Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa [1. ed.] 9783835339088, 9783835346369


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German Pages 285 [286] Year 2021

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Danksagung
Einleitung: Ein neues Verständnis von »Widerstand«
1. Kapitel: Die Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa
Die außenpolitischen Interessen Nazi-Deutschlands
Die wichtigsten Herrschaftsformen
Die politischen Formen der Zusammenarbeit
Mechanismus der staatlichen Zusammenarbeit: ein Vergleich zwischen Dänemark und Frankreich
2. Kapitel: Welcher Widerstand? Versuch einer Typologie
Welche »Geschichte« des »Widerstands«?
Ziviler Widerstand: eine Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus
3. Kapitel: Das Geheimnis der Verweigerung der Zusammenarbeit
Die Komplexität der Verhaltensweisen gegenüber dem Besatzer
Die zunehmende Radikalisierung der Beziehung Besatzer-Besetzte
4. Kapitel: Das Problem der Legitimität
Die Standhaftigkeit des norwegischen Staates
Die Veräußerung des französischen Staates
Die Widersprüche des niederländischen Staates
Die zwei politischen Logiken des Widerstands
5. Kapitel: Die Quellen des sozialen Zusammenhalts
Innere Faktoren
Äußere Faktoren
Das Gesetz der »Reaktivität«
6. Kapitel: Die Rolle der öffentlichen Meinung
Von der öffentlichen Meinung zum Widerstand
Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft
Die politischen »Schutzwälle« der Gesellschaft
Die Theorie der drei »Kreise«
7. Kapitel: Der zivile Widerstand und die Repression
Die provozierte Repression
Die eingedämmte Repression
Weitere Faktoren der Verwundbarkeit
8. Kapitel: Der zivile Widerstand und der Genozid
Die Strategie, Opfer zu schaffen
Der Staat als Schutzschild
Die öffentliche Meinung als Schutzschild
Das soziale Netz als Schutzschild
Ein Krebsgeschwür im Endstadium
Welche Vorsorge ist möglich?
9. Kapitel: Die unterschiedlichen Wirkungen des zivilen Widerstands
Überleben in einer »unabhängigen« Gesellschaft
Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung
10. Kapitel: Schlussfolgerung: Vom Phänomen des Widerstands
Die beiden Dimensionen
Bruch, Bewahrung und Schöpfung
Welche Rolle für welche Erinnerung?
Anhang
Methodologische Elemente
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Abkürzungen
Liste der untersuchten historischen Beispiele
Personenregister
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Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa [1. ed.]
 9783835339088, 9783835346369

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Jacques Semelin Ohne Waffen gegen Hitler

Jacques Semelin Ohne Waffen gegen Hitler Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa Aus dem Französischen übersetzt von Ralf Vandamme

Bibliografische Information der deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titel der Originalausgabe: Sans armes faces à Hitler. La résistance civile en Europe 1939-1943, © Éditions Payot, Paris, 1989. © dieser Ausgabe Editions Les Arènes, Paris, 2013. © der deutschen Ausgabe: Wallstein Verlag, Göttingen 2021 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf, © SG Image, unter Verwendung einer Fotografie »Verweigerung des Hitlergrußes, 1936, © Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl. ISBN (Print) 978-3-8353-3908-8 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4636-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Einleitung: Ein neues Verständnis von »Widerstand« . . . . . . 13 1. Kapitel: Die Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die außenpolitischen Interessen Nazi-Deutschlands . . . . . . Die wichtigsten Herrschaftsformen . . . . . . . . . . . . . . Die politischen Formen der Zusammenarbeit . . . . . . . . . Mechanismus der staatlichen Zusammenarbeit: ein Vergleich zwischen Dänemark und Frankreich . . . . . . .

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2. Kapitel: Welcher Widerstand? Versuch einer Typologie . . . 41 Welche »Geschichte« des »Widerstands«? . . . . . . . . . . . 43 Ziviler Widerstand: eine Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Kapitel: Das Geheimnis der Verweigerung der Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Die Komplexität der Verhaltensweisen gegenüber dem Besatzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Die zunehmende Radikalisierung der Beziehung Besatzer-Besetzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Kapitel: Das Problem der Legitimität . . . . . . . . . . . . Die Standhaftigkeit des norwegischen Staates . . . . . . . . . Die Veräußerung des französischen Staates . . . . . . . . . . Die Widersprüche des niederländischen Staates . . . . . . . . Die zwei politischen Logiken des Widerstands . . . . . . . .

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inhalt

5.

Kapitel: Die Quellen des sozialen Zusammenhalts . . . . Innere Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußere Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Gesetz der »Reaktivität« . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.

Kapitel: Die Rolle der öffentlichen Meinung . . . . . . . . Von der öffentlichen Meinung zum Widerstand . . . . . . . Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft . . Die politischen »Schutzwälle« der Gesellschaft . . . . . . . . Die Theorie der drei »Kreise« . . . . . . . . . . . . . . . . .

7.

Kapitel: Der zivile Widerstand und die Repression . . . . Die provozierte Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die eingedämmte Repression . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitere Faktoren der Verwundbarkeit . . . . . . . . . . . .

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8.

Kapitel: Der zivile Widerstand und der Genozid . . . . . Die Strategie, Opfer zu schaffen . . . . . . . . . . . . . . . Der Staat als Schutzschild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die öffentliche Meinung als Schutzschild . . . . . . . . . . Das soziale Netz als Schutzschild . . . . . . . . . . . . . . . Ein Krebsgeschwür im Endstadium . . . . . . . . . . . . . . Welche Vorsorge ist möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9.

Kapitel: Die unterschiedlichen Wirkungen des zivilen Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Überleben in einer »unabhängigen« Gesellschaft . . . . . . . 228 Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung . . . . . . . . 237

10. Kapitel: Schlussfolgerung: Vom Phänomen des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . Die beiden Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruch, Bewahrung und Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . Welche Rolle für welche Erinnerung? . . . . . . . . . . . . . 6

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inhalt

Anhang Methodologische Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liste der untersuchten historischen Beispiele . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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»In der Geschichte eines Landes gibt es manchmal einen grausamen Moment, in dem man, um das zu retten, was den wahren Sinn der Nation ausmacht, nicht anders kann, als dem Staat den Gehorsam zu verweigern. In Frankreich war dieser Moment nach dem Juni 1940 gekommen.« Robert O. Paxton »Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Katholiken holten, habe ich nicht protestiert, ich war ja kein Katholik. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.« Martin Niemöller

Vorwort

Welche Ehre, dieses Buch im Anschluss an die Übersetzung von La Survie des juifs en France 1940-19441 erneut auf Deutsch erscheinen zu sehen. Es ist ein Glücksfall, dass beide Werke von demselben Verlag publiziert werden und auf diese Weise die Kontinuität meiner Arbeit kenntlich wird. Dem Wallstein Verlag sei dafür herzlich gedankt. Zwischen den beiden Büchern liegen 29 Jahre. In dieser Zeit habe ich mich vor allem der Analyse der Massenverbrechen im 20. Jahrhundert gewidmet. Gestützt auf meine Ausbildung als Politologe, Historiker und Psychologe sowie vor allem konzentriert auf den Holocaust und die ­Fälle in Ruanda und Bosnien, habe ich versucht, mich an den Prozess heranzutasten, in dem gewöhnliche Menschen anfangen, Massaker zu be­ gehen. Ein weiteres Buch, das daraus resultierte, ist ebenfalls auf Deutsch erschienen.2 Aber während ich die Monstrosität der Barbarei intensiv erforschte, habe ich niemals mein vorrangiges Interesse an der anderen Seite des menschlichen Verhaltens verloren: der des Widerstands, den Männer und Frauen mit bloßen Händen in autoritären oder sogar totalitären Regimen leisten. Aus dieser Perspektive interessierte es mich besonders, Formen der Hilfeleistung für die jüdischen Opfer der Verfolgung und des Genozids zu untersuchen – daher meine Verbundenheit unter an­ derem mit Orten wie Chambon-sur-Lignon und Dieulefit, Dörfern im ländlichen Frankreich, in denen man jüdische Kinder vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet hat. Ich habe dieses Buch 1987 /88 in Harvard im Anschluss an meine Doktor­arbeit über den zivilen Widerstand geschrieben, die ich 1986 an der Sorbonne verteidigt hatte. Parallel zu Arbeiten über den bewaffneten Widerstand zielte die Dissertation darauf, einen anderen Widerstands­ ansatz ans Licht zu bringen, der sich in kleinen anonymen Gesten des Protestes und symbolischen Handlungen ausdrückt. Daher richtete ich mein Augenmerk auf die kleinstmögliche Abweichung in einer Diktatur: die Nonkonformität. Das Titelblatt mit dem unglaublichen Foto, das 1936 bei Hitlers Besuch einer Werft in Hamburg aufgenommen wurde, legt davon Zeugnis ab. Aber noch intensiver habe ich die kollektiven Formen des Widerstands ohne Waffen erforscht – Kundgebungen, Streiks und andere illegale Aktionen –, die durch ihre ruhige und 9

Vor wort

e­ntschlossene Kraft überraschen. Wahrscheinlich könnte man hier auf den schönen deutschen Ausdruck »Zivilcourage« verweisen. Aber das Konzept des zivilen Widerstands reicht weiter und ist radikaler. Es be­ inhaltet sogar das Abgleiten in die Illegalität, in den zivilen Ungehorsam –ein Ausdruck, der heute in den Medien gängiger ist. Das Korpus meiner Dissertation besteht aus rund dreißig Beispielen des zivilen Massen­ widerstands, die im nationalsozialistisch beherrschten Europa auftraten, darunter die kaum bekannte Bewegung der Bildungseinrichtungen im polnischen Untergrund, die Streiks der Bergleute in Nordfrankreich oder in Belgien, der Widerstand der holländischen Ärzte und der norwe­gischen Lehrer gegen die Nazifizierung ihres Berufsstands; nicht zu vergessen der massenhafte zivile Ungehorsam gegenüber dem Pflicht­arbeitsdienst STO, die Proteste der Kirchen und die verschiedenen Hilfsnetzwerke für die verfolgten und mit dem Tod bedrohten Juden. Von Beginn an war es die Absicht dieser Forschung, die Aktionen zur Rettung von Juden als eine Form des Widerstands gegen den Nazismus zu definieren. Das ist der zweite Schwerpunkt der Arbeit. Heute erschiene dieser Ansatz selbstverständlich, nicht aber Mitte der 1980er Jahre. Damals interessierten sich die Holocaust-Forscher nicht für diese Frage. Sie waren von Kontroversen über die ideologischen Ursprünge der »End­ lösung« absorbiert und schieden sich in Intentionalisten und Funktionalisten. Sie bemühten sich kaum zu verstehen, warum, wie Raul Hilberg betont hat, die Nationalsozialisten in mehreren Ländern manchmal auf Hindernisse prallten. Das war es, was mich aufhorchen ließ, und des­ wegen wollte ich daraus in diesem Buch ein eigenes Kapitel machen. Ich erinnere mich, dass seine Ausarbeitung mir einige Nüsse zu knacken gab. Wenn ich es heute wieder lese, habe ich das Gefühl, dass dieses Kapitel kaum gealtert ist und der Leser darin Verbindungen entdecken könnte, die mich dreißig Jahre später zu der Frage führten, warum und wie 75 % der Juden in Frankreich den Holocaust überlebt haben. Seit den 2000er Jahren haben sich die Publikationen über den zivilen Widerstand vervielfacht. Eines der innovativsten Bücher ist das von Erika Chenoweth und Maria J. Stephan, Why Civil Resistance Works,3 das in den USA mit mehreren politikwissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet wurde. Solche Forschungsarbeiten können sich auf viele andere Kämpfe außerhalb des Zweiten Weltkriegs stützen. Zu denken ist ins­ besondere an die vergessene Bewegung der »Peoples Power Revolution« auf den Philippinen, die den Sturz des Diktators Marko im Jahr 1986 bewirkte, also schon vor den sanften Revolutionen in Zentraleuropa, die zum Fall der Mauer in Berlin führten. Daran reihten sich die serbische 10

Vor wort

Bewegung »Otpor«, die im Jahr 2000 den Rücktritt von Slobodan Milošević ver­ursachte, und die »Orangene Revolution« in der Ukraine im Jahr 2004. Es folgten der »Arabische Frühling« Anfang der 2010er Jahre und erst kürzlich die Bewegungen im Sudan, in Armenien, in Chile, im Libanon, in Hongkong, in Algerien und nicht zu vergessen in Weißrussland. Die Liste ist lang und bezeugt das tiefe Freiheitsstreben von Völkern, die autoritären Mächten unterworfen sind. Frauen nehmen dabei häufig eine herausgehobene Rolle ein. Allerdings ist das Scheitern dieser Widerstände ohne Waffen zahlreich und tragisch. Wie könnte das verwundern? Der zivile Widerstand als Macht der Machtlosen (Václav Havel) endet viel zu oft mit Blut­vergießen und mit dem Sieg der Tyrannei. Aber nicht immer. Das ist es, worüber nachzudenken sich lohnt. Diese Formen des Kampfes können tatsächlich einen gewissen Erfolg erzielen, zur Überraschung von Strategie-Experten. Die Auffassung Basil Liddel Harts, des großen britischen Historikers des Zweiten Weltkriegs, ­ atte, ist besonders erhellend. Als er in den 1950er Jahren die Möglichkeit h deutsche Generäle in Gefangenschaft zu interviewen, bemerkte er, dass die zivilen Widerstandsformen sie aus dem Konzept brachten, umso mehr, je subtiler und undurchsichtiger die angewandten Methoden waren. »Sie atmeten auf, als der Widerstand gewaltsam wurde und ­ ­gewaltlose mit Partisanenaktionen einhergingen, erleichterte ihnen dies doch die Einleitung drastischer Unterdrückungsaktionen gegen beide zur gleichen Zeit.«4 Was geschieht also, wenn solche Sandkörner die Maschinerie der Repression durcheinanderbringen? Ausgehend von jener Bemerkung Basil Liddel Harts habe ich versucht, die Möglichkeiten und Grenzen des ­zivilen Widerstands unter den schlimmsten Umständen des 20. Jahrhunderts einzuschätzen: im nationalsozialistisch beherrschten Europa. Deswegen hoffe ich, dass Ohne Waffen gegen Hitler jenseits seines Beitrags zur Geschichtswissenschaft helfen kann, auch andere Beispiele des Wider­stands dieser Art zu verstehen – neuere und zukünftige. Das Vorwort für die vorliegende Neuausgabe im Jahr 2021 übersetzte Susanne Wittek.

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Danksagung

Während der gesamten Dauer dieser Studie wurde ich von den Forschern des Instituts d’histoire du present (CNRS) unterstützt. Mein besonderer Dank gilt Jean-Pierre Azéma, Claude Lévy, Henry Rousso und Dominique Veillon, die bereitwillig auf meine zahlreichen Fragen antworteten und einen oder alle Teile meines Manuskriptes gelesen haben. Daneben hatte ich das Glück, von Gene Sharp und Christopher Kruegler in das Center for International Affaires (Program on Non Violent Sanctions) der Harvard-Universität eingeladen zu werden. Der Aufenthalt in Harvard ermöglichte mir, meine Studie zu vertiefen, und bot mir beste ­Voraussetzungen, die vorliegende Studie zu überarbeiten. Es sei mir schließlich erlaubt, den Professoren Jean-Paul Charnay und Stanley Hoffmann (Direktor des Center for European Studies in Harvard) zu danken, die mir mit ihrem Rat geholfen haben, meine Analysen zu vertiefen.

Einleitung Ein neues Verständnis von »Widerstand«

Im allgemeinen Verständnis ist der Widerstand gegen den Nationalsozia­ lismus vor allem durch aufständige Gewalt gekennzeichnet. Es existierte aber auch ein Widerstand ohne Waffen. In der vorliegenden Arbeit geht es darum, die wichtigsten Fälle unbewaffneter Opposition gegen den Nationalsozialismus darzustellen, an denen Tausende, wenn nicht Zehntausende beteiligt waren. Es handelt sich dabei insbesondere um Streiks, Demonstrationen, Proteste von Kirchen, Justizorganen, medizinischen, kulturellen und pädagogischen Einrichtungen wie auch um Bewegungen zur Verweigerung des Zwangsarbeitsdienstes. Darunter fallen natürlich auch die wichtigsten Aktionen zur Unterstützung und zur Rettung von Juden, was, bedingt durch die Einzigartigkeit des Genozids, gesondert behandelt wird. Fälle solchen Widerstands gab es in Frankreich, Belgien, Luxemburg, in den Niederlanden, Dänemark, Norwegen, aber auch in Polen, der Tschechoslowakei und in Bulgarien. Dieses Buch, das keine Vollständigkeit beansprucht, vereinigt zahlreiche Zeugnisse dieser besonderen Formen des Widerstands, die von der Öffentlichkeit häufig verkannt werden und über die nur wenige Arbeiten in französischer Sprache erschienen sind.1 Die vorliegende Studie entstand nicht allein aus historischem Interesse, sondern auch aus der tiefergehenden, ethisch und strategisch motivierten Frage nach den Möglichkeiten einer Gesellschaft, Aggressionen (seitens einer militärischen Besatzung oder einer totalitären Macht) auch ohne Waffen Widerstand entgegenbringen zu können. Seit mehreren Jahren führten mich diese Fragen dazu, die Bedingungen für die Effizienz der sogenannten gewaltfreien Aktion gegenüber tyrannischer Unterdrückung zu untersuchen. So hatte ich die Möglichkeit, diese Studie im Gespräch mit hochrangingen Militärs zu vertiefen, wie etwa im Rahmen der Fondation pur les études de défense nationale (FEDN)2, des Secrétariat ­général de la défense nationale (SGDN)3 und der Êcole de guerre4. Als ein Ergebnis dieser Reflexionen ist bereits eine Arbeit über den Begriff der »zivilen Abschreckung« in Ergänzung zur militärischen Verteidigung Frankreichs entstanden. (Mellon / Muller / Semelin 1985) Die vorliegende Arbeit steht ganz in der oben angedeuteten Forschungslinie. Mir ging es darum, verschiedene Hypothesen bezüglich der 13

Einleitung

»gewaltfreien Aktion« auf dem für sie ungünstigsten Feld zu »über­ prüfen«: dem der extremen Brutalität des Nationalsozialismus, einer der schrecklichsten Formen der Gewalt in der Geschichte der Menschheit. Daher vertiefte ich mich in eine historische Arbeit, die eine dreifache Zielsetzung hat. Zuerst geht es mir um eine allgemeine Interpretation der untersuchten Phänomene mithilfe des Begriffs ziviler Widerstand. Der Begriff »gewaltfreie Aktion« scheint im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg nicht zutreffend zu sein. Eines der fundamentalen Merkmale des Widerstands gegen den Nationalsozialismus lag in seiner Verflechtung von Mitteln des bewaffneten mit solchen des unbewaffneten Kampfes, wobei der unbewaffnete Widerstand in den meisten Fällen lediglich in Ermangelung besserer Mittel – d. h. in Ermangelung von Waffen – ­angewandt wurde, die für diejenigen, die es wagten, sich der deutschen Herrschaft zu widersetzen, weiterhin als das ultimative Mittel galten. Aus dieser Erwägung heraus suchte ich nach einem adäquateren und neutraleren Begriff als »gewaltfreie Aktion«; dieser sollte besser jenen Fällen vorbehalten bleiben, in denen ein ausdrücklicher Bezug zu einer Philosophie oder Strategie der Gewaltfreiheit existiert. Ich schlage daher den Begriff »ziviler Widerstand« vor, definiert als die spontane und unbewaffnete Kampfhandlung einer Zivilgesellschaft – sei es durch die Mobilisierung ihrer wichtigsten Institutionen, ihrer Bevölkerung oder aber beider zugleich. Daran zeigt sich, dass es nicht ausreicht, den zivilen Widerstand über seine Mittel zu definieren. Denn wo während der deutschen Besatzung Einzelpersonen oder Gruppen tatsächlich in friedlicher Form agierten, stand dies zumeist doch im Dienste von Kriegszielen oder von paramilitärischen Gefechten (darunter fallen zum Beispiel Kundschafterdienste, die Unterstützung der Bevölkerung oder auch die maquis usw.). Diese in Verbindung mit dem bewaffneten Kampf stehenden Aktionen des zivilen Widerstands verdienten wohl eine eigene Unter­ suchung, sie bilden aber nicht den eigentlichen Gegenstand der vor­ liegenden Arbeit. Vielmehr widme ich mich hier der Betrachtung von »autonomen« Aktionen des zivilen Widerstands, d. h. von Aktionen, die tatsächlich an »zivilen« Zielen ausgerichtet waren. Darunter kann zum Beispiel die Forderung nach der Unabhängigkeit verschiedener Institu­ tionen von der Kontrolle durch die Besatzungsmacht oder der Schutz verfolgter Personen fallen. Das erklärt, weshalb sich die Arbeit auf die Jahre 1939 bis 1943 konzentriert, während derer die Formen des bewaffneten Widerstands noch wenig entwickelt waren. Das zweite Forschungsziel besteht darin, ein »Analyseraster« aller hier zusammengetragenen Fälle zivilen Widerstands zu erstellen. Es geht 14

Einleitung

­ arum, ein tiefes Verständnis dafür zu erlangen, warum und wie Männer d und Frauen sich auf einen Kampf ohne Waffen gegen einen bis an die Zähne bewaffneten Feind einlassen konnten, dem jeglicher Sinn für Moral abging. Dies führte mich dazu, unterschiedliche komparative Ansätze zu verfolgen. Über Vergleiche lässt sich diskutieren, schon allein deswegen, weil man dabei immer Ereignisse aus ihrem Zusammenhang reißt. Angesichts der großen Unterschiede eines jeden besetzten Landes bezüglich Geschichte und Status während der Besatzungszeit läuft man immer Gefahr, zu stark verallgemeinernde Aussagen zu treffen, die nur schlecht die Besonderheiten der einzelnen Fälle wiederzugeben in der Lage sind. Ich hoffe jedoch, die Aussagekraft von Schlüsselbegriffen wie »Legitimität«, »sozialer Zusammenhalt« und »öffentliche Meinung«, die dieser Arbeit zugrunde liegen, verdeutlichen zu können. Durch sie ­werden die Bedingungen für den Kampf ohne Waffen verständlicher. Zugleich hoffe ich, damit einen neuen Blick auf den »Widerstand« zu ­ermöglichen. Einige der hier vorgestellten Gesichtspunkte, die zum Teil auf die Methoden der Psychologie und der Soziologie zurückgreifen, liefern zudem noch das Handwerkszeug, verschiedene zeitgenössische Formen zivilen Widerstands besser verstehen zu können, etwa in Polen, auf den Philippinen oder in China. In diesem Sinne rekurriert die vorliegende Arbeit eher auf die Geschichtssoziologie und die Politologie als auf die Geschichtswissenschaft im engeren Sinn. Sie trägt damit der von Stanley Hoffmann erhobenen Forderung Rechnung, die den Historiker vor eine schwierige Aufgabe stellt: »Er sollte sich nicht nur in den bereits bekannten Gefilden der Politologen und Soziologen bewegen, sondern auch in den kontrovers diskutierten der Psychologen. Ein volles Programm!« (Hoffmann 1985, 33). Schließlich wirft die vorliegende Studie noch ein allgemeineres Pro­ blem auf: Kann die Zivilgesellschaft an ihrer eigenen Verteidigung teilhaben? Man fragt heute vermehrt nach der Art und Weise, in der eine Bevölkerung direkt oder indirekt einen Beitrag zu ihrer eigenen Sicherheit leisten kann. Die Prüfung, welcher der zivile Widerstand unter der deutschen Besatzung in Europa ausgesetzt war, ist in dieser Hinsicht außerordentlich aufschlussreich. Der Widerstand war nur selten offen gegen die Besatzungsstreitkräfte gerichtet. Er besaß nicht die Mittel, sie aus den eroberten Gebieten zu vertreiben. Das Ziel dieses spontanen Kampfes bestand daher vor allem darin, die gemeinsame Identität der angegriffenen Gesellschaften zu erhalten, oder mit anderen Worten die sie konstituierenden Werte. Der zivile Widerstand nahm oftmals den Kampf gegen den Besatzer und seine Helfer auf, um damit seine eigene, 15

Einleitung

rebellische Legitimität gegen die Besatzungsmacht zu behaupten, eine Legitimität, die zunehmend von der Gesamtheit der bewaffneten und unbewaffneten Kräfte des Widerstands verkörpert wurde. »Für uns«, so schrieb ein französischer Widerstandskämpfer, »bezeichnete das Wort ›Résistance‹ ab einem bestimmten Moment unser Schicksal: freiwillig in der Verteidigung jener Werte engagiert zu sein, die wir für nicht hinterfragbar hielten.« (Vistel 1955, 63) Der zivile Widerstand war ein hervorragendes Mittel, um die Kluft zwischen dem faktischen Zustand der militärischen Herrschaft und dem geistigen Zustand der politischen ­ Unter­werfung zu vertiefen. Denn je weniger eine Gesellschaft sich unter­ drückt fühlt, desto weniger ist sie unter Kontrolle zu halten. Ein Besatzer, der in dieser Situation seine Macht behauptet, wird zwangsläufig seine Autorität verlieren. Dies verdeutlicht, in welchem Ausmaß der zivile Widerstand vor allem aus dem Zusammenstoß zweier Willenskräfte bestand und damit vor allem einen Kampf um Werte darstellte. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich Fragen von nicht zu leugnender Aktualität: Was haben wir heute zu verteidigen? Wie begründet sich unsere heutige kollektive Identität? Welches sind die Werte, die es verdienen, im Falle einer die Sicherheit und Integrität unserer Gesellschaften bedrohenden Krise verteidigt zu werden? Das Anliegen dieses Buches ist es, einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu leisten.

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1. Kapitel Die Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa

Am Ende des Jahres 1942 befand sich nahezu das gesamte Kontinentaleuropa unter deutscher Kontrolle. Von der Spitze der Bretagne bis zu den Gipfeln des Kaukasus, von den arktischen Ausläufern Norwegens bis an die Küsten des Mittelmeers reichte die Herrschaft Berlins. Innerhalb von drei Jahren hatte sich Nazi-Deutschland ein »Reich« geschaffen, das es tausend Jahre errichtet zu haben wähnte. Eine »neue Ordnung« war entstanden, und gelegentlich konnte man hören, es handele sich um so etwas wie die »Vereinigten Staaten von Europa«. Auf einer 1941 in Prag abgehaltenen Konferenz erklärte der Direktor der deutschen Presse, Otto Dietrich, dass diese »neue Ordnung nicht auf dem Prinzip der Privile­gien der einen oder der anderen Nation« gegründet sei, »sondern auf dem der Chancengleichheit für alle«. Zugleich versprach er »eine Zuordnung der Nationen nach deren rassischer Zusammensetzung, sodass sie ein organisches Ganzes formen« (Dietrich 1941, 26). Ebenfalls 1941 trafen sich die Repräsentanten der Mitgliedstaaten des antikommunistischen Pakts, des sogenannten Antikominternpakts, zu einem »Ersten Europäischen Kongreß«. Aus diesem Anlass war sogar ein »Lied Europas« verfasst ­worden. Es versteht sich von selbst, dass die Idee fortan gleichrangiger und gemeinsam für den Auf bau ihrer Zukunft tätiger Nationen nichts als reine Propaganda war, denn die nationalsozialistische Repression war allgegenwärtig. Große Bewunderer Deutschlands, wie z. B. der Kollaborateur Pierre Drieu la Rochelle, ließen sich davon nicht beirren: Nur Deutschland kann die Vorherrschaft in Europa bewahren. Es befindet sich im Zentrum Europas, hat doppelt so viele Einwohner wie jede andere Nation und kann, ist es einig, alle strategisch wichtigen Punkte in Besitz nehmen und verteidigen. Vor allem aber vereinigt es in einer Hand die größten Ressourcen der Welt an Material, Organisation und Geist. (zit. n. Ory 1977, 97 f.) Doch dann kamen Stalingrad und die ungeheure Schlagkraft der US amerikanischen Kriegsmaschinerie. Wer wüsste zu sagen, was aus Europa ohne die unerbittliche Entschlossenheit Englands geworden wäre, die 17

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

Schlacht an seinen Küsten bis 1941 und bis zum Kriegseintritt der Ver­ einigten Staaten allein weiterzuführen? Es ist sicher schwierig, hierauf zu antworten, um so mehr, als die deutschen Vorstellungen in Bezug auf Europa nicht wirklich klar waren. Zahlreiche Autoren weisen darauf hin, dass Berlin anscheinend niemals ernst zu nehmende Pläne ausgearbeitet hatte, wie eine europäische Ordnung in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht aufzubauen gewesen wäre. Trotzdem vermittelt das Auftreten Deutschlands gegenüber den eroberten Völkern eine Vorstellung davon, was diese im Falle eines deutschen Siegers zu erwarten gehabt hätten.

Die außenpolitischen Interessen Nazi-Deutschlands Vergegenwärtigen wir uns die großen Linien der deutschen Außenpolitik gegenüber den europäischen Nationen. Dazu ist es nicht unbedingt notwendig, den genauen Ablauf der militärischen Auseinandersetzungen oder den aktuellen Stand der immer noch fortdauernden Debatte um das wahre Erscheinungsbild des Nationalsozialismus zu kennen.1 Ausschlaggebend für die vorliegende Studie, die die Rolle der verschiedenen Widerstandsformen gegen die Besatzungsmacht zu klären versucht, ist, welche Ziele die Nationalsozialisten in den besetzten Ländern hatten. Was also wollte Adolf Hitler, der neue Herrscher über Europa? Man weiß heute, dass der Nazi-Staat kein monolithischer Block war, sondern ein recht chaotisches System, in dem Entscheidungen über die wichtigsten Fragen oft Ergebnis der verschiedensten Einflüsse waren, ohne dass es zwingend klare Pläne oder Befehle der Führung gegeben hätte. Nicht weniger sicher aber ist, dass der Chef des Dritten Reichs stets die Oberhand über jene beiden Bereiche behielt, die ihn am meisten interessierten: die Kriegsführung und die Außenpolitik. Seine Vorstellungen von den politischen und wirtschaftlichen Grundlagen seines Imperiums scheint er dagegen niemals präzisiert zu haben. Zu sehr war seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet, den selbst ausgelösten Krieg zu gewinnen. Fragen nach dem Aufbau des neuen Europas standen auf einem anderen Blatt. »Das unmittelbare Ziel Hitlers«, schreibt Gordon Wright, »war der Sieg der Waffen, nicht die Neuorganisation Europas nach einem zuvor ausgearbeiteten Plan.« (Wright 1971, 98) In den besetzten Ländern selbst galt Hitlers Hauptsorge daher vor allem Maßnahmen zur Erhaltung von »Sicherheit und Ordnung« sowie pragmatischen Anweisungen für eine Besatzung, die den Kriegsbetrieb möglichst ungehindert weiterlaufen 18

Die außenpolitischen Interessen Nazi-Deutschlands

lassen sollte. Dabei baute er gegebenenfalls auch auf die Mithilfe der örtlichen Verwaltungen – sei es zur Fortführung der zivilen Wirtschaft oder zur Unterdrückung eventueller Oppositionsbewegungen. Zunächst einmal sollte der Krieg gewonnen werden – danach wäre immer noch Zeit, die Früchte der Eroberungen zu ernten … Beruhte die eingeschlagene Richtung nun auf einer reiflich überlegten Taktik, die von Hitler eingeschlagen worden war, um seine Nachkriegspläne zu verschleiern – oder war sie lediglich die Folge seiner Leidenschaft für militärische Strategie? Ohne Zweifel enthielt sie von beidem etwas. Doch das Bild, das von Hitler bestehen bleibt, ist zunächst einmal das eines mit unleugbaren Talenten begabten Kriegsherrn; mehr jedenfalls als das eines vorausschauenden Verwalters seiner Eroberungen. Er wusste die richtigen Entscheidungen zu treffen, um abermals eine deutsche Armee aufzubauen und sie mit modernster Technik zu versehen. Er verstand es, von seinen Gegnern die schrecklichsten Bilder zu zeichnen und sein Volk und seine Soldaten mit der Anziehungskraft seiner Stimme in Bann zu schlagen. Hinzu kam ein hohes Maß an Vorausschau und Improvisationsvermögen in strategischen Fragen, das ihn zu schnellen militärischen Siegen führte. In diesem Zusammenhang wies Arnold Toynbee (1954) darauf hin, dass sich bei Hitler der Wille zur Macht vor allem in einem Willen zur Eroberung ausgedrückt und er die Kriegsziele folglich flexibel gestaltet habe. Heute ist die Ansicht weitverbreitet, dass Mein Kampf trotz seiner Phrasenhaftigkeit Gebietsansprüche und einen verbindlichen Aktionsrahmen festgelegt habe, von denen der spätere Führer niemals abgerückt sei. So beanspruchte Hitler in Mein Kampf für Deutschland eine Ausbreitung gen Osten, vor allem in Richtung Ukraine und Baltikum, ja womöglich sogar noch darüber hinaus. Hitler betonte darin die Notwendigkeit, die militärische Macht Frankreichs zu brechen, ohne jedoch von einem Wunsch nach territorialer Ausdehnung in Richtung Westen zu sprechen. Anscheinend lag ihm nicht daran, die Herausforderung der ­Marine- und Kolonialmacht England anzunehmen. Nach seiner Vorstellung würde das Reich vielmehr durch die Herrschaft über das potenzielle Kolonialgebiet Osteuropa zu einer Weltmacht werden. Das eigentlich Bestürzende an diesem Text – wie an zahlreichen anderen Erklärungen – ist jedoch der Raum, der darin den rassischen Fragen eingeräumt wird. Hierin liegt ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der nationalsozialistischen Politik auf nationaler und internationaler Ebene. Rassische Betrachtungen nahmen in der Außenpolitik eine zentrale Rolle ein und gaben die großen Linien vor. Grundlage hierfür bildete die 19

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

hafte Vision einer aus der »Herrenrasse« des »arischen Volkes« hervor­ gegangenen deutschen Nation. In seiner Eigenschaft als von Natur aus zur Herrschaft bestimmtem Volk brauche es einen entsprechenden Lebens­raum, wie die rituelle Vokabel der Nazis lautete. Und im Geiste Hitlers sollte Osteuropa dieses Land der Vorsehung, diesen Lebensraum, darstellen. Das bedeutete nichts anderes, als dass dieser Raum »kolo­ nisiert« werden müsse, wie es die Nationalsozialisten selbst nannten, das heißt, seine Bevölkerung müsse vertrieben und das Gebiet anschließend »germanisiert« werden. So wurde ab 1935 innerhalb der SS ein Büro für »Rasse und Besiedlung« geführt, dem Hitler im Oktober 1939 ein »Staatskommissariat zur Festigung des Germanentums« unter dem Vorsitz Himmlers beigab. Dieses Büro hatte die Aufgabe, die eroberten Gebiete zu »reinigen«, um sie anschließend »wiederzubevölkern«. Diese »Germanisierung« wurde nicht in traditionellem Sinn verstanden, wonach der Kolonisator dem Kolonisierten seine Kultur aufzwingt. »Unsere Aufgabe im Osten«, sagte Himmler 1942, besteht nicht darin, im alten Sinne des Wortes zu germanisieren, das heißt der Bevölkerung die deutsche Sprache und Gesetze aufzuerlegen, sondern durchzusetzen, dass der Osten ausschließlich von Personen mit reinem germanischen Blut bewohnt wird. (zit. n. Dallin 1957, 279) Einige Völker, die wie die skandinavischen von den Deutschen als ­rassisch verwandt angesehen wurden, blieben von dieser Art der Kolo­ nisierung verschont. Was sie betrifft, ging es vornehmlich darum, eine »Rückerziehung« durchzusetzen. Andere jedoch, darunter vor allem das russische Volk, hielt man für zur Knechtschaft berufen. In diesem Zusammenhang wurde 1941, zeitlich mit dem Angriff auf die Sowjetunion, eine Propagandakampagne mit der Absicht begonnen, die Bewohner Osteuropas als Untermenschen abzuqualifizieren – ein Wort, das bis dahin wenig gebraucht worden war. Eine weitere grundlegende Vorstellung des nationalsozialistischen Rassismus – ebenso zwang- und wahnhaft wie die erste – war die »Ver­ seuchung« Europas durch das »internationale Judentum«. Für alle Übel des im Ersten Weltkrieg besiegten Deutschlands wurden die Juden als die Verantwortlichen präsentiert. Die nazistische Propaganda entwickelte eigens zu diesem Zweck tierhafte Darstellungen und forderte, jede Beziehung mit diesen gefährlichen und ansteckenden Wesen abzubrechen. Vor dem Krieg hatten sich die nationalsozialistischen Autoritäten damit begnügt, die Juden zu ächten und auszugrenzen. Zwar hatte Hitler schon im Januar 1939 im Reichstag erklärt, dass, »wenn es dem internationalen 20

Die außenpolitischen Interessen Nazi-Deutschlands

Finanzjudentum […] gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann würde das Ergebnis […] die Vernichtung der er jüdischen Rasse in ­Europa [sein]« (zit. n. Wright 1971, 113), doch war diese Erklärung nur von wenigen Beobachtern ernst genommen worden. Im Verlauf des Krieges sollte sich diese öffentlich verbreitete Drohung allerdings bewahrheiten. Die systematische Vernichtung der Juden begann im Osten mit dem Russlandfeldzug, gegen Ende Juli 1941. Bereits im Januar 1942 plante eine Ministerkonferenz im Berliner Stadtteil Wannsee die Vernichtung der Juden in anderen, vornehmlich westeuropäischen Ländern. Schon im Herbst 1941 hatten Sonderheiten, die hinter der Armee ­Richtung Moskau marschierten, Massenerschießungen mit gewehren durchgeführt. Ende 1941 wurden in Chelmno Maschinen­ (Polen) Gaskammern errichtet und mit dem Bau von Vernichtungs­ lagern in Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka begonnen. 1942 wurde das Konzentrationslager Auschwitz zum Vernichtungslager umfunktioniert. Menschliche Barbarei hat schon viele Kriege begleitet. Doch nach diesem Krieg verspürte man das Bedürfnis, ein neues Wort zu prägen; ein Wort, das ebenso neu ein sollte, wie das Phänomen, das es betrifft – den Genozid.2 Von verschiedener Seite wird dieses Bemühen, der Vernichtung der europäischen Juden einen besonderen Rang zuzusprechen, kritisiert. Denn tatsächlich sind auch andere Menschen in den Lagern der Nazis umgekommen: Zigeuner, Homosexuelle, Slawen – Menschen aller Nationalitäten. Die Basis dieses Vernichtungsprozesses jedoch, das, was ihm seine Antriebskraft gegeben hat, war der nationalsozialistische Antisemitismus. Der grundlegende Charakterzug des Nationalsozialismus, sein Charakter sui generis, liegt in der Planung der industriell betriebenen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Für die Beurteilung der nationalsozialistischen Politik gegenüber den unter ihren Einfluss gefallenen Nationen muss der Genozid daher eine zentrale Stellung einnehmen. Doch auch der Krieg übte politische und ökonomische Zwänge aus und erforderte eine maximale Ausbeutung der industriellen Ressourcen der besetzten Länder, um die deutsche Produktion mit derjenigen der Alliierten mithalten zu lassen. Die Deutschen betrieben daher auf europäischem Niveau die von ihnen so genannte Großraumwirtschaft. Theoretisch hatten sie zwei Möglichkeiten: entweder die besetzten Länder ihrer Rohstoffe und produzierten Nahrungsmittel zu berauben, um diese nach Deutschland zu transportieren – oder aber die Bevölkerung in den besetzten Ländern für den deutschen Krieg arbeiten zu lassen. In 21

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

der Praxis wurden beide Möglichkeiten miteinander verknüpft, wobei die erste stärkere Anwendung fand. Diese Politik äußerte sich vor allem in der erzwungenen Umsiedlung von Millionen von Arbeitern nach Deutschland, vornehmlich im Rahmen des obligatorischen Arbeits­ dienstes (AD). Wenn die Methoden auch je nach Nation verschieden waren, so waren sie im Osten sicherlich am grausamsten. Doch ihr Ziel war überall das gleiche: Plünderung, Verschickung von Rohstoffen, von Nahrungsmitteln und industriellen Ausrüstungen nach Deutschland, Beschlagnahme von Gütern (vor allem jüdischer Eigentümer), Kontrolle der Geldinstitute. Kurz, alle erdenklichen Techniken wurden angewandt, um jeglichen Warenverkehr Deutschland zugute kommen zu lassen.

Die wichtigsten Herrschaftsformen Das Fehlen eines umfassenden Konzeptes lässt sich auch auf der politi­ schen Ebene beobachten. Die militärischen Siege wurden zwar schnell errungen, sie wurden aber nicht von internen Maßnahmen zu ihrer Erhaltung begleitet. Die Improvisation Hitlers, die gleichsam »Schlag auf Schlag« vorging, machte aus dem nationalsozialistischen Europa ein uneinheitliches Gefüge. Versucht man trotzdem, die Struktur dieses politischen Mosaiks zu analysieren, so ist es nach Gordon Wright möglich, unter Auslassung der neutralen Staaten (Portugal, Spanien, Irland, Schweiz, Schweden, Türkei und Vatikanstaat), vier Grundformen der Nazi-Herrschaft in Europa zu unterscheiden (siehe die Karte auf der folgenden Seite). Ich benutze bewusst das Wort »Herrschaft« anstelle von »Besatzung«, da bestimmte Nationen unter dem Einfluss Berlins standen, ohne tatsächlich militärisch von den deutschen Armeen besetzt gewesen zu sein. Die erste dieser Grundformen ist die Annexion, die allerdings nur selten vorkam. Das wichtigste Beispiel hierfür war der westliche Teil Polens, der alte Danziger Korridor. Dieses Gebiet wurde in zwei neue deutsche Provinzen geteilt, in das Wartheland und in WestpreußenDanzig. Das polnische Schlesien wurde dem deutschen Schlesien an­ geschlossen, und Ostpreußen erhielt einige zusätzliche Teile des polnischen Territoriums. 1940, nach dem Frankreichfeldzug, nahm Deutsch­land Belgien zwei kleinere Distrikte (Eupen und Malmédy) weg, die ihm durch den Versailler Vertrag aberkannt worden waren. Desgleichen verfügte Berlin ein Annexions-Statut über das Großherzogtum Luxemburg, das Elsass und weite Teile Lothringens. 1941, nach dem Fall Jugoslawiens, 22

Die wichtigsten Herrschaftsformen

Karte nach Wright 1971

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Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

eignete sich Deutschland zwei Drittel Sloweniens an und dehnte seine Grenzen bis zur Adria aus. Nach dem Ausbruch des Krieges gegen die Sowjetunion fiel der ehemals unter sowjetischer Kontrolle stehende Teil Polens (ein Teil der Ukraine, Litauens und Weißrußlands) automatisch an Deutschland. Zugleich zog Hitler die Möglichkeit weiterer Annexionen in Erwägung. Doch unternahm er weiter nichts in diese Richtung. Zweifellos sollte diese Drohung Eindruck in der Bevölkerung machen, doch es ist auch möglich, dass er tatsächlich noch weitergehende Pläne im Kopf hatte, deren Verwirklichung er sich für den Tag vorbehielt, an dem der Krieg gewonnen wäre. Die zweite Grundform politischer Herrschaft bestand in der wesentlich häufiger angewandten zivilen oder militärischen Direktverwaltung der eroberten Gebiete. Dieser Begriff der »Verwaltung«, wie er in diesem Zusammenhang von verschiedenen Historikern benutzt wird, ist jedoch missverständlich. Er setzt voraus, daß die Besatzungsautoritäten allein die Mittel gehabt hätten, das Land zu verwalten – was jedoch nicht ­zutrifft. Stattdessen befehligten sie unmittelbar die verschiedenen be­ stehenden und mit Beamten des betreffenden Landes besetzten Behörden. Diese zweite Grundform hat daher nicht nur verwaltungstechnische Bedeutung, sondern auch politische. Sie trat in verschiedenen Ländern Europas auf, wenn die Deutschen die besetzten Staaten ohne die nationale politi­sche Führung regierten, unabhängig davon, ob diese nun ­zurückgetreten war oder die Zusammenarbeit verweigerte. So gründete Berlin, nachdem der norwegische König Håkon VII. mitsamt seiner Regierung nach London geflohen war, ein Reichskommissariat unter der Leitung von Joseph Terboven, das die von zahlreichen pronazistischen Sympathisanten durch­setzte norwegische Verwaltung steuerte. Ein ähnliches Beispiel vollzog sich in den Niederlanden nach der Flucht von Königin Wilhelmine und ihrer Regierung. Eine Gruppe von niederländischen Staatssekretären, die, anders als ihre norwegischen Amtskollegen, an Ort und Stelle ge­blieben waren, wurde in der Zwischenzeit durch die Exilregierung an­erkannt. Sie wurde von einem Zivilbeamten, Arthur Seyss-Inquart, einem Nationalsozialisten österreichischer Herkunft, geleitet. Die belgische Regierung dagegen rettete sich zuerst nach Frankreich und dann nach England, womit sie allerdings die Position König Leopolds III. unterlief, der sich in Gefangenschaft begeben hatte. Hohe belgische Funktionäre, die »Generalsekretäre«, verwalteten nun das Land unter der Vormundschaft eines deutschen Militärs, des Generals von Falkenhausen. In Frankreich bildeten zwei Drittel des Gebietes eine sogenannte Besatzungszone, die durch eine deutsche Militärverwaltung 24

Die wichtigsten Herrschaftsformen

regiert wurde. Daneben galten die beiden Départements Nord und ­Pas-de-Calais als strategische Zonen von größter Bedeutung, sowohl vom militärischen als auch vom industriellen Standpunkt aus, sodass sie vom Rest des Landes getrennt wurden und der Militärverwaltung in Brüssel unterstanden. Im Osten unterstand das Gebiet Polens, das weder von Deutschland noch von der Sowjetunion direkt annektiert worden war, einem Militär von finsterem Ruf, dem General Hans Frank. Dieses Territorium erhielt den Namen »Generalgouvernement der besetzten polnischen Gebiete«, 1940 abgekürzt zu »Generalgouvernement«. Der Einmarsch in die Sowjet­union erweiterte den deutschen Verwaltungsraum beträchtlich. Zwei große, von Zivilbeamten geleitete Kommissariate wurden geschaffen: die Ukraine und das Ostland (einschließlich des Baltikums und Weißrußlands). Desgleichen versuchte Berlin noch zwei weitere zu etablieren: Moskowien (das den größten Teil des europäischen Rußlands bis zum Norden der Ukraine umfaßte) und den Kaukasus. Doch weder das eine noch das andere konnte aufgrund des sowjetischen Widerstands Gestalt annehmen. Tatsächlich blieb die deutsche Zivil­ verwaltung in der Sow­jetunion in den Anfängen stecken, da sowohl das Ostland als auch die Ukraine bis zum Ende der deutschen Anwesenheit heftig umkämpfte Gebiete blieben. Die dritte, ebenfalls häufige Grundform der Nazi-Herrschaft bestand in der Schutzherrschaft über die eroberten Nationen unter Erhaltung einer mehr oder weniger scheinbaren Autonomie ihrer Staatsapparate. In diesem Fall führte eine »nationale« Regierung, zusammengesetzt aus anerkannten Politikern und pronazistischen Sympathisanten, scheinbar die Geschäfte des eigenen Landes weiter. Tatsächlich hatte eine solche Regierung nicht nur die Verantwortung für die Zivilverwaltung inne, sondern galt zugleich als die eigentliche politische Instanz des unterworfenen Landes. Zumeist verstanden es die deutschen Besatzer, den direkten Kontakt mit der Bevölkerung zu meiden und statt dessen vermittels einer zur Zusammenarbeit bereiten »nationalen« Regierung zu agieren. Deren Handlungsspielraum war jedoch stark eingeschränkt, denn in ­jedem Fall standen deutsche Truppen in dem betreffenden Land. Hitler hatte diese Vorgehensweise schon vor dem Krieg in der Tschechoslowakei testen können. Nach dem Münchener Abkommen, welches das Ende des ­unabhängigen tschechoslowakischen Staates besiegelte, war dieser von Berlin zweigeteilt worden. Der westliche Teil wurde zum Protektorat »Böhmen und Mähren« umbenannt, dessen Regierung kaum eine Verantwortung zukam. Der östliche Teil dagegen wurde vollständig in einen Vasallensaat unter der Führung des katholischen Prälaten Tiso 25

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

delt, der über eine Armee und eine diplomatische Vertretung innerhalb der Achsenmächte verfügte. In Frankreich dagegen konnte sich Deutschland zu Marschall Pétain beglückwünschen, jener großen nationalen ­Figur und herausragenden Persönlichkeit, die bereit war, im Spiel der Zusammenarbeit mitzumischen. Doch Berlin war vorsichtig genug, die Autorität des Vichy-Regimes auf den südlichen Teil des Landes, die sogenannte freie Zone, zu beschränken. In Dänemark hatte König ­ ­Christian  X . – anders als der norwegische König Håkon VII. – beschlossen, nicht ins Exil zu gehen. Da man von deutscher Seite aus darum bemüht war, eine gewisse demokratische Fassade aufrechtzuerhalten, blieb die dänische Regierung bis zur Krise von 1943 im Amt. Im Süden Europas, im zerstückelten Jugoslawien, entstanden drei verschiedene Typen von Marionettenregierungen. Ein großer neuer Staat Kroatien mit dem kroatischen Faschisten Ante Pavelić an der Spitze und theoretisch unter der Vormundschaft Italiens stehend; ein winzig kleiner Staat ­Serbien, der dem General Milan Nedić, wie Marschall Pétain ein alter Militär, anvertraut wurde, und der kleine Distrikt Montenegro, der durch einen lokalen, profaschistischen Rat gleitet wurde. Und auch Griechenland hatte seine Kollaborationsregierungen, die der deutschen und italienischen Präsenz als Fassade dienten. Die vierte und letzte Grundform der nationalsozialistischen Einflussnahme in Europa bestand in der Herrschaft über jene unabhängigen Staaten, die sich mit Deutschland verbündet hatten. Dem Anschein nach gleichberechtigt, waren sie doch in Wirklichkeit Satellitenstaaten des Reiches. So war es Rumänien und Ungarn gelungen, für eine gewisse Zeit eine fragile nationale Eigenständigkeit zu bewahren, indem sie sich zu bewaffneten Hilfskräften Hitlers gemacht hatten. Auch Bulgarien erklärte sich mit Deutschland verbündet, ebenso wie Finnland, das damit seinen Unabhängigkeitsstatus verlor. Was Italien betrifft, so war es theoretisch der privilegierte Partner Deutschlands für die Herrschaft über Europa, doch Mussolini hatte nicht die Fähigkeiten, diesen Rang zu bewahren. Seine militärischen Misserfolge konnten ihn darüber nicht im Unklaren gelassen haben. Tatsächlich also waren die Italiener die Untergebenen Deutschlands; sie lieferten Kriegsmaterial und sicherten die Halbinsel. Der Mythos der italienischen Unabhängigkeit ging 1943 mit dem Fall des Duce und der Invasion des Landes durch die deutsche ­Armee unter. Zuvor war Italien nichts als ein eher sperriger Satellitenstaat gewesen.

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Die politischen Formen der Zusammenarbeit Wenn Deutschland auch das bevölkerungsstärkste Land Europas war, so war es doch nicht in der Lage, in wenigen Monaten ausreichend kom­ petentes und zahlenmäßig starkes Personal zur Verfügung zu stellen, wie es nötig gewesen wäre, um die Gesamtheit der unter seine Herrschaft gefallenen Gebiete zu verwalten. Aus diesem Grund musste Berlin ver­ suchen, sich an die vor Ort bereits bestehenden Strukturen und damit vor allem an den Verwaltungsapparat der besetzten Länder anzulehnen. Schon die internationale Konvention von La Haye aus dem Jahre 1907 gab vor, dass im Falle einer Besatzung die Verwaltung des besetzten Landes unter den Befehl der Besatzungsautoritäten zu stellen sei. Ganz im Geiste dieser Konvention hatten bestimmte Länder ihre Vorbereitungen getroffen. So hatten in Belgien 1907 die Beschäftigten der Eisenbahn und der Elektrizitätsgesellschaft ein Merkheft zur zivilen Mobilmachung erhalten, das ihnen einschärfte, im Falle eines fremden Einmarsches keinerlei Widerstand zu leisten und in der Ausübung ihres Dienstes mit Pflichtbewusstsein und Loyalität gegenüber dem Besatzer fortzufahren. Die Deutschen hätten sich keine bessere psychologische und technische Vorbereitung seitens der Beamten wünschen können. Zumeist kam man ihnen mit weitaus mehr als lediglich »einfacher« administrativer Zu­ sammenarbeit entgegen. Hinter dem, was eigentlich mit »Zusammen­ arbeit« gemeint ist, verbirgt sich ein komplexer Prozess, in dessen Verlauf sich der Besetzte politisch zunehmend an den Besatzer anpasst. Stanley Hoffmann (1969) zufolge unterscheidet man traditionell mehrere Formen der Zusammenarbeit: zunächst einmal die taktische oder strategische Zusammenarbeit von Staaten, die auf höchster Machtebene entschieden wird und von dem Wunsch diktiert ist, auf diese Weise die nationalen Interessen des besiegten Landes zu wahren. Sie muss deutlich von der Kollaboration unterschieden werden, der die ideologische Entscheidung zugrunde liegt, sich politisch für die Sache des Besatzers einzusetzen, dessen System man bewundert – was nicht ausschließt, dass nicht auch andere Gründe für eine solche Haltung verantwortlich sein können.* Denn für Opportunisten war die Zusammenarbeit auch ein * Jacques Semelin unterscheidet in dieser Studie durchgängig zwischen »collaboration« und »collaborationisme«. Mit »collaboration« bezeichnet er alle Formen der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten in den besetzten Ländern, während »collaborationisme« für die aus ideologischer Überzeugung betriebene Kollabora-­ tion mit den Nationalsozialisten steht. Daher wird »collaboration« durchweg mit

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Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

Mittel zum Ausgleich mangelnder Anerkennung und zur sozialen Aufwertung mit der Chance zu manchmal beachtlichen wirtschaftlichen Gewinnen. Für die meisten war sie zudem eine Geisteshaltung, eine Art und Weise, sich »realistisch« zu zeigen und als »Herr der Lage« zu er­ weisen. An dieser Stelle muss auf einen wichtigen Punkt hingewiesen werden: Zur »Zusammenarbeit« bedarf es der Bereitschaft beider Seiten. Wenn man diese banale Wahrheit vergisst, läuft man Gefahr, das Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten fehlzuinterpretieren. So hat Hitler die Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene nicht immer gutgeheißen. Polnische Historiker bestehen zwar darauf, dass es ihrem Volk zur Ehre ge­ reiche, keine mit den Nazis zusammenarbeitende Regierung gekannt zu haben – doch dass diese Tatsache unbestritten ist, liegt vor allen Dingen daran, dass Berlin dieses Verhältnis nicht wünschte. Die Gebiete im ­Osten waren von den Deutschen zum »Lebensraum für die arische ­Rasse« auserkoren, deshalb wurden die polnischen »Kolonien« von ihnen direkt verwaltet. Die gleiche Haltung bewahrte der »Führer« auch gegenüber der UdSSR , und zwar gegen die Ansicht einiger Nazi-Getreuer, wie des Ideologen Arthur Rosenberg, der die Position vertrat, die deutschen Armeen müssten sich bei der Invasion des Landes auf die nichtrussischen Minderheiten stützen (im Einzelnen auf die weißrussischen, ukrainischen und kaukasischen). Er hoffte, deren separatistische Bestrebungen be­stärken zu können, und pries in Berlin die Schaffung von »Befreiungskomitees« an, die die Exilierten dieser Regionen umfassen sollten. Möglichkeiten zur Zusammenarbeit in dieser Richtung scheinen reichlich bestanden zu haben. Der gute Empfang, den die Bauern, vor allem in der Ukraine, den deutschen Truppen bereiteten, bezeugt dies eindrucksvoll. Dahinter stand in vielen Fällen die Hoffnung auf Abschaffung der Kolchosen und auf ein Ende des stalinistischen Terrors. 1942 eröffnete die Gefangennahme des Generals Andrei Wlassow die Möglichkeit, mit ihm bei der Errichtung eines russischen Staates unter deutscher Kontrolle politisch zu kooperieren. Doch Hitler widersetzte sich derartigen Projekten stets, und so fand auch die Rekrutierung von Kosaken und Kauka­ siern durch die Wehrmacht gegen seinen Wunsch statt.

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dem neutralen Wort »Zusammenarbeit« (bzw. an einigen wenigen Stellen mit »Kooperation«) übersetzt, »collaborationisme« mit dem im Deutschen über­ wiegend moralisch wertenden Begriff »Kollaboration«, »collaborationiste« mit »Kollaborateur«, »collaboratrice« mit »kollaborationistisch« bzw. »Kollaborations-«. (Anm. d. Übers.)

Die politischen Formen der Zusammenarbeit

Eine »Zusammenarbeit« mit den Völkern des Ostens war für den Chef des Reichs also unsinnig. Welches Konzept aber besaß er stattdessen? Hatte der Begriff »Zusammenarbeit« dann überhaupt einen Sinn für ihn? Wie bereits gezeigt wurde, sorgte seine Neigung zur Improvisation dafür, dass die deutsche Außenpolitik keine sonderlich zusammen­ hängende Gestalt aufweisen konnte. Trotz verschiedener Widersprüche lassen sich jedoch einige Hauptlinien beschreiben.3 Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass viele Kollaborateure, Fürsprecher und Bewunderer des Nazi-Regimes bei der Ankunft der deutschen Armeen in ihrem Land nicht die Anerkennung von Berlin erhielten, auf die sie ein Recht zu haben glaubten. Sie wurden abseits der Machtzentren gehalten und mit zweitrangigen Aufgaben betraut. Sie spielten über die Propagandapresse vor allem eine ideologische – und, bei der Jagd auf Juden und Widerstandskämpfer, eine repressive Rolle. Einige traten in die Verwaltung, in mehr oder weniger wichtige und verantwortungsvolle Positionen ein, wo sie als Werber für die deutschen Armeen dienten. So hatte Hitler nur wenig Anerkennung für die pronazistische Partei des Holländers Anton Mussert übrig, der dafür seinem deutschen Vorbild um so heftiger nacheiferte und sich 1942, in An­ lehnung an den Führer, »Leider« der Niederlande nennen ließ. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht zählte seine Partei mehr als 110.000 Mitglieder und stellte der Waffen-SS mehr Rekruten als jede andere europäische Nation zur Verfügung. Gemessen an der Bevölkerungszahl, hatte dagegen Belgien die meisten Kollaborateure aufzuweisen. Sie hätten möglicherweise eine wichtige Rolle im politischen Leben des Landes spielen können, wären sie nicht aufgrund des alten Konfliktes zwischen Wallonen und Flamen Opfer ihrer eigenen Spaltung geworden. Dies äußerte sich vor allem in der Konkurrenz zwischen dem flämischen VNV unter der Leitung von Staf de Clerq und der hauptsächlich wallonischen, rexistischen Bewegung, die von Léon Degrelle, einer der markantesten Persönlichkeiten aus der Vorkriegszeit, inspiriert war. Aus rassischen Gründen fühlten sich die Deutschen zweifellos den flämischen Gruppen näher, die einen Anschluss ihres Landes an das Reich im Auge hatten. Doch es wurde nichts Konkretes unternommen. Die Kollaborateure agitierten vor allem ideologisch und rekrutierten für die Waffen-SS mehr als 40.000 Belgier seit Bestehen der zwei Legionen – einer flämischen und einer wallonischen, letztere unter dem persönlichen Kommando von Léon Degrelle. In Frankreich erhofften sich die pronazistischen Bewegungen viel von einer Zusammenarbeit mit Deutschland im Rahmen des »Neuen Europas«. 29

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

Ihre wichtigsten Vertreter waren der ehemalige Kommunist Jacques ­Doriot und der Ex-Sozialist Marcel Déat. Ersterer gründete bereits vor dem Krieg die Französische Volkspartei (Parti populaire français, PPF), die zum Sammelbecken vieler enttäuschter Kommunisten wurde, ins­ besondere nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin Paktes. Der zweite, ein ehemaliger sozialistischer Abgeordneter und Mitarbeiter von Léon Blum, gründete die Nationale Völkische Sammlung (Rassemblement National Populaire, RNP). Auch wenn die französischen Kollaborateure, selbst in finanziellen Dingen, von den Deutschen unterstützt wurden (insbesondere von Otto Abetz, dem deutschen Botschafter in Paris), so hatten sie doch nie direkten Zugang zur Macht. Hitler zog es vor, mit der Regierung des Marschalls Pétain in Verhandlung zu treten statt mit Gruppen, um deren geringe Bedeutung er wußte. Deren Aufgabe bestand vielmehr darin, die Vichy-Regierung unter Druck zu setzen, damit sich diese gegenüber Berlin kooperativer zeigte. Hingegen spielten sie in der Kollaborationspresse oder als Hilfskräfte der Repression durchaus eine beachtliche Rolle. Dies gilt – schon gleich, nachdem Deutschland dort die Macht ergriffen hatte – auch für Norwegen und dessen erklärte politische Unterstützer. 1942 entschloss sich Reichskommissar Terboven, den Führer der nationalsozialistischen Partei Norwegens (Nasjonal Samling), Major Vidkun Quisling, in die Regierung zu berufen. Der Name dieses ehemaligen norwegischen Verteidigungsministers (von 1931 bis 1933) und großen Bewunderers Deutschlands wird wie ein Symbol für bedingungslose Zusammenarbeit mit den Nazis bestehen bleiben. Quisling träumte davon, Norwegen zu einem korporatistischen Staat nach faschistischem Vorbild zu machen, der, unter gleichzeitiger Beibehaltung nationalistischer Grundzüge, in das germanische Imperium eingefügt wäre. Daran jedoch mochte Hitler keinen Gefallen finden. Trotzdem akzeptierte er, ohne eine wirkliche politische Lösung für Norwegen gefunden zu haben, Quisling 1942 dem Reichskommissar als »Minister­ präsidenten« beizustellen. Tatsächlich aber veränderte dieser so sehnlich herbeigewünschte Aufstieg kaum etwas an dessen Zugang zur Macht, die weiterhin in den Händen Terbovens lag. Schließlich war lediglich die Feindschaft der Bevölkerung gegenüber dem Regime und der »Erfahrung Quisling« gewachsen und führte, für den Besatzer wie für ihn selbst, zu einem politischen Fiasko.4

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Mechanismus der staatlichen Zusammenarbeit: ein Vergleich zwischen Dänemark und Frankreich Von den globalen Zielvorstellungen der Hitler’schen Politik aus betrachtet, zeigt der Misserfolg in Norwegen, dass die Taktik, keine pronazistischen Parteien an die Macht zu lassen, durchaus ihre Berechtigung hatte. Vor allem musste es darum gehen, Ruhe und öffentliche Ordnung ­innerhalb der eroberten Gesellschaften zu sichern – bei gleichzeitiger maxi­maler Ausbeutung ihrer ökonomischen Ressourcen. Hitler konnte daher kein Interesse daran haben, seine erklärten Parteigänger an die Staats­spitze zu setzen, deren Bewegungen außerdem viel zu unbedeutend ­waren. Stattdessen suchte er die Unterstützung durch unabhängige Personen, wie durch solche Staatsmänner nationaler Gesinnung, die meinten, nur der Nachweis von »Realismus« könne die eigene Nation retten – oder durch jene Technokraten, die dachten, dass es ihre Pflicht sei, auf ihrem Posten zu bleiben, um weiterhin ihrem Staat und damit den In­ teressen ihres Landes zu dienen. So erhielt Berlin oftmals Angebote von hohen Beamten oder angesehenen, meist der konservativen oder national gesinnten Rechten angehörenden Bürgern, deren Kompetenzen für das reibungslose Funktionieren der Verwaltung notwendig waren. Kann man unter diesen Umständen davon sprechen, dass es Hitler daran ge­ legen war, mit ihnen »zusammenzuarbeiten«? Leider nicht. Denn sein Ziel bestand immer darin, einen möglichst großen Vorteil aus den Besiegten zu ziehen, nicht aber darin, mit ihnen eine Partnerschaft ein­ zugehen. In diesem Sinn ist der Begriff der »Zusammenarbeit« unzutreffend. Er unterstellt eine gewisse Wechselseitigkeit, wie sie in Hitlers Vorstellung niemals existiert hatte. Doch verstand er sich durchaus darauf, solche »Missverständnisse«, wo sie einmal bestanden, zur Täuschung seiner ­Gegenüber auszunutzen. So ist denn der Begriff »Zusammenarbeit« in Wahrheit nicht vonseiten des Besatzers gekommen, sondern von der des Besetzten. Er basiert auf dem Prinzip, dass es in einer so außergewöhn­ lichen Lage wie der einer Fremdbesatzung immer noch besser sei, zur Vermeidung des Schlimmsten eine Politik der Zugeständnisse und der Kooperation zu betreiben, als einen Bruch herbeizuführen und Widerstand zu leisten. Die staatliche Zusammenarbeit beruht also grundsätzlich auf einem Paradox: sich an den Feind anzupassen und gar seinen Interessen zu dienen, läuft unter diesen Umständen darauf hinaus, die eigenen grundlegenden nationalen Interessen zu schützen. 31

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

Im Rahmen der nationalsozialistischen Besatzung hatte sich Dänemark eine solche Strategie zu eigen gemacht. Das kleine Land war nicht in der Lage, sich militärisch gegen den Einmarsch der Nazis zu wehren, und beschloss, sich nicht auf eine Schlacht mit ihnen einzulassen. Nach anfänglichem Zögern hatte sich die Regierung entschieden, vor Ort zu bleiben, bei gleichzeitigem heftigen Protest gegen die Missachtung der dänischen Neutralität. Das deutsche Memorandum, am 9. April 1940 durch von Renthefink überreicht, rechtfertigte die Besatzung mit Sicherheitsgründen für das Reich und gab gleichzeitig vor, dass die deutsche Präsenz das geeignete Mittel sei, der Neutralität Dänemarks Achtung zu verschaffen. Außerdem erklärte Berlin, dass es die territoriale Integrität und die politische Unabhängigkeit des Landes nicht infrage stellen wolle. Auf diese Weise konnte der dänische Staat seine wichtigsten Vorrechte bewahren: seine eigene Regierung, sein Parlament (Rigsdag) und seine Armee. Das Memorandum blieb während der gesamten Besatzungs­zeit zentraler Bezugspunkt. In der Rassenhierarchie der Nazis gehörten die Dänen faktisch zur arischen Verwandtschaft. Aus diesem Grund konnten sie eine bevorzugte Behandlung genießen, die darauf ausgerichtet war, sie von dem Wert der nationalsozialistischen Ideologie zu über­ zeugen. Andererseits war es für Berlin auch kurzfristig vorteilhaft, unter seiner Kontrolle ein Regime demokratischen Typs zu erhalten. Die dänische Demokratie war ein hervorragendes Propaganda-Argument, das all denen entgegengehalten werden konnte, die den in Osteuropa verbreiteten Schrecken anklagten. Die an der Macht befindliche sozialdemokratische Regierungsmannschaft, vor dem Krieg von Thorwald Stauning geführt, wandelte sich nun in eine Regierung der nationalen Einigung – zusammen mit den Vertretern der beiden größten Oppositionsparteien. Gemeinsam repräsen­ tierte dieses neue Bündnis 95 Prozent der Bevölkerung. Die von einem Doktor Clausen geführte pronazistische Partei (DNSAP) blieb dagegen völlig bedeutungslos. Die Politik dieser Regierung wurde in weiten Teilen von ihrem Außenminister Munch bestimmt und basierte sozusagen darauf, das deutsche Memorandum »beim Wort zu nehmen« – mit all seinen Forderungen, aber eben auch mit all seinen Versprechen. Zumindest waren die Dänen nicht der Meinung, dass der Verzicht auf die bewaffnete Verteidigung ihres Landes mit einer Niederlage gleichzusetzen sei. Da es zudem keiner­ lei Kriegserklärung gegeben hatte, konnte man schlechterdings auch nicht von einer Kapitulation reden. Die Besatzung war ein außerordentlich bedauerlicher, aber nicht zu ändernder Tatbestand. Nunmehr ging 32

Mechanismus der staatlichen Zusammenarbeit

es darum, ein »Arrangement« auf Staatsebene zu finden. So hatte die Wehrmacht für die Sicherheit des Landes Sorge zu tragen – allerdings gleichzeitig auch dessen Neutralität zu gewährleisten. Natürlich bedeutete die Besatzung für die dänische Regierung eine neuartige Situation, die Zugeständnisse vonseiten des »Besetzten« wie auch vonseiten des »Besatzers« erforderte. Aber indem die dänische Regierung so tat, »als ob« dieser Besatzer seine Versprechen einhalten würde, versuchte sie den Schaden, der durch diese nachteilige Situation hervorgerufen war, deutlich zu begrenzen. Mit ihrem Verbleiben versuchte sie eine Art Filter zwischen den Nazis und der Bevölkerung zu bilden. Allein schon ihre Existenz war ein Hindernis für die Bildung einer kollaborationistischen Marionettenregierung oder für die Übernahme der direkten Kontrolle des Landes durch Berlin. Die Aufgabe dieses »Filters« bestand darin, das demokratische System und die dänische Kultur zu erhalten und dem Land allzu großes Leid zu ersparen. Im Grunde war bereits die Entscheidung, die dänische Armee nicht in ein von vornherein verlorenes Gefecht zu verwickeln, ein erster Schritt auf dem Weg zu dieser Politik der Landes­verteidigung. In den Tagen nach dem Einmarsch gab die dänische Führung folgende Erklärung ab: Die Regierung handelte aus der ehr­lichen Überzeugung heraus, das Land auf diese Weise vor einem schlimmeren Ausgang bewahrt zu haben. Wir führen unsere Anstrengungen fort, das Land und sein Volk vor dem Desaster des Krieges zu bewahren, und wir zählen auf die Zusammenarbeit mit der Bevölkerung. (zit. n. Haestrup 1970, 5) Zweifellos unterstützte die Bevölkerung in diesem Moment die Regierungs­ position, die auch von König Christian X . befürwortet wurde. Im Ausland dagegen, vor allem in Großbritannien und den USA , wurde diese Politik nicht gern gesehen. Dort konnte man Bemerkungen hören wie »kuschen wie ein Däne«. Es ist wahr, dass Kopenhagen scheinbar das Spiel der Deutschen spielte. Der König und seine Regierung waren, anders als andere, an Ort und Stelle geblieben, und schon diese Tatsache konnte als eine Form der Legitimation der »neuen Ordnung« gewertet werden. Hinzu kommt, dass die von den Dänen gewählte Linie nicht leicht umzusetzen war. Sie bestand aus einem geschickten und nur schwer durchschaubaren Einsatz an unvermeidbaren Zugeständnissen, aber auch in der Manifestation von Geschlossenheit. Der neue Premierminister, Eric Scavenius, war der eigentliche Urheber dieses schwierigen Unternehmens, in dessen Verlauf er sein unleugbares Verhandlungstalent unter Beweis stellte. Er 33

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vermittelte häufig zwischen der dänischen Regierung und den deutschen Machthabern, deren Vertrauen er zu gewinnen wusste. Angesichts des Drucks aus Berlin bestand die Taktik Kopenhagens zumeist darin, Zeit zu gewinnen, zu diskutieren, die Ausführung von Befehlen hinauszuzögern und all die Punkte unter den Tisch fallen­ zulassen, deren Ausführung nicht unumgänglich schien. Diese Linie führte zu einer Art »Spaltung« von Außen- und Innenpolitik: Dänemark knüpfte seine Außenpolitik an diejenige Deutschlands, konnte jedoch bis zu einem gewissen Grad seine inneren Angelegenheiten gegen die Einmischungen Berlins verteidigen. Einen verständigen Ansprechpartner fand Scavenius dabei in dem neuen Reichsbevollmächtigten Werner Best, der während einer bedrohlich zugespitzten Krise Ende Oktober 1942 nach Kopenhagen gekommen war. Als Mitglied der SS und Mit­ arbeiter Reinhard Heydrichs gehörte er zu einer Gruppe Nazi-Intellektueller, die die Ansicht vertraten, Deutschland müsse zunächst einmal den Krieg gewinnen und könne sich der ideologischen Erziehung der Be­ völkerungen erst widmen, wenn dieses Ziel erreicht wäre. Bis dahin sei es vorrangig, diese zur Mitarbeit zu animieren, wobei zu brutale und repressive Maßnahmen eher kontraproduktiv seien. Best verstand es, diesbezüglich sehr vorsichtig zu agieren, was durchaus im Sinne der ­dänischen Regierung war. Er bestand Berlin gegenüber sogar darauf, die Wahlen zum Rigsdag durchführen zu lassen, da ihm deren positiver Propagandaeffekt sicher schien. Diese Wahlen vom 23. März 1943 waren die einzigen, die in Europa unter deutscher Herrschaft abgehalten wurden. Sie hielten die Bindung des dänischen Volkes an das parlamenta­ rische Prinzip aufrecht (89 Prozent Wahlbeteiligung) und bestärkten sein Vertrauen in die traditionellen Regierungsparteien (94 Prozent der Stimmen waren auf diese entfallen), was zugleich die Bedeutungslosigkeit der pronazistischen Gruppen unterstrich. Es ist schwer zu sagen, ob sich die von den Dänen praktizierte Zu­ sammenarbeit auf staatlicher Ebene für das Land wirklich auszahlte, zumal man auch die Staatskrise vom August 1943 nicht vergessen darf, die weiter unten dargestellt wird. Die Bilanz der Regierungstätigkeit beinhaltet Akte der staatlichen Zusammenarbeit ebenso wie Gesten mani­fester Verweigerung oder Opposition. Auf der einen Seite also drückte Dänemark durch offizielle Erklärungen seinen Wunsch aus, am Aufbau des germanischen Europa mitzuwirken, brach es seine diplomatischen Beziehungen zur UdSSR und zu den USA ab, trat es dem Antikominternpakt bei und erkannte mehrere Satellitenstaaten des Reichs an. Daneben waren die wirtschaftlichen Beziehungen zu Berlin von großer 34

Mechanismus der staatlichen Zusammenarbeit

Bedeutung, besonders was den Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen nach Deutschland anging – und schließlich gab es noch einen wichtigen innenpolitischen Punkt: das Verbot der Kommunisten. Diese verfassungswidrige Entscheidung wurde gleichwohl vom Parlament verabschiedet. Auf der anderen Seite gelang es der Regierung, für die Bevölkerung ein einigermaßen ausreichendes wirtschaftliches Niveau und eine gewisse politische Autonomie zu bewahren, obwohl die Deutschen seit dem Oktober 1940 versucht hatten, die Absetzung eines konservativen Ministers, Christmas Moller5, sowie weiterer, sozialdemokratischer Minis­ ter durchzusetzen. Kopenhagen gelang es mehr oder weniger, die Lieferung von Kriegsmaterial aufzuschieben, und es zeigte sich unbeugsam in der Frage der Judendeportation. Die Bilanz erscheint daher als recht ambivalent – doch sie gereicht nicht wirklich zum Nachteil der dänischen Führung.6 Der zweite großangelegte Versuch staatlicher Zusammenarbeit fand unter Marschall Pétain in Frankreich statt. Doch sowohl die Methoden als auch die Resultate von Vichy sehen anders aus als in Dänemark. ­Sicher, Frankreich hatte für Deutschland eine ungleich größere Bedeutung als das kleine Dänemark, und Berlin hatte gute Gründe, sich gegenüber den Franzosen sehr viel unbeugsamer zu zeigen. Doch selbst unter Berück­ sichtigung dieses Sachverhaltes unterscheiden sich die jeweils angewandten Taktiken, denn der »Geist« der Zusammenarbeit war nicht der gleiche. Nach ihrem Blitzkrieg vom Mai / Juni 1940 hatten die Deutschen Frankreich im Rahmen des am 22. Juni unterzeichneten und vom 25. Juni an geltenden Waffenstillstandsabkommens ausgesprochen harte Bedingungen gestellt. Im Süden des Landes dagegen schien Hitler Milde walten zu lassen, indem er dort einer »legalen« Regierung politische Autonomie gewährte. Zweifellos wollte er den Krieg im Westen so schnell wie irgend möglich beenden und gleichzeitig die Verlagerung der französischen Flotte in fremde Häfen verhindern. Doch im Grunde genommen war das Land schon jetzt wortwörtlich von den Forderungen des Führers gefesselt. Nach seinen Vorstellungen sollte Frankreich allerdings nicht »polonisiert« werden; sicher, die Franzosen stellten eine »degenerierte Rasse« dar, doch sie waren keine Untermenschen. Hitler war daran ge­ legen, einen endgültigen Sieg über Frankreich zu erringen, seine Wiederbewaffnung zu verhindern und seine Wirtschaft gründlich auszubeuten – nicht aber, sein Volk zu vernichten. Die drakonischen Auflagen des Waffenstillstandsabkommens gaben ihm dazu alle Mittel in die Hand. Ber­lin übernahm die direkte Kontrolle der meisten ökonomischen und in­ dustriellen Zentren des Landes. Jeden Tag hatte Frankreich 400 Millio­nen 35

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

Francs zur Erhaltung der Besatzungsarmeen aufzubringen. Deutschland brachte 160.000 Kriegsgefangene ins Reich, die ein ausgezeichnetes ­Reservoir an Geiseln für einen eventuellen politischen Handel bildeten. Zusätzlich genehmigte sich das Reich territoriale Zugewinne. Im August 1940 annektierte es drei Départements im Osten und errichtete eine »verbotene Zone« nördlich einer von der Somme bis in das Jura reichenden Linie. Darin enthalten war zudem noch eine »angeschlossene Zone« der Départements Nord und Pas-de-Calais, die der Militärverwaltung von Brüssel unterstellt waren. Was die französische Regierung betraf, so erwartete Berlin von ihr eine begrenzte, aber gleichwohl unumgängliche Unterstützung: die Wiederbelebung der Industrie, die Erledigung der zivilen Verwaltung und die Aufrechterhaltung der Ordnung. In diesem Zusammenhang ist der Artikel 3 des Waffenstillstandsabkommens von Bedeutung, in dem das erste Mal das Wort »collaborer« – zusammen­ arbeiten – auftaucht: Die französische Regierung wird umgehend alle Autoritäten und Dienststellen des besetzten Gebietes einberufen, um diese über die Erlasse der deutschen Autoritäten zu informieren und mit ihnen auf korrekte Art und Weise zusammenzuarbeiten. Dieser Artikel 3 ging schon recht weit. Doch das Problem ist, dass die Wahrheit noch weiter reichte. Denn Vichy war mehr als nur eine ein­ fache Verwaltung. In der Tat hatte Marschall Pétain – aus »Realismus« – darauf gehofft, dass Frankreich mit Deutschland eine politische Zusammenarbeit ein­ gehen würde. Pétain, der vom Ratspräsidenten Paul Reynaud wegen seines Rufes als Symbolfigur für das militärische Wiedererstarken Frankreichs während des Ersten Weltkriegs an die Spitze der Vichy-Regierung berufen worden war, war von der nazistischen Ideologie nicht im Geringsten geblendet. Doch hatte Deutschland seiner Ansicht nach einen dauerhaften Vorteil in Europa erstritten und musste daher logischer­weise den Krieg gewinnen. Folglich war es besser zu versuchen, eine Einigung mit Deutschland herbeizuführen. Außerdem wäre Frankreich innerhalb dieses »neuen« Europas wohl bestens plaziert, um der wichtigste Partner des Reichs zu werden. Besonders Frankreichs Kolonial- und Seemacht gaben ihm Trümpfe in die Hand. Doch Pétains Sorge galt auch dem moralischen und politischen Wiederauf bau Frankreichs – um die Fehler, die während der Dritten Republik begangen worden waren, zu beheben. Maßgeblich für Pétain waren hier die traditionellen Werte konservativer und autoritärer Prägung. 36

