern fahren.16 – 249 –

Wie lange werden wir noch getrennt sein? Es steht bei Gott und nicht bei den Menschen, diese sind ja nur sein Werkzeug. Bitte doch dort um eine Lutherbibel, denn Dein neues Testament, das ich beim 1. Wäschepaket mitnahm, hat man abgewiesen. Gott stärke Dich weiter und helfe Dir! In Liebe, Deine Hanna. Mutter u. die Kinder grüßen herzlich.

Um den 20. Oktober 1936 berichtet der elfjährige Sohn Ulrich seinem Vater: Lieber Vati! Heute begann die Schule wieder. Es war gar nicht so schlimm, wir hatten nur Flaggenhissung und anderes; gar keine Stunden. Das Zeugnis war genügend; Relig.[ion] und Biol.[ogie] gut, sonst genügend. Hänschen hat sich mit Georg wieder ausgesöhnt; heute kommt er her. Ein und einen halben Tag habe ich in den Ferien Marken eingeklebt; 1 017 im roten Album. Am Sonntag war ich im Johannesstift. Die Freizeit wurde mit einem Elternabend geschlossen, zu dem alle vollzählig da sein sollten; Du und Mutti habt gerade gefehlt. Zurück hat mich Dr. Karl Stache, der Bezirksleiter des B. K. [= Schülerbibelkreise] im Auto mitgenommen und auf der Spandauer Chaussee abgesetzt. […] Herzl. Grüße, Dein Ulrich

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Am 12. November schreibt Friedrich Weißler aus dem Gefängnis: Meine liebe Frau. Endlich darf ich Dir wieder schreiben, aber nur, weil ich Dich auf verschiedene Zahlungen aufmerksam machen muß. […] Um mich macht Euch keine Sorge und beeinträchtige den Kindern die Adventsfreude nicht. Ich stärke mich täglich an Gesängen wie »Befiehl Du Deine Wege«, »Wer nur den lieben Gott lässt walten« und bitte Euch dringend, das auch zu tun und ferner Stellen wie 2. Kor. 1, 5–7 [… es folgen 9 weitere Bibelstellen] immer wieder zu lesen, und das sind nur einige von vielen Stellen, die Kraft geben. Körperlich geht es mir gut. Seit dem 20. v. M. bekomme ich Weißbrot, das mir besser schmeckt. […] Sehr schmerzlich ist mir, dass ich von Euch gar nichts erfahre. Dein Besuch am 19. [Oktober] war das Letzte. Ich träume viel von Euch, namentlich von den Kindern, die ich gestern ganz deutlich »Vati« rufen hörte. […]

Johanna Weißler vom 14. November 1936: Mein lieber Fritz, ob Du diesen Brief wohl erhältst? Er soll Dir wenigstens sagen, dass wir alle gesund sind u. unser Leben seinen gewohnten Gang geht. […] Sonnabend abends war ich in der Annenkirche u. hörte eine Predigt, von der ich das Gefühl hatte, dass sie eigens für mich gehalten war. »Wer zu mir kommt, den will ich nicht verstoßen«. Er gebe Dir Kraft all das Schwere zu tragen.   D. Hanna.

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[Zusatz post scriptum:] Lieber Vati! Ich war heute bei meinem Freund, bei dem neuen, der heißt Günter Rausch, von dem hast Du wohl schon mal gehört, der hat auch eine Elektrische Eisenbahn aber eine Spur 0. Herzliche Grüße, Johannes.

Johanna Weißler, Sonntag, den 29. November 1936: Lieber Fritz, […] … Julecks waren heute alle bei uns, und es war äußerlich wie immer am 1. Adventssonntag. Du wirst viel hergedacht haben. Unsre Gedanken waren auch immerzu bei Dir. Vormittag war ich in der Jesus Christuskirche und hörte eine gute Predigt über das Wort: »Warum schreist Du denn jetzt so laut, ist der König nicht bei Dir?« (Micha 4.9).

Friedrich Weißler schreibt am Dienstag, den 8. Dezember 1936: Meine Lieben alle vier! Eine frohe Nachricht: ich darf wieder schreiben und auch Ihr mir. Tut es nur gleich und oft! Mittwoch erhielt ich auch die bisher zurück gehaltenen 6 Briefe aus Okt./Nov. Die Freude war unbeschreiblich. […] Nun von mir: gesundheitlich geht es mir weiter ganz gut. […] Das Bücken beim Ausfegen und Bettmachen fällt mir nicht mehr so schwer wie im Anfang. […] Der Schlaf ist verhältnismäßig gut, aber selten tief, da man nie richtig müde ist. Um 7 Uhr liege ich meist, um 8 wird das Licht gelöscht, bis gegen 9 pflegt das Einschlafen zu dauern. Gegen 4 Uhr früh ist es mit dem Schlaf vorbei. Der Magen – 252 –

meldet sich kaum, hin und wieder leichte Druckgefühle, die schnell vorbeigehen; kein Wunder, da man fast nur Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, Bohnen) genießt, nur Freitag gibt es immer gebackenen Fisch mit Kartoffeln und Senftunke. […] So viel vom Leiblichen. Wie es mir seelisch geht, wisst Ihr, und es geht immer und verstärkt so. Als schöne Stellen aus dem A. T. gebe ich Euch heute: 5. Mose 2, 3, 4, das mir neulich in der Nacht (!) geschenkt wurde [es folgen 16 weitere Bibelstellen sowie mehrere Liednummern aus dem Kirchengesangbuch]. Ich hätte jetzt sehr gern mein griechisches N. T. u. das Wörterbuch dazu, vielleicht auch sonst etwas zu lesen, aber nur gut gedrucktes. Die Beleuchtung ist schlecht. […] Ich grüße Euch alle, namentlich auch Mutter, mit Röm. 5, 3–5 u. 12, 12 u. hoffe auf baldige Antwort. Euer Mann, Vati, Sohn.

Johanna Weißler vom 16. Dezember 1936: Mein lieber Fritz, wie mag es Dir gehen? Hat sich Dein Magen gebessert? Und hast Du eine Medizin oder andere Kost bekommen? […] Jetzt lesen wir gern die Adventslieder. Mit dem Singen weißt Du ja wie es bei uns ist, Johannes, der wohl könnte, hat keine Lust, trotz aller Aufmunterung, wie sich gestern wieder zeigte, und Ulrich, der gern möchte, kann nicht. […] Gestern nachmittag haben wir Honig- u. Pfefferkuchen gebacken, wie üblich, die Jungs mit weißen Schürzen und voller Eifer. […] Mit Ulrich war ich heute nachmittag einen Weihnachtsbaum kaufen. Er fällt dieses Jahr kleiner aus und das ist gut. Was mich bewegt bei allen diesen Vorbereitungen kannst Du Dir denken und es war gut, dass Herr Pastor H. [Hildebrandt] heut mittag bei mir war und so schöne Worte sprach.17 Daran will ich wohl denken. Er lässt Dich sehr herzlich grüßen. – 253 –

Johanna Weißler schreibt am Montag, den 21. Dezember 1936: […] Heil. Abend sind wir ½ 5 in der Heerstraßenkirche und am 2. Festtag wollen Ulrich u. ich nach Dahlem in die Jesus Christuskirche zu Pf. Hildebrandt. Ich war auch gestern früh dort bei N ­ iemöller und denke nur immer bei solchen Gelegenheiten: könntest Du es miterleben.

Johanna Weißler schreibt an Heiligabend 1936 ihrem Mann: Mein lieber Fritz, endlich sind die Kinder im Bett, es wurde ½ 11! Aber ihre Glück­ seligkeit war so groß, dass ich sie nicht ohne eignen Willen von den Herrlichkeiten trennen mochte. […] Wie sich ihre Freude geäußert hat kann ich Dir nur erzählen. Hänschen war ganz aus dem Häuschen und wusste sich nicht zu lassen, nur gestern abend im Bett sagte er noch: »Mutti, ich glaube schon, dass morgen Weihnachten ist, aber mein Herz glaubts noch nicht. Sonst war immer viel mehr los vorher.« Ulrich, bei dem sich die Freude ruhiger äußert, gab mir entzückende Beweise seiner Liebe, Anhänglichkeit u. seines warmen, weichen Gemütes. – Er hatte im Kinderzimmer ganz besonders hübsch aufgebaut, mit der Laubsäge Krippenfiguren geschnitzt, Hapu [die Großmutter Auguste Weißler] einen modernen Photoständer gearbeitet. Von Hannes bekam ich wieder ein Engelchen… Wir hatten eine so schöne Feier in der Kirche. Oder empfand ichs nur so, weil einem das Herz so schwer war und man besonders aufgeschlossen war für die Christusbotschaft? […] Und meine Gedanken beschäftigen sich vorwiegend mit Deinem schlechten Befinden. Möchte Dir doch der Arzt die richtigen Heilmittel geben. Er sieht doch wie es um Dich bestellt ist und hat die Verantwortung. – 254 –

Johanna Weißler am 27. Dezember 1936: Mein lieber Fritz, wie mag es Dir nur gehen? Ich mache mir solche Sorgen um Deinen Gesundheitszustand. Wird man Dir auch die nötige Pflege zukommen lassen? […] Vormittag [am 2. Weihnachtsfeiertag] gingen Ulrich u. ich zu Pf. H.[ildebrandt] in die Jesus Christuskirche und hörten eine ernste Predigt über das Wort 5. Mos. 5, 21 »Heutigentages haben wir gesehen, dass Gott mit Menschen redet und sie lebendig bleiben«.18 Es gab auch einen guten Chor mit Orgel- u. Orchesterbegleitung. Und eine Krippe war aufgebaut, die uns aber nicht gefiel. Unsre finden wir immer am schönsten. Ulrich hat so hübsche kleine Sterne u. Engelchen für den Christbaum gearbeitet mit der Laubsäge. Sein selbstgemachtes Gedicht schicke ich Dir heute mit. Mit der Eisenbahn sind beide sehr glücklich. Jedem wird sie vorgeführt, ein Doppelgeschenk an Signalstangen haben sie bereits in Schienen umgetauscht, und da sie 10 Pf. zurückerhielten eine Sparkasse für Eisenbahnanschaffungen angelegt. Und Johannes hat heute einen Prachtbau vollführt aus den Matadorkästen. Ein großer Panzerkreuzer naturgetreu. Mit verstellbaren Kanonen u. einer Radioanlage mit Empfänger u. Sender. […] Ich freue mich immer wieder, dass beide Kinder so geschickt sind in technischen Sachen. Hoffentlich hast Du mir geschrieben, und ich habe die Nachricht bald. Lies das schöne Lied »Ich hab in Gottes Herz u. Sinn mein Herz u. Sinn ergeben«, bes. V. 2, 6 u. 7. Deine Hanna.

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Friedrich Weißler vom 29. Dezember 1936: Meine liebe Frau! […] Seit d. 24. besserte sich mein Zustand, seit gestern esse ich wieder normal, mit Vorsicht natürlich. Auch das Herz, das unnötig Herzklopfen zeigte, ist mit Esdosan beruhigt. Dafür habe ich jetzt Rheuma in beiden Armen, weil es aus dem Fenster bei Nacht zieht. Heizkissen, Lichtbäder gibt es natürlich nicht, nur eine Wärm­f lasche, die aber undicht ist. Aber es wird schon werden. – Weihnachten habe ich wider Erwarten trotz der großen Enttäuschung sehr schön verlebt: das Christkind kam auch bei mir, »nur« im Geiste natürlich, aber Gott ist ja Geist, u. das Christkind kommt lieber in Niedrigkeit als in Pracht. Christbaum, Geschenke u. Leckereien habe ich gar nicht vermisst, nur Euch, denen ich so gern von meiner inneren Fülle abgegeben hätte. Auch hatte ich Deinen lieben Adventszweig, der jetzt am Kopfende des Bettes prangt. Am 1. Feiertag war ich sogar im Gottesdienst, wo auch ein brennender Baum war. Sonst habe ich die Feiertage viel im Bett gelegen, Heil. Abend aber nicht. Sicher wart Ihr viel trauriger als ich. Mir ist eben ein Wunder begegnet! […] P.[astor] Middendorf schrieb mir jetzt schon zum 2. Mal. Bitte danke ihm doch sehr herzlich; seine Grüße sind mir als einzige, die von auswärts kommen, eine große Freude u. Stärkung; seine erste Karte mit Anschrift lege ich bei.19 […] Ich hätte so gern ein gutes Buch über den Römerbrief oder eine »Einführung in das N. T.« Vielleicht kannst Du mir so etwas durch Pastor H.[ildebrandt] beschaffen. Einen Blei[stift] habe ich auch noch nicht. Dabei platze ich fast vor Gedanken, Fragen, Anregungen, die man festhalten möchte. Gott hilft mir aber, davon habe ich nun schon so viel erfahren. […] Arme Frau, Dein Weihnachten war diesmal trübe, u. Dein Weihnachtsplatz wohl leer? Ich freue mich aber auf die Berichte der Kinder. Gott schütze Euch weiter! Kol. 2, 5–7. Euer Vati. – 256 –

PS : Ich brauche Schnürbänder u. Schuhkreme. Ulrich soll mehr

lesen!

Am 1. Januar 1937 schreibt der jüngste Sohn Johannes: Lieber Vati. Wir haben Weihnachten schön verlebt und gerade was wir uns gewünscht haben, haben wir auch gekriecht, so wie: Das Schuco Auto, die D Zugwagen, die Güterwagen, die Weichen, die Signalstangen …, aber den Märklinkasten leider nicht, und dann die zwei großen Räder, davon haben wir gleich einen »Traktor« gebaut. Herzliche Glückwünsche zum neuen Jahr. Johannes.

Und auch Ulrich, der ältere Sohn, berichtet von Weihnachten 1936: Lieber Vati! Weihnachten war wirklich schön. Von Krolls aus Potsdam habe ich 3 große Laubsägeplatten bekommen. Von Tante Else eine kleinere Aktentasche … Von Mutti bekam ich Gießformen und -platten. Ein Schwein und Ferkel in einer Form und einen Hund in der andere[n] – ich hab schon tüchtig gegossen. Morgen (Sonnabend 2.1.1937) fahren wir nach Potsdam, um zu baden in einer Winterbadeanstalt; wir wollen dann über Sonntag bleiben. Schade, dass Du nicht mitkommen kannst. Hänschens Weihnachtsteller ist schon leer, aber auf meinem liegt noch etwas drauf. […] Herzl. Gr. Ulrich

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Am 12. Januar schreibt Friedrich Weißler aus dem Gefängnis: Meine Hand zittert – vor Freude ?! Meine Liebe!! Schreibetag – Freudentag. Tagelang freue ich mich darauf u. überlege genau, was ich schreiben soll. Ich bin so voll Dankes gegen Ihn u. gegen Dich für alles, was Du schreibst u. mir tust u. kann ihm nicht Worte geben. […] Mir geht es seelisch sehr gut, leiblich ausreichend. […] Das Herz scheint wieder in Ordnung zu sein. Rheuma meldet sich an verschiedenen Stellen, zum Glück bisher nicht stark. Die Zelle kühlt bei Nacht sehr aus, u. die dünne Schlafdecke schützt nicht genug. Ich liege jetzt mit den Füßen gegen das Fenster, merke aber trotzdem den Zug. Natürlich kommt Katzenfell u. Strickjacke nicht mehr vom Leibe. […] Sonst erlebe ich täglich die große Freude, dass ich mit Mut u. Freudigkeit aufwache u. meist auch durchhalte (Phil. 4, 13) u. eine Reihe kleiner Freuden: einen Brief v. Euch, Sonnenschein in der Zelle, der etwa v. ½ 10 bis ½ 3 bleibt, mir das Herz erwärmt u. die Uhr ersetzt, eine neue Perle im Gesangbuch (…) oder – eine nochmalige Entwanzung der Zelle, die vorige Woche stattfand, obwohl sich nur einzelne Biester gezeigt hatten. Das Schönste ist natürlich immer ein Brief. […] Die von Dir genannten Lieder u. Bibelstellen kenne ich natürlich alle, lese sie aber gern wieder, im Geiste bei Euch. »Ein Christ kann ohne Kreuz…« war mir lange unentbehrlich. Dein Hinweis auf Ps. 55, 23 erreichte mich in einem Augenblick des Kleinmuts u. hat mich sehr gestärkt. So hilft Dein Gedenken auch unmittelbar. […] Ich grüße Euch mit Ps. 27, 14. Dein F.

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Friedrich Weißler im Januar 1937 an die Kinder: Liebe Kinder. Ihr schreibt mir so fleißig, dass ich Euch doch auch einmal schreiben muß. Ich freue mich immer sehr über Eure Briefe… […] Nun will ich Euch erzählen, wie ich wohne: In dem Raum steht ein Bett, ein Schemel und ein Klosett – das ist alles. Das Bett muß also als Tisch dienen zum Essen, Schreiben usw. An der Wand hängt ein kleines offenes Regal zum Abstellen des Eßnapfes, des Bechers, Seife, Bürsten u. dgl. Unten an dem Regal sind Holzpflöcke, an denen man Kleider und Handtücher aufhängt. Das Fenster ist etwa 2 m über dem Boden, so dass man nicht hinaussehen kann. Zu öffnen ist nur die oberste Klappe mit einer Stange, die daran hängt. Durch das Fenster sehe ich zum Glück nur Himmel, keine Steinmauern. Ich wohne nämlich 4 Treppen hoch und habe dadurch auch viel Sonne, jetzt schon von 9 Uhr an. Die Lampe an der Decke wird von außen an- und zugeknipst. Bei Nacht kommt manchmal ein Aufseher, knipst an und guckt durch das Guckloch – wie bei uns in der Korridortür –, ob ich auch da bin. Spaßig, nicht? Nun wisst Ihr aber genau, wie ich wohne. Wenn Ihr nun wieder schreiben sollt und gerade keine Lust habt, so denkt daran, was Ihr mir damit für Freude macht und dass ich natürlich auch »keine Lust« habe, hier zu wohnen. Aber wann ich wiederkommen darf, ist leider ganz ungewiß. Gott wird mich schon zur rechten Zeit nach Hause bringen. Er behüte Euch bis dahin! Euer Vati.