Mechanismus der staatlichen Zusammenarbeit

Am 10. Juli 1940 erhielt er die volle Machtbefugnis; die Regierung der Dritten Republik wurde abgesetzt, und unter den Augen der Besatzer begann die Zeit der »Nationalen Revolution«. Die staatliche Zusammenarbeit à la française wurde so von dem Willen zur inneren »Erneuerung« getragen – und man kann das eine nicht ohne das andere verstehen. Im Oktober 1940 symbolisierte der Händedruck zwischen Hitler und Pétain diese »neue Ära« der deutsch-französischen Beziehungen. Am 30. Oktober ließ der alte Marschall eine Rede über den Rundfunk ausstrahlen, die kein geringes Aufsehen erregte: Wenn ich heute den Weg der Kollaboration wähle, um konstruktiv an der neuen europäischen Ordnung mitzuwirken, so geschieht dies zur Ehre und zur Erhaltung der Einheit Frankreichs, einer Einheit von zehn Jahrhunderten. […] Dies ist meine Politik. […] Und nur die Geschichte wird mich richten. (zit. n. Azéma 1979, 100) In verschiedenen Varianten arbeiteten die aufeinanderfolgenden Re­ gierungen von Vichy (dem neuen offiziellen Regierungssitz des »französischen Staates«) an dieser deutsch-französischen »Annäherung«. Mit dem Regierungseintritt des Admirals François-Xavier Darlan im Februar 1941 nahm Frankreich die militärische Zusammenarbeit auf und verstärkte seine bereits beträchtliche ökonomische Kooperation. Bedeutende diplomatische Aktivitäten wurden entwickelt, um Frankreich mit der Perspektive eines »Friedensvertrages« mit Deutschland einen Platz seiner Wahl im neuen europäischen Imperium zu reservieren. Im Juni 1941 folgte dann die polizeiliche und juristische Zusammenarbeit, innerhalb derer der französische Staat die Gründung von »Spezialeinheiten« akzeptierte, die »Terroristen« und sonstige innere Feinde aufzuspüren hatten. Mit der Rückkehr Pierre Lavals an die Macht im April 1942 war die Regierung von Vichy nichts anderes mehr als eine simple Marionette in den Händen Berlins, um schließlich, nach dem Einmarsch in die Süd­ zone im November 1942, nur noch als Illusion zu existieren. Laval er­ eiferte sich für den Sieg Deutschlands gegen den »Bolschewismus«, und seine Regierungsmannschaft machte sich daran, den deutschen Forderungen um so eifriger zu entsprechen. Der französische Staat engagierte sich in der Jagd auf Juden, organisierte die Überführung von mehreren Tausend Arbeitern nach Deutschland und verstärkte die ökonomische und industrielle Kooperation. Nach dem Krieg wurde verschiedentlich die These vertreten, dass die Entscheidung der Führer von Vichy, an der Macht zu bleiben, im ­Grunde gut für die französischen Interessen gewesen sei, auch wenn jene 37

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

nicht fehlerfrei gewesen seien. Die Erhaltung einer Regierung, die mit dem Besatzer zu verhandeln versuchte, sei die einzige Möglichkeit ge­ wesen, das Schlimmste, wie etwa eine »Polonisierung« des Landes, zu verhindern. Nach einer weitverbreiteten Formulierung war Pétain der »Schild« Frankreichs und de Gaulle sein »Schwert«. Doch heute, mit mehr als vierzig Jahren Abstand zu diesen Ereignissen, kann eine solche These vor der Geschichtsforschung nicht mehr bestehen. Fern der französischen Querelen hat der amerikanische Forscher Robert Paxton eine Studie vorgelegt, die auf beachtliche Weise den Kenntnisstand auf ­diesem Gebiet erweitert. (Paxton 1973) Indem er deutsche Archive durch­f orschte, stellte er Vichy eine vernichtende Bilanz aus.7 Vichy erfüllte dadurch, dass es die Führung der Verwaltung übernommen hatte, die Erwartungen Hitlers bestens; denn ihre Übernahme durch die Deutschen wäre in Anbetracht der Komplexität der französischen Gesellschaft in der Tat ausgesprochen schwierig gewesen. Auch Vichys Beitrag zur Unter­ drückung der Bevölkerung war beträchtlich (Deportation von Juden, Jagd auf Widerstandskämpfer), was es dem Besatzer lange Zeit erlaubte, nicht selbst aktiv einzugreifen. Was die ökonomische Bilanz anbetrifft, so ist diese ebenfalls außerordentlich erdrückend. Paxton zeigt auf, wie die oftmals von brillanten Technokraten ausgeführte Politik von Vichy die Ausbeutung des Landes in allen Bereichen erleichterte und Frankreich so in der Industrie, der Land- und Finanzwirtschaft zur bedeutendsten »Milchkuh« des Reichs machte. Das Schlimmste jedoch ist, dass die französische Regierung durch die Verabschiedung neuer Gesetze unter deutscher Ägide einen unverzeihlichen Fehler beging: Indem sie den Widerstand für illegitim erklärte, legitimierte sie gleichsam die Besatzung des Landes. Das zweite wichtige Ergebnis der Arbeit Paxtons ist, dass Hitler, außer in sehr kurzen Perioden, keineswegs nach der politischen Zusammen­ arbeit mit Frankreich suchte. Abgesehen von den Intrigen des Botschafters in Paris, Otto Abetz, zeigten die Deutschen kein besonderes In­teresse daran, auf das mehrfach erneuerte Angebot Frankreichs einzugehen. Vichy hatte seine Dienste in vorauseilendem Gehorsam angeboten, in der Hoffnung auf politische Gegenleistungen, die niemals erbracht ­wurden. Interessant ist nun der Vergleich mit der dänischen Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene. Denn in dem Maße, wie die Regierung Kopen­ hagens defensiv erscheint, d. h. Zugeständnisse nur machte, wenn sie sich dazu gezwungen fühlte, in dem Maße agierte die Regierung von Vichy offensiv. Wenn General Weygand in diesem Sinne anfangs erklärte: 38

Mechanismus der staatlichen Zusammenarbeit

»Waffenstillstand, nichts als Waffenstillstand«, so entsprach das der Haltung der dänischen Regierung, die sich immer wieder auf das Memorandum bezog, »auf nichts als das Memorandum«. Anders dagegen Laval. Um sich einen guten Platz im neuen Europa einzurichten, musste man seiner Ansicht nach vorangehen, Vorschläge machen, die Initiative ergreifen, um so seinen guten Willen und seine Loyalität unter Beweis zu stellen. In diesem Sinne zielt die defensive staatliche Zusammenarbeit darauf, die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten von Anfang an zu immobilisieren. Sie ist statisch wie die Schlacht in einem verschanzten Feld. Die offensive staatliche Zusammenarbeit dagegen tendiert dazu, diese Beziehung zu mobilisieren. Sie vollzieht eine Flucht nach vorne und gerät dabei in einen Teufelskreis: Je mehr der Besetzte vorangeht, desto mehr kann sich der Besatzer zurückziehen und desto mehr wiederum gerät der Besetzte auf lange Sicht in die Maschen eines unsichtbaren Netzes. Darin besteht der doppelte Sieg des Besatzers: Zu dem militärischen Sieg tritt die politische Zerrüttung des Gegners hinzu. Einmal in Gang gesetzt, ist es schwierig, diesen auszehrenden Prozess zu stoppen. Im Falle Vichys hätte er unterbrochen oder doch zumindest gebremst werden können, wenn diese Regierung nur wirklich danach getrachtet hätte, die französischen Interessen zu vertreten. Immerhin wäre es vorstellbar, dass die Führung eines Landes sich ihrer Fehler bewusst würde und sich dazu entschlösse kehrtzumachen. Doch im Gegensatz zur dänischen Regierung war Vichy keine Regierung nationaler Einheit, sondern die einer bestimmten politischen Klasse, die zudem noch eine Rechnung mit der Volksfront offen hatte. Diese Klasse gab offen zu verstehen, dass sie Hitler der Volksfront vorziehe. Und gerade mittels der Besatzung konnte sie mit ihrem »inneren Feind« abrechnen, sodass Vichy vor allem einen »französisch-französischen Krieg« führte. Anstatt sich gegenüber dem Besatzer geschlossen zu zeigen, trug Frankreich die Konflikte aus der Vorkriegszeit, deren Wurzeln bis zur Affäre Dreyfus8 zurückreichten, offen zur Schau. Der nationale Konflikt mit Deutschland wurde so um einen bürgerkriegsähnlichen verschärft. Unter dem Deckmäntelchen, die vitalen Interessen der französischen Nation zu verteidigen, verstand es die Regierung von Vichy, die Demokratie zu beseitigen und stattdessen ein autoritäres Regime einzusetzen. Dies führt zu zwei abschließenden Überlegungen. Zunächst einmal gilt es, die Vor- und Nachteile einer Strategie der staatlichen Zusammenarbeit zu diskutieren. Diese erfordert, aus ihrem Wesen heraus, einen starken Zusammenhalt der besetzten Bevölkerung. Sie kann nur dann 39

Grundzüge der nationalsozialistischen Herrschaft

wirkungsvoll sein, wenn sich das Land wirklich geschlossen hinter eine Regierung nationaler Einheit stellt. Andernfalls läuft die Zusammen­ arbeit zwangsläufig auf politischen Selbstmord hinaus, da die Besatzungs­ macht aus der Uneinigkeit der Besetzten immer ihre Vorteile ziehen wird. Aus diesem Grunde hat die Haltung der dänischen Regierung eine Berechtigung vor der Geschichte und vor den Interessen ihres Landes, während die Haltung der französischen Regierung nicht zu rechtfertigen ist. Die zweite Überlegung bezieht sich auf das Verhältnis von Besetzten und Besatzern: Die Intensität der Zusammenarbeit mit Hitler hatte zur Folge, dass in den verschiedenen Ländern die traditionellen Formen des Widerstands gegen die Einmischung einer fremden Macht im Keim erstickt wurden, ganz gleich, ob es sich um Präsenz im Innern oder externen Druck aus Berlin handelte. In dieser Hinsicht ist der Fall Frankreich nichts Besonderes. So hatten sich z. B. die drei untergeordneten Verbündeten der Achse – Rumänien, Ungarn, Bulgarien – schon vor dem Krieg stark der politischen Linie Deutschlands genähert. Ungarn war das einzige Land, in dem – und auch erst gegen Ende des Krieges – lokale Nazis an die Macht gebracht werden mussten. In Griechenland lösten sich von 1941 bis 1944 eine Reihe von Premierministern ab, die sich wie Laval vormachten, sie würden die Nachteile der Besatzung verringern. Das kleine Serbien, von General Milan Nedić regiert, war nichts weiter als eine blasse Kopie Vichy-Frankreichs. Der gutgemeinte Patriotismus Nedićs war nichts anderes als eine Garantie für die Erfüllung der deutschen Interessen. Ganz im Geiste des Realismus meinten viele euro­ päische Staatschefs, daß es ohne Zweifel besser wäre, sich mit dem mächtigsten Staat des Kontinents zu arrangieren. Doch im Gegensatz dazu muss auch gesehen werden, dass der Aufstieg des Nazi-Regimes 1933 mancherorts Bewunderung hervorrief und in der Folge die expansionistischen Visionen Deutschlands nicht überall auf ungünstige Voraus­ setzungen stießen. Ohne leidenschaftliche Kollaborateure zu haben, hatte Hitler doch »Freunde«. Auch aus diesem Grunde ist die Nazi­ Herrschaft in Europa ohne Beispiel. Denn oftmals gibt es nicht die ­»bösen« Besatzer auf der einen und die »guten« Besetzten auf der an­deren Seite. Die gegenseitigen Beziehungen sind immer vielschichtig und ambivalent, keinesfalls jedoch schwarzweiß. Vor diesem Hintergrund kann es nicht mehr erstaunen, dass der Widerstand, zumindest am Anfang, so schwach war.

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2. Kapitel Welcher Widerstand? Versuch einer Typologie

Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ist zu einem modernen Archetyp für den bewaffneten Befreiungskampf geworden. Der Kampf für eine gerechte Sache, der Kampf für die Demokratie, legitimierte den Rückgriff auf Waffengewalt und wurde damit gleichsam zu einem der Gründungsmythen unserer europäischen Gesellschaften. Diejenigen, die ihn führten, wurden als verwegene und kriegerische Helden beschrieben, die aus dem Dunkel heraus die Tyrannei angriffen. Ihr Andenken wird in Ehren gehalten, und den jüngeren Generationen werden sie als Beispiel hingestellt. So ist eine Art »Mythologie des Widerstandskämpfers« entstanden, die von Literatur und Film weitergetragen wird. Jean-Pierre Azéma umreißt sie folgendermaßen: Das kollektive Gedächtnis macht sich vom Widerstandskämpfer im Allgemeinen ein konfuses Bild, in dem sich der Geheimagent, der Gerichtsherr und der Geächtete vermengen, um als ein dem Westernhelden nachempfundener Ritter ohne Furcht und Tadel, die Maschinen­ pistole im Anschlag, unzählige Züge und ­Fabriken in die Luft fliegen zu lassen. Sicher hat es geradezu phantastisch anmutende Ereignisse gegeben, aber sie bildeten doch eher die Aus­nahme. (Azéma 179, 168) Der bewaffnete Kampf verschiedener Gruppen und Bewegungen war einer der Grundpfeiler der europäischen Wider­standsbewegungen gegen den Nationalsozialismus, und es geht an dieser Stelle nicht darum, die Tapferkeit derjenigen in Abrede zu stellen, die sich dafür engagierten. Doch die heutige Darstellung des Phänomens ist vielfach zu verein­ fachend, wenn nicht geradezu karikierend. In d ­ iesem Zusammenhang ist eine häufig von den Wissenschaftlern bedauerte Kluft zwischen der Vielschichtigkeit der Realität, deren verschiedenartige Facetten sie zu beschreiben suchen, und der im kollektiven Gedächtnis bewahrten Erinnerung zu bemerken. Historikern ist dieses Phänomen der Rekonstruktion historischer Fakten nicht unbekannt. Neben den Tatsachen existiert die Idee, die man sich von ihnen macht, die Art und Weise, in der man sie erzählt oder sie schriftlich niederlegt. Dabei können die verschiedensten Faktoren dazu 41

Welcher Widerstand?

beitragen, die Tatsachen zu verzerren. Nicht zuletzt gehören dazu auch politische Interessen, denn die Art, wie Geschichte geschrieben wird, ist von großer Bedeutung. Mit der Art der Darstellung ihrer Vergangenheit rechtfertigen Mächte die Autorität, die sie zu erhalten oder hinzuzu­ gewinnen trachten. Indem man sich die vorteilhaftesten Rollen zuschreibt, fordert man die Völker auf, sich für das erkenntlich zu zeigen, was man für sie getan hat. Auch die Art, wie die Geschichte des Widerstands geschrieben wurde, folgt dieser Motivation. So unterscheidet Henri Michel in Frankreich gleich vier »politische Lesarten« der »Résistance«: eine gaullistische, eine kommunistische, eine des internen Widerstands der ersten Stunde und eine der Angehörigen der Waffenstillstandsarmee. (Michel 1964) Während man im Osten von »der glorreichen Schlacht der Volksmassen gegen die faschistische Tyrannei« sang, feierte man im Wes­ ten »das mutige Auf begehren der nationalen Einheit für das in Gefahr stehende Vaterland«. Die offizielle Geschichte, seine »Vergessenen« und sein Vokabular wechseln mit den Zeiten und den Herrschenden. Mehr als eine Beschreibung dessen, was tatsächlich stattfand, ist sie ein Abbild des momentanen Bezuges einer Gemeinschaft zu ihrer Vergangenheit.1 Wenngleich die konstitutiven Elemente des kollektiven Bewusstseins der Veränderung unterworfen sind, hat eines darunter doch Bestand: der Stellenwert der Gewalt. Jede Gemeinschaft braucht Gründungsmythen; und im Allgemeinen vermischen sich diese mit Vorstellungen erlösender Gewalt. Gewalt gilt als gründungsfähig, und auch die Mythologie des Widerstands hält sich an diese Darstellung. Die europäischen Nationen bemühen sich um den Nachweis, dass sie sich eigenständig von dem Schrecken befreien konnten, der sie überschattete. Aber Europa hat mit Sicherheit noch nicht alle seine dunklen Flecken aufgearbeitet, vor allem was den Genozid betrifft. Auch wenn man nicht alle Nationen des alten Kontinentes über einen Kamm scheren darf, so bleibt doch festzuhalten, dass sich die Hitler’sche Ideologie zwar in Deutschland zuerst entwickeln konnte, dann aber in ganz Europa Anhänger fand. Aus diesem Grund ist diese schmerzliche Vergangenheit nicht bloß das Problem Deutschlands, sondern eines, das ganz Europa angeht. Und eben deshalb ist es für die europäischen Völker so wichtig, das Bild ihres Aufbegehrens und Wieder­ erstarkens zu pflegen – verkörpert durch die befreiende Gewalt, aus ­ihrem eigenen Leib entsprungen, um eigenständig das Böse zu vernichten, das über sie hergefallen war. Der Widerstand verkörpert diesen Mythos der Wiedergeburt durch Gewalt. Jedes Mythos drückt eine Rekonstruktion von Wirklichkeit aus. In diesem Fall geht es darum, Geschichte zu schreiben, um sie um Vergebung zu bitten. 42

Welche »Geschichte« des »Widerstands«?

Das ist natürlich nur eine mögliche Interpretation der gemeinsamen Erinnerung an diese tragische Periode europäischer Geschichte. Doch wer könnte behaupten, dass diese gemeinsame Erinnerung nur die Seele der Völker berührt – und nicht auch die der Historiker? Obwohl der Historiker sich jedens Werturteils so weit als möglich zu enthalten hat, um den zu erforschenden Fakt am besten »packen« zu können, arbeitet er doch mit der Mentalität seiner Zeit und den vor­ liegenden Schemata zur Beschreibung der Welt. Wenn man sagt, »die Gewalt ist der ›Motor‹ der Geschichte«, dann führt dieses Urteil – ob wahr oder falsch – zumeist dazu, den Anteil der zivilen Oppositions­ formen zugunsten einer Beschreibung der bewaffneten Formen zu schmälern. Natürlich lässt sich auch der Historiker spontan von dem Spektakulären anziehen, vom Sichtbaren, vom Lärm der Geschichte, kurz, von dem, was Spuren hinterlassen hat. Der zivile Widerstand, selbst wo er sichtbar wird, erscheint dagegen zurückhaltend und nicht leicht fassbar. Aber gibt es nicht trotzdem ein authentischeres Abbild des inneren Zustandes einer Gemeinschaft? Wir berühren hier die faszinierende Frage nach der Sichtbarkeit historischer Fakten; die Frage danach, welcher Stellenwert dieser Sichtbarkeit in der historischen Interpretation einzuräumen sei. Oder, anders gefragt: Unterliegt der Historiker nicht der Gefahr, zunächst die bewaffneten Aktionen unter Vernachlässigung der aufgrund ihrer Vorgehensweise weniger auffälligen unbewaffneten Aktionen zu erforschen, eben weil erstere spektakulärer geartet sind?

Welche »Geschichte« des »Widerstands«? »Widerstand« ist in Wirklichkeit ein außerordentlich komplexes Phänomen, das keine zu eng gefassten Interpretationsraster verträgt. Wer sich eingehender mit diesem Gegenstand beschäftigt, bemerkt recht bald, dass es kaum möglich ist, global von »dem« Widerstand zu sprechen, sondern genauer von je nach Ländern und Regionen zu unterscheidenden Formen der inneren Opposition. Aus einer Sichtung der diesbezüglichen Bibliographie lassen sich drei verschiedene, aufeinanderfolgende Interpretationslinien des Phänomens ableiten. Die erste Lesart versucht herauszustellen, dass der Widerstand eine wichtige militärische Unterstützung für die alliierten Truppen darstellte und damit letztlich mit ausschlaggebend für deren militärischen Sieg gewesen sei. In dieser Darstellung wird er im größeren Rahmen des 43

Welcher Widerstand?

g­ esamten Krieges als eine Art Hilfskraft angesehen. Betrachtet werden ausschließlich jene Aktivitäten, die direkten Kriegszielen dienten – ­unbewaffnete Aktionen werden dagegen als Aktionen der Subversion verstanden oder der »psychologischen Kriegsführung« zugerechnet. Das Forschungsinteresse richtet sich hier auf Nachrichtennetze, Abwürfe mit dem Fallschirm und Sabotage, die in enger Zusammenarbeit mit den militärischen Stäben entwickelt wurden, auf die Organisation und die Aktionen der maquis und auf den Beitrag der Untergrund»armeen« in der Endphase des Krieges in Europa. Die Autoren versuchen beispielsweise zu zeigen, dass diese Widerstandsformen dank der qualitativ hochwertigen Informationen, die die Widerstandskämpfer an die ­ militärische Führung weitergaben, besonders wirkungsvoll waren – ­ akte, die von ortskundigen Gruppen ausgeführt oder dass Sabotage­ ­wurden, präziser waren, als Bombardements aus der Luft hätten sein können. Die zweite Interpretationslinie misst der Bildung des inneren Widerstands größere politische als militärische Bedeutung bei. Sie verweist darauf, daß der Zweck der Widerstandsbewegungen darin lag, eine ­ ­neben der Macht des Besatzers und der mit ihm Zusammenarbeitenden bestehende legitime Macht zu verkörpern. Das Forschungsinteresse richtet sich hier auf die Art und Weise, wie der Widerstand sich politisch zusammensetzte, also auf das, was verschiedentlich auch »institutioneller Widerstand« genannt wird. Darunter fällt das Verhalten der verschiedenen politischen Parteien, die Rolle der ins Exil gegangenen Persönlichkeiten, die Entwicklung der Widerstandsbewegungen als Anzeichen für die wachsende Feindschaft gegenüber dem Besatzer. Dieser Forschungszweig konzentriert sich auf die Untersuchung des Entstehungsprozesses der oben angesprochenen Legitimität und auf ihre herausragende Rolle im Moment der Befreiung und des Wiederauf baus eines neuen Staats­ apparates. Die dritte, mehr oder weniger am Rande stehende Lesart konzentriert sich auf die Erforschung der Äußerungen von moralischem oder geis­ tigem Interesse. Nicht die militärische oder die politische Bedeutung stehen im Vordergrund, sondern die Frage, wie jene Männer und Frauen im Namen ihres Glaubens oder ihrer Ideale den Mut fanden, der Tyrannei zu widerstehen, obwohl sie wussten, daß sie eine Minorität darstellten. Dieser Forschungszweig interessiert sich für die verschiedenen Solidaritätsbekundungen gegenüber den Verfolgten des Nazi-Regimes und für jene intellektuellen und religiösen Äußerungen, die sozusagen den ­»Widerstandsgeist« widerspiegeln. Es wird versucht zu zeigen, wie selbst 44

Welche »Geschichte« des »Widerstands«?

in den dunkelsten Stunden der »braunen Pest« Einzelne sich bemühten, andere als jene Werte zu leben, die man ihnen aufzuzwingen suchte – und wie sie somit für die Unbeherrschbarkeit des Geistes Zeugnis ab­ legten. Jede der drei hier nur knapp dargestellten Interpretationslinien gibt einen Ausschnitt aus dem weitgefächerten Bereich des Widerstands ­wieder. Ihre Verschiedenartigkeit vermittelt einen ersten Eindruck davon, wie facettenreich der Widerstand war. Doch sind sie durchaus in einer gewissen Weise als einander ergänzend zu sehen. Zudem lassen sie sich in einen weiter gefassten Analyserahmen integrieren, der besser dazu geeignet ist, eine dynamische Einschätzung des Phänomens der Widerstände zu geben. Dieser weitere Bezugsrahmen würde sich aus der Analyse der Entwicklung jener sozialen Schaltstellen ergeben, aus denen die Widerstandsbewegungen hervorgingen, sich entwickelten und strukturierten. Denn natürlich konnte keine Widerstandsbewegung, ob sie nun militärisch, politisch oder moralisch motiviert war, Verrat und Denun­ ziation entkommen, wenn sie sich nicht bis zu einem gewissen Grad auf ihr soziales Umfeld verlassen konnte. So ist man sich z. B. heute einig, dass das Phänomen der maquis in Frankreich nur in Zusammenhang mit der Veränderung der öffentlichen Meinung nach dem Sommer 1943 verstanden werden kann. General de Bollardière, damals ein junger ­Offizier, der mit dem Fallschirm in den Ardennen abgesprungen war, um die dortige maquis anzuleiten, erinnerte immer wieder daran, dass die in den Wäldern lebenden Aufständischen ausnahmslos von der Unterstützung der Zivilbevölkerung abhängig waren.2 Die Frage ist daher, worauf sich die Forschung nun konzentrieren soll: auf die bewaffnete Dimen­ sion der maquis – deren militärische Bedeutung im Übrigen außer Zweifel steht – oder auf die veränderte Einstellung einer Bevölkerung, die durch den Besatzer so unter Druck geraten war, dass sie einen signifikanten Teil ihrer Jugend in dem Entschluss unterstützte, den entscheidenden Schritt zum zivilen Ungehorsam zu unternehmen? Wir kommen damit zu einer vierten Interpretationslinie: Die Widerstandsbewegungen werden nicht an sich, sondern in Beziehung zu dem psychologischen und soziologischen Zusammenhang analysiert, der sie hervorbrachte und ihre Entwicklung ermöglichte. Sie werden als Kristallisation einer im Verborgenen existierenden Meinung verstanden, die sich nicht öffentlich ausdrücken kann. Dieser Forschungszweig verfestigt sich bereits in einigen neueren Arbeiten, wie der Studie des Briten ­Roderick Kedward (1978), die sich auf die Analyse des Verhaltens und die Motivation von Widerstandskämpfern und Nichtwiderstandskämpfern während 45

Welcher Widerstand?

eines gegebenen Zeitraums konzentriert – oder durch A ­ rbeiten von französischen Forschern wie Étienne Dejonghe (über das Département Nord) (1979) und Pierre Laborie (über das Departement Lot) (1980). In der Einführung zu seiner Arbeit präzisiert Pierre Laborie, dass diese aus Interesse an einer Gesamtschau entstanden sei: Die historische Meinungsforschung ermöglicht eine allgemeine Annäherung an Geschichte, indem sie bewußt die spektakulären und ins Auge springenden Aktionen einiger weniger Aktiven vernachlässigt zugunsten der Beschreibung der Geisteshaltung einer gesamten Bevölkerung (Laborie 1980, 2). Auch wenn der deutsche Widerstand gegenüber dem Nazi-Regime ­natürlich anders aussah als der von der Besatzung hervorgerufene, ist es interessant festzustellen, daß neuere Forschungen in der Bundesrepublik sich ebenfalls in die oben dargestellte Richtung bewegen. So unterscheidet Klaus Jürgen Müller drei Etappen deutscher Geschichtsschreibung. (Müller 1986, 91-106) Die erste Etappe, in den fünfziger Jahren, widmete sich vor allem Formen moralischen Widerstands, wie dem der jungen Münchener Studenten der »Weißen Rose«. (Scholl 1955) Später, in den sechziger Jahren, konzentrierte man sich vornehmlich auf die Versuche militärischen Widerstands, besonders auf die verschiedenen Mord­ anschläge auf Hitler. Das Buch Peter Hoffmanns ist hierfür ohne Zweifel ein gutes Beispiel. (Hoffmann 1984) Daneben erschienen sehr wichtige Studien über Kommunisten, Sozialdemokraten sowie verschiedene so­ ziale Schichten, die zeigen, dass das deutsche, sehr eng gefasste Verständnis von Widerstand (im Original deutsch) gegen Hitler weiter gefasst werden muss – nämlich im Sinne von Resistenz (im Original deutsch). Auch hier ist die Idee, dass es eben nicht ausreicht, »partielle« Oppositions­ formen zu analysieren – moralische, politische, militärische oder an­ dere –, sondern die Art und Weise, wie die Gesamtheit des Gesellschaftskörpers – d. h. der Zivilgesellschaft – auf die gegen sie gerichtete Aggression reagiert. In diesem Zusammenhang unterstützt das Institut für Zeitgeschichte in München seit 1973 ein großangelegtes Forschungsprogramm zur Erforschung der verschiedenen Ausdrucksformen von Widerstand, unabhängig davon, ob es sich um individuellen, Gruppenoder Massenwiderstand der bayerischen Bevölkerung handelt. (Broszat u. a. 1977-1983) Mit diesem Interpretationsmuster, so schreibt Klaus Jürgen Müller, sei es möglich, 46

Ziviler Widerstand

zu einem breiteren Panorama des Widerstands zu gelangen: direkte Aktionen wie Streiks oder illegale Agitation, Herstellung und Ver­ teilung von Schriften, ziviler Ungehorsam in verschiedener Form, Verweigerung der Zusammenarbeit oder auch Anstrengungen zum Zusammenhalt der Gemeinschaft. (Müller 1986, 100) Insgesamt könnte man, um eine Analogie aus der Biologie heran­ zuziehen, die Zivilgesellschaft mit einer lebenden Zelle vergleichen, die je nach der Art der gegen sie gerichteten Aggression – ob intern oder extern – verschiedene Abwehrmechanismen zur Anwendung bringt. Die Frage wäre dann, ob die Zelle internen Deregulierungen mit eigenen Mitteln zu begegnen weiß und ob sie in der Lage ist, auf das Eindringen eines Fremdkörpers mit der Entwicklung von »Antikörpern« zu re­ agieren. Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist es notwendig, das Verhalten jedes einzelnen Teils und jeder einzelnen Funktion innerhalb des Zellkörpers gegenüber der Aggression zu studieren und zu unter­suchen, ob der Zellkörper von Anfang an Immunkräfte auf bringen konnte oder nicht.

Ziviler Widerstand: eine Form des Widerstands gegen den Nationalsozialismus Für die hier beabsichtigte allgemeine Untersuchung kollektiver Widerstandsformen werde ich im Folgenden den Begriff »ziviler Widerstand« benutzen. Obwohl er selten verwandt wird, ist dieser Ausdruck nicht neu. Man findet ihn bei dem dänischen Historiker Jorgen Haestrup, der daneben die Begriffe »passiver Widerstand« oder »ziviler Ungehorsam« (Haestrup 1981) verwendet3 – oder auch bei dem französischen Histo­ riker Francois Bédarida, der den »zivilen Widerstand« vom »bewaffneten Widerstand« und »humanitären Widerstand« unterscheidet. (Bédarida 1985, 22 f.) Den Begriff »ziviler Widerstand« möchte ich einführen, um damit den spontanen und unbewaffneten Kampf einer zivilen Gesellschaft gegen einen äußeren Aggressor zu bezeichnen. Dieser allgemeinen De­ finition wären noch Erläuterungen über die Natur der Akteure, die Mittel und die Ziele des zivilen Widerstands hinzuzufügen. An dieser Stelle möchte ich noch eine Bemerkung zu dem Wort »Wider­stand« machen. Manche – zu ausschweifende – Definitionen verwässern seine Bedeutung. Im Kern geht der Begriff »Widerstand« auf Handlungen zurück, durch die sich eine Verweigerungshaltung kollektiv 47

Welcher Widerstand?

Ausdruck verschafft. Es geht dabei mehr um die Kraft, »Nein« zu sagen, als notwendigerweise um eine sehr klare Vorstellung von dem, was man stattdessen ansteuert. Widerstandshandlungen sind durch den Willen charakterisiert, sich der Unterdrückung durch einen Aggressor zu widersetzen. Sie basieren auf einer grundsätzlichen Haltung der Verweigerung und Konfrontation gegenüber dem Gegner. Widerstand beginnt also mit einem »Bruch« und wird gemeinschaftlich vollzogen. Für rein individuelle Aktionen scheinen dagegen eher Begriffe wie »Dissidenz« oder »Ungehorsam« geeignet zu sein. Darüber hinaus ist es notwendig, auf den Unterschied zwischen Widerstand und Verteidigung hinzuweisen. Verteidigung benötigt prinzipiell Vorbereitung, was für Widerstand nicht gilt. Der Begriff des Widerstands ist mit dynamischen Phänomenen verknüpft, die sich sukzessive als Reaktion auf eine unvorhergesehene Situation ergeben. Es gibt daher im Widerstand weiten Raum für ­Improvisation und Kreativität. Während Widerstand sich an der Gegenwart orientiert, bemüht sich Verteidigung um die Antizipation der Zukunft. Das bedeutet natürlich nicht, dass Verteidigung immer frei von Improvisation wäre, heißt aber, dass Widerstand immer auf eine gegenwärtige Situation reagiert, während Verteidigung einer drohenden Situa­ tion entgegenzusteuern sucht.4 Daraus folgt, dass Widerstand durch Flexibilität und hohe Fragilität gekennzeichnet ist, während Verteidigung starrer reagiert, was allerdings zugleich größere Sicherheit mit sich bringt. Das wesentliche Kriterium der Akteure dieser bestimmten Widerstandsform soll im Folgenden mit dem Begriff »zivil« bezeichnet werden. Er beschreibt die Fähigkeit der Zivilgesellschaft, aus sich selbst heraus Widerstand zu leisten – sei es durch Aktionen ihrer wichtigsten Institutionen, sei es über die Mobilisierung ihrer Bevölkerung oder durch die Kombination von beidem. Der zivile Widerstand unterscheidet sich vom militärischen Kampf ebenso, wie sich zivile Einrichtungen von militärischen unterscheiden. Das bedeutet nicht, dass das Militär sich gänzlich außerhalb der Gesellschaft befindet, sondern soll lediglich klarstellen, daß ihre Aktionsmethoden verschieden sind, dass ziviler Widerstand und militärischer Kampf auf verschiedenen Logiken gründen. Der zivile ­Widerstand besteht im Allgemeinen aus zwei Teilen: einem institutionellen und einem massenwirksamen. Der erste Teil bestimmt sich aus den Aktionen gesellschaftsstrukturierender Institutionen. Dazu gehören die Regierung und die Verwaltung als Repräsentanten der politisch legi­ timen Macht sowie die Parteien, die Kirchen, die Gewerkschaften und andere Bündnisse als Repräsentanten verschiedener Interessengruppen und Meinungen. Der zweite Teil bestimmt sich aus der spontanen 48

Ziviler Widerstand

­ obilisierung der Bevölkerung an der Basis. Dazu gehören Streiks, DeM monstrationen, Aktionen zivilen Ungehorsams usw. Jeder der beiden Teile ist für den anderen eine notwendige Unterstützung. Im optimalen Fall jedoch resultiert der Widerstand der Bevölkerung aus den Gegen­ initiativen der legitimen gesellschaftlichen Institutionen. Ist die Aktionsbereitschaft auf dem institutionellen Niveau niedrig, wofür es ver­ schiedene Gründe geben kann, dann ist der zivile Widerstand auf die langwierige Arbeit der Organisation widerstandswilliger Bevölkerungsgruppen angewiesen. Die historische Forschung kennt sowohl Beispiele für Mobilisierung des Widerstands von oben als auch für Mobilisierung von unten. Theoretisch ergibt sich das komplette Bild des Widerstands jedoch erst aus einer an der Strategie der Verweigerung der Zusammenarbeit orientierten dialektischen Mobilisierung der Gesellschaft von oben und von unten zugleich. Es stellt sich hier die Frage, welchen Sinn es hat, einen neuen Begriff für ein Phänomen zu finden, das man bisher als »psychologische Kriegführung« oder »passiven Widerstand« beschrieb. Doch weder der eine noch der andere Begriff scheinen ausreichend. »Psychologische Kriegführung« bezieht sich eindeutig auf eine Unterstützung des Krieges dergestalt, dass die feindlichen Truppen und Bevölkerungen durch Täuschungen oder Lügen demoralisiert werden sollen. Der Begriff der »psychologischen Kriegführung« schließt an sich schon die nichtmilitärischen Qualitäten von nicht auf der Logik des bewaffneten Kampfes beruhenden Aktionen aus. Im Begriff »passiver Widerstand« steckt dagegen eine zu negative Bedeutung. Insofern er unterstreicht, dass die Verweigerung der Zusammenarbeit zuerst einmal darin besteht, seine Beteiligung am Funktionieren des Systems des Aggressors zurückzunehmen, ist er nicht wirklich falsch; und natürlich kann dieser selbstbestimmte Rückzug auch in Passivität münden. In Wirklichkeit erfordert ziviler Widerstand jedoch im allgemeinen eine hohe Aktionsund Risikobereitschaft. Unter der Nazi-Herrschaft jedenfalls war die Verweigerung der Zusammenarbeit kein passiver Akt! Mehr als einmal wurden Streiks durch Deportationsmaßnahmen bzw. Hinrichtungen geahndet. Aber auch der Begriff des »zivilen Widerstands« ist im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Besatzung nicht frei von Widersprüchen. Denkt man an die Mittel, derer er sich bediente, so ist doch zumindest irritierend, dass sich der Widerstand der Bevölkerung in den besetzten Gebieten zwischen 1939 und 1945 durch den Rückgriff auf den bewaffneten Kampf auszeichnete. Auch wenn die Stärke und Häufigkeit je nach den Regionen und Ländern sehr unterschiedlich ausfielen, so ist doch 49

Welcher Widerstand?

unbestritten, dass der Rückgriff ziviler Bevölkerungsgruppen auf bewaffneten Widerstand eines der wichtigsten Charakteristika des Zweiten Weltkrieges ausmacht. Infolgedessen kann der Begriff des »zivilen Wider­ stands« nicht ausreichen, um jene Aktionsformen zu fassen, in welchen Zivilisten zu den Waffen greifen. Ziviler Widerstand beschreibt ausschließlich jene Oppositionsformen gegenüber einer Besatzungsmacht und / oder gegenüber ihren Kollaborateuren, die sich ohne Waffen ausüben lassen: ökonomisch, juristisch, erzieherisch, religiös, medizinisch usw. Auch wenn der Begriff in dieser klaren Form während der nationalsozialistischen Besatzung Europas nicht auftauchte, gab es doch Ansätze in diese Richtung. So trug in Frankreich eine der ersten Widerstands­ bewegungen in der besetzten Zone den Namen »Zivile und militärische Organisation« (Organisation civile et militaire, OCM). In Polen, wo das Wort »Widerstand« niemals zuvor benutzt worden war, tauchte der Begriff gleichzeitig mit der Gründung einer Zentrale für Zivilverteidigung (Obrona Cywilna) auf, die insbesondere die Presseaktivitäten, den Unter­ richt und das Gerichtswesen im Untergrund koordinierte. In Norwegen war der Widerstand in zwei Bereiche gegliedert, den militärischen (Milorg) und den zivilen (Sivorg). Und was Belgien betrifft, so erkannte es nach dem Krieg im strengen Sinne den Status des »zivilen Widerstandskämpfers« für jene Personen an, die in der illegalen Presse besondere Verantwortung getragen hatten.5 Die obengenannten historischen Beispiele erlauben es, einen zivilen, mit waffenfreien Mitteln arbeitenden Widerstand von einem bewaffneten Widerstand, wie ihn die maquis in Frankreich oder die Guerilla in Jugoslawien ausübten, zu unterscheiden. Dabei darf jedoch nicht aus den Augen verloren werden, dass der zivile Widerstand in der Praxis in vieler­ lei Hinsicht mit militärischen oder paramilitärischen Aktionsformen verwoben war. Zu den Gemeinsamkeiten von Guerilla und zivilem Wider­stand gehört, dass sie sich aus der Zivilbevölkerung entwickeln und dem weiten Feld »indirekter Strategien«6 zugerechnet werden können. Auch konnten verschiedene Autoren zeigen, daß der zivile Widerstand im besetzten Europa in der Tat eine Ergänzung zum bewaffneten Kampf darstellte. So diente die Herausgabe einer illegalen Zeitung oftmals als Basis für die Gründung einer Widerstandsbewegung, die später dann einen »bewaffneten Arm« auf baute. Es ist daher problematisch, die verschiedenen Widerstandsformen künstlich aus ihren jeweiligen Ent­ stehungszusammenhängen herauszulösen. Hinzu kommt, dass sich im Verlauf des Krieges das Verhältnis Besatzer-Besetzte verhärtete. Durch die Verschärfung des Konfliktes wandte auch der Widerstand mehr und 50

Ziviler Widerstand

mehr Gewalt an.7 Viele Autoren verstehen den zivilen Widerstand in dieser Perspektive als nur ergänzend, sodass sie ihn kaum erwähnen oder in den Rahmen des bewaffneten Kampfes einfügen. Dahinter steckt eine Vorstellung, die, wie Henri Michel schreibt, in dem bewaffneten Widerstandskämpfer eine Art modernen »Ritter« sieht, dem sein unbewaffneter »Knappe« zur Seite steht. (s. z.B. Michel 1980) Doch der zivile Widerstand bildete keineswegs immer nur eine bloße Ergänzung zum bewaffneten Kampf. Um seine tatsächliche Komplexität zu erfassen, gilt es, der Natur seiner Ziele nach zwei grundsätzliche Formen zu unterscheiden. Deren erste besteht in einem Rückgriff auf waffen­freie Mittel zur Unterstützung des bewaffneten Kampfes. Darunter wäre die Rolle von Zivilisten bei der Erfassung von Informationen über die wichtigsten Kriegsobjekte zu verstehen, die Unterstützung der maquis vonseiten der Bevölkerung oder die Unterstützung des Eisen­ bahnerstreiks, um die Bewegung feindlicher Kräfte zu behindern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich diese Form des Widerstands, ob sie nun in den militärischen oder paramilitärischen Kampf integriert oder nur mit ihm kombiniert ist, den Kriegszielen dienlich ist. Ihr ­Studium erscheint um so interessanter, als ihre Rolle bisher nicht aus­ reichend beleuchtet wurde. Verschiedene Arbeiten, wie die bereits erwähnten, beginnen allerdings, sich damit zu befassen. Der zweite Typ zivilen Widerstands besteht aus einem Rückgriff auf Formen der sozialen Mobilisierung und Verweigerung zur Verteidigung ziviler Ziele. Er entwickelt sich außerhalb jeglicher militärischer Logik und erscheint so unabhängig davon. Sein Ziel besteht nicht in der Zerstörung oder Lähmung der feindlichen Truppen, sondern darin, die ­Integrität der Zivilgesellschaft zu erhalten, d. h. den Zusammenhalt der Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzt, die Verteidigung der grundlegenden Freiheiten, sowie die Respektierung der persönlichen, sozialen und politischen Rechte. Unter diese Kategorie fallen sowohl Aktionen verschiedener politischer oder juristischer Instanzen, die versuchten, ihre Legitimität gegenüber der Besatzungsmacht zu behaupten, als auch ­Aktionen der Kirchen, der Gewerkschaften und Berufsverbände, die die Autoritäten in verschiedener Weise herausforderten, sowie – noch all­ gemeiner – die Versuche der Bevölkerung, sich lokal zu organisieren, um Verfolgten Hilfe leisten zu können. Diese zweite Form des unabhängigen, zivilen Widerstands kommt dem nahe, was man »gewaltfreien Wider­stand« nennt. Der Begriff ist allerdings dort wieder problematisch, wo diese Widerstandsform in Ermangelung anderer Mittel gewählt worden ist, d. h. in Ermangelung von Waffen, deren Einsatz zur Ultima 51

Welcher Widerstand?

Ratio der meisten Widerstandskämpfer gegen die deutschen Befehle geworden war. Doch gerade eine solche Situation schuf nicht selten günstige Bedingungen für das Erscheinen neuer, origineller waffenfreier Aktions­formen. Dieser zivile Widerstand entdeckt also spontane und pragmatische Praktiken, ohne einem Verzicht auf Gewalt als strate­ gischem Mittel zugestimmt zu haben. Aus Notwendigkeit unterlässt er die physische Gewalt, um stattdessen aktiv die Zusammenarbeit zu verweigern. Dieser, und nur dieser Widerstandsform ist die vorliegende Arbeit gewidmet.8

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3. Kapitel Das Geheimnis der Verweigerung der Zusammenarbeit

Man kann von einem Widerstand vor und einem Widerstand nach ­Stalingrad sprechen: So grundlegend veränderte die erste große Niederlage der deutschen Armeen im Februar 1943 die Einstellung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten gegenüber der Besatzungsmacht. Um diese Veränderung und die vorhergehende Passivität einschätzen zu können, gilt es, auch die unterschiedlichen Mentalitäten der sozialen und politischen Gruppen innerhalb der verschiedenen Gesellschaften vor dem Zweiten Weltkrieg in die Betrachtung mit einzubeziehen. Dazu gehören auch die Geographie und das Entwicklungsniveau eines Landes, die in hohem Maße die Formen seines Widerstandes bestimmten: Eine Guerilla entwickelte sich bevorzugt in gebirgigen Regionen, während der zivile Widerstand sich hauptsächlich in den Zonen städtischer und ­industrieller Konzentration verbreitete. Wir finden ihn daher häufiger in den Ländern Westeuropas oder Skandinaviens als in denen des Balkans. Die eigentliche Dynamik wie auch der weitere Entwicklungsrahmen des europäischen Widerstands wurden entscheidend von den militärischen Erfolgen und Misserfolgen der Kriegsparteien bestimmt. Vor 1943 stand der weiter oben beschriebene »Realismus« nicht auf der Seite derjenigen, die sich Hitler widersetzten: Europa schien Deutschland zu gehören und die Zukunft nationalsozialistisch bestimmt zu sein – und das für lange Zeit. Widerstehen, das bedeutet also, die alte Ordnung (der Dinge) wiederherstellen und die Werte der Vorkriegszeit rekonstruieren zu wollen. Die allgemeine Dynamik des Widerstands ist die der Selbst­ erhaltung. Sie beginnt mit der Verweigerung; widerstehen heißt zunächst einmal, nicht zu resignieren. Mit der Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses im Frühjahr 1943 begann die Hoffnung Wirklichkeit zu werden, dass der National­ sozialismus eines Tages doch noch besiegt werden könnte. Sicher hatten auch schon 1941 die Kriegseintritte der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten an der Seite Englands eine große Bedeutung, doch nur die ­wenigsten rechneten aufgrund der Tatsache, dass deren vereintes ökonomisches Potenzial demjenigen Deutschlands, Italiens und Japans weit überlegen war, mit ihrem endgültigen Sieg. Denn dies galt es durch 53

Das Geheimnis der Ver weigerung

Fakten erst noch unter Beweis zu stellen. Schon 1942 hatten die Schlacht von El-Alamein (8. November) und die Rückeroberung Nordafrikas gezeigt, dass Deutschland auf dem Schlachtfeld nicht mehr unbesiegbar war. Aber erst die Niederlage von General Paulus vor Stalingrad – wie die der napoleonischen Truppen zuzeiten in Russland – veränderte die Haltung der Besetzten gegenüber dem Besatzer und seinen Helfern. Deutschland hatte eine entscheidende Schlacht auf europäischem Boden ver­ loren, wo es seit drei Jahren unangefochten regierte. Zugleich begann man auf die Eröffnung einer zweiten Front im Westen durch die Landung der angloamerikanischen Truppen zu hoffen. Damit erfuhr die interne Opposition eine qualitative Veränderung. Die allgemeine Dynamik des Widerstands wurde von der Befreiung bestimmt. Der Auf bau illegaler Strukturen wurde verstärkt, und es ging nunmehr darum, sich auf den endgültigen Sieg vorzubereiten. Die meisten schienen diesen Sieg wie eine Völkererhebung vergangener Jahrhunderte zu erwarten. Zuvor schon hatte die Führung der Widerstandsbewegungen die Alliierten um Waffen gebeten und stellte nun, 1943, die Notwendigkeit unter Beweis, mehr und mehr davon zu erhalten. Gleichzeitig achteten sie darauf, in gute politische Positionen zu gelangen, um später aktiv an der Reorganisation der Nachkriegsgesellschaften Anteil nehmen zu können. Der Widerstand begann sich über die zunehmend militärischen Kampfhandlungen zu radikalisieren und zugleich um die Dimension der politischen Auseinandersetzung zu erweitern; ein jeder suchte bereits seine Stellung in der Öffentlichkeit zu sichern, die ihn künftig begünstigen sollte. Die Entscheidung, nur unabhängige Formen des zivilen Widerstands zu untersuchen – d. h. solche, die nicht direkt in den bewaffneten Kampf eingebunden waren –, gilt vor allem für die Betrachtung der Periode vor Stalingrad; für die Zeit also, während derer der Widerstand in den besetzten Gebieten noch verhältnismäßig gering organisiert und nicht völlig in die militärischen Schemata integriert war. Das soll nun gerade nicht bedeuten, dass der Widerstand in der betrachteten Phase unbedeutend gewesen sei, während allerorten die Zusammenarbeit mit dem Besatzer vorgeherrscht hätte. Die Wirklichkeit ist sehr viel facettenreicher, als es die vereinfachende Teilung in zwei Perioden wiedergeben kann. Fassen wir daher zunächst einmal einige grundlegende Fakten zu­sammen.

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Die Komplexität der Verhaltensweisen gegenüber dem Besatzer Je mehr Material über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus man untersucht, desto komplexer erscheint er, und desto weniger entspricht er den vereinfachenden Vorstellungen verschiedener ideologischer Darstellungsraster, die aus der jüngeren Vergangenheit vermittelt werden. Zu der Komplexität der Fakten gehört zum Beispiel, dass trotz der sagenhaften Geschwindigkeit, mit der Deutschland Europa eroberte, und trotz der scheinbaren Irreversibilität seiner Herrschaft die eroberten Völker nicht spontan mit Hitler zusammenarbeiteten. Das bedeutet zugleich, dass die Zusammenarbeit mit den Nazis und die Unterstützung ihrer Ziele nicht direkt aus deren militärischem Sieg erfolgte. An dieser Stelle muss man die Zusammenarbeit, deren wichtigste politi­sche Formen oben beschrieben wurden, von den verschiedenen Formen der Anpassung an eine neue und unvorhergesehene Situation unterscheiden. Nachdem der Schock über die militärische Niederlage und über die Besatzung nachgelassen hatte, war es durchaus nötig, dass das Leben wieder seinen Gang nehmen konnte. Doch die Bevölkerung in den besetzten Gebieten war nicht darauf vorbereitet, eine solche »Erfahrung« umzusetzen. Daher war eine mehr oder weniger lange und schmerzhafte Zeitspanne nötig, um sich auf die neuen politischen Ge­ gebenheiten einzustellen. Einstellen heißt hier nicht mehr als das Bestreben, zu überleben. Solche Zerfallssituationen wie auch der nachfolgende gesellschaftliche Wiederauf bau begünstigen zumeist die Entwicklung opportunistischer Haltungen. Im Nachhinein lässt sich darüber mit Geringschätzung urteilen. Aus ihrem historischen Zusammenhang ­heraus sind sie jedoch verständlich. Stanley Hoffmann bemerkt dazu: »Selbst­erhaltung ist nicht das nobelste aller Ziele, doch das elementarste.« (Hoffmann 1974) Es war durchaus nötig, dass die Verwaltungen wenigstens zu einem Minimum funktionierten, um die Abwicklung der zivilen Geschäfte zu sichern – und es war ebenso notwendig, dass die Warenkreisläufe wieder in Gang kamen, um die Bevölkerung zu ernähren. Keine dieser elementaren Handlungen zur Erhaltung der Grundlagen des individuellen und kollektiven Lebens aber darf mit jenen verwechselt werden, die aus einem Geist der Zusammenarbeit heraus ausgeführt worden sind. Natürlich konnten sie darin verstrickt sein, und im Übrigen war es das Spiel des Besatzers, sie zu solchen zu machen. Hinzu kommt noch, dass es, bedingt durch die Blockade Englands und durch die Umleitung der meisten ökonomischen Kreisläufe zum Nutzen des Reichs, immer schwieriger wurde, ein Unternehmen zu erhalten, ohne in 55

Das Geheimnis der Ver weigerung

irgendeiner Weise den deutschen Interessen zu dienen. Doch es macht einen Unterschied, ob man zu einem solchen Verhalten gezwungen wird oder ob man es freiwillig sucht. Da der Ausgang des Krieges unklar war, entschied sich eine Mehrheit dazu abzuwarten, anstatt eine klare Position zu beziehen. Diese ab­ wartende Haltung der Bevölkerungen wurde oftmals kritisiert, da sie einen Mangel an politischer Courage offenbare. Wie hätte es aber anders sein können? Zahlreiche von Deutschland geplünderte Länder wurden in eine Mangelwirtschaft gestürzt, und viele Menschen mussten eine beträchtliche Zeit dafür aufbringen, rar gewordene Nahrungsmittel zu besorgen. Diese physische und psychische Auszehrung konnte kaum der Bildung von Widerstand förderlich sein. Erst mit dem Entstehen einer Schattenwirtschaft – dem Schwarzmarkt – begann die individuelle Durch­ wurstelei so etwas wie einen neuen Gemeinsinn hervorzubringen, der zu Beginn in den meisten Ländern quasi inexistent war. Hinzu kommt, dass die meisten europäischen Völker keine näher zurückliegende Erfahrung mit fremder Besatzung hatten. Ausnahmen sind Polen, das zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert Besatzung in allen Variationen kennenlernte, Belgien sowie der Norden Frankreichs, der bereits 1914 von Deutschland besetzt gewesen war. Um jedoch Widerstand zu leisten, reicht es nicht aus, den Willen dazu zu haben, sondern es ist auch nötig zu wissen, wie. In ebendieser Frage aber verfügten die europäischen Völker über kein Wissen, auf das sie hätten zurückgreifen können. Sie waren daher ohne Verteidigungsmöglichkeit, standen dem Feind wie »nackt« gegenüber. Ihre abwartende Haltung kann deshalb auch als kollektiver Reflex elementarer Vorsicht interpretiert werden. Wer immer sich in einer außergewöhnlich gefährlichen Situation befindet, der er aus eigener Kraft zu begegnen nicht gelernt hat, hofft auf Hilfe von außen, um am Leben zu bleiben. Tatsächlich erforderte die Konfrontation mit der außergewöhnlichen Lage, d. h. die Fähigkeit, dem Besatzer gewappnet zu sein, einen reichen Erfindungsgeist. Neue Verhaltensweisen mussten angenommen, neue soziale Praktiken erarbeitet, neue Institutionen gegründet werden. Auch wenn nicht jede Bevölkerung bei null anfing und auch nicht jede den gleichen Bedingungen ausgesetzt war, war Widerstand für alle doch Neuland. Dadurch aber kamen die verschiedensten neuen individuellen und kollektiven Verhaltensweisen zustande. Insofern kann man zu Recht von einer »Kreativität des Widerstands« sprechen. Zur Schaffung größerer Klarheit sei an dieser Stelle Widerstand von Dissidenz unterschieden. Das, was herkömmlich »Widerstand« genannt wird, ist oftmals nicht mehr als nur eine fortgeschrittene Phase sozialer 56

Die Komplexität der Verhaltensweisen

oder innenpolitischer Opposition, der es gelungen ist, sich eine Organisation zu schaffen und Ziele festzusetzen. Doch noch andere, sehr unterschiedliche Verhaltensweisen können diesen Prozess begleiten, die alle auf ihre Weise gegenüber dem neuen Regime ihre Unabhängigkeit – also ihre Dissidenz – unter Beweis stellen. Der Prototyp dieser Eigenständigkeit, der mit dem Sammeln inoffizieller Nachrichten begann, war das heim­liche Hören der Radiosendungen aus London, später aus Moskau oder Brazzaville – in den stillen vier Wänden des eigenen Hauses. Das heimliche Lesen der illegalen Presse – gefährlicher, weil es Spuren hinter­ ließ – gehört in dieselbe Kategorie. Auch öffentlich drückte sich Dissidenz durch Zeichen und Symbole aus, wie zum Beispiel durch das Tragen bestimmter Kleider oder eines bestimmten Kennzeichens, womit der Einzelne seine ungebrochene Persönlichkeit oder seine politische Un­ angepasstheit kundtat. So wurde in Frankreich an Nationalfeiertagen blau-weiß-rote Kleidung getragen oder in Holland eine weiße Nelke als Zeichen der Treue gegenüber der Krone ins Knopfloch gesteckt. In Norwegen wurde das Tragen einer Nadel am Revers zum Zeichen des Widerstands. Über die nationalen Unterschiede hinweg wurde 1941 von einem belgischen Minister der Buchstabe »V« für »Victoire« als Symbol für Widerstand vorgeschlagen und über die Sender der BBC in ganz Europa verbreitet. Gleichzeitig ergaben die verschiedenen kulturellen Zeichen zusammengenommen so etwas wie eine eigene Sprache des Widerstands, eine Sprache des Unterschieds, deren Anwendung eine Möglichkeit darstellte, »Nein« zu den Werten des Besatzers und denjenigen der mit ihm Zusammenarbeitenden zu sagen und dabei eine gewisse Treue gegenüber sich selbst zu bewahren. Das Bemühen führte auch dazu, dass man gegenüber den Besatzern Abstand zu halten versuchte. Darüber geben – spontan von Unbekannten verfasste – Texte mit Verhaltensmaßregeln Auskunft, die faszinierender­ weise gleichzeitig an verschiedenen Orten und in verschiedenen Kulturen Europas entstanden. In Frankreich erschien ein zum Teil recht naives und doch voller Humor steckendes Traktat, die Hinweise zum Umgang mit dem Besatzer: Sie sind Eroberer. Sei korrekt mit ihnen. Doch gehe nicht, nur um dich hervorzutun, weiter, als sie es verlangen. Nur nichts überstürzen. Sie danken es dir nicht. Du kennst ihre Sprache nicht oder du hast sie vergessen. Wenn dich einer auf deutsch anspricht, mach ein Zeichen der Hilflosigkeit und gehe ohne Zögern weiter deinen Weg. (zit. n. Noguérres 1969) 57

Das Geheimnis der Ver weigerung

In Bulgarien gab ein Kommunist ein kleines Handbuch in der Phraseologie des Marxismus heraus – Wie schützt man sich vor dem Feinde? Allen, die Widerstand leisten wollten, gab er Hinweise zur Vorsicht und Sicherheit: Bewahre eine eiserne Disziplin. Man muss vorsichtig sein, wenn man in Kreisen, die man nicht kennt, über politische Probleme spricht. […] Behalte kein illegales Material bei dir. […] Nimm kein unnützes Risiko auf dich. (Chekerdjiyski 1964) Was die »Zehn Gebote eines Dänen« betrifft, so sind diese nicht nur von einer bemerkenswerten Knappheit, sondern bilden zugleich eine gute Basis für das Zeigen der »kalten Schulter« gegenüber dem Besatzer (Den Skolden) und für Aktionen der Verweigerung: 1. Du sollst nicht in Deutschland oder Norwegen arbeiten. 2. Du sollst für die Deutschen schlecht arbeiten. 3. Du sollst für die Deutschen langsam arbeiten. 4. Du sollst alle Werkzeuge und alle Maschinen zerstören, die den Deutschen nützlich sind. 5. Du sollst versuchen, alles zu zerstören, was den Deutschen Profit bringen kann. 6. Du sollst alle Transporte nach Deutschland verzögern. 7. Du sollst die deutschen oder italienischen Zeitungen und Filme boykottieren. 8. Du sollst nicht in deutschen Läden einkaufen. 9. Du sollst den Verrätern geben, was sie verdienen. 10. Du sollst jedem, der von den Deutschen verfolgt wird, Schutz gewähren. (zit. n. Bergfeldt 1988) Auch wenn Texte dieser Art wenig gelesen wurden und daher keine wirkliche Breitenwirkung hatten, zeugen sie doch von dem Willen einiger Bevölkerungsteile in den besetzen Gebieten, trotz und wegen der fehlenden Vorgaben selbstständig Handlungsrichtlinien zu suchen oder auf­ zustellen, die für das tägliche Leben und für alle gleichermaßen Bestand haben konnten, damit ein jeder so wenig Kompromisse wie möglich mit dem Besatzer einzugehen brauchte. Es wird deutlich, dass für das Verhalten der Besetzten gegenüber den Besatzern ein weites Spektrum an Handlungsmöglichkeiten vorhanden war – von freiwilliger und erzwungener Zusammenarbeit, Versuchen der Anpassung, verschiedenen Formen der Dissidenz bis zum tatsächlichen Ausdruck von Widerstand. Oder anders gesagt: Die Gesellschaft eines 58

Die Komplexität der Verhaltensweisen

okkupierten Landes kann im Allgemeinen über zwei gegenüberliegende Pole beschrieben werden – über die Minderheit der erklärten Kollaborateure und über die Minderheit der erklärten Widerstandskämpfer. Dazwischen liegt eine Vielzahl von Verhaltensweisen, deren Bedeutungen komplex und teilweise widersprüchlich sind. Zusammengenommen ­zeigen sie, dass das Gesamtverhalten eines besetzten Volkes gleichzeitig von Anpassung und von Verweigerung gegenüber dem Besatzer bestimmt ist. Unter diesem Gesichtspunkt unterstützen einige Historiker die ­These, dass die Zwiespältigkeit der Besatzungssituation häufig auch zur Bildung einer gespaltenen Praxis von Zusammenarbeit und Widerstand bei ein und demselben Individuum oder ein und derselben Gruppe führte.1 So mussten z. B. viele der »legalen Illegalen«, das heißt der­ jenigen, die bei gleichzeitiger Wahrung ihrer »offiziellen Deckung« durch ihren Beruf einer Widerstandsbewegung angehörten, tagsüber zu einem gewissen Grad »zusammenarbeiten«, um nachts im Widerstand arbeiten zu können. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist der Fall der »arbeitenden« Beamten.2 Diese waren den Widerstands­ bewegungen ausgesprochen nützlich, da sie zum Beispiel »richtig-falsche« Ausweis­papiere oder Lebensmittelkarten ausstellten oder bevor­ stehende Fest­nahmen und Razzien verrieten. Diese Beamten, die sich erheblichen persönlichen Risiken aussetzten, waren durch ihre berufliche Stellung gleichwohl gezwungen, den Zielen der Besatzer zu dienen, da sie sonst Gefahr gelaufen wären, enttarnt zu werden oder ihre Anstellung zu ­verlieren. Trotzdem lag es im eigenen Interesse der Widerstands­ bewegungen, dass sie, bei minimaler Zusammenarbeit, in ihren Funk­ tionen blieben. In solchen Situationen scheinen sich die Grenzen zwischen Widerstand und Zusammenarbeit zu verwischen. Da eine taktische Zusammen­ arbeit in Wirklichkeit eine Form des Widerstands sein konnte, ist die Frage entscheidend, vor welchem Hintergrund und mit welchem Ziel die Einzelnen mit dem Besatzer zusammenarbeiteten. Hier hängt alles davon ab, was man unter »Zusammenarbeit« versteht. Man sollte den Begriff des Widerstands jedoch nicht zu weit fassen, da sonst die Gefahr besteht, auch jene Formen der Zusammenarbeit zu legitimieren, denen lediglich daran gelegen war, ihr Verhalten mit Pseudowiderstand zu kaschieren. Es ist allerdings auch eine Tatsache, dass sich in einigen Fällen eine begrenzte Verweigerung der Zusammenarbeit – ob individuell oder kol­lektiv – aus Positionen freiwilliger oder erzwungener Zusammenarbeit ­heraus entwickelte. 59

Das Geheimnis der Ver weigerung

Eines der besten Beispiele auf der institutionellen Ebene bietet hierfür Dänemark. Die Kompromisspolitik der dänischen Regierung ermöglichte es, die Erfüllung manch deutscher Anforderung hinauszuzögern oder ihr entgegenzuwirken. Die Beamten versuchten mehr oder weniger erfolgreich, Befehle zu verschleppen oder abzuändern. So hatte Berlin zum Beispiel im Januar 1941 bei der dänischen Regierung die Bereitstellung von acht Torpedobooten für die Reichsmarine angefragt – bei gleich­ zeitiger Versicherung, dass diese »freundschaftliche Geste« die dänische Neutralität nicht im Geringsten berühren würde. Dänemark jedoch drückte sein Bedauern aus, dass es aufgrund der zwischen beiden Ländern getroffenen »Abmachungen« diesem Wunsch nicht Folge leisten könne. In einem Memorandum vom 9. April 1940 hatte Deutschland ausdrücklich zugesichert, dass die dänische Flotte unter der alleinigen Befehlsgewalt Dänemarks verbleibe. Auf die klare Ablehnung Dänemarks antwortete Berlin, dass es wohl falsch verstanden worden sei und die Schiffe nur zu Schulungszwecken dienen sollten, eventuell für ­Patrouillenfahrten im Baltischen Meer, keinesfalls aber zu militärischen Aktionen. Dänemark jedoch blieb bei seiner Position. Daraufhin wurde der deutsche Botschafter in Kopenhagen beauftragt, eine Audienz beim König zu erwirken. Berlin erhoffte schließlich ein Einlenken, ließ aber durchblicken, dass es andernfalls seine Lieferung von Kohle einstellen würde. Christian X . konnte die deutschen Machthaber daraufhin nur bitten, die bisher mündlichen Verhandlungen schriftlich zu fixieren. Um den deutschen Forderungen zu entsprechen, übergaben die Dänen nun die Kriegsschiffe – allerdings nicht ohne zuvor die Geschütze, die Torpedo­werfer und das Navigationsmaterial entfernt und in Sicherheit gebracht zu haben. Zu gebrauchen waren die Schiffe in diesem Zustand nicht mehr. (Rings 1981, 157) Auch in den für Deutschland arbeitenden Betrieben versuchten zahlreiche Arbeiter, die Produktion zu verschleppen oder zu sabotieren. Sie waren meist auf sich allein gestellt und kaum organisiert. Doch während sie auf der einen Seite die Verantwortung für den Erhalt ihres Arbeitsplatzes und ihren Lebensunterhalt trugen, war ihnen gleichwohl bewusst, dass ihre Arbeitskraft den deutschen Kriegszielen diente. Aus diesem Grund versuchten sie, die Qualität der Produktion zu mindern oder die Produktion aus dem Rhythmus zu bringen. Das, was man im All­ gemeinen unter »passivem Widerstand« versteht und was man besser Behinderungstaktik nennen sollte, entwickelte sich in ganz Europa in bemerkens­wertem Maß. In einer 1941 veröffentlichten Arbeit schreibt Jiri Hronek: 60

Die zunehmende Radikalisierung

Die Räder der Industrie drehen sich derzeit nur langsam in den Werkstätten und Fabriken. Die Politik der langsamen Arbeit bewirkt bereits einen bemerkenswerten Produktionsrückgang, und das zu einer Zeit, in der Deutschland versucht, die größtmögliche Kriegsproduktion zu er­ reichen, um mit den Alliierten mithalten zu können. (Hronek 1941, 85) Auch in der nordwesteuropäischen Industrieregion (Frankreich, Belgien, Luxemburg) schien die Produktion von Kohle, Eisen und Stahl seit Ende 1940 von dieser Politik betroffen zu sein. Die europäischen kommunistischen Parteien versuchten seit 1941 über die unter ihrer Kontrolle ­stehenden Gewerkschaften die Sabotagepraktiken in den für Deutschland arbeitenden Fabriken zu vereinheitlichen. Trotzdem ist es schwierig herauszufinden, wie und in welchem Ausmaß diese Maßnahmen von den Arbeitern angewandt wurden. In einer regionalen Studie über das in Norditalien gelegene Bergamo und seine Umgebung stellt Stefano ­Piziali die Vielzahl und den Einfallsreichtum bei der Ausführung dieser Prak­ tiken heraus, die dem Besatzer zum Teil erheblichen Schaden zufügen konnten. (Piziali 1986) In allen Bereichen des Berufslebens entwickelten sich Praktiken, die auf die »Macht der Bewegungslosigkeit« bauten; in Produktionsstätten ebenso wie in Dienstleistungsbetrieben (Eisenbahn) oder in der Verwaltung. So entstanden die unterschiedlichsten Varianten: »Arbeit ohne Zusammenarbeit« (auf seinem Posten bleiben und versuchen, nichts zu tun, was dem Besatzer nützen könnte), »gewaltfreie Sabotage« (ein wichtiges Teil einer Maschine entfernen, ohne sie zu zerstören) oder »Schwej­ kismus« (absichtliche Fehlinterpretation von Befehlen).3 Diese »weichen« Techniken der Verweigerung beinhalten nur ein geringes Risiko, anders als ein Streik, bei dem sich die Arbeiter selbst und direkt der Repression aussetzen. Selten nur wurden diese Techniken während der Besatzung durch die Nazis in gemeinsamen Aktionen durchgeführt. Zumeist blieb es bei vereinzelten und individuellen Taten von Personen oder Gruppen, die im Rahmen einer Arbeit, die dem Besatzer bzw. den mit ihm Zusammenarbeitenden Nutzen brachte, »etwas tun« wollten.