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Johanna Weißler am Montag, den 18. Januar 1937: Mein lieber Fritz, zwar scheint die Sonne so wunderschön hier in Dein Zimmer, erhellt und bestrahlt Deinen Schreibtisch und diesen Brief – dieselbe, die Dir jetzt auch in die Zelle scheint –, aber wie sehr hast Du vielleicht wieder in der Nacht gefroren, oder bist wenigstens nicht warm ge­ worden. […] Wir hatten gestern wieder einen schönen stillen Sonntag. Vormittag war ich mit Ulrich in Dahlem, in d. J. Chr. Kirche, bei Niemöller, der über die Hochzeit zu Kanaan sprach (Joh. 2, 1–12) Eine neue Auslegung der Worte Marias: »Sie haben nicht Wein« war die: sie wollte Jesu damit einen Wink geben, dass er sich mit seinen Jüngern entferne, da man vielleicht nicht ernstlich mit ihnen als Gäste gerechnet habe. Als schönsten Vers sangen wir: »Weicht ihr Trauergeister« aus Jesu meine Freude. […] Ulrich hatte [noch] eine Veranstaltung in Dahlem, von der er auch erst nach 8 nach Hause kam. So waren Johannes u. ich ganz allein. Sogar Klavier gespielt habe ich das 1. Mal wieder und wir haben ein bisschen gesungen aus dem bunten Kinderliederbuch. […] Unglaublich viel Kohlen wurden wieder abgeladen bei uns; es ist immer ein scheußlich kalter Wind. Aber die Kinder freuen sich über die herrliche Eisbahn.

Johannes Weißler im Februar 1937: Lieber Vati! Mit der Eisbahn ist es jetzt aus, wir waren aber nicht am U-Bahnhof, sondern in der Reichsstraße. Da sind auch Tennisplätze, aber viel größer und auch eine Rutschbahn, davon hast Du doch schon gehört, nicht wahr! […] – 260 –

Fräulein Pohl ist jetzt krank. Wir hatten auch beim Rektor, aber jetzt haben wir jede Woche einen andern Lehrer. Am 20. 3. gibt es Ferien. […]

Ulrich Weißler im Februar 1937: Lieber Vati! Zu Hapus [Großmutter Auguste Weißler] Geburtstag hat Hänschen einen Füllfederhalter und ich eine ganz kleine Taschenlampe … bekommen. Da Hänschen einen Füller bekommen hat und ich nicht zurückstehen wollte, holte ich meinen vor, den ich einmal von Tante Sigrid bekam, mich dann aber so darüber ärgerte, dass ich ihn zu unterst in mein Pult legte. […] Ich arbeite sehr viel Latein mit Onkel Ernst, damit die Zensur gut ausfällt; hab daher wenig Zeit, und kann nicht viel schreiben. Herzliche Grüße, Ulrich

Friedrich Weißler am Dienstag, den 9. Februar 1937: Meine Liebe! »Fürchte Dich nicht, glaube nur!« Dies Wort Luk 8, 50 aus der Lesung des 28. I. begleitet mich seitdem u. stärkt mich ungemein. Wirklich: Wenn wir glauben, dass Gott der liebe Vater ist, der uns hilft, wovor sollten wir uns fürchten? […] Bei Westwind höre ich auch Turmuhren schlagen, was namentlich nachts sehr angenehm ist (obwohl ich ganz gut schlafe). Jetzt bei Ostwind ist wieder alles still. Auch Musik höre ich öfter, nämlich die Polizeikapelle, die hier irgendwo übt. Sie spielen die üblichen Biergartensachen, Märsche, Potpourris, viel Wagner, sogar Parsifal! Immerhin besser als nichts.

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Dem Brief angefügt ist ein eigener Text auf das Kirchenlied »Jesus meine Zuversicht«: Nur dem Vater gilt es traun, Stillehalten seinem Willen. Er wird Zeit und Weg erschaun, dein Verlangen zu erfüllen. Mach den eig’nen Willen still. Gott führt selber dich ans Ziel!

Friedrich Weißler am 10. Februar 1937 – es ist das letzte von ihm überlieferte Schriftstück: Meine liebe Frau. Gestern schrieb ich Dir ausführlich u. begann mit Luk 8, 50: »Fürchte Dich nicht, glaube nur.« Ich bitte Gott, dass Er Dich den gestrigen Brief vor dem heutigen erhalten lässt. Denn es gilt jetzt dies Wort zu beherzigen u. sich Kraft dazu von oben zu erbitten. – Ich komme nun doch noch ins Lager! Wann, wohin und auf wie lange, ist unbekannt. Es kann schon heute oder morgen sein, es kann auch noch 1 bis 2 Wochen dauern. Gestern wurden wir auf Lagerfähigkeit untersucht. Mein Herz fand der Arzt bei allerdings flüchtiger Unter­ suchung gesund. Schwere körperliche Arbeit käme für mich nicht in Betracht, sagte er, nur Büroarbeit. Auch meine Rheuma-Anfälligkeit soll berücksichtigt werden. Ich hoffe deswegen, dort die Erlaubnis zu erhalten, meine Unterhemden weiter zu tragen. Sonst wird man ja dort nichts Eigenes tragen dürfen. Auch meine Bücher kann ich natürlich nicht mitnehmen. (Das griech. N. T. versuche ich mitzunehmen. Die Decke muß ich zurücklassen.) […] Arme Frau, arme Mutter, arme Kinder! Gott wird Euch trösten, ich kann es nicht. Lest Ps. 27. Ich habe wunderbare Ruhe u. Kraft geschenkt erhalten. Denn ich weiß, dass der Herr auch dort täglich mir helfen wird, wie Er es bisher hier so wunderbar getan hat. Auch ist es mir eine Erlösung, aus der Öde u. Ungewissheit hier befreit zu – 262 –

werden. Dort werde ich doch wenigstens eine tägl. Arbeit haben. Und der Schatz der Lieder u. Gottesworte bleibt mir innerlich. […] Gott schütze Euch u. mich auch weiterhin so gnädig. Euer Vati. PS : Den blauen Rock möchte ich nun doch behalten; ich brauche

ihn ja nur noch zur Reise. Beide Katzenfelle bleiben natürlich unent­ behrlich.

Am 11. Februar 1937 schrieb er auf einen der zahlreichen im Nachlass aufgefundenen kleinen Zettel: 1. Ich zieh in einen heilgen Streit Versunken ist all Erdenleid Ich bin ein heilger Streiter Ich streite nur für Gottes Ruhm Ich bin sein Kind, sein Eigentum Und ich begehr nichts weiter 2. Mein Herz ist voller Mut und Kraft Er ist es, der sie in mir schafft In seinem heil’gen Streiter Er hält mich stets in seiner Acht Schützt mich mit seiner starken Macht Und was begehrt ich weiter? 3. Weint nicht so sehr, Ihr Lieben mein, Gott will, es soll geschieden sein. Auch ihr seid seine Streiter Geduld ist Eures Kampfes Ziel. Vertraut dem Herren, seid ihm still Dann wünscht auch Ihr nicht weiter (frei nach Binding)20

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Letzter Brief Friedrich Weißlers aus dem Gefängnis, 10. Februar 1937

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Johanna Weißler am Dienstag, den 16. Februar 1937 an ihren Mann im Konzentrationslager Sachsenhausen – ein Brief, den Friedrich Weißler vermutlich nicht mehr gesehen hat. Mein lieber Fritz, nun haben wir uns doch nicht mehr sprechen können! Als ich gestern nach dem Al.[exander] Pl.[atz] kam, hörte ich, dass Du Sonnabend weggekommen bist. Ich war natürlich sehr traurig, denn ich hatte doch noch allerlei auf dem Herzen, Dir zu sagen, was sich nicht schreiben lässt. […] Scheinbar hast Du doch alles mitnehmen dürfen, was Du noch besaßest, denn ich bekam den Bescheid, dass nichts zurückgeblieben sei. Daß Du sogar die Decke mitnehmen durftest, ist mir eine große Beruhigung, sie wird Dir gute Dienste tun, besonders nachts. Ich war heute Vormittag bei Euch im Lager und versuchte, das Katzenfell für Dich abzugeben, das Du gewiß schon sehr vermisst hast, aber vergeblich. Mir wurde gesagt, dass ichs nur mit der Post ­schicken dürfte. Das tue ich nun hiermit. Hoffentlich bekommst Du es gleich ausgehändigt. […] Soll ich die Zahnarztrechnung für mich – lediglich Reparaturen – bei der Kasse einschicken zwecks Rückvergütung? Oder ist es zwecklos, da sie wohl dafür nichts zahlt? Soll ich die Zeitschriften nicht abbestellen? Nun leb wohl, Du weißt, dass unsre u. unsrer Freunde Gedanken so viel bei Dir sind und alle unsre Gebete für Dich ein gnädig Ohr finden werden. In Liebe Deine Hanna.

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(7) Aufzeichnung von Johanna Weißler vom 24. Februar 193721 Vorgestern, am 22.2.37, bekam ich ½ 1 Uhr durch Herrn Pfarrer Lichtenstein die Nachricht von der Stapo, dass ich meinen Mann noch einmal sehen könnte. Und zwar im Kreiskrankenhaus Oranienburg, wo eine Obduktion der Leiche vorgenommen werden sollte. Herr L.g.d [Landgerichtsdirektor] Günther u. Herr Sup. [erintendent] Albertz begleiteten mich hin.22 Der Zutritt zur Leiche wurde ihnen aber versagt. Ein freundlicher Wärter führte mich hinein und sagte zu mir, nach der Öffnung wolle ich doch wohl die Leiche nicht mehr sehen, ich verneinte. Im Raum war ein Herr in Uniform anwesend. Der Wärter schlug das Tuch zurück bis unter das Kinn, sodaß der Kopf und an der linken Seite, an der ich stand, ein Stück Hals frei war. Das Gesicht war stark geschwollen oder gedunsen, die Augen ¾ geschlossen, Nasenlöcher und die geschlossenen Lippen mit geronnenem Blut verklebt, an der linken Nasenseite ein langer, roter Streifen, an der linken Backe ein großer Fleck, ähnlich der Narbe eines Blutschwammes. Oberhalb des Halses sah ich an dieser Seite einen roten Streifen. Haar und Bart waren abgeschoren. Der Kopf wies blau-rote Farbe auf. Der Wärter sagte, ich könne auch auf die andere Seite rübergehen. Das tat ich und bemerkte an dieser rechten Seite des Gesichts nichts Besonderes. Die 2 lila Flecke, die auf dieser Backe schon seit einem halben Jahr waren, fand ich unverändert. Der Hals war von dem Tuch verdeckt. Ich ging wieder zurück und fragte, ob ich die Hand nicht sehen könnte. Ich hörte das Wort »unbekleidet« fallen und als Beschluß der Verständigung in Bezug auf die Hand: »Da ist ja nichts dran«. Darauf holte der Wärter den rechten Arm unter dem Tuch vor und legte ihn oben auf. Hand und Arm, den ich bis fast zum Ellbogen sah, waren unverändert. Ich sah den Ring am Finger u. konnte die Hand streicheln. Der übrige Körper war vollständig bedeckt. Der Wärter führte mich wieder hinaus u. fragte noch, ob ich den Ring zurück haben wollte. Ich bat darum u. er wurde mir auch später mit den Papieren ausgeliefert. Draußen nahmen mich die beiden Herren wieder in Empfang und wir fuhren zurück. – 267 –

(8) Schreiben Pastor Franz Hildebrandt (London) vom 10. Februar 1938 an Johanna Weißler23 Liebe Frau Doktor, es muß in diesen Tagen ein Jahr her sein, dass es geschehen ist, und ich möchte Ihnen wenigstens aus der Entfernung die Hand drücken und Ihnen sagen, dass ich Sie Beide, ihn und Sie und Ihre Jungen nicht vergessen habe. Ich denke viel öfter an Sie als Sie vielleicht ahnen, und das ganze Kapitel, an dem Sie so schwer zu tragen haben, beschäftigt mich dieses letzte Jahr hindurch mehr als das meiste andere; ich bin nicht zuletzt mit dem Wunsche herausgegangen, einmal, wenn dies Ziel auch noch in weiter Ferne liegt, ein ganz klein wenig von dem wiedergutmachen zu dürfen, was unsere Kirche und gerade auch die uns zugehörige auf diesem Gebiet alles versäumt hat. Richtig gehen ja einem erst hier, wo man es täglich vor Augen hat, Umfang und Tiefe des Leides so vieler Kinder und Eltern auf, die die Opfer dieser Zeit sind.24 Und das bedeutet notwendig auch eine gewisse, immer stärker werdende Distanz gegen vieles, worum unsere Brüder drüben mit Leidenschaft kämpfen; mir erscheint es einfach sekundär und geringfügig gegen das was Luk 10. 30 und Sprüche  31. 3 f. steht und wozu wir geschwiegen haben.25 Daß ich dabei nach wie vor an alles Geschehene denke und ganz besonders in dieser Woche mitbeteiligt bin, brauche ich Ihnen ja nicht zu versichern. Ich hätte, wenn es gegangen wäre, wenigstens dieses Jahr noch gern abgewartet und mitgemacht; aber es stand schließlich nicht mehr bei mir, den Augenblick einer längst feststehenden Entscheidung beliebig zu wählen und hinauszuschieben, und ich ahnte schon damals, als wir uns auf der Straße in Halensee begegneten, dass es für lange Zeit das letzte Mal sein würde. Mir ist das, so gerne ich hier bin und so gut ich es habe, schwer im Gedanken an manche, denen ich vielleicht noch irgendwie hätte nützlich sein können, ich denke dabei auch an Ihre Schwiegermutter. Ob sie wohl den Weg zu einem meiner Kollegen gefunden hat?26 Und was machen die Jungen? Grüßen Sie sie beide doch sehr herzlich und – 268 –

lassen Sie mich ja wissen, wenn etwa einer nach hier draußen untergebracht werden soll. Ziehen Sie jetzt zu Ostern um? Und wohin gehen Ihre nächsten Pläne? Ich habe als Text für den übernächsten Sonntag 2. Kor. 12, und dazu das Lied 219 aus unserem Gesangbuch vor; beides kann einem sehr helfen und lassen Sie uns darin verbunden bleiben. Ihr getreuer Franz Hildebrandt

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Anmerkungen Einführung: Der »Fall Friedrich Weißler« 1 Vgl. hierzu die Sterbeurkunde Nr. 65, ausgestellt durch den Standesbeamten Kunig, Oranienburg 20.2.1937; in: NL Friedrich Weißler (im Besitz von Johannes Weißler, Erlangen). Zum ganzen Thema auch die knappe Fami­ liengeschichte: Johannes Weißler, Die Weißlers. Ein deutsches Familienschicksal, Badenweiler 2011. Mit zahlreichen Literaturhinweisen zum »Fall Weißler« bis 2005: Rüdiger Weyer, Artikel »WEISSLER , Friedrich«, in: BBKL 25, 2005, Sp. 1465–1472. 2 Vgl. Johannes Weißler, Die Weißlers; ferner Bayerisches Landeskriminalamt, Schlußbericht in Sachen Zeidler, Guthardt u. a., München 13.5.1968; in: Staatsarchiv München, StanW 34846/2, Bll. 90–114. 3 Johannes Weißler, Die Weißlers, S. 13–49; sowie die biografische Studie von Martin Greschat, Friedrich Weißler. Ein Jurist der Bekennenden Kirche im Widerstand gegen Hitler, in: Ursula Büttner/Martin Greschat, Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im »Dritten Reich«, Göttingen 1998, S. 86–122. 4 Johannes Weißler, Die Weißlers, S. 38 ff. 5 Ebd., S. 50–56. Ergänzend auch: Greschat, Friedrich Weißler; Armin ­Höland/Heiner Lück (Hg.), Juristenkarrieren in der preußischen Provinz Sachsen (1919–1945). Lebenswege und Wirkungen, Halle (Saale) 2004; Albrecht Geck, Friedrich Weißler (1891–1937). Bekenntnis und Recht, in: Jürgen Kampmann (Hg.), Protestanten in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte, Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Teilung Deutschlands, Frankfurt a. M. 2011, S. 263–289. 6 Johannes Weißler, Die Weißlers, S. 59–63; Greschat, Friedrich Weißler. 7 Vgl. grundlegend zur BK-Denkschrift von 1936 und zur »Indiskretion«: Ernst C. Helmreich, Die Veröffentlichung der »Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche (VKL) an den Führer und Reichskanzler, 28. Mai 1936«, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 87, 1976, S. 39–53; Martin Greschat (Hg.), Zwischen Widerspruch und Widerstand. Texte zur Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler (1936), München 1987. 8 Vgl. Greschat, Friedrich Weißler; Gerhard Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937, Berlin/München 2001, S. 489–499. 9 Vgl. Greschat, Friedrich Weißler, S. 112 f. 10 Vgl. ebd.; ferner Staatsarchiv München, StanW 34846/2, Bll. 90–114.