Die zunehmende Radikalisierung der Beziehung Besatzer-Besetzte Die komplexen Verhaltensweisen der Besetzten gegenüber den Besatzern erlauben also keinerlei Simplifizierung. Es ist unmöglich, die Mitglieder einer Gesellschaft in eine Gruppe von Widerstandskämpfern und eine 61

Das Geheimnis der Ver weigerung

mit dem Besatzer zusammenarbeitende einzuteilen. Was sich dagegen festhalten läßt, ist, dass es bei jedem Individuum und in jeder sozialen Gruppe eine Dominante des Verhaltens gab, die mehr oder weniger diesem oder jenem »Lager« zugeordnet werden kann – ohne dass ­ diese Zugehörigkeit für immer gelten musste. Diese Vielfältigkeit darf ­an­dererseits nicht über die großen politischen bzw. soziologischen Linien hinwegtäuschen. Denn natürlich stehen diese Verhaltensweisen, ob in­ dividuell oder institutionell, in einem Gesamtzusammenhang. Dieser wird bestimmt von dem sozialen und politischen Klima in dem betreffenden Land – und von dem aktuellen Verlauf des Krieges. Das Verhalten der Einzelnen, das sich aus einer Mischung von Zusammenarbeit, Anpassung, Dissidenz und Widerstand zusammensetzt, wird erst in der Gegenüberstellung mit dem Stand der öffentlichen Meinung bewertbar. Diese öffentliche Meinung veränderte sich während des Krieges in bemerkenswerter Weise. Zu Beginn akzeptierte sie in zahlreichen Ländern eindeutig die Anpassung an die neuen Machthaber. Sie trat nicht für einen, noch inexistenten, Widerstand ein. Gegen Ende des Konfliktes dagegen hatte sich die allgemeine Tendenz umgekehrt: Die Gesellschaften der besetzten Länder hofften mehrheitlich auf ihre Befreiung vom Nationalsozialismus, der ihnen inzwischen zu viele Nachteile gebracht hatte. Vielleicht wusste zu Beginn die Bevölkerung nicht, was sie erwartete – sie konnte sich sogar manche Verbesserung erhoffen. Nach vier Jahren Nazi-Herrschaft aber gab es diesbezüglich keine Illusionen mehr. Es erfolgte ein allgemeiner Umschwung der öffentlichen Meinung und zugleich eine beträchtliche Veränderung im Verhalten der Individuen und Gruppen. Durch die Verschiebung des militärischen Kräfte­ verhältnisses und den ständig anwachsenden Druck der Deutschen auf die Bevölkerung in den besetzten Gebieten ergab sich eine zunehmende Radikalisierung im Verhalten der Einzelnen, die sie dazu zwang, ihre Standpunkte offenzulegen. Diese Polarisierung, die ihren Höhepunkt am Ende des Krieges erreichte, hatte zur wichtigsten Konsequenz die Beendigung aller politischen »Kompromisse«, insbesondere jenes »Wider­ stands durch Zusammenarbeit«. Sicher gab es auch während dieser Entwicklung weiterhin Formen der Anpassung neben solchen des erklärten Widerstands. In den Fabriken zum Beispiel hielt man die Taktik der »Bewegungslosigkeit« aufrecht. Sie bildete, während man auf das Eintreffen der Alliierten wartete, eine Möglichkeit zur spontanen Aktion. Auch Beamte, die ein doppeltes Spiel spielten, indem sie gleichzeitig mit Widerstandsbewegungen in Verbindung standen, konnten sich noch auf ihren Posten halten. Doch es wurde 62

Die zunehmende Radikalisierung

zunehmend gefährlicher, und es stellte sich die Frage, ob sich eine Institu­tion dauerhaft in dem Kompromiss zwischen Kooperation und Verweige­rung der Kooperation einrichten konnte. Unter der Besatzung der Nazis jedenfalls schien eine solche Haltung auf lange Sicht undurchführbar. Die Macht der Ereignisse forderte unerbittlich eine Entscheidung. Auch wurde es zunehmend schwieriger, Zeit zu gewinnen, ein Mittelmaß zu finden, eine Linie fortzuführen, ohne von der anderen zu lassen. Es galt, sich zu unterwerfen oder aufzubegehren. Die Logik des Kompromisses mit Hitler führte ausnahmslos und unausweichlich zur Unterwerfung. Ein bezeichnendes Bild für diese Radikalisierung bietet die politische Situation in Dänemark, wo es Ende August 1943 zum Sturz der Re­ gierung kam. In diesem Land, in dem Deutschland durch wenig nazistisches Verhalten sein scheinbar »humanes« Wesen unter Beweis stellen wollte, verschlechterte sich das Verhältnis Besetzte-Besatzer unerwartet schnell, und das »demokratische Schaufenster« wandelte sich in ein ­Fiasko. Als die Machthaber die dänischen Autonomiebestrebungen nicht länger zulassen konnten, zeigte sich das wahre Gesicht des nationalsozia­ listischen Regimes. Noch im Frühjahr 1943 hatte der Reichsbevollmächtigte Werner Best die Lage in Dänemark höchst vorteilhaft bewertet. In dem Halbjahresbericht, den er Berlin im Mai 1943 vorgelegt hatte, äußerte er sich ausgesprochen zufrieden über den dänischen Realismus und ­stellte fest, dass der Kommunismus so gut wie keine Rolle mehr spielte. Er unterstrich die Tatsache, dass nur 85 deutsche Beamte, unterstützt von 130 Angestellten und unter Mithilfe der dänischen Regierung, ein Volk von vier Millionen Menschen verwalten konnten, während in Nor­ wegen, wo die Regierung ins Ausland geflohen war, 3000 Beamte kaum ausreichten, ein Land von drei Millionen Menschen zu regieren. Hinzu komme noch, dass die Agrarexporte nach Deutschland reibungslos verliefen. Doch Best erwähnte nur die ihm vorteilhaften Seiten. Etwa zeitgleich schrieb auch General von Hannecken, Kommandant der Wehrmacht, an seine Vorgesetzten, um sie von seiner sehr viel negativeren Sicht der Dinge zu unterrichten. Er war mit der von Best verfolgten politischen Linie nicht einverstanden. Seiner Ansicht nach war mehr Entschlossenheit anzuraten, um vor allem der sich verschlimmernden Sabotage zu begegnen. In der Tat begann sich der interne Widerstand im Verlauf des Jahres 1942 zu organisieren. Die kleine kommunistische Partei Dänemarks war zu direkten Aktionen übergegangen, und gegen Ende 1942 wuchs die Zahl der Sabotageakte an. Die dynamischer gewordene illegale Presse 63

Das Geheimnis der Ver weigerung

hatte damit begonnen, Sabotage als das kleinere Übel darzustellen: ­Gemessen an den vielen Opfern, die die englischen Bombardierungen aus der Luft inzwischen schon gefordert hatten, sei es allemal besser, wenn die Dänen begännen, sich selbst zu organisieren. Die öffentliche ­Meinung begann sich zu ändern, und das Unbehagen an der Regierung Scavenius wuchs. Und schließlich hatte auch der Verlauf des Krieges in Russland seinen Einfluss. Das Aufkommen dieses inneren Widerstands war für die dänische Regierung durchaus problematisch. Wie sollte man sich zu der wachsenden Anzahl der Sabotageakte stellen? Die deutschen Autoritäten bestanden mehr und mehr auf der Einleitung harter Maßnahmen. Dies musste jedoch unweigerlich dazu führen, dass ein großer Teil der Bevölkerung der Regierung den Rücken zukehren würde. Als Scavenius schließlich die Gründung eines speziellen dänischen Korps zum Schutz der Fabriken und strategischen Punkte ankündigte, rief er damit in der Öffentlichkeit offene Opposition hervor. Die illegale Presse und die Sender der BBC unterzogen sich gern der Mühe, diese noch zu verstärken. Ohne dass es von der dänischen Regierung oder von den deutschen Autoritäten vorhergesehen worden wäre, wurde das Land im Sommer 1943 plötzlich von einer großen Protestwelle erfasst, die letztlich in eine schwere politische Krise mündete. Ihren Ausgang nahm sie mit dem sprunghaften Anstieg der vom Widerstand organisieren Sabotageakte: 93 im Juli, 220 im August, d. h. drei bis sieben pro Tag. (Zahlen n. Haes­ trup 1970, 7 f.) Diese wachsende Unruhe mündete in eine Streikwelle, die gleichermaßen aus politischen wie aus sozialen Quellen genährt wurde. Hauptforderungen waren die Erhöhung der Löhne und der Bau von Luftschutzbunkern, deren Fehlen sich während der englischen Luftangriffe grausam bemerkbar gemacht hatte. Die Bewegung begann Anfang August im Hafen von Odense und ergriff bald das ge­samte Land. Innerhalb von zwei Wochen waren fast alle großen Städte be­ troffen, und die Streiks wurden zum Teil sogar von Demonstrationen auf offener Straße begleitet. Zwischen dem 23. und 27. August erlebte die Bewegung ihren Höhepunkt und wendete sich zur offenen Revolte. Es kam zu Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den deutschen Kräften. In Odense wurde ein deutscher Offizier schwer ­verletzt. Best forderte von Scavenius Sofortmaßnahmen, um die Bewegung zu beenden. Doch die dänische Regierung schien von der Situation völlig überwältigt zu sein. Scavenius erließ einen Appell zur Ruhe, der un­ gehört verhallte. Die Best’sche Politik der Mäßigung war im Begriff zu 64

Die zunehmende Radikalisierung

scheitern. Am 26. August wurde er nach Berlin gerufen, und Hitler befahl ihm, das Kriegsrecht durchzusetzen. Über die Stadt Odense wurde eine Geldstrafe von einer Million Kronen verhängt, und es wurden schwere Repressionen für den Fall angekündigt, dass sich diejenigen, die den deutschen Offizier misshandelt hatten, nicht meldeten. Best wurde beauftragt, der dänischen Regierung ein Ultimatum zu stellen, welches auf das hinauslief, was er immer hatte vermeiden wollen: Unterbindung der öffentlichen Freiheiten, Erlass einer Sperrstunde, Einsetzung von Kriegsgerichten, die jeden Saboteur zum Tode zu verurteilen hatten. Am 28. August übergab Best die deutschen Forderungen an Scavenius und mahnte ihn, die Zustimmung der dänischen Regierung noch am selben Tage einzufordern. Auf ihrer außerordentlichen Sitzung wies die dänische Regierung das Ultimatum jedoch zurück. Scavenius, der sich zuvor zurückhaltend zu dieser Entscheidung geäußert hatte, übernahm schließlich die einstimmige Meinung der Minister: Falls die dänische Regierung zu einer Politik der Zusammenarbeit und – bis dahin unbekannter – ­Repressionen übergehen würde, hätte das unkontrollierbare Reaktionen der dänischen Bevölkerung zur Folge. Der Text wurde dem König unterbreitet und daraufhin eine Erklärung der Regierung an das Volk erlassen. Darin hieß es in gemäßigtem Ton: Die Verwirklichung der von Deutschland geforderten Maßnahmen würde die Möglichkeiten der dänischen Regierung, die Ruhe in der Bevölkerung zu bewahren, für immer zerstören. Die dänische Re­ gierung bedauert daher, ihre Zustimmung zur Anwendung der geforderten Maßnahmen nicht geben zu können. (zit. n. Petrow 1974, 92) Mit Kenntnisnahme dieser Nachricht übernahm die Wehrmacht die Leitung der folgenden Operationen. Im Morgengrauen des 29. August stürmten die deutschen Truppen in das Land und besetzten nach einem zuvor schon von General von Hannecken ausgearbeiteten Plan die strategischen Punkte. Es fanden einige wenige begrenzte Kampfhandlungen mit der dänischen Armee statt, die den Befehl hatte, symbolischen stand zu leisten. Lediglich der Generalstab der Marine folgte Wider­ ­diesem Rat nicht und gab Befehl, zu fliehen oder die Kriegsschiffe zu versenken. Doch nur wenigen Schiffen gelang die Flucht, die meisten wurden versenkt. Die deutsche Polizei verhaftete einige Beamte, Journalisten, Professoren und Politiker in ihren Wohnungen. Die Bevölkerung blieb ruhig, und in wenigen Stunden war alles vorbei. Von nun an kontrollierten die Deutschen das Land unmittelbar. Die Regierung hatte sich, wenn man das so sagen darf, selbst entlassen. Das Kriegsrecht 65

Das Geheimnis der Ver weigerung

wurde angeordnet, und der Besatzer machte sich daran, seine ganze Bruta­lität unter Beweis zu stellen. So war nach drei Jahren der politischen Gespaltenheit die Maske gefallen. Die Positionen der Akteure klärten sich mit einem Schlag, um sich bis zum Ende des Krieges nicht mehr zu verändern. Die dänische Regierung war durch den Machtzuwachs der inneren Opposition zwischen zwei einander widerstreitende politische Linien geraten: auf der einen Seite die der bedingten Zusammenarbeit (die schon nicht einfach umzusetzen gewesen war), auf der anderen Seite die des Widerstands, der sie bedrängte, radikalere Entscheidungen zu treffen. Dieser Widerspruch war auf lange Sicht nicht auszuhalten. Die Regierung hätte entweder Berlin nachgeben müssen, was eine Abwendung von der eigenen Bevölkerung bedeutet hätte, die zu schützen sie ja vorgab – oder sie hätte offen zur Verweigerung der Zusammenarbeit übergehen müssen, um sich mit der mehr und mehr radikalisierten öffentlichen Meinung in Einklang zu befinden. Indem die Regierung sich nun für den Bruch entschieden hatte, klärte sie nicht nur eine verworrene Situation, sondern legitimierte im nachhinein die Aktionen der Widerstandsbewegungen. Zugleich verhalf sie ihnen damit zu einem beispiellosen Auftrieb. Das erste ­Zeichen dieser Veränderung war die Bildung des Freiheitsrates am 16. September 1943, einer politischen Organisation zur Koordination und ­Entwicklung des Widerstands, die bis zur Befreiung als provisorische Geheimregierung fungierte. Um den Bruch der Regierung nicht ebenfalls nachvollziehen zu müssen, hielten sich einige der Verwaltungsinstanzen auf ihrem Posten, ohne sich jedoch wirklich in einer politischen Zusammenarbeit zu engagieren. Sie hofften, mittels der Gesetzgebung den Druck der Besatzer ab­schwächen zu können. Ihre Taktik bestand darin, im Amt zu bleiben, zugleich aber die Anwendung möglichst vieler deutscher Maßnahmen mit Hinweis auf deren Verfassungswidrigkeit abzublocken. Dieselbe Taktik war übrigens auch in Belgien praktiziert worden. Dort hatten die Besatzer mit dem Rücktritt der Regierung zugleich jegliche legislative Macht für beendet erklärt und an deren Stelle eine rein »exekutive« gesetzt, die den General­ sekretären (den höchsten Beamten der einzelnen Ministerien) oblag. Mit Erlass des Gesetzes vom 10. Mai 1940 sahen diese sich persönlich mit bestimmten ministeriellen Befugnissen aus­gestattet.4 Unter dem Druck der Ereignisse fanden sie sich mit dem Rat der ehemaligen Minister zu einer ständigen »Konferenz« zusammen, was letztlich darauf hinauslief, dass die Generalsekretäre alle Aufgaben der Minister übernahmen, ohne allerdings deren politische Legitimation zu besitzen. 66

Die zunehmende Radikalisierung

Die einzige belgische Institution, die ihre Legitimität noch aus der Vorkriegszeit hinüberretten konnte, war die in ihrer Gesamtheit auf ­ihrem Platz belassene Judikative. Sie repräsentierte daher eine Art »hoher moralischer Autorität«, an die man sich wenden konnte, um Ratschläge und Stellungnahmen zu erhalten. Alle anderen Institutionen und selbst die höchsten Verwaltungs- und Justizbeamten des Königreichs, wie zum Beispiel der erste Präsident des Cour de cassation (die höchste gericht­ liche Instanz Belgiens) fielen von den ersten Tagen der Invasion an dem Protokoll des 12. Juni 1940 zum Opfer, das die Macht der General­ sekretäre festschrieb. Der Entschluss der Judikative, sich im Amt zu halten, gründete sich zum großen Teil auf die Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg. Während der deutschen Besetzung von 1914 war der Cour de cassation der Ansicht gewesen, weitere Gerichtssitzungen nicht mehr verantworten zu können. Die Besatzer beriefen daher deutsche Gerichte ein, deren Urteile allerdings von extremer Härte gekennzeichnet waren. (s. Jacqmain 1983) In Verarbeitung dieser Erfahrung, die ja kaum dreißig Jahre zurücklag, wollten viele belgische Verwaltungs- und Justizbeamte die nationale Rechtsprechung bis zum Äußersten verteidigen. Das »carnet de mobi­ lisation« der Verwaltungs- und Justizbeamten bestimmte ausdrücklich, dass sie im Falle einer Besetzung des Landes auf ihren Posten zu bleiben hätten. Die belgische Justizverwaltung verstand sich schließlich als die letzte Bastion nationaler Legalität, getragen sozusagen von »Belgisten«, die den traditionellen Instruktionen des Landes besonders verpflichtet waren. Nach ihrem Weggang wäre das Risiko, dass sie von skrupellosen Kollaborateuren, von Rexisten oder flämischen Nationalisten, ersetzt worden wären, zu groß gewesen. Trotz der erhaltenen Instruktionen flüchteten jedoch zahlreiche Richter bei Ankunft der deutschen Truppen im Mai 1940 ins Ausland. Ein deutscher Befehl vom 18. Juli 1940 verbot ihnen, ihre Funktionen wieder aufzunehmen. Die Besatzungszeit war von zahlreichen Zwischenfällen zwischen der belgischen Justizverwaltung und der deutschen Macht gekennzeichnet. Die Vielfältigkeit dieser Verfahrensschlachten sperrt sich gegen jeden Versuch, sie kurz und knapp zusammenzufassen. Unterm Strich scheint die Bilanz für die belgischen Verwaltungs- und Justizbeamten wenig Aktiva aufzuweisen, da ihre verschiedenen Kompromissversuche der Entschlossenheit des Besatzers nichts entgegenzusetzen hatten. Der Cour de cassation versuchte einige Male zu verhindern, dass die Verantwortung für bestimmte Aktionen formal beim belgischen Staat liege – im Grunde war er jedoch unfähig, den Gang der deutschen »Dampfwalze« 67

Das Geheimnis der Ver weigerung

aufzu­halten. So wollte die »Konferenz« der Generalsekretäre die recht­ liche Grundlage für die antijüdischen Gesetze vom Oktober 1940 mit dem Argument anfechten, dass für das belgische Recht jegliche diskrimi­ nierende Maßnahme verfassungswidrig sei. Der Cour de cassation gab in dieser Angelegenheit den bestimmenden Ausschlag. Doch die Deutschen erhöhten den Druck auf die Beamten, und das Gericht erklärte, falls die Generalsekretäre die Maßnahmen anwenden wollten, ohne sie im Journal officiel anzukündigen, läge die Verantwortung dafür nicht beim belgischen Staat. Der Wortlaut der Befehle wurde demnach nicht ver­ öffentlicht, doch die Provinzgouverneure erhielten unverzüglich von Generalsekretär Adam den Befehl, sie in die Tat umzusetzen. Die Deutschen hatten ihr Ziel erreicht: die belgische Verwaltung dazu zu bringen, sich selbst um die Kontrolle der Juden zu kümmern und diese von bestimmten Berufen auszuschließen. Mit der Dauer der Besatzungszeit wuchs allmählich die Einsicht, dass die eigentliche Rolle der Generalsekretäre darauf beschränkt war, die deutsche Politik auszuführen. Der Cour de cassation und verschiedene Cours d’appel (untergeordnete Berufungsgerichte, d. Übers.) versuchten daher in bestimmen Fällen, die Folgen dieser Politik durch juristische Argumentationen abzumildern. Nach einigen mehr oder weniger ernsten Zwischenfällen kam es im November 1942 zu einer tiefen Krise. Gemäß dem Auftrag des Besatzers hatten die Generalsekretäre am 15. November 1942 einen Erlass zur Restrukturierung der belgischen Verwaltung herausgegeben. Kurz darauf kam die Sechste Kammer des Brüsseler Cour d’appel wegen eines eigentlich unbedeutenden Anlasses zusammen, um über die Rechtmäßigkeit des Erlasses der Generalsekretäre zu beraten. Die Beamten wurden mit allen möglichen Mitteln unter Druck gesetzt, doch in der Versammlung vom 30. November 1942 vertrat der Brüsseler Cour d’appel die Ansicht, daß es seiner Sechsten Kammer zukomme, in völliger Freiheit Recht zu sprechen, und dass, sollte sie auch nur die geringste Behinderung in der Ausübung ihres Amtes erfahren, »dies zugleich für das gesamte Gericht bedeutete, seine Aufgabe nicht mehr wahrnehmen zu können« (zit. n. Louveau 1981, 635). Am 10. Dezember geschah, was seit Langem drohte: Die Sechste Kammer erklärte den Erlass der Generalsekretäre für verfassungswidrig und gab obendrein der Überzeugung Ausdruck, dass diese ihre Befugnisse grob überschritten hätten. Die deutsche Antwort folgte augenblicklich: In der nächsten Nacht wurden der Kammerpräsident und seine Assessoren verhaftet und verschiedene Justizbeamte und Anwälte als Geiseln 68

Die zunehmende Radikalisierung

genommen. Am 12. Dezember reagierte der Brüsseler Cour d’appel auf diesen Gewaltstreich, indem er einstimmig beschloss, seine Arbeit vorüber­ gehend einzustellen, da er unter diesen Bedingungen nicht mehr arbeiten könne. Der Brüsseler Conseil de l’ordre du Barreau erklärte sich solidarisch und rief die Anwälte auf, ihre gerichtliche Tätigkeit einzustellen. Der Konflikt wurde auf diese Weise zu einer offenen Aktion der Ver­ weigerung der Zusammenarbeit, die von einem der wichtigsten Gerichtshöfe Belgiens getragen wurde. Doch die deutsche Verwaltung drohte mit schwerwiegenden Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber dem gesamten Rechtskörper und der Bevölkerung für den Fall, dass das Gericht seine Arbeit nicht spätestens zum 17. Dezember wieder aufnehmen würde. Sowohl die Justizbeamten als auch die Generalsekretäre protestierten gegen dieses Ultimatum. Doch nachdem der Besatzer in einem Schreiben an den Gerichtshof auf das öffentliche Interesse und die öffentliche Ordnung verwiesen hatte, gab das Gericht am 16. Dezember seinen »Streik« auf. Die Beamten wurden zwar freigelassen, doch für das infrage stehende juristische Problem hatten sie im Grunde nichts erreicht. Den Widerstandsbewegungen war die Haltung des Cour d’appel nicht recht verständlich. Die illegale Zeitung der Beschäftigten im Justizwesen, die Justice libre, kommen­tierte dieses Ereignis als ein »Abdanken der Verwaltung«. Die belgische Justiz wandte sich zwar in anderen Zusammenhängen zum Beispiel gegen die Deportation von Juden oder gegen die Aus­ hebung von Fremdarbeitern für Deutschland, insgesamt aber besaßen diese Konflikte nicht die Bedeutung der Krise vom Dezember 1942. Sie verblieben im Gegenteil in einem Rahmen, der deutlich zeigte, wie sehr die belgische Verwaltung nun, da sie einmal entschieden hatte, im Amt zu bleiben, die Logik der Konfrontation mit dem Besatzer niemals ausreizen würde. Da sie den Bruch aber nicht zulassen wollte, wurde sie Schritt für Schritt dazu gezwungen, Zugeständnisse an den Feind zu machen.

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4. Kapitel Das Problem der Legitimität

Aus heutiger Sicht scheint ein entscheidender Impuls für kollektiven Widerstand von der institutionellen politischen Macht ausgegangen zu sein. Oder anders gesagt: Der von den legitimen Institutionen geleistete zivile Widerstand war einer der Faktoren, die den zivilen Widerstand der Bevölkerung bestimmten. Die entscheidende Frage dabei ist, ob die Besiegten mit der militärischen Niederlage zugleich auch jede weitere Kampfform aufgaben. Manche mochten so gedacht haben; die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens in Frankreich stellt ein Beispiel für eine solche politische Entscheidung dar, mit der eine militärische Niederlage nachträglich sanktioniert wurde. Doch gab es auch andere Möglichkeiten. So hatte zum Beispiel die norwegische Regierung »lediglich« die Kampfhandlungen eingestellt, es gab jedoch keine politi­ sche Einigung mit dem Sieger. Jenen, die den Kampf trotz der militärischen Niederlage fortsetzen wollten, standen unter strategischen Gesichts­ punkten betrachtet vor allem zwei Optionen zur Verfügung: Die erste bestand darin, den militärischen Kampf von außen weiterzuführen; die meisten Regierungen, die nach London ins Exil gingen, verfolgten diese Absicht – allerdings ohne auch über die Mittel dazu zu verfügen. Die zweite Option bestand darin, im Innern des besiegten Landes einen politischen Kampf zu führen. Und obwohl sich zu Beginn der Besatzungs­ zeit nur sehr wenige Menschen dieser Möglichkeit bewusst waren, sollte sie später doch das eigentliche Wesen des »Widerstands« bestimmen. Für viele Menschen ergab sich aus der militärischen Kapitulation notwendig auch die politische Unterwerfung. Einmal besiegt und entwaffnet, sah man sich nicht mehr in der Lage, Bedingungen zu stellen, sondern hatte automatisch diejenigen des Siegers zu akzeptieren. Diese Einstellung berücksichtigt nicht, dass es eine Autonomie des Politischen gibt, die sich nicht auf den Gebrauch von Waffengewalt reduzieren lässt. Wenn der Krieg nach der klassischen Formulierung von Clausewitz »die Fortsetzung der Politik mit anderen Mittel« ist, so bedeutet das implizit auch, dass der Krieg nur eines von mehreren politischen Mitteln darstellt. Politik verfügt sowohl vor als auch nach dem Krieg über ein gewisses »Manövrierfeld« – auch wenn dasjenige des Besiegten natürlich erheblich kleiner ist als das des Siegers. 71

Das Problem der Legitimität

Wenn die von Deutschland unterzeichnete Konvention von La Haye vorsah, dass die Verwaltung eines besetzten Landes der Besatzungsmacht zur Verfügung zu stehen habe, so heißt das noch lange nicht, dass dies auch für die Regierung zu gelten habe. Auch wenn die Bedeutung dieses Textes sicher nicht überbewertet werden darf, kann er doch erklären, warum so viele Politiker und hohe Beamte es für selbstverständlich hielten, dass alle Ministerien und staatlichen Dienststellen sich unverzüglich unter den Befehl der Besatzungsmacht zu begeben hatten. Aber selbst dann hätte für die Regierung der besetzten Länder noch Raum für politi­sche Initiativen bestanden. Neben der Flucht ins Ausland, der Staatskooperation und den verschiedenen Formen des »Verwaltetwerdens« zeigt ein Blick auf die historische Entwicklung, dass das »Spiel« durchaus noch nicht entschieden war: Die politischen Führungen hatten immer noch die Wahl zwischen verschiedenen politischen Möglichkeiten, über die sie zuvor kaum nachgedacht hatten. Für die Besiegten bestand die Dramatik der Besatzung insofern nicht allein in dem Eindringen des Besatzers, sondern auch im völligen Mangel einer Gegenstrategie. Keine Regierung hatte in den dreißiger Jahren, als Deutschland sein bedroh­liches Potenzial entwickelte, das Szenario einer militärischen Niederlage ernsthaft ins Auge gefasst. Es ist sicher nur menschlich, nicht an das Schlimmste denken zu wollen. Besteht aber nicht jede Verteidigungs­strategie gerade darin, es doch vorherzusehen? Die Regierungen versagten aus mangelnder Weitsicht und hofften entweder, dass es möglich wäre, mit Hitler zu paktieren, oder sie vertrauten auf die Unbesiegbarkeit ihrer Armeen. Nun aber, als sie sich plötzlich vor die grausame Wirklichkeit der Besatzung gestellt sahen, blieb ihnen, da sie zuvor das Szenario der Besatzung nicht ins Auge gefasst hatten, nur noch unbeholfene Improvisation übrig.1 Wenn es stimmt, dass die Chancen nicht von Anfang an verspielt waren, ist es im nachhinein um so wichtiger herauszufinden, welche spezifischen politischen Verhaltensweisen die militärisch besiegten ­Staaten in die politische Unterwerfung trieben. Der Vergleich der verschiedenen hier betrachteten historischen Beispiele zeigt deutlich, dass hierbei der Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene eine besondere Rolle zukommt. Kurz- oder mittelfristig führt sie zur politischen Legitimation des Besatzungsregimes. Allerdings sei an dieser Stelle angemerkt, dass dieser ­»natürlich« Ablauf auch umkehrbar ist – wie das Beispiel der dänischen Regierung zeigt, die sich unter dem Druck der Öffentlichkeit und des Widerstands ihre Legitimität zurückeroberte. Daraus folgt, dass der erste Schritt zum Widerstand gegen die Inbesitz­ nahme einer Gesellschaft durch einen Besatzer darin besteht, auf der 72

Das Problem der Legitimität

I­ llegitimität der durch Waffengewalt erzwungenen Macht des Besatzers zu beharren. In diesem Sinne sind auch die vereinzelten Kämpfe zu bewerten, die die belgische Justizverwaltung nicht ohne Grund auf die Frage der Verfassungsrechtlichkeit konzentrierte. Der Versuch, Recht zu sprechen und das Recht zu verteidigen, das bis dato gegolten hatte, war das beste Mittel, um die Identität einer Gesellschaft gegen die fortwährenden Attacken der Besatzung zu verteidigen. Ohne Zweifel hätten die obersten Richter Belgiens in diesem Kampf mutiger sein können. Doch zu ihrer Entlastung sei darauf hingewiesen, dass ihre juristischen Gefechte in einer Situation, in der die politische Legitimität völlig unklar war, von vornherein ohne nennenswerte Aussicht auf Erfolg waren. Sie standen zwischen einem König, der zu bleiben entschlossen war, hohen Beamten, die die anfallenden Geschäfte übereifrig erledigten, und einer Regierung, die sich ins Exil geflüchtet hatte. Der Kampf um die Erhaltung der Legitimität gesellschaftlicher Institu­ tionen lässt sich nach einer militärischen Niederlage nicht allein vor Gericht ausfechten. Denn die Frage nach Legitimität ist wesentlich eine politische – sie erfordert daher auch eine politische Strategie. Während einer Besatzung oder einer vergleichbaren Situation basiert diese Strategie vor allem auf dem Halt, den die legitime politische Macht dadurch gibt, dass sie die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht verweigert. Der Grundstein für die Entwicklung von Widerstand gegen eine Besatzung wird folglich in der Verteidigung der Überlegenheit der rechtlichen über die faktische Macht gelegt. Widerstand zu gründen, d. h. wörtlich die Grundlagen für seine Entwicklung zu schaffen, bedeutete, ernstlich und öffentlich den Willen zu bekunden, dass die Macht des Rechts ihre Legitimität gegenüber der Macht des Faktischen durch die Verweigerung jeglicher Zusammenarbeit zu erhalten trachtete. Dies verdeutlicht, in welch hohem Maße der Widerstand seine Schöpfungskraft aus der öffent­lich erklärten Politik der Verweigerung bezieht. In dieser Hinsicht liegt der Ursprung des Widerstands nicht im Militärischen begründet. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass es, wenn man nicht über die Mittel dazu verfüge, unrealistisch sei, Politik betreiben zu wollen. Ein solcher Einwand ist jedoch nur aufrechtzuerhalten, wo er sich auf reine Waffengewalt bezieht und sie als das einzige Mittel angesehen wird, den Willen zum Widerstand in die Tat umzusetzen. Dies trifft jedoch auf keinen der hier betrachteten Fälle zu. Solche prinzipiellen Positionen sind daher in diesem Zusammenhang zurückzuweisen. Nebenbei bemerkt, beruht eine solche Einschätzung auf einem grundlegenden Missverständnis. Die Durchsetzung des politischen Willens zur 73

Das Problem der Legitimität

Verweigerung der Zusammenarbeit zielt ja gerade nicht darauf ab, militä­rischen Widerstand ins Leben zu rufen, da der Moment hierfür bereits verpasst worden ist. Stattdessen besteht ihr Ziel darin, den politi­ schen Widerstand der militärisch besiegten Gesellschaft hervorzubringen: sowohl den Widerstand der Institutionen als auch den der Bevölkerung. Insgesamt beginnt also ein völlig neuer Kampf: Nach dem Ringen der bewaffneten Kräfte beginnt nun das Ringen um die Kontrolle der Zivilgesellschaft. Und es besteht Grund zu der Annahme, dass die Chance zu einem massiven Widerstand der Zivilgesellschaft um so größer ist, je klarer die Position der legitimen politischen Macht ist. Bezogen auf den historischen Kontext von 1940 heißt das konkret, dass keine Regierung klar und bewusst eine solche politische Position einnahm. Der Hauptgedanke der europäischen Politiker, die noch nicht aufgegeben hatten, bestand darin, den militärischen Kampf fortzusetzen. Aus diesem Grunde wählten sie das Exil in England. Dieser Rückzug wurde von der Bevölkerung oft nicht akzeptiert, da sie darin – zumindest zu diesem Zeitpunkt – ein Zeichen der Feigheit sah. Doch das Exil­­ setzte ein wichtiges politisches Signal, dessen Bedeutung erst mit der Zeit klarer wurde: Der Weggang einer Regierung ins Ausland war eine Möglichkeit, ihre Existenz und damit zugleich das Fortbestehen der ­Legitimität der politischen Institutionen des besiegten Landes zu sichern. Das Exil der höchsten Politiker war ein erster Schritt hin zur politischen Verweigerung, der die Illegitimität der Besatzungsmacht um so deutlicher zum Ausdruck brachte. Er erhielt der Bevölkerung die Hoffnung, dass die Situation nicht irreversibel sei, und trug somit dazu bei, in ihr den Wunsch nach Gegenwehr hervorzurufen oder zu ver­ stärken. Eine solche politische Entscheidung musste jedoch unmittelbar von Maßnahmen des Staates, sprich der Verwaltung, begleitet sein. Wie bereits angedeutet, erfordert eine Besatzungssituation schon allein zur Aufrechterhaltung der Staatsgeschäfte ein Minimum an Anpassung an den Besatzer. Aber bedeutete das auch, dass die höchsten in ihren Ämtern verbliebenen Staatsbeamten sich notwendig in den Dienst der Politik des Besatzers stellen mussten? Die Gefahr, daß die rein »technische« Funk­ tion der hohen Beamten zu einer politischen würde, war immer gegeben. In der Hand einer fremden Macht wandelten sich diese hohen Beamten und großen Staats»techniker« – ohne es selbst zu wollen – zu deren wirkungsvollsten Werkzeugen. Die Staatsverwaltung wurde dadurch ­ zum Hauptwerkzeug der Unterdrückung und Verfolgung der Bevölkerung des eigenen Landes. Aus diesem Grunde besteht die wichtigste 74

Die Standhaftigkeit des nor wegischen Staates

»Waffe« einer politischen Strategie der Verweigerung der staatlichen Zusammenarbeit darin, die Zusammenarbeit der Staatsverwaltung zu verhindern – nachdem zuvor der illegitime Charakter der faktischen Macht ausdrücklich festgestellt worden ist. Während der Besatzung durch die Nazis scheint diese Aktionslinie jedoch von keiner Regierung wirklich durchgesetzt worden zu sein. Sie ist schwierig anzuwenden und nur nach einer ernsthaften Vorbereitung (Schulung der Beamten) praktikabel. Trotzdem gab es Beamte, die sich im Verlaufe ihres Dienstes während der Besatzungszeit spontan der Tatsache bewusst wurden, dass die einzige Möglichkeit, mit der Position ihrer legitimen Regierung übereinzustimmen, darin bestand, ihre Funktion aufzugeben. Die Frage ist nun, ob die Verweigerung der administrativen Zusammenarbeit mehr sein kann als die bloße Addition einzelner Fälle individueller Verweigerung, d. h. ob sie insgesamt eine administrative Kollektivstrategie bilden kann. Für die in dieser Frage entscheidenden Punkte ist die vergleichende Analyse der Erfahrungen in Frankreich, den Niederlanden und in Norwegen während des ersten Jahres der Besatzungszeit besonders aufschlussreich.

Die Standhaftigkeit des norwegischen Staates Die norwegische Regierung ist wahrscheinlich diejenige, welche sich am heftigsten der Anerkennung der deutschen Besatzungsmacht widersetzte. Trotzdem kann man wohl kaum sagen, dass ihre politische Haltung von den norwegischen Verantwortlichen als Strategie geplant gewesen wäre. Vielmehr handelt es sich um eine Kette von Aktionen, die sich vor allem aus der Beharrlichkeit König Håkon VII. während der ersten Monate der Besatzungszeit Schritt für Schritt ergab. Doch ebenso, wie sie aus der totalen Improvisation entstand, hätte es auch sein können, dass sie sich niemals auf diese Weise entwickelt hätte. Nebenbei bemerkt ist es außerordentlich erstaunlich, dass man im Allgemeinen mit Norwegen eher das Bild Quislings verbindet, dessen Politik symbolhaft für die bedingungslose Zusammenarbeit mit Hitler steht, anstatt König Håkon vor Augen zu haben, der sich auf keinen Kompromiss mit dem Eindringling einließ. Quisling stand einer Partei vor, die trotz ihres anmaßenden Namens immer nur marginalen Charakter hatte. Die Nasjonal Samling (NS), also »Nationale Sammlung«, konnte auch die Deutschen nicht über diesen Umstand hinwegtäuschen. Trotzdem war Quisling ihr wichtigster Verbündeter und leistete ihnen große 75

Das Problem der Legitimität

Dienste. Während des Winters 1939 hatte Quisling vorgeschlagen, in Norwegen mit Berliner Unterstützung einen Staatsstreich anzuzetteln. Doch Hitler war gegen das Projekt: Er wollte das Land selbst erobern und sich nicht die Hände binden lassen. Nach dem Sieg allerdings, so dachte er, könnte der Anführer der Nasjonal Samling eine wichtige Rolle spielen, um die nationalsozialistische Ideologie in die norwegische Gesell­ schaft zu verpflanzen. Als Deutschland im Morgengrauen des 9. April 1940 Norwegen überfiel – übrigens am gleichen Tag wie Dänemark – war Quisling von Berlin darüber nicht in Kenntnis gesetzt worden. Das Kriegsschiff, das den militärischen und politischen Generalstab an Bord hatte, wurde von der norwegischen Verteidigung bei seiner Ankunft im Hafen von Oslo versenkt. Der Besatzungsplan des Landes war damit unerwartet ins ­Stocken geraten. Quisling nutzte die Verwirrung in der Hauptstadt, begab sich zum Gebäude der Radiostation und verkündete dort die Bildung einer neuen Regierung. »Unter den gegebenen Umständen«, so erklärte er, ist es das Recht und die Pflicht der Nasjonal Samling, die Regierungsmacht zu übernehmen, um die vitalen Interessen des norwegischen Volkes wahrzunehmen und die Unabhängigkeit des Landes zu bewahren. Ich füge hinzu, dass in der Lage, in der wir uns befinden, Widerstand nicht nur zwecklos ist, sondern eine sinnlose Zerstörung von Leben und Gütern zur Folge hätte. (zit. n. Hayes 1967, 15)2 In seiner Überstürzung ernannte Quisling Minister, die zuvor nicht einmal davon unterrichtet worden waren! Der deutsche Botschafter in Oslo, ein gewisser Dr. Brauer, fühlte sich dadurch in seiner Autorität verletzt und versuchte, dem Einhalt zu gebieten. Doch Hitler, der nach einer politischen Lösung suchte, war bereit, auf Quisling zu setzen, sodass Brauer sich dem zu beugen hatte. In der Zwischenzeit hatten einige der ­ inister ihre Ernennung abgelehnt. Zudem stieß Quisling designierten M bei jenen Ministerialbeamten, die seine Regierung nicht als rechtmäßig anerkannten, auf Widerstand. Zahlreiche Dienststellen schlossen, sodass die Staatsverwaltung bald gelähmt war. Und ohne die ferngebliebenen Mitglieder der Regierungsmannschaft war auch das Einberufen von Sitzungen nicht sonderlich vielversprechend. Während desselben 9. April erlebte Oslo eine massive Fluchtwelle. Auch der König und die Regierung verließen die Hauptstadt und nahmen zahlreiche wertvolle Dokumente des norwegischen Staates mit. Die Generalmobilmachung wurde erlassen, und die norwegische Armee 76

Die Standhaftigkeit des nor wegischen Staates

suchte mehr schlecht als recht, sich zu organisieren, um dem feindlichen Ansturm entgegenzuwirken. Während seiner letzten Sitzung hatte das Parlament (Storting) den König gebeten, der Garant der nationalen Interessen zu bleiben und im Namen von Parlament und Regierung ­gegebenenfalls die für notwendig erachteten Maßnahmen und Ent­scheidungen für die Sicherheit und Zukunft des Landes auszuführen. (zit. n. Skodvin 1974, 94) In der Hauptstadt herrschte die allergrößte Verwirrung, und auch Quisling gelang es nicht, die Lage zu stabilisieren. Als König Håkon schließlich erfuhr, dass Quisling die Macht an sich zu reißen versuchte, weigerte er sich kategorisch, dessen Regierung anzuerkennen! Dieser Misserfolg verringerte die Chancen Berlins, zu einem ähnlichen Modus Vivendi zu kommen, wie er gleichzeitig in Dänemark entstanden war. Am 15. April wurde Quisling schließlich kurzerhand entlassen, und man begann, in der Hauptstadt nach einer politischen Lösung mit weniger vorbelasteten Persönlichkeiten zu suchen. Die meisten Norweger waren wohl erleichtert, als der Anführer der pronazistischen Partei ins Abseits gestellt worden war. Der Weg schien nun frei für die Bildung einer repräsentativeren Regierung. Einige Fürsprecher, darunter der Oberste Gerichtshof, erreichten, daß ein Verwaltungsrat eingerichtet wurde, in den u. a. dessen Präsident, Paul Berg, eintrat. Auch König Håkon schien anfangs mit dieser Einrichtung ­einverstanden zu sein, da dort mit Berg immerhin eine Persönlichkeit ersten Ranges vertreten war, die zugleich der einzigen noch tätigen verfassungsgemäßen Instanz Norwegens vorstand. Zudem war es dringend geboten, eine Lösung zu finden, um die Krise, die leicht das ge­ samte Land hätte erfassen können, abzuwenden. Der Verwaltungsrat, der sich unter die Autorität des Königs stellte und keine politischen Funktionen übernommen hatte, bot eine verführerische Antwort auf diese Krise. Parallel zu diesen Verhandlungen zeigte sich Hitler jedoch besorgt über die mangelnde Härte seines Botschafters, jenes Dr. Brauer, der die Lage ebenfalls nicht unter Kontrolle zu bekommen schien. Hitler beschloss, Brauer zu entlassen und stattdessen Josef ­Terboven als Reichskommissar einzu­setzen. Die Ankunft dieses herausragenden Mitglieds der nationalsozialistischen Elite am 24. April in Norwegen steht symbolhaft für die Er­höhung des direkten deutschen Drucks auf das Land. So kamen schnell die ersten Konflikte zwischen ihm und dem Verwaltungsrat auf, für den er eine politische Sonderrolle vorgesehen hatte. 77

Das Problem der Legitimität

Inzwischen schien der Ausgang des Krieges mit Norwegen entschieden. Nach dem missglückten Versuch der Alliierten, in Narvik zu ­landen, musste die kleine norwegische Armee am 10. Juni 1940 kapitulieren. Der König, den die Deutschen von Anfang an verfolgt hatten, um ihn als Geisel in die Hände zu bekommen, entschloss sich schließlich doch zur Flucht, nachdem er ein deutsches Bombardement überstanden hatte, das ihm leicht hätte zum Verhängnis werden können. Begleitet von seiner Regierung und mehreren Hundert Offizieren und Unter­ offizieren, schiffte er sich auf einem britischen Kriegsschiff in Richtung England ein. Die Fonds der norwegischen Bank, die seit dem Beginn des deutschen Angriffs aus der Hauptstadt evakuiert worden waren, nahmen denselben Weg. Eine an die Bevölkerung des Landes gerichtete Er­ klärung vom 7. Juni setzte dieser die Gründe für die Flucht auseinander. Unter Berücksichtigung der Umstände, die eine Fortsetzung des Kampfes auf norwegischem Boden unmöglich machten, verkündete diese Erklärung: […] der König und die Regierung haben sich dazu entschlossen, dem Rat ihres Generalstabs Folge zu leisten und ins Ausland zu fliehen. Trotzdem geben sie den Kampf um die Rückgewinnung der norwegischen Unabhängigkeit nicht auf. Im Gegenteil – dieser Kampf wird nun außerhalb seiner Grenzen weitergeführt werden. […] Währenddessen sind der König und die Regierung Norwegens die freien Fürsprecher zur Verteidigung der nationalen Rechte des norwegischen Volkes. Sie wollen bis an die Grenzen des Möglichen die Unversehrtheit des Königreichs erhalten, damit niemand die Rechte eines souveränen Staates antasten kann. Ihre Aufgabe wird es sein, den Status und die politischen Rechte des Landes und der Bevölkerung zu verteidigen, damit die Nation in der Stunde des Sieges ihre Freiheit wiederherstellen und ausrufen kann. (Skodvin 1974, 94) Einige Abgeordnete des Storting waren jedoch in Oslo geblieben und zu Geiseln in den Händen Terbovens geworden. Am 13. Juni kamen 130 von ihnen der Aufforderung nach, eine rechtsgültige Regierung zu bilden und die Abdankung des Königs zu fordern. Der Reichskommissar übte allen nur erdenklichen Druck auf die Parlamentarier aus, doch konnten diese in der Frage, wie weiterhin zu verfahren sei, keine Einigung er­zielen. Schließlich wurde am 18. Juni der Entschluss gefasst, die Herausgabe aller Unterlagen des Königs zu fordern. Dieser wies ein solches Ansinnen jedoch nachdrücklich zurück und teilte das den Ab­ geordneten durch einen Brief und eine über die BBC ausgestrahlte 78

Die Standhaftigkeit des nor wegischen Staates

Rundfunkansprache mit. Er erklärte, dass sie durch die Verfassung nicht berechtigt seien, eine solche Forderung aufzustellen, und dass zudem ihre unter Zwang abgegebenen Stimmen keinerlei Gültigkeit besäßen. Der Kreis war damit geschlossen: Der König und die Regierung, die inzwischen um die Mitglieder der Vorkriegsopposition erweitert worden war, bestätigten sich als die einzig legitimen politischen Repräsentanten Norwegens. Im Verlaufe des Sommers bemühte sich Terboven vergeblich darum, eine politische Mannschaft zusammenzustellen, die nicht nur aus Mitgliedern der Nasjonal Samling bestehen sollte. Doch musste er darauf verzichten und entschloss sich, einen Staatsrat zu gründen, der ausschließlich aus führenden Köpfen der pronazistischen Partei bestand und ihm direkt unterstellt war. Am 25. September verkündete er dann das Verbot aller Parteien. Berlin war es nicht gelungen, die norwegischen Autoritäten in den Besatzungsprozess des Landes einzubinden, und er sah sich schließlich gezwungen, mithilfe einiger wenig kompetenter Kollaborateure direkt zu regieren, die sich bemühten, Druck auf die Beamten auszuüben. Letztere waren völlig auf sich selbst gestellt und ohne klare Vorgaben vonseiten der Verwaltung. Einige legten ihr Amt nieder, andere blieben auf ihren Posten und bemühten sich, die Interessen des Landes zu verteidigen. Wieder andere kooperierten mit der neuen Macht. Allein der intakt und funktionsfähig gebliebene Oberste Gerichtshof repräsentierte innerhalb des Landes noch die norwegischen Institutionen. Wie in Belgien, doch mit mehr Kampfgeist, versuchte die norwegische Justizbeamtenschaft in verschiedenen Fällen, in denen es um die Festigung der neuen Macht ging, die Verfassung zu verteidigen. Konflikte mit dem Reichskommissar häuften sich, gangbare Lösungen schienen nicht zu finden zu sein. Anfang Dezember wurde das Rentenalter für Beamte von 70 auf 65 Jahre heruntergesetzt, um die Zahl der Anhänger der pronazistischen Partei im Verhältnis zu den noch im Amt verbliebenen Beamten zu erhöhen. Zugleich richtete Terboven an den Obersten ­ ­Gerichtshof ein Schreiben, in dem er ihm untersagte, die Verfassungsmäßigkeit seiner eigenen Entscheidungen zu diskutieren. Diese Maß­ nahmen riefen in Gerichtskreisen erhebliches Aufsehen hervor. Während der vorangegangenen Monate hatten die Mitglieder des Obersten ­Gerichtshofes einige Anstrengungen unternommen, um angesichts der schwierigen Lage Kompromisse mit dem Besatzer zu finden. Dieses Mal jedoch waren sie der Ansicht, dass jede weitere Zusammenarbeit un­ möglich war. Am 12. Dezember sandte der Oberste Gerichtshof daher ein 79

Das Problem der Legitimität

Schreiben an den neuen Justizminister, dessen wichtigste Punkte wie folgt lauteten: Die Aufgabe des Gerichtshofes besteht darin, die Verfassungsmäßigkeit von Verordnungen und Erlassen zu überprüfen. Im Falle einer militärischen Besatzung müssen die Gerichtshöfe die Möglichkeit ­erhalten, die von der Besatzungsmacht verkündeten Verordnungen auf ihre Übereinstimmung mit dem internationalen Recht zu überprüfen. Die diesbezüglich vom Reichskommissar vertretene Auffassung können wir nicht a­ kzeptieren. Wir befinden uns daher in einer Lage, in der wir unser Amt nicht weiter ausüben können. (zit. n. Gjelsvik 1979, 26) Die damit verbundene Amtsniederlegung der höchsten juristischen In­ stanz des Landes hatte entscheidende politische Konsequenzen. Zuerst unterstrich sie, noch dazu auf spektakuläre Art, die Illegitimität des neuen Regimes. Gleichzeitig legitimierte sie die entstehende soziale ­Opposition gegen den Besatzer schon im Voraus. Tatsächlich hatte die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes eine dynamisierende Wirkung auf den noch marginalen Widerstand, in dem der Gerichtspräsident Paul Berg bald eine herausragende Stellung einnehmen sollte. Andere Justizbeamte und Anwälte folgten ihm in diesen Kampf. Dies alles bedeutet nicht, dass es eine direkte Verbindung zwischen der politischen Haltung der legitimen Repräsentanten der norwegischen Institutionen und der Entwicklung des Widerstands der Bevölkerung gegeben hätte. Letztlich entwickelten sich in allen besetzten Ländern Europas Widerstandsbewegungen, unabhängig davon, welche Haltung die Vorkriegsregierungen eingenommen hatten. In Norwegen, wie überall sonst, waren die ersten Widerstandskämpfer auf sich selbst angewiesen, ohne mit den ins Ausland geflüchteten Verantwortlichen rechnen zu können. In dieser Hinsicht gab es eine fundamentale Autonomie des Widerstands – unabhängig davon, ob er nun bewaffnet oder unbewaffnet war. Widerstand wurde nicht außerhalb eines Landes entwickelt, sondern in der direkten Konfrontation mit der neuen Macht aus dem Innern der besetzten Gesellschaften heraus. Widerstand ist, was seine bevölkerungsorientierte Dimension betrifft, in völliger Improvisation und aus sich selbst heraus entstanden. Es ist wohl möglich, die These aufzustellen, dass in Norwegen – ­verglichen mit Dänemark und den Ländern Westeuropas – die soziale Mobilisierung gegen die Besatzung deshalb besonders frühzeitig stattfand, weil die legitimen norwegischen Autoritäten jegliche Anerkennung 80

Die Veräußerung des französischen Staates

der Besatzungsmacht ablehnten. Zwar begannen im Frühjahr 1942 auch in Dänemark die ersten Widerstandsgruppen gemeinsam mit den britischen Geheimdiensten (SOE) geheime Sabotageaktionen durchzuführen, doch die partielle Mobilisierung der Zivilgesellschaft sollte erst im Sommer 1943 durch eine Reihe von Streiks gelingen. In Norwegen dagegen existierte bereits seit dem Frühjahr 1941 eine, wenn auch begrenzte, soziale Mobilisierung. Sie trat durch die Selbstauflösung der Sport­ ­ vereine, durch Protestaktionen von 43 der größten Verbände des Landes und mehr noch, seit dem Frühjahr 1942, durch den offenen Widerstand der Lehrer und Geistlichen in Erscheinung. Diese Beobachtungen dürfen nicht als Verurteilung der politischen Position der dänischen Re­ gierung missverstanden werden. Sie nahm zwar eine andere Haltung als die norwegische Regierung ein, hatte aber möglicherweise keine andere Wahl. Wichtig ist daher allein, zu sehen, dass verschiedene strategische Optionen auf der Ebene der politischen Institutionen verschiedene Konsequenzen auf der Ebene der Mobilisierung der Bevölkerung nach sich ziehen. Aus dieser Perspektive heraus ist es möglich, folgende These aufzustellen: Einer der Schlüsselfaktoren für die Entwicklung des Widerstands aus der Bevölkerung ist die Weigerung der legitimen Autoritäten eines besetzten Landes, sich in den Prozess der Anerkennung der Besatzungsmacht einbringen zu lassen. Setzt der Besatzer in einem solchen Fall auf eigene Faust eine Regierung ein, kann er damit niemanden täuschen – jeder weiß um die Unrechtmäßigkeit der neuen Machthaber. Umgekehrt hat der zivile Widerstand um so weniger Chancen, sich rasch zu ent­ wickeln, je weniger die Frage der Legitimität, wie in Belgien oder in den Niederlanden, geklärt ist. Mehr noch: Wenn sich eine rechtmäßige ­Regierung dazu entschließt, mit dem Besatzer zu paktieren, d. h. sich in einen Prozess der staatlichen Zusammenarbeit einbinden zu lassen, scheint davon jegliche Widerstandsdynamik seitens der Bevölkerung neutralisiert zu werden. Diese Haltung läuft letzten Endes darauf hinaus, die Besatzungssituation zu rechtfertigen, und es braucht dann sehr lange, bis eine kollektive Opposition zustande kommt.

Die Veräußerung des französischen Staates Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Norwegen betrachtet, ist das französische »Szenario« um so aufschlussreicher. Die staatliche Zusammen­ arbeit à la française hatte beträchtliche Auswirkungen auf die moralische 81

Das Problem der Legitimität

Verfassung und das Verhalten der französischen Bevölkerung. Frankreich ging im Prozess der staatlichen Zusammenarbeit viel weiter als Dänemark, da es von der Fremdbesatzung profitierte, um selbst ein neues französisches politisches Regime zu gründen. Es ist daher kaum verwunder­lich, dass die indirekte Rechtfertigung der Besatzungsmacht auch mit dazu beitrug, den Widerstand der Bevölkerung zu ­lähmen. Die Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene war ein entscheidender Faktor für die Passivität oder die zumindest abwartende Haltung der Bürger. Ob man dies nun bedauerlich findet oder nicht – psychologische Mechanismen zur Unterwerfung unter eine Autorität sind in den Einzelnen stark verankert. Daher ist in einer Krisensituation wie der einer Fremdbesatzung die Entscheidung eines Staates für oder gegen die Zusammenarbeit von um so größerer Bedeutung für das Verhalten der Bevölkerung. Die mehr oder weniger große Entschlossenheit der »Autoritäten« kann die Menschen in ihren alltäglichen Handlungen anleiten oder aber sich selbst überlassen. Um die Haltung der französischen Bevölkerung besser verstehen zu können, gilt es allerdings, noch einen weiteren wichtigen psychologischen Faktor zu berücksichtigen: die Machtübernahme durch Marschall Pétain, den Helden des Sieges von Verdun aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Diese geradezu legendäre Persönlichkeit hatte internationales Ansehen errungen, und zahlreiche Verantwortliche suchten seit den ersten Tagen des Hitler’schen Angriffs »Zuflucht« bei ihm. Pétain hatte Frankreich 1916 gerettet, er war der Richtige, es auch 1940 zu tun. ­Stanley Hoffmann (1985, 22 ff.) zeigt auf, dass die Rolle Pétains, der Waffenstillstand, Vichy, und alles, was daraus folgte, nur zu verstehen ist, wenn man bedenkt, dass die militärische Niederlage Frankreichs 1940 eine kollek­ tive Katastrophe war – ein nationales Trauma, das seinen realen Ausdruck in der leidvollen Massenflucht der Bevölkerung in den Süden des Landes gefunden hatte. Der plötzliche Auftritt des »alten Marschalls« in der Öffentlichkeit war die erste Gelegenheit und die einfachste Art, die ­Gemüter zu beruhigen und die brennendsten Wunden des Debakels zu versorgen. Die Unterzeichnung des Waffenstillstands schließlich war von einer allgemeinen Erleichterung begleitet. Die Mehrzahl der Franzosen war Pétain dafür dankbar, der daraus wiederum eine neuerliche Legitimation bezog. Nun begann die Zeit des »Marschallismus von unten«, wie die treffende Formulierung von Jean-Pierre Azéma lautet. Es kam zu einer wahrhaften Glorifizierung dieser Persönlichkeit, die zu einer der 82

Die Veräußerung des französischen Staates

beliebtesten Themen der Vichy-Presse wurde. Gestützt auf seine Untersuchung der offiziellen Zeitungen kommt Pierre Laborie zu einer bemerkenswerten Deutung der Mystifizierung Pétains. Er schreibt: Die Massenmedien benutzten in Momenten der Unsicherheit oder des Zweifels als Hauptargument regelmäßig die Notwendigkeit blinden Vertrauens (in den Marschall). Dieser sentimentale und irrationale Appell hat seine psychologischen Wurzeln in einem Vertrauen, wie es nur einem Retter gegenüber aufgebracht wird. (Laborie 1980, 169) Man versteht nun auch das Interesse an einer psychoanalytischen Untersuchung der geradezu sinnlich-emotionalen Bindung, die Pétain während der dunklen Jahre mit den Franzosen verband – um so mehr, als die Ausbeutung des kollektiven Schuldgefühls ein weiteres bevorzugtes ­Thema von Vichy war; der Appell an die »Reue«, um für die Schuld, die die Franzosen begangen und die ihr Land in den Untergang geführt habe, zu büßen. (Miller 1975) Unter diesen Umständen ist es kaum mehr vorstellbar, wie sich in Frankreich kollektiver Widerstand hätte rasch entwickeln können. Große Hindernisse mussten zuvor überwunden werden. Während der Widerstand im besetzten Norden aufgrund des direkten Kontakts mit dem Besatzer zu einer raschen Radikalisierung tendierte, musste er im Süden, wie Roderick Kedward zeigt, erst den Mythos des »Schutzschildes von Vichy« zerschlagen, um sich entwickeln zu können. Genauer noch musste Pétain zuerst entmystifiziert, der Schutzschirm seiner Legitimität erst zerstört werden, um zu zeigen, dass Vichy nichts weiter als nur eine ­Seifenblase war. Denn ironischerweise war das Problem des Widerstands nicht der Besatzer selbst. Selbstverständlich waren die Franzosen auch nicht deutschenfreundlich; die »Grande Guerre« von 1914 lag noch nicht weit zurück, und das »anti-boche«-Gefühl (Schimpfwort für Deutsche, d. Übers.) war noch lebendig. Die Mehrheit der Franzosen hoffte im stillen darauf, daß die Alliierten letztlich gewinnen würden – trotzdem aber waren zu Beginn der Besatzungszeit die Franzosen mehrheitlich Pétainisten. Das ging so weit, dass sogar unter den ersten Widerstandskämpfern einige zu Pétain hielten, wie zum Beispiel der Gründer der Combat-Bewegung, Henri Frénay.3 Die Gefühle der Franzosen waren also weit gefächert, wie auch Denis Peschanski zusammenfasst: Von Beginn an wurde die Zusammenarbeit nur von einer Minderheit akzeptiert, während die Mehrheit ihre Hoffnungen auf England setzte. 83

Das Problem der Legitimität

Das störte jedoch keineswegs die tiefe Bindung an den Marschall, diesen Sieger, der gekommen war, eine Niederlage zu verwalten. (Peschanski 1986, 45) Der Pétainismus stellte demzufolge eine fundamentale Deformation dar, die in hohem Maß dazu beitrug, die Geister zu vernebeln und die Wider­ standsressourcen der Zivilgesellschaft für lange Zeit zu neutralisieren – sei es nun auf institutioneller Ebene oder seitens der Bevölkerung. Denn warum hätte man daran zweifeln sollen, dass der »alte Kämpfer« Pétain die Interessen der Franzosen verteidigen würde? Erst die deutsche Invasion im November 1942 in den Süden konnte diese Kollektivillusion, der sich die Franzosen allzugern hingegeben hatten, zerstören. Besonders für die Militärs, die den Waffenstillstand miterlebt hatten, bedeutete dies eine einschneidende Zäsur, da sie dem Marschall bisher aus Korpsgeist in Verbindung mit einem tiefen Vertrauen gefolgt waren. Diese Wende hatte sich allerdings schon seit dem Sommer 1942 angekündigt. Die Rückkehr des unpopulären Pierre Laval an die Macht, seine Erklärung zugunsten eines deutschen Sieges über die Sowjetunion, die Regierungsumbildung – dies alles hatte dazu beigetragen, den Graben zwischen Vichy und der französischen Öffentlichkeit zu vertiefen. Vichy hatte seitdem sein Charisma als »Schutzschild« verspielt und wurde mehr und mehr als Transmissionsriemen für die Ausführung der deutschen Be­f ehle angesehen. Doch der Widerstand musste noch lange kämpfen, bis er seine eigene Legitimität und damit eine neue Machtbasis errungen hatte. Unter diesen Umständen kann man wirklich von Glück reden, dass zur gleichen Zeit, als Pétain an die Macht kam, ein unbekannter General auf der politischen Bühne erschien. De Gaulle verfolgte von Anfang an politisch eine Linie des Bruchs mit Deutschland, die sich letztlich als die effektivere erweisen sollte. Er versuchte vom ersten Moment an durch »Person und Tat« den Fortbestand eines »freien Frankreichs« zu verkörpern. Der von de Gaulle unternommene Kampf war in dieser Hinsicht sehr viel mehr politisch als militärisch. Mit dem Versuch, die Stimme des anderen, des kämpfenden Frankreichs zum Ausdruck zu bringen, verkörperte er zugleich eine andere Legitimität als Pétain – eine Legitimität der Freiheit. Von der Zugehörigkeit zur gleichen militärischen Institution, die beide Männer tief geprägt hatte, kamen sie zu einander diametral entgegengesetzten Positionen. Beide nahmen jedoch für sich in Anspruch, »im Namen Frankreichs« zu sprechen. Eine Be­urteilung ihrer Positionen hat daher diesen Anspruch auf Legitimität genauer zu 84

Die Veräußerung des französischen Staates

trachten. Pétain verkörperte die »legale« Legitimität des neuen Regimes, während de Gaulle eine »illegale« Legitimität repräsentierte, die zudem aus einem schwerwiegenden Akt der Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Staat hervorgegangen war. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass de Gaulle, obwohl er als Militär agierte, trotzdem einen fundamentalen Akt zivilen Ungehorsams begangen hatte, woraus sich schließlich seine Bewegung entwickeln sollte. Das hebt auch Robert Paxton hervor: In der Geschichte eines Landes gibt es manchmal einen grausamen Moment, in dem man, um das zu retten, was den wahren Sinn der Nation ausmacht, nicht anders kann, als dem Staat den Gehorsam zu verweigern. In Frankreich war dieser Moment nach dem Juni 1940 gekommen. (Paxton 1973, 345) Dementsprechend schrieb die Untergrundzeitung Témoignage chrétien in einem ihrer bekanntesten Texte: »Frankreich pass auf, dass du deine Seele nicht verlierst.« (Bédarida 1977) Diese politische Identität Frankreichs war im Prozess der staatlichen Zusammenarbeit restlos veräußert worden – und es galt, sie wiederherzustellen. De Gaulle besaß das politische Genie, das zu erkennen – und das Geschick, zum Baumeister dieser Restauration zu werden. (Lacouture 1986) Allerdings wäre es ein grober Fehler, dieses Verdienst allein dem »General« zuzusprechen. Alle Bewegungen des inneren Widerstands ­ ­haben dazu beigetragen. Der innere Widerstand Frankreichs hatte nicht auf de Gaulle gewartet, um entstehen zu können. In seiner berühmten, am 18. Juni 1940 über die Sender der BBC ausgestrahlten Rede appel­lierte de Gaulle an einen militärischen Widerstand, indem er versuchte, ins­ besondere das Kolonialreich Frankreichs für seine Sache zu gewinnen. Zu dieser Zeit konnte er sich einen Widerstand aus den nationalen Ressourcen noch nicht vorstellen. Wie es auch schon für Norwegen ­gezeigt wurde, so gilt auch hier, dass der Widerstand sich aus sich selbst heraus, d. h. aus dem Innern des besetzten Landes, entwickelte. Trotz der Differenzen zwischen den einzelnen Widerstandsgruppen bzw. -bewegungen hat es auch der innere Widerstand Frankreichs verstanden, eine neue Legitimität zu verkörpern – diejenige des kämpfenden Frankreichs. Seine durch Jean Moulin vermittelte Annäherung an de Gaulle war mühselig und konfliktreich. Es bedurfte dazu langer Verhandlungen, insbesondere mit den kommunistischen Widerstandsgruppen als den am wenigsten zu kontrollierenden. Dennoch entsprach diese Annäherung einer historischen Notwendigkeit. Tatsächlich hatte de Gaulle schnell verstanden, dass er auf den inneren Widerstand nicht verzichten konnte. 85

Das Problem der Legitimität

Er verfügte über zu wenig bewaffnete Kräfte, um bei den Alliierten Gehör zu finden und in der militärischen Auseinandersetzung Gewicht zu haben. Außerdem benötigte er gerade auch für die Sammlung des französischen Empire die Unterstützung der Résistance. So aber konnte er auf die Alliieren Druck ausüben, indem er darauf verwies, dass sein Name in Frankreich selbst in der Lage war, alle kämpfenden Kräfte zu vereinen. Und um seine Legitimation zu untermauern, war es absolut notwendig, jedem und aller Welt zu zeigen, dass er im Namen des »anderen Frankreichs« sprach, demjenigen, das Widerstand leistete. Gleichzeitig hatte de Gaulle sich nach und nach an die Spitze des Widerstands gestellt. Für das von Vichy gelähmte Frankreich war es ­lebenswichtig, dass eine politische Persönlichkeit oder Instanz eine rebellische Legitimität präsentierte. De Gaulle, den Franzosen bis 1940 völlig unbekannt, wusste diese Rolle zu übernehmen. Der »Effekt« de Gaulle war auf besondere Weise symbolischer Natur. Seine wichtigste Waffe war die Macht seiner Worte. Ohne die Möglichkeiten des Rundfunks kann man sich de Gaulle kaum vorstellen. Er wurde zu einer idealen »Waffe«, um psychologisch auf die Massen einzuwirken und sich unaufhaltsam an ihrer Spitze durchzusetzen. Die Präsenz dieser Stimme aus der Ferne eröffnete einen neuen Weg, eine neue politische Zukunft. Eine Alternative zu der Unterwerfung unter den Willen des Besatzers begann sich ab­ zuzeichnen, und nach und nach schöpften die Franzosen Hoffnung. Das wiederum bestärkte die Widerstandsbewegungen darin, mit de  Gaulle zu verhandeln, durch den sie außerdem finanzielle Unterstützung erhalten konnten. In diesem Sinne gab es eine Wechselwirkung zwischen der Entwicklung de Gaulles und jener der Widerstandsbewegungen. Der Widerstand benötigte de Gaulle ebenso wie dieser sie. So bildeten de Gaulle und der innere Widerstand jene beiden Pole, um die sich die politische Landschaft Frankreichs neu zu ordnen begann.

Die Widersprüche des niederländischen Staates Die politische Situation in den Niederlanden kann zwischen der in Norwegen und der in Frankreich angesiedelt werden. Sie wird charakterisiert durch komplexe Widersprüche zwischen der Position der legalen Exil­ regierung, die jeglichen Kompromiss mit dem Besatzer ausschloß, und der kollaborationistischen Haltung der Generalsekretäre, die, ebenso ­legitim, die niederländische Verwaltung repräsentierten. Am 10. Mai 86

Die Widersprüche des niederländischen Staates

1940 war klar, dass die kleine niederländische Armee dem deutschen Panzerangriff kaum mehr länger würde widerstehen können. Die fürchter­ lichen Bombardements des Rotterdamer Hafens und das vergebliche Bemühen der britischen Streitkräfte, den Niederlanden zu Hilfe zu kommen, ließen keinen Zweifel mehr über den Ausgang der Kämpfe. Königin Wilhelmine entschloss sich auf den Rat ihres Generalstabs hin, nach London ins Exil zu gehen, wohin sie von ihrer Regierung, in der alle wichtigen politischen Parteien des Landes vertreten waren, begleitet wurde. Die gesamte Macht wurde General Winkelman, dem Chef des niederländischen Heeres, übertragen. Dieser kapitulierte angesichts der hoffnungslosen militärischen Lage am 15. Mai 1940. Das Land unterstand von diesem Moment an vollständig der deutschen Kontrolle. Die Königin gab in einer über die Sender der BBC ausgestrahlten Ansprache ihrer Entschlossenheit Ausdruck, den Kampf fortsetzen und durch ihre Person und die Regierung die legitimen Institutionen des niederländischen Staates erhalten zu wollen. Was die Generalsekretäre betrifft, so hatten sie die Weisung erhalten, das Land nach dem durch die Konvention von La Haye festgelegten Kriegsrecht zu verwalten. Von nun an wurden die Niederlande von einem Reichskommissar, Arthur Seyß-Inquart, geleitet, dem Militärs und hohe deutsche Beamte zur Seite standen. Daneben unterstützten ihn der höhere SS -Polizei­ führer Hanns Albin Rauter sowie vier deutsche Generalkommissare (Verwaltung und Justiz, Wirtschaft und Finanzen, Sicherheit und Polizei sowie ein Kommissar »zu besonderer Verwendung«). Sie hatten die Aufgabe, die niederländische Verwaltung zu überwachen. Von Anfang an zeigte sich Seyß-Inquart außerordentlich geschickt darin, die Verwaltung in den Griff zu bekommen. Er wußte nur zu gut, dass er die niederländischen Beamten brauchte, da er selbst nicht über ausreichend kompetentes Personal verfügte. Aus diesem Grund suchte er allzugroße Veränderungen zu vermeiden. Ausgenommen davon war nur die Polizei, die vollständig neu organisiert wurde, insbesondere durch die Aufnahme von Mitgliedern der pronazistischen Partei, der Nationaal-Socialistische Beweging (NSB). Den Beamten, die ihr Amt niederlegen wollten, schlug er vor, dies unverzüglich zu tun, und versprach ihnen Straffreiheit. Für den Fall, dass sie einwilligen zu bleiben, erwartete er von ihnen im Rahmen der neuen Situation ihres Landes eine loyale Zusammenarbeit. Mit Ausnahme der Generalsekretäre der Justiz- und Finanzverwaltung waren alle, ebenso wie die meisten der Beamten, im Amt geblieben. Im folgenden halben Jahr verstärkte sich der deutsche Druck auf den Staatsapparat zunehmend. Im Juni 1940 wurde das niederländische 87

Das Problem der Legitimität

­ arlament aufgelöst. Daraufhin stattete Seyß-Inquart die GeneralsekreP täre mit einem Vetorecht gegen die Entscheidungen ihrer Untergebenen aus, was ihren Erlassen quasi Gesetzeskraft verlieh. Der Historiker Werner Warmbrunn schreibt dazu, dass »die Generalsekretäre über diese Vollmacht zu virtuellen Ministern wurden, die die Politik unter deutscher Kontrolle leiteten« (Warmbrunn 1963, 37). Ab dem September 1940, als alle Vorbereitungen für die deutsche Kontrolle und Lenkung der niederländischen Verwaltung getroffen waren, kam es zu einer Flut von in Wahrheit vom Besatzer diktierten »Notverordnungen«. Auf diese Weise diente die gesamte Verwaltung den Zielen des Besatzers. Sie war es, die die ersten Maßnahmen zum Ausschluss der Juden oder zur Aufstellung des Zwangsarbeitsdienstes unternahm. Die meisten der Generalsekretäre spürten sehr wohl den Widerspruch zwischen ihrer Position und der politischen Linie der Exilregierung, sodass sie, einer nach dem anderen, ihre Ämter niederlegten. Ende 1943 waren von den elf Generalsekretären der Vorkriegsregierung nurmehr drei im Amt. Sie hatten sich fast alle individuell dazu entschlossen, zu gehen. Zur Entlastung der niederländischen Beamten muss angeführt werden, dass sie nicht darauf vorbereitet waren, mit der Krise umzugehen, in die sie so plötzlich geraten waren und in der sie vonseiten ihrer Re­ gierung keinerlei klare Weisungen dahingehend erhalten hatten, wie Widerstand zu leisten gewesen wäre. 1937 hatte die Regierung zu diesem Zweck zwar »Instruktionen« für den Besatzungsfall ihres Territoriums ausgearbeitet, doch nach einer später von dem hohen Regierungs­beamten A . H. Heering durchgeführten Studie lag das Ziel dieser Instruktionen nicht darin, die Verwaltung zu einem konstitutiven Element der gegen die Militärherrschaft gerichteten Kräfte zu machen, sondern darin, den Beamten eine gewisse Orientierung zu geben, damit sie – so gut als möglich – den Interessen der Bevölkerung dienen könnten. Ihr Anliegen bestand folglich nicht darin, den Widerstand der Verwaltung zu organisieren, sondern darin, die Verwaltung in Besatzungszeiten an die von der internationalen Konvention von La Haye vorgegebenen Richtlinien anzupassen. Hinzu kommt, dass der Inhalt dieser Anweisungen gerade in den entscheidenden Fragen kaum aussagekräftig war und daher der Nutzen für die Beamten, ihre Schritte unter sehr schwierigen Bedingungen zu lenken, außerordentlich bescheiden. So beschränkt sich der ­Absatz 2 des Artikels 31, in dem die schwierige Frage behandelt wird, wann die Beamten in Besatzungszeiten im Amt zu bleiben oder dieses niederzulegen hätten, auf folgende Aussage: »Sollten jedoch durch Kontinuierung des Amtes größere Vorteile für den Besatzer als für die 88

Die Widersprüche des niederländischen Staates

kerung entstehen, hat der Amtsträger sofort sein Amt niederzulegen.« (zit. n. Lademacher 1983) A . H. Heering schreibt dazu: Die Betrachtung aus der Perspektive nach dem Ende des Krieges zeigt, dass das Interesse der Bevölkerung an der Aufrechterhaltung der Verwaltung im Allgemeinen zu oft höher eingeschätzt wurde als dasjenige des Besatzers. Das hatte zur Folge, dass sich viele Beamte aus Furcht vor ihrer Entlassung in der Gegner­schaft zu bestimmten vom Besatzer beschlossenen Maßnahmen, zu bedächtig zeigten. Dazu gehörten die Judenverfolgung, der obligatorische Arbeitsdienst und andere Praktiken der Unterdrückung. (Heering 1983) Ganz unabhängig davon, ob die Anweisungen von 1937 aus­reichend klar waren oder nicht, hätten die Beamten in jedem Fall große Schwierigkeiten gehabt, sie anzuwenden, da nur die wenigsten überhaupt ihre Existenz zur Kenntnis genommen hatten. Die Regierung hatte sie kaum zur Verteilung gebracht, sodass die meisten Beamten sie erst nach dem Krieg kennenlernten … Was die niederländischen Justizbehörden betrifft, so zeigten sich diese noch weniger kämpferisch als die belgischen. Die Gerichtshöfe übten ihre Funktion während der gesamten Kriegsdauer ohne erkennbaren Hang zum Widerstand aus. Dabei ging ihnen der Oberste Gerichtshof kaum mit gutem Beispiel voran. Als im November 1940 sein jüdischer Präsident L. E. Visser ausgeschlossen wurde, rührten sich seine Kollegen nicht. Im Januar 1942 hatte der Gerichtshof die historische Chance, zu einem deutschen Erlass und dessen Übereinstimmung mit den Richt­ linien der internationalen Konvention von La Haye Stellung zu beziehen. Doch von gegensätzlichen Strömungen gespalten, war er unfähig, ein Urteil zu sprechen. Aufgrund ihres zu moderaten Verhaltens wurden die Mitglieder des Obersten Gerichtshofes schließlich im September 1944 von der Regierung aus dem Exil heraus entlassen. Diese Widersprüche im Staatsapparat fanden auch in der Gesellschaft ihre Entsprechung. Während die Justiz schwieg (sprich mit dem Besatzer zusammenarbeitete), bemühten sich die katholische und die protestantische Kirche verhältnismäßig früh, ihre Opposition zu dem neuen Regime auszudrücken. Die Bevölkerung wiederum nahm die Anwesenheit des Besatzers, gegen den sie keine historisch begründete Feindschaft hegte, während der ersten Zeit noch relativ leicht in Kauf. Andererseits empfanden nur die wenigsten Niederländer Sympathie für die nationalsozialistische Ideologie; und das streitsüchtige Verhalten ihrer Mitglieder verstärkte schon von vornherein die Abneigung gegen die NSB. Aus 89

Das Problem der Legitimität

diesem Grund kam es schon vom ersten Jahr der Okkupation an zu spontanen Protesten der Bevölkerung. Demonstrationen oder Streiks brachen zum Beispiel zur Unterstützung der Juden aus. Doch diese spontanen Erhebungen waren mehr Ausdruck des Drucks und der Spannungen innerhalb der Gesellschaft als Formen des Widerstands. Zwischen der im Exil weiterbestehenden Regierung und den Generalsekretären blieb die Frage der Legitimität der Macht ungeklärt. Diese Gespaltenheit schien sich auch auf das Verhalten der Bevölkerung übertragen zu haben. Bis 1943, als die öffentliche Meinung definitiv zu­ gunsten der Alliierten umschwenkte, war die Geschichte der nieder­ ländischen Besatzung ebenso von Phasen vorsichtiger Anpassung wie von ausgesprochen heftigen und spontanen Aktionen zivilen Widerstands gekennzeichnet, die gewaltsam die Ablehnung des Regimes demonstrierten.4

Die zwei politischen Logiken des Widerstands Die hier vorgelegten – begrenzten – vergleichenden Betrachtungen können nicht den Anspruch erheben, einen allgemeinen, für alle Länder des besetzten Europas – oder für alle Orte und Zeiten – gültigen Überblick darzustellen. Gleichwohl lässt sich aus den bisher zusammengetragenen Fakten eine These herausarbeiten, deren Gültigkeit im Folgenden und während anderer Zeiten zu überprüfen wäre. Diese These verhilft zu einem besseren Verständnis der in den betrachteten Situationen unterschwellig wirkenden Dynamiken und Verhaltensweisen der Akteure. Sehr allgemein gehalten, könnte man sie folgendermaßen formulieren: Je nachdem, ob die legitime politische Macht (der Vorkriegszeit) zu Beginn einer Besatzung mit dem Besatzer zusammenarbeitet oder nicht, lassen sich in der besetzten Gesellschaft zwei deutlich voneinander unterscheidbare politische Logiken inneren Widerstands erkennen. Wenn die Regierung eines militärisch besiegten Landes sich zu einer Politik der Verweigerung entschließt, gibt sie damit einen wichtigen Anreiz zur Entwicklung des zivilen Widerstands. Es ist wahrscheinlich, dass aus dem daraus entstehenden direkten Kontakt zwischen Besatzern und Besetzten ein psychologischer Mechanismus kollektiver Verteidigung entsteht. Es ist wahrscheinlich, doch nicht sicher: Der Widerstand einer Gesellschaft lässt sich nicht per Dekret verordnen. Er funktioniert nach komplexen, kaum geklärten Gesetzen. Noch schwieriger ist er in die Tat umzusetzen, wenn die angegriffene Gesellschaft nicht darauf vorbereitet 90

Die zwei politischen Logiken des Widerstands

wurde, einer solchen Herausforderung zu begegnen und dem Besatzer aktiv entgegenzutreten. Das Einzige, was sich daher mit Sicherheit sagen lässt, ist, daß die Verweigerung der staatlichen Zusammenarbeit das beste Mittel ist, um das Widerstandspotenzial einer Gesellschaft zu aktivieren. Entscheidet sich die legitime Regierung eines militärisch ­ besiegten Landes dagegen für eine Politik der Zusammenarbeit, so ­ schwächt sie damit den Widerstand der Gesellschaft beträchtlich. Möglicher ­Widerstand muss dann nicht nur der Besatzungsmacht, sondern auch der eigenen Regierung entgegenwirken. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der zivile Widerstand dann für lange Zeit begrenzt und unterentwickelt bleiben. Die daraus erfolgende allgemeine Passivität muss nicht unbedingt davon zeugen, dass die Mehrheit der Bevölkerung für die Zusammenarbeit wäre. Im Gegenteil: In dem Maß, wie eine Gesellschaft durch eine Invasion die militärische Aggression, deren Opfer sie wurde, selbst zu spüren bekommt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Bevölkerung die Politik der Zusammenarbeit ihrer Verantwortlichen abzulehnen beginnt. Die Tatsache jedoch, dass sich die legitime Re­ gierung durch ihre kooperative Haltung wie ein Schutzschild zwischen Besatzer und Besetzte stellt, neutralisiert die Möglichkeiten zu unmittelbarem Massenwiderstand gegen den Aggres­sor. Mit anderen Worten, die staatliche Zusammen­arbeit verhindert die vollständige Ausbildung des Widerstandspotenzials einer Gesellschaft. Für ein angegriffenes Land kann die Entscheidung für oder gegen die Zusammenarbeit äußerst unterschiedliche Folgen haben. So besteht im Fall einer Verweigerung der Zusammenarbeit immer die Gefahr, dass durch den direkten Kontakt mit dem Besatzer der Widerstand besonders starker Repression ausgesetzt ist. Hier hängt jedoch alles von den Absichten des Besatzers ab. Will dieser eine Regierung einsetzen, die sich zumindest auf eine gewisse Legitimität berufen kann, muss es in seinem eigenen Interesse liegen, die Repression möglichst gering zu halten. Im zweiten Fall, wenn sich die mit dem Besatzer zusammenarbeitende natio­ nale Macht in einer Vermittlerrolle zwischen dem Besatzer und den Widerstand leistenden Sektoren der Gesellschaft erfindet, lässt sich eine gewisse Selbstbegrenzung der Repression vorhersagen. Durch die staat­ liche Zusammenarbeit ist das Land allerdings einem schweren außen­ politischen Konflikt ausgesetzt, der seine Identität fundamental infrage stellt. Eine die Zusammenarbeit verweigernde Strategie dagegen, die zu­gleich von klaren Vorgaben auf der institutionellen Ebene begleitet ist, er­hält die politische Integrität der angegriffenen Gesellschaft. Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass die Entscheidung für oder gegen eine 91

Das Problem der Legitimität

Widerstandsstrategie nicht nur von ihrer Effizienz abhängig gemacht werden darf, sondern dass auch ihr menschlicher und ihr politischer Preis in Betracht gezogen werden muss. Diese Parameter können jene nach der historischen Situation sehr unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen.