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11 Zum frühen Gedenken bis 1990: Bernhard Heinrich Forck (Hg.), Und folget ihrem Glauben nach. Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche, Stuttgart 1949, S. 11–22; Werner Oehme, Märtyrer der evangelischen Christenheit 1933–1945. Neunundzwanzig Lebensbilder, Berlin 1979, S.  36–42; Werner Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?« Ein Leben im Widerstand, Stuttgart 1982, S. 171–187; Klaus Drobisch, Im Konzentrationslager wurde erstes BK-Mitglied ermordet. Zum 50. Todestag von Friedrich Weißler, in: Standpunkt 15, 1987, S. 105–107; Rainer Lächele, Friedrich Weißler zum Gedenken, in: Junge Kirche 48, 1987, S. 568–570. 12 Eine Gedenkausstellung zu Friedrich Weißler wurde seit Oktober 1996 im Berliner Haus des Bundesverwaltungsgerichts und anschließend in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand gezeigt. Zu dieser Ausstellung erschien die Broschüre: Friedrich Weißler und die Denkschrift der Bekennenden Kirche. Veranstaltung des Bundesverwaltungsgerichts, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der Evangelischen Kirche am 13. Oktober 1996 in Berlin (Berlin 1996); Greschat, Friedrich Weißler (1998); Höland/Lück (Hg.), Juristenkarrieren (2004); Geck, Friedrich Weißler (2011). 13 Vgl. Johannes Weißler, Die Weißlers, S. 134 f. 14 Quellengrundlage für eine solche Familiengeschichte ist die unveröffentlichte, von Adolf Weißler verfasste »Weißler’sche Familiengeschichte« (abge­ schlossen in Halle, ca.1905), die sich im NL Weißler befindet. Hinzugefügt wurde vom Verfasser während des Ersten Weltkriegs das »Kriegstagebuch Adolf Weißler« (1914–1919). Beides zusammen liegt als maschinenschriftliche Abschrift (354 S.) im NL Weißler vor. Hinzu kommen unregelmäßige tagebuchartige Aufzeichnungen von Friedrich Weißler (fortan: »Tagebuch«) für den Zeitraum 1914–1921 sowie dessen »Lebenserinnerungen« von 1936. 15 Resümiert aus: Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte; und Friedrich Weißler, Tagebuch; sowie ders., Lebenserinnerungen. 16 Vgl. Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen. 17 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte; Friedrich Weißler, Tagebuch; und ders., Lebenserinnerungen. 18 Vgl. Helmreich, Denkschrift; Greschat (Hg.), Zwischen Widerspruch und Widerstand; ders., Friedrich Weißler; Michael Germann, Friedrich Weißler im Dienst der Bekennenden Kirche, in: Höland/Lück (Hg.), Juristenkarrieren, S. 52–80; Dieter Miosge, Friedrich Weißler (1891–1937). Ein Juristenschicksal, in: Höland/Lück (Hg.), Juristenkarrieren, S. 43–51; Geck, Friedrich Weißler. 19 Hierzu vor allem Greschat, Friedrich Weißler. 20 Johannes Weißler, Die Weißlers, S. 93 ff. 21 Zum Gedenken Ost s. Oehme, Märtyrer der evangelischen Christenheit (1979); Drobisch, Im Konzentrationslager (1987). 22 Gedenken West: Forck (Hg.), Gedenkbuch (1949); Annedore Leber (Hg.), Das Gewissen entscheidet. Bereiche des deutschen Widerstandes von 1933–1945

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in Lebensbildern, Berlin/Frankfurt a. M. 1957, S. 156–158; Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?« (1982); Lächele, Friedrich Weißler (1987). 23 Vgl. Hans Bergemann/Simone Ladwig-Winters, Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft in Preußen im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Köln 2004, S. 98. Noch jüngst beklagte ein engagierter Jurist, wie Leistungen »nichtarischer« Juristen, darunter auch Friedrich Weißler, in der Wissenschaft und aus dem historischen Gedächtnis getilgt wurden: Ulrich Krüger, »Die Behandlung entfernter Möglichkeiten«, in: myops. Berichte aus der Welt des Rechts, H. 26 (2016), S. 6–18. 24 Bahnbrechend für den Juristenbereich war ein rechtshistorisches Sym­ posium an der Juristischen Fakultät der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg im Jahr 2003, dessen Beiträge publiziert sind in: Höland/Lück (Hg.) Juristenkarrieren. 25 Zuletzt organisierte die Berliner Stiftung Topographie des Terrors aus Anlass des Gedenkens an die BK-Denkschrift vor 80 Jahren eine Veranstaltungsreihe, in deren Rahmen an Friedrich Weißler erinnert wurde: Vortrag: Manfred Gailus, Die Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler von 1936 (24. Mai 2016); Lesung: Gefängnishaft – Konzentrationslager – Tod. Aus dem Briefwechsel Friedrich Weißlers mit seiner Frau Johanna (St. Annenkirche in Berlin-Dahlem am 26. Mai 2016); Seminar: Die Denkschrift der Bekennenden Kirche von 1936 und die Ermordung Friedrich Weißlers (1891–1937) im Konzentrationslager Sachsenhausen; mit Vorträgen von Martin Greschat, Hansjörg Buss, Manfred Gailus und Peter ­Steinbach (28. Mai 2016).

Angekommen im Bildungsbürgertum: Die Weißlers um 1900 1 Für die Darstellung der Familiengeschichte in Halle folge ich, sofern nicht anders vermerkt: Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, Halle ca. 1905 (hier nach der von Johannes Weißler angefertigten maschinenschriftlichen Transkription mit neuer Paginierung). Das hierin erwähnte »erste Buch« erschien unter dem Titel: Adolf Weißler, Geschichte des Notariats in Preußen, Berlin 1888. Vgl. zur Juristenkarriere Adolf Weißlers auch: Ludwig Röll, Adolf Weißler, Rechtsanwalt und Notar in Halle an der Saale. Standespolitiker des Notariats, Initiator und erster Schriftleiter unserer Zeitschrift, in: Deutsche Notar-Zeitschrift, 2001, H. 1, Januar 2001, S. 14–22; der Autor bezeichnet Weißler als den »wichtigste(n) Standespolitiker des deutschen Notariats« zu Beginn des Jahrhunderts. 2 Vgl. Adolf Weißler, Art. Die Zukunft des Deutschen Notariats, in: Deutsche Notariats-Zeitung, Bd. 17, 1888. 3 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 88.

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4 Ebd. – Adolf Stölzel (1831–1919) war seit 1886 Präsident der Justizprüfungskommission in Berlin. 5 Friedrich Wilhelm Graf von Reden (1752–1815) wirkte längere Zeit als schlesischer Berghauptmann in Königshütte. 6 Ebd., S. 89. 7 Ebd., S. 90. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 92. 10 Vollständiger Titel: Preußisches Archiv. Sammlung der Gesetze und der das Rechtswesen betreffenden Verordnungen und Verfügungen Preußens und des Reichs. 11 Vgl. hierzu Röll, Adolf Weißler, Rechtsanwalt und Notar in Halle. Zu den wichtigsten Publikationen Adolf Weißlers gehörten: Reform der vorbeugenden Rechtspflege in Österreich (1899); Kommentar zum Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit (1900); Das Deutsche Nachlaßverfahren (1900); Hilses Formularbuch für freiwillige Gerichtsbarkeit (seit 1900, mehrere Auflagen); Geschichte der Rechtsanwaltschaft (1905). 12 Weißler publizierte in der Zeitschrift des Deutschen Notarvereins zahl­ reiche namentlich und nicht namentlich gezeichnete Artikel. 13 Zum Ganzen vgl. Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 91–102. 14 Ebd., S. 95 f.; die Rechtsanwaltsgeschichte erschien unter dem folgenden Titel: Adolf Weißler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, Leipzig 1905. Das Standardwerk erlebte bis in die jüngere Zeit hinein zahlreiche Neuauflagen. 15 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 18–26. 16 Ebd., S. 26–38. 17 Vgl. zum jüdischen Bürgertum der Kaiserreichzeit: Simone Lässig, Jüdische Wege ins Bürgertum: Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; hier bes. die biografischen Skizzen S. 606–655. 18 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 40–42. 19 Ebd., bes. S. 40. 20 Ebd., S. 40–42. 21 Ebd., S. 97–101; Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte von 1905 bis 1955, Freiburg ca. 1955 (unveröffentl. Manuskript, 102 Seiten). 22 Friedrich Weißler, Tagebuch; und ders., Lebenserinnerungen (1936). 23 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 157–161. Der Theologe Johannes Meinhof war von 1896 bis 1930 Pfarrer an der St. Laurentiuskirche in Halle. 24 Friedrich Weißler, Reisetagebuch 1906–1909, Zit. S. 1 f. 25 Im Jahr 1904 fand in Deutsch-Südwestafrika der Krieg des Deutschen Reiches (als Kolonialmacht) gegen die Herero statt, dem ein Großteil dieses Volkes zum Opfer fiel. Seit geraumer Zeit werden diese Gewaltereignisse als »Völkermord« diskutiert. Vgl. hierzu Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zur Geschichte von Kolonialismus und Holocaust, Münster 2011.

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26 Vgl. Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, passim. 27 Ebd., S. 157–165. Curt Goetz (1888–1960) lebte nach dem frühen Tod seines Vaters für längere Zeit in Halle. Berühmt wurde er sowohl als Theater- und Filmschauspieler, als Regisseur wie auch als Schriftsteller. 28 Ebd., S. 166–186; das Thema seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation lautete: Die Behandlung entfernter Möglichkeiten im Privatrecht. Ein Beitrag zur Lehre vom Vertrauensschutz (Halle 1913). 29 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 35 f., 39; Heinrich von Friedberg (1813–1895) war seit 1879 preußischer Justizminister. 30 Ebd., S. 101 f. 31 Ebd., passim. 32 Vgl. Friedrich Weißler, Reisetagebuch 1906–1909. 33 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 98–101, Zit. S. 99. 34 Ebd., S. 99 f.; Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 174 f. 35 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 162 f. 36 Ebd., Zit. S. 166 f., S.  186. 37 Ebd., S. 183–186.

Eine hochpatriotische Familie im Großen Krieg 1 Vgl. Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte (hier zitiert nach der von Johannes Weißler gefertigten Abschrift). 2 Ebd., S. 43. 3 Ebd., S. 46. 4 Ebd., S. 46 f. 5 Ebd., S. 48 f. 6 Ebd., S. 49; der promovierte und habilitierte Jurist Horst Krahmer (1876–1916) gehörte zu den renommiertesten Anwälten der Stadt. Er war über zwanzig Jahre jünger als Weißler. Er verstarb bereits 1916 an Blinddarmentzündung. 7 Ebd., S. 57. 8 Die zweite Auflage des zuerst 1900 publizierten Werks erschien nach Kriegsende: Adolf Weißler, Das Nachlaßverfahren, 2 Bde., Berlin 1920. 9 Ebd., S. 62 ff. 10 Ernst Lissauer (1882–1937) war ein deutscher Dichter, Dramatiker und Publizist. Sein für die Kriegspropaganda vielfach verwandtes, populäres Gedicht »Haßgesang gegen England« entstand während des ersten Kriegsjahrs 1914. 11 Ebd., S. 81. 12 Vgl. Zeitschrift des Deutschen Notarvereins 15, 1915, H. 1, Abdruck auf der Titelseite. 13 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 104 f., 107 f. 14 Ebd., S. 104.

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15 Zu Otto Weißler findet sich im Familienarchiv der Weißlers bei Johannes Weißler (Erlangen) kaum ein Niederschlag. 16 Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte von 1905 bis 1955, Freiburg i. Br. ca. 1955, S. 5. 17 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 54. 18 Hierzu ausf. Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 12 ff. 19 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 51, 53. 20 Ebd., S. 69. 21 Ebd., S. 72. 22 Friedrich Weißler, Tagebuch (1914–1921), (unveröffentlichtes Manuskript), S. 1 f. 23 Ebd., S. 14 ff. 24 Ebd., S. 25 ff.; Zit. S. 29 f. 25 Ebd., S. 30 ff. 26 Ebd., S. 81, 111 ff. 27 Am 3. und 4. Juni 1915 wurde die von russischen Truppen besetzte Festung Przemysl (heute im südöstlichen Polen gelegen) durch deutsche und österreichische Verbände zurückerobert. Die »Eisernen Sonette« des westfälischen Schriftstellers Josef Winckler erschienen erstmals 1912–1914. 28 Ebd., S. 42 ff.; S.  110, 114 (Zit. über Rohrbach). Paul Rohrbach (1869–1956) stammte aus dem Baltikum und war ursprünglich evangelischer Theologe. Er wirkte vor allem als einflussreicher deutschnationaler politischer Publizist. Sein Hauptwerk »Der deutsche Gedanke« erschien erstmals im Jahr 1912. 29 Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 147, 165, 193, 262 (Eintragung vom 2.2.1918). 30 Ebd., S. 292; Abdruck des Briefes S. 293. 31 Ebd., S. 294 ff. 32 Ebd., S. 299 f. 33 Ebd., S. 302. 34 Ebd., S. 305. 35 Ebd., S. 306, 312, 314. 36 Ebd., S. 318 ff. 37 Georg Ludwig Rudolf Maercker (1865–1924) war preußischer Generalmajor und während der revolutionären Nachkriegsunruhen von 1919 und 1920 als Freikorpsführer zur militärischen Niederschlagung lokaler Aufstände eingesetzt. 38 Bei den Revolutionsunruhen in Halle kamen mehr als dreißig Menschen ums Leben, zum größten Teil auf Seiten der Aufständischen. 39 Arthur von Broecker (1869–1945) amtierte als Pfarrer an der Pauluskirche in Halle. Während des Krieges trat er durch zahlreiche Kriegspredigten hervor. 40 Ebd., S. 335, 345, 350, 352. 41 Letzte Eintragungen ebd., S. 353; der Brieftext findet sich als Anhang ebd., S. 353 f.

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42 Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 34–41, Zit. S. 36. 43 Am 22. und 23. Juni debattierte der Reichstag über den Versailler Vertrag und beschloss mit Mehrheit, das Abkommen zu unterzeichnen. Am 28. Juni 1919 unterschrieb eine deutsche Delegation den Vertrag in Versailles. 44 Die Rede des Berufskollegen Herold befindet sich im Nachlass Weißler (Erlangen): Rechtsanwalt Herold, Grabrede auf Adolf Weißler (28. Juni 1919).

»Auf der Höhe des Lebens«: Republik, Karriere und Familie 1 Vgl. Friedrich Weißler, Tagebuch 1914–1921, S. 127. 2 Der Volksschullehrer, Journalist und Publizist Wilhelm Schwaner (1863– 1944), seit 1897 Hg. der Zeitschrift »Der Volkserzieher«, gehörte für lange Zeit der völkischen Bewegung an. Es muss bezweifelt werden, ob er um 1920 ein guter Ratgeber in Sachen Republik und Demokratie sein konnte. 3 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen 1936, S. 187 f.; Weißler spricht hier von der »Deutschen Volkspartei« (DVP). Bei späteren Angaben heißt es wörtlich »Demokratische Partei«, das wäre die DDP. Die Frage, welcher von beiden Parteien er zeitweilig angehörte, bleibt insofern etwas nebulös. Einige weitere Indizien sprechen indessen dafür, dass er sich tatsächlich der DDP (und nicht der DVP) anschloss. 4 Friedrich Weißler, Brief an die »Deutsche Politik«, in: Deutsche Politik 4, H. 8, 21.2.1919, S. 255 f. Die Zeitschrift »Deutsche Politik. Wochenschrift für deutsche Welt- und Kulturpolitik« erschien von 1916 bis 1922. Redaktionsleiter war Theodor Heuss. 5 Friedrich Weißler, Tagebuch, S. 129–132. 6 Vgl. Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 190. 7 Friedrich Weißler, Tagebuch, S. 137–139. 8 Ders., Lebenserinnerungen (1936), S. 194 f. 9 Friedrich Weißler, Tagebuch, S. 143–146; ders., Lebenserinnerungen (1936), S. 195 f. 10 Ders., Tagebuch, S. 133–155. 11 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 204 f.; Johannes Weißler, Zum Zusammenhang zwischen Adolf Weißler, Gustav Schäfer und der Askania, unveröff. Manuskript (2003). 12 Vgl. Carl Schaeffer/Friedrich Weißler, Die Hypothekenaufwertung: eine systematische Darstellung nach dem neuesten Stande der Literatur und Rechtsprechung, Leipzig 1927. 13 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 205–207; die Zit. stammen aus dem Personal- und Befähigungsnachweis betr. den Landgerichtsrat Dr. Weißler, ausgestellt durch den Landgerichtspräsident in Halle, Paul Gülland, am 6.3.1930. In: NL Weißler (bei Johannes Weißler in Erlangen). 14 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 212 f.