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5. Kapitel Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

Ein Kampf ohne Waffen ist keineswegs selbstverständlich. Ohne Waffen zu sein, heißt in der allgemeinen Vorstellung so viel wie, wehrlos zu sein. Niemand ist jedoch bereit, freiwillig Risiken auf sich zu nehmen. Isolation des Einzelnen und Schrecken sind daher die bevorzugten Waffen der Tyranneien. Gelähmt aus Angst vor den schlimmsten Sanktionen, unterwirft sich der Einzelne. Der Frieden der Tyrannei ist ein Frieden der Angst, ein Frieden des Todes. Der Kampf ohne Waffen erfordert daher zuerst einmal die Überwindung der eigenen Angst. Um den Feind in bestimmten Momenten schlagen zu können oder ihn gar offen herauszufordern, muss zuerst die eigene Angst überwunden werden. Es handelt sich dabei um die tiefste Angst, die ein Mensch empfinden kann: die­ jenige, das eigene Leben zu verlieren. Um mit leeren Händen einer totalitären Gewalt die Stirn bieten zu können, muss diese Todesangst überwunden werden. Dies stellt eine der höchsten Anforderungen dar, die man an einen Menschen stellen kann. Zugleich ist es einer der Gründe dafür, warum der Kampf ohne Waffen nicht allzuweit verbreitet ist. Angesichts einer sie bedrohenden Gewalt neigen Menschen zu Gegengewalt. Mit der Waffe in der Hand fühlen sie sich, ob zu Recht oder zu Unrecht, sicherer. Die Möglichkeit, notfalls den eigenen Tod herbei­ führen zu können, erscheint ihnen zugleich als eine Möglichkeit, sich vor dem Tod zu schützen. Was aber, wenn der Einzelne keine Waffe besitzt – über was verfügt er dann, um seine Lage zu meistern? Was, wenn er über nichts verfügt als über seine Intelligenz und seine Entschlossenheit? List kann ein Mittel sein, die Gefahr zu bezwingen. Doch ist sie niemals stark genug, um der drohenden Todesangst zu begegnen. Das isolierte Individuum, das sich weder unterwirft noch flüchtet, sondern sich der Gewalt entgegenstellen will, muss daher anstelle der Waffe über eine außer­ gewöhnliche moralische Kraft verfügen. Der religiöse Glaube oder der Glaube an ein moralisches Ideal sind die beiden wichtigsten Mittel, die Angst zu bezwingen. Sie enthalten die Überzeugung, dass bestimmte Werte wichtiger sind als das eigene, »physische« Leben – und die Gewissheit, dass die Kraft des Geistes stärker ist als die der brutalen Gewalt. So besitzt der Einzelne durch diese Transzendenz des Lebens die Möglichkeit, den Tod herauszufordern. Man fühlt sich dabei an Opferhandlungen 93

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

erinnert. Dies ist mit ein Grund dafür, dass diejenigen, die zu Gewaltfreiheit fähig sind, häufig als Märtyrer oder gar Heilige angesehen werden. Gleichgültig, ob dieses Urteil nun berechtigt sein mag oder nicht, kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein solches Engagement nicht jedem gegeben ist. Auf der kollektiven Ebene dagegen erscheint dieses Problem in völlig anderem Licht. Verschiedene Militärexperten und Historiker haben diesbezüglich bereits erklärt, dass die Organisation einer nichtmilitärischen Verteidigung durch die Zivilbevölkerung von großem Interesse für sie sei.1 Doch während sie auf der einen Seite den dort potenziell verborgenen Möglichkeiten Aufmerksamkeit schenken, zeigen sie sich zugleich auch immer skeptisch, was den Glauben an die Durchführbarkeit betrifft. Genaugenommen liegen ihre Zweifel vor allem in der elitären Erscheinung des Kampfes ohne Waffen begründet. Nach ihrer Darstellung scheint sich dieser Kampf auf Heilige zu beschränken, sodass er sich nicht auf ein Volk als Ganzes ausweiten ließe – es sei denn, dieses setzte sich aus Millionen Heiliger zusammen, was aber kaum je wahrscheinlich ist. Mit Ausnahme General Jacques de Bollardières ließen sich zahlreiche Experten durch solche Argumente davon abbringen, tiefergehende Studien über die Möglichkeiten unbewaffneter Strategien durchzuführen. Ein solches Urteil beruht jedoch auf einem grundlegenden Unverständnis gegenüber den außerordentlich vielfältigen psychosozialen Mechanismen, die in solchen Aktionen enthalten sind. Es macht einen erheblichen Unterschied, allein ohne Waffen zu kämpfen oder dies in einer Gruppe zu tun. Die Art, mit der Angst umzugehen, ist eine völlig andere. In der Gruppe oder dank der Gruppe steigt die Bereitschaft der Einzelnen, Risiken auf sich zu nehmen, die sie nicht ­allein eingehen würden. In der Gruppe wird zum einen die Angst geteilt, und zum anderen bringt die Gruppenzugehörigkeit in der Regel ein Solidaritätsgefühl hervor. Dem Militär ist diese Grundregel gemeinsamer Aktion bestens vertraut. Geteilte Angst ist leichter zu ertragen. Sie wird dann nicht mehr mittels ideologischer oder religiöser Überzeugungen niedergerungen, sondern in der Gruppe gleichsam aufgelöst. Die Logik der kollektiven unbewaffneten Aktion ist folglich anderer Art als die des individuellen Kampfes. Der Glaube an ein Ideal wird zwar, wie gesagt, weniger wichtig, trotzdem bleibt eine solche Aktion weiterhin Kampf. Für eine Sache zu kämpfen setzt voraus, dass man an etwas glaubt. Doch im Rahmen der kollektiven Aktion verliert dieser Kampf jenen elitären »Heiligencharakter«, den man ihm in der Einzelaktion zuschreiben könnte. Durch das Gefühl der Gruppensolidarität wird der unbewaffnete 94

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

Kampf entscheidend begünstigt. Die Bedingungen für die Praktizierung zivilen Widerstands bestimmen sich daher nach dem Grad des sozialen Zusammenhalts einer Bevölkerung. Starker Gruppenzusammenhalt gegen­ über einem Aggressor macht eine kollektive Verweigerung der Zu­ sammenarbeit möglich. Der Begriff des sozialen Zusammenhalts darf dabei nicht mit der ideologischen Kontrolle der Einzelnen verwechselt werden; dann läge nurmehr eine Spielart schleichenden Totalitarismus vor. Sozialer Zu­ sammenhalt und sein Gegenteil, die soziale Zerrüttung, beschreiben die Festigkeit der Bindungen zwischen den Individuen und Gruppen einer bestimmten Gesellschaft. In Friedenszeiten kann man dies vor allem am Grad der Aktzeptanz gegenüber den Institutionen eines Staates ablesen. Sozialer Zusammenhalt ist dabei jedoch nicht etwa gleichbedeutend mit politischer Einheitsmeinung. Innerhalb einer Gesellschaft können verschiedene Gruppen tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten haben und trotzdem dieselben Spielregeln akzeptieren – d. h. dieselben Institutionen. In diesem Sinne gibt es innerhalb einer Gesellschaft erst dann wirklich politische Uneinigkeit, wenn ein Teil der Gemeinschaft be­ absichtigt, das sie begründende und strukturierende System zu stürzen. Der soziale Zusammenhalt sollte allerdings nicht nur »institutionell« definiert werden. Er beruht vielmehr auf dem so schwer festzumachenden Gefühl, sich wirklich und vollständig als Mitglied der Gesellschaft »zu fühlen«, in der man lebt. Das setzt natürlich voraus, dass jeder über die gleichen Rechte verfügt und sich mit den anderen gleichgestellt fühlt. Psychologisch gesehen handelt es sich darum, sich von den anderen anerkannt zu fühlen und umgekehrt auch diese anzuerkennen. Wenn jeder sich derart in das weitverzweigte Netz integriert fühlt, aus dem sich die Gesellschaft zusammensetzt, ist es angemessen, von einem guten sozialen Zusammenhalt zu sprechen. Fühlt sich aber umgekehrt eine Gruppe von der Gesellschaft, in der sie formal anwesend ist, »ausgeschlossen«, entsteht soziale Zerrüttung. In Krisenzeiten wird sich der soziale Zusammenhalt danach bestimmen, inwieweit die angegriffene Gesellschaft in der Lage ist, den Aggressor geschlossen »abzublocken«. Im Falle einer Aggression von außen entsteht sozialer Zusammenhalt leicht aus der Polarisierung zwischen dem »Fremdkörper« und der Gesellschaft, in die dieser einzudringen versucht. Eine Aggression von außen scheint somit günstige Bedingungen für das Entstehen von Widerstand mit sich zu bringen, d. h. für eine Mobilisierung der Massen gegen den Eindringling. Diese Abschottung des »sozialen Körpers« versteht sich jedoch keineswegs von selbst. Sie 95

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

scheint nur dort möglich, wo die Bindungen zwischen den verschiedenen Gruppen vor der Aggression stark genug waren, um diesen Schock zu überstehen. Je höher der Grad des sozialen Zusammenhalts einer Gesellschaft, desto besser kann sie aus sich heraus einem bewaffneten Angriff standhalten. Man verteidigt nur das, was man gern hat. Wirkliche ­Risiken nimmt man nur für das auf sich, an dem man hängt. Je mehr eine Gesellschaft dagegen in der Zeit vor der Außenbedrohung von ­tiefen inneren Gräben durchzogen ist, desto schwieriger wird es ihr fallen, zivilen Widerstand zu leisten. Es ist dann zu befürchten, dass das »soziale Gewebe« den wiederholten Attacken des Eindringlings nicht lange standhalten wird. Besonders jene Gruppen, die sich schon zuvor ausgeschlossen fühlten, werden nicht viel zu verlieren haben, wenn sie sich auf die Seite des Besatzers stellen. So besteht die Gefahr, dass die Gräben aus der Zeit vor der Besatzung Passivität oder Kollaboration der Bevölkerung sehr viel stärker begünstigen als deren Widerstand, der unter solchen Umständen ohnehin eher begrenzt ausfallen wird.

Innere Faktoren In der Konfrontation mit einer äußeren Aggression entsteht der soziale Zusammenhalt vor allem aus dem Besetzten selbst heraus, d. h. auf der Grundlage der spezifischen historischen, sozialen und ideologischen Gegeben­heiten des unterworfenen Landes. Wenn der zivile Widerstand zum Beispiel in Norwegen stärker war als in Frankreich oder Belgien, dann ist es durchaus möglich, dies mit dem geringeren Grad des sozialen Zusammenhalts in den beiden letztgenannten Ländern zu erklären. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Begriff des sozialen Zusammenhalts schwer zu »quantifizieren« ist und außerdem nicht mit der Abwesenheit von Konflikten verwechselt werden darf. So gab es in Norwegen – einem erst 1905 gegründeten, also noch sehr jungen modernen Staat – tief­ greifende soziale und politische Konflikte. Doch im Verlauf der dreißiger Jahre ergriffen die regierenden Sozialdemokraten, die den Konservativen gleichwohl nicht zu fern standen, soziale Maßnahmen, die die Differenzen abschwächten. Zum Zeitpunkt der deutschen Invasion konnte dieser spezifisch norwegische Konsens die Einigung der wichtigsten politischen Führungspersönlichkeiten herbeiführen, die sich geschlossen hinter den König stellten. Trotzdem waren sie in den Augen der Öffentlichkeit diskreditiert, die ihnen Ohnmacht und Verantwortungslosigkeit gegenüber der wachsenden deutschen Bedrohung vorwarf. Doch der König 96

Innere Faktoren

verstand es, diesem Ressentiment den Boden zu entziehen und zugleich die Regierung an seine eigenen Entscheidungen zu binden. So konnte Norwegen im Rahmen einer Regierung der nationalen Einheit der Heraus­f orderung mit einem bemerkenswert starken sozialen und politi­ schen Zusammenhalt entgegentreten.2 In der Tat erwies sich der norwegische Widerstand als außerordentlich aktiv. Im Februar 1941 hatte Terboven die Nazi-Partei Norwegens, die Nasjonal Samling (NS), bevollmächtigt, eine Organisation zu schaffen, der alle Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes angehören sollten. Doch die betroffenen Gewerkschaften, Genossenschaften und Verbände reagierten sofort mit offenem Protest. Als dann wenigstens die scheinbar neutralen Sportvereine des Landes an die NS angegliedert werden sollten, stellten diese ihre Aktivitäten vollständig ein. Die Mitglieder traten aus den Vereinen aus, und bis Kriegsende gab es in Norwegen keine Sportwettkämpfe mehr. Diese erste Aktion an der »Sportfront« mag harmlos erscheinen, um nicht zu sagen bedeutungslos. Doch in Wirklichkeit spielte sie eine beachtliche Rolle, da sie viele junge Menschen dazu brachte, sich des Schadens bewusst zu werden, der von dem neuen Regime ausging. Auf unterschiedliche Art protestierten auch andere Organisationen gegen die Bevormundungsversuche. Zu einem Höhepunkt dieser Proteste kam es im Mai 1941, als 43 Berufs-, Kultur- und Sportverbände sowie religiöse und gewerkschaftliche Gruppen – die zusammen mehr als 750.000 Mitglieder repräsentierten – eine gemeinsame Erklärung gegen den Zugriff der Nasjonal Samling auf das öffentliche Leben verfassten. Zahlreiche Verantwortliche wurden daraufhin verhaftet, und Anhänger der NS wurden an die Spitze der streitbaren Organisationen gesetzt. Dieser Gewaltstreich hatte jedoch Massenaustritt aus den Verbänden zur Folge und gab der Bewegung mehr Schwung, als dass er sie hätte schwächen können. Im Jahre 1941 beschlossen die Vorsitzenden der wichtigsten Verbände, sich in einem geheimen Komitee zur Koordinierung des zivilen Widerstands (SIVORG) zu organisieren, das zusammen mit ­ MILORG, seinem militärischen Pendant, zum Zentrum des norwegischen Widerstandes wurde. Der Juni 1941 markiert so einen Wendepunkt für den zivilen Widerstand Norwegens. Zuvor war die Opposition offen und wenig koordiniert – danach wurde der Widerstand im Untergrund organisiert, und die Initiativen gehorchten allen Erfordernissen der gemeinsamen Aktion. In diesem Klima fortschreitender Mobilisierung der Gesellschaft er­ öffneten sich, wie die Norweger selbst sagten, zwei weitere »Fronten«, eine Kirchen- und eine Schulfront. Dies war sicher kein Zufall, sondern 97

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

zeugt von dem kollektiven Willen einer Gesellschaft, sich keine ideologischen Ketten anlegen zu lassen. Der Kampf des zivilen Widerstands konnte sich deshalb in so hohem Maß auf die grundlegenden Werte der norwegischen Gesellschaft konzentrieren, weil Kirche und Schule in diesem Land keine gegensätzlichen Geisteshaltungen repräsentierten. Zugleich begünstigte die Einrichtung eines gemeinsamen Ministeriums für »Erziehung und religiöse Angelegenheiten« von vornherein den gemeinsamen Kampf von Pfarrern und Lehrern. Zu dieser Zeit gehörten 96 Prozent der lutheranischen Staatskirche an, also fast die gesamte Bevölkerung. Als Reaktion auf die Haltung des Obersten Gerichtshofes und schockiert von dem Verhalten der »Polizei« Quislings, der Hird, ergriff der Primas der norwegischen Kirche, Eivind Berggrav, im Februar 1941 die Initiative und richtete ein von allen ­Bischöfen unterzeichnetes Schreiben an die neuen Autoritäten des Landes. Der Brief wandte sich generell gegen deren Verhalten in den vorangegangenen Monaten und insbesondere gegen einen Erlass, der das ­traditionelle Recht der Pfarrer aufhob, Informationen, die sie in Ausübung ihres kirchlichen Amtes erhalten hatten, vor der Polizei zurück­ zuhalten. Gleichzeitig schlug Eivind Berggrav die Einrichtung einer Art Kirchenrat vor, der in einer weitgefassten Struktur die verschiedenen Strömungen innerhalb der norwegischen Kirche vereinigen sollte. Vor dem Krieg hatte es innerhalb der Kirche gravierende Konflikte gegeben, insbesondere wegen der oppositionellen Haltung bestimmter Gemeinden im Westen des Landes. Da die neue Regierung jedoch nicht daran dachte, das Schreiben der Bischöfe zu beantworten, entschlossen sich diese, einen Hirtenbrief an ihre Gläubigen zu richten, um sie über die Lage zu unterrichten. Am 9. Februar 1941 wurde dieses Dokument – ­obwohl viele Exemplare von der Polizei beschlagnahmt worden waren – in den meisten Kirchen des Landes verlesen. Mit großer Entschlossenheit verurteilte der Brief das Regime und stellte damit eine wirkliche politi­ sche Stellungnahme dar: Wenn jene, die in einer Gesellschaft die Autorität innehaben, Gewalt und Ungerechtigkeit zulassen und die Seelen unterdrücken, dann muss die Kirche die Hüterin des Gewissens der Menschen sein. […] In Ausübung dieser Pflicht haben die kirchlichen Bischöfe die Minister auf bestimmte, die Führung der Gemeinden betreffende Fakten und offizielle Verordnungen hingewiesen […], die sich nach Ansicht der Kirche nicht in Einklang mit dem Gesetz Gottes befinden. (zit. n. Gjelsvik 1979, 35) 98

Innere Faktoren

Um die Kirche wieder für sich zu gewinnen, schlug Terboven daraufhin den Bischöfen die Unterzeichnung einer Erklärung vor, die sich für »den Sieg Deutschlands gegen den Bolschewismus« aussprach. Doch die ­Bischöfe wollten nicht auf sein Spiel eingehen und ließen ihn im Juni 1941 wissen, dass sie seine Anfrage ablehnten. In den folgenden Wochen wurden mehrere Bischöfe ihrer Ämter enthoben. Der Hauptkonflikt brach dann im Februar 1942 mit der Nominierung Quislings zum »Ministerpräsidenten« aus. Obwohl trotz des honorigen Titels die eigentliche Macht in den Händen des Reichskommissars geblieben war, brachte die Beförderung des Anführers der Nasjonal Samling doch den deutschen Willen zum Ausdruck, die norwegische Bevölkerung auf lange Sicht von den Vorzügen der nationalsozialistischen Ideologie überzeugen zu wollen. Die ausgesprochen unpopuläre Nachricht von der Nominierung Quislings »rüttelte« die Gesellschaft augenblicklich »auf«. Als Erste reagierte die Kirche. Am 1. Februar, dem offiziellen Tag seiner Ernennung, wurden die Feierlichkeiten in Oslo, die Quisling zu Ehren in der Trondheimer Kathedrale abgehalten werden sollten, von den Gläubigen und den kirchlichen Autoritäten boykottiert. Tags darauf erhielt der Dekan Fjellbu durch den zuständigen Minister seine Entlassung. Als Reaktion auf diese Entscheidung verfassten alle Bischöfe erneut einen Hirtenbrief, der am 1. März 1942 in den Gemeinden verlesen wurde. Darin gaben sie gekannt, dass zwischen ihnen und der Regierung keinerlei Einvernehmen mehr bestehe, sodass sie sich nicht mehr an deren Weisungen gebunden betrachteten. Des Weiteren forderten sie die Pfarrer dazu auf, ebenfalls für diese Position einzutreten. Dieser Vorfall hatte eine beachtliche psychologische Bedeutung für die Bevölkerung, die diese Beharrlichkeit ausdrücklich unterstützte. Der Konflikt spitzte sich zu, Pfarrer wurden ihrer Ämter enthoben, und auch der Primas der Kirche selbst schien gefährdet. Am 5. April schließlich, zu Ostern, kappten die Bischöfe und Pfarrer offiziell alle administrativen Beziehungen zum norwegischen Staat, womit sie zugleich auch auf ihr Einkommen verzichteten. Dabei bestanden sie jedoch auf der Tatsache, weiterhin die seelsorgerische Verantwortung zu tragen. Quisling interpretierte dies als einen vorsätzlichen Aufruhr und drohte jenen, die nicht gewillt waren, ihre Entscheidung nicht zurückzunehmen, mit schwerwiegenden Sanktionen. Von den 850 aktiven Pfarrern beugten sich 50 dieser Erpressung. Zahlreiche Bischöfe und Pfarrer wurden verhaftet und der Primas unter Hausarrest gestellt. Mehrere Hundert Intellektuelle und Lehrer unterzeichneten daraufhin eine Petition zur Freilassung Berggravs und der anderen Gefangenen. Der bedeutende Theologe Karl Barth schrieb an 99

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

den Primas einen begeisterten Brief, während der Erzbischof von Canter­ bury die Entschlossenheit und Ausdauer der norwegischen Kirche würdigte, wovon ganz Europa bald Kenntnis gewinnen sollte.3 Wieder wurden mehrere Pfarrer verhaftet und deportiert, doch ohne Erfolg: Bis zum Ende des Krieges gab es in Norwegen keine Staatskirche mehr. Die Ernennung Quislings verschärfte den Konflikt zwischen den Macht­ habern und der Gesellschaft, was sich auch auf den Kampf der Lehrer auswirkte. Die Mehrzahl von ihnen war vor dem Krieg in Gewerkschaften organisiert gewesen. Während des ersten Besatzungsjahres beschlossen die drei Lehrergewerkschaften (zwei für die Grundschulen und eine für die Gymnasien), sich zu einer illegalen Aktionsstruktur zusammenzuschließen. Am 5. Februar 1942, nur wenige Tage nach seiner Amts­ übernahme, gab Quisling ein Gesetz zur Bildung einer neuen nor­ wegischen Lehrergewerkschaft bekannt. Seiner Vorstellung nach sollte diese Gewerkschaft, der Norges Laerersamband, die Basis für das »neue Nor­ wegen« bilden und als Pilotorganisation den Aufbau eines kor­ porativen Staates nach faschistischem Muster vorbereiten. Mit dem gleichen Ziel hatte Quisling zwei Tage zuvor die Bildung einer Jugendorganisation der Nasjonal Samling angekündigt, in der alle Zehnbis Achtzehnjährigen Mitglied werden mussten. Die Lehrerschaft reagierte ausgesprochen schnell: Am 11. und 12. Februar 1942 fand in Oslo ein geheimes Treffen der Gewerkschaftsführung statt, auf dem beschlossen wurde, die geplanten Maßnahmen gemeinsam abzulehnen. Es war nunmehr nötig, einen Weg zu finden, wie möglichst viele Lehrer ihre Ablehnung ausdrücken konnten. Streik schien nicht angebracht, da er insbesondere die engagiertesten Lehrer exponieren würde und die Gefahr bestand, vom Besatzer als Provokation interpretiert zu werden. Es war daher notwendig, sich eine weniger direkte Aktion auszudenken, an der dennoch eine möglichst große Anzahl Lehrer würde teilnehmen können. Die Verantwortlichen kamen auf die Idee mit der ­Petition zurück, allerdings sollte sie nicht gemeinsam, sondern individuell verfasst werden. In Absprache mit ­Eivind Berggrav wurde der Text einer kurzen Erklärung verfasst, der unter anderem folgende Ausführungen enthielt: Ich erkläre, nicht an der Erziehung der norwegischen Jugend nach den Prinzipien des Nasjonal Samling teilhaben zu können. Dies wäre nicht mit meinem Gewissen zu vereinbaren. […] Ich erkläre außerdem, dass ich aufgrund dessen nicht dem Norges Laerersamband beitreten kann. (zit. n. Skodvin 1969, 147)4 100

Innere Faktoren

Jeder Lehrer sollte sie abschreiben, unterzeichnen und mit seiner Anschrift versehen an das Ministerium für Erziehung und religiöse Angelegenheiten schicken. Damit die Aktion auf die Autoritäten auch wirklich eine »Massenwirkung« haben konnte, wurde beschlossen, alle Briefe am gleichen Tag loszuschicken: dem 20. Februar. Während der darauf­ folgenden zwei Tage kamen im Ministerium ungefähr 4000 Protest­ briefe an, mehrere Hundert weitere folgten.5 Bemerkenswert ist, dass in den Städten beinahe 90 Prozent der Lehrer dem Aufruf gefolgt waren. Auch die Universitätsprofessoren verschickten nun ihrerseits am 24. Februar einen Protestbrief gegen die Gründung der neuen Gewerkschaft. Und was schließlich die Kirche betrifft, so unterstützte auch sie die ­Aktion, indem sie diese mittels ihrer Informationsnetze bekannt machte. Konfrontiert mit dieser unvorhergesehenen kollektiven Initiative, wusste die Regierung nicht recht, wie sie reagieren sollte. Am 25. Februar gab das Ministerium bekannt, dass alle Lehrer entlassen würden, die ihre Erklärung nicht bis zum 1. März zurückzögen. Gleichzeitig wurde die Schließung der Schulen ab dem 27. Februar für die Dauer eines Monats beschlossen: »aus Mangel an Brennmaterialien« – was deutlich die Verlegenheit der Autoritäten widerspiegelt. In der Tat erscheint der gewählte Vorwand wenig glaubhaft in einem Land, das zum großen Teil von Wäldern überzogen ist … Aus allen Ecken Norwegens kamen daraufhin Angebote an Brennholz. Zahlreiche Lehrer beschlossen, ihren Unterricht in Privathäusern fortzusetzen. Daneben boten die »Zwangsferien« die beste Gelegenheit, der Bevölkerung – und vor allem den Eltern der Schüler – die Hintergründe der Lehrerbewegung mitzuteilen. Denn tatsächlich hatte die der Zensur unterworfene Presse bis dahin nichts darüber berichtet. Die Schließung der Schulen jedoch machte den Konflikt zwischen Machthabern und Lehrerschaft weithin bekannt. Schließlich entstand auch unter den Eltern der Schüler eine Welle der Un­ zufriedenheit über den Unterrichtsausfall. Die erbosten Eltern begannen, ebenfalls Protestbriefe zu schreiben. Man schätzt, dass das Ministerium zwischen 100.000 und 200.000 Abschriften desselben Briefes erhielt. Da einigen Lehrern inzwischen die Gehälter nicht weiter ausbezahlt wurden und die Gefahr bestand, dass einige gefangen genommen würden, wurden Solidaritätskassen eingerichtet, um ihnen und ihren Familien zu­hilfe zu kommen. Bis Anfang März waren nur wenige Lehrer der offiziellen Gewerkschaft beigetreten. Terboven und Quisling beschlossen daraufhin, zu härteren Maßnahmen zu greifen. Während des 20. März 1942 wurden 1100 Lehrer verhaftet und in verschiedene Strafarbeitslager im Norden des Landes verschleppt. Deren größte Gruppe kam am 28. April 101

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

in Kirkenes an, einem kleinen Dorf, das sich an der finnischen und nicht weit von der russischen Grenze befindet. In diesem weit oberhalb des Polarkreises gelegenen Ort wurden die Lehrer zusammen mit sowjetischen Gefangenen unter furchtbaren Bedingungen festgehalten. Un­ mittelbar nach der Verhaftungswelle protestierten die Bischöfe am 22. März offen gegen die Maßnahmen und erklärten ihre Unterstützung für den Kampf der Lehrer. Die Deportationen hatten wohl kein anderes Ziel als die Einschüchterung der gesamten Lehrerschaft. So kündigte das Ministerium im Anschluss daran die Wiedereröffnung der Schulen für den 1. Mai an und erklärte, dass alle Lehrer, die den Unterricht wieder aufnähmen, von diesem Tag an als Mitglied der neuen Gewerkschaft geführt würden und dass ihr Mitgliedsbeitrag automatisch von ihrem Gehalt abgezogen würde. Doch die Lehrer fühlten sich durch die Bevölkerung bestätigt – insbesondere durch die Eltern der Schüler und durch die Kirche. Wenn die Verhaftungen auch eine gewisse Schwächung der Bewegung zur Folge hatten, konnten sie doch die Mehrzahl nicht von ihrer Entschlossenheit abbringen. Sie weigerten sich weiterhin, dem Zwangsbeitritt Folge zu leisten, ohne jedoch einzusehen, warum deshalb die Schulen geschlossen bleiben sollten. Aus diesem Grunde gab jeder von ihnen am Tag der Wiederöffnung der Schulen auf Anweisung der illegalen Gewerkschaft eine Erklärung ab: Zwei Dinge sind miteinander unvereinbar: Lehrer und gleichzeitig Mitglied im Norges Laerersamband zu sein. Ich weigere mich daher, dieser Organisation beizutreten. Unsere Aufgabe besteht darin, jedem von euch die nötige Bildung zu vermitteln, damit er sich als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft zu seinem eigenen und dem Nutzen seiner Umgebung verwirklichen kann. Die Berufung des Lehrers besteht jedoch nicht nur in der Weitergabe von Wissen, sondern auch darin, sowohl Wahrheit und Gerechtigkeit zu lehren als auch die Mittel, diese zu verteidigen. Aus diesem Grunde können Lehrer nicht unterrichten, was ihr Gewissen verletzen würde, ohne ihren Beruf zu verraten. Ich verspreche euch, dass ich das niemals tun werde. (zit. n. Skodvin 1969, 149) Dieser neue Zusammenhalt führte die Lehrer zum Sieg. Quisling begann bereits zu fürchten, dass er die Situation nicht länger unter Kontrolle halten könnte. Vierzehn Tage zuvor waren Pastoren und Bischöfe gemeinsam von ihren Ämtern zurückgetreten. Nach Einschätzung Terbovens führten die Maßnahmen Quislings lediglich zu einer Steigerung der Feindseligkeit der öffentlichen Meinung. Am 25. April veröffentlichte 102

Innere Faktoren

das Ministerium für »Erziehung und religiöse Angelegenheiten« ein Rundschreiben, das allen Lehrern das Recht zugestand, sich nicht nach den Prinzipien der NS zu richten – unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung der automatischen Mitgliedschaft in der offiziellen Gewerkschaft. Die Struktur wurde damit zwar offiziell erhalten, doch wurde sie ihrer ursprünglichen Bedeutung entleert. Den Lehrern war es also gelungen, die Pläne Quislings zu durchkreuzen. Er selbst konnte sich darüber ­keiner Täuschung hingeben, denn er erklärte am 23. Mai: »Die Lehrer sind dafür verantwortlich, dass wir noch immer keinen Frieden mit Deutschland geschlossen haben. Sie, die Lehrer, haben für mich alles zerstört.« (zit. n. ebd., 149) Dieser letzte Satz wurde ständig zitiert: als Zeichen des Sieges. In den folgenden Monaten erlangten jene Lehrer, die in die Arbeits­ lager deportiert worden waren, ihre Freiheit wieder. Im letzten Moment konnten die Deutschen einigen Gefangenen noch die Mitgliedschaft in der NS abnötigen, doch auch das änderte nichts mehr am Gang der Dinge. Den Lehrern war es gelungen, die Gesellschaft für ihre Sache zu mobilisieren und Quisling eine politische Niederlage zuzufügen. Der Kampf der Lehrer war damit zum Symbol des norwegischen Widerstands geworden. Quisling dagegen konnte sein Projekt eines korpora­ tiven Staates niemals vollenden. Nach der »Nazifizierung« der Schulen hatte er sich die Kontrolle der Gewerkschaften vorgenommen. Doch nachdem die Bevölkerung während der Lehrerrevolte ihre Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatte, musste er davon Abstand nehmen. Nach Meinung Terbovens hätte ein solches Unternehmen leicht einen Generalstreik herausfordern können, den er nicht riskieren wollte. Nach dem Krieg kommentierte Magne Jensen, eine der Initiatoren der »kollektiv-individuellen« Briefe, jene Ereignisse, die zu einem frühen Zeitpunkt das für den zivilen Kampf so ausgesprochen wichtige Gefühl der Solidarität erzeugt hatten. Sie brachen die Isolierung der Einzelnen, die Angst, ganz allein zu sein, die eine der wichtigsten Waffen des Nazi-Terrors darstellte (zit. n. Gjelsvik 1979, 31 f.). Der bemerkenswerte von den norwegischen Lehrern demonstrierte Zusammenhalt konnte auch in anderen Ländern beobachtet werden, selbst wenn dort im Allgemeinen das Niveau des Widerstands wesentlich geringer ausgeprägt war. Wenn ein Berufsstand über feste Bindungen verfügt – sei es durch ein mit seiner Tätigkeit verbundenes hohes 103

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

lisches Niveau oder durch eine ihm eigene Tradition –, entwickelt er eine Art »Zunftgeist«, der in einer Krisensituation wie der einer Besatzung ein ernst zu nehmendes Hindernis für jeden Versuch der Gleichschaltung bilden kann. Wenn die Mehrzahl der Mitglieder eines Berufsstandes einer solchen Organisation angehört, kann diese Tatsache dazu beitragen, ihrem Kampf mehr Zusammenhang und Kraft zu geben. Dieser geistige und organisatorische Zusammenhalt ist ein wichtiger Faktor zur Entwicklung zivilen Widerstands. So hat es in den Niederlanden – trotz der politischen Schwächung durch die Zusammenarbeit der Generalsekretäre mit den Besatzern – einen bemerkenswerten Fall zivilen Widerstands gegeben, der durchaus mit den Vorgängen in Norwegen vergleichbar ist. In mehrerlei Hinsicht ist der Widerstand der niederländischen Ärzte mit dem der nor­ wegischen Lehrer vergleichbar. In beiden Fällen handelt es sich um einen Kampf gegen die »Nazifizierung« eines Berufsstandes, und beide Male wurde er im Namen jener moralischen Werte geführt, die die Gruppe wie ein Band zusammenhalten. In beiden Fällen wurden Massen­ aktionen mittels »kollektiv-individueller« Briefe durchgeführt, und beide Male wurden sie durch die Kirche und die öffentliche Meinung unterstützt. Gleichwohl hatten die Ereignisse in den Niederlanden einen anderen Ausgangspunkt genommen: Beinahe alle niedergelassenen Ärzte ge­ hörten dort der Ärztekammer, der Niederländischen Gesellschaft zur För­derung der Medizin (Nederlandse Maatschappij tot Bevordering der ­Geneeskunst, NMBG), an.6 Die Leiter dieser Organisation begannen sich auf einen gefährlichen Kompromiss mit dem Besatzer einzulassen. Sie fragten sich, welche Rolle ihrer Vereinigung in der neuen Besatzungssituation zukommen müsse. Insgesamt gab es in Holland nur wenige, die der nationalsozialistischen Ideologie verfallen waren: Starke moralische oder religiöse Überzeugungen hielten sie davon fern. Einige Kollaborateure unter den Ärzten jedoch, die zugleich der Partei Musserts angehörten, hatten im November 1940 eine neue Organisation gegründet, die Medizinische Front. Ein dem Reichskommissar nahestehender Kollaborateur, ein gewisser Doktor Reuter, begann mit den Leitern der NMBG »Verhandlungen«, deren Sinn und Zweck jedoch einzig darin bestanden, die Kontrolle über die NMBG zu erlangen. Am 18. Mai 1941 akzeptierte deren Leitung, dass ein Mitglied der Medizinischen Front in ihren Vorstand aufgenommen wurde. Die deutschen Autoritäten ließen sogleich durchblicken, dass die Aufgabe dieses Vorstandsmitglieds darin bestehe, die Ärzteschaft gleichzuschalten. Daher gerieten unter scheinbar bloß 104

Innere Faktoren

verwaltungstechnische Reformvorschläge bald auch solche, die auf den Ausschluß der jüdischen Ärzte zielten. Die Mehrheit der bis dahin passiv gebliebenen Mediziner reagierte sehr ungehalten auf diese Maßnahmen. Seit Juni 1941 hatten sich einige niedergelassene Ärzte zusammengetan und riefen nun ihre Kollegen dazu auf, die NMBG zu verlassen. Im Laufe des Juli kam es zu einer Austrittswelle, die sich noch verstärkte, als am 14. August die Vereinigung der katholischen Ärzte ebenfalls zum Massenaustritt aufrief. Diese Entscheidung war auch in Absprache mit dem Episkopat gefallen. Am Ende des Sommers 1941 hatte die Mehrzahl der 5700 Mitglieder die NMBG verlassen. Konfrontiert mit dieser unkontrollierbaren Welle tiefgreifenden Misstrauens zog es der Vorstand am 27. September schließlich vor ­zurückzutreten. Während des Sommers entwickelten sich weitgefächerte und dauerhafte Verbindungen zwischen den ehemaligen Mitliedern der NMBG, sodass die Idee entstand, eine illegale Organisation zu gründen. Am­ 24. August 1941 legten die dynamischsten von ihnen das Fundament für diese neue Vereinigung, den Medisch Contact (MC). (vgl. de Vries 1949) Gleich darauf sandten sie Briefe an jene Kollegen, von denen sie sich die Übernahme eines Postens als »Vertrauensmänner« auf regionaler Ebene erhoffen konnten. Am 14. September wurde der MC während einer ersten, in Utrecht abgehaltenen allgemeinen Mitgliederversammlung dann offiziell gegründet. Während die Ärzte ihre Untergrundorganisation schufen, bereiteten die Deutschen ihrerseits die Gründung einer völlig unter ihrer Kontrolle stehenden Ärztevereinigung vor – der Niederländischen Ärztekammer. Seit Juni 1941 hatten sie ein solches Projekt angekündigt, dessen Ziel die Anwendung der nationalsozialistischen Doktrin in der Medizin war. Die erste Aktion des MC bestand nun darin, einen Brief zu verfassen, der die Deutschen von ihrem Projekt abbringen sollte, und ihn von möglichst vielen Medizinern unterschreiben zu lassen. Der an die deutschen Autoritäten gerichtete Brief hob besonders Folgendes hervor: Es kann Ihnen nicht entgangen sein, dass wir Mediziner, indem wir die NMBG verließen, unsere Überzeugung zum Ausdruck bringen wollten, dass der mit hohen moralischen und geistigen Ansprüchen verbundene Beruf des Arztes von jeglicher politischer Einmischung verschont bleiben muss. […] Wir haben die begründete Befürchtung, dass fremde Beamte […] sich in die Behandlung unserer Kranken einmischen und uns in eine mehr oder weniger direkte 105

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

arbeit zwingen könnten. […] Da wir an einen Eid gebunden sind, fühlen wir uns dazu verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, dass wir uns an jenen hohen Werten orientieren, die diesen Beruf vom Anbeginn seiner Geschichte an auszeichnen. Niemals werden wir einen anderen Weg einschlagen als den, der durch unser Gewissen, unsere berufliche Aufgabe und unsere Wissenschaft vorgezeichnet ist. (zit. n. de Vries 1949, 24 f.) Am 16. Dezember 1941 wurde dieser Brief an einen Vertreter des Reichskommisssars weitergeleitet, er war von 4261 Medizinern unter voller Namensangabe unterschrieben. Diese erste Aktion begründet die Autorität von Medisch Contact insofern, als sie unter den Ärzten breite Zustimmung fand. Da die Deutschen außerdem keine Repressionen vorzuhaben schienen, bildete sie den Auftakt zu weiteren Aktionen. Gemessen an dem eigentlichen Ziel, stellte sie sich jedoch als ein Misserfolg heraus. Am 19. Dezember, also drei Tage nach der Unterbreitung der Petition, erklärte ein Dekret die Auflösung der NMBG und die Gründung der Niederländischen Ärztekammer, in der alle Mediziner des Landes von Amts wegen eingeschrieben wurden. Doch der MC reagierte ausgesprochen schnell. Er riet seinen Mitgliedern, die neue Organisation schlicht und einfach zu ignorieren, die Formulare nicht auszufüllen und Beitragszahlungen zu verweigern. Im Januar 1942 verschickten dann etwa 3000 Mediziner einen erneuten Protestbrief. Die neue Ärztekammer dagegen war von Anbeginn an ein Fehlschlag, da sie nur wenige pronationalsozialistische Ärzte des Landes vereinigen konnte. Noch war das Spiel allerdings nicht gewonnen. Denn aufgrund dieser Vorgänge begannen sich die Polizeiorgane des Besatzers ernstlich für die Ärztekreise zu interessieren. Mediziner wurden festgenommen und für kurze Zeit inhaftiert. Im September 1942 schließlich ergriff die offizielle Ärztekammer erneut die Initiative und schickte den Ärzten Beitritts­ formulare zu. Der MC riet ebenfalls wieder, die Formulare nicht zu beachten. Nur 700 ausgefüllte Exemplare wurden zurückgeschickt. Am 15. Januar gaben die Autoritäten bekannt, dass alle Mediziner, die bis zum 1. März nicht der Ärztekammer beitreten würden, eine Strafe von 1000 Gulden zu zahlen hätten. Einige gaben diesem Druck zwar nach, doch die Mehrzahl blieb bei ihrer Verweigerung. Säumige Mediziner wurden vorgeladen, um die Strafe zu zahlen, doch niemand folgte dieser Aufforderung. Das Urteil war nicht weniger hat: 1000 Gulden Strafe und Beitritt in den folgenden vierzehn Tagen. Im Falle erneuter Ver­ weigerung sah sich der Verurteilte mit einer Forderung nach weiteren 106

Innere Faktoren

1000 Gulden konfrontiert – und immer sofort, bis er beigetreten sei. Die Risiken waren keineswegs gering. Indem die Forderungen so ins Unendliche gesteigert wurden, war in nur kurzer Zeit eine Schwächung, wenn nicht gar ein Zusammenbrechen des Widerstands zu erwarten. Der MC ließ zwar wissen, dass er die Bezahlung der Forderungen übernehmen werde – doch für wie lange? Um sich aus der Affäre zu ziehen, kam der MC auf die Idee, sich auf den Artikel 5 des Erlasses vom 19. Dezember 1941 zu berufen, in dem es hieß: »Ein Arzt kann seinen Rückzug vom medizinischen Beruf erklären. Er verliert damit das Recht, sich als Arzt zu bezeichnen.« In der Tat erlaubte dieser Text den Rückzug aus dem Arztberuf ohne vorherige Genehmigung. Die Widerstand leistenden Ärzte, die somit verwaltungsrechtlich nicht mehr dem Ärzteberuf angehörten, konnten daher weder zu einer Beitragszahlung noch zur Zahlung einer Strafe für eine Organisation verpflichtet werden, der sie nicht mehr angehörten. Am 24. März 1943 schickten mehrere Tausend Ärzte ihre Rücktrittserklärung ab. Da sie in Wirklichkeit ihre Tätigkeit zur gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung weiterhin aufrechterhielten, liefen sie Gefahr, aufgrund »illegaler Ausübung des Arztberufes« verurteilt zu werden. Doch die Chance für ein Gelingen dieses Aktes zivilen Ungehorsams schien allzu ver­lockend. Um ihre Aktion öffentlich zu machen, entschlossen sich die »Ärzte«, ihre Praxisschilder zu verdecken. Da die öffentliche Meinung ausdrücklich auf ihrer Seite stand, wollten jene Kollegen, die bisher die Aktionen des Medisch Contact vorsichtig von außen betrachtet hatten, nicht ­weiter zurückstehen und verdeckten ebenfalls ihre Praxisschilder. Selbst solche, die gegenüber der neuen Ärztekammer eher positiv eingestellt waren, beteiligten sich daran. Insgesamt nahmen an dieser Aktion mehr als 6200 Mediziner teil, also fast die Gesamtheit der 1943 praktizierenden Ärzte. Die Affäre hatte inzwischen eine öffentliche und nationale ­Dimension angenommen. Das Kabinett der Generalsekretäre wollte, ohne das allerdings offen zuzugeben, nicht gegen die Bewegung vor­ gehen. Der Generalsekretär für soziale Angelegenheiten ließ durch­ blicken, dass die Mediziner durch ihre Aktion nicht unter das Gesetz gegen die illegale Ausübung des Arztberufes fielen … Auch die ­Kirchen – und insbesondere die katholische Kirche – waren der Bewegung gegenüber positiv gesonnen und trugen von Anfang an zu ihrer Ver­breitung bei. Vor dem Hintergrund dieser Einigung verschiedener Kräfte öffnete sich ein Weg zu Verhandlungen mit der deutschen Verwaltung, die zu der Übereinkunft führten, dass die Mediziner, wenn sie ihre 107

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

schilder wieder offen zeigten, nicht mehr gezwungen wären, der Ärztekammer beizutreten. Doch die Deutschen hielten ihr Wort nicht und ­ ammer zu versuchten am 18. Mai 1943 erneut, die Mitgliedschaft in der K erzwingen – 360 Mediziner wurden verhaftet, ihre Praxen geschlossen und zahlreiche ihrer Kollegen verschwanden plötzlich. Die Aufrecht­ erhaltung des nationalen Gesundheitswesens war ernstlich gefährdet. Neuerliche Verhandlungen wurden ausgesetzt, die den bereits ausgehandelten Kompromiss schließlich durchsetzen sollten. Man kam darin überein, dass die offizielle Kammer erhalten bleiben sollte, da ihre Schließung in den Augen der Deutschen für den Reichskommissar, auf dessen persönlichen Wunsch sie geschaffen worden war, eine zu große Niederlage bedeutet hätte. Im Gegenzug brauchte aber keiner der Ärzte dort einzutreten, und alle verhafteten Mediziner wurden während des Sommers 1943 wieder auf freien Fuß gesetzt. Bis zur Befreiung ihres Landes waren die niederländischen Mediziner auch in anderen Auseinandersetzungen engagiert, so zum Beispiel gegen die Kontrolle der Krankenkassen durch ihre deutschen Kollegen oder gegen die Zwangsarbeit in Deutschland. Der Kampf gegen die offizielle Ärztekammer stellte jedoch den Höhepunkt in der Auseinandersetzung der Mediziner mit der Macht dar. Der Historiker Werner Warmbrunn schreibt dazu: Die Aktion des Ärztestands kann als ein fast perfektes Beispiel für eine Verweigerung der Zusammenarbeit angesehen werden, das sowohl durch die hervorragende Organisation seiner Mitglieder und ihre beinahe vollständige Teilnahme ermöglicht wurde als auch durch ­ die Tatsache, dass ihre Massenverhaftung aus deutscher ebenso wie auch holländischer Sicht ein Desaster bedeutet hätte. (Warmbrunn 1963, 271) Abgesehen davon, ähnelt der Verlauf dem der Aktion der norwegischen Lehrer auffallend: Letztlich wird nur die zur Zusammenarbeit geschaffene Institution formal aufrechterhalten, im Grunde jedoch ist niemand verpflichtet, ihr beizutreten. In den Ländern mit geringer ausgeprägtem sozialen Konsens war auch der zivile Widerstand weniger stark verbreitet. So gab es aus Gründen politischer oder kultureller Differenzen sowohl in Frankreich als auch in Belgien vor dem Krieg tiefe innere Konflikte, die dann im Augenblick der Okkupation das Spiel des Besatzers erleichterten. Die erste Kon­ sequenz dieses Mangels an innerem Zusammenhang war das Phänomen der Zusammenarbeit selbst – Belgien besaß gemessen an der 108

Innere Faktoren

kerungszahl die meisten Kollaborateure. Die zweite Konsequenz war die Quasi-Abwesenheit eines organisierten Widerstands zu Beginn der Besetzungszeit. Ausgehend von dieser »Aufsplitterung« des sozialen ­ Orga­nismus konnte man in den zwei auf die Invasion folgenden Jahren das Aufblühen von Splittergruppen der verschiedensten politischen Rich­ tungen und Nuancierungen beobachten. Henri Bernard geht so weit zu sagen, dass »der belgische Individualismus zu einer exzessiven Grüppchen­ bildung geführt hat« (Bernard 1968, 200). Diese Beobachtung gilt selbstverständlich auch für Frankreich. Heißt das nun, dass in beiden Ländern überhaupt kein Konsens vorhanden gewesen wäre? Sicherlich nicht. Sowohl Frankreich als auch Belgien sind zwei zu alte Nationen, als dass es für die Bevölkerung trotz aller Differenzen nicht doch gemeinsame Werte gäbe. Doch die Invasion und das daraus erwachsene Trauma stürzten alle gewohnten Bezugspunkte um. Eine völlig neue und unausgegorene politische Situation entstand, Frankreich und Belgien waren innerlich zerrissen. Von Anfang an schien jegliche Opposition völlig undenkbar. Eine neue Einheit konnte jedoch ausschließlich in der Opposition entstehen, und dazu brauchte es Zeit. Schließlich begann sich der Konsens über die patriotischen Werte zu entwickeln, und zwar im Namen der Verteidigung ihrer Identität gegen die Einmischung des Fremden. Mehrere Untersuchungen konnten be­ legen, dass die Widerstandskämpfer sich vor allem als Patrioten sahen. Das bedeutet, dass unterdrückte Gesellschaften ihre Identität über alle politischen Differenzen hinweg wiederfinden müssen, um sich befreien zu können. Diese Identität aber wird durch patriotische Vorstellungen verkörpert. Während des langwierigen Prozesses der Rückgewinnung des natio­ nalen Konsenses waren Anlässe wie Gedenkfeiern mit starkem symbo­ lischen Gehalt von großer Bedeutung. Diese zu festen Zeitpunkten stattfindenden Feierlichkeiten zu nationalen (d. h. für die Nation kon­ stitutiven) Ereignissen gestatteten das Wiederaufleben eines den Besatzer herausfordernden kollektiven Gedächtnisses, die Wiederbelebung von Erinnerungen, die die Geschichte des Landes geprägt hatten und aus diesem Grund Konsenz schufen. So gab es in allen Ländern des besetzten Europas spontane Feiern der Bevölkerung zu nationalen Gedenktagen. Die erste fand am 28. Oktober 1939 in der Tschechoslowakei statt – zum Jahrestag der Gründung des unabhängigen tschechoslowakischen Staates. Mehrere Tausend mit den Nationalfarben geschmückte Menschen demons­trierten in den Hauptstraßen Prags, wo es zu Zusammenstößen mit der tschechischen Polizei und der Gestapo kam. Wenige Tage danach 109

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erlag ein Student seinen schweren Verletzungen. Seine Freunde beschlossen, eine neue »Demonstration« für den 15. November, den Tag des Begräbnisses, zu organisieren. Die Unterdrückung durch die Nazis nahm erschreckende Ausmaße an, Tausende Studenten wurden deportiert. Am 17. November schließlich wurden alle Universitäten des Landes bis zum Ende des Krieges geschlossen.7 Demonstrationen von Anhängern des Königshauses fanden in den Niederlanden und auch in Norwegen statt. Nach altem Brauch trugen zahlreiche Niederländer am Geburtstag des Prinzen Bernhard eine weiße Nelke im Knopfloch – so auch am 29. Juni 1940. Und auch die Norweger hefteten sich zum Geburtstag König ­Håkons, am 3. August 1942, eine Blume an ihre Kleidung.8 Am 11. November 1940, dem Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs und zugleich des Sieges über Deutschland, fanden in Belgien wichtige natio­ nalistische Demonstrationen in den größeren Städten statt, insbesondere in Brüssel, Antwerpen, Lüttich und Charleroi. In dem weitverbreiteten Aufruf zu dieser Feier hieß es: »Schließen wir uns fest zusammen, damit dieser Tag unseren Unterdrückern als ein Beweis unserer Einigkeit in Erinnerung bleiben wird.« (zit. n. Gérard-Libois / Gotovitch 1976, 369 f.) In Brüssel wurden bereits am 10. November, einem Sonntag, Sträuße und Kränze vor dem Denkmal des unbekannten Soldaten niedergelegt. Am nächsten Tag defilierten dann mehrere Tausend Menschen durch die Straßen, sangen die Nationalhymne und skandierten Parolen gegen die Deutschen. Die Repression der Deutschen hielt sich zwar in Grenzen, doch drohten sie den Generalsekretären mit härteren Maßnahmen, wenn sich solche »Vorfälle« wiederholen sollten. Die meisten dieser symbolhaften Demonstrationen fanden in Frankreich statt – ganz so, als ob ihre ständige Wiederholung nötig war, um die Differenzen innerhalb des Landes zu kitten. Es gab in Frankreich ein wahrhaftes Ritual der symbolischen Demonstrationen, einen »Fetischismus der Feiertage«, wie Henri Noguères es nennt. (Interview mit Henri Noguères 1984, 20) Die erste von ihnen, zugleich die erste Demonstra­ tion seit Beginn der Besatzung, fand am 11. November 1940 in Paris statt. Mehrere Hundert Studenten riefen nationalistische Parolen und gingen, die Marseillaise singend, die Champs-Élysées auf und ab, bis sie von der Polizei festgenommen wurden. Es ist kaum bekannt, daß General de Gaulle selbst mehrere Male von London aus zu solchen Demonstrationen in Frankreich aufrief. Ohne Zweifel sahen die Franzosen in London darin ein Mittel, die Kampfbereitschaft der Bevölkerung einschätzen zu können und zugleich in ihr den Willen zum nationalistischen Widerstand zu fördern. Für diesen Zweck war das Radio das ideale 110

Innere Faktoren

strument. Der erste Aufruf General de Gaulles vom 23. Dezember 1940 forderte dazu auf, am 1. Januar 1941 für eine Stunde nicht auf den ­Straßen zu erscheinen. Des Weiteren erklärte er über die Sender des BBC: Am kommenden 1. Januar wird in den nicht besetzten Teilen Frankreichs zwischen 14 und 15 Uhr – und in den besetzten Teilen zwischen 15 und 16 Uhr – kein Franzose auf den Straßen unserer Städte und unserer Dörfer zu sehen sein. Nur der Feind wird dort sein. […] Alle Franzosen bleiben, ob allein, mit ihren Eltern oder Freunden, im ­Innern der Häuser und hinter verschlossenen Türen. Während dieser Stunde des Rückzugs werden wir alle gemeinsam an die Stunde der Befreiung denken. Sie wird die Stunde unserer Hoffnung sein. (de Gaulle 1970, 50) Es ist schwierig, sich eine Vorstellung von der tatsächlichen Resonanz auf diesen Appell zu machen, der vor dem 1. Januar 1941 noch mehrere Male von de Gaulle in verschiedener Form wiederholt wurde. Anscheinend wurde er vor allem in der besetzten Zone befolgt – in Paris allerdings organisierten die Deutschen zur besagten Stunde eine Gratisverteilung von Kartoffeln … Mehrere weitere Aufrufe zu Demonstrationen ergingen über das Londoner Radio. Radio France Libre hatte für den 5. September zu einem Tag der »langsamen Arbeit« aufgerufen – später forderte de Gaulle die Franzosen zu einer »nationalen Ehrenwache« für den 31. Oktober auf, einer Art Blitzgeneralstreik, der nicht länger als fünf Minuten dauern sollte. Er war als Protest gegen die erste Hinrichtung von Geiseln in Frankreich am 22. Oktober gedacht, mit der auf die Ermordung eines deutschen Militärs reagiert wurde. Über die BBC sagte de Gaulle am 25. Oktober: Indem er unsere Märtyrer erschoss, glaubte der Feind, Frankreich Angst einjagen zu können. Frankreich wird ihm zeigen, dass es keine Angst vor ihm hat. […] Es wird ihm den Beweis durch einen gigan­ tischen Blitzgeneralstreik mit völliger Regungslosigkeit liefern. Nächsten Freitagabend wird zwischen vier und fünf nach vier Uhr jegliche Aktivität auf französischem Boden eingestellt werden. […] Alle Franzosen, alle Französinnen verharren bewegungslos, jeder, wo er sich befindet, auf den Feldern, in den Fabriken, in den Büros, in den Schulen, in den Geschäften. […] Dieser ungeheure Nationalstreich wird dem Feind und den kriecherischen Verrätern zeigen, welche ­gigantische Bedrohung sie umgibt. (ebd., 124) 111

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

In einer anderen Rede fügte Maurice Schumann, der bekannte Sprecher von France Libre, hinzu, dass diese Aktion in absoluter Stille ablaufen sollte, ohne Rufe oder Manifestationen.9 Zum ersten Mal wurde dieser Appell aus dem gaullistischen Lager auch von den Kommunisten ­akzeptiert. Anscheinend wurde dem Aufruf diesmal von ausgesprochen vielen Menschen Folge geleistet – denn aus mehreren Städten ist bekannt, dass die Deutschen den Ablauf der Aktion durch Provokationen zu stören versuchten.10 Die Führer des inneren Widerstands der »freien« Zone forderten de Gaulle auf, auch für den 1. Mai 1942 eine Demonstration anzukündigen. Dieser war damit einverstanden und rief die in der südlichen Zone ­lebenden Franzosen dazu auf, »einzeln und lautlos vor den Denkmälern der Republik und den Rathäusern unserer Städte und Dörfer vorbei­ zugehen«. (de  Gaulle 1970, 183 f.) Das erste Mal seit Kriegsbeginn fanden im Süden des Landes öffentliche Massendemonstrationen in mehreren großen Städten statt: mehrere Zehntausend Personen in Lyon und ­Marseille, mehrere Tausend in Toulouse, Montpellier und ClermontFerrand. Man sang die Internationale und die Marseillaise, man verhöhnte Pierre Laval und skandierte den Namen de Gaulles. In einem begeisterten Bericht schreibt Jean Moulin, der persönliche Abgesandte des Generals: Dies ist die erste konzertierte Demonstration der Résistance. […] Sie zeigt deutlich die ideelle Gemeinsamkeit und Aktionsbereitschaft der hinter de Gaulle stehenden Résistance, den alle als Führer und Integrationsfigur anerkennen. Wenn sie auch nicht überall den gleichen Erfolg gehabt hat, so hat sie doch bei den Widerstandskämpfern zum ersten Mal den starken Eindruck hinterlassen, dass zwischen London und den lokalen Führern eine Synchronisierung besteht. (zit. n. ­Noguères 1984, Band II, 425 f.) Für de Gaulle bot das die willkommene Gelegenheit, seinen Einfluss auf die Arbeiterklasse zu verstärken und sie an sich zu binden; der Résistance dagegen wurde klar, dass sie gemeinsam mit London eine ernst zu nehmende Kraft zu werden versprach. Auch am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, und am 11. November kam es in Frankreich beinahe während der gesamten Dauer der Besatzungszeit zu Demonstrationen. Seit dem ersten Jahr der deutschen Präsenz boten diese Daten Einzelnen oder kleinen Gruppen die Gelegenheit, ihre Treue zu den nationalen Werten zu zeigen. Man hängte die Trikolore aus dem Fenster oder stellte seine Kleidung aus den drei Nationalfarben 112

Innere Faktoren

sammen. Nicht selten sah man Familien, deren erstes Kind blau, das zweite weiß und das dritte rot gekleidet war … Nach dem Erfolg der Aktionen zum 1. Mai wurde der 14. Juli zum Anlass einer der größten Demonstrationen, die in Frankreich seit Beginn des Krieges stattfanden. Auch hier spielte das Londoner Radio eine entscheidende Rolle. Bereits am 5. Juli 1942 rief Maurice Schumann die in der nicht besetzten Zone lebenden Franzosen dazu auf, am 14. Juli die Nationalfarben zu zeigen und sich vor symbolträchtigen Denkmälern zu versammeln.11 Die Aufrufe wurden bis zum Vortag des 14. Jul wiederholt, an dem de Gaulle ebenfalls eine Ansprache hielt. Sie schloss mit den Worten: In den Fahnen steckt unser Stolz, im Vorbeimarsch (an den Denk­ mälern, d. Übers.) unsere Hoffnung, in der Marseillaise unsere Kraft. Wir brauchen und wir besitzen unseren Stolz, unsere Hoffnung und unsere Kraft. Morgen werden wir sie zeigen ! (de Gaulle 1970, 213) Bemerkenswert ist, dass die Aufrufe besonders auf die mittlerweile zwischen London und dem inneren Widerstand bestehende Koordination hinwiesen, dass die Aktionsvorgaben sehr viel präziser geworden waren und dass die Sprache um so feierlicher wurde, je näher der »Tag X« ­rückte. Am 14. Juli defilierten dann nach Angaben des Präfekten von Lyon 100.000 Personen in den Straßen der Stadt. Auch in Grenoble, Toulouse und Valence hatten sich mehrere Tausend bzw. Zehntausend Menschen eingefunden, und in Vienne intonierte gemeinsam mit den 4000 Demonstranten auch die Polizei die Marseillaise … Während diese Massenversammlungen im Allgemeinen ohne Zwischenfälle ab­ liefen, schossen in Marseille Anhänger Doriots in die Menge. Mehrere Menschen kamen dabei ums Leben. Ihre Beisetzung am 19. Juli bot erneut Gelegenheit zu einer Manifestation, zu der gleichfalls die BBC aufrief. Mit der Invasion in die Südzone am 11. November 1942 stellte das Londoner Radio seine Aufrufe zu öffentlichen Demonstrationen ein. Allerdings wurde die politische Aufklärungsarbeit beibehalten, damit jeder auf seine Weise dem nationalen Schicksal begegnen könne. Doch nahmen die Feiern nun andere Formen an: Sabotage, Streik und spektakuläre Aktionen der maquis in den Straßen der Städte, wie zum Beispiel in Oyonnax am 11. November 1943, um eine kurze Zeremonie am Denkmal der Gefallenen abzuhalten. Den 1. Mai 1944 erklärte der Besatzer zum Feiertag, um das für diesen Tag von der Résistance geplante Vor­ haben eines Generalstreiks platzen zu lassen. Die Demonstrationen zum 14. Juli 1942 hatten jedoch bereits – selbst wenn sich nur ein Teil des 113

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

Landes daran beteiligt hatte – in mehr als nur einer Hinsicht wichtige Konsequenzen erwirkt. Sie waren ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur allmählichen Wiedererweckung der patriotischen Identität des französischen Volkes, auf die sich die organisierte Résistance nicht zuletzt stützte. Ihre Stärke überraschte ihre Organisatoren wie die Machthaber gleichermaßen. Sie führten Vichy ebenso wie der gesamten Bevölkerung vor, dass an der Existenz einer Widerstandsbewegung kein Zweifel mehr bestehen konnte und dass ihr Einfluß und ihre Strukturen ausreichten, sich Respekt zu verschaffen. Schließlich bestätigte sie die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen dem inneren und dem äußeren Widerstand. Frankreich war über seine nationalen Symbole, seine sich annähernden Untergrundbewegungen und über eine zwar im Exil lebende, aber zunehmend anerkannte Führungspersönlichkeit auf dem Weg, seine Einheit zurückzugewinnen.

Äußere Faktoren Der Zusammenhalt eines Gemeinwesens, das überfallen wurde, bestimmt sich auf der einen Seite durch seinen spezifischen Zustand, seine Überzeugungen und Verhaltensweisen, auf der anderen Seite sind dafür aber auch die Aggression von außen und die sie begleitenden Besatzungsbedingungen ausschlaggebend. Von Ausnahmen abgesehen, ist die äußere Bedrohung prinzipiell ein den Zusammenhalt fördernder Faktor. Bedrohung kann die Entstehung von Zusammenhalt sowohl »beschleunigen« als auch »kristallisieren«. Inwieweit der Besatzer jedoch auf diese Weise den Zusammenhalt der Besetzten fördert, hängt in hohem Maße von den strategischen Vorgaben des Aggressors ab, davon also, was er dem Besetzten zu entreißen vorhat – und schließlich auch von seiner Besatzungstaktik, d. h. von seinem Verhalten im direkten Kontakt mit den Besetzten. Ganz allgemein bestimmt so das Verhalten des Besatzers zu einem Großteil den Zusammenhalt der Besetzten, je nachdem, ob er diesen gegenüber mit großer Härte vorgeht oder nicht. Repression erscheint daher als einer der Faktoren, die sozusagen die »Konjunktur« des sozialen Zusammenhalts bestimmten. Gemeinhin gilt Repression als das Hauptwerkzeug von Tyrannen zur Verbreitung von Angst und Schrecken unter ihren Untergebenen. Diese Beobachtung soll hier keineswegs angefochten werden – zu zahlreich sind die historischen Beispiele, die diese traurige Wahrheit belegen. Doch wurde die andere Seite dieses Phänomens 114

Äußere Faktoren

nicht hinreichend bedacht: dass nämlich die Repression ab einer gewissen Stufe kontraproduktiv in Bezug auf ihre eigenen Ziele wirkt. Anstatt die unterdrückte Gesellschaft »auseinanderzutreiben«, fügt sie sie zu­ sammen. Agiert der Aggressor zu repressiv, schafft er eine Front gegen sich selbst. Repression kann also paradoxerweise Zusammenhalt schaffen. Gesellschaften, die vor dem Krieg eine innere Fragilität besessen haben mögen, konnten so aufgrund der Repression »ihre Reihen geschlossen« halten, um gegen den Aggressor vorzugehen. Dies gilt zum Beispiel für Polen. Die unglaubliche Brutalität der natio­ nalsozialistischen Repression schuf dort eine Art neuer Einigkeit. Der extrem hohe Grad der Repression des Besatzers begünstigte die Entwicklung der Verweigerung der Zusammenarbeit. Das soll nun nicht heißen, dass nicht auch in diesem Land bei einigen der Wille zur Zusammen­ arbeit mit dem Besatzer vorhanden gewesen wäre. Aus verschiedenen Gründen wurden die Deutschen im polnischen Bürgertum und in der Bauernschaft nicht von vornherein feindselig aufgenommen. Zugleich verstärkten die deutsche und die sowjetische Besatzung die auf der komplexen Nationalitätenfrage beruhenden Differenzen innerhalb der polnischen Bevölkerung. So verbündeten sich im östlichen Teil Polens die Ukrainer zunächst mit den Sowjets, später aber mit den Deutschen gegen die Polen und die Juden, während im westlichen Teil manche Polen deutscher Abstammung das Spiel des Besatzers spielten. Die Bruta­lität der Nazis auf dem Gebiet des Generalgouvernements war jedoch von einer solchen Heftigkeit, dass jene, die mit ihnen zusammenarbeiten wollten, abgeschreckt wurden. In der Tat versuchten die deutschen Besatzer auch niemals wirklich, eine mit ihnen zusammenarbeitende Re­ gierung zu bilden. Auch wenn die Absichten Berlins in Bezug auf Polen niemals wirklich klar waren, so war doch eines gewiss: Hitler wollte die polnische Intelligenz vernichten und, mehr noch, die gesamte polnische Kultur. Denkt man an den polnischen Widerstand, so hat man im Allgemeinen den Aufstand der Juden des Warschauer Ghettos von 1943 in Erinnerung und dann den Aufstand der gesamten Warschauer Stadtbevölkerung, als 1944 Stalins Armee vor den Toren der Stadt stand. Über diesen tragischen Ereignissen sollten jedoch keinesfalls die Vielfalt und der Reichtum des polnischen Widerstands in Vergessenheit geraten. Immerhin gelang es ihm, einen regelrechten »Untergrundstaat« aufzubauen, eine Schattengesellschaft mit den vielfältigsten Verzweigungen in den Nischen der offiziellen Gesellschaft. Widerstand leisten nannte man »dienen«. Man diente seinem Vaterland also in den verschiedensten 115

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

­ ormen, ob bewaffnet oder nicht. Einer seiner populärsten Vertreter, F Jan Karski, beschreibt, wie sich der Widerstand seit Beginn der Okku­ pation zwar ohne wirkliche Vereinheitlichung, aber doch in einer Atmosphäre allgemeinen Zusammenhalts um zwei Aktionslinien herum organisierte: 1. Welche Wendung der Krieg auch nehmen würde – alle Polen würden jegliche Art der Zusammenarbeit mit den Deutschen verweigern; 2. Der Fortbestand des polnischen Staates wäre stets durch eine ge­ heime Verwaltung in Verbindung mit der Exilregierung zu gewähr­ leisten. (Karski 1948, 121) Der erwähnte Untergrundstaat, der in den ersten drei Jahren der Besatzung in Zusammenarbeit mit der Exilregierung General Sikorskis entstanden war, bestand aus fünf Abteilungen: einem Verwaltungsdienst, einer Geheimarmee, politischer und parlamentarischer Repräsentation, einem Direktorium zur zivilen Verteidigung und einem Komitee zur Koordination ökonomischer, pädagogischer, religiöser und anderer Grup­ pen. Erstaunlicherweise tagte während beinahe der gesamten Besatzungszeit sogar ein wirkliches »Parlament«, das die auf die vier wichtigsten Parteien reduzierte politische Repräsentation des Landes verkörperte. Was die Untergrund»armee« betrifft, so sind zahlreiche Sabotageaktionen bezeugt, die in den Reihen des Besatzers ein beständiges Unsicherheitsgefühl aufrechterhielten, umgekehrt aber auch zu verstärkter Repression führten. Gerade vor dem Hintergrund des totalen Krieges gegen ein Volk und seiner drohenden Vernichtung kam es zu einem der bemerkenswertesten Fälle zivilen Widerstands in der gesamten Geschichte der Nazi-Herrschaft über Europa. Eine der Hauptmaßnahmen zur »Germanisierung« des polnischen Territoriums bestand in der Vernichtung seiner Intel­ ligenz und seiner Kultur. Es ging Hitler, wie er selbst gesagt hatte, darum, die Eliten der polnischen Gesellschaft zu eliminieren und die nachfolgenden Generationen, die sie möglicherweise ersetzen konnten, im Auge zu ­behalten, um sie schließlich ebenfalls zu liquidieren. Von den ersten Monaten der Besatzung an konzentrierten sich die Deutschen daher auf die Intellektuellen und insbesondere auf die Universitätsangehörigen. So wurden in Krakau zu Semesterbeginn am 5. November 1939 alle Professoren dieser berühmten Universität verhaftet. Zugleich fanden auch Verhaftungen und Exekutionen in Justiz-, Kunst-, Medizin- und Kirchen­ kreisen statt. Im November 1939 wurden alle Schulen und schulischen Einrichtungen – mit Ausnahme der Grundschulen und einiger 116

Äußere Faktoren

scher Ausbildungsstätten – geschlossen. Die Lehrkräfte für polnische Sprache, Geschichte und Geographie wurden entlassen, wissenschaftliche Institute, Rundfunk und Theater wurden geschlossen. Angesichts dieser Bedrohung vor allem der Kunst, aber auch der gesamten Kultur eines Volkes machte es sich der polnische Widerstand zur Aufgabe, diese Kultur durch ein alle Stufen umfassendes Unterrichts­ wesen im Untergrund zu sichern. Dieses Erziehungswesen im Untergrund konnte in Polen bereits auf eine Tradition bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückblicken.12 Mit der nationalsozialistischen Besatzung wurde dieser historische Reflex wiedererweckt, und zahlreiche Kurse vor allem auf dem Gebiet des Generalgouvernements wurden o­ rganisiert. Innerhalb des Untergrundstaates wurde sogar eine Art ­»Bildungsministerium« geschaffen, und die Lehrer konnten dank eines von der Exilregierung bereitgestellten Fonds entlohnt werden. In den Grundschulen, die, wie gesagt, weiterhin zugelassen waren, ließ man Unterricht in Geschichte, Geographie und polnischer Sprache in den Stundenplan einfließen. Auf dem Land, wo jeder jeden kennt, konnte dieser zusätzliche Unterricht oftmals in den Schulen selbst gehalten werden. In den Städten wurden die Schüler, um das Erscheinen verdächtiger Personen zu vermeiden, außerhalb der Regelunterrichtsstunden in so­ genannten komplety-Stunden unterrichtete. Nach Angaben von Josef Krasuski nahmen zwischen 1943 und 1944 schätzungsweise 37.000 Schüler an diesen komplety, die von 2352 Lehrern betreut wurden, teil.13 Der Autor nimmt an, dass jeder dritte Schüler an diesen Parallelkursen teilnahm. Diese Schätzung sagt jedoch nichts über die großen regionalen Unterschiede aus. In den Kolonialgebieten des Westens verhinderte die starke Präsenz der Deutschen die Organisation der komplety fast voll­ ständig, und auch in der Lubliner Region stand die mit dem Besatzer zusammenarbeitende ukrainische Bevölkerung dieser Einrichtung im Wege. Auf Gymnasialebene war der illegale Unterricht noch weitaus wich­ tiger. Alle Gymnasien waren von einem auf den anderen Tag geschlossen worden, zahlreiche Schüler waren jedoch weiterhin hochmotiviert, den Unterricht fortzusetzen. Mit Unterstützung der Kirche organisierten die Lehrer ein weitreichendes Netz von komplety, wobei in jedem höchstens sieben Schüler versammelt waren. Dabei profitierte man davon, daß die Berufsschulen (für Mechaniker, Schneider usw.) geöffnet waren, indem man die offiziellen Stunden zu anderen Zwecken nutzte. So konnte es vorkommen, dass die Schüler anstelle von »Wirtschaftskorrespondenz« in Polnisch oder in Geschichte unterrichtet wurden. Man schätzt, dass 117

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

ungefähr 70 Prozent der Gymnasiasten auf diese Weise die Schule besuchten: Von den 90.000 Gymnasiasten der Vorkriegszeit nahmen zwischen 1943 und 1944 ungefähr 60.000 an den komplety teil. Nahezu 18.000 machten ihr Abitur im Untergrund. (s. Krasuski 1971, 182) Ohne Zweifel stellen jedoch die Untergrunduniversitäten den bekanntesten Aspekt dieser Unterrichtsform dar. Bereits Anfang 1940 reorganisierte sich als erste die Warschauer Universität. Auch wenn die Univer­ sitätsangehörigen zuerst nicht davon begeistert waren, unter solchen Umständen ihre Arbeit fortzusetzen, riss sie doch der Schwung mancher Studenten mit. Zuerst nahm im Februar 1940 die theologische Fakultät ihre Arbeit wieder auf. Dann folgten Jura, Medizin und Philologie. Zahlreiche aus Posen vertriebene Professoren siedelten nach Warschau über. Um dort ihre Arbeit und ihre Kurse wieder aufnehmen zu können, gründeten sie die »Universität der westlichen Gebiete« (»Uniwersytet Ziem Zachodnich«, UZZ). Ohne feste lokale Stützpunkte wurde in ganz Warschau und seinen Vorstädten ein dichtes Netz an komplety orga­ nisiert. Die ersten Kurse begannen im Dezember 1940, und im Sommer 1943 gab es sogar Rektoratswahlen. Um das Recht zur Teilnahme an den Untergrunduniversitäten zu erlangen, mussten die Studenten einen Eid leisten, in dem sie unter anderem bestätigten, die extrem strengen ­Sicherheitsbedingungen zu respektieren. Die UZZ umfasste anfangs die Fakultäten für Philologie, Ökonomie, Agronomie sowie politische Ökonomie und eine für Naturwissenschaften. Auch die älteste Universität Polens, die Universität von Krakau, begann 1942 wieder ihre Aktivitäten aufzunehmen. Alle diese Universitäten hatten mehre Hundert Studenten, vergaben Diplome und fuhren fort, wissenschaftliche Arbeiten zu ver­öffentlichen. (vgl. Neveu 1960) Insgesamt nahmen während des Krieges wohl nahezu 100.000 Schüler, Grundschüler, Gymnasiasten oder Studenten an den Kursen teil. Die schwierigen Sicherheitsbedingungen, die unterschiedlichen Praktiken und die geringe Zahl der Lehrerkonferenzen beeinträchtigten die Qua­ lität dieser Kurse sicherlich. Hinzu kommt, dass während dieser Zeit praktisch kein weiteres Lehrpersonal ausgebildet werden konnte. Trotzdem war der Geheimunterricht während der Zeit der Terrorherrschaft die am weitesten verbreitete und bestorganisierte Aktion des polnischen Widerstands. Einer seiner ehemaligen Akteure, Kozniewski, schrieb dazu: Der geheime Unterricht für alle Schulstufen war die am meisten zu bewundernde Tat der polnischen Gesellschaft. Weder Flugblätter, Attentate noch Sabotage hatten eine solche Wirkung wie diese 118

Äußere Faktoren

monstration des Nationalbewusstseins. Sie rettete unsere Gesellschaft vor einem Verlust, der der Zerstörung Warschaus in nichts nach­ gestanden hätte: dem Verlust von fünf Jahrgängen Abiturienten, ­Ingenieuren, Architekten, Ärzten und Professoren. (zit. n. Kolowski 1974, 182) In den Ländern, in denen die Deutschen weniger grausam gegen die Bevölkerung vorgingen, war der Zusammenhang der unterdrückten Gesellschaften anfangs keine direkte Folge der Repression. Die »korrekte« Haltung der Besatzer konnte in den Ländern Westeuropas sogar ver­ führerisch wirken. Wenn in Frankreich oder Belgien der Widerstand der Zivilbevölkerung während des ersten Besatzungsjahres relativ un­ bedeutend war, lag dies nicht nur an den inneren Differenzen, sondern auch daran, dass sich der Besatzer nicht allzu brutal gebärdete. Mit ­Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der Sowjetunion Jahre 1941, der damit verbundenen Aufnahme des bewaffneten im ­ ­Kampfesseitens der Kommunisten und den ersten Exekutionen von Geiseln zur Bekämpfung der »Terroristen« begann sich auch das soziale Klima zu verändern und der Groll der terrorisierten Gesellschaften zu wachsen. Die Annahme allerdings, dass physische Gewalt der einzige Faktor gewesen sei, durch den der Besatzer den Zusammenhang der Zivilbevölkerung gegen sich sukzessive zusammenschmiedete, wäre zu einfach. In Wirklichkeit resultierte die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Besatzer und Besetzten vielmehr aus dem unablässig steigenden Druck auf die Zivilbevölkerung. Das deutsche Vorhaben, die Früchte der Eroberungen bis zu einem Maximum auszupressen, führte auf lange Sicht dazu, dass die besetzten Völker nur noch eines denken konnten: dass dieses bis in das Alltagsleben hineinreichende systematische Ausbluten, dem sie zum Opfer gefallen waren, endlich ein Ende nehme. Selbst wenn die neue politische Situation anfangs erträglich gewesen war, so wurde sie es im Laufe der Zeit immer weniger. Äußerlich betrachtet, veränderte sich das Verhalten gegenüber dem Besatzer mit der Gesamtentwicklung des Krieges beträchtlich. Doch ­innerhalb der Gesellschaften der besetzten Länder blieb all das, was die Menschen in ihrem alltäglichen Leben beeinträchtigte, der bestimmende Faktor für die Stimmung. Dazu zählen vor allem die kriegsbedingte Mangelwirtschaft und die grenzenlose deutsche Ausbeutung. Die ­Nahrungsmittel- und Warenknappheit bot zwar einigen wenigen, die auf dem Schwarzmarkt tätig wurden, finanzielle Vorteile – die meisten 119

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

j­edoch waren unzufrieden. Doch zu der schlimmen ökonomischen Situa­ tion kam der Druck auf die Menschen selbst: zuerst, wenn auch in beschränktem Maß, die Einberufung der jungen Männer in die Wehrmacht, später die Einziehung vieler Familienväter und ihrer älteren Söhne zum Zwangsarbeitsdienst im Deutschen Reich. Viele Familien waren von diesen kaum zu ertragenden Maßnahmen betroffen, die ein brutales und willkürliches Heraustrennen aus der gewohnten Lebenswelt bedeuteten. Die gesamte Geschichte der deutschen Besatzung in Westeuropa ist von dieser allmählichen Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Besatzer und Besetzten durch dessen harte Anforderungen gekenn­ zeichnet. Es scheint so, als hätten die jeweils Besetzten ihre anfangs vorsichtige Anpassung Stück für Stück aufgegeben. Die in die Enge getriebenen Gesellschaften wehrten sich gegen diese Politik der »Zitronenpresse« zu verschiedenen Zeiten durch spontane Massenbewegungen. Solche Bewegungen sind, um eine Analogie zu ziehen, mit den »Abwehrmechanismen« eines biologischen Organismus vergleichbar. In den als »Kriegszonen« angesehenen und daher unter deutscher Militär­verwaltung stehenden Gebieten im Nordwesten Europas führten die erwähnten Versorgungsschwierigkeiten zu den ersten Massenstreiks in der Geschichte der Okkupation. In Belgien und später auch in Frankreich brachten die Bergarbeiter die Unzufriedenheit einer ganzen Region zum Ausdruck. Die Kumpel mit ihrer sprichwörtlichen Solidarität ­hatten die besten Voraussetzungen, ihre Beschwerden vorzubringen. Da ihre Arbeit außerdem für die deutsche Kriegsmaschinerie unentbehrlich war, hatten sie, wie die Metallarbeiter, auch die »Macht«, in Streik zu treten – ganz anders als andere für den Besatzer weniger wichtige Berufsgruppen, die im Falle der Arbeitsniederlegung sehr viel stärker der Repression ausgesetzt gewesen wären. Lohnerhöhungen waren zwar aufgrund einer deutschen Anordnung verboten, und die Ausrufung eines Streiks war sicher nicht ungefährlich. Doch ihre Stellung in strategisch wichtigen ökonomischen Sektoren gab den Berg- und Metallarbeitern die Chance, Gehör zu finden. Die Bewegung begann am 10. Mai 1941 in der Stahlindustrie (Établissements Cockerill), um dann auf das Lütticher Bergbaurevier über­ zuspringen. Seit einem Jahr waren die Löhne nicht mehr erhöht worden, ganz entgegen den Ankündigungen General Reeders, des Verantwortlichen des belgischen Verwaltungsdienstes. (Gérard-Libois / Grotovitch 1976, 381) 120

Äußere Faktoren

Die Versorgung funktionierte schlecht, und die Menschen begannen, sich insbesondere über fehlende Kartoffeln, Margarine und Seife zu beklagen. Trotz des Streikverbots fanden im Herbst 1940 die ersten partiellen Arbeitsniederlegungen statt. Ende Januar 1941 begann die Bewegung plötzlich zu wachsen: Etwa 10.000 Kumpel legten die Arbeit nieder, um zugleich gegen die von den Generalsekretären auferlegte Steuer zu protestieren. Zeitgleich brach auch in der staatlichen Fabrik Herstal, einer Munitionsfabrik, in der 3000 der 4000 Beschäftigten die Erhöhung der Kartoffelration forderten, ein Streik aus. In diesem aufgeheizten Klima legten zwischen dem 10. und 20. Mai 1941 schließlich mehrere Zehn­ tausend Kumpel ihre Arbeit nieder. Ausgehend vom Lütticher Revier, sprang der Streik auf Hainaut und Limbourg über. Die Streikenden ­for­derten eine Verbesserung der Versorgungslage für die gesamte Be­ völkerung, eine Lohnerhöhung und die Zurücknahme der Steuer. Trotz einzelner Verhaftungen wurden die Forderungen der Kumpel zum Teil f üllt: Die Löhne wurden um 8 Prozent angehoben, und zusätzer­ liche Lebensmittelmarken wurden verteilt. Der Besatzer brauchte sie. (s. Jolris 1973) Eine Woche später brach auf französischer Seite eine ganz ähnliche Bewegung in den Minen der Departements Nord und Pas-de-Calais aus. Sporadische Streiks hatten auch hier schon während des Herbstes 1940 stattgefunden: Zur allgemeinen Überraschung hatten sich am 11. Novem­ ber (der wieder zu einem »normalen« Arbeitstag erklärt worden war) 30 Prozent der Kumpel nicht an den Schächten eingefunden. Auch im Januar und März 1941 hatte es einzelne Streiks gegeben. Am 1. Mai dann konnte die Kommunistische Partei ihre starke Verankerung im Revier unter Beweis stellen: Trotz eines beeindruckenden Polizeiaufgebots sah man an jenem Morgen die rote Fahne auf zahlreichen Fördertürmen wehen. In diesem angespannten Klima brach am 27. Mai 1941 die bedeutendste Massenbewegung der französischen Besatzungsgeschichte aus. Einer ihrer Akteure, der kommunistische Führer Auguste Lecœur, legte ein beredtes Zeugnis davon ab (s. Lecœur 1971): Die Bewegung begann an den Förderschächten von Dourges, den sogenannten Le Dahomey, und ging dann allmählich auch auf andere über. Die Forderungen drehten sich um die Verbesserung der Versorgung und der Arbeitsbedingungen ebenso wie um die Erhöhung der Löhne. Die Minenbesitzer hatten in der Tat dadurch von der Präsenz der Deutschen profitiert, dass sie die zuvor ausgehandelten Lohnvereinbarungen und die gemeinsame Konvention von 1936 unterliefen. Vom folgenden Tag, dem 28. Mai, an nahmen die französischen Behörden Verhaftungen vor. Doch die 121

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

arbeiter blieben ruhig, und der Streik breitete sich trotz der Repression aus, wobei die Frauen einen großen Einfluss darauf hatten, die Un­ entschlossenen mitzureißen. Am 4. Juli, dem Höhepunkt der Bewegung, legten ungefähr 80 Prozent der Minenarbeiter (annähernd 100.000) ihre Arbeit nieder. Alle Stollen waren betroffen, ebenso wie die angegliederten Fabriken (Kokereien); Arbeiter anderer Industriezweige der Region (Metallverarbeitung, Spinnereien, Ziegeleien) begannen sich ebenfalls zu mobilisieren.14 In den Wohnsiedlungen der Bergarbeiter galt der Ausnahme­ zustand, und schließlich intervenierten deutsche Truppen. Mehrere Hundert Personen wurden verhaftet, darunter auch zahlreiche Frauen. Kriegsgerichte verurteilten zu Zwangsarbeit; 235 Personen wurden deportiert – 130 von ihnen kehrten nicht mehr zurück. Währenddessen drohte die Bergwerksleitung die Lohnzahlungen für die zweite Maihälfte auszusetzen, wenn die Arbeit nicht sofort wieder aufgenommen würde. Am 10. Juni war dann alles vorüber. Mit dem Besatzer wurden in den darauffolgenden Tagen einige Verbesserungen ausgehandelt, insbesondere was die Nahrungsmittelversorgung betraf. Doch der gezahlte Preis war hoch. Mit Stéphane Courtois lässt sich trotzdem feststellen, dass es den Kommunisten hoch anzurechnen ist, dass sie – ­unabhängig davon, ob sie nun wirklich die Auseinandersetzung mit dem Besatzer ge­sucht hatten oder nicht – die erste Massenbewegung losgetreten hatten, die die Besatzung prinzipiell infrage stellte. (Courtois 1980, 199) Etwas mehr als ein Jahr danach wurde auch das Großherzogtum Luxemburg von einem wichtigen Streik erfasst, der aus Protest gegen die Zwangseingliederung junger Männer in die deutsche Armee ausbrach. Die königliche Familie und die Regierung des kleinen neutralen Landes waren nach der Invasion vom 10. Mai 1940 nach England geflohen. Luxem­burg war für das Deutsche Reich schon allein aufgrund seiner Bergwerks- und Metallindustrie von Interesse – doch auch mit der Bevölkerung Luxemburgs hatte Berlin seine Absichten: Da sie, wie im übrigen auch diejenige des Elsass und Lothringens, von ihrer Geschichte her als deutsch angesehen wurde, sollte sie an das Reich angegliedert werden. Zu diesem Zweck wurden die beiden französischen Provinzen und Luxemburg von Gauleitern direkt verwaltet. Nach der deutschen Großoffensive gegen die UdSSR im Winter 1941 /1942 brauchte Hitler unbedingt frische Truppen. Um diese zu rekrutieren, schlug sein General­ stab vor, die Annexion der genannten Gebiete zu komplettieren und der 122

Äußere Faktoren

jeweiligen Bevölkerung die deutsche Staatsbürgerschaft zu übertragen. Die Gauleiter beeilten sich, damit eine weitere Hürde auf dem Weg zur Zwangsassimilierung zu nehmen. Die jungen Männer aus den jeweiligen Staaten hingegen sahen sich plötzlich mit ihrer legalen Einberufung in die Wehrmacht konfrontiert. Am 24. August wurde in Berlin eine entsprechende Weisung des Innenministers herausgegeben. Damit begann die Tragödie der Zwangsrekrutierten, der »Malgré-nous« (gegen unseren Willen, d. Übers.). (s. Barral 1985) Im Elsass wie in Lothringen versuchten viele der solchermaßen »Einberufenen« zu fliehen, vor allem in die Vogesen oder in die Schweiz. In Luxemburg wurde das neue Gesetz am 30. August von Gauleiter Gustav Simon bekannt gegeben. Mit dem darauf­f olgenden Tag brach im Bergbaurevier von Esch ein Streik aus, der sogar auf die Stadt Luxemburg übergriff. Insbesondere die Studenten taten sich darin hervor, die Bevölkerung zu mobilisieren. Die Bewegung dauerte bis zum 4. September. (s. Trausch 1984)15 Die Deutschen riefen den Ausnahmezustand aus und griffen zu grausamen Unterdrückungsmaßnahmen. Hunderte Personen wurden verhaftet, 40 deportiert und 21 junge Männer aus unterschiedlichen Berufen zum Tode verurteilt. In einer in den darauffolgenden Tagen über das Radio ausgestrahlten Rede drohte der Gauleiter der Bevölkerung mit Massendeportationen. Doch in derselben Rede kam auch jener kurze Satz vor, der alsbald von der BBC und vom Widerstand aufgenommen wurde: »Obwohl zweitrangig, bedeutet Luxemburg im Westen eine stete Gefahr für das Leben der gesamten deutschen Nation.« (zit. n. Bossleer / Steichen 1952, 505) Während die Zwangsrekrutierung in die Wehrmacht nur einen ­kleinen Teil der Einwohner Westeuropas betraf, waren von der Erfassung zum Zwangsarbeitsdienst in Deutschland seit dem September 1942 in Belgien, den Niederlanden und Frankreich Hunderttausende Männer und ­Frauen betroffen. Nach einigen Monaten der Passivität, in denen die Bevölkerungen wortwörtlich überrumpelt waren, wuchs in der Öffentlichkeit die Empörung darüber. Seit dem Frühjahr und Sommer 1943 gingen daraufhin Zehntausende in den Untergrund. Insbesondere was Frankreich betrifft, wäre es interessant, die Analyse dieser spontanen Bewegung der Gehorsamsverweigerung noch einmal an anderer Stelle aufzunehmen. Hier sei stattdessen ein Blick auf die Nieder­ lande geworfen, wo die schnellste und heftigste Reaktion all­gemeiner Unzufriedenheit auf die deutsche Entscheidung entstand. Ende April 1943 brach dort der ohne Zweifel größte Streik in der nationalsozialistischen Besatzungsgeschichte Westeuropas aus. Man schätzt, dass un­ gefähr eine halbe Million Personen daran beteiligt waren.16 Berlin hatte, 123

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

um den Bedarf an Arbeitskräften decken zu können, die Idee, jene etwa zehntausend Soldaten zum Dienst einzuberufen, die 1940 gefangen ­genommen und später freigelassen worden waren. Die am 29. April von General Christiansen verkündete Entscheidung rief große Bestürzung hervor. In der Region von Hengelo brach sofort ein spontaner Streik aus, der auf das Bergbaurevier von Limbourg und die Philips-Werke in Eindhoven übergriff. Die Bewegung fand ihren größten Rückhalt in der Textilindustrie des Landes, wo selbst die Fabrikbesitzer ihr nicht feindlich gegenüberzustehen schienen. Außergewöhnlich ist, dass sich sogar die Bauern daran beteiligten. In verschiedenen Orten verweigerten die Landwirte ihre Milchlieferungen an die Kooperativen. Am 30. April legten mehrere Hundertttausend Personen die Arbeit nieder. In mehreren Städten kam es zu Straßenbahndemonstrationen, die brutal auseinandergetrieben wurden. Völlig überrascht von der Geschwindigkeit, mit der sich der Streik ausbreitete, riefen die Deutschen den Ausnahmezustand aus. Zahlreiche Personen wurden hingerichtet, nachdem sie vor deutsche Kriegsgerichte gestellt worden waren. Die Streikwelle ebbte am 5. Mai stark ab, dauerte jedoch in Friesland und Nordbrabant bis zum 8. Mai an. Ihre psychologischen Konsequenzen waren beträchtlich, da der Graben zwischen der Öffentlichkeit und den Machthabern nun manifest geworden war. Die Streiks förderten die Radikalisierung neuer sozialer Milieus, insbesondere der Landwirtschaft; und die Bereitschaft, die zum Zwangsarbeitsdienst Abkommandierten zu schützen und ihnen zu helfen, verstärkte sich im ganzen Land. (s. Sijes 1956) Die Maßnahmen zur Einführung des Zwangsarbeitsdienstes hatten verheerende Auswirkungen auf jene, die sie selbst angeordnet hatten. Deutschland hatte in den westlichen Gesellschaften eine anwachsende Welle innerer Einigkeit gegen sich hervorgerufen, die es so vor 1943 nicht gegeben hatte. Ein sicheres Anzeichen für diesen neuen Zusammenhalt war die in den meisten sozialen Milieus gestiegene Solidarität mit den Zwangsrekrutierten. Von nun an begann der wahre Aufstieg des organisierten Widerstands. Die Zahl der an ihm Beteiligten nahm zu, und vor allem sein Ansehen in der Öffentlichkeit stieg beständig. Kurz, der Besatzer hatte die Kosten seiner eigenen Politik zu tragen.