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15 Ebd., S. 213–215. 16 Auch in den Lebenserinnerungen Friedrich Weißlers (1936) und in der Autobiografie Ernst Weißlers finden sich lediglich am Rande Informationen über ihren älteren Bruder. 17 Vgl. Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte von 1905 bis 1955, Freiburg i. Br. ca. 1955, S. 42–54; vgl. auch den Artikel über Ernst Weißler im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS -Zeit (Onlinelexikon der Universität Hamburg). 18 Friedrich Weißler, Tagebuch, S. 140. 19 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 209–211, 222 f. Bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 erreichte der CSVD lediglich ein Prozent der Stimmen. 20 Vgl. Weißler, Tagebuch, S. 130–155; das Zit. in: ders., Lebenserinnerungen S. 187. 21 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 198. 22 Einige weitere Informationen zu Pfarrer Gustav Schäfer (1854–1930), der in Halle studiert hatte und seit 1875 »Alter Herr« der dortigen Verbindung »Akademischer Gesangsverein Askania« war, und zur Pfarrerfamilie Schäfer enthält: Johannes Weißler, Zum Zusammenhang zwischen Adolf Weißler, Gustav Schäfer und der Askania (unveröff. Manuskript, Erlangen 2003). 23 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 216, S. 220; Karl Eger (1864– 1945) war von 1913 bis 1931 Prof. für praktische Theologie in Halle und Universitätsprediger. – Der prominente Theologe Günther Dehn hatte zu dieser Zeit ein vieldiskutiertes Buch publiziert: Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Proletarierjugend, Berlin 1930. 24 Ebd., S. 221 f. Das Buch erschien unter dem Titel: Viktor Hoeniger/Friedrich Weißler, Grundbuchordnung nebst Grundbuchbereinigungsgesetz und landesgesetzliche Ausführungsbestimmungen, München/Berlin 1932. Viktor Hoeniger (1870–1953), mit den Weißlers verwandt, war seit 1923 Reichsgerichtsrat in Leipzig. Zum 1. April 1935 wurde er entlassen. 25 Ebd., S. 218, 223 f. 26 Maßgeblich prägende Figur des regional teilweise deutlich pietistisch geprägten CSVD war der aus Korntal (Württemberg) stammende Lehrer Wilhelm Simpfendörfer. Unter seiner Führung stimmte die Partei im März 1933 für Hitlers Ermächtigungsgesetz. 27 Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 222 f. 28 Schreiben des Preußischen Justizministers vom 29.10.1932 an Dr. Friedrich Weißler, in: NL Weißler; Polizeiliche Abmeldung Halle vom 8.1.1933; Polizeiliche Ummeldung Friedrich Weißler, Magdeburg 17.1.1933; Polizeiliche Anmeldung Magdeburg vom 17.1.1933; sämtlich in: NL Weißler; ergänzend auch Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen, S. 226.

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Ausgeschlossen aus der »Volksgemeinschaft«: Berufliche und soziale Exklusionen 1 Vgl. das Schreiben von Friedrich Weißler vom 8.4.1933 an den »Bundesbru­ der« Kehrmann in Halle; in: NL Weißler (bei Johannes Weißler in Erlangen). 2 Zit. nach: Hans Bergemann/Simone Ladwig-Winters, Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft in Preußen im Nationalsozialismus. Eine rechts­tatsächliche Untersuchung, Köln 2004, S. 17. 3 Schreiben Friedrich Weißler vom 9.3.1933 an den Präsidenten des Oberlandesgerichts Magdeburg; zit. nach: Bergemann/Ladwig-Winters, Richter und Staatsanwälte, S. 17. 4 Vgl. Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, München 2002, S. 145–149. Ähnliche gewalthafte Angriffe auf Gerichte fanden im März 1933 u. a. in Chemnitz, Kaiserslautern, Zweibrücken, Breslau, Hamm, Köln, Königsberg und an weiteren Orten statt (vgl. hierzu Bergemann/Ladwig-Winters, Richter und Staatsanwälte, S. 18–23). 5 Schreiben Friedrich Weißler (wie Anm. 1). 6 Zur gewaltsamen Vertreibung des Oberbürgermeisters Ernst Reuter aus Magdeburg s. Matthias Tullner, Kommunalpolitik unter wachsendem Radikalisierungsdruck. Ernst Reuters Magdeburger Jahre 1931–1933, in: Heinz Reif/Moritz Feichtinger (Hg.), Ernst Reuter. Kommunalpolitiker und Gesellschaftsreformer 1921–1953, Bonn 2009, S. 173–181; Reiner Möckelmann, Wartesaal Ankara: Ernst Reuter – Exil und Rückkehr nach Berlin, Berlin 22016. Generell zu Magdeburg im Jahr 1933: Maik Hattenhorst, Magdeburg 1933. Eine rote Stadt wird braun, Magdeburg 2009. Herbert Goldschmidt, ein liberaler Protestant jüdischer Herkunft und Jurist, wurde 1931 Bürgermeister (und damit Stellvertreter von OB Reuter) in Magdeburg. Wie Friedrich Weißler wurde er 1933, da er auch »Frontkämpfer« war, aufgrund des § 4 (angebliche politische Unzuverlässigkeit) des Berufsbeamtengesetzes entlassen. Wie Weißler verließ er fluchtartig Magdeburg und lebte fortan in Berlin. Im Jahr 1942 nach Riga deportiert, stammt das letzte Lebenszeichen von Goldschmidt aus dem Jahr 1943. 7 Vgl. das Schreiben Weißler an Kehrmann (wie Anm. 1). 8 Zit. nach der Abschrift in ebd. 9 Ebd.; die AMV Makaria Bonn war eine 1878 an der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn gegründete musikalische Studentenverbindung. Sie gehörte dem Sondershäuser Verband an. 10 Vgl. Manfred Gailus, Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Göttingen 2010, S. 84 f. 11 Schreiben Friedrich Weißler vom 6.4.1933 an Pastor Hanns Lilje, in: NL Weißler. 12 Schreiben Weißler vom 15.8.1933 an Pfarrer Curt Duda in Halle; Antwortschreiben Pfarrer Duda vom 16.8.1933 an Landgerichtsdirektor a. D. Dr. Weißler, z. Zt. in Plossig; beides in: NL Weißler.

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13 Gemessen an seiner tatsächlichen Rolle während der revolutionären Unruhen in Halle im Jahr 1919 erscheint diese Behauptung ein Stück weit übertrieben. Es kam faktisch zu keinem Zeitpunkt zu einem Einsatz Weißlers »mit bewaffneter Hand« (vgl. hierzu oben, S. 83). 14 Landgerichtsdirektor a. D. Dr. Weißler vom 30.8.1933 an die Reichskanzlei in Berlin; in: BArch Koblenz, Justizministerium, Personalakten Weißler, Bl. 29–34. 15 Zur Expansion des »Maßnahmenstaates« auf Kosten des »Normenstaates« vgl. Michael Grüttner, Das Dritte Reich 1933–1939. Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19, Stuttgart 2014, S. 129–140. 16 Vgl. Entlassungsurkunde des Preußischen Justizministers vom 21. Juli 1933, in: NL Weißler; Johannes Weißler, Die Weißlers. Ein deutsches Familienschicksal, Badenweiler 2011, S. 52. 17 Dies nach Erinnerungen von: Johannes Weißler, Kindheit in Berlin. Erinnerungen und Erlebnisse 1928 bis 1939 (Erlangen 2000–2005), bes. S. 6–9. 18 Ebd., Zit. S. 7. 19 Ebd., S. 8 f., 12 f. 20 Ebd., S. 13 f.; die große Charlottenburger Epiphaniengemeinde war eine gespaltene Gemeinde im Kirchenkampf, in der die Deutschen Christen erheblichen Einfluss ausübten. Bekenntnisse zum Nationalsozialismus und krass antisemitische Statements waren verbreitet. Tonangebend in dieser Hinsicht war Pfarrer Adolf Hertel. Schon aus diesem Grund war es für die Weißlers nahe liegend, sich von dieser Gemeinde fern zu halten. Die große Bekenntnisgruppe der Gemeinde wurde von den Pfarrern Adolf Lichtenstein und Franz Nebel geführt. Vgl. zur Gemeindegeschichte: Heinrich-Wilhelm Wörmann, Widerstand in Charlottenburg, Berlin 1991, S. 163–167. 21 Die kleine Heerstraßengemeinde (um 1933 ca. 6000 Seelen) hatte nur eine Pfarrstelle, die seit 1928 Pfarrer Ernst Gürtler innehatte. Auf einer DC Mitgliederversammlung am 11. Mai 1934 klagte Gruppenleiter Teupfer über Schwierigkeiten der Deutschen Christen in der Gemeinde, die vielfach aus Kreisen bestehe, die den Sinn der neuen Zeit noch nicht recht begriffen hätten. 22 Schreiben Friedrich Weißler vom 29.1.1936 an Pfarrer Ernst Gürtler, in: NL Weißler. 23 Antwort Pfarrer Ernst Gürtler vom 4.2.1936 an Friedrich Weißler, in: ebd. 24 Friedrich Weißler vom 7.3.1936 an Pfarrer Gürtler, in: ebd. 25 Schreiben Friedrich Weißler vom 12.6.1934 an Staatssekretär Dr. Dr. Schlegelberger; Kopie in NL Weißler. – Der Jurist Franz Schlegelberger (1876–1970) war seit 1931 Staatssekretär im Reichsjustizministerium. Bis zu seiner (altersbedingten) Amtsentbindung 1942 spielte er eine maßgebliche Rolle in der verbrecherischen NS -Justiz der Kriegsjahre. Im Nürn-

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berger Juristen-Prozess (1947) zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde er im Jahr 1951 aus der Haft entlassen. 26 Friedrich Weißler vom 14.6.1934 an Johanna Weißler; in: NL Weißler. 27 Notiz Friedrich Weißler (ohne Datum); Friedrich Weißler vom 7.9.1934 an Reichsminister der Justiz Dr. Gürtner; Justizminister Gürtner vom 26.10.1934 an Landgerichtsdirektor a. D. Weißler; sämtlich in: NL Weißler. 28 Schreiben Else Brandis vom 6.10.1935 an Friedrich Weißler, in: NL Weißler. Der Jurist und Rechtsanwalt Dr. Walther Brandis (1890–1957) war von 1928 bis 1933 Mitglied der Synode der hamburgischen Landeskirche; seit 1946 amtierte er als Präsident des Landeskirchenrats der evangelischen Landeskirche in der Hansestadt. 29 Ebd. – Es sei angemerkt, dass ein solches Weltbild um 1933 auch von zahlreichen Pfarrern der Deutschen Christen gepredigt wurde. 30 Friedrich Weißler vom 12.10.1935 an Else Brandis, in: NL Weißler. 31 Else Brandis vom 15.10.1935 an Friedrich Weißler, in: ebd. 32 Zum Kirchenkampf und speziell zur Konstellation in Berlin: Manfred Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur national­ sozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001; Hans-Rainer Sandvoß, »Es wird gebeten, die Gottesdienste zu überwachen…«. Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945, Berlin 2014. Für den Bezirk Charlottenburg: Wörmann, Widerstand in Charlottenburg, S. 131–170. 33 Schreiben Friedrich Weißler vom 27.10.1935 an Pfarrer Johannes Fritze in Halle; in: NL Weißler. 34 Antwortschreiben Pfarrer Fritze vom 29.10.1935 an Friedrich Weißler; in: ebd. 35 Schreiben Friedrich Weißler vom 7.11.1935 an Pfarrer Fritze; in: ebd. 36 Vgl. Hans Dannenbaum, Die Juden, in: Die Stadtmission 58, 1935, S. 114–117. 37 Vgl. Artikel »Unverschämte Herausforderung der Bewegung durch die Berliner Stadtmission« in: Völkischer Beobachter, 4.8.1935; Propst Eckert, Artikel »Das auserwählte Volk – Ein jüdisches Loblied im Kirchenblatt der Berliner Stadtmission«, in: Völkischer Beobachter (Nachtausgabe), 7.8.1935; Friedrich Tausch, Artikel »Unglaublich«, in: Evangelium im Dritten Reich, 11.8.1935. 38 Schreiben Friedrich Weißler vom 13.8.1935 an Pastor Walter Thieme, in: NL Weißler. 39 Der Theologe Walter Thieme (1878–1945) war seit 1907 Pastor bei der Berliner Stadtmission und seit 1933 ihr Leiter. Er gehörte der Bekennenden Kirche an und nahm an allen vier Reichsbekenntnissynoden teil. Er wurde im Laufe der russischen Besetzung Berlins im April 1945 vor seinem Haus erschossen. Der Theologe Hans Dannenbaum (1895–1956) gehörte als ­Pastor ebenfalls der Stadtmission an und war Mitglied der BK .

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40 Schreiben Pastor Walter Thieme vom 15.8.1935 an Friedrich Weißler, in: ebd. 41 Friedrich Weißler vom 21.8.1935 an Pastor Thieme, in: ebd. 42 Johannes Weißler, Kindheit in Berlin, S. 15 f.

Friedrich Weißler im Sommer 1936 und die Denkschrift an Hitler 1 Schreiben Friedrich Weißler vom 17.6.1936 an die Mutter Auguste Weißler in Berlin; in: NL Weißler. Das Radiumheilbad Oberschlema liegt im Erzgebirge, südlich von Zwickau (Sachsen). Während der 1920er und 30er Jahre gehörte es zu den meistbesuchten Heilbädern im Deutschen Reich. 2 Sämtliche Zit. ebd. 3 Im August 1936 beschwerte sich beispielsweise Staatssekretär Johannes Pfundtner (Reichsinnenministerium) anlässlich einer Kur in Bad Kissingen beim bayerischen Ministerpräsidenten Ludwig Siebert wegen eines angeblichen Überhandnehmens von Juden im Kurbad. Bereits 1934 und 1935 hatte es dort Diskussionen wegen angeblicher »Überschwemmung« des Bades durch Juden gegeben. Vgl. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd.  1: Deutsches Reich 1933–1937 (bearb. von Wolf Gruner), München 2008, S. 594 f.; vgl. auch den Erlass von Staatssekretär Pfundtner vom 24.7.1937 zur Trennung von jüdischen und nichtjüdischen Gästen in Bädern und Kurorten (ebd., S. 682 f.). 4 Vgl. zur Einrichtung bzw. Erweiterung der Spitzengremien der BK : Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung 1934. Barmen und Rom, Berlin 1985, S. 337–355; Gerhard Besier, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937, Berlin und München 2001, S. 19–113. 5 Vgl. Friedrich Weißler, Von der rechtlichen Bedeutung des Bekenntnisses, in: Junge Kirche. Halbmonatschrift für reformatorisches Christentum 3, 1935, S. 362–367. Zu dieser von der gemäßigten lutherischen Richtung der Kirchenopposition dominierten Zeitschrift s. Ralf Retter, Zwischen Protest und Propaganda. Die Zeitschrift »Junge Kirche« im Dritten Reich, München 2009. 6 Sämtliche Zit. n. Weißler, Von der rechtlichen Bedeutung. 7 Lilje und Weißler kannten sich aus gemeinsamer Zugehörigkeit zu einer christlichen Studentenvereinigung (vgl. auch Weißlers Brief an Lilje vom April 1933 in Kap. 4, S. 103. 8 Schreiben Söhlmann vom 3.2.1936 an Ruprecht; zit. nach Retter, Zwischen Protest und Propaganda, S. 321. 9 Schreiben Ruprecht vom 6.2.1936 an Söhlmann; zit. nach ebd. 10 Fritz Söhlmann hätte das als Redakteur der wichtigsten BK-Zeitschrift besser wissen können und sollen. Zu Söhlmanns führender Rolle in der Zeit-

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schrift und zu seinen starken national-völkischen Grundprägungen, die ihn weltanschaulich nahe an die NS -Bewegung heranrückten, ohne dass er Parteimitglied wurde, vgl. die biografische Skizze in Retter, Zwischen Protest und Propaganda, S. 38–67. 11 Vgl. zu den Spaltungstendenzen im Vorfeld der 4.  BK-Synode: Besier, Die Kirchen, S. 336–429. 12 Vgl. Wilhelm Niemöller (Hg.), Die vierte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Bad Oeynhausen. Text – Dokumente – Berichte, Göttingen 1960; das nur lückenhaft überlieferte Protokoll offenbart ein häufiges Durcheinander und viel Streit auf der Synode sowie insgesamt einen eklatanten Mangel an parlamentarischer Debattenkultur. Nur 115 von 143 Synodalen waren angereist, etliche von ihnen (wohl vor allem Lutheraner aus den drei »intakten« Landeskirchen) nahmen an Abstimmungen nicht teil oder waren vorzeitig wieder abgereist. 13 Vgl. Besier, Die Kirchen, S. 423–429. 14 Vgl. Peter Noss, Martin Albertz (1883–1956). Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 271–279. 15 Schreiben Friedrich Weißlers an Otto Fricke vom 2.4.1936; in: EZA , Bestand 50, Nr. 144, Bl. 78 f. 16 Schreiben Elisabeth Schmitz vom 18.4.1933 an Karl Barth, in: Dietgard Meyer, »Wir haben keine Zeit zu warten.« Der Briefwechsel zwischen ­Elisabeth Schmitz und Karl Barth in den Jahren 1934–1966, in: Kirchliche Zeitgeschichte 22, 2009, S. 328–374, hier S. 332 f. Zum Kontext auch: Manfred Gailus, Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Göttingen 2010, S. 83–85. 17 Vgl. Schreiben Edith Stein vom 9.4.1933 an Papst Pius XI .; abgedruckt in: M. Amata Neyer, Der Brief Edith Steins an Papst Pius XI ., in: Edith SteinJb. 2004 (Würzburg 2004), S. 18–22. Zum Kontext auch: Konrad Repgen, Hitlers »Machtergreifung«, die christlichen Kirchen, die Judenfrage und Edith Steins Eingabe an Pius XI . vom April 1933, in: ebd., S. 34–64. 18 Vgl. oben, S. 103. 19 Einen eindrucksvollen Beleg dieser exorbitanten religiösen Bekenntnisfreudigkeit um 1933 bietet: Kurt Dietrich Schmidt (Hg.), Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Band 1: Das Jahr 1933; Band 2: Das Jahr 1934; Band 3: Das Jahr 1935, Göttingen 1934–1936. 20 Zur Barmer Erklärung vgl. Scholder, Kirchen, Bd. 2, S. 177–219; Wortlaut der Erklärung in: Georg Denzler/Volker Fabricius (Hg.), Die Kirchen im Dritten Reich. Christen und Nazis Hand in Hand? Bd. 2 Dokumente, Frankfurt a. M. 1984, S. 89–92. 21 Die Denkschrift Meusel ist abgedruckt in: Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd.1: Ausgegrenzt 1933–1935, Stuttgart 1990, S. 391–396; zum Kontext auch: Hansjörg Buss, Couragierter Einsatz für die Christen jüdischer Herkunft: Margarete Meusel, in:

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Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Mit Herz und Verstand. Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS -Rassenpolitik, Göttingen 2013, S. 129–145. 22 Denkschrift Schmitz in: Gailus, Mir aber zerriss es das Herz, S. 223–252; zum Kontext ebd., S. 92–107. 23 Wesentlichen Einfluss auf die Debatten und die Textbearbeitungen übten aus: Martin Albertz, Hans Asmussen, Hans Böhm, Bernhard Heinrich Forck, Franz Hildebrandt, Wilhelm Jannasch, Fritz Müller, Martin Niemöller, Johannes Schlingensiepen, Otto Weber. 24 Vgl. zur Biografie Jannasch: Hansjörg Buss, Nationalprotestantische Erblasten. Eine doppelbiographische Skizze zu den Lübecker Pastoren Johan­nes Pautke (1888–1955) und Wilhelm Jannasch (1888–1966), in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 99, 2010, S. 229–270. 25 Vollständiger Abdruck des Denkschrifttexts und der 28 Anlagen in: Martin Greschat (Hg.), Zwischen Widerspruch und Widerstand. Texte zur Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler (1936), München 1987, S. 104–143. 26 Vgl. zu dieser frühneuzeitlichen Praxis: Martin Schennach, Artikel »Supplik« in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13, Stuttgart/Weimar 2011, Sp. 146–148; Cecilia Nubola/Andreas Würgler, Bittschriften und Gravamina: Politik, Verwaltung und Justiz in Europa 14.–18. Jahrhundert, Berlin 2005. 27 Vgl. Greschat, Zwischen Widerspruch und Widerstand, S. 104–121 (sämtl. Zitate ebd.). 28 Vgl. Ernst C. Helmreich, Die Veröffentlichung der »Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche an den Führer und Reichskanzler, 28. Mai 1936«, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 87, 1976, S. 39–53; Greschat, Zwischen Widerspruch und Widerstand, S. 147. 29 Vgl. Bernward Dörner, »Heimtücke«. Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschreckung und Verfolgung in Deutschland 1933–1945, Paderborn 1998. 30 Vgl. Schreiben Friedrich Weißler vom 24.6.1936 an die Mutter in Berlin; Schreiben Friedrich Weißler vom 29.6.1936 an die Mutter in Berlin. 31 Vgl. Tagebuch Friedrich Weißler; der Lebensrückblick umfasst darin die Seiten 156–229. 32 Ebd., S. 226–229. 33 Schreiben Friedrich Weißler (Plossig) vom 13.7.1936 an die Mutter in Berlin.

Indiskretionen, Verdächtigungen und Gestapohaft 1 Zu den vorübergehenden Auswirkungen der Olympischen Spiele auf das öffentliche und politische Leben im Deutschen Reich s. Volker Ullrich, Adolf Hitler. Biographie. Bd. 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939, Frankfurt a. M. 2013, S. 618–626; jetzt auch: Oliver Hilmes, Berlin 1936. Sechzehn Tage im August, München 2016.

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2 Im Allgemeinen waren die größeren Auslandszeitungen in Berlin für längere Zeit nach 1933 noch im Zeitungsangebot ausgewählter Verkaufsstellen und in größeren Hotels zu finden. Lediglich in Ausnahmefällen, bei unliebsamen Berichten, wurden die betreffenden Blätter vorübergehend aus dem Verkehr gezogen. Vgl. zur Presseöffentlichkeit: Norbert Frei/Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 31999. 3 Eine Übersicht zur internationalen Berichterstattung über die Denkschrift bei: Ernst C. Helmreich, Die Veröffentlichung der »Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche an den Führer und Reichskanzler, 28. Mai 1936«, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 87, 1976, S. 39–53, bes. S. 47–49. 4 Vgl. Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Bd. 3/ II (hg. von Elke Fröhlich), München 2001. Sehr dominant sind im Jahr 1936 außenpolitische Themen, ferner die im März erfolgte Rheinlandbesetzung; während der Sommerwochen dominieren Ereignisse wie »Bayreuth« und die Olympischen Spiele. Erst im Februar 1937 wird die »Kirchenfrage« wegen des Rücktritts des Reichskirchenausschusses kurzfristig wieder zu einem wichtigen Thema. 5 Ausf. über Werner Koch und zu seinen Beziehungen zu Weißler s. weiter unten, S. 156 ff. 6 Zur Biografie Horst Michael: geb. 1901 in Karlsruhe; Studium der Geschichte; 1929 Promotion an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin bei Erich Marcks und von 1930 bis August 1933 Assistent ebd.; Michael verfügte im Jahr 1932 über engere Beziehungen zu Carl Schmitt, zum ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning und zu General Kurt von Schleicher. Seit 1934 gehörte Michael dem Berlin-Brandenburger Bruderrat der BK an; im Auftrag des Präses der Reichsbekenntnissynode Karl Koch machte er im Mai 1935 einen Besuch bei Bischof George Bell in Chichester (GB). Michael nahm an mehreren BK-Synoden teil, so zuletzt an der 4. Reichsbekenntnissynode im Februar 1936 in Bad Oeynhausen. Im November 1936 war der 35-jährige »Schriftsteller« (wie er sich jetzt bezeichnete), wohnhaft in Berlin-Reinickendorf-Ost, verheiratet mit Anneliese Michael (geb. Gast) und Vater eines sieben Monate alten Kindes. 7 Über Hermann Kötzschke ist wenig bekannt: geboren 1862 in Düben (preußische Provinz Sachsen), war Kötzschke nach dem Theologiestudium in Marburg und Halle zunächst seit 1889 als Pfarrer tätig. 1897 schied er aufgrund von Konflikten mit der Kirchenleitung aus dem Pfarrdienst aus und arbeitete als freier Journalist. Von 1919 bis 1932 kehrte er wieder ins Pfarramt zurück. Für längere Zeit soll er den »religiösen Sozialisten« und der SPD angehört haben. Seit seiner Emeritierung 1932 lebte er in Berlin. Da er über 20 Jahre aus dem Pfarrdienst ausgeschieden war, dürften seine Altersbezüge entsprechend gering ausgefallen sein und machten einen Nebenverdienst im Alter notwendig. Vgl. zur Biografie: Helmreich, Veröffentlichung, S. 42 f., Anm.  18.

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8 Vgl. zu den obskuren Beziehungen Michaels zu Repräsentanten der politischen Rechtskräfte: Wolfram Pyta, Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis Januar 1933, in: ders./Ludwig Richter (Hg.), Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, S. 178–187; Markus Huttner, Britische Presse und nationalsozialistischer Kirchenkampf. Eine Untersuchung der »Times« und des »Manchester Guardian« von 1930 bis 1939, Paderborn usw. 1995, S. 213–221; ferner zu Dr. Michael auch: Reinhard Mehring (Hg.), Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, Berlin 2003, S. 227 ff., bes. Anm. 35. 9 Vgl. Helmreich, Veröffentlichung, S. 44. 10 Vgl. ebd., S. 46, Anm. 33; Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd. 2/I: Entrechtet 1935–1938, Stuttgart 1992, S. 166. 11 Dokumentation des Textes in: Greschat, Zwischen Widerspruch und Widerstand, S. 189–197; Textgrundlage war ein Entwurf von Otto Dibelius. Vgl. zur Kanzelabkündigung auch Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?«, S. 150 ff.; dort auch ein anschauliches Beispiel aus Wuppertal-Barmen dafür, wie groß die Ängste bei BK-Pfarrern waren, diesen Text tatsächlich zu verlesen. 12 Helmreich, Veröffentlichung, S. 44 ff. 13 Vgl. BArch, Zwischenlager Dahlwitz-Hoppegarten, ZC 14509, Bl. 1–168; Verhörprotokolle der Gestapo in Sachen Weißler-Tillich, Bl. 6–10 (künftig zit. als Verhörprotokolle). 14 Ausf. zu Werner Koch siehe unten; der junge Jurist Dr. Heinrich Schmidt (geb. 1909 in Dahlhausen/Ruhr) trat am 15. Oktober 1935 als Voluntär bei der VKL ein und war Mitarbeiter in der von Weißler geleiteten Verwaltungsabteilung. Während Weißlers Sommerurlaub seit Mitte Juni 1936 führte er dessen Nachrichtenkontakte mit Tillich weiter. Schmidt wurde am 14. November festgenommen und in das Polizeigefängnis Alexanderplatz eingeliefert. 15 Biografisches zu Chantré in: BArch, Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppe­ garten, darin: Der Reichsführer – SS , Personalhauptamt, Personal-Akte Ludwig Chantré. 16 Dieser Eindruck ergibt sich aus der Gesamtheit von Hinweisen über die Haftbedingungen der im Fall Weißler-Tillich inhaftierten Personen; ebenso aus den Erinnerungen von Werner Koch und Ernst Tillich sowie aus dem Briefwechsel Friedrich Weißlers mit seiner Familie. Auch ein späterer und sachlich präziser Untersuchungsbericht des Generalstaatsanwalts von Berlin zum Todesfall Weißler (Juni 1937) bestätigt einen solchen Eindruck. 17 Der Name »Tillich« hatte im protestantischen Milieu um 1933 einen gewissen Klang. Der Theologe und Philosoph Paul Tillich (geb. 1886) war ein Onkel von Ernst Tillich. Paul Tillich wirkte als Hochschullehrer seit 1924 an verschiedenen Universitäten, zuletzt in Frankfurt a. M., von wo aus

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er nach seiner Entlassung aus politischen Gründen im Jahr 1933 in die USA emigrierte. 18 Im November 1936 wohnten die Eltern Tillichs in Berlin-Steglitz. Tillichs Ehefrau lebte unter anderer Adresse ebenfalls in Steglitz. Bis April 1936 wohnte Ernst Tillich in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße 22 (b. Nathanson), d. h. in einem möblierten Zimmer. Im April 1936 zog er nach BerlinReinickendorf, Aroser Allee 122, und lebte dort (unangemeldet) mit »Frl. Giessler« zusammen, mit der er zwei Kinder hatte. 19 Am 7. Oktober hatte die Gestapo eine Hausdurchsuchung in Tillichs aktueller Wohnung (Aroser Allee 122) durchgeführt. Dabei wurde ein Paket mit Schriften und eine Schreibmaschine »Erika« beschlagnahmt. Am 8. Oktober folgte eine Durchsuchung seiner Geschäftsräume Am Ostbahnhof 17, wobei ebenfalls Schriften beschlagnahmt wurden. 20 Sämtliche Angaben nach: BArch, Verhörprotokolle; ergänzend auch ein Briefwechsel zwischen Werner Koch und Ernst Tillich zwischen 1966 und 1983, der die hier gemachten Ausführungen bestätigt. Dieser Briefwechsel entstammt dem Nachlass von Werner Koch. Ich danke Anne Lorbeer-­ Wittnebel (Berlin), einer Tochter Kochs, für die Möglichkeit der Einsichtnahme in diesen Briefwechsel (fortan zit. als: Briefwechsel Koch-Tillich). 21 Vgl. hierzu die Verhörprotokolle. 22 Ebd., Vernehmung Weißler am 14.10.1936. 23 Zum BK-Predigerseminar in Finkenwalde s. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, Gütersloh 81994, S. 488–539. 24 Vgl. Kochs Angaben in den Verhörprotokollen; ferner seine autobiografischen Erinnerungen: Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?«; ferner Helmreich, Veröffentlichung. 25 Vgl. zur Biografie seine autobiografischen Erinnerungen, die allerdings mancherlei Irrtümer und symptomatische Auslassungen enthalten, wie sie in einer persönlichen Heldengeschichte üblich sind: Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?«. 26 Vgl. die Verhörprotokolle, Bll. 108–112. 27 Vgl. hierzu die Angaben in Anm. 10. 28 Vgl. Greschat, Weißler, S. 112 (Zit. ebd.). 29 Erklärung der VKL vom 21.11.1936, unterzeichnet von Präses Karl Koch und Pfarrer Fritz Müller; Kopie enthalten in: Verhörprotokolle, Bl. 135. 30 Schreiben der VKL vom 4.2.1937 an Heinrich Himmler, in: EZA Bestand 50, Nr. 376, Bll. 45–48 (hier zit. nach Greschat, Weißler, S. 113). 31 Der überlieferte Briefwechsel (= NL Weißler) umfasst knapp 60 Schrift­ stücke, zumeist Briefe von Johanna Weißler an ihren inhaftierten Ehemann, hinzu kommen einige Briefe der beiden Söhne und gelegentlich Briefe der Mutter Auguste Weißler. 32 Johanna Weißler am 9.10.1936 an Friedrich Weißler, in: NL Weißler. 33 Johanna Weißler vom 14.10.1936 an Friedrich Weißler, in: ebd. 34 Friedrich Weißler an die Familie vom 13.10.1936, in: ebd.

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35 Schreiben Friedrich Weißler (Januar 1937) an die Kinder; in: NL Weißler. 36 Sämtliche Angaben nach dem Briefwechsel. 37 Vgl. Briefwechsel ebd. 38 Ebd. – Der reformierte Theologe Friedrich Middendorff (1883–1973) amtierte von 1926 bis 1956 als Pfarrer in Schüttorf (südwestliches Niedersachsen). Im Juni und Juli 1937 war er selbst im Polizeigefängnis Alexanderplatz inhaftiert. Middendorff gehörte dem Reichsbruderrat und dem Rat der DEK an und war Mitunterzeichner der Denkschrift von 1936. Zu seiner entschiedenen Haltung als Bekenntnispfarrer s. Helmut Lensing, Der reformierte Bekenntnispastor Friedrich Middendorff und der »Kirchenkampf« in Schüttorf, in: Osnabrücker Mitteilungen, Bd. 114, 2009, S. 147–192. 39 Vgl. Friedrich Weißler vom 16.10.1936 an die Familie; in: Briefwechsel. 40 Friedrich Weißler vom 29.12.1936 an Johanna Weißler, in: ebd. 41 Friedrich Weißler vom 12.1.1937 an Johanna Weißler, in: ebd. 42 Friedrich Weißler vom 10.2.1937 an Johanna Weißler, in: Briefwechsel.

Tod in Sachsenhausen 1 Johanna Weißler vom 16.2.1937 an Friedrich Weißler, in: NL Weißler. 2 Vgl. Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?«, S. 169. 3 Ebd., S. 170 f. (Zit. S. 171). 4 Vgl. hierzu die Erinnerungen Werner Kochs in: ebd., S. 172–179. 5 Indirektes Zitat des Lagerkommandanten, enthalten in: Archiv der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, 1 PKs 2/389; Bericht des Generalstaatsanwalts beim Landgericht Berlin vom 3.6.1937 an den Reichsminister der Justiz, betr. Todesermittelungssache Weißler (fortan zit. als »Bericht des Generalstaatsanwalts«), hier S. 9 f. 6 Ebd., S. 19. 7 Ebd., S. 19–21. 8 Das Folgende nach: Aufzeichnungen des Landgerichtsdirektors i. R. Fritz Günther vom 24.2.1937 (S. 1–8); in: EZA , Bestand 50, Nr. 376, Bll. 112–119. 9 Einen intensiven Bezug zur Charlottenburger Epiphaniengemeinde hatte die Familie Weißler nicht. Sie besuchte überwiegend die näher gelegene Heerstraßengemeinde. Während der Haftzeit nahm Johanna Weißler häufiger an Dahlemer Gottesdiensten der Pfarrer Hildebrandt und Niemöller teil. 10 Dies nach den Aufzeichnungen Günther. 11 Nach den Aufzeichnungen Günther (Zit. S. 3–5). 12 Ebd., S. 5 f. 13 Aufzeichnung Johanna Weißler vom 24.2.1937, in: NL Weißler. 14 Nach der Notiz: Johanna Weißler, Telefongespräch mit der Gestapo am 23.2.1937, in: ebd.