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Das Gesetz der »Reaktivität« Die Ausformung des »Widerstands« – oder besser der Widerstände – war immer ein höchst komplexer Prozeß. Grundbedingung hierfür war, dass die Besetzten ein Mindestmaß an Zusammenhalt entwickelten, gleichgültig ob dieser noch aus dem politischen Gleichgewicht der Vorkriegszeit stammte oder aber durch die Art bzw. die Entwicklung der Besatzung hervorgerufen wurde. Dieser Ausformungsprozess eines »widerständigen Zusammenhalts« war meist sehr vielschichtig. Er resultierte vor allem aus der fortschreitenden und sich unterschiedlich entwickelnden Mobilisierung verschiedener Berufs- oder sozialer Gruppen. Viele der hier zitierten historischen Beispiele entstanden in gesellschaftlichen Krisenmomenten des jeweiligen besetzten Landes, wenn ein bestimmter Aspekt der Besatzungspolitik unerträglich geworden war. Diese teilweise spektakulären, teilweise sporadischen bzw. lang anhaltenden Krisen mobilisierten aus ganz unterschiedlichen Gründen spezifische Berufs- oder soziale Gruppen. Im Allgemeinen waren die Besatzer und die Führer des Widerstands gleichermaßen von der Breite des Widerstands überrascht. In den meisten Fällen waren diese Mobilisierungen nicht geplant, sondern entstanden aus einer spontanen »Reaktivität« dieser Gruppen gegenüber ihrer unerträglichen Situation. Je nach ihrer eigenen Geschichte und Mentalität traten sie in Opposition zu dem Besatzungs­ regime. Eine bestimmte Situation, ein bestimmtes Ereignis oder Symbol konnten ihre Mobilisierung auslösen. Die Demonstrationen des 11. November 1940 in Belgien waren vor allem die Sache des auf den nationalen Werten beharrenden Bürgers, während einige Monate später vor allem die Bergarbeiter des Lütticher Reviers gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen protestierten. Als sich in Norwegen das Regime an den Schulen »vergreifen« wollte, mobilisierten sich die Lehrer – analog dazu provozierte der Angriff auf die Kirche den Widerstand der Geist­ lichen. Zahlreiche soziale Gruppen erlebten so einen oder mehrere Schlüsselmomente, die ihren Eintritt in den Kampf bewirkten, den sie mit eigenen Ausdrucksformen und zu unterschiedlichen Zwecken aufnahmen. Das Anwachsen des Widerstands vollzog sich wie eine soziale Kettenreaktion, die ähnlich einer chemischen Reaktion in der Aktion bestimmte Elemente zusammenführte. Die Vereinigung dieser partiellen Mobilisierungen mündete schließlich in einem Widerstand von natio­ nalem Ausmaß. Unter diesem Blickwinkel waren die zivilen Widerstandsbewegungen spezifische Etappen auf dem steinigen Weg zum Aufbau eines national organisierten Widerstands. 125

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

Der Verlauf dieser Entwicklung hing von der Ausgangslage der legitimen politischen Macht gegenüber dem Besatzer ab. In Ländern, in denen die legitime politische Macht die Zusammenarbeit mit dem Besatzer verweigerte, bestand größere Aussicht auf eine schnellere »Reaktions­ geschwindigkeit« der verschiedenen Teile des »sozialen Körpers«. Doch man kann in diesem wie im anderen Fall die gleichen drei klassischen Phasen des Widerstands beobachten: nämlich Stadien spontanen, organisierten und schließlich vereinigten Widerstands. Allerdings zeigen die historischen Beispiele – ganz unabhängig von der jeweiligen Widerstands­ form –, dass sich eine Gesellschaft nicht wie eine Armee mobilisieren lässt. Das bedeutet auch, dass der Massencharakter der untersuchten Aktio­ nen nicht über ihre wahre Natur hinwegtäuschen darf. Zwar hatte der Kampf um die Schulen in Norwegen und Polen oder im Gesundheitswesen in den Niederlanden den Anschein eines regelrechten Kreuzzuges für die nationalen Werte, doch trifft dies nicht auf alle Beispiele zu. So können die großen Streiks zur Verbesserung der Versorgung nicht als ein prinzipieller Angriff auf die Besatzung verstanden werden, sondern einzig als eine Aktion zur Korrektur ihrer unerträglichsten alltäglichen Auswirkungen. Dieser Aspekt fehlte, nebenbei bemerkt, auch im Kampf der norwegischen Lehrerschaft nicht, insgesamt betrachtet kämpfte sie mehr gegen Quisling als gegen Terboven. Trotzdem kann selbst die spontane Mobilisierung einer Gruppe für ihre Eigeninteressen das Bewusstsein radikalisieren. Ein um wirtschaftliche oder soziale Forderungen ausgebrochener Konflikt kann schnell die politischen Hintergründe des zwischen den betroffenen Parteien ausgebrochenen Streits offenlegen. Die betroffenen Gruppen oder Individuen gelangen so vom Kampf um ökonomische oder soziale Forderungen zur politischen Aktion. Dieser klassische Prozess der Radikalisierung brachte das hervor, was gewöhnlich »Widerstand« genannt wird: eine organisierte politische Kraft, die das Ziel verfolgt, die Okkupation des jeweiligen Landes zu beenden. In vielen Fällen führte die Brutalität, mit welcher der Besatzer manche Streiks oder Demonstrationen auseinandertrieb, zu der Erkenntnis, dass dieser Besatzer selbst der Hauptfeind war. Historiker stellten fest, dass in der Folge öffentlicher Demonstrationen nicht selten die Verteilung der illegalen Presse ebenso wie die Teilnahme an Widerstandsbewegungen zugenommen hatte. Beide Tatbestände können als objektive Indizien für die oben erwähnte Radikalisierung des Bewusstseins herangezogen werden. Presse und Untergrundbewegungen erscheinen beide als die Haupt»Vektoren«, die den Widerstand als oppositionelle politische Kraft auf 126

Das Gesetz der »Reaktivität«

greifbare Weise verkörpern. Über alle Unterschiede hinweg war die Untergrundpresse der ideologische Ausdruck des Widerstands, während die verschiedenen Bewegungen ihr institutioneller Ausdruck waren. An dieser Stelle muss auf die zentrale Rolle der Presse für die gesamte Entwicklung des institutionellen Widerstands hingewiesen werden. Die Existenz von Untergrundzeitungen darf in der Tat nicht bloß als ein Widerstandselement unter vielen gegen den Nationalsozialismus an­ gesehen werden, etwa gleichbedeutend mit Sabotage, Aufklärung oder Demonstrationen. Die Presse war mehr als nur ein einfaches Instrument der Gegenpropaganda in der psychologischen Kriegführung. Sie bildete vielmehr die zentrale Achse, um die herum die inneren »Widerstände« sich bilden und entwickeln konnten. Allem Anschein nach brauchte der Widerstand hierfür zuerst eine ideologische Grundlage, die sich erst später in Aktionsstrukturen umsetzen ließ. Daraus erklärt sich auch, warum die Widerstandskämpfer der ersten Stunde über die verschiedenen Flugblätter, Bulletins und Zeitungen jene Werte zu formulieren suchten, in deren Namen sie der nationalsozialistischen Ordnung widersprachen. So besehen, war die Untergrundpresse mehr eine Über­ zeugungs- als eine Informationspresse. Doch ihre Rolle bestand nicht allein darin, sich an jene zu richten, die sie für ihre Zwecke zusammenführen wollte. Weit mehr lag ihre Funktion in der Selbstüberzeugung und Selbstbestätigung eines kollektiven Selbst, von dem aus die neue ideologische Ordnung zurückgewiesen werden konnte. Die Zeitungen erlaubten so den Auf bau eines »ideologischen Bollwerks«, in dessen Schutz sich der Widerstand organisierte. Tatsächlich entstand aus ihnen oft eine von einem gemeinsamen Ideal getragene Gruppe, die den Kern einer strukturierten Opposition bildete. Sie zog neue Kandidaten an und aktivierte sie in dem Maße, wie die oben beschriebenen Faktoren – die internationale Lage, die Fehler der Macht­ haber oder soziale Krisen – eine Radikalisierung einer möglichst großen Zahl von Individuen begünstigten. Dank des Zulaufs neuer Mitstreiter konnten die Widerstandsgruppen ihre Aktionen diversifizieren und so den aktuellen Anforderungen besser entsprechen. Neben der Herausgabe von Zeitungen konzentrierten sie sich zunehmend auf die Erstellung von falschen Papieren und auf Sabotageakte. Über ihre Verschiedenheiten hinweg sicherte die Untergrundpresse den ideologischen Zusammenhang der Widerstandsgruppen, während sie zugleich die Entfaltung der konkreten Aktion gegen den Besatzer förderte. Aus dieser Betrachtung ergibt sich eine doppeldeutige Feststellung, die durchaus zu einer gewissen Verwirrung führen kann: Wenn das 127

Die Quellen des sozialen Zusammenhalts

sen der Opposition als »Reaktion« auf bestimmte Aspekte nationalsozialistischer Politik zu verstehen ist, ließe sich durchaus folgern, dass der Widerstand sich hauptsächlich aufgrund bestimmter, vom Besatzer begangener Fehler und Ungeschicklichkeiten entwickelte. Dies gilt ins­ besondere für die Länder Westeuropas. Ein belgischer Historiker fasst es, nicht ohne Humor, folgendermaßen zusammen: Der belgische Widerstand war vor allem – unabhängig von der Form, in der er auftrat – eine Gelegenheitsreaktion auf die Aktivitäten des Feindes, der durch seine Ungeschicklichkeit immer weitere Kreise verärgerte, indem er zum Beispiel die Kartoffeln beschlagnahmte, von denen der Belgier doch nicht lassen kann. (Lejeune 1950, 17) Aus heutiger Sicht können zwei weitere Grundfragen gestellt werden: Ist die Annahme richtig, dass die Entwicklung des Widerstands zwangs­ läufig war und dass, insgesamt betrachtet, sein Anwachsen durch die öffentliche Unzufriedenheit über die unpopulärsten Maßnahmen des Besatzers lediglich erleichtert wurde? Oder gilt im Gegenteil, dass der innere Widerstand auf seinem bescheidenen Ausgangsniveau hätte ­verbleiben müssen, wenn der Besatzer sich in der Ausführung seiner Besatzungspolitik geschickter verhalten und fähiger gezeigt hätte?

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6. Kapitel Die Rolle der öffentlichen Meinung

Es gibt keinen effizienten Widerstand, der nicht in ein schützendes und stimulierendes soziales Netz eingebunden wäre. Ohne die Unterstützung durch eine ihr wohlgesonnene Umwelt ist jede Widerstandsform hochgradig verwundbar. Viele Widerstandskämpfer berichteten, dass sie ihr Leben einem »Schutzengel« verdankten, der im rechten Moment eine Haustür öffnete oder in Gestalt eines Unbekannten durch eine diskrete Geste auf Gefahr hinwies. Die Widerstandskämpfer sollten sich in der Gesellschaft – ganz nach dem von verschiedenen französischen Histo­ rikern inzwischen auch auf die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung angewandten maoistischen Ausspruch – »wie ein Fisch im Wasser« ­(Adéma 1979, 168) bewegen. Die physische Existenz des Widerstands hing damit von der geistigen Einstellung der Gesellschaft ab. Neuere Forschungen haben daher damit begonnen, die enge Verbindung von Widerstand und öffentlicher Meinung näher zu untersuchen. Einige Zeitdokumente geben eine Vorstellung von der sich mit dem Kriegsverlauf ebenfalls verändernden öffentlichen Meinung. Hier stellen die in Belgien während der Besatzungszeit (ungefähr alle sechs Monate) entstandenen regelmäßigen Aufzeichnungen von Paul Struye eine hervor­ ragende Grundlage dar, auf der die Entwicklung des Verhaltens der Bevölkerung nachvollzogen werden kann. (Struye 1945) Solche Texte bilden jedoch die Ausnahme. Um wirklich distanzierte Darstellungen zu erhalten, musste man warten, bis Studien von Forschern erschienen waren, die selbst die Besatzungszeit nicht mehr erlebt hatten. Unter diesen ist die Arbeit Pierre Labories sicherlich einer der interessantesten Beiträge. ­(Laborie 1980) Von der »Kriegsposse« (gemeint ist der überraschend schnelle Sieg der deutschen über die französische Armee im Jahr 1939, d. Übers.) bis zur Befreiung 1944 untersuchte er die Einstellung verschiedener sozialer Gruppen im »tiefsten Frankreich«, der Region Lot, um ihre besondere Geschichte und Mentalität nachzuzeichnen. Er stellt fest, daß »die Herausbildung der öffentlichen Meinung […] das Resultat komplexer Verzweigungen zwischen grundlegenden Lebenseinstellungen sowie den ideologischen Orientierungen und Erfahrungen sozialer Gruppen (ist)«. Die Meinung einer Bevölkerung lässt sich in der Tat nicht verstehen, ohne zuvor die Geschichte und insbesondere die Geistesgeschichte 129

Die Rolle der öffentlichen Meinung

der sie bildenden sozialen Gruppen studiert zu haben. Denn die Wahrnehmung ein und derselben Wirklichkeit kann bei verschiedenen Gruppen durchaus sehr unterschiedlich ausfallen. Es sind daher besondere Bedingungen nötig, »damit diese Differenzen zugunsten einer allgemeineren und homogeneren Sichtweise zurücktreten«. (Laborie 1980, 2) Das Studium der damit einhergehenden Meinungs- und Verhaltensänderungen bildet daher einen notwendigen Schlüssel zum Verständnis von Zu­ sammenarbeit und Widerstand bzw. der verschiedenen Einstellungen gegenüber dem Aggressor, kurzum, zur Interpretation der wichtigsten Aspekte der Besatzungssituation.1 An dieser Stelle gilt es auf eine Unterscheidung hinzuweisen, die von Pierre Laborie so nicht immer eingehalten wird: die zwischen der geis­ tigen Einstellung (état d’esprit) einer Bevölkerung gegenüber einer bestimmten Frage, aus der zu einem gegebenen Zeitpunkt ihre Meinung zu einem bestimmten Problem resultiert – und dem davon zu unter­ scheidenden Begriff der öffentlichen Meinung (opinion publique). Diese letztere setzt in der bürgerlichen Gesellschaft eine Vielzahl von der politi­ schen Macht unabhängiger Ausdrucks- und Informationsmittel voraus, was in autoritären oder diktatorischen Systemen aber kaum je gewährleistet sein dürfte. Im Zusammenhang mit dem Vichy-Regime und der deutschen Besatzung von »öffentlicher Meinung« zu sprechen, ist daher irreführend. Öffentliche Meinung im Sinne von nicht privater Meinung konnte zu jener Zeit fast ausschließlich über die Presse vermittelt werden. Da die Zeitungen jedoch der Zensur unterlagen, handelt es sich hier vielmehr um eine »zugelassene« oder »angeleitete« Meinung. Eine solche Herangehensweise an das Konzept der »öffentlichen Meinung« würde jedoch lediglich der formalen Definition Genüge leisten, nicht aber die damit verbundene (und auch hier vertretene) Idee der Gegenmacht berühren. Es besteht also ein sehr wichtiger Unterschied zwischen dem, was man die allgemeine geistige Einstellung einer Bevölkerung gegenüber diesem oder jenem Ereignis nennen könnte (wobei die Äußerung dieser geistigen Einstellung im Rahmen einer Diktatur immer nur deformiert sein kann) – und der Frage, ob eine andere als die Meinung der Macht die Möglichkeit zu öffentlicher Äußerung hat (oder sich nehmen kann). Betrachtet man dieses Kräfteverhältnis vom Standpunkt politischer ­Logik aus, so zeigt sich, dass die offene Äußerung einer Widerstand leistenden öffentlichen Meinung besonders großen Einfluss auf die ­Haltung der diktatorischen Macht gegenüber der Gesellschaft hat. Im Falle der nationalsozialistischen Besatzung kann gezeigt werden, dass 130

Von der öffentlichen Meinung zum Widerstand

e­ inerseits die Entwicklung der geistigen Einstellung im Allgemeinen zum Ent­stehen von Widerstandsbereitschaft beigetragen hat und dass an­ dererseits die trotz der Unterdrückung durch den Besatzer aufkommende authentische »öffentliche Meinung« dessen Verhalten beeinflussen konnte.

Von der öffentlichen Meinung zum Widerstand Die Frage nach der öffentlichen Meinung stellt sich weniger in jenen Ländern, in denen die legitime Führung nicht in einen Prozess der Legitimation der Besatzungsmacht eingebunden war. Dies gilt aus unterschiedlichen Gründen für Polen und Norwegen. In beiden Nationen war die Entwicklung des Widerstands weniger ein Problem der Übereinstimmung mit dem aktuellen Stand der öffentlichen Meinung – die für ihn eher günstig war – als vielmehr eine Frage der Aktionsmittel. Die Institutionen und Bevölkerungen beider Länder versuchten – unter den schlimmsten Bedingungen und bei größtmöglicher Improvisation – die für ihre Situation geeignetsten Mittel zum Widerstand zu finden. In Frankreich zeigten die Departments Nord und Pas-de-Calais anders als der Rest des Landes vom Beginn der Besatzungszeit an eine gleichbleibende geistige Einstellung. Wie die Regionalstudien von Étienne Dejonghe (1979 und 1969) zeigen, herrschte dort eher Kriegs- als ­Besatzungsklima. Die Region war einem besonders strengen Regiment unterworfen, da Berlin sie als militärische und industrielle Zone von äußerster strategischer Wichtigkeit ansah. Die Brutalität musste den bereits während der früheren Besatzung von 1914 angesammelten Groll gegen die »Boches« wiederbeleben. Wegen der hohen Truppendichte galten hier auf dem »Schwarzmarkt« Höchstpreise, was ebenfalls dazu beitrug, die Feindseligkeit der mit schwerwiegenden Versorgungsproblemen konfrontierten Bevölkerung zu nähren. Hinzu kommt, dass sich die Verwaltungsautorität der Vichy-Regierung aufgrund der großen geographischen Entfernung zu Lille oder Calais (dazwischen lagen zwei Demarkationslinien) schwerlich bis auf diese Region erstrecken konnte. Daher spielte der »Pétain-Effekt« hier kaum mehr eine Rolle und konnte so weder die Bewusstseinslage noch die Kampf bereitschaft beeinträchtigen. So kam es, dass die Departements Nord und Pas-de-Calais zu den we­ nigen französischen Regionen gehörten, in denen die verlorenen Gefechte von 1940 nicht zugleich auch als definitive Niederlage angesehen wurden. 131

Die Rolle der öffentlichen Meinung

Trotz der Zusammenarbeit der Oberschicht mit den Besatzern wurde die Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens von der öffentlichen Meinung verurteilt. Schon im August 1940 musste ein deutscher Bericht konstatieren, dass die Bevölkerung in keiner Weise die Notwendigkeit einer radikalen politischen Veränderung verspürte, sondern mehrheitlich darauf hoffte, dass die Engländer im Verlauf des Krieges die Oberhand gewinnen und sie befreien würden […], dass es notwendig ist, ihr mit großer Bestimmtheit klarzumachen, dass sie der Wehrmacht den notwen­ digen Respekt entgegenbringen, ihre Anordnungen uneingeschränkt befolgen und größtmögliche Disziplin wahren muss. (zit. nach Dejonghe 1979,50) Dies lässt erahnen, warum hier im Gegensatz zu der zu Beginn der Besatzung allgemein herrschenden Passivität der französischen Bevölkerung schon vergleichsweise früh spontane Widerstandsformen aufkamen. Häu­fig gab es Sabotageakte an Telefonleitungen, und zugleich wurden die ersten Fluchtwege für desertierende Soldaten geschaffen. Die in der Industrieregion besonders stark verankerte kommunistische Partei restruk­ turierte sich in einer bemerkenswerten Geschwindigkeit. Ihre Regionalzeitung, l’Enchaîné (Der Gefesselte), konnte ab August 1940 mehrere Tausend Exemplare in Umlauf bringen. Zugleich war die Entwicklung der Streiks in den Zechen ein untrügliches Zeichen für die frühzeitige Kampfbereitschaft. Man weiß, dass diese spontane Kampfbereitschaft selten war: Ins­ gesamt betrachtet, herrschte der Wille vor, mit dem Besatzer auszukommen. Selbst wenn jede Bevölkerung dem Besatzer gegenüber insgeheim feindlich gesonnen war, stand sie dem offenen Widerstand distanziert gegenüber, sodass dieser zunächst auf kleine Gruppen beschränkt blieb. Ein Umschwung in der öffentlichen Meinung zu seinen Gunsten war eine der unabdingbaren Voraussetzungen für ein Anwachsen des Widerstands. Es ist daher interessant nachzuzeichnen, in welcher Weise sich öffentliche Meinung, Akte des Ungehorsams und Widerstand gemeinsam und sich auseinander ergebend entwickelten. Für die Veränderungen in der öffentlichen Meinung gelten in Frankreich im Allgemeinen die bereits für ganz Westeuropa beschriebenen Faktoren. Pierre Laborie zeigt jedoch auch einige spezifisch französische Merkmale auf: die Fehler der Vichy-Regierung, die Rückkehr Pierre Lavals an die Macht am 18. April 1942, seine Rede für einen Sieg Deutschlands gegen die UdSSR , die antijüdischen Hetzjagden des 132

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mers 1942. Seit diesem Datum war die Vichy-Regierung in den Augen der öffentlichen Meinung Frankreichs in hohem Maße diskreditiert. Man musste jedoch bis zum Frühjahr 1943 warten, bis sie sich wirklich zur Unterstützung des Widerstands zu mobilisieren begann. Zu dieser Zeit fühlte sich die französische Gesellschaft von der Einrichtung des Zwangsarbeitsdienstes, der die Mehrzahl der Familien betraf, in direkter Weise bedroht. Damit aber trafen Faktoren zusammen, die das Erstarken des Widerstands begünstigten und ihn im Laufe des Sommers 1943 zu einer wahrhaft repräsentativen Kraft werden ließen. Die Bemühungen Deutschlands und Vichys, die Franzosen zur Arbeit in Deutschland erst zu überreden und schließlich dazu zu zwingen, bieten somit die besten Voraussetzungen für die Untersuchung der Beziehung zwischen öffentlicher Meinung und Widerstand. Seit Beginn der Okkupation versuchten die Deutschen, ausländische Arbeitskräfte zu gewinnen – etwa nach dem Motto: »Das große Deutschland bietet Arbeitern und Arbeitslosen Arbeit an.« Die französische Regierung engagierte sich in diesem Stadium nur dort, wo es galt, juristische Probleme zu beheben, sowie bei der Unterstützung der öffentlichen Kampagne. Doch hatten diese Aufforderungen auf anfangs noch freiwilliger Basis wenig Erfolg. Dominique Veillon berichtet, daß »ein Großteil der öffentlichen Meinung sich recht bald abweisend gegenüber jenen verhielt, die aus eigenem Antrieb gingen« (Veillon 1985, 106). Bis zum 1. Juni 1942, also ungefähr nach der Hälfte der deutschen Besatzungszeit in Frankreich, waren nur 70.000 Personen freiwillig nach Deutschland gegangen, die zudem in der Mehrzahl aus nur wenig qualifizierten Berufen kamen: Hilfsarbeiter, landwirtschaftliche Arbeitskräfte, Hausfrauen. Am 24. März 1942 wurde Fritz Sauckel zum Arbeitsminister der besetzten Gebiete ernannt. In vier Anläufen forderte er von Frankreich Kontingente, die aus mehreren Hunderttausend Arbeitskräften zu bestehen hatten. Um auf die erste Anforderung von 250.000 Arbeitern, darunter 150.000 Facharbeiter, zu antworten, erfand Pierre Laval das nicht un­ geschickte System der »Relève« (Ablösung). In seiner Rede vom 22. Juni 1942 verkündete er, dass jene Arbeiter, die freiwillig nach Deutschland zum Arbeiten gingen, die Kriegsgefangenen von 1940 »befreien« würden – im Verhältnis von einem zurückkehrenden Gefangenen für drei Arbeiter. Abgesehen davon, dass dieses Verhältnis niemals eingehalten wurde, gab sich dieses Schwindelgeschäft doch für einen moralischen Handel aus, was auch von dem Slogan der Regierung gut wiedergegeben wird: »Sie geben ihr Blut, gebt Ihr Eure Arbeit !« Trotz enormen Werbeaufwands wurde die Kampagne ein Misserfolg: Anstelle der erwarteten 133

Die Rolle der öffentlichen Meinung

Hunderttausende arbeitswilliger Personen hatten bis zum 1. September 1942 gerade einmal 17.000 im Rekrutierungsbüro vorgesprochen. Von Anfang an war eine Verpflichtung nötig, um die Franzosen dazu zu bringen, nach Deutschland zu gehen. Am 4. September 1942 schließlich verkündete Vichy ein Gesetz (mit dem Titel l’utilisation et l’orientation de la main-d’œuvre), mit dem Männer zwischen 28 und 50 Jahren sowie ledige Frauen zwischen 21 und 35 Jahren für die Arbeit in Deutschland mobilisiert wurden. Die Erfassung des Personals in den Unternehmen übernahm der Arbeitsminister. Nach einigen Wochen schon nahm die Zahl der Abreisenden ein beachtliches Ausmaß an. Ende 1942 war die von Sauckel geforderte Anzahl von 250.000 erreicht. Anfänglich war der Widerstand also begrenzt, wenn nicht sogar nur in geringen Ansätzen existent. Von der BBC wurden zwar Ratschläge zur Verweigerung der Zusammenarbeit herausgegeben, und Maurice Schumann rief die Franzosen dazu auf, »angesichts der Arbeitserfassung die nationale Flucht zu organisieren« (vgl. dazu Les Voix de la Liberté, Band II). Einige Widerstandsbewegungen wie zum Beispiel Libération forderten die Arbeitgeber auf, »die gewaltige Verwaltungsmaschine von Vichy zu blockieren« (zit. n. Évrard 1971, 63), um die Rekrutierung der Arbeiter zu verhindern. Im Arbeitermilieu, dem Hauptopfer dieser Maßnahmen, kam es während des Sommers 1942 zu begrenzten Streiks, hauptsächlich in der Regiom um Lyon. Während der Abfahrt der Zwangsarbeiter ergab sich manchmal die Gelegenheit zu öffentlichen Demonstrationen von mehreren Tausend Personen, so in Lorient am 27. Oktober 1942 und in Monluçon am 6. Januar 1943. Trotz dieser Unruhe fanden die protestierenden ­Arbeiter – jedenfalls zu diesem Zeitpunkt – noch nicht den Rückhalt in der öffentlichen Meinung, der für sie unabdingbar war, um die Abfahrt konkret zu verweigern. Insbesondere die katholische Kirche, deren Einfluss weiterhin stark blieb, predigte Gehorsam gegenüber dem Staat. Einige Bewegungen, wie die Scouts de France (Pfadfinder Frankreichs), billigten die Abfahrt sogar offen als »Akt der Barmherzigkeit«, Jacques Évrard zieht das Resümee, dass die Jugendlichen – abgehen von wenigen Ausnahmen, die für die Angehörigen einiger katholischer Bewegungen oder für besondere lokale Gegeben­heiten galten – in ihrer Verwirkung kaum das finden konnten, was viele von ihnen erwarteten, nämlich die Beachtung und bedingungslose Unter­stützung seitens der höchsten moralischen Autoritäten des Landes für das, was sie in ihrem tiefsten Innern als die einzig wahre Haltung ansahen: den Gehorsam gegenüber einem 134

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S­ ystem zu verweigern, das die heiligsten Menschenrechte verhöhnte. (ebd., 103) Diejenigen, die daran dachten, sich der Abfahrt zu widersetzen, konnten kaum mit nennenswerter Unterstützung in der öffentlichen Meinung rechnen. Sie waren auf sich selbst angewiesen und versuchten, die Zwangsarbeit zum Beispiel aufgrund medizinischer Indikationen zu umgehen. Während des Herbstes 1942 standen so bereits zahlreiche ­Erfasste praktisch zur Abreise bereit. Dominique Veillon schreibt dazu: Anfangs konnten nur einige wenige unter Beihilfe der Zwangsabreise entkommen. Das Gros der Herde gehorchte, schmerzlich enttäuscht oder zornigen Herzens, denn sie sahen wenig Chancen, sich ihrer Lage zu entziehen. Zu einen Massenwiderstand war das allgemeine Klima noch nicht reif. (Veilon 1985, 108) In der Tat trafen die Maßnahmen zur »Zwangsablösung« bisher »erst« das Arbeitermilieu. Auch wenn die Vichy-Regierung ausgesprochen unpopulär war, so reichte dies noch nicht aus, den französischen »Sozialkörper« in Bewegung zu setzen. Erneute deutsche Forderungen brachten die französische Regierung schließlich dazu, in aller Eile ein neues Gesetz für den Zwangsarbeitsdienst mit Wirkung vom 14. Februar 1943 zu erlassen. Diesmal sollten die Jugendlichen der Jahrgänge 1920, 1921 und 1922 zu einem zwei­ jährigen Arbeitsdienst in Deutschland herangezogen werden – mit Ausnahme einiger Berufsgruppen wie Landwirtschaft, Polizei und Eisenbahn. Das neue Zwangsarbeitsgesetz traf so weitaus mehr soziale Gruppen und Berufe als sein Vorgänger vom September 1942. Hinzu kommt, dass inzwischen immer mehr Menschen glaubten, Deutschland werde den Krieg verlieren. Arbeitsdienstverweigerer hatten im Frühjahr und noch mehr im Sommer 1942 statistisch belegbar größere Möglichkeiten, sich der unabdingbaren Beihilfe in der französischen Verwaltung ebenso wie in der Bevölkerung selbst zu versichern. Objektiv gab es eine größere Chance, auf einen verständnisvollen Gendarmen, einen mitfühlenden Bürgermeister oder einen aufnahmebereiten Bauern zu treffen. »Die ­öffentliche Meinung hatte definitiv ihr Lager gewählt, Verweigerung wurde seither einfacher – oder wenigstens weniger gefährlich.« (Vittori 1983, 99 f.) Hinzu kommt, dass die Entschlossenheit der Einberufenen, den Dienst­ antritt zu verweigern, stärker war als 1942. Die Entscheidung, ungehorsam zu sein, erwuchs dabei nicht unbedingt aus politischen oder 135

Die Rolle der öffentlichen Meinung

gischen Erwägungen. Allein die Idee, die Heimat verlassen zu müssen, war ihnen unerträglich; sie wollten »Nein!« sagen. Zehntausende von ihnen wagten es, das Tabu der Illegalität zu brechen, und so kam es zu einer breiten Bewegung spontanen zivilen Ungehorsams. In dem noch weitgehend landwirtschaftlich geprägten Land spielte die Unterstützung durch das bäuerliche Milieu eine entscheidende Rolle. Zahlreiche Jugend­ liche verschwanden in abgelegenen Orten, in den Wäldern und vor allem den Bergen und bildeten dort die maquis. Diese Gruppen von Arbeitsdienstverweigerern, die von den Widerstandsbewegungen eingegliedert wurden, konnten der ländlichen Bevölkerung nicht verborgen bleiben. Das heißt, dass die Bildung der maquis nur unter ihrem stillschweigenden Mitwissen bzw. gelegentlich sogar recht aktiven Beistand stattfinden konnte. Pierre Laborie bemerkt dazu, dass das Schicksal der Arbeitsdienstverweigerer zu den ersten solidarischen Aktionen zwischen der Bevölkerung und den Organisationen der Résistance führte. Die Verwurzelung der maquis konnte nur mit dem stillschweigenden Ein­verständnis der Mehrheit der ländlichen Bevölkerung stattfinden. ­(Laborie 1980, 253; vgl. auch Laborie 1984) Entgegen der noch immer weitverbreiteten Ansicht schlossen sich viele Arbeitsdienstverweigerer weder den maquis noch den Widerstandsbewegungen an. Die vom Institut d’histoire du temps présent durch­geführten Studien zeigen, dass dies im Gegenteil nur eine Minderheit war: Im Departement Tarn gingen 19 Prozent der Arbeitsdienstverweige­rer in den organisierten Widerstand, während sich 50 Prozent in die Landwirtschaft zurückzogen und 12 Prozent ihr Departement verließen; in Isère schlossen sich zwischen 27 und 30 Prozent dem Widerstand an, und nur ein Fünftel davon integrierte sich in die maquis des Jura, der Savoie, der Drôme und der Saône-et-Loire. Der Ungehorsam gegenüber dem Zwangsarbeitsdienst darf daher nicht mit dem gelegentlichen oder ständigen Kampf von Mitgliedern der Widerstandsbewegungen verwechselt werden. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass das Gesetz zur Einrichtung des Zwangsarbeitsdienstes lediglich der auslösende Faktor war, der die französische Gesellschaft konkret und massiv in Opposition ­gegen das Vichy-Regime brachte. Die Bildung der maquis und das Erstarken der institutionellen Widerstandsbewegungen waren dagegen nur ein Ausdruck dieser Verweigerungshaltung unter vielen. In Wirklichkeit hatte sie viele Facetten, die alle kennzeichnend für die neue Mobilisierung der Zivilgesellschaft waren und so den Begriff des zivilen 136

Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft

stands erst recht mit Sinn füllten – eine Implikation, die bereits im Verhalten der ländlichen Bevölkerung, aber auch der Beamten, d. h. der Repräsentanten des Staates, manifest geworden war. Arbeitsdienst­ verweigerer konnten in den Genuss der Solidarität von Personen kommen, die in den Rathäusern oder den Präfekturen arbeiteten und ihnen zu gefälschten Papieren (die für die Leute die »richtigen« Papiere waren) verhalfen, damit sie den Nachstellungen entkommen konnten. Inspektoren des Arbeitsministeriums nahmen teilweise erhebliche Risiken auf sich, um Rekrutierungsbefehle zu vernichten oder um Einberufene Unternehmen zuzuteilen, deren Belegschaften von Zwangsarbeitsdienst befreit waren (wie zum Beispiel Bergwerke oder Waffenfabriken). Manche Unternehmensleitungen ignorierten die ihre Belegschaften betreffenden Rekrutierungsbefehle. Bezeugt ist auch, dass Polizeibeamte Betroffene warnten, um ihnen Zeit zur Flucht zu geben. Und wo auf dem Land Bürgermeister und Gendarmen zusammenhielten, konnten sich diejenigen, denen möglicherweise die Einberufung drohte, sicher fühlen. Kurz, vor dem Hintergrund des sich zugunsten der Alliierten wendenden Krieges trug das auf heftige Ablehnung stoßende Zwangsarbeits­ gesetz dazu bei, die französische Gesellschaft in Widerstandsbereitschaft zu versetzen, die allerdings nicht mit dem organisierten Widerstand verwechselt werden darf, an dem sich immer nur eine begrenzte Anzahl von Menschen beteiligte. Die Gesellschaft insgesamt hatte sich der ­Gehorsamsverweigerung gegenüber dem mit dem Besatzer zusammen­ arbeitenden Staat geöffnet und schützte diese unter ihrem undurchsichtigen Mantel, der ein Netz neuer Solidaritäten verbarg.

Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft Die Stimmung einer Gesellschaft könnte man mit einem Ozean ver­ gleichen. Je nach Wetterlage, Beschaffenheit des Meeresbodens und Sternenkonstellation kann er ruhig daliegen oder höchst aufgewühlt sein. Er wird von »Strömungen« am Grunde und an der Oberfläche durch­zogen, und jeder Seemann weiß, dass er sich der See an­ passen muss, um sie zu »meistern«. Um seinem Kurs folgen zu können, muss er auf die Strömungen achten. So geht es dem Politiker mit der öffentlichen ­Meinung. Wenn das Meer in Aufruhr ist, ist der Kurs kaum zu halten: Die Wellen könnten das Schiff jederzeit zum Kentern ­bringen  … 137

Die Rolle der öffentlichen Meinung

Auch die öffentliche Meinung kann, aufgebracht von dieser oder jener Regierungsentscheidung, »Wellen« schlagen, die den einen oder anderen politischen Aspekt eines Staates tiefgreifend infrage stellen oder seine Realisierung ernstlich gefährden können. Dann treten mehr oder we­ niger am Grunde verlaufende Strömungen offen an die Oberfläche. Die öffentliche Artikulation einer oppositionellen Meinung kann in der Tat die Fortführung einer Politik der Zusammenarbeit nachhaltig stören. Dieses in demokratischen Systemen leicht auszumachende Phänomen kann unter bestimmten Bedingungen auch in Gesellschaften autoritären oder totalitären Typs festgestellt werden. Die Geschichte der Nazi­ Okkupation in Europa liefert hierfür jedenfalls mehrere Beispiele, sei es in den besetzten Ländern oder in Deutschland selbst. Natürlich bereiteten dem Besatzer und den mit ihm Zusammen­ arbeitenden nicht alle öffentlichen Schlagworte gleichermaßen Pro­ bleme. Generell verschaffte sich die öffentliche Meinung über drei Hauptkanäle Ausdruck: durch den öffentlichen Auftritt moralischer Autoritäten, insbesondere der Kirchen, durch die Schriften der oppositio­ nellen Presse sowie durch die verschiedenen Aktionen der Bevölkerung (Streiks, Umzüge). Von diesen drei Arten öffentlichen Auftretens war die erste ohne Zweifel die einflussreichste. Die Kirchen waren aufgrund ihres zu dieser Zeit noch stärkeren Einflusses auf die Menschen für die Besatzungsmacht ein wichtiger Faktor bei der Einhaltung oder Nichteinhaltung der Ordnung. Die Kirchen verfügten über eine hohe moralische Legitimität. Ihr Schweigen konnte immer als Rechtfertigung des neuen Regimes gewertet werden – während ihre Kritik den Abstand zur herrschenden Macht vergrößern oder diese gar heraus­ fordern konnte. Es ist bekannt, dass das Verhalten der kirchlichen Autoritäten, gleich welcher Konfession, gegenüber dem Nationalsozialismus sehr unterschiedlich war. Zwischen der rebellischen Haltung der protestantischen Kirche Norwegens und der Komplizenschaft der französischen katho­ lischen Kirche mit dem Vichy-Regime, dessen wichtigste Stütze sie bildete, gibt es in der Tat keine Gemeinsamkeiten. Ohne Ausnahme gilt jedoch, dass, wenn ranghohe kirchliche Würdenträger offen ihre Miss­ billigung der Nazi-Politik zum Ausdruck brachten, die Ver­tretung solch eindeutiger Standpunkte die Durchsetzung der Politik nachhaltig störte und dazu beitrug, Widerstandsbereitschaft in der Bevöl­kerung hervor­ zurufen oder zu bestärken. Solche Beobachtungen konnten sowohl in Zusammenhang mit dem Genozid (vgl. dazu auch Kapitel 8) wie auch mit der Politik in den besetzten Ländern gemacht werden. 138

Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft

Ein Beispiel von vielen ist der über die Conféderation des syndicats chrétiens (Zusammenschluss christlicher Gewerkschaften) ausgedrückte Protest der katholischen Kirche Belgiens gegen die Zwangsarbeit in Deutschland. 1940 war Belgien eines der katholischsten Länder Europas. Beinahe die gesamte Bevölkerung war getauft, und die Kirche verfügte über eine beachtliche institutionelle Macht. Von der Grundschule bis zur Universität betreute das katholische Unterrichtswesen fast die Hälfte der schulpflichtigen Bevölkerung. Die christliche Presse war einflussreich, ebenso die christlichen Gewerkschaften, die mehr Mitglieder als die ­sozialistischen aufzuweisen hatten. Dieses aus dem Katholizismus des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts hinübergerettete, gut strukturierte ­Ensemble verschiedener Organisationen und Verbände stellte eine der bedeutendsten sozialen Kräfte dar, mit denen sich der Besatzer auseinander­ setzen musste. Die Haltung der Katholiken dem Besatzer gegenüber war unterschiedlich und widersprüchlich. Auf der einen Seite beteiligten sich viele von ihnen – über den Rexismus oder innerhalb der flämisch-nationalistischen Bewegungen – an der Kollaboration. Andererseits aber traten auch zahlreiche Priester und Gläubige den Widerstandsorganisationen bei und zahlten dafür mit ihrem Leben. Pfarrhäuser und Klöster bildeten oft die Orte, an denen sich die in den Untergrund gegangenen flüchtigen Soldaten, Juden oder verfolgte Widerstandskämpfer treffen konnten. Die katholische Hierarchie bewies in dieser ersten Zeit große Vorsicht. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Kardinal Mercier, der während der deutschen Besatzung von 1914 heftige antideutsche Erklärungen abgegeben hatte, zog Kardinal van Roey es vor, sich zurückzuhalten. (Leclef 1945) Mehrere Male richtete er allerdings vertrauliche Protestschreiben an den Militärbefehlshaber des Landes, General von Falkenhausen. Einige von ihnen wurden durch »Indiskretionen« bekannt, sodass sich jene Katholiken, die sich in Widerstandsaktivitäten engagierten, in ihrer Haltung bestätigt fühlen konnten. Die Umsicht der katholischen ­Autoritäten, die von einer Standfestigkeit im Auftreten begleitet war, scheint von vielen Gläubigen gewürdigt worden zu sein. Paul Struye, der bereits erwähnte Chronist der öffentlichen Meinung, vermerkte dazu: Auch wenn man 1941 noch einige Belgier findet, die bedauern, dass die Interventionen des Episkopats nicht von den rachelüsternen Hirten­ briefen des Kardinal Mercier inspiriert sind, erkennt die überwiegende Mehrheit doch an, dass die Verhältnisse sich geändert haben und eine weniger spektakuläre Vorgehensweise erfordern. (Struye 1945, 30) 139

Die Rolle der öffentlichen Meinung

Doch im Laufe des Krieges bekannte sich die katholische Kirche immer offener zu ihrer Opposition. Einen Wendepunkt in dieser Entwicklung stellt die öffentliche Erklärung Kardinal van Roeys vom 15. März 1943 gegen die Zwangsarbeit in Deutschland dar: Die Maßnahmen zur Requisition von Menschen sind unmöglich zu rechtfertigen; sie brechen mit dem natürlichen Recht, mit dem ­internationalen Recht und mit der christlichen Moral. Sie lassen nicht die geringste Achtung erkennen, weder vor der Würde und den elementaren Freiheiten der menschlichen Person, die durch Zwang, Drohungen und schwerwiegende Sanktionen ausgelöscht wird, noch vor dem Gut und der Ehre der durch das gewaltsame Auseinander­ reißen ihrer Mitglieder schmerzlich verwundeten Fami­lien, noch vor dem über­geordneten Interesse der Gesellschaft, die unter den daraus ent­stehenden und in Tausende unterdrückter Herzen gesäten Ge­ fühlen der Wut und des blinden Hasses zu leiden haben wird. Man sagt uns, diese Maßnahmen seien zum Schutze der Gemeinschaft Europas nötig. Aber heißt es nicht vielmehr, […] diese zugrunde zu richten, indem man Verfahrensweisen anwendet, die die Grund­ prinzipien ­jeg­licher Zivi­lisation verletzen? Die menschliche Vernunft und die christ­liche ­Moral verurteilen dieses ungerechte und barba­ rische Vorgehen; jeg­liche Unter­stützung zur Durchführung dieser Maß­nahmen zeugt von ernstlich unlauterem Gewissen.« (zit. nach Haag 1950, 29) Man kann sich keine klarere öffentliche Stellungnahme vorstellen, und die Vertrauten des Kardinals dachten, dass er mit einer Verhaftung zu rechnen hätte. In Wirklichkeit aber war es General von Falkenhausen, der sich Sorgen machen musste, da gewisse deutsche Kreise ihn für die harte Konfrontationshaltung der Kirche verantwortlich machten. Die Erklärung hatte somit eine durchschlagende Wirkung auf die öffentliche Meinung. Belegt wird das auch vom Leiter der Militärverwaltung, Reeder, der sich seinerseits an einen engen Mitarbeiter Kardinal van Roeys wandte: Ich muss feststellen, dass dieses Schreiben große Auswirkungen hat; wir bemerken seit seinem Erscheinen eine beachtliche Zunahme aktiven Widerstands, und auch die Zahl der Verweigerer hat stark zugenommen; allerorten kommt es zu Demonstrationen. […] Die Be­amten haben Skrupel und verweigern sich unter Hinweis auf Gewissens­ gründe; dasselbe gilt für die Industrie und den Handel. (ebd.) 140

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Paul Struye bestätigt diesen merkwürdig desillusionierten Kommentar der Besatzungsautoritäten: Das starke Echo [auf die Erklärung des Kardinals; J. S.] zeigt, dass die kirchliche Autorität mit dieser Stellungnahme einen sehnlichst erwarteten Akt vollzogen hat, der mit der allergrößten Begeisterung auf­ genommen wurde.[…] Es steht außer Zweifel, daß der Episkopat die Entschlossenheit und Erhabenheit der Gefühle eines ganzen Volkes zur Sprache gebracht hat. (Struye 1945, 61) Damit wandelte sich die Position der kirchlichen Autoritäten von kalkulierter Vorsicht hin zu einer nicht weniger kalkulierten öffentlichen Opposition. Manche Katholiken bedauerten die »Schüchternheit« der Kirche in der ersten Zeit der Besatzung, während jene, die in der Kollaboration tätig waren, ihr die politischen Stellungnahmen übelnahmen. Insgesamt betrachtet bleibt als Ergebnis, dass die belgische Kirche durch ihr Wort und ihre Tat zur Bildung jenes »Widerstandsbewusstseins« beitrug, von dem der Historiker Henri Bernard spricht. In Deutschland selbst ist zu wenig bekannt, dass es den Kirchen gelang, Hitler von einem seiner wahnwitzigsten Ziele abzubringen: der Vernichtung der geistig Behinderten. Sicher darf dieser Kampf der deutschen Kirchen nicht zu sehr idealisiert werden. Im Allgemeinen war ihre Opposition gegenüber dem nationalsozialistischen Regime keineswegs übermäßig stark, was überhaupt für die gesamte deutsche Gesellschaft gilt.2 Seit der Machtergreifung, bei der er die zwischen den Linksparteien herrschenden Differenzen auszunutzen verstand, wusste Hitler stets die rechten Mittel zu gebrauchen, um schnell seine wichtigsten politischen Widersacher auszuschalten. Dies gilt insbesondere für die Kommunisten und Sozialisten: In den ersten Konzentrationslagern wurden vor allem Deutsche interniert. Doch diese brutale Unterdrückung allein kann nicht alles erklären. Der deutsche Widerstand war kein Widerstand wie die anderen. In Polen oder Norwegen kämpfte man gegen eine Fremdherrschaft; in Deutschland ging es darum, sich gegen die eigene Re­ gierung zu stellen. Viele Faktoren können angeführt werden, um die Schwäche des deutschen Widerstands zu erklären: seine inneren Dif­ ferenzen, Organisationsschwierigkeiten und mangelnde Unterstützung von außen. Es kann in diesem Zusammenhang nicht oft genug darauf hingewiesen werden, daß Hitler legal an die Macht kam – was übrigens von der nationalsozialistischen Propaganda entsprechend ausgenutzt wurde. Zudem konnte Hitler während seiner ersten Regierungsjahre, von 1933 bis 1936, auf die bedingungslose Unterstützung eines Großteils 141

Die Rolle der öffentlichen Meinung

der Bevölkerung zählen. Es ist daher kaum vorstellbar, dass sich unter solchen Bedingungen ein Widerstand größeren Ausmaßes gegen eine Regierung hätte bilden können, die mit den wichtigsten Attributen der Legitimität ausgestattet war. Nach dem Ausbruch des Krieges, dem Beginn der Judenverfolgung und einer neuerlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage hätte man hoffen können, dass sich die deutsche Öffentlichkeit wieder regen würde. Doch war dies ein Trugschluss. Krieg begünstigt kaum innere Oppositionsbewegungen. Man wird wohl zu Recht annehmen, dass die Bevölkerung in ihrer Regierungstreue zurückhaltender wurde oder es zumindest deutliche Schwankungen gab. Doch aller Ausdrucks- und Organisationsmittel beraubt, die ihre Zweifel hätten zum Ausdruck bringen können, blieb die öffentliche Meinung in Deutschland weit davon entfernt, zu einer Gegenmacht zu werden. Mit einer Ausnahme allerdings: wenn es nach 1939 in Deutschland noch eine potenzielle ­Opposition gab, dann innerhalb der Kirchen. Hitler wusste dies nur zu genau; seit 1933 suchte er ihre Unterstützung zu erreichen oder zumindest, dass sie sein Regime nicht offen kritisierten. Ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung waren protestantisch. 30 Prozent katholisch. Die nationalsozialistische Partei bemühte sich, die in hohem Maße dezentralisierten und autonomen protestantischen Kirchen auf ihre Seite zu ziehen, was ihr bei einem großen Teil auch gelang. Diese Entwicklung wurde jedoch von nicht wenigen missbilligt, sodass sich der deutsche Protestantismus spaltete. Viele Mitglieder der protestantischen Kirche glaubten tatsächlich, Christentum und Nationalsozialismus ließen sich miteinander verbinden. Jene, die sich um die »Deutschen Christen« sammelten, waren sogar offensive Vertreter der Hitler’schen Interessen, und viele von ihnen bekleideten Positionen innerhalb des Staatsapparates. Trotzdem traten Protestanten der »Bekennenden Kirche« bei, um den Versuch zu unternehmen, sich dieser Entwicklung entgegenzustellen, wodurch sie faktisch zu Oppositionellen wurden. Die katholische Kirche hingegen erlebte nicht dieselben Spaltungen, da ihre zentralistische Struktur eine solche Gruppenbildung nicht zuließ. Hinzu kommt, dass die zumeist um das Zentrum versammelten Katholiken ohne Zweifel weniger konservativ orientiert waren als ihre protestantischen Brüder, die den republikanischen Ideen im allgemeinen sehr feindlich gegenüberstanden. Die ­katholische Kirche war zudem an das von Papst Pius XI. im Jahr 1933 gemeinsam mit Hitler unterzeichnete Konkordat gebunden. Die deutschen Katholiken waren seither gehalten, sich mit dem Nazi-Regime abzufinden. Recht bald stellte sich jedoch heraus, dass das 142

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leben voller Schwierigkeiten steckte. Eine Enzyklika von 1937 mit dem Titel Mit brennender Sorge befasste sich mit den Verletzungen des ­Konkordats und kritisierte die nationalsozialistische Ideologie. Die Ver­ öffentlichung dieses Schreibens rief Repression gegen Priester und ­Gläubige hervor, doch der hohe Klerus zeigte sich nicht beunruhigt. (Siegele-Wenschkewitz 1982) Er demonstrierte im Übrigen auch keine wirkliche Widerstandsbereitschaft, auch wenn nun eine gute Gelegenheit dazu bestanden hätte. So unterstreicht auch Klaus Scholder: Es ist kein Zweifel (das hat Hitler von Anfang an richtig gesehen), dass in den beiden großen Kirchen ein Widerstandspotenzial gegen Theorie und Praxis der national­sozialistischen Herrschaft existierte. Aber dieses Widerstandspotential ist von den Kirchenleitungen in beiden Kirchen (dies gilt grundsätzlich auch für die bruderrätlichen Kirchenleitungen der Bekennenden Kirche) zu keiner Zeit in gröberem Umfang aktiviert worden. (Scholder 1985, 261) Die vom Programm zur Vernichtung der geistig Behinderten hervor­ gerufenen Emotionen lieferten den Beweis dafür, dass, wenn einige der höchsten moralischen Autoritäten des Landes öffentlich ihre Miss­ billigung gegenüber dem Regime ausdrückten, dieses sich durchaus gezwungen sehen konnte, seine Pläne zu revidieren. Diesbezüglich zeigen die in den Archiven der Gestapo durchgeführten Untersuchungen, dass das Regime die Aktivitäten der Kirche sehr viel mehr fürchtete als die der kommunistischen Partei; es vertrat die Einschätzung, daß Proteste der religiösen Autoritäten imstande waren, die deutschen Massen zu mobi­ lisieren. (s. Huerten 1985, 243) Die »Euthanasie« nun war eine jener Fragen, in denen sich die christlichen Kreise außerordentlich sensibel zeigten. Auch schon vor der Machtergreifung Hitlers hatten sich innerhalb der Ärzteschaft Stimmen erhoben, die eine solche Praxis gegenüber geistig Behinderten und, allgemeiner noch, gegenüber physisch unheilbar Kranken befürworteten. (vgl. Liftion 1986) Hitler selbst hatte sich ausdrücklich dafür ausgesprochen, »die deutsche Rasse zu reinigen«. Es war daher stark anzunehmen, dass seine Machtergreifung eine große Gefahr für das Leben der geistig Behinderten bedeuten würde. Doch da er die Reaktionen der religiösen Kreise fürchtete, machte sich Hitler zuerst nicht an die Ausführung seines Projektes. 1935 zeigte ihm dann der Protest der Kirche auf die Bekanntgabe des Sterilisations­ gesetzes für »Geisteskranke«, dass seine Befürchtungen durchaus berechtigt gewesen waren. Er musste einen günstigeren Augenblick abwarten: den Ausbruch des Krieges. Es ist daher bedeutsam, dass das Dekret, das 143

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die »Erlaubnis zur Tötung Kranker, die in den Grenzen der Beweislegenden medizinischen Untersuchung barkeit und nach einer grund­ für unheilbar erklärt worden sind«, beinhaltet, das Datum vom 1. September 1939 trägt. ­Hitler, der sich auf einen Bericht des Theologen Josef Meyer stützte – welcher den Positionen der religiösen Autoritäten in der Frage der »Eutha­nasie« nachgegangen war und nur wenig zutage ge­ fördert hatte –, konnte es nun riskieren, seinen Plan in die Realität umzusetzen. Das oben genannte Dekret wurde von der Kanzlei des Führers der NSDAP (KdF) strengstens geheimgehalten und niemals veröffentlicht. Nur einem kleinen Kreis war es bekannt, vielen Ministern dagegen lag es niemals vor. Der Leiter der KdF Philip Bouhler und der Leibarzt Hitlers, Kurt Brandt, waren mit der Durchsetzung des Dekretes betraut. Zu diesem Zweck gründeten sie verschiedene Organisationen mit harmlosen Namen. Deren wichtigste befand sich in der Berliner Tiergartenstraße 4, woraus schließlich der Deckname »T4« für die gesamte Operation ab­ geleitet wurde. Die Zen­trale der T4 versammelte ein »Expertenkomitee« von etwas 25 Psychiatern um sich, darunter sieben Professoren, die zugleich Lehrstühle an Universitäten innehatten. Alle psychiatrischen Einrichtungen mussten daraufhin einen Meldebogen ausfüllen, der dazu gedacht war, die Anzahl der Patienten und die Art ihrer Krankheiten zu ermitteln. Wenige ­Wochen später erhielten die Leitungen der Einrichtungen ein Schreiben des Reichsinnenministeriums, das die Über­weisung einzelner Kranker aus militärischen Gründen anwies. Eine Krankentransportorganisation, die GEKRAT, eigens zu diesem Zwecke geschaffen und ausschließlich aus Mitgliedern der SS zusammengesetzt, holte die Kranken ab, um sie in »Euthanasieinstitute« zu fahren. Nach verschiedenen Versuchen wurde Ende 1939 schließlich das Ersticken durch Kohlendioxyd als Tötungsmethode festgelegt. Im Laufe des folgenden Jahres wurden fünf solcher »Institute« in Betrieb genommen, die Leichen in Krematorien verbrannt. Den Familien teilte daraufhin das Reichs­ innenministerium brieflich den Tod ihrer Angehörigen mit und gab ­ihnen des Weiteren über die Möglichkeit Auskunft, dass sie auf besonderen Wunsch die Asche der Verstorbenen erhalten könnten. Nachdem man der Familie zudem einen formellen Totenschein ausgehändigt hatte, war der Kreis geschlossen: Der Tod des Kranken war legalisiert. Als die Leiter der psychiatrischen Einrichtungen im Herbst 1939 die Meldebögen erhielten, waren sie darüber nicht über die Maßen beunruhigt. Sie füllten die Bögen aus, und die Wagen der GEKRAT kamen, um die Kranken abzuholen. Doch als die Familien im Verlaufe des Frühjahrs 144

Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft

1940 die Totenscheine erhielten, begriffen viele, was hier vor sich ging. Am ungehaltensten gegenüber diesen Maßnahmen zeigten sich im all­ gemeinen die Leiter von privaten Einrichtungen (ungefähr 35 Prozent der deutschen Psychiatrie), die von der Inneren Mission der evange­ lischen Kirche unterhalten wurden. Sie wussten jedoch nicht, wie sie reagieren sollten. Einige versuchten zum Beispiel, über eine Verringerung der geforderten Zahl von zehn Prozent der Kranken zu verhandeln, doch bei der nächsten Visite der GEKRAT fanden sich jene, die verschont geblieben waren, erneut auf der Liste. Zugleich sahen die Ärzte in ihrer Isolation nicht, welche Taktik sie anwenden sollten. Einige weigerten sich, die Meldebögen auszufüllen, doch die Zentrale der T4 beauftragte daraufhin eine Expertenkommission damit, dies an deren Stelle zu tun. Um auch nur einige Kranke zu retten, brauchte man viel Energie und eine Menge an Vorwänden. Eine der wirkungsvollsten Taktiken war ­sicherlich, die Familien zu bitten, ihre Angehörigen zurückzunehmen; ein Ministerialerlass untersagte den Leitern der Einrichtungen jedoch bald diese Verfahrensweise. Einige von ihnen richteten Bittschriften an hohe Stellen, was jedoch nur geringe Erfolgsaussichten hatte. Auch hier gab es Ausnahmen. Insbesondere Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh, Leiter des großen Zentrums für Epilepsie von Bethel in Westfalen, hatte durch unermüdlichen Krafteinsatz einen persönlichen Kontakt zu Kurt Brandt hergestellt, so daß er die 8000 Insassen seiner Einrichtung retten konnte. (Pergande 1968) Die Urheber der Operation hatten jedoch die Reaktionen der Fami­lien unterschätzt. Angehörige, die die Todesursachen ihrer Verwandten nicht nachvollziehen konnten, stellten Nachforschungen an, bis sie die grauen­ volle Wahrheit aufdeckten. Die Beschäftigten der T4 stellten sich bei der Ausstellung der Totenscheine auch nicht besonders geschickt an. Es gibt Beispiele dafür, dass als Todesursache ein Blinddarmdurchbruch bei ­Patienten angegeben wurde, denen er schon lange zuvor entfernt worden war; manche Familien erhielten zwei Urnen anstelle einer einzigen; andere erhielten einen Totenschein, obwohl ihr Angehöriger noch bei bester Gesundheit war. In den Spalten für Todesanzeigen der Lokalpresse häuften sich Anzeigen von Insassen der örtlichen Einrichtungen, was schließlich misstrauisch machen musste – die T4 ließ daher abrupt die Publikation von Todesanzeigen in der Presse verbieten. Auf Dauer konnten auch Ankunft und Abfahrt der GEKRAT-Busse von der unmittel­ baren Nachbarschaft der Vernichtungszentren nicht mehr u ­ nbemerkt bleiben. Sie kamen stets vollbesetzt und fuhren immer leer weg. Der nach ihrer Ankunft auftretende Rauch ließ auch kaum mehr Zweifel an 145

Die Rolle der öffentlichen Meinung

den Hintergründen ihrer Fahrten bestehen. Ein Gefühl der Abscheu begann sich in der deutschen Bevölkerung auszubreiten. Die Menschen waren erschrocken über die Macht eines Staates, der sich völlig ungestraft an dem Leben Unschuldiger vergreifen konnte. Ältere Menschen be­ gannen darüber nachzudenken, dass nach den geistig Behinderten die Reihe wohl an sie kommen würde. Es war anzunehmen, dass die ­deutsche Bevölkerung eine solche Bedrohung nicht unwidersprochen hinnehmen konnte. Doch die – in manchen Regionen bereits während des Sommers 1940 – starken Regungen der öffentlichen Meinung hatten große S­chwierigkeiten, einen institutionellen Fürsprecher zu ­finden, der in der Lage gewesen wäre, Druck auf die Autoritäten aus­ zuüben. Das »Euthanasie«-Programm rief auch in juristischen Kreisen Unruhe hervor. Hitler hatte zwar eine Studie für ein diesbezügliches Gesetzes­ vorhaben anfertigen lassen, dieses dann aber letztendlich doch verworfen. Die Aktion T4 lief daher außerhalb jeglichen juristischen Rahmens ab, d. h. in völliger Illegalität. Zahlreiche Landesstaatsanwälte wussten daher nichts von den Vorgängen. Sie sahen sich nun mit den Klagen von Familien der »Verschwundenen« konfrontiert, ohne zu wissen, wie sie darauf reagieren sollten. Da die Klagen zunahmen, entschlossen sich Bouhler und Brandt, die Gerichtspräsidenten und Staatsanwälte vorzuladen. Auf dieser Konferenz am 21. und 22. April 1941 legten sie die Gründe für den Ablauf des Programms dar, ohne auf ernstlichen Widerstand unter den Juristen zu stoßen. Die von den lokalen Verantwortlichen der nationalsozialistischen Partei übermittelten Berichte bezeugen ebenfalls die wachsende Be­ ­ unruhigung der Bevölkerung. Selbst Mitglieder der Partei brachten ihr Unverständnis über die Gründe der Aktion zum Ausdruck. Manch einer glaubte, Hitler von der Aktion unterrichten zu müssen, andere wiederum meinten, ein Gesetz würde alles schon in Ordnung bringen. Auch ­Armeekreise fühlten sich in dem Maße betroffen, in dem Kriegsverletzte als Behinderte oder unheilbar Kranke eingestuft werden konnten und daher in die Kategorie derer fallen mussten, die es zu eliminieren galt. Selbst im Reichsgeneralstab kam es zu Meinungsverschiedenheiten bei den wenigen, die über die Aktion unterrichtet waren. Insbesondere Himmler war nie wirklich ein überzeugter Vertreter dieser Politik. ­Goebbels dagegen fürchtete die Reaktionen seitens der katholischen Kirche. Die Studien, die solche Tagebücher analysieren, zeigen, dass ­seiner Ansicht nach der Krieg nur gewonnen werden konnte, wenn die Kirchen in Ruhe gelassen würden (in diesem Punkt stimmte er mit 146

Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft

­ ormann nicht überein). Für Goebbels trugen die Kirchen dazu bei, die B Moral der Bevölkerung zu erhalten, was eine wesentliche Bedingung war, den Krieg zu gewinnen. Wenn der Sieg erst einmal errungen wäre, käme immer noch die Zeit, mit dem »Pfaffentum« abzurechnen. Goebbels hatte recht. Trotzdem waren es nicht die kirchlichen Autoritäten, die als erste auf die ihnen schon frühzeitig bekannten Vorgänge in den psychiatrischen Einrichtungen reagierten. Die Protestbewegung kam statt dessen von der Basis der Kirchen. Pfarrer der Inneren Mission der evangelischen Kirche unternahmen mehrfach Gänge zu den zuständigen Autoritäten. So auch der Pfarrer Paul-Gerhard Braune, der sich in immer neuen Versuchen an hohe Beamte und selbst an Minister wandte, die ihm ihre Ohnmacht beteuerten. Er entschloss sich schließlich dazu, ein Memorandum zu erstellen, das sich auf die von ihm und seinen Kollegen gesammelten und über jeden Zweifel erhabenen Tatsachen berief. Dieser Text, der der KdF am 9. Juni 1940 zuging, unterstrich die Beunruhigung der Militärs und stellte die Frage nach der Definition des Begriffs der Unheilbarkeit: Wo liegt die Grenze? Wer ist anomal, asozial, wer ist hoffnungslos unfähig? Wie wird es den Soldaten krank? Wer ist gemeinschafts­ ­gehen, die sich im Kampf für das Vaterland unheilbare Leiden zu­ ziehen? Solche Fragen sind schon in ihrem Kreise aufgetaucht. (zit. n. Denzler / Fabricius 1984, Band I 119) Unabhängig von Braune richtete auch Theophil Wurm, der protestantische Bischof von Württemberg, seinerseits am 5. Juli 1940 ein ausführ­ liches Schreiben an den Reichsinnenminister; weitere Schreiben gingen zum Beispiel an das Reichsjustizministerium. In der für die Nazis typischen Phrasenhaftigkeit verfasst und auf die Erklärungen des Führers zum »positiven Christentum« bezugnehmend, zirkulierte der erste dieser Texte ohne Wissen des Verfassers innerhalb der Partei und der Armee, wo er ein starkes Echo hervorrief. Im Herbst 1940 versuchten einige Pfarrer dann eine gemeinsame Stellungnahme der evangelischen Kirche zustandezubringen. Doch der Pfarrer Ernst Willem, die treibende Kraft dieses Projektes, musste einsehen, dass innerhalb der protestantischen Kirche die Meinungen über die zu verfolgenden Taktiken zu weit aus­ einander gingen. Andere Pfarrer unternahmen noch verschiedene Initiativen, doch ohne Erfolg – außer der Verhaftung bzw. sogar der Deportation ihrer Urheber. Deutschland errang währenddessen seine größten militärischen Erfolge. Die inneren Probleme des Landes traten hinter die zwischen April und Juni 1940 erfolgten erheblichen territorialen 147

Die Rolle der öffentlichen Meinung

winne zurück. Im allgemeinen applaudierte auch der hohe Klerus der beeindruckenden Reihe dieser Siege. Unterdessen setzte T4 ihre infer­ nalische Tätigkeit fort. Um diesem Mordunternehmen ein Ende zu setzen, mussten erst einige katholische Prälaten dazu übergehen, öffentlich dagegen Stellung zu beziehen. Während des Sommers 1940 übte eine immer größer werdende Zahl von Priestern und Gläubigen Druck auf ihre Bischöfe aus, doch offen zu reagieren. In der ersten Zeit zögerten sie noch und zogen den gleichen vertraulichen Weg wie ihre protestantischen Kollegen vor. Der Erzbischof von Freiburg, Konrad Grober, Verfasser eines 1937 veröffentlichten Buches gegen die »Euthanasie«, schrieb am 1. August 1940 einen Protestbrief an das Innenministerium. Nachdem er durch ein Schreiben des Bischofs von Berlin, von Preysing, der entschlossen war, offen und engagiert zu handeln, dazu aufgefordert worden war, reagierte am 15. Dezember auch Papst Pius XII., indem er die »Euthanasie« ent­ schieden verurteilte und die deutschen Bischöfe aufforderte, das Wort zu er­greifen. Diese jedoch zögerten immer noch, sich offen zu erklären. In diesem Zusammenhang muss allerdings die bremsende Rolle des Kardinals von Breslau, Adolf Bertram, erwähnt werden. Am 11. August 1940 hatte er sich zwar in einem vertraulichen Schreiben an die KdF gewandt, um erneut auf die Verurteilung der »Euthanasie« durch die ­katholische Kirche hinzuweisen – einer direkten Konfrontation ging er jedoch aus dem Weg, um nicht die Kirchengüter zu gefährden, deren Verantwortung ihm oblag. (vgl. Levy 1964, 261) Die Tötung »unheilbar« Kranker war offenkundig nicht mehr zu vertuschen. Ermutigt durch den Brief des Papstes, den der Bischof von Berlin, von Preysing, mittlerweile erhalten hatte, entschloss er sich dazu, das Wort zu ergreifen. In seiner Predigt vom 9. März 1941 kritisierte er offen die »Euthanasie getauften Morde«. Nach langanhaltenden Ausfluchtsmanövern sandte die Bischofskonferenz am 12. Juli 1941 ein Schreiben an die Regierung, in dem sie sich in sehr allgemein gehaltenen Formulierungen gegen die »Euthanasie« aussprach. Die lebhaftesten ­Attacken erfolgten schließlich in den Predigten des Bischofs von Münster (Westfalen), Clement-August von Galen. Dieser war kein fundamentaler Gegner des Regimes. Als Großaristokrat, überzeugter Patriot und ehemaliger Soldat war er gleichwohl der Ansicht, dass die nationalsozialistische Ideologie einige Exzesse enthielt, die es zu bekämpfen galt. In zum Teil sehr engagierten Formulierungen verurteilte er am 13. Juli 1941 die ­Brutalitäten der Gestapo. Am 20. Juli rief er die Christen dann zur ­Entschlossenheit gegenüber den Regierungspraktiken auf. Schließlich 148

Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft

brandmarkte er am 3. August in seiner wohl bekanntesten Predigt mit Nachdruck den »Mord« an den geistig Behinderten. Er erinnerte daran, dass er wegen der in seiner Diözese begangenen Verbrechen Klage vor Gericht eingereicht habe, wobei er sich auf Artikel 139 des Strafgesetz­ buches stützte. Dieser besagte, dass derjenige zu bestrafen sei, der es in Kenntnis eines Tötungsvorhabens unterlasse, dieses entweder den Behörden oder der bedrohten Person selbst in angemessener Zeit anzuzeigen. Als diese Anstrengungen keinerlei juristische Folgen zeitigten, rief er die Christen zum Widerstand auf. »Mit denjenigen, die darin fortfahren, das göttliche Gesetz zu versuchen, die unseren Glauben besudeln, die uns ­ rüder und Gläubige berauben und jagen und unschuldige Menschen, B Schwestern, zu Tode bringen, müssen wir in Zukunft jeg­lichen Kontakt abbrechen. Wir wollen uns ihrem Einfluss entziehen, damit wir nicht von ihren Gedanken und ihren gottlosen Taten beschmutzt werden, damit wir nicht zu ihren Komplizen werden und nicht die Strafe teilen, die der gerechte Gott aussprechen muss und aus­sprechen wird gegen all jene, die wie das undankbare Jerusalem nicht wollen, was Gott will.« (zit. n. Ternon / Helman 1971) Nach von Galen begannen auch andere Bischöfe, sich öffentlich gegen die »Euthanasie« auszusprechen: so Machens, der Bischof von Hildesheim, und Bornewasser, der Bischof von Trier. Doch es bleiben die ­Predigten des »Löwen von Münster«, die sowohl für die öffentliche Meinung als auch für die Macht am bedeutsamsten waren. Sogar die in Frankreich erscheinende illegale Zeitung Les Cahiers de Témoignage ­chrétien ver­öffentlichte sie. Diese Texte gerieten auch in der deutschen Armee in Umlauf und kursierten sogar an der russischen Front. Christliche Kreise, die bis dahin abwartend geblieben waren, übten nun Druck auf die Machthaber aus, die Vorwürfe öffentlich zu dementieren oder aber dem Programm ein Ende zu setzen. Einer der deutschen »Fliegerhelden«, Werner Molders, zugleich ein frommer Katholik, der von Hitler die höchste militärische Auszeichnung, das Eiserne Kreuz, erhalten hatte, protestierte ebenfalls gegen die »Euthanasie«. Marschall Göring intervenierte persönlich bei Hitler, um dessen bevorstehende Verhaftung abzuwenden. In der Tat wussten die nationalsozialistischen Führer nicht mehr recht, was sie machen sollten. Die Operationen der T4 hatten wirklich nichts Geheimes mehr an sich, und ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung war verheerend. Der an der Spitze der SS stehende Himmler war für die Unterbrechung der Aktionen, während sich in Armeekreisen bereits 149