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15 Rede Hans Asmussen anlässlich der Beisetzung Friedrich Weißlers, in: NL Weißler. Der aus Flensburg stammende lutherische Theologe war ein prominenter Bekenntnispfarrer; 1934 in Altona vom Pfarramt suspendiert, wirkte er seit 1935 vorwiegend in der Reichshauptstadt als Pfarrer und Leiter der Kirchlichen Hochschule der BK in Berlin. Pfarrer Asmussen, Mitglied im Reichsbruderrat und im Rat der DEK , war auch maßgeblich an den Beratungen der VKL -Denkschrift an Hitler beteiligt. 16 Zit. nach ebd. 17 Der Bericht verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Dr. Meixner Angehöriger der SS und früher selbst Lagerarzt im KZ Sachsenhausen gewesen sei; ebd., S. 3. Wilhelm Hallermann (1901–1975) war von 1931–1940 am Berliner Institut beschäftigt. Seit 1933 gehörte er der SA und seit 1937 der NSDAP an. 18 Ebd., S. 22. 19 Ebd., S. 23. 20 Ebd., Zit. S. 27 und 29. Der Gerichtsmediziner Prof. Dr. Müller-Heß (1883–1960) war seit 1930 Direktor des Instituts für gerichtliche Medizin der Berliner Universität. 21 Der Generalstaatsanwalt beim Landgericht Berlin vom 24.6.1938 an den Leiter der Justizpressestelle; in: Archiv der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, 1 PKs 2/389; und ergänzend: Staatsarchiv München, Bestand StanW 34846/2: Bayerisches Landeskriminalamt vom 13.5.1968 = Schlussbericht zum Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München II in Sachen Zeidler, Guthardt u. a. (zit. als Schlussbericht Landgericht München II). 22 Nach dem Bericht des Generalstaatsanwalts; und Schlussbericht Landgericht München II ; ferner BArch Berlin, NSDAP Personenkartei. Nach diesen Unterlagen gehörten drei Personen mit dem Namen Guthardt aus Bundorf sowie zwei weitere aus der Region Unterfranken der Hitlerpartei an. 23 Ebd.; und: Der Inspekteur der Konz.-Lager und Führer der SS -Totenkopfverbände: Befehlsblatt SS -TV/ IKL Nr. 5, Mai 1937, S. 12. 24 Bericht des Generalstaatsanwalts; sowie Schlussbericht Landgericht München II . Zu Drexl ferner BArch Berlin, NSDAP -Mitgliederkartei. Demnach gehörte ein Jakob Drexl (geb. 9.12.1900) aus Wildenroth, von Beruf »Straßenaufseher«, seit 1. Mai 1937 ebenfalls der NSDAP an. Es könnte sich um den Bruder von Kaspar Drexl handeln. Zu seiner Biografie jetzt auch: Günter Morsch, Sachsenhausen. Das »Konzentrationslager bei der Reichshauptstadt«. Gründung und Ausbau, Berlin 2014, S. 89 f., S.  122–134. 25 Schlussbericht Landgericht München II . 26 Zum KZ -Lagersystem und dessen ›Ordnungen‹, die in der Praxis natürlich vielfach unterlaufen wurden: Nikolaus Wachsmann, KL – Die Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2015; und im Einzelnen zu den Verhältnissen im Lager Sachsenhausen: Morsch, Sachsenhausen.

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27 Zit. nach Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?«, S. 193 f. 28 Zit. nach Koch, »Sollen wir K. weiter beobachten?«, S. 164. 29 Vgl. ebd., S. 160 ff., 194, 199, 220, 236 f. 30 Vgl. die Haftbriefe; ferner Martin Greschat, Friedrich Weißler. Ein Jurist der Bekennenden Kirche im Widerstand gegen Hitler, in: ders./Ursula Büttner, Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im »Dritten Reich«, Göttingen 1998, S. 86–122, hier S. 113 ff. 31 Vgl. Verhörprotokolle, Bl. 159 f. 32 Über die problematische Figur Ernst Tillich ist wenig geforscht worden. Die meisten Informationen zu seiner Person liefern die Verhörprotokolle. Eine von Tillich im Jahr 1970 verfasste autobiografische Skizze enthält neben zutreffenden Informationen auch allerhand Auslassungen und fehlerhafte Angaben. Es handelt sich um einen ausführlichen Brief, den Tillich vermutlich auf Anfrage von Werner Koch verfasste und diesem seinerzeit zuschickte: Schreiben Ernst Tillich (»Direktor«) in Düsseldorf vom 15.2.1970 (16 S.). Die Überschrift lautet: »Betr.: Veröffentlichung der Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche (VKL) an den Führer im Jahr 1936«. Einige weitere Aufschlüsse enthält der Briefwechsel zwischen Koch und Tillich aus der Nachkriegszeit: Briefwechsel Koch – Tillich (Nachlass Werner Koch). 33 Vgl. Michael Heymel (Hg.), Martin Niemöller. Dahlemer Predigten. Kritische Ausgabe, Gütersloh 2011; zu Niemöller in Dahlem und zur Solidaritätskampagne s. Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, S. 311–344.

Weiterleben nach der Katastrophe 1 Vgl. »Ansprache zur Gedenkfeier am 27. April 1937« von Ernst Weißler, in: NL Weißler. 2 Nach der Autobiografie: Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte von 1905 bis 1955 (Typoskript Freiburg i. Br. ca. 1955). Als »nichtarischer« Musiker gehörte Weißler nicht der Reichsmusikkammer an und hatte faktisch ein Auftrittsverbot. Vgl. insgesamt zum Thema: Michael H. Kater, Die mißbrauchte Muse. Musiker im Dritten Reich, München u. a. 1998. Zu Ernst Weißler auch der Lexikonartikel in: Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen in der NS -Zeit (= Onlinelexikon der Universität Hamburg). 3 Zit. nach der Ansprache von Ernst Weißler. 4 Vgl. hierzu: Schreiben des Leiters des Rechnungsamts (Naumburg a. d. S.) vom 11.8.1933 an Landgerichtsdirektor a. D. Dr. Weißler; sowie Schreiben der Oberjustizkasse Berlin vom 13.5.1937 an Johanna Weißler; ferner ­Johannes Weißler, Kindheit in Berlin. Erinnerungen und Erlebnisse 1928 bis 1939, unveröff. Manuskript, Erlangen ca. 2000–2005. 5 Sämtliche Zitate nach: Johanna Weißler, Notizen 1937/38 (zwei handschriftliche Blätter, ohne Titel, ohne Datum), in: NL Weißler. Erwähnt wird u. a.

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Rechtsanwalt Adolf Bunke (Glogau/Schlesien), der als BK-Mitglied im Dezember 1936 verhaftet und in das KZ Lichtenburg eingeliefert wurde. Nach seiner Entlassung am 1.9.1937 war er in der BK in der Provinz Ostpreußen aktiv. Vorgänge wie diese wurden BK-intern durch die Verlesung von Fürbittelisten kommuniziert. Die Stichworte belegen Johanna Weißlers Teilnahme an Bekenntnisgottesdiensten in den Jahren 1936 und 1937. 6 Ebd. – Franz Hildebrandt (1909–1985) wurde nach einem Theologiestudium in Berlin, Tübingen und Marburg im Jahr 1931 in Berlin zum Lic. theol. promoviert und 1933 ordiniert. Seit 1934 war er Hilfspfarrer und Geschäftsführer des Pfarrernotbunds in Berlin-Dahlem. 1936 wirkte er an der Ausarbeitung der Denkschrift mit. Kirchenpolitisch und theologisch stand er in diesen Jahren in engster Verbindung mit Bonhoeffer. Vgl. vor allem: Holger Roggelin, Franz Hildebrandt. Ein lutherischer Dissenter im Kirchenkampf und Exil, Göttingen 1999, bes. S. 107–124; dort auch zahlreiche Belege für seine BK-kritische Haltung in der »Judenfrage«. 7 Johannes Weißler, Kindheit in Berlin, S. 22. 8 Alle weiteren Zit. ebd., S. 22 f. 9 Ebd., S. 21 f.; zu den Olympischen Spielen 1936 und deren Einfluss auf die Atmosphäre in der Hauptstadt: Hilmes, Berlin 1936. 10 Ebd., S. 24. 11 Schreiben der Vorläufigen Kirchenleitung der DEK vom 18.2.1938 an Frau Direktor Dr. Weißler; in: NL Weißler. 12 Schreiben Pastor Forck (Hamburg) vom 19.2.1938 an Johanna Weißler; in: ebd. 13 Schreiben Franz Hildebrandt (London) vom 10.2.1938 an Johanna Weißler (NL Weißler); mit Rücksicht auf das nicht mehr gewährleistete Briefgeheim­ nis ist Hildebrandts Diktion an mehreren Stellen bewusst kryptisch gehalten. Auch seine Argumentation mit Bibelstellen könnte damit zusammenhängen und ersparte ihm direkte Worte über das NS -Regime. 14 Diese Nachfrage berührt die langjährigen Bemühungen Friedrich Weißlers, seine Mutter zur Taufe zu bewegen; vgl. hierzu unten, S. 212. 15 Hier deutet Hildebrandt bereits die Möglichkeit an, eventuell die Ver­ schickung der »halbjüdischen« Kinder nach England ins Auge zu fassen; das war bereits ein Vorgriff auf das Kommende. 16 Diese Aufzeichnungen waren nicht direkt zugänglich. Sie sind enthalten in: Johannes Weißler, Biografie über Ulrich Weißler (Manuskript auf der Grundlage von langen Originalzitaten aus dem Tagebuch von U ­ lrich Weißler); fortan zitiert als Ulrich Weißler, Tagebuch. Erinnert sei an die auffallende Parallele zu seinem Vater: Friedrich Weißler begann im Jahr 1906 als 15-jähriger Gymnasiast mit Tagebuchaufzeichnungen (Vgl. Kap. 1). 17 Ebd. 18 Ebd.; 1937 begannen Bauarbeiten einer »Wehrtechnischen Fakultät« im Grunewald unweit des Olympiageländes. Dies sollte der erste Abschnitt

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einer neu geplanten Berliner Hochschulstadt (»Hitler-Universität«) werden. Der unvollendete Rohbau wurde nach dem Krieg von den Trümmern der Stadt (»Teufelsberg«) bedeckt. 19 Ebd.; zu den antijüdischen Ausschreitungen im Sommer 1938 in Berlin: Wolf Gruner, Die Verfolgung der Juden und die Reaktionen der Berliner, in: Michael Wildt/Christoph Kreutzmüller (Hg.), Berlin 1933–1945, München 2013, S. 311–323; hier bes. S. 314 (Gewaltaktionen Mitte Juni in der Frankfurter Allee und in der Gegend um den Alexanderplatz). 20 Ulrich Weißler, Tagebuch; sämtliche Lindenbäume des Boulevards waren abgeholzt und neu angepflanzt worden; zugleich war dies eine Anspielung auf die Likörfabrik & Weinhandlung Julius Kahlbaum. 21 Ebd. – Der internationale Antwortschein verweist auf Vorbereitungen für die Verschickung des Jungen nach England im August 1939. 22 Zahlreiche Augenzeugenberichte in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd.  2: Deutsches Reich 1938–August 1939; bearb. von Susanne Heim, München 2009, S. 358–471; für Berlin Gruner, Verfolgung der Juden, S. 315–317. 23 Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 66. 24 Ulrich Weißler, Tagebuch, S. 11. 25 Vgl. zu Gollwitzers Bußtagspredigt: Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche. Bd. 3/I: 1938–1941. Ausgestoßen, Stuttgart 1995, S. 62–68; und Gailus, Mir aber zerriss es das Herz, S. 117–122. 26 Sämtliche Zit. nach Ulrich Weißler, Tagebuch. 27 Ebd., S. 12. 28 Ebd. Der Trenker-Film Liebesbriefe aus dem Engadin hatte am 5. Dezember 1938 Premiere. 29 Gerhard Weißler (1918–1989) kam im Jahr 1939 als Physikstudent nach Berkeley (USA). Von 1944 bis 1988 war er als Professor der Physik an der University of Southern California in Los Angeles tätig. 30 Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte, S. 62–69. 31 Der Jurist und Diplomat Adolf Freudenberg (1894–1977) schied 1934 aus dem Staatsdienst aus und begann ein Studium der Theologie an der Kirchlichen Hochschule Bethel. Er wurde in Dahlem ordiniert und gehörte dort den BK-Kreisen um Niemöller an. 1939 emigrierte er mit seiner »nichtarischen« Frau Elsa (geb. Liefmann) und den Kindern nach London. Seit Sommer 1939 leitete er das Flüchtlingshilfswerk des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf. Zum »Büro Pfarrer Grüber« und diversen weiteren Einrichtungen, die an der Verschickung »nichtarischer« Kinder (vor allem nach England) beteiligt waren, s. Hartmut Ludwig, An der Seite der Entrechteten und Schwachen. Zur Geschichte des »Büro Pfarrer Grüber« (1938 bis 1940) und der Ev. Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte nach 1945, Berlin 2009, S. 48–57. 32 Zitate nach Ulrich Weißler, Tagebuch, S. 14 ff.

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33 Vom 14. bis 16. März 1939 besetzte die Wehrmacht den tschechoslo­ wakischen Rumpfstaat; das »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« entstand. Das schulische Vortragsthema über den Nürnberger Uhrmacher Peter Henlein (1484–1542) hing vermutlich mit Veit Harlans Film »Das unsterbliche Herz« zusammen, der am 31. Januar 1939 in Nürnberg uraufgeführt und seit 14. Februar im Berliner Ufa-Palast am Zoo gezeigt wurde. 34 Nach Ulrich Weißler, Tagebuch, S. 18; am 22. Mai 1939 wurde von Außenminister Joachim Ribbentrop und dem italienischen Außenminister ­Galeazzo Ciano in Berlin der »Stahlpakt« unterzeichnet. 35 Ebd.; vom 1. bis 5. Juni 1939 besuchte der Prinzregent Paul von Jugoslawien die Reichshauptstadt und wurde von den Nazis mit einer Vielzahl aufwändiger Propagandaveranstaltungen politisch umworben. 36 Ebd.; am 6. Juni 1939 kehrte die Legion Condor von ihrem Spanieneinsatz nach Berlin zurück und wurde mit großem Pomp empfangen. 37 Ebd., S. 24 f. 38 Vgl. hierzu: Johannes Weißler, Kindheit in Berlin; Ulrich Weißler, Tagebuch. 39 Im Unterschied zu seinem Bruder Ulrich schrieb Johannes Weißler kein Tagebuch und war zu Kriegsbeginn dafür sicher auch noch zu jung. Um das Jahr 2000 verfasste er außergewöhnlich detaillierte »Erinnerungen« an die Kriegszeit, die als wichtigste Quelle für die weitere Familiengeschichte bis 1945 herangezogen werden. 40 Johannes Weißler, Jugend in Berlin. Kriegszeit 1939–1945. Aufzeichnungen eines Schülers in Berlin (diese Erinnerungen sind von 1994 bis 2004 verfasst worden). Seit Beginn des Russlandkriegs im Juni 1941 war das musikalische Hauptthema aus Friedrich Liszts Les Préludes die Erken­ nungs­melodie für Wehrmachtsberichte im Rundfunk und in den Wochenschauen. 41 Zu den Luftangriffen auf Berlin vgl. Laurenz Demps, Berlin im Bombenkrieg, in: Michael Wildt/Christoph Kreutzmüller (Hg.), Berlin 1933–1945, München 2013, S. 357–371. 42 Johannes Weißler, Jugend in Berlin; das längere Zit. S. 5. 43 Zur Lage evangelischer »Nichtarier«: Ursula Büttner/Martin Greschat, Die verlorenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im »Dritten Reich«, Göttingen 1998; sowie das Sammelwerk: Röhm/ Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche. 44 Johannes Weißler, Jugend in Berlin, S. 6 und S. 14. 45 Zur Regelung des sukzessive eingeschränkten Schulbesuchs »nichtarischer« Kinder vgl. Renate Fricke-Finkelnburg (Hg.), Nationalsozialismus und Schule. Amtliche Erlasse und Richtlinien 1933–1945, Opladen 1989. 46 Johannes Weißler, Jugend in Berlin, S. 12 und S. 17 f. 47 Die »Organisation Todt« (OT ), benannt nach dessen Leiter, dem Generalinspekteur für das Straßenwesen und Generalbevollmächtigten für die Regelung der Bauwirtschaft Fritz Todt (1891–1942), entstand 1938 zum Bau

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militärischer Anlagen und Bauten. Die uniformierten Arbeiter unterstanden einer militärischen Dienstpflicht. 48 Ebd., S. 17 ff. 49 Hierüber berichtet Ernst Weißler (Weißler’sche Familiengeschichte, S. 77) in seinen Erinnerungen: deportiert wurden Else Hayn und ihre Schwester Käthe Hayn; aus Holland sei schließlich deren dritte Schwester Lily [geb. Hayn] mit Kindern verschleppt worden. Zahnarzt Walter Worm mit seiner Frau Floere Worm aus Berlin kamen 1942 nach Theresienstadt und von dort in ein Vernichtungslager im Osten. 50 Schreiben Franz Hildebrandt (Ridley Hill, Cambridge) vom 1.3.1939 an Johanna Weißler, in: NL Weißler. 51 Heinrich Schmidt war im Zusammenhang der Denkschriftenaffäre im November 1936 ebenfalls kurzfristig verhaftet worden. Bei seiner Entlassung war ihm jede weitere Mitarbeit bei der BK verboten worden. Seit 1937 lebte er in Dortmund. Dort wurde er im Juni 1938 erneut verhaftet und nach drei Monaten Haft nach Suhl (Thüringen) ausgewiesen, wo er sich bis Kriegsbeginn 1939 aufhalten musste. Vgl. zu Schmidt: HermannUlrich Koehn, Protestantismus und Öffentlichkeit im Dortmunder Raum 1942/43–1955/56, Berlin 2008, S. 127 f. 52 Zur Verfolgung und weitgehenden Lähmung der Bekennenden Kirche zu Kriegszeiten s. Wolfgang Wippermann, Kirche im Krieg, in: Erich Schuppan (Hg.), Bekenntnis in Not. Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg im Konflikt mit dem totalen Staat (1933–1945), Berlin 2000, S. 305–350; Peter Noss, Martin Albertz (1883–1956). Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus, Neukirchen-Vluyn 2002, S. 417–471.

Resümee: Reformationsgedenken im Jahr 2017, die protestantische­ Performance in der Hitlerzeit und Friedrich Weißler 1 Zum Luther- und Reformationsgedenken 2017: Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004; Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817–2017, Göttingen 2012; Klaus Tanner/Jörg Ulrich (Hg.), Spurenlese. Reformationsvergegenwärtigung als Standortbestimmung (1717–1983), Leipzig 2012; Richard Faber/Uwe Puschner (Hg.), Luther. Zeitgenössisch – Historisch – Kontrovers, Frankfurt a. M. 2017. 2 Vgl. William M. McGovern, From Luther to Hitler. The History of FascistNazi Political Philosophy, New York 1941; Peter F. Wiener, Martin Luther: Hitler’s Spiritual Ancestor, London 1945. 3 Zum protestantischen »Erlebnis 1933«: Manfred Gailus, 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 481–511; ders. (Hg.), Täter und Kom-

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plizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015; ders./Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016. 4 Vgl. zu Luthers »Judenschriften« und ihrer Rezeption: Thomas Kaufmann, Luthers Juden, Stuttgart 2014; Harry Oelke/Wolfgang Kraus/Gury Schneider-Ludorff/Axel Töllner/Anselm Schubert (Hg.), Martin Luthers »Judenschriften«. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2016; Manfred Gailus, Martin Luthers »Judenschriften« und der protestantische Antisemitismus im »Dritten Reich«, in: Faber/Puschner (Hg.), Luther. 5 Zu den Lutherfeiern 1933 und generell zum Lutherkult der 1930er Jahre: Björn Küllmer, Die Inszenierung der protestantischen Volksgemeinschaft. Lutherbilder im Jahr 1933, Berlin 2012; Nicola Willenberg, »Mit ­Luther und Hitler für Glauben und Volkstum«. Der Luthertag 1933 in Dresden, in: Tanner/Ulrich (Hg.), Spurenlese, S. 195–237; Hansjörg Buss, Der Deutsche Luthertag 1933 und die Deutschen Christen, in: Kirchliche Zeit­ geschichte 26, 2013, S. 272–288. 6 Hier nur als knappes Resümee: Jürgen Kocka, Das lange 19. Jahrhundert: Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 13), Stuttgart 2001. 7 Vgl. zur jüdisch-deutschen (Erfolgs-) Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis 1933: Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975; Shulamit Volkov, Die Juden in Deutschland 1780–1918, München 1994; Simone Lässig, Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004. 8 Vgl. das vieldiskutierte Buch von Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa 1914 in den Krieg zog, München 2013; zur Kritik an der vor allem durch dieses Buch neu angeregten, revisionistischen »Kriegsschulddebatte« vgl. vor allem Heinrich August Winkler, Und erlöse uns von der Kriegsschuld, in: DIE ZEIT, Nr. 32, 31.7.2014. 9 Aus der Fülle der jüngsten Literatur zum Weltkrieg hier nur: Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014; vgl. zur jüngeren Debatte über den Ersten Weltkrieg auch die umfassenden Literaturberichte: Ulrich Wyrwa, Zum Hundertsten nichts Neues. Deutschsprachige Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg (Teil I), in: ZfG 62 (2014), H. 11, S. 921–940; ders., (Teil II), in: ZfG 64, H. 7/8, S. 683–702. 10 Zur kirchlichen Kriegspartizipation: Manfred Gailus, »Ein Feld weiß und reif zu einer Geistesernte liegt vor uns!« Deutsche Protestanten im Ersten Weltkrieg, in: Rolf Hosfeld (Hg.), Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, Göttingen 2013, S. 95–109. International vergleichend: Martin Greschat, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014.

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11 Zum Antisemitismus der Kaiserreichzeit: Werner Bergmann, Völkischer Antisemitismus im Kaiserreich, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur »völkischen Bewegung« 1871–1918, München 1996, S. 449–463; Uffa Jensen, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. 12 Vgl. zum Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker als Mitbegründer des modernen Antisemitismus: Günter Brakelmann/Martin Greschat/ Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982. 13 Zur großen antisemitischen Welle im Schatten von Revolution und Republik, Kriegsniederlage, Versailles und Inflation: Cornelia Hecht, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003; Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007; Susanne Wein, Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. 2014. 14 Vgl. zum »Tag von Potsdam« als Schrittmacher in die Diktatur: Manfred Gailus, Ein großes, freudiges »Ja« und ein kleines, leicht überhörbares »Nein«. Der »Tag von Potsdam« (21. März 1933) und die Kirche, in: ders. (Hg.), Täter und Komplizen, S. 32–50; jetzt auch mit neuen Forschungsergeb­ nissen zu diesem Großereignis: Matthias Grünzig, Für Deutschtum und Vaterland. Die Potsdamer Garnisonkirche im 20. Jahrhundert, Berlin 2017. 15 Zur protestantischen Jubelfront von 1933 und deren Protagonisten, die sich Deutsche Christen nannten: Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a. M./Berlin 1977; Doris L. Bergen, Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill/London 1996; biografische Skizzen zu Hossenfelder und Nobiling in: Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus, S. 416–426; jetzt auch 15 biografische Studien zu Protagonisten in: Gailus/Vollnhals (Hg.), Völkische Theologen. 16 Zu den Berliner Kirchenverhältnissen im Jahr 1933: Gailus, Protestantismus und Nationalsozialismus; zahlreiche jüngere Regionalstudien belegen inzwischen die protestantische Selbstpreisgabe 1933: vgl. u. a. Oliver Arnhold, »Entjudung« – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchen­bewegung Deutsche Christen 1928–1939 und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1 ­ 939–1945, 2 Bde., Berlin 2010; Hansjörg Buss, »Entjudete« Kirche. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918–1950), Paderborn 2011; Klaus-­Dieter ­Grunwald/Ulrich Oelschläger (Hg.), Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen und Nationalsozialismus, Darmstadt 2014; Christoph ­Picker/­Gabriele Stüber/Klaus Bümlein/Frank-Matthias Hofmann (Hg.), Protestanten ohne Protest. Die evangelische Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus, 2 Bde., Speyer und Leipzig 2016.

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17 Vgl. hierzu die Denkschrift von Elisabeth Schmitz »Zur Lage der deutschen Nichtarier« aus dem Jahr 1935, dokumentiert in: Gailus, Mir aber zerriss es das Herz, S. 223–252, bes. S. 241; Franz Hildebrandt arbeitete vor dem Hintergrund seiner deutschen Erfahrungen zwischen 1937 und 1940 an seiner Schrift »Das Evangelium und die Humanität«. Im Jahr 1941 wurde er mit einer englischen Fassung an der Universität Cambridge zum Dr. phil. promoviert. 18 Zu den bisherigen öffentlichen Würdigungen Friedrich Weißlers siehe die Ausführungen in der Einführung, S. 20 ff. 19 Vgl. etwa Kirchenamt der EKD (Hg.), Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, Gütersloh 2014, S. 34–43; kritisch zur ausufernden Gedenkpropaganda 2017: Hartmut Lehmann, Die Deutschen und ihr Luther, in: FAZ vom 26.8.2008; ders., Vom Helden zur Null? [zur Reformationsfeier 2017], in: FAZ vom 26.10.2015; Thomas Kaufmann, Herausforderungen angesichts des Reformationsjubiläums. Ein kirchenhistorischer Zwischenruf, in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Perspektiven 2017 – Ein Lesebuch, Hannover 2012, S. 70–75.

Ego-Dokumente 1 Aus dem Nachlass Friedrich Weißler; der Theologe Hanns Lilje (1899–1977) war von 1927 bis 1935 Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV ). Von 1933 bis 1936 gehörte er neben Fritz Söhlmann zu den Herausgebern der BK-Zeitschrift Junge Kirche. Halbmonatschrift für reformatorisches Christentum. 2 Dem Altfreundverband gehörten ehemalige Mitglieder der DCSV an.­ Weißler kannte Lilje aus diesen Zusammenhängen. 3 Nach Weißlers eigenen Angaben habe er auf dieses Schreiben niemals eine Antwort von Lilje erhalten. 4 Aus dem NL Friedrich Weißler. – Weißler hatte der Familie Walther und Else Brandis in Hamburg Anfang Oktober 1935 einen Geburtstagsgruß übersandt. Er kannte den Juristen und Anwalt Dr. Brandis seit gemeinsamen Studienzeiten in Halle (Saale). 5 Friedrich Weißlers ältester Bruder Otto, bis 1935 in Magdeburg als Studienrat tätig, war nach schwerer Krankheit Ende Mai 1935 verstorben. Zu den insgesamt sehr schwierigen Familienverhältnissen, die hier im Brief von Else Brandis angedeutet werden: Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte von 1905 bis 1955, Freiburg i. Br. 1955, S. 61 f. 6 Mit »dem Umsturz« ist der Machtantritt Hitlers vom 30. Januar 1933 gemeint. 7 »Vorgänge auf der Bremen« bezieht sich vermutlich auf den sogenannten »Bremen-Zwischenfall« vom 26. Juli 1935 in New York. Kurz vor dem Ablegen des Linienschiffes »Bremen« holte eine Menschenmenge die Haken-

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kreuzfahne vom Heck des Schiffes, verbrannte sie und warf die Überreste in das Wasser. Wenige Tage später legte daraufhin der deutsche Botschafter scharfen Protest bei der US -Regierung ein. 8 Else Brandis hing hier einer religiösen Denkweise an, wie sie um das Jahr 1933 bei den evangelischen Deutschen Christen sehr verbreitet war; vgl. hierzu Manfred Gailus, Die kirchliche Machtergreifung der »Glaubens­ bewe­gung Deutsche Christen« im Jahr 1933, in: ders. (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015, S. 62–80. 9 Aus dem Nachlass Friedrich Weißler. 10 Aus: Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen (1936), S. 226–229. Weißler verfasste diese Lebenserinnerungen während einer Kur im Juni-Juli 1936 in Oberschlema (Erzgebirge). 11 Im Buch Josua im Alten Testament heißt es an der genannten Stelle: »Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der HERR , dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.« 12 Vgl. BArch, Zwischenlager Dahlwitz-Hoppegarten, ZC 14509, Verhör­ proto­kolle der Gestapo in Sachen Weißler-Tillich, Bl. 32–37. 13 »Wort an den Führer« bezeichnet die Denkschrift der BK von 1936, an der Weißler mitwirkte. Insbesondere war Weißler für die 28 Anlagen verantwortlich, die der Denkschrift als Beweismittel beigefügt waren. 14 Der überlieferte Briefwechsel im NL Weißler umfasst ca. 60 Schriftstücke, zumeist Briefe von Johanna Weißler an ihren inhaftierten Ehemann; hinzu kommen Briefe der beiden Söhne, seltener auch Briefe der Mutter Auguste Weißler. 15 Der Berliner Rechtsanwalt Horst Holstein (1894–1945) war Rechtsbeistand der BK in der Zeit des Kirchenkampfes. 16 Der junge Jurist Dr. Heinrich Schmidt war seit Oktober 1935 Mitarbeiter in der von Weißler geleiteten Verwaltungsabteilung der Vorläufigen Kirchenleitung. Auch Schmidt wurde am 14. November 1936 festgenommen und vorübergehend im Polizeigefängnis Alexanderplatz inhaftiert. 17 Der Berliner Theologe Franz Hildebrandt, zu dieser Zeit noch Hilfspfarrer in Dahlem, gehörte zu den der Familie Weißler am engsten verbundenen Bekenntnispfarrern. 18 Es sei angemerkt, dass die hier im Brief zitierten Worte sich nicht an der angegebenen Bibelstelle befinden. 19 Der reformierte Pfarrer Friedrich Middendorff (1883–1973), der dem Reichsbruderrat und dem Rat der DEK angehörte, war Mitunterzeichner der Denkschrift an Hitler und kannte Weißler aus diesen Zusammenhängen. 20 Rudolf G. Binding (1867–1938) war ein deutscher Schriftsteller, der vor 1933 der Konservativen Revolution gegen die Weimarer Republik nahestand. Zusammen mit vielen anderen nationalen Schriftstellern gelobte er Hitler im Jahr 1933 treueste Gefolgschaft. Weißlers Nachdichtung beruht auf Bindings Kriegsgedicht »Der Heilige Reiter«, das erstmals am

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16.8.1914 in der Frankfurter Zeitung erschien. Die erste Zeile lautete im Original: »Ich zieh in einen heiligen Krieg«. 21 Aus dem NL Friedrich Weißler. 22 Der Spandauer Superintendent Martin Albertz (Mitglied der 2.  VKL) und der pensionierte Landgerichtsdirektor Fritz Günther wirkten an der Aus­ arbeitung der Denkschrift mit. Beide standen seit längerer Zeit in persönlich enger Beziehung zu Friedrich Weißler und seiner Familie. 23 Vgl. NL Weißler; der Dahlemer Hilfspfarrer Franz Hildebrandt (1909–1985), dessen Mutter jüdischer Herkunft war, hatte an der Ausarbeitung der Denkschrift mitgewirkt. Im September 1937 emigrierte er nach England. Vgl. ausführlich zu seiner wichtigen Rolle in der BK als enger Vertrauter Dietrich Bonhoeffers: Holger Roggelin, Franz Hildebrandt. Ein lutherischer Dissenter im Kirchenkampf und Exil, Göttingen 1999, bes. S. 107–124. 24 Hildebrandt war in England zeitweilig an der Betreuung aus Deutschland stammender Flüchtlinge beteiligt. Möglicherweise traf er auch mit Ulrich Weißler zusammen, der mit einem »Kindertransport« im August 1939 nach England kam. In seinem Tagebuch erwähnt der junge Weißler, unmittelbar nach seiner Ankunft in London, eine Begegnung mit dem Berliner Pfarrer Willy Oelsner, der im Januar 1939 nach England emigrierte. 25 Vgl. zur Interpretation dieser Stellen oben, Kap. 8, S. 200. 26 Gegen Ende 1938 war Auguste Weißler, die im Januar 1933 in einem Frage­ bogen unter Konfession noch »diss.« [dissidentisch, d. h. konfessionslos] angegeben hatte, in einer Berliner Kirche getauft worden. Im Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert, verstarb sie dort wenige Monate später im November 1943.

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Abkürzungen AFV Altfreundverband

Anm. Anmerkung Art. Artikel AT Altes Testament ausf. ausführlich BArch Bundesarchiv BBKL Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon bearb. bearbeitet BK Bekennende Kirche Bl., Bll. Blatt, Blätter CSVD Christlich-Sozialer Volksdienst DC Deutsche Christen DCSV Deutsche Christliche Studentenvereinigung DEK Deutsche Evangelische Kirche ders. derselbe desgl. desgleichen dies. dieselbe DDP Deutsche Demokratische Partei DNVP Deutschnationale Volkspartei DVP Deutsche Volkspartei Ebd. Ebenda EKD Evangelische Kirche in Deutschland EZA Evangelisches Zentralarchiv Berlin FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung GB Großbritannien H. Heft Hg. Herausgeber, Herausgeberin Jb. Jahrbuch M Mark (Reichsmark) NL Nachlass NT Neues Testament OB Oberbürgermeister OT Organisation Todt SBZ Sowjetisch-besetzte Zone Sp. Spalte, Spalten V. B. Völkischer Beobachter VKL Vorläufige Kirchenleitung Zit. Zitat, Zitate

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Bildnachweis S. 12, 26, 30, 37, 48, 50, 70, 86, 89, 92, 93, 96, 97, 101, 144, 153, 163, 194, 209, 215, 264 f.

Nachlass Weißler

S. 25

Peter Hahn (Berlin)

S. 56

Sammlung Andreas Knipping (Eichenau)

S. 109

Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

S. 135

Privat (Dietgard Meyer)

S. 139

Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen (Bielefeld) (LkA EKvW 5.1 Nr. 148)

S. 151

Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin

S. 157

Nachlass Werner Koch (Anne Lorbeer-Wittnebel, Berlin)

S. 172

Archiv der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen (Mediathek); Kopie aus: Fotoalbum des KZ -Kommandanten Karl Otto Koch, FSB Archiv Moskau

S. 183

BArch SSO, RS Drexl, Kaspar, 13 Seiten

S. 201

Staatsbibliothek Berlin

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Nachlass Weißler im Weißler’schen Familienarchiv (Erlangen) Große Teile des Familiennachlasses befinden sich in dem bis 2016 von Johannes Weißler in Erlangen betreuten Familienarchiv. Es handelt sich um unvereröff. Manuskripte, vor allem von Adolf Weißler und Friedrich Weißler, um Briefe, um Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, um Familiendokumente und Fotos. Dieser umfangreiche Nachlass wurde für dieses Buch ausgewertet. Auf eine Auflistung der Unterlagen im Detail kann hier verzichtet werden (s. Anmerkun­ gen). Im Folgenden werden lediglich größere Manuskripte aus diesem Nachlass aufgelistet, die hier häufig zitiert worden sind. Adolf Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte (Halle, ca. 1905). Adolf Weißler, Kriegstagebuch Adolf Weißler (1914–1919). Friedrich Weißler, Reisetagebuch 1906–1909. Friedrich Weißler, Tagebuch 1914–1921. Friedrich Weißler, Lebenserinnerungen (1936). Ernst Weißler, Weißler’sche Familiengeschichte von 1905 bis 1955 (Freiburg i. Br. ca. 1955). Ulrich Weißler, Tagebuch (seit 1938, zit. in: Johannes Weißler, Biografie über Ulrich Weißler). Johannes Weißler, Biografie über Ulrich Weißler (unveröff. Manuskript mit umfangreichen Zit. aus dem Tagebuch Ulrich Weißler; Erlangen ca. 1998). Johannes Weißler, Kindheit in Berlin. Erinnerungen und Erlebnisse 1928 bis 1939 (Erlangen ca. 2000–2005). Johannes Weißler, Jugend in Berlin. Kriegszeit 1939–1945 (Erlangen ca. 1994–2004). Johannes Weißler, Zum Zusammenhang zwischen Adolf Weißler, Gustav Schäfer und der Askania (unveröff. Manuskript, Erlangen 2003).