Die Rolle der öffentlichen Meinung

lebhafte Kritik erhob. Auch Marschall Keitel schaltete sich ein und hob hervor, daß sich unter den Kranken auch Soldaten des Krieges von 1914 befänden. Selbst die Partei war gespalten. Sollte man von Galen zum Schweigen bringen bzw. ihn verhaften? An der Staatsspitze sprach sich Bormann für dessen physische Eliminierung aus, während Goebbels sich dem widersetzte. Er schrieb in sein Tagebuch, dass, wenn dem Bischof von Münster irgend etwas zustoße, die Bevölkerung Westfalens für die Dauer des Krieges verloren wäre. Seit zwei Monaten befand sich Deutschland in einer Großoffensive gegen die UdSSR , die alle der Nation zur Verfügung stehenden Kräfte forderte. Hitler schätzte, dass er das Risiko einer inneren Spaltung des Landes nun, wo alle Kräfte zusammengefasst werden müssten, nicht länger eingehen dürfe. Am 24. August wurde durch eine »Indiskretion« der KdF bekannt, dass die Aktion gegen die Kranken eingestellt worden war und dass dies dem Führer zu verdanken sei. Allem Anschein nach Verstand Hitler diese Entscheidung als eine persönliche Niederlage und spielte mit dem Gedanken an Rache. Wenn der Krieg erst einmal gewonnen wäre, würde er den Fall wieder aufnehmen, um die noch ausstehende Rechnung mit der Kirche zu begleichen, gegen die er einen unbändigen Hass empfand. Er wusste, dass sein Regime auf ihre Unterstützung angewiesen war. Doch der Tag würde kommen, an dem er mit den Christen abrechnen würde. In etwas weniger als zwei Jahren hatte die Aktion T4 zwischen 70.000 und 100.000 Opfer gefordert. Das Programm wurde immer noch nicht vollständig gestoppt, da die inzwischen eingerichteten Vernichtungslager in Polen die Möglichkeit boten, die von T4 betroffenen Personen dorthin zu bringen. Doch es bleibt wahr, dass Hitler das erste Mal seit der Machtergreifung einen erwähnenswerten Rückschlag erlitten hatte. Darüber gab er sich keiner Täuschung hin. Das deutsche Volk, das er vollständig unter Kontrolle gehabt zu haben glaubte, hatte ihm diesen Misserfolg beschert. Wie Léon Poliakov unterstreicht, zeigt uns der Ablauf des Programms die Grenzen des deutschen Re­ gierungschefs. Indem er die Massen in seinen Bann schlug, konnte er sie auf neue und seltsame Pfade führen, doch in diesem besonderen Fall hatte er seine Macht überschätzt. Er stieß auf einen spontanen Widerstand und auf reiflich überlegte Widerstände, sodass er sich schließlich gezwungen sah, zurückzustecken. Noch war es nicht so weit, dass eine einhellige Verweigerung, ausgelöst durch einen wirklichen Angstreflex, den Körper seines Volkes schütteln würde. Obwohl 150

Die öffentliche Artikulation von Widerstandsbereitschaft

die öffentliche Meinung Deutschlands von der nationalsozialistischen Knute mundtot gemacht worden war, gelang es ihr doch, sich Ausdruck zu verschaffen und Druck auf ihren »Führer« auszuüben. In diesem Punkt spiegelte die von einigen Kirchenrepräsentanten, die Träger der moralischen Legitimität waren, unternommene Mobilisierung eine große Rolle. Sie trug dazu bei, den in der Gesellschaft ­stillschweigend existierenden Meinungsströmungen Ausdruck zu ver­ leihen. (Poliakov 1983, 210) Diese Episode darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mobilisierung der religiösen Kreise langsam, ungeordnet und nur partiell vonstatten ging. Von den Köpfen der protestantischen Kirche wurden sie zu keiner Zeit ermutigt. Das Interessante an diesen Vorfällen liegt vor allem in der Erkenntnis, dass selbst ein nur begrenzter öffentlicher Protest der katholischen Prälaten in der Lage war, die Nazi-Führer zu einem Rückzug zu bewegen. Solange sich die öffentliche Meinung dagegen nicht über die offiziellen Wege äußern konnte und sich auf in­ dividuelle Initiativen beschränkte, hatten die Autoritäten die Möglichkeit, sich herauszureden – selbst wenn religiöse Persönlichkeiten höchsten Ranges daran beteiligt waren. In dem Moment aber, als die Repräsentanten der katholischen Kirche die Stille durchbrachen, war die Macht gezwungen, zurück­zustecken. Die Proteste der Bischöfe hatten um so mehr Gewicht, als kein Zweifel daran bestehen konnte, dass ein Großteil der deutschen öffentlichen Meinung hinter ihnen stand. Die Mobilisierung fand ihren Höhepunkt, als sie sich institutionellen Ausdruck verschaffte. Als die Prälaten das Wort ergriffen, wussten sie, dass die Gläubigen hinter ihnen standen. Diese Mobilisierung der Gesellschaft – gleichzeitig von unten wie, zumindest teilweise, auch von oben – wurde zu einer Kraft, die Hitler nicht ignorieren konnte. Man kann sich jedoch fragen, ob ein solcher Protest nicht schon viel früher hätte einsetzen müssen. Auch Konrad Adenauer ­äußerte nach dem Krieg einige ernste Bedenken gegen­über der Haltung der Kirchen. So schrieb er am 23. Februar 1946 an einen Bonner ­Pfarrer: Ich glaube, dass, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder in Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das kein Schaden, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen 151

Die Rolle der öffentlichen Meinung

und darum schweigt man am besten. (zit. nach Scholder 1985, 262; s. auch Adenauer 1983) Am 1. September 1941, dem Tag, an dem der Mord an den geistig Behinderten eingestellt wurde, wurden die Juden zum Tragen des gelben Sterns verpflichtet. In Polen und in der UdSSR kam es zu den ersten Massen­ exekutionen. Seit 1933 hatten weder die Kirchen noch die öffentliche Meinung jemals gegen die Judenverfolgung protestiert – mit Ausnahme einzelner angesehener Persönlichkeiten wie des Pastors Dietrich Bonhoeffer. Hier stößt man auf eine der größten Schwächen des Drucks der öffentlichen Meinung, nämlich ihren begrenzten Charakter. Es ist den großen »Meinungsbewegungen« eigen, dass sie sich entlang einer Frage mobilisieren und dabei den Rest außer acht lassen. Zumeist er­ geben sie sich aus einem kollektiven Protest aufgrund eines bestimmten Problems, das plötzlich für eine größere Gruppe wichtig geworden ist. Es ist er­wiesen, dass die deutsche Gesellschaft die Übergriffe auf die ­Juden zuließ, nicht aber die auf die geistig Behinderten. Es gab eine »Meinungs­bewegung« zugunsten der Letzteren, nicht aber zugunsten der ersten. Die öffentliche Meinung ist außerdem unbeständig: In wenigen Tagen oder Monaten kann sie sich verändern. Wie das Meer ist sie stets in Bewegung. Ihre Gezeiten können eine Bewegung nach oben tragen oder ohne erkennbare Ursache wieder abebben lassen. Eine Welle oppositioneller Gesinnung überrollt die Macht, doch bevor klar wäre, warum, zieht sie sich schon wieder zurück. Man könnte sagen, dass die öffentliche Meinung der emotionale Ausdruck einer Gesellschaft ist. Der aktuelle Stand der öffentlichen ­Meinung ist ein Gradmesser für das sich stets verändernde Verhältnis zwischen der Macht und der Gesellschaft. Daher muss die öffentliche Meinung im Kampf gegen eine faktische Macht stets bearbeitet und gefestigt werden, damit sie zu einem stabilen Werkzeug gegen die Macht geformt werden kann. Hier liegt die Aufgabe der Widerstandsbewegungen.3

Die politischen »Schutzwälle« der Gesellschaft In der Politik ist niemals etwas sicher erreicht. Jede Partei und jede Gegen­partei muss stets versuchen, ihre Position zu verbessern oder sie zumindest zu ihrem Vorteil zu wahren. Wie wir gesehen haben, war die Entwicklung der öffentlichen Meinung einer der bestimmenden 152

Die politischen »Schutzwälle« der Gesellschaft

ren für die Entwicklung des Widerstands und seines öffentlichen Ausdrucks. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Widerstand gegenüber der öffentlichen Meinung zu Passivität oder völliger Abhängigkeit verurteilt wäre, sondern im Gegenteil, dass der Widerstand unablässig an der ­öffentlichen Meinung zu arbeiten hat. Wenn man bedenkt, dass der Widerstand nur in Verbindung mit einer ihm immer günstiger gesonnenen öffentlichen Meinung wachsen kann, dann liegt seine Hauptaufgabe sogar darin, immer schon im Voraus Menschen von seiner Berechtigung zu überzeugen. Je mehr der Widerstand die öffentliche Meinung auf seine Seite ziehen konnte, desto besser waren zugleich auch seine eigenen Existenz- und Wachstumsbedingungen gesichert. Daher nahm auch die »Propaganda-Arbeit« während des Krieges einen so herausragenden Platz ein, sei es durch die Verteilung illegaler Zeitungen oder durch Radio­ sendungen. Zwischen Widerstand und öffentlicher Meinung bestand also ein dialektisches Verhältnis. In den Ländern, in denen die öffentliche Meinung nicht spontan dazu neigte, gegen den Besatzer zu kämpfen, und führende politische Re­ präsentanten in einem Prozess der Zusammenarbeit engagiert waren, bestand die Hauptaufgabe der Widerstandsgruppen also darin, die öffent­ liche Meinung zu erobern. Die Widerstandsgruppen hatten sich zu ­diesem Zweck auf die Sensibilisierung und Organisation der Bevölkerung zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang ist die von Claude Bourdet vorgeschlagene Unterscheidung besonders erhellend: zwischen auf die militärische Aufklärung ausgerichtetem Netz und der auf die ­Aktion innerhalb der Bevölkerung orientierten Bewegung. »Ein Netz«, so präzisiert er, ist eine im Hinblick auf eine klar umrissene militärische Aufgabe geschaffene Organisation, die vor allem der Aufklärung dient, daneben Sabotage ausführt oder auch Kriegsgefangene sowie insbesondere hinter den feindlichen Linien gelandete Piloten zu retten versucht. […] Definitionsgemäß steht ein Netz in engem Kontakt zu einem Organ des Generalstabs jener Kräfte, für die es arbeitet. […] Das Hauptziel einer Bewegung dagegen liegt in der größtmöglichen Sensibilisierung und Organisation der Bevölkerung. Natürlich gibt es auch konkrete Ziele […], doch im Grunde könnte man fast sagen, dass diese zusätzlich erfüllt werden, weil ihre Mitglieder das Gefühl brauchen, konkret engagiert zu sein. Die eigentlichen Aufgaben werden in Bezug auf die Bevölkerung erfüllt. Sie ist ihr Ziel und ihre eigentliche Sorge. (Bourdet 1975, 96) 153

Die Rolle der öffentlichen Meinung

Der Widerstand hat also in Wirklichkeit über seine verschiedenen »Bewegungen« versucht, seine eigene Legitimität zu erlangen. Er verstand es, sie auf seine Seite zu ziehen und so der einzige Repräsentant ihrer wahren Bedürfnisse zu werden. In jenen Ländern, in denen die legitime Führung nicht mit dem Besatzer zusammenarbeitete, war das Problem des Widerstands dem oben Beschriebenen genau entgegengesetzt. Der Widerstand hatte zu ver­ hindern, dass die Besatzungsmacht vonseiten der Besetzten legitimiert würde, ob diese Furcht nun berechtigt war oder nicht. Die Aktionen des Widerstands waren aus diesem Grund paradoxerweise eher abschreckender als offensiver Natur, d. h. sie versuchten, die kollektive Identität der angegriffenen Gesellschaft gegen jegliche Beeinträchtigung durch den Be­ satzer zu verteidigen. Er musste eine so enge Verbindung mit der öffentlichen Meinung eingehen, dass er jeglichen Tendenzen zur Kollaboration zuvorkommen konnte oder sie doch zumindest isoliert werden konnten. Das bedeutet umgekehrt jedoch nicht, dass die öffentliche Meinung von sich aus bereit war, die Aktionen des Widerstands zu unter­ stützen. Wider­stand zu leisten, setzte eine kollektive Vorbereitung und Organisation voraus, wie sie zu Beginn der Besatzungszeit nicht bestand. Das ist auch der Grund dafür, dass eine der Hauptaufgaben der ersten Widerstandsgruppen darin bestand, die öffentliche Meinung überhaupt erst von der Notwendigkeit des Kampfes und seiner Organisation zu überzeugen. Die Aufgabe des Widerstands lässt sich nun je nach dem vorhandenen anfänglichen Kräfteverhältnis wie folgt bestimmen: entweder die kollektive Identität einer überfallenen und mehr oder weniger in die Zu­ sammenarbeit mit dem Besatzer verstrickten Gesellschaft wiederherzustellen – oder diese Identität zu schützen, indem das Aufkeimen eines wirklichen Willens zur Zusammenarbeit verhindert wird. Das heißt, dass der Widerstand im Wesentlichen eine politische Zweckbestimmung ­hatte – er stellte die Legitimität der Macht aller seiner Gegner infrage. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ging in der Mehrzahl der Länder von der Verteidigung oder der Wiederbelebung nationaler Werte aus. Oder, wie es die Widerstandskämpfer oft genug selbst gesagt haben: »Wir waren vor allen Dingen ›Patrioten‹.« In diesen Zusammenhang reiht sich auch Roderick Kedwards kurze und zugleich weitreichende Definition der beiden weiter oben beschriebenen »Widerstandslogiken« ein: »Der Widerstand war ebenso sehr eine politische Antwort auf eine politische Herausforderung wie eine patriotische Antwort auf eine natio­ nale Krise.« (Kedward 1978, 230) 154

Die Theorie der drei »K reise«

An der oben dargestellten Herangehensweise könnte man möglicherweise kritisieren, dass sie die Anwesenheit des Besatzers zu wenig berücksichtigt. In der Tat wird der Akzent vielmehr auf das Verhältnis des Widerstands zu der öffentlichen Meinung gelegt als auf die direkte Konfrontation des Widerstands mit dem Besatzer selbst. Doch was ist daran so erstaunlich? In den untersuchten Ländern war der Widerstand niemals so stark, dass er eine wirkliche militärische Kraft und damit eine ernsthafte physische Bedrohung für den Besatzer hätte sein können. Er war daher gezwungen, eine Strategie zu entwickeln, die wir heute in­ direkte Strategie nennen. Diese Strategie hat zwei Dimensionen, eine bewaffnete und eine unbewaffnete. Die erste versucht mit Guerillataktiken die Bewegungen des Besatzers zu behindern und zu stören. Die zweite dagegen ist »ziviler Widerstand« im reinsten Wortsinn: global orientiert, versucht sie die Gesellschaft als Ganzes einzubeziehen. Da er den Besatzer nicht militärisch vertreiben kann, bemüht sich der zivile Widerstand darum, zwischen Besatzern und Besetzten den »politischen Abstand zu wahren«. Aus diesem Grund war die Erhaltung bzw. Rekonstruktion der politischen Identität der jeweiligen Länder von so großer Bedeutung. Es bedeutete gleichsam, einen unüberbrückbaren »Graben« zwischen Besatzern und Besetzten zu ziehen und alle »Brücken der Zusammenarbeit abzubrechen. In diesem Sinn erinnert der Kampf des zivilen Widerstands stark an die Verteidigung einer mittelalterlichen Burg. Die Gesellschaft muss trotz ihrer militärischen Niederlage eine Burg mit unüberwindbaren »politischen Schutzmauern« sein. Dies ist der einzige Weg, auf dem sie sich der Kontrolle durch die feindliche Macht entziehen kann, obwohl diese über die Waffengewalt verfügt. Dieser schwierige Kampf wird, ähnlich wie ein Belagerungszustand, über das Durchhaltevermögen entschieden. Voraussetzung dafür ist eine gute Vorbereitung, da sich dies nicht von allein einstellt.

Die Theorie der drei »Kreise« Aus all dem ergibt sich, dass man den inneren Widerstand nicht ver­ stehen kann, ohne parallel dazu die ihn begleitenden Veränderungen der öffentlichen Meinung zu berücksichtigen – und umgekehrt. In den Län­ dern, in denen es mit dem Besatzer zusammenarbeitende Regierungen gab, entwickelten sich der Widerstand und die öffentliche Meinung schubweise. Die Stufen auf dem Weg zu ihrem überragenden Einfluss 155

Die Rolle der öffentlichen Meinung

auf die Gesellschaft erklommen sie Stück für Stück. In den Ländern dagegen, in denen die legitime politische Macht die Zusammenarbeit verweigerte, übten die öffentliche Meinung und der Widerstand relativ früh einen starken Einfluss auf die Gesellschaft aus. Ihr Problem bestand nun vordring­lich darin, im Falle eines eventuellen Vormarsches der bewegungen nicht wieder unter ein einmal erreichtes Kollaborations­ ­Niveau zurückzufallen. Öffentliche Meinung und Widerstand im Zusammenhang zu verstehen, bedeutet des Weiteren, die allzuweit verbreitete Vorstellung zu hinter­fragen, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus lediglich ein marginales Phänomen gewesen sei. Wenn man allerdings die politisch organisierte Opposition nur im Rahmen des institutionalisierten Widerstands zur Kenntnis nimmt, dann ist diese Opposition nicht nur marginal, sondern sogar minoritär. Darin weicht der Widerstand nicht von der Regel ab, die besagt, dass es die Minderheiten seien, die die Geschichte machen – umgekehrt ist es aber auch nicht beliebig, aus wem sich die agierenden Minderheiten zusammensetzten. Mehrere Arbeiten belegen, dass die verschiedensten sozialen Milieus und ideologischen Zugehörigkeiten vertreten waren. Der Widerstand bildete daher so­ zusagen die Gesamtheit der Gesellschaft im Kleinen ab.4 Es wäre jedoch absurd anzunehmen, dass eine Gesellschaft insgesamt zu einer Widerstand leistenden Organisation werden könnte. Engagement findet immer in verschiedenen Graden statt. Nicht jeder ist – aus persönlichen oder psychologischen Gründen – gleichermaßen bereit, die größten Risiken auf sich zu nehmen. Man kann einer Macht grundsätzlich feindlich gegenüberstehen, ohne auch zwingend konkret gegen sie zu kämpfen. Es ist daher, auch wenn viele sich das Recht dazu nehmen, nicht möglich, über das Verhalten der einen oder anderen leichthin ein moralisches Urteil auszusprechen. Hinzu kommt, dass die Mobilisierung einer Gesellschaft gegen ein gegebenes politisches Regime Schwankungen unterliegt, die in eine ernst zu nehmende Beurteilung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus unbedingt mit einfließen müssen. Unter diesem Gesichtspunkt können drei »Kreise« der sozialen Mobilisierung ausgemacht werden. Der erste Kreis umfasst den als organisierte politische Kraft auftretenden institutionellen Widerstand. Er umfasst alle Widerstandskämpfer der verschiedenen Bewegungen und aller AktionsWiderstandskämpfer der verschiedenen Bewegungen und aller Aktionsformen. Der zweite und zugleich umfangreichste Kreis ist der der aktiven Unterstützung, der gelegentlichen »Handreichungen« und der Hilfe von 156

Die Theorie der drei »K reise«

»Schutzengeln«, die den im Widerstand Aktiven zum Schutz gegen Verhaftung spontan angeboten wird.5 Und schließlich gibt es den noch weiter gefaßten dritten Kreis der passiven Unterstützung. Er umfasst die dem Widerstand günstig gesonnenen Kreise, die seine Aktionen an­ erkennen oder gutheißen. Nur weil dieser Kreis nicht durch Aktionen in Erscheinung tritt, ist er deshalb nicht weniger wichtig als die beiden zuvor genannten. Eher ist das Gegenteil der Fall, da es ohne eine ihm günstig gesonnene öffentliche Meinung keinen dauerhaften und effek­ tiven Widerstand geben kann. In der Tat muss man sich die Rolle von Widerstand und öffentlicher Meinung als dynamisch und sich gegenseitig ergänzend vergegenwärtigen. Der Widerstand ist zum Scheitern verurteilt, wenn er nicht von der öffent­lichen Meinung getragen wird. Die öffentliche Meinung kann nichts verändern ohne einen Widerstand, der ihren Willen verkörpert. In gewisser Weise schützt die öffentliche Meinung den Widerstand, während der Widerstand im Namen dieser öffentlichen Meinung handelt.

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7. Kapitel Der zivile Widerstand und die Repression

Es ist geheimhin völlig unvorstellbar, dass sich unbewaffnete Widerstandskämpfer einem Gegner entgegenstellen können, der seinerseits fest entschlossen ist, Waffengewalt einzusetzen. Sowohl die historische Erfahrung als auch strategische Überlegungen scheinen diesem Urteil recht zu geben. Repression gilt sozusagen als die absolute Waffe gegen jegliche Form zivilen Widerstands. Doch aus dem Studium mancher gegen den Nationalsozialismus praktizierten Widerstandsformen ergibt sich ein anderes Bild. Man könnte sogar eine scheinbar paradoxe These aufstellen, denn die vorliegende Studie über eine der extremsten Formen von Gewalt, die die Menschheit je gekannt hat, deckt im Gegenteil die Möglichkeiten bestimmter Widerstandsformen auf, denen es gelungen ist, die gegen sie gerichtete Gewalt gegen den Aggressor selbst zu wenden. Auch Waffen haben kein Eigenleben. Das Kräfteverhältnis zweier Gegner resultiert nicht ausschließlich aus der Tatsache, dass der eine über Waffen verfügt, der andere aber nicht. Waffen werden erst gefährlich, wenn derjenige, der sie besitzt, auch wirklich den Willen hat, sie ein­ zusetzen. Alle, die über Abschreckungskonzepte nachdenken, kennen dieses Problem. Erst die Entscheidung, auch wirklich auf die Waffen, die man besitzt, zurückzugreifen, kann den, der keine besitzt, ernstlich in eine bedrohliche Lage bringen. Doch wer vom menschlichen Willen spricht, muss auch von seinen Schwankungen sprechen, von Unsicherheit und von der Vielzahl von Möglichkeiten, die den Menschen be­ einflussen und ihn bestimmen. Psychologische, soziologische oder politi­ sche Betrachtungen können einen Besatzer daher dazu bringen, die Repression gegenüber dem Besetzten zu verschärfen – oder dies auch zu unterlassen. Die Debatte über den zivilen Widerstand stellt dessen Möglichkeiten häufig verzerrt dar, indem sie so tut, als ob zwischen der Besatzungs­ armee und der Zivilbevölkerung ein Verhältnis herrsche wie bei einem Streit zwischen zwei Individuen. Nur in einem solchen Fall aber könnte derjenige, der über eine Armee verfügt, seinen Gegner gefahrlos niederhalten (aber auch ein solches Verhältnis verdiente eine nähere Unter­ suchung). Wenn es sich jedoch um eine Konfrontation von Gruppen handelt, die Tausende von Individuen mit einbezieht, liegt eine völlig 159

Der zivile Widerstand und die Repression

anders geartete Dynamik der Konfrontation vor. Wo sich Besatzungsmacht und Zivilgesellschaft direkt gegenüberstehen, wird das Verhalten beider Parteien auch von psychosozialen und politischen Faktoren mitbestimmt, welche die den Kontrahenten jeweils eigenen Aktionsmittel überlagern. Einige dieser bis heute kaum erforschten und sehr kom­ plexen Faktoren können die Repression verschärfen, während andere eher dazu geeignet sind, ihr entgegenzuwirken.

Die provozierte Repression Widerstand zu leisten, bedeutet früher oder später immer, der Repression ausgesetzt zu sein. Widerstand ohne Repression gibt es nicht. In diesem Sinn gehorcht der Widerstand ähnlich wie der Krieg der Logik des ­Opferns. Um einen Krieg zu gewinnen, muss ein Preis bezahlt werden. So könnte die kaltblütige Berechnung eines Strategen diesen zum Beispiel zu dem Schluss führen, dass er, wenn er ein oder zwei Prozent seiner Bevölkerung opferte, in der Lage wäre, einen Krieg zu gewinnen. In dieser Hinsicht ist militärische Strategie mit dem Schachspiel vergleichbar. Der Spieler kann sich dazu entscheiden, eine oder zwei seiner Figuren zu opfern, um schließlich die Partie zu gewinnen. Bei der Untersuchung der verschiedenen gegen die nationalsozialistische Besatzung angewandten Widerstandsformen stellt sich jedoch die Frage, wie es in manchen Fällen zu einer derart maßlosen Repression kommen konnte, dass die Gründe dafür nicht mehr zu erkennen waren. Dies trifft besonders für die Reaktionen auf die »individuellen Attentate« zu, die von den verschiedenen europäischen kommunistischen Parteien seit dem Sommer 1941 gegen Mitglieder der deutschen Armee begangen wurden. Die Besatzung reagierte auf solche Attacken mit Massenhinrichtungen von Geiseln, die in keinem Verhältnis zu der begangenen Tat standen. Die Zivilbevölkerung wurde so zum Hauptopfer dieser besonderen Form des bewaffneten Widerstands, der schließlich in ihrem ­Namen geführt wurde. Trotz des »Opfers« wird jedoch nicht klar, ob dabei auch etwas gewonnen werden konnte. Die Taktik individueller Attentate hat daher auch, besonders in Frankreich, sowohl unter moralischen als auch unter politischen Gesichtspunkten, zu endlosen Debatten geführt.1 Nach der Hinrichtung der 98 Geiseln2 – als Reaktion auf die Ermordung eines deutschen Offiziers in Nantes – verurteilte General de Gaulle in einer Rede vom 23. Oktober 1941 sehr schnell diese individuellen Attentate. 160

Die provozierte Repression

Neben der verständlichen politischen Rivalität unter den Akteuren dieser Epoche, ob sie nun auf der Seite der Kommunisten standen oder nicht, warfen diese Debatten eine spannende Frage auf: Welche effek­ tiven Aktionen können Zivilisten in einer Krisensituation wie einer Besatzung durchführen? Während des Krieges hatte es in dieser Diskussion lediglich zwei extrem vereinfachte Positionen gegeben. Die einen, die »Attentisten«, sahen das Heil der Bevölkerung im endgültigen Sieg der alliierten Kräfte. Die anderen, die Partisanen der »unmittelbaren Aktion«, waren der Ansicht, dass die Zivilisten diesen hypothetischen Augenblick nicht abwarten konnten, ohne hier und jetzt gegen die Besatzung zu kämpfen. So postulierte die eine Seite die übergeordnete, wenn nicht exklusive Rolle des Militärs, wie es zum Beispiel aus der Rede de Gaulles vom 23. Januar 1941 klar herauszulesen ist: »Es gibt eine Kriegstaktik. Und die besteht darin, dass der Krieg von denjenigen geführt wird, die auch den Auftrag dazu haben.« (zit. n. Noguères 1969, Bd. II, 155) Auf der anderen Seite hatten die Partisanen der individuellen Attentate ein Interesse daran, die Absage an den Attentismus als Einbindung der ­Zivilbevölkerung in den bewaffneten Kampf zu deuten, was ihnen die effektivste Aktionsform gegen die Okkupation zu sein schien. Charles Tillon, der eigentliche Gründer der Francs-tireurs et partisans (FTP), jenen von der Kommunistischen Partei Frankreichs kontrollierten bewaffneten Widerstandsgruppen, formulierte dieses Interesse am 20. November 1942 unmissverständlich in einem Brief an de Gaulle: »Der Kampf gegen einen so furchtbaren Feind darf sich nicht auf ideologische Propaganda beschränken, sondern muss den Charakter eines bewaffneten Kampfes annehmen.« (zit. n. Curtois 1980, 307) Doch das Problem bestand nicht einmal so sehr darin, herauszufinden, ob die Zivilbevölkerung an einem Kampf gegen den Besatzer teilnehmen sollte oder nicht, sondern darin, dies zu tun, ohne sich unüberlegt der Repression aus­ zusetzen. Das bedeutet zugleich, dass die Debatte sich nicht eigentlich um »Attentismus« oder »Aktivismus« zu drehen hatte. Denn jede Geschichte des Widerstands zeigt, dass die konkreten Oppositionsformen der Zivilbevölkerung verschiedenartiger Natur sein konnten. Auch die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes stand nicht wirklich zur Debatte: Bombenattentate wurden im Allgemeinen nicht kritisiert. Was aber tatsächlich zur Diskussion stand, war eine ganz bestimmte Form des bewaffneten Kampfes: nämlich die individuellen Attentate. Gegen sie wurde eingewandt, sie rufe eine ungezügelte Repression hervor. Aber auch ihr Ziel war nicht unumstritten. Mit anderen Worten: Der von den Widerstandskämpfern und auch von der Bevölkerung verlangte Preis 161

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dieser Taktik schien in keinem Verhältnis zu dem daraus zu erzielenden »Gewinn« zu stehen. Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet ging seine Wirksamkeit tatsächlich gegen null. Zu einer Zeit, in der Hitler mehrere Millionen Menschen in die Schlacht warf, konnte der Tod von einigen Hundert deutschen Militärs in Frankreich nichts am Verlauf des Krieges ändern. Möglicherweise schufen sie unter den Besatzungskräften ein Gefühl der Unsicherheit. Doch selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, so bleibt die Frage, ob sie wirklich auch die Moral des Besatzers untergraben konnten oder aber ihn erst recht wachsam und noch brutaler gegenüber der Bevölkerung machten. Stéphane Courtois zieht in seinem Buch, das er den Aktionen der Kommunistischen Partei Frankreichs aus jener Zeit gewidmet hat, folgende Bilanz der individuellen Attentate des ersten Besatzungsjahres: Unter militärischen Gesichtspunkten waren die den Deutschen zu­ gefügten Schläge kaum der Rede wert. Der deutsche Soldat erhielt zwar Vorsichtsmaßregeln für seine nächtlichen Unternehmungen in Paris, die seine Besatzungsruhe störten, doch offen gesagt, litt die Besatzungsmacht faktisch kaum darunter. Sie tendierte vielmehr dazu, die Reihen fest zu schließen und die Repression noch wirkungsvoller zu betreiben. (Courtois 1980, 224) Wenn also die Nadelstiche, die dem Panzer des Besatzers zugefügt wurden, ihn nicht militärisch beeinträchtigen konnten, dann ist die einzige Rechtfertigung, die sich für sie finden ließen, politischer Natur. So ­argumentierte übrigens auch Charles Tillon in dem bereits zitierten Brief, indem er ausführte, dass die Taktik individueller Attentate vor allem dazu beigetragen hat, den Widerstandsgeist unseres Volkes zu ent­ wickeln und die Anstrengungen der Kollaborateure und Attentisten zu lähmen […], ein verständnisvolles Klima zwischen den Deutschen und dem französischen Volk zu verbieten. (ebd., 307) In dieser Aussage lassen sich die beiden politischen Hauptargumente wiederfinden, die zur Rechtfertigung der Aktionen des PCF in dieser Periode herangezogen wurden und noch heute für einige Historiker Gültigkeit besitzen: Zum einen hätten die individuellen Attentate dadurch, dass sie die politische Spannung erhöhten, den Besatzer gezwungen, sich durch die Anwendung von Repressionsmaßnahmen selbst zu entlarven; zum anderen habe die daraus resultierende Verschärfung der 162

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Konfrontation dazu beigetragen, die vom Pétainismus gelähmte öffentliche Meinung zu wecken und so die Masse der Franzosen zum Widerstand zu »drängen«. Die neuesten historischen Untersuchungen scheinen eine solche Wertung jedoch nicht mehr zu bestätigen. Sicher ist es verständlich, dass die Widerstandskämpfer zu ihrer Zeit an die Effizienz dieser Aktionsform geglaubt hatten. Im nachhinein erscheint ihr politischer Nutzen jedoch zweifelhaft – auch wenn die öffentliche Meinung tatsächlich von Anfang an die Hinrichtung der Geiseln verurteilt zu haben scheint und ihre Feindschaft gegenüber dem Besatzer dadurch noch verstärkt wurde. So liest man in einem nach dem Dezember 1941 verfaßten französischen Polizeibericht: Angesichts dieser Situation haben sich die kommunistischen Führer entschlossen, energisch zu reagieren und die Empörung der Bevölkerung so weit als möglich auszunutzen. Sie unternehmen alle Anstrengungen, um die Franzosen dazu zu bringen, sich ihren terroristischen Aktionen anzuschließen, »um die Morde und die unschuldigen Opfer der deutschen Repression zu rächen«. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass diese Propaganda in verschiedenen sozialen Gruppen ein positives Echo erfährt, da die Repressionsmethoden der deutschen Autoritäten Unzufriedenheit und Feindschaft hervorrufen, und es gilt, sich auf ein Anwachsen terroristischer Attentate vorzubereiten. (zit. n. Peschanski 1986, 132) Doch selbst wenn die Bevölkerung der prompten Reaktion des Besatzers feindlich gegenüberstand und sie einstimmig verurteilte, so bedeutete dies zugleich nicht, dass sie deshalb auch die individuellen Attentate guthieß. So hebt Jean-Jacques Becker hervor: Indem sie darin der Ansicht General de Gaulles folgte, stand die öffent­liche Meinung den ­Attentaten feindlich gegenüber, die sie als voreilig einschätzte, ohne wirkliche Auswirkungen auf den Kriegs­ verlauf und einzig dazu angetan, fürchterliche Repressalien hervor­ zurufen. (Becker 1985, 37) Hier wäre eine eingehendere Untersuchung der öffentlichen Reaktionen auf die Serie individueller Attentate von besonderem Nutzen. Doch schon allein die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Nach dem ersten individuellen Attentat am 21. August 1941 in Paris, als ein deutscher Militärangehöriger von einem Kommunisten umgebracht wurde, konnte die darauffolgende Attentatsserie die Franzosen nicht dazu bewegen, sich 163

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am bewaffneten Kampf zu beteiligen. Die FTP blieben im Gegenteil zahlenmäßig sehr schwach, bis im Frühjahr 1943 der Zwangsarbeitsdienst im Deutschen Reich massenhaft verweigert wurde. Hinzu kommt, dass die nunmehr verstärkte Zusammenarbeit zwischen den deutschen und den französischen Polizeidiensten dazu führte, daß Ende 1942 die Gruppen der FTP stark dezimiert waren, was unter anderem als ein Beweis dafür zu werten ist, dass sie in der Bevölkerung nicht den Rückhalt fanden, der nötig gewesen wäre, um sie zu decken und damit zu schützen. Mehr als eineinhalb Jahre nach dem Beginn der individuellen ­Attentate zeigt diese Kluft zwischen den Widerstandskämpfern und der öffentlichen Meinung Frankreichs, dass diese ihr selbstgestecktes politi­ sches Ziel nicht erreicht hatten. Erst ab dem Sommer 1943 nahm der bewaffnete Kampf Massencharakter an, doch Auslöser hierfür waren eben nicht die individuellen Attentate, sondern der allgemeine Kriegsverlauf und vor allem die Verweigerung des verhassten Zwangsarbeitsdienstes. In Wirklichkeit ist heute unbestritten, dass die Entscheidung der PCF-Führung, zum bewaffneten Kampf überzugehen, der Partei als Mitglied der Kommunistischen Internationale von Moskau diktiert ­wurde. Das Hauptanliegen des Buches von Stéphane Courtois ist es, den überragenden Einfluss nachzuweisen, den die sowjetische Strategie auf das Entstehen der »nationalen« französischen Linie hatte. Diese Sichtweise wird im Übrigen auch von neueren Arbeiten bestätigt.3 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Kampf des PCF gegen den Besatzer erst mit dem Juli 1941 begann, also nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion. Bekanntermaßen war Stalin davon vollkommen über­ rascht, da er glaubte, nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August 1939 von deutscher Seite nichts mehr zu befürchten zu haben. Diese unerhörte Fehleinschätzung der Absichten Hitlers brachte die Sowjetunion an den Rand einer beispiellosen Katas­ trophe. Zwei Millionen Mann waren unter Hitlers Führung weit auf sow­jetisches Gebiet vorgedrungen, und nur durch die Öffnung einer zweiten Front im Westen Europas konnte Stalin hoffen, diesem Ansturm begegnen zu können. Diese Absicht wurde zu einer permanenten ­Forderung der sowjetischen Diplomatie gegenüber England und später den Vereinigten Staaten. Aus demselben Grund versuchte Stalin seinen Einfluss auf die Internationale geltend zu machen und die kommunistischen Parteien dazu zu bewegen, die deutschen Kräfte an der Heimatfront zu bekämpfen. Daher rief er in seiner berühmtem Rede vom 3. Juli 1941 die kommunistischen Parteien dazu auf, zum bewaffneten Kampf überzugehen. 164

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So kam es, dass der PCF – ebenso wie die anderen Sektionen der Inter­ nationale – beinahe von einem Tag auf den anderen zu einer völlig neuen Aktionslinie überzugehen hatte. In manchen Ländern, wie in ­Jugoslawien oder Griechenland, nahm der bewaffnete Kampf der Zivilbevölkerung eine durchaus beachtliche Stärke an, die zugleich eine neue Kampfform hervorbrachte: die Guerilla. Auch in der Sowjetunion selbst gab es hinter den deutschen Linien heftige Partisanentätigkeit. In Frankreich jedoch waren die Kommunisten darauf in keiner Weise vorbereitet. Seit der Pariser Kommune im Jahre 1871 hatten weder die Arbeiter­ bewegung im Besonderen noch die Franzosen im Allgemeinen Erfahrung mit dem bewaffneten Kampf. So berichtet auch Albert Ouzoulias, ein weiterer Führer der FTP, mit großer Offenheit: Während der gesamten zweiten Hälfte des Jahres 1941, des gesamten Jahres 1942 und der ersten Hälfte des Jahres 1943 hatte der PCF sowohl in der Partei als auch in der Bevölkerung gegen die vorherrschenden Auffassungen anzukämpfen, um die Zögernden – und damit schließlich die Widerstandskämpfer – zu überzeugen. […] Während dreier langer Jahre, vor allem aber zu Beginn dieser Zeit, brachte der bewaffnete Kampf vielfältige und komplexe Probleme mit sich. Man geht von den gewohnten Aktionsformen wie Verteilung von Flugblättern oder Zeitungen, Arbeitsniederlegung, Streiks oder die verschiedensten Demonstrationen nicht zu der völlig neuen Form des bewaffneten Kampfes über. (Courtois 1980, 252) Jacques Duclos dagegen hielt mit Unterstützung von Radio Moskau an der Taktik der individuellen Attentate fest, obwohl selbst die leninistische Lehre diese Praxis ablehnte, solange sie nicht von einem entsprechend hohen »Massenbewusstsein« getragen sei. In diesem Zusammenhang wurde behauptet, daß der PCF mit der Einführung der individuellen Attentate eine terroristische Strategie angewendet habe. Ein solches Urteil sollte jedoch eingehender diskutiert werden. Natürlich lag es wohl im Interesse sowohl Deutschlands als auch Vichys, die kommunistischen Widerstandskämpfer als »Terroristen« zu bezeichnen und davon ausgehend ebenso alle anderen, die sich im Wider­ stand betätigten. Die individuellen Attentate leisteten diesem ­Argument Vorschub und bildeten zugleich die Grundlage für eine um so brutalere Repression jeglicher Regimeopposition. Der Kampf des PCF beschränkte sich allerdings nicht allein auf ­in­dividuelle Attentate, sondern es wurden parallel dazu noch andere Taktiken wie Propaganda, Produktionssabotage, Attentate auf Züge 165

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e­ nt­wickelt. Die insbesondere von dem Gewerkschafter BenoÎt Frachon verteidigte Strategie der »lutte revendicative« (des Kampfes um öko­ nomische und soziale Forderungen), die darauf abzielte, Streiks und ­Demonstrationen zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zur Durchsetzung von Lohnforderungen einzusetzen, wurde, nachdem sie eine Zeit lang in Vergessenheit geraten zu sein schien, Anfang 1943 ­wieder zu einer der offiziellen Hauptlinien der Partei. So konnte man in der Parteizeitung L’Humanité vom 8. Januar 1943 drei allgemeine Losungen für die lutte revendicative lesen, worunter sich erstaunlicherweise auch ein Aufruf zum zivilen Ungehorsam befand: »Erhöhung der Gehälter, Verbesserung der Versorgung, kollektiver Steuerboykott« (zit. n. Courtois 1980, 314). In allgemeiner Weise wurden also 1943 der bewaffnete Kampf und die lutte revendicative als einander ergänzend im Hinblick auf einen nationalen Aufstand verstanden. Aber auch auf der Ebene der strategischen Reflektion ist es nicht mehr sicher, ob die individuellen Attentate mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht werden können. Sicher, einige Elemente weisen eine unbestreitbare Nähe dazu auf: die fehlende »Massen«verankerung, die sie zu einer ultraminoritären Erscheinung macht; der daraus folgende Wille, durch gewaltsame und spektakuläre Aktionen mit allen Mitteln die ­Repression der Staatsmacht zu provozieren, um so in der Bevölkerung einen »emotionalen Schock« auszulösen. In jedem Fall bestimmt sich die Logik des Terrorismus vor allem durch die Beliebigkeit der Ziele: um den Druck auf ein Maximum steigern zu können, kann jeder zu jeder Zeit und an jedem Ort betroffen sein.4 Man kann unmöglich behaupten, dass dies die Aktionslinie der französischen Kommunisten gewesen sei. Ihr »Ziel« waren immer deutsche Militärs – vorzugsweise Offiziere – und bestimmte Kollaborateure. Daher scheint es eher angebracht, davon zu sprechen, dass die Führung des PCF in der Hauptsache eine Guerilla­ strategie anzuwenden versuchte, deren Hauptziel darin bestand, den Feind – und nicht die Zivilbevölkerung – zu überraschen. Aus Gründen jedoch, die auf die französische Gesellschaft und mehr noch auf die anderen westeuropäischen und skandinavischen Länder zutreffen, konnte diese Strategie nicht wirklich an Einfluss gewinnen. Unterm Strich handelt es sich um den Versuch, eine Guerillastrategie anzuwenden, ohne dass die notwendigen Bedingungen für ihr Gelingen vorhanden gewesen wären. Ebenso bleibt festzuhalten, dass die Zivilbevölkerung dieses Bestreben der kommunistischen Führung, auch in Frankreich eine solche Strategie einzuführen, teuer bezahlte. Im nachhinein ist es durchaus 166

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berechtigt, nach dem »Nutzen« der geopferten Widerstandskämpfer und Hunderter exekutierter Geiseln zu fragen. Denn der unbestreitbare Effekt der individuellen Attentate war doch, den Teufelskreis von Provokation und Repression in Gang gesetzt zu haben, weil keiner der Gegner einen Schritt zurückgehen konnte, ohne völlig sein Gesicht zu verlieren. Die Hinrichtung von Geiseln durch den Besatzer stellte an sich schon einen ausreichenden Grund dar, um neuerliche Mord­ anschläge auf deutsche Militärs zu verüben, was seinerseits wieder nach neuen Exekutionen verlangte. In beiden Fällen gehorchten die Reaktio­ nen der Gegner den Gesetzen der Blutrache, da jeder die Argumente für seine Gewalt in der Gewalt des anderen fand. Die Kommunisten konnten ihre Aktionen dadurch rechtfertigen, dass sie die erschossenen ­ atten – und der Besatzer konnte die NotwendigGeiseln zu rächen h keit ins Feld führen, den »Terrorismus« bekämpfen zu müssen, um die Ordnung aufrechterhalten zu können. Das Ergebnis aber bestand in einer größeren Effektivität des deutsch-französischen Repressions­ apparates. Doch obwohl die Gesellschaft für die Kosten dieser isolierten Aktionen aufzukommen hatte – sowohl durch die getöteten Zivilisten als auch durch die härtere Konfrontation mit der Besatzungsmacht –, ging der PCF auf lange Sicht gesehen in der öffentlichen Meinung doch gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervor. Denn durch die Brutalität seiner absurden und unverhältnismäßigen »Repressionslogik« kehrte sich die öffentliche Meinung vollkommen gegen den Besatzer. Die Missbilligung der individuellen Attentate wurde sozusagen von der weitaus größeren Missbilligung der Geiselerschießungen aufgehoben. Unter den Geiseln befanden sich zahlreiche Kommunisten, und durch die einander folgenden Exekutionen wurden sie mehr und mehr zu »Märtyrern« des Widerstands. Die Repression führte so gleichsam zur Heiligsprechung dieser Aktionen. Hinzu kommt, dass es der Sowjetunion zur gleichen Zeit gelungen war, die deutschen Linien im Osten zu durchbrechen, und so die Hoffnung, sich vom Nationalsozialismus zu befreien, in dem Maße stieg, wie sich die sowjetischen Truppen Berlin näherten. Die Kommunisten errangen so in der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen, das zum einen durch ihre opferreichen Aktionen im Innern des Landes entstand und zum anderen durch ihre militärischen Siege außerhalb. Stéphane Courtois unterstreicht deshalb auch die radikale Veränderung der politischen Rolle des PCF während des Jahres 1943.

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In diesem Herbst 1943, als der Widerstand in Frankreich zu einer einflussreichen Kraft geworden war, der die Bevölkerung auch zu folgen bereit war, erschien der PCF in all seiner wiedergewonnenen Macht als die große patriotische Partei und zugleich Freund jener Sowjetunion, die Hitler im Osten den Garaus machte. (Courtois 1980, 399) Vor dem Hintergrund des sich für sie günstig entwickelnden internationalen Kontexts wussten die Kommunisten ihren Vorteil aus der besonders harten Repression zu ziehen, der sie zum Opfer fielen. Wie auch Jean-Pierre Azéma hervorhebt, waren nicht alle Geiseln Kommunisten. Doch der PCF ließ sich als »parti des fusillés« (Partei der Hingerichteten) bezeichnen, da seine Führung das Interesse hatte, sich die Sympathie nicht entgehen zu lassen, die im Allgemeinen denen entgegengebracht wird, die ihr Leben für eine bestimmte Sache hergeben. Sicher wurden die Kommunisten außerordentlich stark verfolgt. Schon vor 1939 hatten politische Faktoren dazu geführt, dass sie in Frankreich zum »Staatsfeind Nr. 1« erklärt worden waren – und das galt um so mehr nach der Bildung der Vichy-Regierung. Doch ab dem Sommer 1941 kann man sagen, dass es die Kommunisten selbst waren, die mit ihrer Taktik der individuellen Attentate ihre eigene Unterdrückung verschärften. In dem Maße, wie die Wirkung dieser Taktik zweifelhaft bleibt, liegt ihre eigentliche Rechtfertigung weniger darin, mit ihren Opfern der französischen Gesellschaft gedient zu haben, sondern der kommunistischen Partei. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, daß der PCF vor allem nach dem Krieg sein Ansehen als aktivste Widerstandsorga­ nisation viel weniger aufgrund seiner tatsächlichen Erfolge errang als aufgrund der Repression, der seine Mitglieder zum Opfer gefallen waren. Unter bestimmten Bedingungen scheint es möglich zu sein, aus einer objektiven militärischen Unterlegenheit dennoch politische Vorteile zu ziehen.

Die eingedämmte Repression Die Diskussion über die kommunistische Strategie berührt einen Punkt, den man leicht zu vergessen geneigt ist: Man darf den repressiven Faktor niemals abstrakt für sich betrachten, denn seine Intensität unterliegt veränderlichen taktischen und strategischen Gegebenheiten. Repression ist keine Grundkonstante. Sie resultiert vielmehr aus einer Reihe von Elementen, die man grob in drei Typen unterteilen kann: in solche, die 168

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von der Besatzungspolitik abhängen (je nach ihren strategischen Zielen und der Art des Besatzungsregimes); in solche, die von der Haltung der Besetzten (allgemeines Verhalten der Bevölkerung und eventuelle Widerstandsformen) abhängen, und schließlich in solche, die von dem Einfluss »Dritter« abhängen, die zum Teil das Verhältnis Besatzer-Besetzte be­ einflussen können (moralische, nationale oder internationale Autoritäten oder mit dem Besatzer verbündete Staaten). Die Verknüpfung all dieser oft sehr komplexen Variablen ergibt im Einzelfall sehr verschiedene ­konkrete historische Situationen. In Anbetracht der Komplexität der aufgeführten Faktoren, die die jeweils infrage kommenden Parteien beeinflussen können, erscheint die Idee, dass der zivile Widerstand nur gegenüber einem Gegner möglich sei, der moralisch genug wäre, die Repression von sich aus zurück­ zunehmen, ausgesprochen vereinfachend. Es dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass die Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie frei von moralischen Skrupeln waren; und dennoch variierte die Stärke ihrer Repression von einem Land zum anderen, von einer Bevölkerungsgruppe zur nächsten und von Jahr zu Jahr ganz erheblich. Sicher spielten hier ihre rassischen Vorstellungen eine wichtige Rolle. Die Slawen wurden sehr viel stärker unterdrückt als die Skandinavier. Hitler hegte, wie bekannt, die Hoffnung, dass die Letztgenannten die nationalsozialistische Ideologie übernehmen würden. So musste er sich ihnen gegenüber zurückhalten: Ein Tyrann kann das Volk, das er erziehen will, nicht eliminieren. Doch man darf ebensowenig vergessen, dass die strategischen Ziele bezüglich der besetzten Länder ebenso wie die Reaktion der Bevölkerung auf diese Besatzung die Repression gleichermaßen beeinflussten. Es ist daher von Interesse, jene Faktoren zu untersuchen, die nicht, wie die individuellen Attentate, dazu beitrugen, die Repression zu verschärfen, sondern, im Gegenteil, diese einzudämmen. Zuvor jedoch ist es wichtig, die Unterschiede in der deutschen Besatzungspolitik gegenüber den Völkern West- und Osteuropas unabhängig von den rassischen Schlagworten zu begreifen. In allen Bereichen hatten die westeuropäischen Gesellschaften 1939 ein höheres Entwicklungs­ niveau als die osteuropäischen erreicht. Der wirtschaftliche Wohlstand und das technologische Know-how in Ländern wie Frankreich, Belgien und den Niederlanden stellten beachtliche Trümpfe für einen militärischen Sieg in der Hand der Deutschen dar. Sie konnten dort spezialisierte Arbeiter und Techniker aus den verschiedensten Bereichen abziehen und für sich arbeiten lassen, die sie woanders nicht oder zumindest nicht so zahlreich gefunden hätten. Das Ziel, diese Ausbeutung so effektiv wie 169

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möglich zu gestalten, war ein Hauptfaktor für eine Mäßigung der Repres­sion. Dies bestätigt General Reeder, der Verantwortliche der belgischen Verwaltung, in einem an Berlin gerichteten Bericht: »Selbst wenn es möglich ist, einen Arbeiter dazu zu zwingen, an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen, so ist es doch nicht möglich, daraus gegen seinen Willen eine hohe Produktivität zu ziehen.« (zit. n. Gérard-Libois / Gotovitch 1976, 381) Dieses hohe Niveau der ökonomischen Entwicklung ging zugleich mit einer komplexen sozialen Verflechtung einher. Das reibungslose Funktio­ nieren der staatlichen Behörden, vom Ministerium bis zur Kommunalverwaltung, erforderte die Unterstützung durch kompetente Mitarbeiter, über die der Besatzer kaum verfügte. Da dessen Interesse darin lag, dass die Gesellschaft weiterhin »funktionierte«, dass, kurz gesagt, das Leben weiterging, musste er auch aus diesem Grund mit seiner Repression Maß halten. Die öffentliche Meinung sollte eingeschüchtert werden, ohne gleichwohl durch eine zu brutale Haltung wirklich gebrochen zu werden. Aus diesem Grund, das sei nebenbei bemerkt, paste die staatliche Zusammenarbeit, auch wenn sie von Berlin so nicht geplant worden war, bestens zu den Zielen Deutschlands in Westeuropa. Die staatliche Zusammenarbeit war das beste Mittel, um jenen minimalen Zusammenhalt innerhalb der besetzten Länder aufrechtzuerhalten, ohne den die Ausbeutung ihres ökonomischen Reichtums und ihrer menschlichen Ressourcen kaum mehr effektiv gewesen wäre. Ganz anders sah das deutsche Verhalten gegenüber Osteuropa aus. Dort sah Hitler nur den »Lebensraum« für sein Volk, und die slawischen Bevölkerungen stellten nichts anderes als »Hindernisse« auf dem Weg zur Durchführung dieses Projekts dar. Die in Polen bzw. in der Sowjetunion angewandte Repressionspolitik unterlag dort prinzipiell keiner Zurückhaltung. Ganz im Gegenteil bestand die Maßgabe darin, diese »Untermenschen« zu eliminieren oder sie zumindest zu versklaven. Es war Platz zu schaffen für die Ankunft deutscher Siedler. Aus dieser Logik heraus war eine Zusammenarbeit für den Besatzer ohne Interesse, da er einen größeren Vorteil darin sah, die neuen »Kolonialgebiete« selbst zu ver­ walten. Um also die Repression richtig einschätzen zu können, gilt es, die gesamten Rahmenbedingungen ins Auge zu fassen. So bestimmt sich das allgemeine Niveau der Repressionspolitik hauptsächlich durch die Ziele des Besatzers gegenüber dem Besetzten, d. h. sie hängt von den Erwartungen des Besatzers gegenüber dem Besetzten ab. Je mehr der Besatzer der Meinung ist, dass der Besetzte ihm in irgendeiner Weise nützlich sein 170

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kann, desto größer ist sein Interesse daran, diesen zu schonen. Damit ist umgekehrt die Abhängigkeit des Besatzers vom Besetzten ebenfalls ein Faktor zur Eindämmung der Repression. Nicht nur die Ziele des Besatzers variieren mit den politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen der besetzten Länder, sondern auch die Art der Repressionspolitik variiert je nach den Zielen der Besatzer. Diese ursprünglichen Ziele geben sozusagen die Grundkonstanten vor, aus denen sich das mittlere Repressionsniveau einer bestimmten besetzten Gesellschaft ergibt. Dieses Repressionsniveau resultiert aus einem vorgegebenen Kalkül des Besatzers. Doch auch diese Repressionspolitik ist im konkreten Kontakt mit den Bevölkerungen Schwankungen unterworfen, je nachdem, wie sich das Verhältnis Besatzer-Besetzte ent­wickelt. Okkupation und Repression gehören zusammen. Es gibt keine Besatzungsmacht, die nicht darauf vorbereitet wäre, eventuelle Widerstandsbewegungen niederzuschlagen – und jede Widerstandsbewegung muss damit rechnen, unterstützt zu werden. Wie bereits gesagt, hat jeder Wider­stand seinen – menschlichen – Preis. Man wird sich wohl darauf einigen können, dass der beste Widerstand derjenige ist, der ein Maximum an Erfolg bei einem Minimum an Verlusten erlaubt. In Bezug auf die Repression heißt das, dass dem Besatzer ein Höchstmaß an Schaden zuzufügen ist, ohne die Repression gleichermaßen zu nähren. Mit an­ deren Worten gilt es, möglichst wenig aufs Spiel zu setzen und dabei gleichzeitig unerschütterlich an den Zielen des Widerstands festzuhalten. Diesen Gedanken zu verfolgen heißt, nichtprovokanten Widerstandsstrategien nachzuspüren, also dem genauen Gegenteil der individuellen Attentate. Aus der Untersuchung der nationalsozialistischen Besatzungszeit geht hervor, dass die dem zivilen Widerstand zur Verfügung stehenden Mittel durchaus zur Entwicklung einer solchen Strategie ausreichen. Auch wenn solche Aktionen manchmal brutal niedergeschlagen wurden, wie zum Beispiel die spontanen Streiks, so muss man dies doch in ein rechtes Verhältnis zu den anderen Oppositionsformen setzen. Die vorliegende Untersuchung geht davon aus, dass die Aktionsformen des zivilen Widerstands eine schwächere Repression als die der Guerilla hervorriefen. Wenn der Streik auch Opfer forderte, scheint er dies doch in geringerem Ausmaß getan zu haben als die Vergeltungsmaßnahmen, die auf Sabotageakte oder auf Anschläge gegen deutsche Armeeangehörige folgten. Mit Henri Michel möchte ich die These vertreten, dass eine Demonstration weniger Repressionsmaßnahmen mit sich brachte als ein Streik, ein Streik weniger als ein Sabotageakt und dieser wiederum we­ niger als die individuellen Attentate.5 171

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Nun könnte man vermuten, daß dieser Umstand mit der – gemessen an der Guerilla – geringeren Wirkung der zivilen Widerstandsaktionen zu begründen sei. Denn von den grundlegenden Interessen des Besatzers her betrachtet, hat eine Demonstration eher symbolischen Charakter und ist daher auch weniger wichtig als zum Beispiel ein Bombenattentat auf die eigenen Truppen. Eine Demonstration konnte er im Zweifelsfall durchgehen lassen, auf Bombenattentate aber musste er unbedingt ­reagieren. In diesem zweiten Fall konnte er gar nicht anders, als mit fürchter­licher Repression zu antworten. Diese zweifellos überzeugende Überlegung darf jedoch andere, vielleicht weniger augenfällige Erklärungsansätze nicht verdecken, da sie möglicherweise der Wahrheit näherkommen könne. Sicherlich liegt ein Grund für die geringe vom zivilen Widerstand herausgeforderte Repression in dem nichtprovokanten Charakter seiner Aktionsmittel begründet. Vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, erscheint der zivile Wider­stand nicht lebensbedrohlich, da er, per definitionem, auf den bewaffneten Kampf verzichtet. Die simple Tatsache, dass niemand ­physisch gefährdet ist, trägt in hohem Maße zum Abbau der Repression bei. Bekannter­maßen ruft Gewalt Gegengewalt – und Provokation Repression hervor. Soziologisch betrachtet ist diese »Spirale« wechselseitiger Gewalt nur zu durchbrechen, indem einer der beiden Gegner nicht oder nicht mehr auf den bewaffneten Kampf zurückgreift. Schließlich braucht Gewalt, wie dies auch René Girard zeigt, immer eine Rechtfertigung:6 Sie braucht einen Vorwand. Vom politischen Standpunkt aus betrachtet, nimmt der Verzicht auf den bewaffneten Kampf dem Besatzer das notwendige Argu­ment, um die Repression zu rechtfertigen. Auf bauend auf diesem dreifachen Erklärungsansatz lässt sich die These aufstellen, dass paradoxerweise gerade der unbewaffnete Kampf weniger Ansatzpunkte zur Repression bietet oder – zumindest – ihre Umsetzung beeinträchtigen kann. In diesem Zusammenhang ist die Ansicht Basil Liddell Harts außer­ ordentlich erhellend. Er hatte die Möglichkeit, nach dem Krieg deutsche Generäle während ihrer Gefangenschaft in Großbritannien zu ihrer Meinung über die verschiedensten Widerstandsformen, denen sie begegneten, zu befragen. Er schreibt dazu: Die Erklärungen dieser Generäle reflektierten die Effizienz des un­ bewaffneten Widerstands. […] Ihren eigenen Angaben zufolge sahen sie sich außerstande, dem zu begegnen. Sie waren Experten der Gewalt und für die Konfrontation mit der Gewalt ausgebildet. Andere 172

Die eingedämmte Repression

formen brachten sie aus dem Gleichgewicht – und dies um so mehr, je subtiler und verdeckter die angewandten Mittel waren. Sie waren geradezu erleichtert, wenn der Widerstand Gewalt anzuwenden begann und wenn zu den gewaltfreien Methoden Guerillaaktionen hinzukamen. Denn es war ungleich einfacher, schwere Repressionsmaßnahmen gegen die beiden letztgenannten Widerstandsformen durchzusetzen. (Liddell Hart 1969, 205) Dieser Kommentar eines der größten Militärhistoriker seiner Zeit kann von denen, die die verschiedenen Widerstandsformen gegen die deutsche Okkupation in ihrer ganzen Tiefe und Dynamik zu ergründen suchen, nicht unbeachtet bleiben. Dabei gilt es zu unterstreichen, dass Liddell Hart gewiss kein bedingungsloser Verfechter des zivilen Widerstands ist. In derselben Passage spricht er davon, dass in bergigen Regionen wie im Balkan die Guerilla angemessener und auch wirkungsvoller gewesen sei. Doch zumindest an einen wichtigen Trumpf des zivilen Widerstands erinnert er: Die Repression gegen ihn kann sich nicht aus sich selbst heraus begründen. Die Beobachtung Liddell Harts lässt sich darüber hinaus auch durch die Untersuchung der Konsequenzen bestätigen, die die Entwicklung des zivilen Widerstands auf die allgemeine Dynamik der Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten hatte. Diesbezüglich darf nicht vernachlässigt werden, daß die Repression in der Öffentlichkeit zum Teil beträchtliche Emotionen auslöste. So schreibt Pierre Laborie dem ersten von der Gestapo im Departement Lot begangenen Mord an einem Wider­standskämpfer große Bedeutung zu. Dessen Beisetzung am 2. Dezember 1943 in Cahors führte zu einer bemerkenswerten antideutschen Demonstration, zu der mehrere Tausend Menschen aus dem gesamten Departement erschienen waren. An diesem Tag, so schätzen die Sicherheitskräfte, nehmen 7000 Personen (5000 Männer und 2000 Frauen) an dem Trauerzug teil, ohne die enorme Menschenmenge zu berücksich­tigen, die den Weg umsäumt und in eindrucksvoller Stille anwächst. Alle Läden der Stadt sind geschlossen, die deutschen Truppen haben Aus­gehverbot, Soldaten und andere zeigen sich nicht. Gerüchte deuten darauf hin, dass die Führer des Widerstands anwesend sind, gedeckt von der Menge und von ihren Männern geschützt. (Laborie 1980, 298) Zahlreiche vergleichende Studien bestätigen den Eindruck, dass die Repression gegen diejenigen, die Widerstand ohne Waffen leisten, die 173

Der zivile Widerstand und die Repression

ö­ ffentliche Meinung sehr viel stärker aufwühlt als die Repression gegen diejenigen, die bewaffneten Widerstand leisten. Denn dem bewaffneten Widerkann kann die Macht die Schuld an seinen Opfern immer selbst zuschreiben – eben weil dieser auch selbst Gewalt angewendet hat. Hinzu kommt, dass in diesem Falle die Bevölkerung gegenüber der Repres­ sion in Fatalismus verfällt: »Im Krieg verteilt jeder Schläge und weiß, dass auch er welche einzustecken hat.« In den Fällen jedoch, wo sich die Repression gegen unbewaffnete Widerstandskämpfer richtet oder gar gegen Personen, die nicht einmal selbst in oppositionelle Aktivitäten eingebunden sind, wird die Recht­ fertigung der Repression um so schwieriger. Gleichwohl ist sie möglich: Die Geschichte kennt Beispiele für Polizei- oder Militäraktionen, die aus politischen, gewerkschaftlichen oder religiösen Gründen gegen un­ bewaffnete Individuen oder entwaffnete Gruppen durchgeführt worden sind. Ohne die vorherige Zustimmung der Öffentlichkeit scheint Repression jedoch weniger leicht in die Tat umzusetzen zu sein, da es dann ungleich schwieriger ist, sie davon zu überzeugen, dass den Opfern ledig­ lich »Recht geschehe«. Die Repression wird dann zu einem »rohen Akt«, der sich hinter keinem Argument der Rechtfertigung verstecken kann. Die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen einer Sympathiebewegung in der öffentlichen Meinung für die Opfer ist aus diesem Grunde sehr viel größer als im Falle des bewaffneten Kampfes. Erneut wird die herausragende Rolle des Faktors »öffentliche ­Meinung« für das Entstehen von Repression und den Grad ihrer Intensität deutlich. Repression lässt sich niemals nur auf die Beziehung zwischen dem Verfolger und seinen potenziellen Opfern begrenzen. Sie ist nie frei von Zeugen. Selbst im Geheimen ausgeführt, wird sie letzten Endes bekannt. So kann man sagen, dass zur Repression immer drei gehören: der Verfolger, die potenziellen Opfer und die öffentliche Meinung. Im All­ gemeinen geht man davon aus, dass die Repression das Ziel hat, die ­öffentliche Meinung ausreichend einzuschüchtern, um jeglichen Widerstand zu zerstreuen. Man kann daher nicht häufig genug darauf hin­ weisen, dass auch die ­ öffentliche Meinung großen Einfluss auf die ­Repression hat. Wenn die öffentliche Meinung die Repression für begründet ansieht – und damit akzeptiert –, wird die Repression um so härter sein. Wenn die öffentliche Meinung dagegen zögert – d. h. gegen die Repression protestiert –, wird diese noch moderater ausfallen oder gar aus­gesetzt werden. Der »Zeuge« kann daher als ein Regulator der Repression angesehen werden. 174

Die eingedämmte Repression

Unter bestimmten Bedingungen kann dieser »Zeuge« durch die Mobi­ lisierung gesellschaftlicher Institutionen offen Stellung für die Opfer beziehen. Insofern diese Institutionen nicht direkt in den Konflikt eingebunden sind, können sie eine Vermittlerrolle übernehmen. Ihre Intervention gegenüber der Obrigkeit wirkt, vor allem wenn sie offen stattfindet, repressionshemmend. Die »Zeugnis«-Funktion der Institutionen kann jedoch nur dann wirkungsvoll sein, wenn die Institutionen für die Verfolger auch eine ernst zu nehmende Bedeutung haben. Mit anderen Worten: Sie werden die Repression nur dann zurücknehmen, wenn sie auf die betreffenden Institutionen angewiesen sind. Während der nationalsozialistischen Besatzung nahmen die christlichen Kirchen oftmals diese Rolle ein. Eingedenk ihres Einflusses auf die Bewusstseinslage der Bevölkerung wusste der Besatzer, dass er mit den religiösen Autoritäten rechen mußte. Der hohe Klerus fand daher zu verschiedenen Gelegenheiten Gehör für seine Proteste gegen die vom Besatzer oder seinen Helfershelfern durchgeführte Repression. Ein weiterer möglicher Effekt der Mobilisierung der öffentlichen Meinung gegen die Repression der als »unschuldig« angesehenen Opfer ist, dass damit kurzfristig der politische Konsens des Verfolgers unter­ graben wird. Jede Macht trägt in sich die inneren Widersprüche jener Kräfte, aus denen sie sich zusammensetzt. Auch der nationalsozialistische Staat besaß seine spezifischen Widersprüche, die immer wieder in Machtproben zwischen den Angehörigen der Regierung und der Ministerien, den Ansprüchen der Wehrmacht und jenen der Gestapo aufflammten. Durch den Krieg werden solche Widersprüche eingeebnet, da zur Erreichung des visionären Endsieges alle Kräfte zusammen­genommen werden müssen. Der bewaffnete Widerstand ist ebenfalls dazu geeignet, diese Einheit zu verstärken, da der Besatzer gegen ihn die Reihen fest schließen muss, um der Bedrohung begegnen zu können. Der zivile Wider­stand dagegen arbeitet diesem Reflex entgegen, indem er die latenten Widersprüche im Lager des Gegners an die Oberfläche trägt. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Bormann und Goebbels – bezüglich der Proteste der katholischen Bischöfe gegen die »Euthanasie« – oder diejenigen zwischen Terboven und Quisling – bezüglich der Aktionen der norwegischen Lehrer – können dies belegen. Oft glaubt man, dass ein grausames Regime keine Wahl in den Widerstandsformen läßt, sodass allein der bewaffnete Widerstand übrig bleibt. Die »weichen« Widerstandsformen würden nur gegen Regimes taugen, die auch selbst eine gewisse »Weichheit« an den Tag legten, und könnten von daher nicht gegen reine »Brutalitätsregimes« angewandt werden. 175

Der zivile Widerstand und die Repression

Dieses sehr statische Verständnis vernachlässigt den durchaus interaktionären Charakter von Repression und Widerstand. Die Repression radikalisiert zwar die Widerstandsformen, doch auch diese tragen umgekehrt mit dazu bei, die Repression zu intensivieren oder abzuwenden. Vor dem Hintergrund dieses »Feedbacks« zwischen Widerstand und Repression hat Gene Sharp eine auf systematischer Anwendung gewaltfreier Aktionsmittel auf bauende strategische Gesamtkonzeption vor­ geschlagen. Ausgehend von der Annahme, dass der Gegner nun einmal über die Waffengewalt verfüge, besteht Sharps Grundprinzip darin, jeglicher Konfrontation auf diesem Terrain bewusst aus dem Weg zu gehen. Statt dessen gelte es, die Fehler des Gegners auszunutzen, indem zum Beispiel auf den emotionalen Schock gesetzt wird, der in der Öffent­lichkeit durch schwer zu rechtfertigende Repressionsmaßnahmen ausgelöst werden kann. Die fortschreitende Mobilisierung der Gesellschaft, wie sie sich daraus ergeben kann, erlaube sodann, diesen Konflikt auf die politische Ebene zu heben, wo die zivilen Gesellschaften einen starken Trumpf vorzuweisen haben: die Macht der Menge gegenüber der Minderheit jener, die über die Waffengewalt verfügen. Eine solche ­Strategie beruht somit gerade auf dem Ungleichgewicht der vorhandenen Aktionsmittel. Die Auswirkungen der Repression nehmen hier eine zentrale und treibende Rolle ein, bis diese sich gegen ihren eigentlichen Verursacher zu wenden beginnen. Schließlich verfolgt diese Strategie das Ziel, dem Gegner die Maske zu entreißen und ihn damit aus dem Gleichgewicht zu bringen. In diesem Bild verbleibend benutzte Gene Sharp für seine Konzeption auch den Begriff des »politischen Jiu-Jitsu«.7

Weitere Faktoren der Verwundbarkeit Aus dem Vorangegangenen geht hervor, dass die physische Repression nicht notwendigerweise der Faktor ist, der den zivilen Widerstand am stärksten beeinträchtigen kann. Der dramatische Charakter der physischen Repression trägt im Algemeinen dazu bei, ihre Wirkung zu überschätzen, obwohl gerade der emotionale Schock, den sie oftmals in der Bevölkerung auslöst, dem Widerstand neue Kräfte zuführen kann. Sie kann daher keineswegs als die »absolute Waffe« gegen jeglichen zivilen Widerstand verstanden werden. Andererseits darf natürlich ihre Wirkung auch nicht unterschätzt werden. Stattdessen gilt es, die Bedeutung der Repression für die Beeinträchtigung des zivilen Widerstands im 176

Weitere Faktoren der Ver wundbarkeit

Zusammenhang mit weiteren Faktoren zu sehen, um die ganze Kom­ plexität der Verwundbarkeit des Widerstands erfassen zu können. Große Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der ökonomischen Repression zu, die in vieler Hinsicht grausame Formen annehmen kann. Sie kann Streiks beenden, indem die Zahlung von Gehältern unter­bunden wird oder bestimmte Personen entlassen werden. Oder es wird versucht, die Versorgung der Bevölkerung zu beeinträchtigen und damit die allgemeine Widerstandsbereitschaft zu untergraben. Diese schleichende und weniger spektakuläre Repressionsform legt es darauf an, die Zivilbevölkerung zu erschöpfen. Dazu reicht in vielen Fällen die Drohung, den Arbeitsplatz zu verlieren. Auguste Lecœur berichtet, dass während des großen Streiks der Bergleute von Nord-Pas-de-Calais die Direktion der Houillères beschloss, die Zahlung der Löhne auszusetzen. Daraufhin wurde der Streik nur noch in der Region von »Ligny-les-Aires fortgesetzt, im äußersten Westen des Kohlenbeckens: dort, wo die Bergleute zwischen Minen und Feldern lebten und bessere Möglichkeiten hatten, sich selbst zu versorgen«. (Lecœur 1971, 72) Ohne ökonomische Ressourcen kann es keinen langanhaltenden zivilen Widerstand geben. Eine vom Besatzer organisierte systematische ökonomische Verknappung fördert die Konkurrenz unter den Individuen, die eine beträcht­ liche Energie – und Zeit – für ihre Versorgung aufzuwenden haben. Es entstehen dann die bekannten parallelen Formen der Versorgung, die oft von verschiedenen Formen der Korruption begleitet werden. Wenn sich jeder »auf eigene Faust« durchschlagen muss, ist das definitionsgemäß nachteilig für die Entstehung kollektiver Widerstandspraktiken – und dies um so nachhaltiger, als es zur physischen Erschöpfung der Bevölkerung führt. Alles hängt also davon ab, wie der Besatzer die verschiedenen Repressions­ mittel zur Erlangung seiner Ziele einsetzt. Mehr noch als der isoliert betrachtete Faktor Repression ist es daher die allgemeine Konzeption seiner Besatzungspolitik, die die Form des wirkungsvollsten Widerstands bestimmt. In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten von Jan Gross über die verschiedenen zwischen 1939 und 1940 von Deutschland und der UdSSR in Polen eingesetzten Besatzungsregimes außergewöhnlich lehrreich. (Gross 1979; s. auch Gross 1987) Einer der wichtigsten Punkte des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes war bekanntermaßen die Teilung Polens. In den beiden daraufhin eingerichteten Besatzungszonen entwickelten Deutsche und Sowjets eine sehr unterschiedliche Besatzungs­ politik, die dementsprechend auch unterschiedliche Reaktionen in den betroffenen Bevölkerungsteilen hervorriefen. 177

Der zivile Widerstand und die Repression

Auf dem Gebiet des deutschen Generalgouvernements hatte der Besatzer kein anderes Projekt als den Terror. Auch »die Bevölkerung begriff ihre Lage rasch: Ob man nun versuchte, den Anforderungen der Besatzer zu entsprechen oder nicht, der Gewalt war man allemal ausgesetzt«. (Gross 1979 212) Jan Gross entwickelt hier interessante Überlegungen über den Zusammenhang von Terror und Gehorsam. Seiner Darstellung nach kann keine Macht den Gehorsam einer Bevölkerung allein durch Sanktionen erzwingen. Damit Individuen bereit sind zu gehorchen, müssen sie auch einen Vorteil darin erblicken. Die Macht muss daher die erwartete Haltung positiv unterstützen. In der Erziehung wie in der Politik besteht Gehorsam aus dem Erlernen eines bestimmten Codes, der durch negative und positive Sanktionen definiert wird. Da die Deutschen offenbar keine besonderen Interessen gegenüber den Polen hatten, konnten diese kaum eine Kompensation für ihren Gehorsam erhalten. Unter der nationalsozialistischen Knute wurde sich die Bevölkerung recht schnell bewusst, dass der Terror unterschiedslos gegen alle gerichtet war. Dem »Gesetz« des Besatzers zu gehorchen, barg keinen Vorteil: Man blieb der angerichteten Repressionspolitik gleichermaßen ausgesetzt. Mit anderen Worten: Das Risiko, aufseiten des Widerstandes zu stehen, war auch nicht größer, als nicht dort zu stehen. Möglicherweise liegt also gerade darin einer der Gründe für den Massencharakter des polnischen Widerstands. Auch die Entwicklung des Unterrichtswesens im Untergrund, das nach 1941 ein beachtliches Ausmaß annahm, muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Es stellt sich allerdings die Frage, warum der Besatzer diese Widerstandsform niemals unterdrücken konnte, wo doch eines seiner erklärten Ziele darin bestand, jegliche Form polnischer Kultur zu zerstören. Ohne Zweifel versuchte er dies mit den Massen­ festnahmen zu erreichen, die Intellektuelle aller Berufszweige betraf. Eine dieser Festnahmen galt den Professoren der Krakauer Universität. Sie rief sofort internationale Proteste hervor, mit dem Erfolg, dass die Mehrzahl der Festgenommenen im Frühjahr 1940 wieder freigelassen wurde. Doch seit dem Frankreichfeldzug, als sich die deutsche Herrschaft über ganz Europa auszubreiten begann, konzentrierte sich die ­öffentliche Aufmerksamkeit nicht mehr auf Polen. Wenn also das Unterrichtswesen im Unter­grund trotzdem nicht unterdrückt werden konnte, so ist dies vor allem den Kräften zu danken, die die polnische Gesellschaft aus sich selbst heraus mobilisieren konnte. Die Betrachtung dieses Sachverhalts gibt Anlass zu der Frage, ob die Unfähigkeit des Besatzers, den Geheimunterricht wirksam zu 178

Weitere Faktoren der Ver wundbarkeit

fen, nicht hauptsächlich eine Frage des Kräfteverhältnisses war. Einerseits war die Bewegung zahlenmäßig zu stark, um wirksam unterdrückt werden zu können, andererseits wussten die Deutschen nur selten, wo die Geheim­ kurse, die sogenannten komplety, stattfanden. Dass der Besatzer in einer solchen Unwissenheit gehalten werden konnte, liegt vor allem daran, daß es zu wenig Hinweise gab, aufgrund deren er die Veranstaltungsorte und Unterrichtszeiten hätte herausfinden können – mit dem Erfolg, dass diese unter relativ guten Sicherheitsbedingungen abgehalten werden konnten. Die Politik des Besatzers führte so offensichtlich zu dem Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte. Anstatt die polnische Gesellschaft zu zersetzen, förderte sie ihren Zusammenhalt und schuf dadurch die Voraussetzungen für eine massenhafte Verweigerung der Zusammenarbeit. Es gibt mit Sicherheit eine Schwelle, ab der eine zivile Massenbewegung nicht mehr zu unterdrücken ist. Die Repression, die der Abschreckung von Widerstand dienen soll, wird dann vor dem zu stark gewordenen Widerstand schließlich selbst zurückschrecken. Um dem entgegenzuwirken, wäre es zum einen nötig gewesen, dass die Deutschen sich die Hilfe von Kollaborateuren zunutze gemacht hätten – was sie jedoch ausdrücklich ablehnten –, zum anderen aber, dass die Repression weniger hart gewesen wäre. Diesbezüglich erwies sich die sowjetische Okkupationspolitik in den östlichen Teilen des Polens von 1939 (Teile der heutigen Ukraine, Weißrusslands und Litauens) als sehr viel effizienter. Ohne Zweifel trugen die Erfahrungen, die die sowjetische Führung seit 1917 in der Kontrolle anderer Volksgruppen erworben hatte, hier ihre Früchte. Bereits vor dem Krieg hatte es in diesem Teil Europas heftige Spannungen zwischen Polen, Ukrainern, Weißrussen und Juden gegeben. Die sowjetische Strategie bestand nun darin, einerseits die Bevölkerungen zur Zusammenarbeit zu ermuntern, andererseits aber gleichzeitig ihre inneren Spaltungen zu vertiefen. So führten die Sowjets, kaum dass sie im Oktober 1939 das Land ­besetzt hatten, »Wahlen« durch, die kein anderes Ziel verfolgten, als die Volksgruppen in das neue Regime einzubinden. Des Weiteren gaben sie einigen nationalen Forderungen der Ukrainer nach, insbesondere auf dem Gebiet der Erziehung, und malten den Bauern die Möglichkeit einer Agrarreform in den schillerndsten Farben aus. Indem sie auf deren Forderungen einzugehen schienen, gelang es den Sowjets, in verschiedenen Gruppen von Anfang an eine gewisse Hoffnung hervor­zurufen. Sie schufen sich damit innerhalb der Gesellschaft verschiedene Stützen, die zugleich die Bildung von Widerstandsbewegungen behinderten. 179

Der zivile Widerstand und die Repression

Zur selben Zeit war die sowjetische Besatzung darum bemüht, die Konflikte zwischen den einzelnen Gemeinschaften anzustacheln, die häufig in persönlichen oder nachbarlichen Querelen zum Ausdruck ­kamen. Jan Gross berichtet, dass es die Sowjets verstanden, diese Animositäten so geschickt auszunutzen, dass schließlich jeder bereit war, jeden zu denunzieren. Sie errichteten also ein von außen kommendes, »revo­ lutionäres« Gesellschaftssystem installiert, das in der Hauptsache auf ­Denunziation beruhte. In diesem Zusammenhang schlägt Jan Gross eine bemerkenswerte Interpretation des stalinistischen Totalitarismus vor. Seiner Ansicht nach ist der politische Terror des totalitären Staates ineffizient, solange er der Gesellschaft nur »äußerlich« bleibt. Erst wenn er von den Einzelnen selbst umgesetzt wird, beginnt er seine Wirkung auf die zu terrorisierende Gesellschaft auszuüben. Der stalinistische Totalitarismus verstand es, den Einzelnen für die Regelung ihrer privaten Querelen den Staat zur Ver­ fügung zu stellen, mit dem Erfolg, dass eine permanente Atomisierung der Individuen existierte. »Die Vorstellung, die stalinistische Macht ruhe auf einer gigantischen zentralisierten bürokratischen Maschine, irrt. Ihre Kraft stammt aus einer Unzahl kleiner, individueller und spontaner Beiträge.« (Gross 1979, 232) Die tatsächliche Macht des totalitären Staates beruht darauf, dass jeder die Polizei rufen kann, um Druck auf seinen Nachbarn auszuüben. Daraus entsteht eine »Privatisierung« des Staates, deren entscheidende Konsequenz im Auseinanderbrechen der betreffenden Gesellschaft besteht. In diesem Klima allgemeiner Verdächtigungen gelang es den Sowjets, jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken. Die Bewegung des Geheim­ unterrichts war hier bemerkenswerterweise völlig unbedeutend. Zusätzlich wurden seit dem Februar 1940 Massendeportationen in die Sow­ jetunion durchgeführt und Gefangene kollektiv exekutiert; wie zum Beispiel im Wald von Katyn, wo – wahrscheinlich im April 1940 – ­polnische Offiziere ermordet wurden. Obwohl dies einen beachtlichen Schock auslöste, war die Bevölkerung in sich schon zu gespalten, um wirkungsvoll auf diese völlig unvorhergesehene Katastrophe reagieren zu können. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Die sowjetische Repression war, in einer völlig atomisierten Gesellschaft, weitaus wirkungsvoller als die deutsche. Was die Zahl der Opfer betrifft, so lebten damals etwa 23 Millionen Einwohner unter deutscher und 13 Millionen unter sow­ jetischer Kontrolle. Nach den Angaben von Jan Gross forderte die ­deutsche Besatzung bis zum Juni 1941 etwa 120.000 Opfer, wozu auch jene Personen vor allem jüdischen Glaubens gehören, die während der 180

Weitere Faktoren der Ver wundbarkeit

Deporta­tionen umkamen. Die sowjetische Besatzung dagegen brachte es auf 300.000 Opfer, ob Polen, Juden, Ukrainer oder Weißrussen – bei einer Bevölkerung, die kaum mehr als halb so groß war wie die im deutschen Teil. Die Unterschiede zwischen den beiden zur gleichen Zeit in Polen herrschenden Besatzungssystemen sind natürlich nur mit großer Vorsicht zu bewerten. Die beiden Regionen hatten nicht den gleichen historischen Hintergrund, und der östliche Teil besaß von sich aus bereits eine sehr heterogene soziale Zusammensetzung. Zum anderen herrschte auf deutscher Serie eine Unentschlossenheit, wie es sie auf sowjetischer Seite niemals gab. Berlin verfolgte in Polen einige präzise Ziele: die Vernichtung der Juden und der Intelligenz sowie die Ausbeutung der Polen als billige Hilfsarbeitskräfte. Doch was den Status der polnischen Gebiete angeht, lag alles im Ungewissen, und so traten in der politischen Praxis immer wieder Widersprüche auf. Moskau dagegen hatte eine erheblich präzisere Vorstellung von der »Sowjetisierung« der Region. Der direkte Vergleich der deutschen und der sowjetischen Vorgehensweise zeigt jedoch, daß die Repressionspolitik einer Besatzungsmacht nur dann wirklich effizient ist, wenn sie die besetzte Gesellschaft zu atomisieren versteht und zur Zusammenarbeit zu verleiten weiß. Zusammenarbeit und soziale Atomisierung scheinen dem Widerstand daher größeren Schaden zufügen zu können als die Repression selbst. Eine Gesellschaft, die über starken sozialen Zusammenhalt verfügt, kann möglicherweise selbst einer heftigen Repression widerstehen. Eine atomisierte, zusätzlich noch durch Zusammenarbeit geschwächte Gesellschaft dagegen wird keinen Massenwiderstand auf bieten können. Selbst wenn der durch die Repression ausgelöste emotionale Schock die Bedingungen für eine Verweigerung der Zusammenarbeit schaffen könnte, wird die soziale Atomisierung in Verbindung mit der schleichenden Wirkung der Zusammenarbeit jegliche Widerstandsdynamik verhindern. Die Frage, ob an der Spitze /  oder an der Basis einer Gesellschaft mit der Besatzungsmacht und  ­zusammengearbeitet wird oder nicht, entscheidet in hohem Maße über das Verhältnis zwischen Besatzer und Besetzten.