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2. Archive und Nachlässe Archiv der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin Bundesarchiv Berlin, ehemaliges Zwischenlager Dahlwitz-Hoppegarten Bundesarchiv Berlin, NSDAP Mitgliederkartei Bundesarchiv Koblenz, Justizministerium, Personalakten Friedrich Weißler Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Bestand 50, »Kirchenkampf« Nachlass Werner Koch, darin: Briefwechsel Werner Koch mit Ernst Tillich 1966–1983 (bei Anne Lorbeer-Wittnebel in Berlin) Staatsarchiv München, Bestand StanW 34846/2: Bayerisches Landeskriminalamt, Schlussbericht der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München II in Sachen Zeidler, Guthardt u. a.

3. Zeitungen, Zeitschriften und Jahrbücher Deutsche Notar-Zeitung Deutsche Notariats-Zeitung Deutsche Politik. Wochenschrift für deutsche Welt- und Kulturpolitik Edith-Stein-Jahrbuch Evangelium im Dritten Reich Frankfurter Allgemeine Zeitung Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft Junge Kirche. Halbmonatschrift für reformatorisches Christentum Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft myops. Berichte aus der Welt des Rechts Die Stadtmission Völkischer Beobachter DIE ZEIT

Zeitschrift des Deutschen Notarvereins Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift für Lübeckische Geschichte

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4. Allgemeine Literatur Aus der in den Anmerkungen zitierten Literatur ist hier eine Auswahl von Titeln aufgeführt, die häufiger zitiert werden oder die im Kontext dieser Studie von allgemeiner Bedeutung sind. Arnhold, Oliver, »Entjudung« – Kirche im Abgrund. Die Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen 1928–1939 und das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« 1939–1945, 2 Bde., Berlin 2010. Bergemann, Hans/Simone Ladwig-Winters, Richter und Staatsanwälte jüdischer Herkunft in Preußen im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Köln 2004. Bergen, Doris L., Twisted Cross. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill/London 1996. Bergmann, Werner, Völkischer Antisemitismus im Kaiserreich, in: Uwe ­Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hg.), Handbuch zur »völkischen Bewegung« 1871–1918, München 1996, S. 449–463. Besier, Gerhard, Die Kirchen und das Dritte Reich. Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934–1937, Berlin/München 2001. Bethge, Eberhard, Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, Gütersloh 81994. Brakelmann, Günter/Martin Greschat/Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982. Buss, Hansjörg, Nationalprotestantische Erblasten. Eine doppelbiographische Skizze zu den Lübecker Pastoren Johannes Pautke (1888–1955) und ­Wilhelm Jannasch (1888–1966), in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 99, 2010, S. 229–270. ders., »Entjudete« Kirche. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem An­ tijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918–1950), Paderborn 2011. ders., Couragierter Einsatz für die Christen jüdischer Herkunft: Margarete Meusel, in: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Mit Herz und Verstand. Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS -Rassenpolitik, Göttingen 2013, S. 129–145. ders., Der Deutsche Luthertag 1933 und die Deutschen Christen, in: Kirchliche Zeitgeschichte 26, 2013, S. 272–288. Clark, Christopher, Die Schlafwandler. Wie Europa 1914 in den Krieg zog, München 2013. Demps, Laurenz, Berlin im Bombenkrieg, in: Wildt/Kreutzmüller (Hg.), Berlin 1933–1945, S. 357–371.

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Dörner, Bernward, »Heimtücke«. Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschreckung und Verfolgung in Deutschland 1933–1945, Paderborn 1998. Drobisch, Klaus, Im Konzentrationslager wurde erstes BK-Mitglied ermordet. Zum 50. Todestag von Friedrich Weißler, in: Standpunkt 15, 1987, S. 105–107. Faber, Richard/Uwe Puschner (Hg.), Luther. Zeitgenössisch – Historisch – Kontrovers, Frankfurt a. M. 2017. Forck, Bernhard Heinrich (Hg.), Und folget ihrem Glauben nach. Gedenkbuch für die Blutzeugen der Bekennenden Kirche, Stuttgart 1949. Frei, Norbert/Johannes Schmitz, Journalismus im Dritten Reich, München 3 1999. Gailus, Manfred, Protestantismus und Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Durchdringung des protestantischen Sozialmilieus in Berlin, Köln 2001. ders., 1933 als protestantisches Erlebnis: emphatische Selbsttransformation und Spaltung, in: Geschichte und Gesellschaft 29, 2003, S. 481–511. ders., Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz, Göttingen 2010. ders., »Ein Feld weiß und reif zu einer Geistesernte liegt vor uns!« Deutsche Protestanten im Ersten Weltkrieg, in: Rolf Hosfeld (Hg.), Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme. Der Völkermord an den Armeniern, Humanitarismus und Menschenrechte, Göttingen 2013, S. 95–109. ders. (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015. ders., Ein großes, freudiges »Ja« und ein kleines, leicht überhörbares »Nein«. Der »Tag von Potsdam« (21. März 1933) und die Kirche, in: ders. (Hg.), Täter und Komplizen, S. 32–50. ders./Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«, Göttingen 2016. ders., Martin Luthers »Judenschriften« und der protestantische Antisemitismus im »Dritten Reich«, in: Faber/Puschner (Hg.), Luther. Geck, Albrecht, Friedrich Weißler (1891–1937). Bekenntnis und Recht, in: Jürgen Kampmann (Hg.), Protestanten in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte, Bd. 4: Vom Ersten Weltkrieg bis zur Teilung Deutschlands, Frankfurt a. M. 2011, S. 263–289. Germann, Michael, Friedrich Weißler im Dienst der Bekennenden Kirche, in: Höland/Lück (Hg.), Juristenkarrieren, S. 52–80. Greschat, Martin, Zwischen Widerspruch und Widerstand. Texte zur Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler (1936), München 1987. ders., Friedrich Weißler. Ein Jurist der Bekennenden Kirche im Widerstand gegen Hitler, in: Ursula Büttner/Martin Greschat, Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im »Dritten Reich«, Göttingen 1998, S. 86–122.

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ders., Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014. Grüttner, Michael, Das Dritte Reich 1933–1939. Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19, Stuttgart 2014. Gruner, Wolf (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Bd. 1: Deutsches Reich 1933–1937, München 2008. ders., Die Verfolgung der Juden und die Reaktionen der Berliner, in: Michael Wildt/Christoph Kreutzmüller (Hg.), Berlin 1933–1945, München 2013, S. 311–323. Grunwald, Klaus-Dieter/Ulrich Oelschläger (Hg.), Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen und Nationalsozialismus, Darmstadt 2014. Haffner, Sebastian, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, München 2002. Hattenhorst, Maik, Magdeburg 1933. Eine rote Stadt wird braun, Magdeburg 2009. Hecht, Cornelia, Deutsche Juden und Antisemitismus in der Weimarer Republik, Bonn 2003. Heim, Susanne (Bearb.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945, Bd. 2: Deutsches Reich 1938 – August 1939, München 2009. Helmreich, Ernst C., Die Veröffentlichung der »Denkschrift der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche (VKL) an den Führer und Reichskanzler, 28. Mai 1936«, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 87, 1976, S. 39–53. Heymel, Michael (Hg.), Martin Niemöller. Dahlemer Predigten. Kritische Ausgabe, Gütersloh 2011. Hilmes, Oliver, Berlin 1936. Sechzehn Tage im August, München 2016. Höland, Armin/Heiner Lück (Hg.), Juristenkarrieren in der preußischen Provinz Sachsen (1919–1945). Lebenswege und Wirkungen, Halle (Saale) 2004. Huttner, Markus, Britische Presse und nationalsozialistischer Kirchenkampf. Eine Untersuchung der »Times« und des »Manchester Guardian« von 1930 bis 1939, Paderborn usw. 1995. Jensen, Uffa, Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005. Kaufmann, Thomas, Luthers Juden, Stuttgart 2014. Kirchenamt der EKD (Hg.), Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, Gütersloh 2014. Koch, Werner, »Sollen wir K. weiter beobachten?« Ein Leben im Widerstand, Stuttgart 1982.

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Personenregister Auf die Aufnahme von Friedrich Weißler, Hauptprotagonist dieses Buches, in das Register ist hier verzichtet worden. Albertz, Martin  13, 17, 23, 116, 121, 133, 135, 174 f., 187, 196, 214, 267 Asmussen, Hans  23, 160, 176 f.

Dietz (Hauptmann)  65 f. Dörner, Bernward  141 Dreßler (Geheimrat)  44 Drexl, Kaspar  179 ff. Duda, Curt  104

Baden, Prinz Max von  71 f. Barth, Karl  103, 117, 131, 133 f., 156, 158, 186, 228 Beeg (Lehrling)  76 Beethoven, Ludwig van  68, 191, 193 Bell, George  186 Beyer (Rechtsanwalt)  100 Binding, Rudolf G.  263 Bismarck, Otto von  69 Böhm, Hans  133, 150, 160, 187 Bonhoeffer, Dietrich  20, 23, 117, 131, 133, 154, 156, 158, 186, 228 f., 232 Brandis, Else  113 ff., 122, 227, 238, 240 f. Brandis, Walther  113, 122, 227, 238 Broecker, Arthur von  47, 76 Bruns-Wüstefeld (Leutnant)  63 Buki, Clara  83 Buki, Margarete (Grete)  44 f. Bunke, Adolf  196 Carlyle, Thomas  83 Chantré, Ludwig  152, 156, 158, 173, 186 Ciano, Galeazzo  207 Dannenbaum, Hans  119 f. Dehn, Günther  94

Eckert, Otto  119 Eicke, Theodor  181 Eger, Karl  94 Elze, Curt  79 Fiedler (Schüler)  38 Forck, Bernhard Heinrich  133, 200 Forell, Birger  140 Forke (Sekretär)  52, 58 Franco, Francisco  207 Fratzscher, Arnold  130 Freisler, Roland  106 Freund, Eugen  202, 206 Freund, Hans  206 Freund, Margarete (Grete)  202, 206 Fricke, Otto  133 Friedberg, Heinrich von  42 Friedrich II . (der Große)  28, 73 Fritze, Johannes  118 Gerhardt, Paul  221 Giesecke (Landgerichtsdirektor)  55 Giessler (»Fräulein«)  188 Goebbels, Joseph  138, 146, 188 Göring, Hermann  186, 188 Goetz, Curt  40 Goldschmidt, Herbert  102 Gollwitzer, Helmut  204

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Grimm, Jacob und Wilhelm  69 Grüber (Gerichtsrat)  55 Gülland, Paul  94 Günther, Fritz  13, 140, 165, 173 ff., 267 Gürtler, Ernst  110 f., 187, 204 Gürtner, Franz  23, 112, 149, 160, 178, 180, 188 Guthardt, Christian  179 ff., 184 Händel, Georg Friedrich  29, 220 Haffner, Sebastian  100 Hallermann, Wilhelm  178 Hamerling, Robert  68 Hayn, Else  208 Hayn, Gerhard  204 Hayn, Leopold  35 Hayn, Rosalie  33 Hermann, Georg  68 Herold (Rechtsanwalt)  78 f. Heuss, Theodor  84 Hildebrandt, Franz  121, 165 f., 187, 196, 200, 214, 232, 253 ff., 268 f. Himmler, Heinrich  23, 160 f., 180, 186, 188, 229, 233 Hindenburg, Paul von  56 f. Hirschfeld, Fritz  212 Hitler, Adolf  16 ff., 22, 90, 95, 99 f., 104, 113, 115, 125, 132, 134 f., 137, 140 f., 145 f., 148 f., 165, 188 f., 191, 199, 202, 206 f., 210, 217 f., 225 f., 228 f. Hoeniger, Heinrich  203, 206 Hoeniger, Viktor (Victor)  94, 203 Holstein, Horst  140, 162, 196, 248 f. Homer  39 Hossenfelder, Joachim  226 Huber, Wolfgang  20 Jacobi, Gerhard  136, 149, 160, 204 Jäger, August  119 Jannasch, Walter  17, 136, 140, 196

Kant, Immanuel  83, 91 Kehrmann (»Bundesbruder«)  102 Kerrl, Hanns  131, 138, 188 Kittel, Gerhard  186 Klepper, Jochen  232 Koch, Karl (Präses)  132, 149, 160 Koch, Karl (Lagerkommandant Sachsenhausen)  171, 173, 184 Koch, Werner  19, 23, 147, 152, 155 ff., 162, 167 ff., 171, 185 f., 229 Kötzschke, Hermann  148, 159 Krahmer, Horst  54 Kuhlmey (Rechtsanwalt)  100 Lichtenstein, Adolf  173, 267 Lilje, Hanns  103, 110, 130, 134, 237 Lipke (Gefreiter)  65 Lissauer, Ernst  58 Liszt, Franz von  210 Luther, Martin  60, 117, 177, 217 f., 221 f., 224, 228, 233 Maercker, Georg Ludwig Rudolf  75 Mahler, Gustav  68 Marahrens, August  116, 131 f., 158 Marcks, Erich  147 McGovern, William M.  218 Meinhof, Johannes  36, 79 Meiser, Hans  131 Meißner, Otto  140 Meixner, Max  178 Mendelssohn-Bartholdy, Felix  68 Meusel, Margarete  135 f. Michael, Horst  147 ff. Middendorff, Friedrich  165, 187, 256 Moon, Lichlett  207 Müller, Friedrich (Fritz)  133, 160, 187, 199, 214 Müller-Hess, Victor  179 Napoleon I. Bonaparte  58 Naumann, Friedrich  84

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Niemöller, Martin  17, 23, 116 f., 121, 131 ff., 158, 160, 165 f., 189, 196, 214, 228 f., 232, 254, 260 Nobiling, Siegfried  226 Nordbrink, Fritz  179 ff. Pallas (Schüler)  38 Pius XI .  134 Putz, Eduard  129 Rausch, Günter  252 Rauschling (Dr., Arzt)  171 Reden, Friedrich Wilhelm Graf von  29 Reuter, Ernst  100 Rohrbach, Paul  68 f., 223 Rosegger, Peter  68 Rosemeyer, Bernd  107 Rosenberg, Alfred  138, 244 Rückert, Friedrich  69 Ruprecht, Günther  130 f.

Spener (Jurist)  84 Stache, Karl  250 Steche, Konrad  108 Stein, Edith  134 Stickel (Diplomingenieur)  211 Stoecker, Adolf  120, 224 Stölzel, Adolf  28 Stokman, Gerritdina  169, 186 Storm, Theodor  68 Strauss, Richard Georg  68 Stumpfeld, Aeone von  90, 192 Tausch, Friedrich  120 Thieme, Walter  120 f. Thimme, Friedrich  82 Tillich, Ernst  19, 23, 150 ff., 154 ff., 162, 167 f., 171, 185, 187 f., 229, 246 Tillich, Franz  154 Treplin, Rolf  108

Saß (Schüler)  38 Schäfer, Gustav  86, 93 Schäfer, Johanna  15, 21, 86, 93, 225 f. Scharf, Kurt  186 Schiller, Friedrich  69 Schiller (Rechtsanwalt)  88 Schlegelberger, Franz  112 Schlieckmann (Justizrat)  29 f. Schmidt, Heinrich  152, 173 f., 187, 196, 205, 214, 249 Schmitt, Carl  147 f. Schmitz, Elisabeth  103, 134, 136, 232 f. Schönwetter, Adolf  108, 209 f. Schönwetter, Eva (»Evchen«)  201 Schröder, Karl Heinz  173, 179 f. Schultz-Völcker, Richard  42 Schwab (Viehhändler)  40 Schwaner, Wilhelm  82 Siebert (Organist)  196 Söhlmann, Fritz  130 f.

Visser’t Hooft, Willem A.  186 Vogler (Sekretär)  76 Wagner, Richard  36, 165, 261 Wagner (Ministerialrat)  112 Waldmann, Anton  180 Weißler, Adolf  15, 21 f., 27 ff., 41 ff., 51 ff., 70 ff., 90, 194, 219 ff., 224 f. Weißler, Auguste  15, 27, 98, 193, 200, 212, 254, 261 Weißler, Ernst  35, 40, 46, 61 f., 68, 74, 78, 89 ff., 95, 108, 163, 191 f., 203 f., 206, 214, 261 Weißler, Gerhard  203, 206 Weißler, Johanna  13, 24, 106, 161, 166, 169 f., 174 ff., 192 ff., 200, 202, 214, 247, 249 ff., 260, 267 f. Weißler, Johannes  15, 24, 88 f., 106 f., 122, 143, 161 ff., 193 ff., 198 f., 202, 205, 207 ff., 247, 250, 252 ff., 257, 260 f.

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Weißler, Otto  34 f., 46, 60 f., 63, 70 f., 74, 89, 191, 206 Weißler, Salomon  33 Weißler, Ulrich  15, 23 f., 88, 108, 122, 143, 161 ff., 166 f., 192 ff., 197 f., 201 ff., 212, 214, 247, 250, 253 ff., 257, 260 f. Wendt, Margret  61 Werner (Landgerichtspräsident)  29 Wiener, Peter F.  218 Wilde, Oscar  68 Wilhelm I. (Deutscher Kaiser)  73

Wilhelm II . (Deutscher Kaiser)  73, 81 f. Wilson, Thomas Woodrow  72 Worm, Edgar  203 ff. Worm, Fritz  206 Worm, Walter  203 Wurm, Theophil  131 Zawada (Pastor)  35 Zeidler, Paul  172, 179 ff., 184 Zypries, Brigitte  20

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