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8. Kapitel Der zivile Widerstand und der Genozid

Wie wird man je verstehen können, dass der »so zivilisierte« europäische Kontinent zum Schauplatz der systematischen Vernichtung von rund sechs Millionen Juden werden konnte? Der an den Juden während des Zweiten Weltkriegs verübte Genozid offenbart die grässlichste Fratze der Menschheit. Die Frage danach ist nicht nur an das deutsche Volk als den Meister des Todes zu richten, sondern sie richtet sich allgemein an das menschliche Bewusstsein, eben weil der für »ganz normal« gehaltene Mensch, der »kultivierte«, der »gute Familienvater« so leicht zu einem Agenten blinder Gewalt werden konnte. Der Genozid entzieht sich jeglichem Verständnis. Viele Autoren stimmen darin überein: Der National­ sozialismus setzt den Verstand außer Kraft. Wir wissen heute zwar bis in die Einzelheiten, wie dieses rational geplante, industrialisierte Tötungsunternehmen funktionierte. Doch wir wissen kaum, warum. Die Historiker teilen sich heutzutage in zwei Lager: die »Intentionalisten«, die die Ansicht vertreten, die Vernichtung der Juden sei von Hitler seit Langem vorbereitet und durch den Krieg begünstigt worden – und die »Funktio­ nalisten«, nach deren Einschätzung dieses Ziel innerhalb der national­ sozialistischen Bürokratie erst allmählich als »rationellste« Lösung des »Judenproblems« entstanden sei.1 Daneben erleben wir heute eine Wieder­ belebung komplexer Debatten über das Wesen des Nazi-Regimes. Namhafte deutsche Historiker rufen zu einem »normalen« Umgang mit der Nazi-Vergangenheit auf.2 Welche Züge aber machen den Nationalsozialismus zu einem Totalitarismus »wie jeden anderen« – und welche unterscheiden ihn von anderen, wie zum Beispiel dem Stalinismus? Eine fürchterliche Frage, die insbesondere darauf gerichtet ist, sich über die Singularität des an den Juden begangenen Genozids klarzuwerden und den Unterschied zu den vielen anderen Massakern herauszustellen, die in der Geschichte leider so überaus zahlreich sind. Das Ziel des vorliegenden Kapitels liegt nun nicht darin, erneut an die bekannten und unbestreitbaren Fakten zu erinnern.3 Anstatt zum wieder­ holten Male die Methoden des Genozids zu beschreiben, konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf den Widerstand, dem die Nationalsozialisten bei der Umsetzung ihres Programmes begegneten. Die grauenvolle Bilanz von mehreren Millionen Toten in den polnischen Gaskammern 183

Der zivile Widerstand und der Genozid

verstellt den Blick darauf, dass es bei der Zahl der Opfer je nach den verschiedenen Ländern große Unterschiede gab. Während in Polen fast alle Juden umkamen, blieben sie in Bulgarien davon verschont. Während in den Niederlanden 84 Prozent der Juden ermordet wurden, in Belgien und Norwegen 50 Prozent, waren es in Dänemark 5 Prozent. Woran lag es, dass die »Endlösung« in manchen Ländern »gemäßigter« ausfiel oder sogar behindert wurde? Wie sind diese Fakten zu interpretieren? Spontan könnte man eine Erklärung darin vermuten, dass mit der militärischen Niederlage der Deutschen die vollen Konzentrationslager geöffnet wurden. Die Vernichtung der Juden war 1944 und 1945 also noch nicht abgeschlossen und nur noch eine Frage der Zeit. Hätten die Deutschen den Krieg nicht verloren, wäre auf lange Sicht die Gesamtheit aller in Europa gebliebenen Juden vernichtet worden. Dieser »militärische« Erklärungsansatz läuft allerdings Gefahr, die politologische oder soziologische Analyse mit dem Programm der Nationalsozialisten zu verwechseln. Überall dort, wohin er seinen Einfluss ausgebreitet hatte, verstand Hitler es, seinen Plan in die Tat umzusetzen: »den Juden« zu vernichten. Ob slawisch oder romanisch, im Grunde blieb der »Jude« der »Jude« und musste entfernt werden. Annie Kriegel vertritt in diesem Zusammenhang die These, dass Hitler einen »Privatkrieg« gegen die jüdi­sche Bevölkerung führte, die er selbst dann »vernichten« musste, wenn es den Anforderungen des eigentlichen Krieges zuwiderlief. (Kriegel 1986, 396 f.) Nachdem der Vernichtungsplan der Nationalsozialisten über vier Jahre hinweg überall dort, wo sie es vermochten, Anwendung gefunden hatte, waren die Ergebnisse gleichwohl recht unterschiedlich. Es müssen daher verschiedene Variablen berücksichtigt werden: das Integrationsniveau der jüdischen Gemeinschaften (ihre soziale und kulturelle Assimilation), ihre geographische Verteilung (städtische Konzentration), das Besatzungsstatut eines jeden Landes, die Vorwarnzeit (Kenntnis oder Unkenntnis über das letztendliche Schicksal), die Erreichbarkeit eines Fluchtlandes. Durch die Verwobenheit der oben aufgeführten Variablen scheint der Versuch, eine allgemeingültige Inter­ pretation zu finden, hinfällig. So sagte mir einmal Léon Poliakov, Alexander Sinowjew zitierend: »Es ist unmöglich, die Ursache eines Ereignisses zu kennen, das mehrere Ursachen hat.«4 Trotzdem bin ich der Auffassung, dass die in dieser Arbeit vorgelegten Erklärungsansätze (Zusammenarbeit und Verweigerung der Zusammenarbeit, sozialer Zu­ sammenhalt und soziale Spaltung, öffentliche Meinung) durchaus ein geeignetes Handwerkszeug bilden, um meinen Ansatz zu unter­ mauern. Ich sehe darin vor allem ein Verfahren, um sehr 184

Die Strategie, Opfer zu schaffen

liche Proble­matiken zu begreifen: sowohl die Beziehung zwischen Besatzern und Besetzten (in der klassischen Konstellation der Besetzung eines Landes durch eine fremde Macht) als auch die zwischen Verfolgern und ­Opfern – bis hin zu deren kollektiver Vernichtung (Genozid). Da es nötig wäre, diesbezüglich für jedes Land spezifische Modifikationen zu entwickeln, ist die Tragweite eines solchen globalen Ansatzes zu­ gegebenermaßen begrenzt. Trotzdem bilden diese Ansätze einen Bezugsrahmen, der es erlaubt, die Grundzüge einer Besatzungspolitik – ­un­abhängig von den regionalen und nationalen Besonderheiten – zu beschreiben. In dem Bewusstsein, damit auf Kritik stoßen zu können, habe ich ein Analyseraster erstellt, das, wie mir scheint, zu einem besseren Verständnis in der Frage verhilft, warum die »Maschinerie des Genozids« in machen Fällen auf Hindernisse stieß, die sie nicht immer bewältigen konnte.

Die Strategie, Opfer zu schaffen Der Genozid kann als Beginn eines umfassenden Opfers gesehen werden, deren wichtigstes Objekt die Juden waren. Sie waren die wichtigsten, aber nicht die einzigen Opfer. Man darf über ihrem Schicksal das anderer Gruppen, wie der Zigeuner oder der Homosexuellen, die ebenfalls vernichtet werden sollten, nicht vergessen. Doch historische ebenso wie ökonomische und kulturelle Faktoren trugen dazu bei, dass gerade die Juden zum Hauptopfer der nationalsozialistischen Politik wurden. Der deutsche Antisemitismus entstand nicht erst 1939, und auch in anderen europäischen Ländern gab es starke antisemitische Strömungen, insbesondere in Osteuropa. So fanden in der Ukraine schon in den zwanziger Jahren Judenpogrome statt. Auch in Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei war es zu antijüdischen Ausschreitungen gekommen. Im Westen – und besonders in Frankreich – war der Antisemitismus zwar weniger virulent, aber deshalb nicht weniger existent. Es ist daher nicht statthaft anzunehmen, die Vernichtung der Juden sei allein die Angelegen­ heit Hitlers oder Deutschlands gewesen. Wenn die historischen Vor­ läufer der Judenverfolgung auch nicht bis zum Horror von Auschwitz gegangen waren, so hatte es doch auch schon zuvor Ausschluss, Zwangs­ assimilation oder Ausweisungen gegeben. Auch der Nationalsozialismus bediente sich dieser alten Methoden. Zugleich aber war die von ihm systematisch geplante Vernichtung der »jüdischen Rasse« etwas völlig Neues. Nie zuvor war eine derart radikale Lösung in die Tat umgesetzt 185

Der zivile Widerstand und der Genozid

oder auch nur ins Auge gefasst worden. Der 23. Oktober 1941 kann dafür als ein Schlüsseldatum gelten: Von diesem Tag an war den Juden in ganz Europa die Emigration verboten, das heißt, man versuchte sie vollständig unbeweglich zu machen, um sie schließlich ergreifen und vernichten zu können. Bereits vor dem Krieg waren die Juden in verschiedenen Teilen Europas aufgrund ihrer mangelnden sozialen Integration äußerst verwundbar. Das zeigt sich insbesondere daran, dass die Juden im Osten stärker als im Westen verfolgt wurden. Léon Poliakov weist darauf hin, dass es zwischen den West- und den Ostjuden entscheidende soziale Unterschiede gab: In den westlichen Besatzungsgebieten sind die Juden bei Weitem nicht so zahlreich wie im Osten. Sie sind rechtlich gleichgestellt und leben inmitten der übrigen Bevölkerung, von der sie sich weder durch Kleidung noch durch körperliche Merkmale unterscheiden. Es ist daher verständlich, dass die Verfolgung der Juden im Westen besonders zu Anfang einen völlig anderen Verlauf als im Osten nahm und dass die angewandten Mittel subtiler waren, später zum Tragen kamen und schließlich um so grausamer zuschlugen. (Poliakov 1951, 56) In dem politisch und sozial angespannten Klima des Ostens dagegen waren die Juden eine leichte Beute. Während eines von der École des hautes Études en Sciences Sociales durchgeführten Kolloquiums wurde dies auch von Ezra Mendelsohn berichtet: Die Verschlechterung der Lage der Juden war nicht das Ergebnis des Aufstiegs des Nationalsozialismus – auch wenn diese Tatsache ohne Zweifel entscheidend dazu beitrug. Seit den dreißiger Jahren waren die Juden für die meisten Einwohner Osteuropas Bürger zweiter Klasse, ohne oder zumindest fast ohne Rechte. Sie bildeten daher ein legitimes Ziel für organisierte Angriffe. (Mendelsohn 1985, 170) Je mehr die jüdischen Gemeinschaften also auf sich selbst bezogen und der mehr oder weniger offenkundigen Feindschaft ihres sozialen Umfelds ausgesetzt waren, desto stärker konnten sie dezimiert werden. In der Abwesenheit von sozialem Zusammenhalt zwischen Juden und Nicht-­ juden liegen die direkten Gründe und Ursachen dafür, dass sie zu den Hauptopfern des Nationalsozialismus wurden. Darauf bezugnehmend hat Helen Fein in überzeugender Weise auf den Zusammenhang hin­ gewiesen, der zwischen den schon vor dem Krieg herrschenden 186

Die Strategie, Opfer zu schaffen

tischen Strömungen und dem, was sie »Opferzoll« des Genozids nennt, besteht. (vgl. Fein 1979) Das Grundprinzip des Nationalsozialismus bestand darin, sich auf den lokal vorhandenen Antisemitismus zu stützen. Es galt, die Marginalität der Juden hervorzuheben und zu verstärken, um schließlich die Voraussetzungen für ihre Deportation zu schaffen. Bevor sie auch physisch aus dem Boden herausgerissen werden sollten, auf dem sie noch zu überleben versuchten, mussten erst alle ihre äußeren sozialen Bindungen zerstört werden. So sind auch die antisemitischen Maßnahmen zu interpretieren, die mit zunehmender Grausamkeit in fast allen von Deutschland besetzten Ländern durchgeführt wurden: Registrierung, Beschränkung der beruflichen Tätigkeit, Enteignung, Verbot des Aufenthalts auf öffentlichen Plätzen, Umsiedlung in Ghettos, Kennzeichnung (gelber Stern) und schließlich Deportation. Im Osten ließ sich diese Strategie problemlos durchführen. Die »Erkennbarkeit« der Juden vereinfachte es, sie provisorisch in ein Ghetto zu stecken oder gar rasch zu eliminieren. Im Westen dagegen waren solche Operationen schwieriger durch­ zuführen. Die Länder hatten dort eine nicht zu unterschätzende demokratische Tradition, und es war nicht ganz einfach, eine Erklärung dafür zu finden, warum die zumeist gut integrierten Juden nun eine tödliche Gefahr darstellen sollten. Michael R. Marrus und Robert O. Paxton weisen darauf hin, dass sich die nationalsozialistischen Führer in West­europa mit Sorge fragten, was wohl geschehen würde, wenn schließlich auch die ortsansässigen ­Juden von den Deportationen betroffen wären, jene also, die schon seit Langem Bürger des Landes waren, in dem sie lebten. Die Besatzungs­ behörden wussten nur zu gut, daß die Beamten und die Polizei der westlichen Länder einen Unterschied zwischen fremden und den völlig assimilierten bzw. integrierten Juden machten. (Marrus / Paxton 1985, 303) Erst durch den zum Teil sehr heftigen Andrang der aus Osteuropa nach Frankreich, Belgien und Holland fliehenden Juden entstand in der ­Öffentlichkeit die Bereitschaft, mehr oder weniger explizit ein »Judenproblem« anzuerkennen. So hatte die Gestapo in Belgien 57.000 Juden registriert, von denen lediglich 6,7 Prozent belgischer Staatsangehörigkeit waren. In den Niederlanden stammte knapp die Hälfte der 120.000 Juden aus dem Ausland. Frankreich erlebte seit dem Ende des Ersten Weltkrieges die größte Immigrationswelle der Welt: Von den 1941 187

Der zivile Widerstand und der Genozid

dort vor allem in der Südzone lebenden 350.000 Juden waren weniger als die Hälfte französische Staatsbürger. (s. Thalmann 1985, 134-158) All ­diese neu Angekommenen waren kaum in das soziale Netz integriert. Ins­ besondere die Immigranten aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei trafen auf das Misstrauen bzw. die Feindseligkeit ihrer neuen Umgebung. Sie waren daher auch das erste Ziel der Behörde Eichmanns in Westeuropa. Um den Zugriff auf die deutschen Juden weiter zu erleichtern, gab Berlin im November 1941 einen Generalerlass heraus, der allen im Ausland lebenden Juden die deutsche Staatsangehörigkeit entzog. Die davon betroffenen Flüchtlinge fanden sich als »Staatenlose« automatisch in der niedrigsten aller Kategorien wieder und lebten in der steten Gefahr, von der jeweiligen nationalen Polizei festgenommen zu werden. Der lokale Widerstand gegen die Deportationen war dort am stärksten, wo die Nationalsozialisten versuchten, kleine und gut integrierte jüdische Gemeinden zu verschleppen. Ihre im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung geringe Größe hatte dort zur Folge, dass die Öffentlichkeit sie keineswegs als »Judenproblem« wahrnahm. Dänemark und Nor­ wegen, wo schon seit Langem kleine Gemeinden lebten, waren daher auch die Länder, die sich von vornherein am meisten gegen die Deportationen wehrten. So warnte auch während einer am 20. Januar 1942 in Berlin-Wannsee abgehaltenen Konferenz – auf der sich die deutschen Minister in der Frage der »Endlösung« in ganz Europa verständigten – Martin Luther, als Repräsentant des Außenministeriums, vor den dies­ bezüglich in Skandinavien zu erwartenden Schwierigkeiten. Gleichzeitig versuchten die nationalsozialistischen Strategen mögliche Reaktionen der Öffentlichkeit auf die Bekanntgabe der antijüdischen Maßnahmen vorauszusehen. Hier wird das oben Gesagte noch einmal bestätigt: Je weniger die Juden sozial integriert waren, desto weniger fürchteten die Nationalsozialisten öffentliche Demonstrationen – und umgekehrt. Léon Poliakov war einer der ersten, die darauf hingewiesen haben, wie die Veränderungen der öffentlichen Meinung direkt das »Zuziehen« des um die Juden »gespannten Netzes« beeinflusste. In Deutschland, wo die Reaktionen der Bevölkerung auf die zunehmend gravierenden antisemitischen Maßnahmen aufmerksam beobachtet wurden, wurde diese Methode zunehmend perfektioniert. Jede neue, von der Bevölkerung stillschweigend hingenommene Stufe bildete gleicher­ maßen eine Art Autorisierung für die Fortsetzung der Verfolgung. In Deutschland – aber auch in Frankreich – wurden zu diesem Zwecke ­eigens Meinungsumfragen durchgeführt.3 188

Die Strategie, Opfer zu schaffen

Die Berücksichtigung der öffentlichen Meinung war trotz alledem natürlich nur relativ. Dort, wo die Deutschen die Alleinherrschaft ausübten, waren die Juden gemeinhin tatsächlich sehr viel schneller bedroht als anderswo. Dieser Zusammenhang wird von verschiedenen Autoren unterstrichen: In den Ländern, die direkt der deutschen Verwaltung unterstanden, forderte der Genozid im Allgemeinen auch die meisten Opfer. Dies gilt unglücklicherweise für eine ganze Reihe von Ländern, die trotz ihrer großen Unterschiede – und ganz unabhängig davon, ob sie nun von Marionettenregierungen regiert wurden oder nicht –, eine wichtige Gemeinsamkeit hatten, nämlich der direkten Kontrolle Berlins zu unterstehen. Dies gilt selbstverständlich für Deutschland selbst, für Österreich, Böhmen und Mähren, Polen, die westlichen Regionen der UdSSR , Norwegen, Holland, Belgien, Kroatien, Serbien, Griechenland und Albanien. Obwohl die Nationalsozialisten dort ihre politische Herrschaft direkt ausübten, verzichteten sie nicht auf die zusätzliche Unterstützung durch überzeugte Kollaborateure oder durch die scheinbar »neutrale« öffentliche Verwaltung, die mehr oder weniger beflissen das Räderwerk der Deportationen in Gang hielt. Dabei achteten die Nationalsozialisten stets darauf, dass sie die Fäden in der Hand behielten, wobei Himmlers Getreue auch keine wirklichen Hindernisse zu überwinden hatten. In den Satellitenstaaten dagegen bemühten sich die ­Nationalsozialisten darum, dort die lokalen Behörden des Landes zur Zusammenarbeit anzuhalten. Diese Taktik brachte nebenbei den großen Vorteil, dass sie sich gut als Propagandaargument verwenden ließ. Denn nunmehr konnte von deutscher Seite immer darauf verwiesen werden, dass sich auch die übrigen Länder des »Judenproblems« bewußt geworden waren und ebenfalls versuchten, es aus eigener Kraft zu lösen. Der Nachteil bestand jedoch darin, dass die Umsetzung dieser »Lösung« dadurch verzögert wurde. Das Ergebnis spricht eine deutliche Sprache. In Ländern wie Italien, Finnland, Dänemark, Bulgarien – und in gewissem Maß auch in Frankeich – war die Anzahl der Opfer proportional ge­ ringer als in den Ländern, die direkt der deutschen Verwaltung unterstanden. Dort also, wo Berlin die Maßnahmen zur Ergreifung oder Deportation aus der Hand gegeben hatte, bestanden für die jüdischen Gemeinden die größeren Überlebenschancen. Die nationalsozialistischen Führer befleißigten sich eines vollendeten Machiavellismus, wenn es darum ging, selbst ihre späteren Opfer zur Zusammenarbeit anzuhalten. Im Westen wie im Osten förderten sie die Bildung von »Judenräten«, denen vorgeblich die Interessenvertretung der jüdischen Gemeinden oblag. Tatsächlich aber dienten sie den 189

Der zivile Widerstand und der Genozid

sozialisten dazu, Verantwortliche genannt zu bekommen, denen sie ihre Bedingungen diktieren konnten. Um das Vertrauen der Betroffenen zu ­ nstrich gewinnen, mussten diese Organisationen einen »gemeinnützigen« A bekommen: Sie hatten sich um die Nöte der Hilfsbedürftigen zu kümmern und die in den Ghettos versammelten Gemeinden zu leiten. Es galt, diese glauben zu machen, dass die einzige Möglichkeit, zur Verbesserung des eigenen Schicksals beizutragen, darin bestand, sich an die Weisungen des Judenrates zu halten. In dem Maß, wie die Eroberung Europas durch die Nationalsozialisten fortschritt, bemühten sie sich darum, »Wohltätigkeitsorganisationen« ins Leben zu rufen, die von bekannten jüdischen Persönlichkeiten geleitet werden sollten. Doch anstatt wirklich den Ihren helfen zu können, dienten sie den Nazis dazu, die Juden besser unter Kontrolle zu halten, um sie schließlich desto leichter verhaften zu können. Dies gilt zum Beispiel auch für den Warschauer Judenrat, dessen Präsident Adam Czeriaków sich am 23. Juli 1942 das Leben nahm, nachdem ihm klar geworden war, dass seine Organisation in Wirklichkeit ein Werkzeug der Vernichtungsmaschinerie war. Dies trifft auch auf den niederländischen Joodse Raad oder die Ver­einigung der belgischen Juden (AJB) zu. Und dies gilt auch für die von der VichyRegierung gegründete »Union générale des israélites de France« (UGIF). Die Rolle dieser Organisationen wird in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert. Als Hannah Arendt in ihrem berühmten Essay Eichmann in Jerusalem davon sprach, daß die Juden in gewissem Sinne zu ihrer eigenen Vernichtung beigetragen hätten, rief sie damit einen Sturm der Entrüstung hervor. (Arendt 1986) Doch umgekehrt entging auch Lucien Lazare nicht der Kritik,6 als er in seinem erst kürzlich in Frankreich erschienenen Buch davon sprach, dass die jüdischen Organisa­ tionen in Frankreich die Juden während der Besatzungszeit zu schützen gewusst hätten.7 In der Auseinandersetzung um die Rolle der UGIF ­liegen die Positionen weit auseinander. Es gibt keinerlei Gemeinsam­ keiten zwischen dem Ansatz Serge Klarsfelds, der davon ausgeht, dass die UGIF »durch ihre Hilfsleistungen eine positive und häufig unterschätzte Rolle« gespielt habe (Entretien avec Serge Klarsfeld 1988, 89), und der Position Jacques Adlers, der die Ansicht vertritt, dass »jene, die die offizielle Hilfe der UGIF empfingen, so kostbar sie in diesem Moment auch gewesen sein mag, damit unentrinnbar in die Abhängigkeit einer Organisation geriet, die nur den Zweck verfolgte, die jüdische Bevölkerung so weit wie möglich zu kontrollieren« (Adler 1985, 217). Es scheint nicht ganz einfach, in dieser natürlich sehr emotions­ geladenen Frage einen möglichst leidenschaftslosen und 190

Die Strategie, Opfer zu schaffen

lichen Standpunkt einzunehmen. Es entsprach dem Klima der Zeit, dass man versuchte, sich irgendwie mit dem Besatzer zu arrangieren, und es ist daher nicht verwunderlich, daß die jüdischen Gemeinden nicht von vornherein entgegen dieser allgemeinen Tendenz handelten. Dieses Arrange­ment konnte eine Art der Verteidigung sein, konnte offenlassen, dass der Sturm vorbeiziehen würde. Manch einer der jüdischen Verantwortlichen dachte, dass die sicherste Art zu überleben darin bestehe, ­effektiv mit den Deutschen zusammenzuarbeiten – getreu dem Motto, dass niemand ein Interesse daran haben könne, das, wovon er einen Vorteil erwartet, zu zerstören. Doch diese durchaus verständliche Taktik war der tatsächlichen Bedrohung in keiner Weise angemessen. Obwohl die jüdische Geschichte wahrlich voll von schrecklichen Verfolgungen ist, waren die Juden ebensowenig wie alle anderen darauf vorbereitet, dass ihr Leben in einem Konzentrationslager enden könnte. Doch selbst wenn die Judenräte manchen das Leben retten oder ihr ­Eigentum bewahren konnten, darf dabei nicht übersehen werden, dass diese verdienstvollen Hilfeleistungen der offiziellen jüdischen Organisationen mit der Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden erkauft worden war, was für die künftigen Opfer fatale Konsequenzen mit sich brachte. Wie sind diese beiden so konträren Wirkungen, die zudem aus einer völlig verzwickten Situation heraus entstanden, zu bewerten? Indem die Judenräte die Verantwortung für Menschen und Güter übernahmen, stifteten sie Vertrauen und verzögerten damit den Gang in die Illegalität. Die Situation verlangte radikale Entscheidungen, wie sie aus psychologischer Sicht nur sehr schwer zu fällen waren: den Besitz und die Freunde zu verlassen, um ins Ausland zu fliehen oder sich zu verstecken, und damit gegen das in jedem Einzelnen – ob Jude oder nicht – festsitzende Tabu der Illegalität zu verstoßen und als Rebell zu leben. Allein das schlichte Vorhandensein des Judenrates rückte diese Entscheidung in weite Ferne. Solange man dort einen Ansprechpartner fand, der einem eine gewisse Unterstützung gab, konnte man allemal darauf ­hoffen, dass sich die Dinge durch seine Vermittlung noch ­arrangieren ließen. In bestem Glauben verbrannten sich die Leiter des Rates die Finger an einem Feuer, das zu löschen sie nicht in der Lage waren. ­Randolph Braham bemerkt dazu: Da sie mit keiner wirklichen Macht ausgestattet waren, verwandelten sich die Räte bald in unfreiwillige und unbewusste Werkzeuge in den Händen der Deutschen. Obwohl sie versuchten, die Interessen der Gemeinde mit selbstgewählten, sich jedoch ständig verringernden 191

Der zivile Widerstand und der Genozid

Mitteln und Möglichkeiten zu verteidigen, diente selbst diese Hilfe noch den Interessen der Nazis. Nachdem sie sich jedoch einmal dazu entschlossen hatten, das Spiel der Deutschen mitzuspielen, gab es kein Zurück mehr: Sie waren zu Zusammenarbeit gezwungen. (Braham 1985, 436) Die Kritik an der Rolle der Judenräte darf nicht dazu führen, die unterschiedlichen Arten von Verantwortlichkeit zu verwischen. Moralisch betrachtet sind zwar unterschiedslos alle nationalsozialistischen Täter zu verurteilen – denn sie haben ihren Beitrag zu dem Unrecht geleistet. Gleichwohl müssen sich die Geschichtswissenschaft, die Soziologie und die Psychologie eingehend auch mit dem Verhalten der Opfer des Holocausts beschäftigen. Warum, so fragt man sich beispielsweise, fehlte ­ihnen selbst in dem Moment, als sie in den Tod marschierten, jegliches Misstrauen gegenüber ihren Verfolgern? War das Kalkül der National­ sozialisten aufgegangen, sie bis zum Ende mit der Illusion in die Irre zu führen, dass sie in ein Arbeitslager gingen? Das Verhalten der Opfer – ob Juden oder nicht – lässt sich auch nicht mit freiwilliger Unterwerfung erklären. Es kam – selbst in den großen Vernichtungslagern – durchaus zu verzweifelten Revolten, die mit großer Brutalität niedergeschlagen wurden: so in Treblinka (2. August 1943), in Sobibor (14. Oktober 1943) und in Auschwitz (7. Oktober 1944). Auch zahlreiche Fluchtversuche gab es. (s. Wellers 1966) Die Geschichtsschreibung zeigt einen weitverzweigten jüdischen Widerstand, der in letzter Zeit insbesondere in Frankreich erneut diskutiert wird.8 Tatsache ist, dass in ganz Europa Juden, ob bewaffnet oder unbewaffnet, Widerstand leisteten. Das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Juden waren auch in zum Teil von ihnen selbst gegründeten Widerstandsbewegungen engagiert. Wie an­ dere Widerstandskämpfer nahmen auch sie an dem Befreiungskampf gegen die deutsche Besatzung oder an Rettungsaktionen teil, wie zum Beispiel innerhalb des Œuvre de secours aux enfants (OES), das sich auf das Verstecken jüdischer Kinder spezialisiert hatte. (s. Zeitoun 1987) Der trotz allem relativ geringe Widerstand der Opfer des Holocausts erklärt sich möglicherweise durch den außerordentlich hohen Druck, den die Gewalt des Genozids auf sie ausübte und der neue und gespal­ tene, oftmals der konkreten Situation nicht angemessene Verhaltens­ muster hervorbrachte. Die Brutalität der Verfolgung in Verbindung mit der sozialen Entwurzelung der Juden versetzte sie in einen permanenten Schockzustand. Sie waren völlig außerstande, ihre Lage rational zu 192

Die Strategie, Opfer zu schaffen

a­ nalysieren, und versuchten stattdessen, sich mit dem Glauben, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte, in ihrer unmöglichen Situation einzurichten – ein Irrglaube, an dem sie um so stärker festhielten, je weiter sich die Situation tatsächlich verschlimmerte. Man tat »so, als ob« sich ihre Lage sogar verbessern würde (hieraus nährten sich die GhettoGerüchte: »Hast du schon gehört, dass …«). Dieses Leugnen der Wirklichkeit war ein letzter Abwehrmechanismus gegenüber einer destruk­ tiven Welt. In dem leidenschaftlichen Werk, das er über die bereits während der Kriegsjahre vorhandenen Informationen in Bezug auf den Genozid schrieb, hat Walter Laqueur sehr anschaulich den Unterschied zwischen einer glaubhaften und einer unverfälschten Information aufgezeigt.­ (Laqueur 1981) Der Autor geht davon aus, dass seit Ende 1941, und mehr noch im Verlauf des Jahres 1942, zahlreiche Personen – und zwar Juden wie Nichtjuden – wussten, was in Polen geschah. Doch das bedeutet eben nicht unbedingt, dass sie dies auch glaubten und daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen hätten. Man könnte fast sagen, dass das menschliche Vorstellungsvermögen nicht ausreichte, sich die Gräuel von ­Auschwitz glaubhaft zu machen. Der Horror entging dem Verständnis. Für die Opfer jedoch hatte dies die fatalsten Folgen. Es ist wohl nur zu menschlich, die Augen vor dem sicher zu erwartenden Ende zu verschließen. Doch ist es ebenso illusorisch und der Bedeutung der Situation unangemessen. Man kann den Tod nicht verhindern, indem man sich ihm ausliefert. Man kennt diesen Reflex von kranken Menschen, die noch bei ihrem letzten Atemzug sich ihr unmittelbar bevorstehendes Ende nicht vorstellen können. Dieser Abwehrmechanismus lässt sich bei allen mit ihrer eigenen Vernichtung konfrontierten Menschen wiederfinden, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Rasse oder ihrer Religion. Mit großem Einfühlungsvermögen schrieb Louis de Jong dazu die folgenden Zeilen: Hitler hat es klar und deutlich gesagt: Der Krieg müsse beginnen und das europäische Judentum vernichtet werden. Und der Krieg begann. Aber warum hat man dann nicht die nötigen Konsequenzen daraus gezogen? Wenn wir heute an die deutschen Gaskammern und Vernichtungslager denken, ist uns das alles ganz und gar unverständlich. Doch wir sind frei von dem unerhörten psychologischen Druck, frei von der Angst vor dem Krieg und frei von der Todesangst in ihrer absolutesten Form. »Die Sonne und der Tod lassen sich nicht lange ansehen«, schrieb La Rochefoucauld. Er dachte dabei aber an den 193

Der zivile Widerstand und der Genozid

Menschen als isoliertes Individuum. […] Unter den Millionen, denen der Tod sicher war, dürften nur wenige in der Lage gewesen sein, der fürchterlichen Wahrheit ins Angesicht zu sehen. Wir Heutigen da­ gegen würden historisch einen enormen Fehler begehen, wollten wir die wichtigsten, von den Opfern angewandten Abwehrmechanismen […] als einfache Zeichen von Blindheit oder Dummheit lesen; in Wirklichkeit deuten diese Abwehrmechanismen auf tiefe, allen menschlichen Wesen eigene Qualitäten hin: auf die Liebe zum Leben, die Angst vor dem Tod und die wohl verständliche Unfähigkeit, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte in seiner ganzen Wirklichkeit zu begreifen.9

Der Staat als Schutzschild Alles, was dazu beitrug, die Distanz zwischen Opfern und Verfolgern zu vergrößern, hatte im Allgemeinen positive Auswirkungen für die potenziellen Opfer. Eines der größten Hindernisse für die Nationalsozialisten konnte in der Haltung von Regierungen bestehen, die, wo immer sie auch im deutschen Herrschaftsbereich angesiedelt waren, doch zumindest über eine gewisse innere Autonomie verfügten. Selbst in den S­ taaten, die mit Deutschland kooperierten oder alliiert waren, benötigten die nationalsozialistischen Autoritäten die Einwilligung der jeweiligen politi­ schen Autoritäten, um die geplanten Deportationen durchführen zu können. Allein in der Notwendigkeit, die politische Macht bemühen zu müssen, da sie als einzige befugt war, die Polizei und die lokalen ­Ordnungskräfte zu befehligen, lag an sich schon ein Faktor für die Verlangsamung bzw. Blockade der Deportationen. Man kann daher mit Recht davon ausgehen, dass zumindest jene Staaten, die mit Deutschland alliiert waren oder mit ihm zusammenarbeiteten, durchaus in der Lage waren, den auf ihrem Gebiet lebenden Juden realen Schutz zu bieten. Das soll nun umgekehrt nicht heißen, dass in den Ländern, die der ­direkten Kontrolle Berlins unterstanden, überhaupt keine Möglichkeiten zur Rettung der Juden mehr bestanden hätten. Es ist wenig darüber bekannt, dass viele Menschen im Osten trotz des dort herrschenden Antisemitismus alles in ihrer Macht stehende unternahmen, um Juden zu retten. Das gleiche gilt für Griechenland. Im Westen steht die belgische Verwaltung, die bekanntlich weitaus weniger zur Zusammenarbeit bereit war als die niederländische, beispielhaft für den in dieser Frage durchaus noch vorhandenen Spielraum. Doch war dieser naturgemäß sehr viel 194

Der Staat als Schutzschild

enger als in jenen Ländern, die noch über eine gewisse innere Autonomie verfügten. Doch auch hier konnte der Staat eine Art Schutzschildfunktion zwischen den Juden und ihren Verfolgern aufbauen – wenn er dies denn wollte. Dies war jedoch nicht immer der Fall. Die diesbezügliche Haltung der verschiedenen Regierungen wurde im Allgemeinen von dem Grad des jeweils herrschenden Antisemitismus bestimmt, das heißt von der Stärke der gesellschaftlichen Gespaltenheit bezüglich des »Judenproblems« in dem jeweiligen Land. Je mehr die ­Juden bereits das Ziel von offenen Anschuldigungen waren, desto eher waren die betreffenden Regierungen bereit, antisemitische Gesetze zu erlassen und schließlich auch Deportationen zu organisieren. Wenn im Gegenteil der Antisemitismus schwach oder unbedeutend war, das heißt, wenn das betroffene Land in dieser Frage einen hohen sozialen Zu­ sammenhalt unter Beweis stellte, dann zeigten sich auch die Regierungen entschlossen, Widerstand zu leisten. Je vollständiger die Juden als Mitglieder der Nation angesehen wurden, desto weniger tendierten die ­Regierungen dazu, antisemitische Gesetze zu erlassen, und erst recht, Deportationen zu organisieren. Die militärische Allianz mit Deutschland bedeutete in der Tat nicht, dass man notwendigerweise auch die nationalsozialistischen Ansichten in Bezug auf den Antisemitismus teilte. Das faschistische Italien bietet hierfür ein gutes Beispiel. Der Antisemitismus hatte sich dort niemals wirklich festgesetzt – weder in der italienischen Bevölkerung noch in der faschistischen Partei, die in den zwanziger und dreißiger Jahren sogar in den Juden eine wichtige Stütze gefunden hatte. Mit dem Ziel, sich mit dem Reich abzustimmen, erließ Mussolini 1938 aus reinem Opportunismus Gesetze, die sich gegen die etwa 50.000 italienischen Juden richteten. Verglichen mit den deutschen Gesetzen fielen sie allerdings recht »moderat« aus. Als Deutschland im November 1942 den französischen Süden besetzte, übernahm auch Italien die Kontrolle über acht Departements – sie wurden zu Zufluchtsorten für Juden ! »Die italienischen Besatzungsoffiziere verweigerten nicht nur die Auslieferung von Juden an Vichy, sie behinderten sogar die Anwendung der französischen antisemitischen Gesetzgebung.« (Marrus / Paxton 1985, 307) Anlässlich seines Aufenthaltes in Rom versuchte von Ribbentrop den Duce davon zu überzeugen, dass er seine Position überdenken müsse. Doch vergeblich. Erst als Italien zu Beginn des Herbstes 1943 vor den Alliierten kapitulierte und die deutschen Truppen die Halbinsel besetzten, sollte sich die Lage der Jude von einem auf den anderen Tag ändern. Die Juden, die sich in die unter italienischer Kontrolle stehenden französischen Departements 195

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gerettet hatten, wurden gefangen genommen und deportiert. In Italien selbst bestand Himmler trotz immer schwerwiegenderer militärischer Rückschläge auf der Fortführung der »Endlösung«. Bis zur deutschen Kapitulation 1945 wurden noch 8000 italienische Juden deportiert. (vgl. Michaelis 1978) Tatsächlich bestand für die Nationalsozialisten ein latenter Widerspruch zwischen dem Erhalt der guten Beziehungen zu den Verbündeten des Reiches und der strikten Anwendung der Deportationsmaßnahmen durch diese Staaten. Wenn die Regierungen dieser Länder mit der Politik der Judenverfolgung einverstanden waren, lief alles glatt: Deutschland hatte doppelten Vorteil davon. Wenn sich diese Staaten in der Juden­frage jedoch zurückhielten, entstand ein Dilemma. Sollte Berlin nun (aus strategischen, militärischen oder politischen Gründen) vordringlich da­ rum bemüht sein, die guten Beziehungen zu dem rebellischen Staat aufrechtzuerhalten – oder sollte man Druck ausüben, damit dieser sich wirklich engagierte, die Judenfrage zu »lösen«? Im aAlgemeinen scheint es, als ob die Nationalsozialisten zu der ersten Möglichkeit tendierten. Doch das hielt Himmlers Gefolgschaft nicht davon ab, den zögernden Regierungen die Deportation der Juden immer wieder anzutragen. Mit der Zeit, so meinten die Nationalsozialisten, würde sich schon eine ­günstige Gelegenheit bieten, erst recht, wenn sie den Krieg gewonnen hätten. Im Falle Dänemarks jedoch sollten sie sich getäuscht haben; denn dessen unablässig bekräftigter Wille nach nationaler Unabhängigkeit – wenigstens in innenpolitischen Fragen – war stark genug geblieben, um seiner kleinen jüdischen Gemeinde das Leben zu retten. Immer wieder wird an die bewundernswerte Rettung der 7000 dänischen Juden erinnert, die 1943 dank der Mithilfe der Bevölkerung nach Schweden evakuiert werden konnten. Diese Aktion erscheint jedoch erst im rechten Licht, wenn man berücksichtigt, dass Kopenhagen während der Besatzungs­ zeit in der Judenfrage eine unbeugsame Haltung einzunehmen suchte. Die Tatsache, dass der Plan zur Verhaftung der Juden lange Zeit un­ berücksichtigt blieb, ist dem Umstand zu verdanken, dass die dänische Regierung in dieser Sache keinerlei Kooperationsbereitschaft zeigte. Im Oktober 1942 versuchte Berlin, wie auch in anderen Ländern, eine antijüdische Gesetzgebung einzuführen. Doch der dänische Premierminister Erik Scavenius lehnte dies kategorisch ab und drohte, mitsamt dem vollständigen Kabinett zurückzutreten. Zum einen protestierte er gegen den erneuten Versuch Deutschlands, sich in die inneren Angelegenheiten des Landes einzumischen, da das Memorandum Deutschlands vom 196

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9. April 1940 der dänischen Regierung ungebrochene Autorität auf dem Gebiet der Innenpolitik zugesichert hatte. Zum anderen aber wurden die gut integrierten Juden weiterhin als vollwertige Staatsbürger angesehen. Die dänische Regierung legte insofern nicht unbedingt einen außer­ gewöhnlichen »Prosemitismus« an den Tag, sondern vertrat vielmehr einen festen politischen Grundsatz: Die Partei der Juden zu ergreifen hieß, einen Grundpfeiler der dänischen Verfassung zu verteidigen, nämlich die rechtliche Gleichstellung aller Bürger. Als Werner Best, der neue Reichskommissar in Dänemark, sein Amt übernahm, sandte er einen Bericht an Berlin, der die Situation gut wiedergibt: Jegliche antijüdische Gesetzgebung nach deutschem Vorbild träfe auf den entschiedenen Wider­stand der gesamten Bevölkerung, des Reichstages, der Regierung und des Königs. […] Die Einführung des gelben Sterns riefe den Protest Zehntausender germanischer Dänen hervor. Die Judenfrage wird in Dänemark als ein verfassungsrechtliches Problem betrachtet. Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ist eine Grundsäule der geltenden Verfassung. In den Augen der Dänen käme eine diskriminierende Behandlung von Juden mit dänischer Staats­ angehörigkeit einem Bruch der geltenden Verfassung gleich. (zit. n. Sabille 1956) Vielleicht liegt darin auch die Erklärung dafür, dass manchen Berichten zufolge König Christian X . den gelben Stern getragen haben soll. Doch ist dies nur eine Legende. In Wahrheit wurde der gelbe Stern in diesem Land niemals eingeführt. Was dagegen sehr wohl der Wahrheit entspricht, ist, dass der König damit drohte, ihn zu tragen, für den Fall, dass dieser in Dänemark eingeführt werden sollte – eine Drohung, die die ablehnende Position der dänischen Regierung in dieser Frage sicherlich in ihrer Glaubwürdigkeit nur noch unterstreichen konnte. Auch ein anderes skandinavisches Land zeigte sich in dieser Frage ebenso unbeugsam wie Dänemark – das mit Deutschland verbündete Finnland. Himmler versuchte zwar 1942 erhöhten Druck auf dessen Regierung auszuüben, damit es seine etwa 2000 Juden deportiere, doch konnte er gegen deren Widerstand nichts ausrichten. Dies erklärt sich nach der Ansicht Randolph Bramans weniger aus der hohen Wertschätzung Hitlers gegenüber den Finnen – wie Hannah Arendt beispielsweise argumentierte –, sondern aus politi­ schem Kalkül: Der Führer meinte schlecht beraten zu sein, wenn er die Beziehungen zu einem unabhängigen Finnland, das eines der 197

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besten Verbündeten im Krieg gegen Russland darstellte, lediglich für die Eliminierung einiger Hundert Juden aufs Spiel setzen sollte ­(Braman 1985, 423). Andere Staaten setzten die Judenverfolgung, die sie bis dahin mit dem Mantel ihrer Autorität gedeckt hatten, aus oder bremsten den Gang der Deportationen, der ihren Verwaltungen unterstand. Solche Entscheidungen konnten aus verschiedenen Motiven heraus getroffen werden: wenn zum Beispiel neue Regierungsmannschaften größere nationale Unabhängigkeit forderten oder die öffentliche Meinung immer mehr zu einem Verlassen des Bündnisses mit einem Deutschland tendierte, das den Krieg zu verlieren drohte. Rumänien, wo die Juden in der zweiten Kriegshälfte weniger als während der ersten verfolgt wurden, ist typisch für einen solchen Wandel. Dabei war es schon 1937 nach Deutschland der zweite Staat, der ein antisemitisches Regime etablierte. Auf Anstiftung faschistischer Gruppen kam es zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung. König Carol II., der zuvor versucht hatte, schlichtend einzugreifen, begann im Juli 1940 die antisemitische Politik seines Landes zu verschärfen, um damit eine Annäherung an Deutschland zu erreichen. Im September 1940 schließlich brach mit der Machtübernahme des Generals und Diktators (später Marschalls) Ion Antonescu, einem Angehörigen der faschistischen ­»Eisernen Garde«, eine Zeit der Schreckensherrschaft über die Juden herein. Nach dem missglückten Staatsstreich der »Eisernen Garde« im Januar 1941, die daraufhin von der Macht suspendiert wurde, trat zwar eine kurze Phase der Beruhigung ein, doch wurden die Massaker (das bekannteste in Jassy) mit dem Entschluss Rumäniens, am Krieg gegen Russland teilzunehmen, fortgesetzt. In der neuen Provinz Transnistrien fanden so während der zweiten Hälfte des Jahres 1941 Zehntausende den Tod. Es begannen die Judendeportationen aus den Provinzen Bess­ arabien und Nordbukowina. Und nach der Besetzung Bukarests durch die Deutschen im Herbst 1942 wurden schließlich auch Deportations­ pläne für die 440.000 rumänischen Juden vorbereitet. Gerade zu dieser Zeit aber begann sich die öffentliche Meinung zu ändern. Hochrangige Persönlichkeiten aus politischen, intellektuellen und kirchlichen Kreisen, die bis dahin Antonescu unterstützt hatten, sprachen sich gegen die Deportationen aus, und auch die Opposition begann, sie zu kritisieren. Darüber hinaus war der Krieg gegen die ­Sowjetunion keineswegs populär, und das Lager derjenigen, die zu den Alliierten hielten, begann sich zu vergrößern. Allmählich hatte dies auch 198

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Einfluss auf die Haltung der Regierung. Diese Entwicklung wurde allerdings entscheidend durch die sonderbare Persönlichkeit des rumänischen Diktators beeinflusst. Zum einen änderte er seine Haltung aus Opportunismus gegenüber der öffentlichen Meinung seines Volkes – zum an­ deren aber war ihm die Gelegenheit willkommen, mit der Behinderung der deutschen Deportationspläne seinen unbedingten Unabhängigkeitswillen zu demonstrieren. Tatsächlich hätte er die Massenemigration der Juden bevorzugt und begann nun kurz entschlossen, sich in diesem Sinne zu engagieren. So kam es, dass Bukarest den Juden gegen Bezahlung erlaubte, 1942, als der Krieg noch immer tobte und die Vernichtungslager weiterhin intensiv betrieben wurden, nach Palästina aus­ zureisen. 1943 schließlich verstärkte Rumänien seine Kontakte mit den Alliierten, um seinen Bündniswechsel vorzubereiten. Der Mehrzahl der rumänischen Juden wurde so das Leben gerettet. Bela Vago unterstreicht dies: Ein starker Unabhängigkeitswille, der von Opposition und Öffentlichkeit ausgeübte starke Druck und daneben die lebhaften antideutschen Gefühle der Bevölkerung, all diese Faktoren brachten ­Antonescu dazu, sich den deutschen Anforderungen in den Weg zu stellen und die extremistische Minderheit des Landes zu zügeln. Kalt­ osis blütige Realpolitik, traditioneller Pragmatismus, eine kräftige D Opportunismus, weitverbreitete Korruption sowie besonders bei der Landbevölkerung authentische und tief verwurzelte humanitäre Gefühle retteten Hunderttausenden rumänischen Juden das Leben. (Vago 1985, 351) Auch das Beispiel Ungarns kann in diesem Zusammenhang gesehen werden, selbst wenn sich die Entwicklung hier letztendlich als fatal für den größten Teil der jüdischen Gemeinde erweisen sollte. Seit den zwanziger und dreißiger Jahren gab es in Ungarn einen virulenten Antisemitismus. Die Regierungen Teleki und später Bárdossy, die in den ersten Kriegsjahren das Bündnis mit Deutschland eingegangen waren, folgten Schritt für Schritt den nationalsozialistischen Methoden und schlossen die Juden aus dem öffentlichen Leben aus. Im August 1941 wurden 18.000 ausländische Juden in die Ukraine deportiert. 16.000 von ihnen wurden in Kamenetz-Podolsk erschossen. Im Januar 1942 beging die ungarische Armee gemeinsam mit der örtlichen Polizei in Délvidek, einer von Ungarn besetzten Region im Norden Jugoslawiens, ein neuerliches Massaker an ungefähr 2600 Serben und 700 Juden. Während das von Kamenetz-Podolsk quasi unbemerkt an den Augen der Öffentlichkeit 199

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vorbeizog, rief das zweite lebhafte Proteste innerhalb politischer Kreise hervor. Im März 1942 schließlich übergab die neue Regierung von ­Nicholas Kallay die Verantwortlichen für das Gemetzel von Délvidek der Anklage. Nicholas Kallay, der politisch eher moderat einzustufen war, versuchte nun eine Entwicklung zu stoppen, die ansonsten unweigerlich zur Deportation der Juden geführt hätte – womit er sich allerdings in Gegensatz zur öffentlichen Meinung begab, die deren Ausgrenzung durchaus befürwortete. In seinem Bemühen, dem Druck der in der Gesellschaft fest verankerten nationalsozialistischen Organisationen (ins­ besondere den Hakenkreuzlern von Szálasi) standzuhalten, fand er Unter­stützung bei Admiral Miklós Horthy. Als im Sommer 1942 die Nazis mindestens 100.000 Juden forderten, weigerte Kallay sich, dem Folge zu leisten. Wie Antonescu in Rumänien verstand auch er es, die Unabhängigkeit Ungarns gegenüber Deutschland zu wahren. Der Kriegsverlauf konnte ihn auf dieser politischen Linie nur bestärken, und gleichzeitig begann auch er, Kontakte mit den Alliierten aufzunehmen. Doch die Regierung Kallay verstrickte sich in ihren unüberwindlichen Widersprüchen, eingeklemmt zwischen den nationalsozialistischen Forderungen von außen und dem inneren Druck einer ausgesprochen antisemitischen Öffentlichkeit. Im März 1944 schließlich mußte Kallay die Macht abgeben, und die Deutschen übernahmen die Kontrolle des Landes. Die jüdische Gemeinde, die zwei Jahre in relativer Ruhe verbracht hatte, war sofort auf das Äußerste besorgt. Mithilfe der unga­ rischen Gendarmerie und unter der Überwachung einer Handvoll SS -Schergen wurden in wenigen Monaten 600.000 Juden deportiert. Erst unter dem Druck der inzwischen in der Normandie gelandeten Alliierten konnte Admiral Horthy die Deportationen stoppen. Auch die katho­lische und die evangelische Kirche Ungarns sprachen sich nun, zum ersten Mal, gegen die Deportationen aus. Doch im Oktober 1944 gewannen die Deutschen mit Unterstützung durch die Hakenkreuzler die Kontrolle über das Land zurück. Wieder begannen die Verbrechen, und wieder begannen in Budapest, diesmal unter der Aufsicht Eichmanns, die Deportationen. Nun aber versuchte zum ersten Mal die internationale Gemeinschaft einzugreifen und die Gefährdeten zu retten. Mehrere ausländische Delegationen überbrachten Tausende Visa und andere Verwaltungspapiere, um die Juden unter ihren Schutz zu stellen. Auch das Rote Kreuz leistete eine bemerkenswerte Arbeit. Doch waren es vor allem der Sonderbeauftragte des schwedischen Königs, Raoul Wallenberg, und der Schweizer Konsul Victor Ludz, die das internationale Gewissen repräsentierten. Sie lagen in einen energischen und einfallsreichen 200

Die öffentliche Meinung als Schutzschild

streit miteinander, um so viele Juden wie möglich zu retten – ganz so, als ob sie nun die Passivität der internationalen Staatengemeinschaft durch eine ebenso starke Aktivität wieder rückgängig machen wollten (über den Genozid an den ungarischen Juden vgl. vor allem Barham 1981).

Die öffentliche Meinung als Schutzschild Die Tragödie der ungarischen Juden zeigt, dass der von diesem Satellitenstaat aufgebaute »Schutzschirm« nicht stark genug war, um dem Druck aus den fest verankerten lokalen Nazi-Organisationen und der antisemitischen öffentlichen Meinung standhalten zu können. Berlin brauchte daher nur eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um den schwachen Widerstand der politischen Macht zu brechen. Erneut wird hier die wichtige Rolle der öffentlichen Meinung deutlich, die auf dem Weg zur »Endlösung« beschleunigende aber auch bremsende Wirkung haben konnte. Wenn sich eine Gesellschaft offen gegen die Deportationen wandte, konnten diese Proteste manchmal durchaus in der Lage sein, eine Art zweiten Schutzschildes gegen die fortschreitende Verfolgung der Juden zu bilden. Wenn sich eine wirklich öffentliche Meinung als ­»Dritte« zwischen Opfer und Verfolger stellte, konnte der Gang der Deportationen oftmals verlangsamt, manchmal sogar unterbrochen werden.10 Dieser Mechanismus einer die Repression einschränkenden Vermittlung (wie er im vorangegangenen Kapitel für die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten behandelt worden ist) taucht auch im spezifischen Zusammenhang mit dem Genozid wieder auf. Auch hier spielten die Kirchen eine entscheidende Rolle. Als moralische Auto­ ritäten in einem zum großen Teil christlichen Europa und mit Zugang zu allen sozialen Milieus übten sie einen beachtlichen Einfluss auf die Bewusstseinslage aus. Wie bekannt, zeigten die Christen gegenüber der Judenverfolgung durchaus widersprüchliche Haltungen; weder sind die deutschen mit den dänischen Protestanten noch die polnischen mit den italienischen Katholiken zu vergleichen. Es ist daher beispielsweise auch nicht angezeigt, wegen des vieldiskutierten Stillschweigens von Papst Pius XII. pauschal die gesamte katholische Kirche zu verurteilen. Zumindest gilt es, das Verhalten Roms von dem der nationalen Kirchen­ hierarchien und dem der Masse der Gläubigen zu unterscheiden, die verschiedenen politi­schen Lagern angehörten.11 Wie auch immer es um diese Debatten bestellt sein mag, festzuhalten ist, dass dann, wenn erstrangige religiöse Autoritäten offen ihre 201

Der zivile Widerstand und der Genozid

sition gegenüber der wachsenden Marginalisierung der Juden kundtaten, dies durchaus dazu angetan war, eine Entwicklung infrage zu stellen, die unweigerlich mit der Deportation enden musste. Hier ist noch einmal zu unterscheiden zwischen einem vertraulichen Protest (etwa einem ge­ heimen Brief an die jeweiligen Autoritäten) und einem öffentlichen Protest (etwa einem in den Kirchen seiner Diözese verlesenen bischöf­lichen Hirtenbrief ), dessen Wirkung ohne Zweifel sehr viel größer war. So wichtig die Rolle der Kirchen auch war, so waren sie doch nicht die Einzigen, die in der Judenfrage »die öffentliche Meinung machen« konnten. Alle, die eine gewisse politische Legitimität besaßen, ob moralisch oder intellektuell, waren potenzielle »Zeugen« und damit auch poten­ zieller Schutz für die Juden. Darunter fallen unter anderem auch öffentliche Solidaritätsbekundungen mit den Juden seitens der nichtjüdischen Bevölkerung. Natürlich war die von der mobilisierten öffentlichen Meinung aus­ gehende Schutzfunktion abhängig von dem Grad der Repression, die von den Deutschen oder ihren Verbündeten auf die Bevölkerung als Ganze ausgeübt wurde. So war es – sieht man einmal von ihrem eigenen Antisemitismus ab – für die Polen beispielsweise sehr viel schwieriger, offen ihre Missbilligung, wogegen sie sich auch immer richtete, zu ­äußern, als dies etwa für Dänen oder Franzosen der Fall war. Wie wir schon in anderen Zusammenhängen gesehen haben, war der Wirkungsgrad des Faktors »öffentliche Meinung« in den Ländern unter deutscher Direktverwaltung schwach bis unbedeutend. So blieben in Böhmen und Mähren die Proteste des Prager Erzbischofs Kaspar und anderer Persönlichkeiten aus der Hauptstadt ohne jeden Einfluss, obwohl die Bevölkerung kaum antisemitisch eingestellt und die tschechische Polizei nicht an den Deportationen beteiligt war. Auch in Griechenland, das gleichfalls von Deutschland besetzt war, riefen die im Frühjahr 1943 durchgeführten Deportationen heftige Reaktionen hervor, darunter auch die offene Missbilligung durch den Erzbischof Genadios und verschiedener weiterer Persönlichkeiten aus dem intellektuellen Milieu – allerdings ohne Erfolg. Was nun Deutschland selbst betrifft, so zeigt die von Nathan Stoltzfus unternommene Arbeit,12 dass auch die deutsche Öffentlichkeit in der Lage war, den Genozid zu verlangsamen, wo sie ihre Missbilligung gegen­über der Judenverfolgung zum Ausdruck brachte. Bis Ende 1942 war die Mehrzahl der deutschen Juden vernichtet worden, außer jenen, die mit Nichtjuden in sogenannten Mischehen zusammenlebten – oder als ­Kinder aus einer solchen Verbindung hervorgegangen waren ( 202

Die öffentliche Meinung als Schutzschild

genannte Mischlinge). Der Logik der nationalsozialistischen Doktrin entsprechend hätten jene 20.000 Juden eigentlich die ersten Opfer der Deportation sein müssen, denn zum einen war die »Degeneration«, die in einer halb »jüdi­schen«, halb »arischen« Verbindung gesehen wurde, zu verurteilen; zum andern aber verstieß der nichtjüdische Partner gegen alle Nazi­-Propaganda, die jeglichen Kontakt mit Juden unter Strafe stellte. Doch gerade diese besonders intensive Gefühlsbindung erschwerte den Zugriff auf diese Verbindungen, weshalb die Behörden die betroffenen Paare auch offen ermutigten, sich scheiden zu lassen, um später desto leichter den jüdischen Partner verhaften zu können. Doch diese Vorgehensweise, die von heftigen Drohungen begleitet sein konnte, zeitigte nur spärliche Resultate. Anfang 1943 lebten mehr als die Hälfte dieser Paare in Berlin. In der Hauptsache arbeiteten sie in Fabriken, die spe­ zielle Werkstätten für Juden hatten. Am 27. Februar 1943 stürmten Angehörige der Leibgarde Hitlers diese Werkstätten und verhafteten Hunderte der anwesenden Juden. Zur gleichen Zeit drangen Männer der Gestapo und der Berliner Polizei in die Wohnungen der Familien ein, um auch die Kinder gefangen ­zu nehmen. Die Juden wurden anschließend auf fünf Haft­anstalten im Zentrum Berlins verteilt, wo sie auf ihre Deportation warteten. Mehrere der Frauen, denen in der Zwischenzeit klar geworden war, warum ihre Männer nicht wie gewohnt von der Arbeit nach Hause gekommen waren, beschlossen noch am gleichen Abend, sich vor dem Gebäude Rosenstraße 2-4 zu versammeln, von dem sie annehmen konnten, dass sich die Gesuchten dort befanden. Bis zum nächsten Tag, einem Sonntag, wurden weitere Frauen verständigt, sodass die Menge der dort wartenden Frauen inzwischen auf mehrere Hundert angewachsen war. Sie sangen und skandierten: »Gebt uns unsere Männer zurück«. Als die Häftlinge den Lärm der Menge hörten, schrien auch sie aus den Fenstern, man solle sie freilassen. Zufällig befand sich das Gestapo-Hauptquartier für jüdische Angelegenheiten an der Ecke dieser Straße, der Burgstraße, sodass deren Mitglieder die Demonstration von ihren Fenstern aus verfolgen konnten. Sie versuchten, die Rädelsführerinnen ausfindig zu machen, doch war die Bewegung ja spontan entstanden. Trotz der Intervention der Berliner Polizei und einer Einsatzgruppe der SS, die damit drohte, in die Menge zu schießen, wurde die Demonstration fortgesetzt. Zwar gelang es der Polizei immer wieder, die Menge zu zer­ streuen, doch bildete sie sich auch an jedem der folgenden Tage aufs Neue. Vom 27. Februar bis zum 5. März 1943 demonstrierte die von wenigen Männern unterstützte Gruppe von teilweise bis zu 600 Frauen 203

Der zivile Widerstand und der Genozid

trotz beißenden Frosts in den Straßen Berlins, bis ihre Partner schließlich vom 6. März an freigelassen wurden. An diesem Tag schrieb Goebbels in sein Tagebuch, dass die Aktion aufgrund des öffentlichen Protestes bis auf Weiteres ausgesetzt worden sei. Einen Monat später kam ein Bericht der amerikanischen Delegation in Bern zu derselben Schlußfolgerung: »Die von der Gestapo gegen die jüdischen Ehemänner und -frauen angestrengte Aktion musste aufgrund der Proteste, die diese Aktion hervorrief, unterbrochen werden.« (zit. n. Stoltzfus; s. Anm. 12) Wie komplex die Beziehungen zwischen öffentlicher Meinung und Verfolgung in jenen Staaten waren, die weiterhin über eine gewisse ­innere Autonomie verfügten, wird am Beispiel Bulgariens und Frankreichs deutlich, obwohl beide Länder grundverschieden sind: bezüglich ihrer Bevölkerungsstärke, der Stärke der dort lebenden jüdischen Gemeinden, ihrer Geographie und ihrer Geschichte. Aber gerade wegen dieser Unterschiede ist es um so erstaunlicher zu sehen, wie sensibel beide – Berlin mehr oder weniger ergebenen – Regierungen für den ­offen geäußerten Druck der öffentlichen Meinung in ihren Ländern sein konnten. In Bulgarien war der Antisemitismus vor dem Krieg fast bedeutungslos. Die kleine bulgarische Gemeinde umfasste ungefähr ­ 50.000 Personen und war in dem Land mit seinen sechs Millionen Einwohnern gut integriert, was in einer Region Europas, in der Antisemitismus keine Seltenheit war, durchaus bemerkenswert ist. Doch die Annäherung Bulgariens an Deutschland hatte recht schnell negative Konsequenzen für die dort ansässigen Juden. Im Februar 1940 startete die neue Re­gierung Bogdan Filow, der ein großer Bewunderer Deutschlands war, mit Unterstützung durch König Boris ihre antisemitische Politik. Im November des gleichen Jahres verabschiedete die Regierung ein Gesetzes­projekt mit dem Ziel einer ersten Ausgrenzung der Juden. Im Vergleich zu den in Ungarn oder Rumänien bereits geltenden Texten eher »moderat« gehalten, rief dieses »Die Verteidigung der Nation« betitelte Gesetz heftige Proteste in der öffentlichen Meinung hervor. Die orthodoxe Kirche tat ihre Missbilligung ebenso kund wie verschiedene Persönlichkeiten der Intelligenz und Angehörige freier Berufe. Mittlerweile stimmte das bulgarische Parlament, die Subranie, das Gesetzes­ vorlagen ohne vorhergehende Diskussion anzunehmen oder abzulehnen hatte, am 21. Jan­uar 1941 für das Gesetz. Bald darauf trat Bulgarien an der Seite Deutschlands in den Krieg ein, beteiligte sich an der Aufteilung Jugoslawiens und Griechenlands und zog daraus einen beträchtlichen Vorteil (Annexion Griechisch- und Bulgarisch-Mazedoniens sowie eines Teils Thrakiens). Im Innern führte das zu einer neuerlichen 204

Die öffentliche Meinung als Schutzschild

terung der Lage der Juden: Seit August 1941 wurden einige von ihnen in Arbeitslager interniert oder mussten den gelben Stern tragen. Diese Maßnahme berührte in der Tat nur eine geringe Anzahl von Personen, und man kann eigentlich nicht sagen, dass schon von diesem Tag an die jüdische Gemeinschaft als Ganze der Verfolgung ausgesetzt gewesen wäre. Im August 1942 wurde dann allerdings eine neue Schwelle überschritten, als Filow ein eigenes Kommissariat für jüdische Angelegen­ heiten gründete, das der Leitung eines überzeugten Antisemiten, Aleksander Belew, unterstand. Jetzt wurden alle arbeitslosen Juden aufgefordert, die Hauptstadt bis zum 1. September zu verlassen, und das Tragen des gelben Sterns wurde für alle Mitglieder der Gemeinde verbindlich. Die im Sommer 1942 durchgeführten Maßnahmen riefen eine er­neute Protestbewegung hervor. Besonders der Metropolit von Sofia, Stephan, verlas am 27. September eine missbilligende Predigt. Auch einige Re­ präsentanten der Subranie waren der Ansicht, dass die Regierung zu weit gegangen war. So entstand mit Unterstützung der Bevölkerung eine Welle des Ungehorsams gegen das Tragen des gelben Sterns. Eine Gruppe von ungefähr 350 Juden demonstrierte im Innenministerium, bis – ­überraschenderweise – der Minister Peter Grabowski persönlich erschien, um befriedende Maßnahmen in Aussicht zu stellen. Der Chef der deutschen Gegenspionage, Walter Schellenberger, kommentierte diese Ereignisse in einem an Berlin gerichteten Bericht vom 7. November 1942 mit der Schlussfolgerung, dass »mit den letzten Angriffen auf die Juden die Toleranzschwelle (innerhalb der Bevölkerung) überschritten« (zit. n. ­ Hilberg 1961, 481) worden sei. Unter dem Druck der Bevölkerung machte die Regierung im Oktober 1942 dann einen ersten Schritt zurück. Sie gab der Presse zu verstehen, dass sie die Juden in Zukunft nicht mehr angreifen solle, und ließ die Ausgabe der gelben Sterne einstellen. Von diesem Moment an zweifelten die Nationalsozialisten allerdings an dem Willen der Bulgaren, die Judenfrage wirklich zu »lösen«. Im ­Januar 1943 wurde daher Theodor Dannecker nach Sofia geschickt, um die Dinge voranzutreiben. Er kam mit der Weisung, der Regierung ein Maximum abzuverlangen, d. h. so viele Juden wie möglich zu verschleppen. Mit Belew aufgenommene »Verhandlungen« führten rasch zur Deportation von 20.000 Juden, vor allem der in den besetzten Gebieten lebenden Griechen und Jugoslawen. So wurden beispielsweise zwischen dem 4. und 10. März 1943 fast 12.000 Juden aus diesen beiden Gebieten deportiert, ohne dass die Anweisung dazu vorher öffentlich gemacht worden wäre. Kurz darauf kam es zur Verhaftung von 4200 bulgarischen Juden. Doch diese zweite Aktion rief die Öffentlichkeit erneut auf den 205

Der zivile Widerstand und der Genozid

Plan. Der Vizepräsident der Subranie, Dimitar Peschew, setzte sich an die Spitze einer parlamentarischen Oppositionsbewegung, und es gelang ihm, eine Petition von 43 Deputierten unterschreiben zu lassen, wovon einige der Regierung sehr nahestanden. In der Provinz Plowdiw drohte Bischof Kiril (später Patriarch von Bulgarien) damit, eine »Kampagne des zivilen Ungehorsams« zu beginnen, die auch »nicht davor haltmachen würde, sich persönlich vor die Deportationszüge zu legen, falls der ­Operationsplan ausgeführt werden sollte« (Chary 1972, 90). Aufgrund dieses neuerlichen Drucks der öffentlichen Meinung wurden die Weisungen zur Deportation der bulgarischen Juden annulliert. Inzwischen war auch König Boris entschlossen, die Deportationen zu verhindern, da es die internationale Entwicklung seit der Schlacht von Stalingrad eher ratsam erscheinen ließ, von Deutschland Abstand zu nehmen. Nach einem Treffen mit von Ribbentrop in Berlin, in dessen Verlauf Letzterer seine außerordentliche Unzufriedenheit geäußert hatte, willigte der ­König schließlich darin ein, wenigstens die Juden aus Sofia auszuweisen und sie auf dem Land im Straßenbau einzusetzen. Doch am 24. Mai 1943 demonstrierten Hunderte von Juden in Sofia gegen diese Entscheidung. Sie zogen zum Königspalast, wo sie jedoch von der Polizei aufgehalten wurden. Verschiedene kommunistische, christliche und demokratische Organisationen riefen die Juden dazu auf, die Hauptstadt nicht zu verlassen. (vgl. Crispin 1969) In den der Regierung nahestehenden politi­ schen Kreisen meinte man, diese werde nachgeben müssen, und tatsächlich wurde der Ausweisungsbefehl erneut aufgehoben. In einem Bericht, dem seine Enttäuschung anzumerken war, schrieb der deutsche Botschafter in Sofia, Beckerle, am 7. Juni 1943 nach Berlin: Ich versichere Ihnen, dass wir alles in unserer Macht Stehende unternommen haben, um in angemessener Weise zu einer endgültigen Lösung der Judenfrage zu gelangen. Zu unserem großen Bedauern mussten wir jedoch feststellen, dass die Bulgaren schon zu lange mit Völkern wie den Armeniern, Griechen oder Zigeunern zusammengelebt haben, um sich des Jugendproblems bewusst zu sein. (zit. n. Hilberg 1961, 483) Der bis heute nicht aufgeklärte Tod von Zar Boris III. im August 1943 und die darauffolgende Bildung der Regierung Boschilow änderten nichts an der Situation. Die Juden entkamen der Deportation. Sicher ist Bulgarien nicht mit Dänemark zu vergleichen, denn in den Arbeits­ lagern, wohin die Juden gebracht wurden, herrschten harte Lebensbedingungen. Doch das Ergebnis bleibt bestehen. In einem für das besetzte 206

Die öffentliche Meinung als Schutzschild

Europa einzigartigen Akt schlug die Regierung am 25. August 1944 die gesamte antisemitische Gesetzgebung des Landes nieder. In dem Buch, das Frede­rick Chary über diese Ereignisse geschrieben hat, wendet er sich allerdings gegen die Annahme, Zar Boris habe als Retter der Juden zu gelten. Seiner Ansicht nach war es allein der Druck der öffentlichen Meinung, die den König dazu zwang, seine Haltung zu ändern. Größte Bedeutung für die Herausbildung dieser Gegenmacht sieht er in der Übernahme der öffentlichen Proteste durch institutionelle Träger, sei es nahme der religiösen Autoritäten oder durch die durch die Stellung­ ­Aktion der Parlamentarier. (Chary 1972, 191 u. 193 ff.) In Frankreich dagegen war der Antisemitismus – wie bereits erwähnt – schon vor dem Krieg eine Realität, die von der Vichy-Regierung später leicht dazu benutzt werden konnte, um den Juden im Rahmen der ­»Nationalen Revolution« einen »Sonderstatus« einzuräumen. Während der ersten beiden Besatzungsjahre reagierte die Öffentlichkeit auch kaum auf die Lawine der antisemitischen Maßnahmen: 3. Oktober 1940 (erstes Judenstatut), 21. Oktober 1940 (Ausschluss der Juden aus allen öffentlichen Ämtern), 29. März 1941 (Bildung eines Kommissariats für jüdische Angelegenheiten), 2. Juni 1941 (zweites Judenstatut), 21. Juni 1941 ­(Numerus Clausus an den Universitäten) und 29. Mai 1942 (deutscher Befehl zum obligatorischen Tragen des gelben Sterns in der Nordzone). Erst im Sommer 1942, als die ersten Deportationen begannen, fing die öffentliche Meinung an, sich zu regen. Zuvor war es lediglich zu vereinzelten Aktionen gekommen, insbesondere in der Nordzone, wo die Einführung des gelben Sterns Solidaritätsdemonstrationen für die Juden hervorgerufen hatte. Georges Wellers berichtet davon, wie junge nichtjüdische Pariser versuchten, diese Maßnahme ins Lächerliche zu ziehen: Sie schnitten sich Papiersterne zurecht, auf die sie »Neger« schrieben, oder hefteten den gelben Stern ihrem Hund an, wenn sie mit ihm s­pazieren gingen … (vgl. Wellers 1973) Obwohl es sich hier nur um relativ beschränkte spontane Reaktionen handelte, zeugen sie doch bereits von einer Veränderung in der Haltung gegenüber den Juden. Die Wellen der Emotion sollten jedoch bald noch höher schlagen, nachdem die Pariser Polizei am 16. und 17. Juli 1942 die erste Massenverhaftung in Frankreich organisiert hatte. Die Vor­ stellung, dass ganze Familien von Agenten des französischen Staates in ihren Wohnungen ergriffen worden waren, versetzte die Gemüter in hellste Auf­regung. Diese Razzia, die unter dem Namen »Vel’ d’Hiv’« durch­geführt wurde, ließ die aufkeimende Solidaritätsbewegung der 207

Der zivile Widerstand und der Genozid

französischen Öffentlichkeit für die Juden gleichermaßen Gestalt an­ nehmen und anwachsen. Der Polizei gelang es in den ersten beiden ­Tagen lediglich, von den 22.000 zu ergreifenden Pariser Juden 12.884 aufzufinden: Zah­lreiche Freunde, Nachbarn oder auch Unbekannte versteckten oder warnten die Betroffenen, und selbst unter den Polizisten gab es einen Mangel an Einsatzbereitschaft, der bis hin zur offenkundigen Pflichtverletzung reichte. (Le Monde juif, 29. 10. 1979) Wie ist dieser im Vergleich zu der vorherigen Passivität durchaus erstaunliche Gesinnungswandel zu erklären? Ist daraus etwa zu schließen, daß die Franzosen plötzlich einen lang unterdrückten »Prosemitismus« zum Ausdruck brachten? Das völlige Fehlen jeglicher Reaktion in den beiden vorangegangenen Jahren spricht für das Gegenteil. Man war durchaus damit einverstanden, dass die »Juden« außerhalb standen, daß sie Bürger zweiter Klasse waren. Wenn die Öffentlichkeit nun in dem Moment reagierte, als diese Entwicklung zu ihrem logischen Ende geführt werden sollte, so geschah dies wahrscheinlich vor allem deshalb, weil sie es mit der Angst zu tun bekam. Angst um die Juden auf der einen Seite – denn an dem aufrichtigen Mitgleid derjenigen, die den Juden zuhilfe kamen, kann kein Zweifel bestehen. Auf der anderen Seite aber stand die Angst um sich selber – denn schon allein die Art der Massenverhaftungen hatte etwas Erschreckendes an sich. In ihrer massiven und offenen Brutalität zeigte sich auf spektakuläre Weise die Macht eines Staates, der scheinbar nicht mehr zu bremsen war. Denn wer konnte noch sicher sein, heute oder morgen – und aus welchem Grund auch immer – nun nicht seinerseits auch in das Netz zu geraten? Diese spektakuläre und in Frankreich beispiellose Massenverhaftung erhielt durch den emotionalen Schock, den sie bei vielen hinterließ, schnell Symbolcharakter. Um es pointiert zu formulieren: Man kann in Frankreich von einer Judenfrage vor und einer Judenfrage nach »Vel’ d’Hiv’« sprechen. Während die Massen­ verhaftung einerseits den Höhepunkt der Juden­verfolgung in Frankreich markiert, steht sie zugleich aber auch für eine anwachsende Mobilisierung eines Teiles der französischen öffentlichen Meinung gegen die Juden­verfolgung. So vermelden auch mehrere Polizeiberichte des Sommers 1942, dass die allgemeine Ablehnung der Deportationen in der Bevölkerung anstieg. Zugleich gesellten sich verschiedene religiöse Würdenträger der Bewegung der öffentlichen Meinung hinzu und gaben ihr, wie in Bulgarien, einen institutionellen Ausdruck. Schon einen Tag nach der Pariser 208

Die öffentliche Meinung als Schutzschild

Massen­verhaftung schrieb Kardinal Suhard, der Erzbischof von Paris, an Pierre Laval, um seine Meinung deutlich zum Ausdruck zu bringen. Auch Marschall Pétain erhielt während des Augusts 1942 indignierte Briefe seitens des Kardinals Gerlier, des Erzbischofs von Lyon, und des Präsidenten der protestantischen Föderation Frankreichs, Pastor Bœgner. Neuerliche – ähnlich der in Paris durchgeführten – Massenverhaftungen auch für die Südzone befürchtend, wandte sich der Großrabbiner Kaplan im Namen des Konsistoriums an die Regierung. Ankündigungen der Kollaborationspresse, solche Razzien ebenfalls in der Südzone durch­ zuführen, hatten zur Folge, dass auch mehrere hohe Verantwortliche der katholischen Kirche öffentlich das Wort ergriffen. Initiiert wurde die Bewegung von dem Toulouser Erzbischof Saliège, der, obwohl er in den Vortagen heftigem Druck ausgesetzt war, am 23. August 1942 in seiner gesamten Diözese einen aufsehenerregenden Hirtenbrief verlesen ließ. Da dies der erste öffentliche Protest eines hohen Geistlichen der katholischen Kirche Frankreichs gegen die Judendeportationen war, wurde dieser Vorgang schnell publik. Doch sollten diesem Beispiel bald weitere Bischöfe folgen: am 30. August der Bischof von Montauban, Theas, am 16. September der Erzbischof von Marseille, Delay, und schließlich Kardinal Gerlier selbst. So fanden sich nach und nach berufene Stimmen zusammen, um, nachdem sie die Marginalisierung der Juden lange Zeit stillschweigend gebilligt hatten, ihre Verteidigung in dem Moment zu übernehmen, in dem die französische Polizei sie dem Tod übergeben wollte. Wladimir Rabi bemerkt hierzu, daß sich die katholische Hierarchie »im Juli und August 1942 ausschließlich deshalb empörte, weil sie plötzlich begriffen hatte, daß die Diskriminierung zur physischen Verfolgung führte« (Rabi 1978, Bd. I, 198). Zuerst schienen die Reaktionen keinen Einfluss auf die Politik Vichys zu haben. Anfang August wurden 3000 Juden aus der Südzone in die besetzte Zone überführt. Am 26. August wurde dann, wie vorauszusehen war, auch in der »freien« Zone eine Razzia durchgeführt, die zur Verhaftung von 6000 Juden führte. Diese weit unter den Vorhersagen liegende Zahl war ein weiteres Anzeichen für die Bereitschaft der Bevölkerung, den Juden zu helfen. Während einer Unterredung mit dem Chef der SS in Frankreich, Karl-Albrecht Oberg, und dem Verantwortlichen der SS und der deutschen Polizei in Frankreich, Helmut Knochen, am 2. September 1942, wies Pierre Laval auf den Protest der Kirche und insbesondere Kardinal Gerliers als dem »Leiter der Anti-Regierungsopposition« hin. Aufgrund dieser internen Schwierigkeiten erklärte Laval, dass es derzeit schwierig sei, Deutschland regelmäßige Kontingente an Juden zu 209

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liefern. Oberg und Knochen schlossen sich dieser Meinung an und informierten Berlin darüber. Doch die deutschen Behörden in Frankreich waren sich in dieser Frage nicht einig. So versuchte Eichmanns Behörde weiterhin, neue Verhaftungspläne auszuarbeiten. Doch am 25. September entschied Himmler im Sinne Knochens und Obergs: Es sei aus den strategischen und ökonomischen Interessen des Reichs in Frankreich heraus besser, die beflissene Untergebenheit Vichys zu erhalten. Dies bedeutete zwar nicht, daß damit auch die Deportationen endeten, doch waren die Nationalsozialisten mehr und mehr darauf angewiesen, mit eigenen Mitteln vorzugehen. Die französische Polizei – und mehr noch die Gendarmerie – waren in dieser Angelegenheit immer weniger vertrauenswürdig. Die Zahlen belegen im Übrigen einen deutlichen Rückgang der Deportationen seit dem Herbst 1942. Von den insgesamt 76.000 Deportierten waren mehr als die Hälfte (über 40.000) in den fünf Monaten gefasst worden, als Vichy sich noch ganz daran beteiligt hatte. Marrus und Paxton ist sicher zuzustimmen, wenn sie die plötzliche Zurückhaltung Vichys in der Frage der Judendeportation in Verbindung mit dem allgemeinen Kriegsverlauf interpretieren. (Marrus / Paxton 1981) Gleichwohl ist auch hier die spezifische Rolle des Drucks der öffentlichen Meinung von großer Bedeutung, da der Ausgang des Krieges ja noch keineswegs sicher war. So schreibt auch Serge Klarsfeld: […] konfrontiert mit den Reaktionen der Öffentlichkeit in der freien Südzone und den entschiedenen Interventionen des hohen Klerus […] sah sich Vichy gezwungen […], seine massive Zusammenarbeit zu bremsen und die Zusage zur Erfüllung des Programms zur Aus­ lieferung der Juden vom Oktober 1942 zurückzunehmen. (Klarsfeld 1983, 9) Vichy konnte dem Druck der Kirche, von der es einen Großteil seiner Legitimität bezog, kaum standhalten – und die Deutschen konnten kaum an Vichy vorbei handeln, das ihnen seit ihrer Ankunft schon so viele Vorteile gebracht hatte. Aus diesem Grunde lässt sich im nachhinein fetstellen, dass der französische Staat durchaus in der politischen Position gewesen wäre, den nationalsozialistischen Anforderungen, insbesondere in der Frage der Judendeportationen, Widerstand entgegenzusetzen. Verschiedentlich wurde behauptet, Vichy habe Juden »gerettet«, da schließlich – bei einer Gesamtzahl von 350.000 – »nur« 76.000 deportiert worden seien. Ein solches Argument beruft sich mehr oder weniger implizit auf die weiter oben dargestellte Beobachtung, dass die mit dem Besatzer zusammenarbeitende Regierung als zwischengelagerte politi­sche 210

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Macht eine gewisse für die Juden vorteilhafte Distanz zwischen ihnen und den Nationalsozialisten aufrechtherhalten konnte. In diesem Sinne ist es wahr, dass die Schaffung der »freien Zone« allen von den Deutschen Verfolgten – ob Juden oder nicht – einen provisorischen Rückzugsort bot. Doch darf darüber nicht die eigentliche Rolle Vichys verklärt werden! Denn anstatt diese Vermittlungsposition auszunutzen, das heißt, anstatt wirklich entschlossen für die Juden einzutreten, machte die französische Regierung genau das Gegenteil: Sie stellte ihre Verwaltung und ihre Polizei der Judenverfolgung zur Verfügung. Damit nicht genug. In der Südzone, wo Vichy immerhin über eine gewisse Souveränität verfügte, wandte die Regierung von sich aus die in der Nordzone geltende antisemitische Gesetzgebung der Deutschen in verschärfter Form an, ohne je dazu gezwungen worden zu sein. Wenn Vichy sich wirklich entschlossen gezeigt hätte, die Juden zu verteidigen, hätte Berlin wahrscheinlich darauf eingehen und – wie dies in anderen europäischen Ländern geschah – die Durchsetzung der Endlösung zeitweise oder sogar dauerhaft mindestens modifizieren müssen. Doch dann wäre Vichy wohl nicht Vichy gewesen …

Das soziale Netz als Schutzschild In dieser Diskussion darf nicht vergessen werden, daß es auch konkrete, d. h. physische Hilfe von anonym gebliebenen Familien oder Helfern gab, die zum Teil beträchtliche Risiken auf sich nahmen, um die Opfer und insbesondere die Kinder zu schützen. Oft hatten sie selbst das Gefühl, nur ihre Pflicht zu tun, und dies nicht einmal ausreichend. Und dennoch war ihr Widerstand einer der edelsten: Er bestand nicht darin, Leben zu vernichten, sondern darin, es zu bewahren. Dieses gesamte aus Personen und Gruppen geflochtene Gewebe bildete als Netz der sozialen Solidarität den dritten »Schutzschild« gegen die Verhaftung der Juden. Sowohl die Opposition eines Satellitenstaates als auch die Äußerungen der öffentlichen Meinung gegen die Judenverfolgung wirkten als politische Abschreckung gegen die nationalsozialistische Will­ kür. Beide Faktoren hemmten und behinderten damit zugleich die Verfolgung. Die konkrete Hilfe für die Juden dagegen ist auf einer völlig anderen Ebene anzusiedeln: auf der Ebene des »Kampfes« im eigentlichen Sinne des Wortes, der in diesem Fall im Verstecken potenzieller Opfer oder in Fluchthilfe bestand. Es galt, gegen eine bereits begonnene Entwicklung, die absehbar mit der Deportation enden würde, Widerstand 211

Der zivile Widerstand und der Genozid

zu leisten. Das Ziel dieser Widerstandsbewegung bestand darin, die ­Juden sozusagen in eine Art »soziale Decke« zu »wickeln«, um sie gleichsam unsichtbar bzw. unauffindbar zu machen. So schreibt auch Annie Kriegel: »Die wirkungsvollsten Überlebensstrategien finden sich an der Basis; in der Natur der zwischenmenschlichen Verhältnisse und Be­ ziehungen von Juden und Nichtjuden, d. h. auf der Ebene des alltäg­ lichen Lebens.« (Kriegel 1985, 202) Ob ein Land nun unter direkter Kontrolle Deutschlands stand oder nicht, ob die Öffentlichkeit dieses Landes sich zugunsten der Juden äußerte oder nicht – sie waren immer in höchstem Grade ver­wundbar, wenn ihnen die angesprochene »soziale Decke« nicht angeboten wurde, die ihnen die einzige Möglichkeit bot, sich dem Zugriff ihrer Verfolger zu entziehen. Damit wird klar, wie wichtig die konkreten S­ olidaritätsnetze als Hindernis für den Vollzug des Genozids waren. So wurden in Frankreich Juden in Pfarrhäusern, in Klöstern und in Schulen aufgenommen. Im Herzen der Cevennen, dem Land der Hugenotten, wo man Verfolgung aus eigener Anschauung kannte, leistete das protestantische Dorf Chambon-sur-Lignon während der gesamten ­Dauer des Krieges eine bemerkenswerte Arbeit. Mit den Pfarrern André Trocmé und Édouard Theis an der Spitze führten die Einwohner von Chambon auf lokaler Ebene eine der bemerkenswertesten Aktionen ­gewaltfreien Widerstands (sie benutzten dieses Wort offen) durch. (vgl. Hallie 1980 u. Boegner 1981) Sie bildeten nach und nach Hilfsstellen, die bei der Suche nach einem Unterschlupf oder der Flucht ins Ausland halfen, so etwa durch die zu Kriegsbeginn für die aus dem Elsass oder Lothringen stammenden Flüchtlinge gegründete CIMADE (Comité intermouvements auprès des évacués – Überverbandliches Komitee für Flüchtlingshilfe) (s. Fabre 1969) oder die Amitié chrétienne (Christliche Freundschaft) des Père Chaillet, der von Lyon aus mit Unterstützung des Kardinals Gerlier operierte. Sie verhalfen 12.000 Juden zur Flucht nach Spanien und 10.000 zur Flucht in die Schweiz. Die Nähe zu Asylländern, in denen man sicher sein konnte, dass die Juden dort unbehelligt bleiben würden, trug mit Sicherheit zum Erfolg solcher Unternehmungen bei. Was man daher die »geodemographischen« Faktoren nennen könnte (Konzentration oder Zersplitterung von Kommunen, Nähe zu Fluchtländern …), scheint besonders dann eine bestimmende Rolle gespielt zu haben, wenn, aus verschiedenen Gründen, die Faktoren für »politische Abschreckung« nicht in Kraft treten. In jenen Fällen, wo kein Satellitenstaat bestand oder dieser keinerlei Anstrengungen unternahm, die Juden in Schutz zu nehmen, oder in dem 212

Das soziale Netz als Schutzschild

Fall, in dem sich außerdem die öffentliche Meinung unfähig zeigte, den Opferungsprozess aufzuhalten, bestand der »letzte Ausweg« nur noch in der direkten Konfrontation. Dabei kann die Geographie durchaus eine entscheidende Rolle spielen. Die Taktik des Versteckens setzte voraus, dass die Opfer in den zahllosen Maschen des sozialen Gewebes sozusagen »versteckt« werden konnten. Die Taktik der Flucht dagegen setzte die Nähe zu einem Fluchtland voraus. Und in beiden Fällen war es zusätzlich von Vorteil, wenn die Opfer geographisch nicht zu sehr auf einen ein­ zigen Punkt konzentriert waren. Das Beispiel der Niederlande, wo mehr als 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung (die 1940 120.000 Menschen umfasste) ihr Leben verloren hatten, illustriert auf tragische Weise diese Tatsache. Die Mechanismen politischer Abschreckung konnten dort aus verschiedenen Gründen nicht greifen. Die Niederlande waren zum einen der direkten Kontrolle des Besatzers ausgesetzt, zum anderen traf dieser aber auch noch auf eine zur Zusammenarbeit bereite Verwaltung – beides an sich schon Faktoren, die eine Verwundbarkeit befördern. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der von einem niederländischen Beamten erfundene, quasi unfälschbare Ausweis, den er sich beeilte – mit Genehmigung ­seiner Vorgesetzten – der Gestapo in Berlin anzubieten. Der holländische Historiker Louis de Jong unterstreicht, dass zwischen 1940 und 1945 keine Seuche dem holländischen Volk hätte blutigere Wunden schlagen können als dieser abscheuliche Ausweis – die Erfindung eines zu dienstbeflissenen Beamten, der selbst kein Nazi gewesen war. (zit. n. Fein 1979, 74) Hinzu kommt, dass auch die Reaktionen der öffentlichen Meinung keine Erfolge zeitigten. Denn obwohl es mehrere spontane Sympathiekund­ gebungen für die Juden gegeben hatte, ergab sich daraus keine konkrete Verbesserung der Lage der Betroffenen. Das eigentliche Versagen der Niederlande aber lag in der Schwäche der den Juden gebotenen »sozialen Decke«. Auf der anderen Seite bot dieses Land wiederum eine unglaubliche Vielfalt an Verstecken für alle Verfolgten des Regimes. Eine all­ gemeine Bereitschaft zur Hilfe entstand jedoch erst nach dem Frühjahr und dem Sommer 1943, nach den großen Streiks im April und Mai, als Deutschland die jungen Niederländer zur Zwangsarbeit zu rekrutieren versuchte. Zu diesem Zeitpunkt war es für die meisten der niederländischen Juden jedoch bereits zu spät. Als im Sommer 1940 die ersten antijüdischen Schriften erschienen, erfuhren die Juden gleichwohl auch einige Reaktionen zu ihrer 213

Der zivile Widerstand und der Genozid

stützung, insbesondere seitens jener pädagogischen Kreise, aus denen sie ausgeschlossen werden sollten: Studenten der Leidener Universität und der Delfter Polytechnischen Hochschule begannen zu streiken. Professoren unterschrieben Petitionen zur Reintegration ihrer Kollegen. Kurz darauf kam es am 22. und 23. Februar 1941 vor dem Hintergrund der angewachsenen Spannungen zwischen Gruppen pronationalsozialistischer und jüdischer Jugendlicher zu einer ersten, von Himmler angeordneten, Massenverhaftung von 400 Juden auf den Straßen Amsterdams. Diese aufsehenerregende Aktion führte zu einer Streikbewegung hauptsächlich der Arbeiter und Angestellten der Stadt. Doch die Massen­ verhaftung bildete hierfür nicht die alleinige Ursache. Die Entrüstung der Bevölkerung, die inzwischen erkannt hatte, auf was die nationalsozia­ listische Besatzung hinauslief, erreichte einen Höhepunkt: durch die Verschlechterung der ökonomischen Situation, durch zahlreiche un­ gestrafte Erpressungsmanöver seitens der pronationalsozialistischen Grup­ pierungen und nicht zuletzt durch die Arroganz des Besatzers. Auf Initia­ tive der Straßenbahnfahrer und der städtischen Angestellten Amsterdams begann daraufhin am 26. und 27. Februar 1941 in der Hauptstadt ein Streik, der auch auf einige kleinere Städte übergriff. Mehrere Tausend Personen legten die Arbeit nieder und nahmen an den sporadischen Demonstrationen teil, die manchmal von gewalttätigen Ausschreitungen seitens der Demonstranten begleitet waren. Diese Aktion, die zwar in der Hauptsache von den Kommunisten initiiert, aber von ihnen nicht direkt geführt wurde, wurde von den Deutschen schnell niedergeschlagen. Die Folge war eine allgemeine Verschärfung der deutschen Repression gegen die Niederländer und insbesondere gegen die Juden, die sich mehr und mehr isoliert fanden. (s. d. Jong 1965; außerdem Sijes 1954) Was die Kirchen des Landes betrifft – wobei der Einfluss der protestantischen und der katholischen Kirche als etwa ebenbürtig zu bewerten ist –, so waren sie weit davon entfernt, sich in Bezug auf die Juden völlig passiv zu behalten. Doch ohne Zweifel zögerten sie zu lange, ihre Missbilligung auch öffentlich kundzutun. Im November 1940 verschickten sie einen un­ veröffentlichten Text, in dem sie gegen die Berufsverbote protestierten. 1942, die Deportationen hatten inzwischen begonnen, richteten sie noch Telegramme an Reichskommissar Seyß-Inquart, die sie auch zu ver­ öffentlichen drohten. Dieser gab ihnen daraufhin zur Antwort, dass er, wenn sie dies täten, auch jene Juden, die zum Christentum über­ getreten waren, deportieren lassen würde. Die katholische Kirche verwahrte sich entschieden gegen eine solche Erpressung und veröffentlichte den Text ihrer Erklärung – woraufhin die Betroffenen tatsächlich 214

Das soziale Netz als Schutzschild

deportiert ­wurden. (Warmbrunn 1963, 161) Dieses Ereignis ist ein weiteres Beispiel für den wirkungslosen öffentlichen Protest eines Landes, das sich unter direkter deutscher Kontrolle befand. Doch ist dazu anzumerken, dass der Reichskommissar leichtes Spiel hatte, die Differenzen ­zwischen den niederländischen Kirchen gegeneinander auszuspielen. Die Dinge hätten durchaus einen anderen Verlauf nehmen können, wenn die reformierte Kirche, die in Wirklichkeit der Macht allzunahe stand, sich ebenfalls dazu entschlossen hätte, ihren Text zu veröffentlichen. Wie dem auch sei, der in dieser Angelegenheit seitens der Kirchen gezeigte Mangel an ­Einigkeit war ein entscheidender Faktor für ihre Macht­ losigkeit. Vor diesem schwierigen Hintergrund, wo beide »Schutzschilde« – der des Satellitenstaates und derjenige der öffentlichen Meinung – wirkungslos geblieben waren, hätte die letzte Möglichkeit zur Rettung der Juden darin bestanden, sie entweder zu verstecken oder ihnen zur Flucht zu verhelfen. 1942 jedoch war beides schon fast unmöglich geworden. Ein großer Nachteil lag für die Juden in den Niederlanden unter anderem darin, daß vor dem Krieg die meisten von ihnen in Amsterdam wohnten. Nachdem der Besatzer sie im Ghetto zusammengezogen hatte, war es unmöglich geworden, sie in der niederländischen Gesellschaft unter­ tauchen zu lassen. Da sie zudem noch aufgrund des berüchtigten, von der niederländischen Verwaltung hergestellten Ausweises zweifelsfrei zu identifizieren waren, kann ihre Lage nicht anders als hoffnungslos bezeichnet werden. Allerdings darf man die Bedeutung der »geo­ demographischen« Faktoren auch nicht überschätzen. Denn das nahe Belgien, das durchaus mit den Niederlanden verglichen werden kann (es stand ebenfalls unter Direktverwaltung und hatte bei nur geringer Fläche eine hohe Bevölkerungsdichte), war in den Punkten, in denen die Niederlande gescheitert waren, sehr viel erfolgreicher. Sicher gab es ­weitere Faktoren, die beide Länder unterschieden. Die jüdische Bevöl­ kerung Belgiens war weiter verstreut, die Mehrheit lebte in Antwerpen und Brüssel, manche kleinere Gemeinden auch in Lüttich und Charleroi. Einzig die katho­lische Kirche übte ihren Einfluss auf die Gläubigen aus – und die Hierarchie unterstützte diejenigen unter den Gläubigen, die den Juden halfen. Die belgische Verwaltung – und auch die deutsche – zeigten weniger Eifer darin, die Verfolgung in die Tat umzusetzen. Doch das ändert nichts daran, dass die antisemitischen Gesetze ungefähr zur gleichen Zeit wie in den Niederlanden in Kraft gesetzt wurden und dass Deportationen im Jahr 1942 ebenfalls schon an der Tagesordnung waren. 215

Der zivile Widerstand und der Genozid

Tatsächlich lag der entscheidende Unterschied zwischen den Niederlanden und Belgien darin, dass es in Belgien die wahrscheinlich am ­besten organisierte zivile Widerstandsbewegung zur Rettung der Juden auf nationaler Ebene gab: das Komitee zum Schutz der Juden (Comité de défense des juifs – CDJ), dessen Geschichte Maxime Steinberg ­zurückverfolgt hat. (Steinberg 1983 u. 1986) Von Hertz Jospa, einem aus Rumänien stammenden jüdischen Kommunisten gegründet (s. Le Combat de Hertz Jospa 1970), stand der CDJ in regelmäßigem Austausch mit einer der wichtigsten nationalen Widerstandsbewegungen, der Front de l’Indépendance (Unabhängigkeitsfront). Nach dem Krieg wurde der CDJ übrigens von der belgischen Regierung offiziell mit dem Status einer Organisation des »zivilen Widerstands« ausgezeichnet. Der CDJ hatte nun bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung seines autonomen Charakters und dank seiner Verbindungen zur Front de l’Indépendance Zugang zu allen sozialen Schichten, was bei dem Versuch, Juden zu verstecken, von ganz entscheidender Bedeutung war. Als die National­ sozialisten die Vereinigung der Juden Belgiens (Association des juifs de Belgique, AJB) einrichteten, gelang es dem CDJ, dort eines seiner Mitglieder unterzubringen, sodass die Organisation immer über das auf dem Laufenden gehalten werden konnte, was sich dort gegen sie zusammenbraute. Unterstützt wurde die Arbeit des CDJ zusätzlich von den bewaffneten Aktionen einer Widerstandsgruppe, der »Partisanen«, der es beispielsweise gelang, am 31. Juli 1942 die Akten der AJB zu zerstören.13 Dem CDJ ist vor allem eine ungeheure Propagandaarbeit dahingehend zu verdanken, dass er die Juden dazu anhielt, dem Aufruf der AJB keine Folge zu leisten und sich nicht selbst in das Zentrum von Malines, dem Ausgangspunkt für die Deportationen, zu begeben. Überall dort, wo die offiziellen Büros der AJB zur Abfahrt aufriefen, gab es kleine geheime Zellen des CDJ, die zum Bleiben drängten. Bald darauf entwickelte die Organisation ein Netz von über das gesamte Land verteilten Ver­stecken. Oftmals blieb die zunächst provisorisch gefundene Unterkunft dann endgültig. So bildete sich in ganz Belgien eine Art »immobilen Widerstands« gegen die Deportationen. Beim Aufbau dieses Netzes spielte die katholische Kirche eine entscheidende Rolle, deren Schulen, Klöster und Pfarrhäuser oftmals, insbesondere für Hunderte von Kindern, zu ­Zufluchtsorten wurden. Regelmäßige Unterstützung fanden die Juden bei den »Besucherinnen«, in der Regel jungen Frauen, deren Aufgabe in der alltäglichen Versorgung bestand und deren gefährliche Aufgabe sie nicht selten starker Gefahr aussetzte. Die Organisation musste über verschiedene 216

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ziehungen innerhalb der Verwaltung falsche Papiere und Lebens­ mittelkarten organisieren und sie an die Betroffenen verteilen. Diese Arbeit konnte die Zahl der Deportationen deutlich senken. Von den 50.000 bei Ankunft der Deutschen in Belgien lebenden Juden wurden ungefähr 25.000 deportiert. Von den 25.000 Verbliebenen, so schätzt man, haben allein 15.000 ihr Leben der Arbeit des CDJ zu verdanken, darunter 3000 Kinder.14 Dieses Beispiel macht deutlich, dass der durch die »soziale Decke« gebildete dritte Schutzschirm einer konkret wirkenden Solidaritäts­bewegung selbst in einem Land, das der direkten deutschen Kontrolle unterstand, bemerkenswerte Ergebnisse zeitigen konnte. Die bemerkenswerteste Solidaritätsbewegung der gesamten Geschichte des Genozids war jedoch zweifellos die Rettung der Juden aus Dänemark. Die Bekanntheit dieses Falls rührt von seinem beinahe totalen Erfolg (mehr als 95 Prozent der jüdischen Gemeinde konnten gerettet werden) und daher, dass er im Stil eines Heldenepos ablief (Evakuierung der Juden mit dem Schiff nach Schweden). Die Geschichte der dänischen Juden ist sui generis; im Kreise der Länder Europas – ob besetzt, Achsenpartner oder neutral und wirklich unabhängig – war das Verhalten des dänischen Volkes und seiner Regierung einzigartig. Diese Geschichte möchte man als Pflichtlektüre allen Studenten der politischen Wissenschaften empfehlen, die etwas darüber erfahren wollen, welch ungeheure Macht in gewaltloser Aktion und im Widerstand gegen einen an Gewaltmitteln vielfach überlegenen Gegner liegt. (Arendt 1986, 211 f.) In der Zwischenzeit haben es verschiedene Autoren unternommen, das Besondere an dieser beispiellosen Rettungsaktion zu relativieren, indem sie ihr Gelingen auf die außergewöhnlich günstigen Umstände zu ihrer Durchführung zurückführten. So wurde etwa die besondere Zuneigung Hitlers zu den Dänen hervorgehoben; obwohl doch bekanntermaßen ein Jude für ihn gänzlich unabhängig von seiner Nationalität immer nur ein Jude blieb. Oder es wird auf das Datum – Oktober 1943 – verwiesen, ein Zeitpunkt, an dem man allgemein schon über das den Juden bestimmte Schicksal Bescheid wusste: Trotzdem aber wurden auch nach diesem Datum noch Juden verfolgt. Oder es wird die Nähe zu Schweden für das Gelingen der Aktion verantwortlich gemacht, was sicher nicht ohne Bedeutung war. Doch darf darüber nicht vergessen werden, dass die ­Juden in Norwegen (trotz der geographischen Nähe zu Schweden) nicht auf den Gedanken kamen, das Gleiche zu tun. Oder es wurde auf die 217

Der zivile Widerstand und der Genozid

kleine Zahl der dänischen Juden verwiesen; sicher, mit seinen 7500 Juden war Dänemark beispielsweise nicht mit Frankreich zu vergleichen, und die Rettung der Gemeinde wurde dadurch natürlich erleichtert. Doch darf man auch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Die jüdische Gemeinde Norwegens war mit ihren 2000 Mitgliedern noch sehr viel kleiner als die dänische. Und doch wurde sie durch einen Handstreich Quislings, den der norwegische Widerstand unglücklicherweise nicht vorhersah, im Oktober 1942 zu 50 Prozent vernichtet. In Wahrheit liegt das Außergewöhnliche der dänischen Aktion nicht in diesen für gewöhnlich angeführten Umständen, sondern darin, dass die Betroffenen von den drei »Schutzschirmen« gleichzeitig geschützt wurden: von der Standhaftigkeit des Satellitenstaats, die von jedem Übergriff auf die Juden abschreckte, von der Unterstützung dieser Politik durch die öffent­liche Meinung (hier gilt es besonders die Rolle der protestan­ tischen Kirche hervorzuheben) und von der konkreten Solidaritäts­ bewegung zu Beginn der Rettungsaktion. Allerdings ist dem noch ein vierter Faktor hinzuzufügen, der sich zum Teil aus den drei vorangegangenen ergab: nämlich die Unstimmigkeiten bei den Besatzungsbehörden selbst. Die Rettung der dänischen Juden fiel in die Zeit nach der großen politischen Krise zwischen Berlin und Kopenhagen, als Ende August 1943 die dänische Regierung gestürzt und an ihrer Stelle das Kriegsrecht eingeführt wurde. Kaum hatten die Deutschen die Kontrolle des Landes übernommen, begannen sie damit, die Deportation der Juden zu organisieren. Am 31. August stahlen sie die Akten mit den Daten der Mit­ glieder der jüdischen Gemeinde Kopenhagens, in der damals die meisten Juden lebten. Kurz darauf wurden der Großrabbiner und sein Sohn ­gefangengenommen. Am 18. September gab Hitler dem Sonderbevollmächtigten des Reichs, Werner Best, die Anweisung, mit der Deporta­ tion der Juden zu beginnen. Doch der Plan stieß gleich zu Beginn auf große Schwierigkeiten. Da mit der Zusammenarbeit der dänischen Verwaltung und Polizei nicht zu rechnen war, forderte Best von General von Hannecken, dem Kommandanten der Wehrmacht in Dänemark, Männer zu seiner Unterstützung an. Dieser hatte jedoch mit Best eine persönliche Auseinandersetzung auszufechten und weigerte sich daher, dem Folge zu leisten. So sah sich Best schließlich gezwungen, aus dem Reich deutsche Polizisten für die Operation anzufordern. Innerhalb des deutschen Generalstabs in Dänemark waren allerdings einige von denen, die über das Projekt informiert waren, der Meinung, dass dies angesichts des seit dem Sturz der 218

Das soziale Netz als Schutzschild

gierung herrschenden schlechten Klimas ein großer Fehler sei. Ein ­Attaché der deutschen Botschaft, Georg-Ferdinand Duckwitz, versuchte Best vergebens dazu zu bringen, seinen Plan zurückzunehmen. Duckwitz ging nach Berlin und schließlich nach Schweden, um es zum Einschreiten gegen Deutschland zu bewegen. Stockholm legte zwar seinen Einspruch ein, doch ohne Erfolg. Nur wenige Tage vor der für die Nacht vom 1. auf den 2. Oktober geplanten Massenverhaftung, am 28. September, informierte Duckwitz heimlich die Führung des dänischen Widerstands.15 Diese Information wurde unverzüglich an die Führung der jüdischen Gemeinde sowie an mehrere der höchsten Verantwortlichen des dänischen Staates weitergegeben. Am nächsten Tag, dem 29. August, zugleich der Vortag des Yom Kippur (des jüdischen Neujahrstags), warnte der Rabbiner der Kopenhagener Synagoge alle, die bei der Morgenmesse anwesend waren. Die Neuigkeit wurde durch Mund-zu-Mond-Propaganda rasch weiterverbreitet. Die Informationskanäle des dänischen Wider­stands, ob sie nun den sozialdemokratischen oder den christlichen Organisationen angehörten, spielten eine entscheidende Rolle bei der Warnung der potenziell Betroffenen. Berufs- und andere Verbände wurden gleichfalls in Kenntnis gesetzt. Der größte Teil des dänischen Hilfsnetzes wurde schnellstens mobilisiert, um den Juden zu helfen und sie zu verstecken.16 Der erst kurz zurückliegende Rücktritt der Regierung hatte die Menschen radikalisiert, und viele waren froh darüber, »etwas tun« zu können. Das hätte nicht einmal unbedingt für die Juden sein müssen, in jedem Falle aber gegen die Deutschen und für den Erhalt der Werte der Demokratie in Dänemark. Am Morgen des 2. Oktobers war es Best gelungen, 475 Personen festnehmen zu lassen, d. h. 6,2 Prozent der 7695 dänischen Juden. Sie wurden nach Theresienstadt gebracht, das eher ein Durchgangslager als ein Vernichtungslager war.17 Gegen die Massenverhaftung protestierte der Primas der dänischen Kirche, umgehend öffentlich, ebenso alle Bischöfe, die wichtigsten politischen Parteien, aber auch verschiedene Gewerkschaften und andere Berufsverbände. Trotzdem waren die Juden noch nicht sicher: In Kopenhagen und Umgebung versteckt, waren sie im Gegenteil aufs höchste gefährdet. Daher bot sich ihre Evakuierung per Schiff über den Sund in das nahe Schweden sogleich als die beste Lösung an. Mit nüchternem Blick von außen betrachtet, kann dieser Plan aufgrund der mit ihm verbundenen technischen Schwierigkeiten und der großen Gefahr als völlig irrational erscheinen. Doch innerhalb nur 219

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­ eniger Tage war die Rettung der Juden für viele Dänen zu einer natiow nalen Angelegenheit geworden und gleichzeitig zu einer Möglichkeit, den Nationalsozialismus direkt herauszufordern. So waren Tausende von Personen aus allen gesellschaftlichen Schichten spontan bereit, ihren Teil zum Gelingen der Operation beizutragen. Einer der Hauptverantwort­ lichen, der Lehrer Aage Bertelsen, hat im nachhinein eine genaue Schilderung davon gegeben. (Bertelsen 1954) Er beschreibt, wie jene Männer und Frauen, die keinerlei Erfahrung in der Konspiration hatten, sich spontan zur Verfügung stellten, um die verschiedensten Dinge zu er­ ledigen: wie die Fischerboote beschafft und sichergestellt wurde, daß die Fischer auch bezahlt würden – und wie für die Sicherheit der Juden gesorgt wurde, als diese sich zum Landeplatz der Boote begaben. An den wichtigsten der dorthin führenden Straßen und Wege warteten Mit­ glieder des Widerstands, um denen, die diesen Weg nicht kannten, zuhilfe zu kommen. Selbst die dänische Polizei half den Flüchtlingen bei der Orientierung. Große Mengen Geld wurden von Einzelpersonen und sogar von einigen Banken aufgebracht, um all denen zu helfen, die die nötigen Kosten für die Reise nicht aus eigenen Kräften auf bringen ­konnten. Die Rettung der Juden verdankt sich so der Stärke des sozialen Zu­ sammenhalts der dänischen Bevölkerung. Und dennoch hätte es ja durchaus vorkommen können, dass Einzelne diejenigen verraten hätten, die den Juden halfen. Auch wenn sie nicht zahlreich waren, so hatten die Deutschen doch auch Sympathisanten. »Es war völlig unmöglich, die Aktion zur Rettung der Juden an den Augen und Ohren der gesamten Bevölkerung vorbei durchzuführen«, schreibt Leni Yahil. In der allgemeinen Natur der Aktion lag ein gewisses Sicherheits­ moment, denn selbst wenn ein Nachbar den Nationalsozialisten zu­ getan gewesen wäre, so hätte er mit Sicherheit doch gezögert, die Wut der Mehrheit der Bevölkerung auf sich zu ziehen, die die Aktion unter­stützte. Dies erklärt den Umstand, dass es so wenige Informanten gab.«(Yahil 1969, 266) So wurde die Rettung der dänischen Juden zu einem der schönsten ­ apitel der Kriegsgeschichte, zum Beweis dafür, dass menschliche Solida­ K rität auch im nationalsozialistischen Europa, in direkter Nachbarschaft zu dem zum System erhobenen Verrat, noch existieren konnte. Es beweist, dass ein kleines, unbewaffnetes Volk, dem der Antisemitismus fremd geblieben war, die Möglichkeit hatte, die teuflische Logik des Genozids zu durchbrechen. 220

Ein Krebsgeschwür im Endstadium Der Genozid ist kein Geschichtsunfall. Er ist das schlimmste Syndrom einer der schrecklichsten Krankheiten der Menschheit: der Gewalt. Wie der Krieg entstammt auch der Genozid der Fähigkeit des Menschen zur Selbstzerstörung. Er ist daher durchaus mit einem Krebsgeschwür zu vergleichen, das den Sozialkörper befallen hat. Unter der zahlreichen Literatur, die bereits zu diesem Thema erschienen ist, gibt es nur wenige Schriften, die sich dem Genozid unter dem Aspekt der Krankheit ge­ nähert haben. Trotzdem kann es möglicherweise erst dann gelingen, Grundlagen für eine Therapie zu entwickeln, wenn man den Genozid als ein pathologisches Phänomen zu verstehen beginnt, das jedwede menschliche Gesellschaft befallen kann. Das Drama der Menschheit besteht darin, dass sie sich eine gesellschaftliche Identität scheinbar nur in (unterschiedlich starker) negativer Abgrenzung zu anderen vorstellen kann. Die Bildung einer Menschengruppe führt im Allgemeinen zu einer sozialen Hierarchie in ihrem ­Innern, die mit der Benennung eines gemeinsamen Feindes einhergeht. Krieg ist das traditionelle Mittel, die Identität der kriegführenden Gruppe gegen das Andere, das Gefährliche und als Feind Erkannte zu behaupten. Die historische Betrachtung kennt mindestens drei Formen der Bestätigung eines – kollektiven – Selbst durch die Negation des Anderen. Sie können auch verstanden werden als die Reduktion des Anderen auf sich selbst: – Assimilation: Die herrschende Gruppe verpflichtet die beherrschte, ihre Werte, das heißt ihre Kultur, ihre Religion, zu übernehmen, wobei den Mitgliedern der beherrschten Gruppe einige beschränkte Rechte erhalten bleiben können (»Absorption« des Anderen durch das Selbst); – Knechtschaft: Die beherrschte Gruppe befindet sich in einem Verhältnis völliger Unterwerfung gegenüber der herrschenden Grup­pe. Sie trägt zu deren Bereicherung bei, wobei ihre Mitglieder über keinerlei Rechte verfügen. (»Instrumentalisierung« des An­deren); – Extermination: Die Vernichtung ist in der Tat die extremste Form der »Reduktion« des Anderen. Es ist festzuhalten, dass sich die »Reduktion« des Anderen jeglicher ­Interessenlogik der herrschenden Gruppe entzieht. Im ersten Fall könnte man noch vermuten, dass durch die Assimilation die Herrschaft der 221

Der zivile Widerstand und der Genozid

herrschenden Gruppe längstmöglich ausgedehnt wird. Auch im zweiten Fall könnte man argumentieren, dass die herrschende Gruppe immerhin von der Versklavung der beherrschten profitiert. Doch besteht hier bereits die Gefahr von Gegenreaktionen in Form von Revolten, die ver­ suchen, sich des ihnen auferlegten Jochs zu entledigen. Im letzten Fall aber erscheint der Nutzen für die herrschende Gruppe vollständig zweifel­haft. So erscheint der Genozid als Inbegriff des Irrationalen. Man könnte daher – mit nüchternem analytischen Blick – behaupten, dass die Knechtschaft wenigstens vor der Vernichtung schütze. Denn, so das Argument, solange die herrschende Gruppe in der Ausbeutung der ­beherrschten noch einen Nutzen entdecken kann, wird sie nicht auf den Gedanken verfallen, diese zu zerstören. Vielleicht wird sie an ihr gelegent­ liche Massaker verüben, doch hätten diese einzig das Ziel, das Terror­ regime zu erhalten, um die Sklaverei fortzusetzen. Hieran lässt sich der grundlegende Unterschied zwischen Unterwerfung und Vernichtung deutlich machen. Vorwände für die Vernichtung gibt es seitens der Verfolger immer (seien sie rassistisch, nationalistisch, ethnisch …). Der Genozid jedoch ist im Grunde ein Unternehmen des Wahnsinns. Der Genozid ist daher sozusagen das Syndrom einer kollektiven mentalen Pathologie, einer Pathologie des kollektiven Selbst, die von einer tiefen Identitätskrise der befallenen Gruppe zeugt. Aus verschiedenen – historischen, kulturellen, ökonomischen – Gründen erlebt sich die Gruppe als unsicher und fragil, was sie dazu führt, sich über ihre Ursprünge zu befragen. Wie bereits gesagt, bildet der Krieg das klassische Mittel, durch das eine Gesellschaft, die sich als atomisiert und zersplittert wahrnimmt, ihre Bindungen festigen und sich erneut ihrer selbst ver­ gewissern kann. Die Konzentration der sozialen Energie auf einen ­außenstehenden Fremdkörper – den Feind – stellt die Einheit und Identität der Gruppe wieder her. Die Besonderheiten des Genozids, der ebenfalls der Notwendigkeit kollektiver Selbstbestätigung gehorcht, besteht nun darin, dass der Fremdkörper sich nicht außerhalb, sondern innerhalb der fraglichen ­sozialen Gruppe befindet. In diesem Sinne ist der Genozid ein Krieg, der sich gegen das Innere der Gesellschaft richtet. Beide Prozesse sind im Übrigen miteinander verbunden, denn ebenso wahr ist, dass der Genozid die Entstehung eines Krieges begünstigt; was wiederum Auskunft über die wahre Tiefe der Krise der betreffenden Gesellschaft gibt. Demzufolge hat der Genozid die »Entfernung« des Fremdkörpers zum Ziel, dessen Anwesenheit als Grundursache der sozialen Unordnung wahrgenommen wird. Diesen Fremdkörper zu zerstören wird zur Hauptaufgabe, damit 222

Ein K rebsgeschwür im Endstadium

die Gruppe zu ihrer Identität zurückfinden kann. Dabei hat sie ihn ­intern wie extern anzugreifen, denn es gilt gleichsam auch seine äußeren Verästelungen zu vernichten. Auch hierin zeigt sich die fatale Nähe des Genozids zum Krieg. Diese Extraktion des Fremdkörpers verlangt eine dreifach gestaffelte Vorgehensweise: Identifizierung, Entwurzelung, Vernichtung. In jedem Fall aber ist der Genozid ein Binnenkrieg, eine Form kollektiver Selbstzerstörung. Der Genozid ist die Zerstörung der Gesellschaft durch sich selbst. Einmal entfacht, kann dieser »sozialen Feuersbrunst« niemand mehr entgehen. Sicher hat der Genozid einen »Brandherd«, von dem aus er sich ausbreitet. Doch scheint seine Ausbreitung dann keine Rücksicht mehr auf die soziale Umwelt zu nehmen. Statt dessen scheint es, als ob die Beziehungen der ausgewählten Opfer des Genozids zu ihrer sozialen Umwelt sehr zwiespältig sind. Wo er sich auf Opfer konzentriert, die bereits zuvor schon Sündenbockfunktion innehatten, kann man sagen, daß es keinen Genozid ohne eine gewisse Form der sozialen Übereinkunft geben kann. Doch ist es nicht einmal nötig, dass sie sich offen ­äußert. Oft genügt es, wenn Unwissen über die begangenen Taten vorgeschützt wird. Der Wunsch, den Opfern zuhilfe zu kommen, kann natürlich auch von der Angst unterdrückt werden, damit Repressalien auf sich selbst zu ziehen. Dennoch bleibt der Eindruck bestehen, dass der Genozid nicht ohne eine gewisse versteckte und damit zugleich auto­ risierende Zustimmung entstehen kann. Ohne kollektiven Zusammenhang gibt es keinen Genozid. Der Genozid ist nichts, was spontan von einem auf den anderen Tag auftreten kann. Der Genozid lässt sich nicht verordnen. Er ist Ergebnis einer Reihe von sozialen, historischen, kulturellen, religiösen und ökonomischen Faktoren, die den Sozialkörper in seiner Tiefe bewegen und die Gruppe je nach den herrschenden Umständen um dieses geisteskranke Projekt organisieren. Auschwitz war das Endstadium einer lang anhaltenden Krankheitsentwicklung mit tiefgreifenden Wurzeln. In diesem Stadium lief die »Genozidmaschinerie« bereits auf Hochtouren, und es war nicht mehr viel dagegen auszurichten. Auch wenn die »Schutzschirme« eine gewisse Wirkung hatten, so waren sie doch nur sehr fragil und der auf ihnen lastende Druck zu stark. Der Genozid war zu einem Geisterzug geworden, der alles niederwalzte, was sich ihm in den Weg stellte – so blieb einzig zu hoffen, dass er auf seinem Weg so wenig Opfer wie möglich antreffen würde.

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Welche Vorsorge ist möglich? Gegen den Genozid leistet man keinen Widerstand, gegen ihn trifft man Vorsorge. So, wie es schwierig ist, Menschen aus dem Zentrum einer Naturkatastrophe zu bergen, so schwierig ist es auch, Menschen aus einer gesellschaftlichen Katastrophe zu retten. In diesem Stadium geht es nur noch darum, den Schaden zu begrenzen. Beispiele für spontanen zivilen Widerstand gegen den Genozid belegen zwar, dass ihnen durchaus ­Achtungserfolge möglich waren, doch ist es mit Sicherheit besser, vorher etwas dagegen zu tun, dass der Genozid überhaupt zum Ausbruch kommt – oder, wenn doch, dann nur in abgeschwächter Form. Um in dem Gleichnis zu bleiben: Die »Therapie« des Genozids erinnert an die aktuelle Krebstherapie. Je früher die Krankheit erkannt wird, desto mehr Chancen bestehen, sie wirkungsvoll zu bekämpfen. Die Frage ist dann, welche »Therapie« anzuwenden ist, damit das Böse nicht in Erscheinung treten und sich entwickeln kann. Die einzig wirkungsvolle Therapie gegen den Genozid liegt in der Vorsorge, d. h. in all dem, was zur Verhinderung der unumkehrbaren Verfolgung einer gegebenen Gruppe beiträgt – ob sie nun aus einer ­nationalen, einer religiösen oder einer ethnischen Minderheit besteht. Diese Vorsorgepolitik gegen den Genozid hat mehrere Ansatzpunkte. Dabei hängt zuerst einmal alles von den Betroffenen selbst ab, d. h. von ihrer Einstellung gegenüber der Gemeinschaft. Wenn sie es selbst vor­ ziehen, sich abseits zu halten, statt sich zu integrieren, begeben sie sich dabei in eine nachteilige Lage. Hier berührt man eine heikle Frage: Gilt es – unter der Voraussetzung, dass Integration nicht unbedingt mit der Preisgabe der eigenen Kultur gleichzusetzen ist –, die kollektive Identität einer Minderheit innerhalb einer bestimmten Gesellschaft zu erhalten oder nicht? Der zweite Ansatzpunkt einer Vorsorgepolitik gegenüber dem Genozid liegt in dem Schicksal begründet, das umgekehrt die Gesellschaft für ihre Minderheiten vorsieht. Hierbei sind die verschiedenen Optionen der verantwortlichen Politiker sicher von größer Bedeutung. Begünstigen sie die Teilnahme von Minderheitengruppen am öffentlichen Leben, oder tragen sie im Gegenteil zu deren Marginalisierung bei? Der Kampf an der Basis für jene, die einer Politik der Marginalisierung ausgesetzt sind oder marginalisiert zu werden drohen, kann ebenfalls als Aktion gegen den Genozid verstanden werden. Alles, was dazu beiträgt, gegenüber den Ausgestoßenen Solidaritätsbewegungen oder -netze zu ent­ wickeln, verringert auch die Möglichkeiten ihrer kollektiven Vernichtung. 224

Welche Vorsorge ist möglich?

Und schließlich hängt die Prävention des Genozids auch von der Wachsamkeit der internationalen öffentlichen Meinung ab, davon, wie sie die Behandlung der jeweiligen Minderheiten zur Kenntnis nimmt. Der Kampf für die »Menschenrechte« artikuliert sich heute über zwei Komponenten: über den Bezug auf internationale Rechtstexte, welche die Staaten ignorieren können, die aber trotzdem durch ihre Existenz einen Wert haben, und über Bewegungen in der Öffentlichkeit, die in unterschiedlicher Intensität von einem weltweiten Mediennetz verstärkt werden. Es muss betont werden, dass die Effizienz dieser Vorgehensweise zweifelhaft ist, doch darf man andererseits auch nicht unterschlagen, dass die Kombination beider hier und da schon zu gewissen Erfolgen geführt hat. So zeigt die Arbeit von amnesty international, dass sich selbst verbohrte Diktatoren sensibel gegenüber öffentlicher Kritik zeigen, was vielleicht der Entwicklung der Informationssysteme, des internationalen Finanzwesens, des Handels und des Tourismus geschuldet ist. Die meisten Regierungen haben erkannt, dass sie sich eine zu starke Verschlechterung der internationalen Meinung über sich nicht erlauben können. Kann dies eine ernsthafte Hoffnung auf die mögliche Prävention eines Genozids sein? Wie aber soll in einer gegebenen Gesellschaft der »Tumor«, der eine »prägenozidale« Situation ankündigt, entfernt werden? Dies ist in der Tat eine der Schwachstellen der vorliegenden theoretischen Annäherung. Nicht jede Gesellschaft, die eine schwere Identitätskrise durchmacht, muss aufgrund ihrer inneren Spannungen gleich auf einen Genozid ­zutreiben. Man kann einen Genozid nicht zweifelsfrei vorhersagen – gleichwohl kann man aber auf seine Wahrscheinlichkeit hinweisen, wo sich eine soziale Situation fortlaufend und gravierend zuungunsten einer Minderheit verschlechtert. Es wäre daher sinnvoll, Indikatoren dafür zu bestimmen. Darunter wäre der Grad des Rückzugs einer Gesellschaft auf sich selbst zu nennen, der Grad ihres Zusammenhalts oder ihrer Desintegration sowie die Behandlung ihrer Minderheiten. Des Weiteren wären Analysen ihrer Ideologie und ihrer Sprache anzustellen, da diese Elemente dazu beitragen können, Pläne zur Vernichtung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen aufzudecken. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Ideologien, die vorgeben, einen »neuen Menschen« schaffen zu wollen. Aus den an dieser Stelle ausgeführten Gedanken zur Prävention eines Genozids ergibt sich gewissermaßen von selbst eine Art Vision künftiger internationaler Beziehungen. Demnach gilt es zu verhindern, dass »gefährdete Gesellschaften« sich auf sich selbst zurückziehen können, und 225

Der zivile Widerstand und der Genozid

stattdessen offene und kommunikative Beziehungen zu ihnen aufrechtzuerhalten. Des Weiteren gilt es, Völker und Regierungen nicht zu ­de­mütigen, weil dadurch nur ihre Rachegelüste geweckt werden. Eine ­solche Ablehnung der Demütigung darf andererseits in Fällen von Menschenrechtsverletzungen entschlossene Demonstrationen nicht unter­ binden. Letztlich stößt sich die Prävention des Genozids, wie jede an­dere Form des Kampfes für die Menschenrechte, an dem Haupthindernis des vorgeblichen Rechtes auf Nichteinmischung in die inneren Angelegen­ heiten souveräner Staaten. Alles, was im Vorangehenden gesagt und vorgeschlagen wurde, läuft daher darauf hinaus, dieses so einhellig von den modernen Staaten verteidigte Prinzip der Nichteinmischung zu hinterfragen. Die Macht ist ein menschliches Phänomen, und es ist ausgesprochen schwierig, sich Gesellschaften ohne Regierung vorzustellen. Andererseits ist aber auch unstrittig, dass der Genozid von dieser Zitadelle ausging und dass, um ihn zu verhüten, Regularien zur gegenseitigen politischen Kontrolle von Staaten geschaffen werden müssen. Dies hat sowohl von oben (durch supranationale Bewegungen) als auch von unten (durch gesellschaftliche Bewegungen innerhalb der Staaten) zu geschehen. Gleichzeitig sind etatistische Systeme möglichst zu »­öffnen«, ist zum freien Verkehr der Völker beizutragen, zur Globalisierung der Information und der Solidaritätsnetze. Dies ist ein Kampf gegen institutionelle Schwerfälligkeiten und gegen Vorteilnahme jeglicher Art. Freilich sind diese Mechanismen nur sehr schwach. Doch dürfen wir – unglücklicherweise – auch nicht glauben, dass wir den Genozid schon überwunden hätten.

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9. Kapitel Die unterschiedlichen Wirkungen des zivilen Widerstands

Eines der Hauptmerkmale des Zweiten Weltkriegs besteht in der zunehmenden Verwicklung der europäischen Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen. So ist es wenig verwunderlich, dass auch Individuen, die während der Vorkriegszeit keineswegs den Führungseliten angehörten, nun die Initiative ergriffen und geheime Strukturen mit dem Ziel ­schufen, gegen die Besatzungsmacht zu kämpfen. Das Aufkommen von solchen freiwilligen zivilen Formationen wich von den Regeln des konventionellen, von regulären Armeen geführten Kriegs ab. Die Alliierten betrachteten die bewaffneten Bewegungen des europäischen Widerstands daher auch stets mit einer gewissen Vorsicht, in der Annahme, dass diese politisch nicht besonders zuverlässig seien. Die Exilregierungen bemühten sich, Schritt für Schritt die Kontrolle über diese Bewegungen zurückzugewinnen. Gleichwohl blieb die Rolle der Zivilisten während des Krieges eine stete Quelle von Meinungsverschiedenheiten, Miss­ verständnissen und unterschiedlichen Analysen. Ein gutes Beispiel dafür ist die in Frankreich zwischen den Befürwortern der »unmittelbaren Aktion« (action immédiate) und den sogenannten Attentisten geführte Debatte. Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet, war die Rolle der Wider­ standskämpfer von untergeordneter Bedeutung, da sie über keine aus­ reichende Bewaffnung verfügten. Diese wurde ihnen allerdings auch von den Alliierten weder qualitativ noch quantitativ zur Verfügung gestellt. Die einzige Ausnahme stellt hier Jugoslawien dar: Tito erhielt von Großbritannien schwere Waffen, die es ihm erlaubten, es mit den deutschen Streitkräften aufzunehmen. Dort aber, wo es zu keiner konsequenten Bewaffnung kam, musste der bewaffnete Widerstand schreckliche Nieder­lagen hinnehmen, da er ganz auf sich selbst angewiesen war. Der Aufstand des Warschauer Ghettos ist eines der tragischsten Beispiele hierfür. Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass der Beitrag des Widerstands zur Erreichung der Kriegsziele völlig unbedeutend gewesen wäre. Als unterstützende Kraft für den Vormarsch der schweren Kriegsmaschinerie der Alliierten war die Arbeit des inneren Widerstands von großer Bedeutung, 227

Die unterschiedlichen Wirkungen

so zum Beispiel bei der Auskundschaftung oder der Organisation von Sabotageaktionen. In dieser Hinsicht ist es erstaunlich, dass Basil Liddell Hart in seiner umfangreichen Geschichte des Zweiten Weltkriegs den ­Beitrag des europäischen Widerstands kaum zu würdigen weiß (Liddell Hart 1977). Jorgen Haestrup kritisiert dieses »Vergessen« Liddell Harts zu Recht in seiner weniger umfangreichen Histoire des mouvements de résistance européens. (Haestrup 1981, s. bes. 494-499). Vor dem Hintergrund eines totalen Kriegs, in dem alle verfügbaren menschlichen und ökonomischen Ressourcen dem Endsieg untergeordnet waren, bildeten die Kräfte des inneren Widerstands eine jener Ressourcen, die über Sieg oder Niederlage entschieden.

Überleben in einer »unabhängigen« Gesellschaft Gleichwohl waren nicht alle Aktivitäten des inneren Widerstands auf den endgültigen militärischen Sieg ausgerichtet, der ja doch zumindest ungewiss blieb. Es wäre ein tiefgreifender Irrtum, den Widerstand der­ gestalt »militarisieren« zu wollen. Denn schließlich war er doch gerade aus der Tatsache entstanden, dass die regulären Armeen der besetzten Länder besiegt worden waren. Die Zivilbevölkerung sah sich daher auf sich selbst verwiesen, was zu den verschiedensten Haltungen führte: Zu­ sammenarbeit, Anpassung und Widerstand. Was nun den zivilen Widerstand betrifft, so ist es bezeichnend, dass die Mehrzahl der untersuchten Fälle vor dem März 1943 auftraten, d. h. in einer Phase, die durchaus immer noch günstig für Deutschland verlief (s. dazu die Liste am Ende des Buches). Der Widerstand handelte nach den Regeln des hier und jetzt. Er versuchte zu retten, was zu retten war, ohne notwendiger­weise auf eine Umkehrung des militärischen Kräfteverhältnisses zu spekulieren. Die Logik des Widerstands war in diesem Sinne eine grundsätzlich andere als die des Krieges. Es war zuallererst ein Widerstand zum Über­ leben. Sein Ziel bestand weniger darin, den Besatzer zu besiegen – wozu er ja auch kaum die Mittel besaß –, sondern darin, trotz und neben ihm weiterzubestehen und dabei auf die Stunde der möglichen Befreiung zu warten. Das trifft ebenso auf seine Haltung in der Judenfrage zu wie für alle anderen Bereiche, in denen sich der zivile Widerstand einsetzte, sei es auf staatlichem, ökonomischem, politischem oder kulturellem Gebiet. Während ihres großen Streiks vom Mai-Juni 1941 ging es für die Berg­ arbeiter in Nord-Pas-de-Calais darum, trotz der herrschenden schlechten Lebensbedingungen in dem unterversorgten Kriegsgebiet zu überleben. 228

Überleben in einer »unabhängigen« Gesellschaft

Für die Polen ging es darum, durch das Erziehungswesen im Untergrund sowohl das von den Nationalsozialisten bedrohte Überleben ihrer Kultur als auch das ihrer intellektuellen Eliten zu sichern. Den niedergelassenen Ärzten in den Niederlanden ging es mit ihrer Ablehnung der offiziellen medizinischen Organisation um das Überleben einer freien, der Kon­ trolle des Besatzers entzogenen Medizin. Es galt – durch den Erhalt der eigenen Würde, der eigenen Identität oder auch durch die symbo­ lische Demonstration für bestimmte nicht hinterfragbare Werte natio­ nalen Charakters –, das eigene Überleben zu sichern. Ziviler Widerstand kann insofern als die Bewahrung einer Identität verstanden werden, die durch Symbole verkörpert wird und durch Waffen nicht zerstört werden kann. Die symbolische Aktion ist der echte Ausdruck des geistigen Stand­ haltens gegenüber dem Totalitarismus. Das Symbol ist die Haupt»waffe« des zivilen Widerstands. Dies gilt für den zivilen Widerstand sogar noch mehr als für den bewaffneten Kampf. Das Symbol ist die Sprache, durch die die Gesellschaft eines besetzten Landes weiterhin ihre geistige Un­ abhängigkeit behaupten kann. Ob sie diese nun durch eine Blume zum Ausdruck brachte, durch ein bestimmtes Zeichen oder durch Farben, das Symbol stellte für die nationalsozialistische Ordnung stets eine Herausforderung dar. Sein scheinbar lächerlicher Charakter hatte zur Folge, dass der überbewaffnete Koloss kaum Mittel sah, es zu zerstören. Das Symbol ist der Sammelpunkt für all jene, die weiterhin den Kopf oben tragen. Das Symbol und die es begleitenden Aktivitäten zeugen vom Willen einer Gesellschaft, zu ihren Werten zu stehen und ihre Identität gegen die herrschende Ordnung zu behaupten. Hierin besteht zweifellos die Besonderheit des zivilen Widerstands während der deutschen Besatzung. Natürlich hatte der Widerstand noch andere Funktionen – insbesondere auch die Beteiligung an den Be­ freiungskämpfen. Doch als autonome Kraft bestand seine Hauptaufgabe darin, die physische Integrität (Schutz von Verfolgten) und die Identität der besetzten Gesellschaften (ethische und politische Werte) zu bewahren. Sein besonderes Augenmerk galt dabei der Erziehung und der Kultur sowie der Bekräftigung ethischer und politischer Werte, die mit dem neuen Regime unvereinbar waren und von einzelnen Berufsgruppen oder der Gesellschaft als Ganzer eingefordert wurden. Damit wird die herausragende Rolle des zivilen Widerstands deutlich. Denn wie sonst hätte es den Polen gelingen können, ihre Kultur zu erhalten und ihre Intellektuellen zu retten, wenn sie nicht ihr geheimes Erziehungswesen aufgebaut hätten? 229

Die unterschiedlichen Wirkungen

Obwohl der zivile Widerstand sich in verschiedenen Massenbewegungen kristallisierte, verkörperte er in einem umfassenden Sinn die Kraft, mit der die Gesellschaft eines besetzten Landes aus sich heraus ihre Werte und Institutionen verteidigen konnte. Die Analyse muss daher entsprechend breit angelegt sein. Von besonderem Interesse ist dabei, dass der durch die Besatzung ausgelöste Schock und die Bildung eines natur­ gemäß diktatorischen oder totalitären Regimes auf lange Sicht zur Aufteilung der Gesellschaft in zwei ineinander verwobene Teile führte: Auf der einen Seite entstand die legale und formale offizielle Gesellschaft – auf der anderen die legitime unabhängige Gesellschaft im Untergrund. Das alltägliche Leben ist daher durch »Gräben und Brücken« bestimmt, die beide Gesellschaften voneinander trennen und miteinander verbinden. Je mehr es dem Besatzer gelingt, seine Besatzung zu legitimieren, desto mehr wird die offizielle zur realen Gesellschaft. Je mehr der Besatzer jedoch in dem Bemühen scheitert, seiner Macht Anerkennung zu verschaffen, desto mehr wird daneben eine »Parallelgesellschaft« bestehen können, der es, indem sie die Legitimität des Volkes verkörpert, gelingt, sich in den Nischen der offiziellen Gesellschaft einzunisten. Die Existenz dieser Untergrundgesellschaft bildet mit den verschiedenen sozialen Praktiken und der Vielzahl individueller Verhaltensweisen, aus denen sie sich zusammensetzt, das Haupthindernis für die reibungslose Durchsetzung der Besatzungspolitik. Solange sie besteht, ist sie der permanente Beweis für die Unfähigkeit des Besatzers, wirklich die Kontrolle über die zivile Gesellschaft zu übernehmen. Unter der deutschen Besatzung definierte eine ganze Reihe von mit steigenden Risiken verbundenen Verhaltensweisen die Umrisse dieser unabhängigen Zivil­ gesellschaft: das Hören der BBC , das Lesen der illegalen Presse, lang­ sames Arbeiten, die Missachtung der Anordnungen des Besatzers und seiner Helfershelfer, die Verweigerung des Zwangsarbeitsdienstes, der Schutz verfolgter Personen sowie die punktuelle oder permanente Teilnahme an einer strukturierten Widerstandsbewegung. Im weitesten Sinne des ­Wortes besteht der zivile Widerstand aus diesem gesamten Gewebe, der gesamten Kraft und dem Leben dieser, die offizielle Gesellschaft unterwandernden, unabhängigen Gesellschaft. So besehen, waren die hier untersuchten Massenbewegungen nur begrenzte und »konzentrierte« Formen ebendieses alltäglichen Widerstands in der Gesellschaft. Die Entwicklung einer solchen unabhängigen Gesellschaft rief bei den Einzelnen völlig neue Verhaltensweisen hervor. In der Tat war jeder durch seine soziale Umwelt dazu verpflichtet, Verhalten und Sprache nach den Erwartungen des Besatzers und der mit ihm 230

Überleben in einer »unabhängigen« Gesellschaft

arbeitenden zu richten. Dieser soziale Druck lastete, übertragen durch die Über­wachungs- und Denunziationssysteme, auf allen und hatte zur Folge, dass diejenigen, die sich ihm widersetzen wollten, keine andere Wahl hatten, als zu versuchen, in ihrem Innern einen autonomen Freiraum zu erhalten, der sich der Kontrolle durch die Macht entzog. In den vollendetsten Formen totalitärer Herrschaft war zu beobachten, dass der Erhalt der psychischen Integrität des Individuums nur funktionierte, indem man zwischen dem scheinbaren Konformismus äußerlicher Unter­ werfung und dem Bewahren der eigenen, inneren Geistesfreiheit zu unterscheiden lernte.1 Das, was man tut, ist nicht mehr notwendiger­ weise das, was man denkt – das, was man sagt, nicht das, was man glaubt. Es gilt zu lernen, wie man wachsam sein und dabei gleichzeitig folgsam erscheinen kann. Ebenso, wie die herrschende Ordnung so tun kann, »als ob« abweichende Verhaltensweisen nicht existierten, lernen auch die geistigen Rebellen, so zu tun, als ob sie sich ergeben hätten. Dies geht so weit, dass in in einer totalitären Gesellschaft jeder doppelt »sehen« kann. Die Wirklichkeit ist selten wahr. Das Sichtbare ist das Verborgene, und wer glaubt zu sehen, was er sieht, sieht nichts. Um zu verstehen, gilt es, die Sprache der Fakten zu entschlüsseln. Diese Duplizität des Lebens bereitet den Weg für Betrug und Heuchelei, für Korruption und Lüge. Daher heißt Widerstand zu leisten immer auch, sich dieser destruktiven und schizophrenen Welt zu entziehen, sich einen Raum innerer Einheit zu bewahren, in dem man sich bemüht, sich selbst treu zu bleiben. Die aus einer Besatzungssituation hervorgegangenen politischen Regime üben nicht notwendigerweise diesen Druck auf den Einzelnen aus. Doch heißt das im Umkehrschluss nicht, dass dort, wo dieser Zwang schwächer ist, Widerstand desto leichter entsteht. Betrachtet man zum Beispiel die Verwaltung, so wurde von den dort tätigen durchschnitt­ lichen Beamten eine Charakterfestigkeit und eine Geistesinitiative verlangt, die sonst kaum von ihnen erwartet wird. Der Widerstand der Verwaltungen beinhaltet, die Ausführung von Anordnung, die nicht von den legitimen Autoritäten des Landes stammen, zu verweigern. Ein solches Verhalten fiel jedoch zahlreichen Beamten während der deutschen Besatzung – wie Heering am Beispiel der Niederlande zeigt – ausgesprochen schwer. Im Geist der Disziplin erzogen, wurde nun von ihnen ein von ihrer Arbeit völlig verschiedenes Verhalten verlangt. Je nach Wichtig­ keit der Anordnungen hatten sie nach eigener Entscheidung entweder deren Umsetzung offen oder insgeheim zu verweigern, ihre Ausführung so lange wie möglich hinauszuzögern oder aber sie zu akzeptieren und ganz oder teilweise in die Tat umzusetzen. Völlig sich selbst überlassen, 231

Die unterschiedlichen Wirkungen

hatten sie nun die Art der Anordnungen zu interpretieren, während sie zu normalen Zeiten nichts als einfache Ausführende waren. Hinzu kommt, dass damit beträchtliche Risiken für die Betroffenen verbunden waren und eine Entschlossenheit, ein Mut und ein Sinn für das über­ geordnete Interesse des eigenen Landes verlangt wurde, die nicht jedem gegeben sind. Im Widerstand gegen eine Besatzungsmacht liegt zugleich eine radikale Veränderung des Verhältnisses des Individuums zum Gesetz. Wer zum Respekt gegenüber den Gesetzesregeln erzogen wurde, ist nicht besonders disponiert dafür, Akte des Ungehorsams zu begehen, auch wenn dies für eine gerechte Sache geschehen soll. Der Widerstand gegen eine Besatzungsmacht führt jedoch notwendig zur Ausübung einer ­gesellschaftlichen Praxis in der Illegalität. Das Individuum muss also dieses Tabu der Illegalität brechen, das bei vielen fest verankert ist und ein bedeutendes Hindernis für die Entfaltung einer Praxis des Widerstands darstellt. Hinzu kommt, dass das Gesetz im Allgemeinen als ein fundamentales Element der Sicherheit angesehen wird. Im Normalfall beschützt das Gesetz, und auch während der Besatzung durch die National­sozialisten dachten viele, dass sie, wenn sie sich auf ihre Pflichten beschränkten und die Gesetze beachteten, sicher wären. Wie viele Autoren bereits bemerkten, kann man im nachhinein – insbesondere was die Juden betrifft – davon ausgehen, dass eine solche Haltung einer völligen Täuschung über die wahre Natur des Nazi-Regimes entsprang. Doch ist hier auch die psychologische Schwierigkeit mitzubedenken, die im Akt des Ungehorsams begründet liegt. Denn tatsächlich wurde er von vielen als Verunsicherung wahrgenommen, selbst wenn es in ihrem eigenen Interesse gelegen hätte, sich um des Überlebens willen in den Untergrund zu begeben. Mit anderen Worten, die Intensität dieses inneren Konflikts des Individuums kann den Ausschlag für Ungehorsam geben. Für einen verfolgten Menschen war Sicherheit untrennbar mit der Möglichkeit verknüpft, ein Versteck zu finden. Dabei gilt es zwei Arten des Versteckens zu unterscheiden. Die erste Möglichkeit bestand darin, sich in schwer zugängliche Gebiete (Berge, Wälder) zurückzuziehen oder auch in einer Stadt oder einem Dorf in einem Versteck auszuharren. Beides machte den Betreffenden außerordentlich unbeweglich und von Außenstehenden abhängig. Die zweite Möglichkeit dagegen bestand darin, die eigene Identität zu ändern und sich »wahr-falsche« Papiere zu besorgen (Ausweis, Lebensmittelkarte). Diese Form des juristischen Versteckens bot den Vorteil größerer Flexibilität, war jedoch mit einer ­großen Schwierigkeit verbunden, denn nicht jeder war in der Lage, sich 232

Überleben in einer »unabhängigen« Gesellschaft

falsche Papiere von einer Qualität zu verschaffen, die den offiziellen Dokumenten gleichkam. Eines der Hauptmerkmale der unabhängigen Gesellschaft besteht darin, dass sie in der Hauptsache über klandestine Aktivitäten funktioniert. Doch schon allein im Untergrund zu leben ist nicht leicht. Traditionell unterscheidet man hier die »legalen« Illegalen, also jene, die einer Widerstandsaktivität nachgehen und sich dabei des »Deckmantels« eines normalen Berufes bedienen – und die »total« Illegalen, die alle Brücken zu ihrem »normalen Leben« abgebrochen haben. Für erstere konnte dieses Doppelleben, soweit sie dabei ihre sozialen und familiären Bindungen aufrechterhalten konnten, einigermaßen erträglich bleiben. Allerdings waren sie ständig zu erhöhter Wachsamkeit gezwungen, um nicht den einen kleinen Fehler mit den schwerwiegenden Folgen zu begehen. Für die anderen hingegen konnte die Tatsache, völlig am Rande der Gesellschaft zu leben – um nicht zu sagen, von ihr ausgeschlossen zu sein –, eine erhebliche psychische Belastung bedeuten. Diese totale Geheim­ haltung wurde nur von einer Minderheit der Widerstandskämpfer praktiziert, und es wäre angesichts der damit verbundenen Zwänge auch kaum vorstellbar, dass daraus eine Massenbewegung hätte entstehen können. (vgl. Noguères 1985) Hinzu kommt, dass das Leben im Untergrund gelernt sein will – und das braucht Zeit. Dies gilt besonders für Gesellschaften, in denen eine solche Praxis vor dem Krieg nicht bestanden hatte – was auf die meisten europäischen Länder zutrifft. So wurden von ungeübten Widerstandskämpfern nicht selten folgenschwere Unvorsichtigkeiten begangen. Eine illegale Tätigkeit auszuüben, setzt voraus, dass bestimmte Vorsichtsmaßregeln eingehalten werden, die un­ erfahrenen Widerstandskämpfern nicht unbedingt bekannt sind. Dabei gilt es nicht nur, auf die eigene Sicherheit zu achten, sondern, mehr noch, auf die der anderen. Dies bedeutet, immer die möglichen Folgen der geringsten Handlungen vor Augen zu haben. Im Untergrund muss man lernen, sich für die anderen verantwortlich zu fühlen. Der von den polnischen Studenten der »Universität der Westterritorien« (ehemalige Universität von Poznań) bei Studienbeginn zu leistende Eid ist für die damit verbundenen Anforderungen an den persönlichen Einsatz bezeichnend: Ich schwöre: 1. Absolutes Stillschweigen zu bewahren über den Ort, die Personen, die Universitätsabschlüsse und den Inhalt der Kurse sowie der praktizierten Übungen; und dies nicht nur gegenüber Fremden oder Unbekannten, sondern auch gegenüber uninformierten 233

Die unterschiedlichen Wirkungen

Freunden. Desgleichen schwöre ich, während Unterhaltungen größtmögliche Vorsicht walten zu lassen, insbesondere an öffentlichen Orten. 2. die von den Universitätsautoritäten getroffenen Anordnungen bezüglich des Lebens und Arbeitens an der Universität zu respektieren […]. So wahr mir Gott helfe. (zit. n. Rings 1981, 217) Diese Notwendigkeit zur Geheimhaltung entstand in allen Ländern des besetzten Europas. Sie bildete eine der notwendigen Voraussetzungen für die Entwicklung einer von der Kontrolle durch die Macht unabhängigen Gesellschaft. Daraus entstanden eigene Organisationsformen und Kommunikationsnetze, die an die speziellen Bedingungen des Kampfes gegen einen der gefährlichsten Gegner angepasst waren. Diese organisatorische Infrastruktur bildete die technische Basis, von der aus sich Aktionen entwickeln konnten. Ohne eine an diese Art des Kampfes angepasste Organisation und eine Kommunikationstechnologie gibt es keinen Wider­ standskampf. In Norwegen wurden seit der Verhaftung einiger Oppositio­ neller im Juni 1941 die gesamten Strukturen des Widerstands geheim gehalten. Seine Anführer bildeten auf der Stelle hervorragende, das ganze Land umspannende Informationsnetze (Nachrichten wurden z. B. mit unsichtbarer Tinte geschrieben), die vom Besatzer niemals entdeckt wurden. Der zivile Widerstand stand unter der Leitung eines Koordinationskomitees (Koordinasjonskomiteen, abgekürzt KK), das sich aus ungefähr dreißig Mitgliedern zusammensetzte, die nicht nur die politi­ schen Parteien repräsentierten, sondern auch die verschiedenen Vereine und Berufsverbände. Die Vereine spielten in der Leitung des Widerstands eine wichtige Rolle: Da sie in Norwegen sehr zahlreich und gut entwickelt waren, dienten sie dem Koordinationskomitee des zivilen Widerstands als Schaltstelle zur Verbreitung von Informationen. In Frankreich entwickelten die Kommunisten in Nord-Pas-de-Calais die Formel »P-O -M-Dreieck«. Dahinter verbargen sich hierarchisch gegliederte und strikt voneinander getrennte Gruppen, die jeweils aus drei Personen bestanden. Jede Person betreute einen klar umrissenen Bereich: »Politik« (P), »Organisation« (O), und »Massen« (M). Für die kommunistische Führung bildete diese Aufteilung den besten Kompromiss zwischen der Notwendigkeit, schnellstmöglich Verbindungen herstellen zu können (Effizienz), und der nötigen Trennung der einzelnen Zellen (Sicherheit). In den verschiedenen Ländern und Regionen wurden unterschiedliche und zum Teil äußerst ausgeklügelte Organisationsstrukturen erfunden. 234

Überleben in einer »unabhängigen« Gesellschaft

Eines war ihnen jedoch allen gemeinsam: ihre autoritäre Struktur. Die Funktionsgewohnheiten einer demokratischen Organisation können, insbesondere was die Verfahrensweisen unmittelbarer Beratungen angeht, unter einer Diktatur wohl schwerlich aufrechterhalten werden. Die Sicherheitsvorkehrungen, die unbedingte Anonymität, die Unmöglichkeit, viele Personen zu einer Debatte zu versammeln, kurz, alle Regeln des Untergrunds sprachen gegen die elementaren Prinzipien der Demokratie und für den Autoritarismus. Dazu schreibt Claude Bourdet, wobei er auf seine eigene Erfahrung im französischen Widerstand zurückgreift: »Es war unmöglich, eine Untergrundbewegung demokratisch zu führen.« (Bourdet 1975, 134) Wie viele andere auch machten die nieder­ ländischen Ärzte diese schwierige Erfahrung, als sie bei der Gründung ihrer Widerstandsorganisation (des Medisch Contact) die demokratische Funktionsweise ihres alten Berufsverbandes übernehmen wollten. Doch dieses Vorhaben erwies sich als unrealistisch. Insbesondere hatten sie von dem Prinzip der Vollversammlung Abstand zu nehmen (für die wohl mehrere Hundert Ärzte hätten zusammenkommen müssen), nachdem es im Anschluss an eine solche Versammlung zur Verhaftung mehrer Verantwortlicher gekommen war. Dies hatte wichtige Konsequenzen für die weitere Vorgehensweise. Die Führung des Centrum – der Kampf­leitung – konnte, da sie nurmehr über Delegierte oder »Juriere« Kontakt zur Basis hatte, diese nicht mehr um ihren Rat fragen. So übernahm sie immer mehr autoritäre Methoden und gab Verhaltensmaßregeln aus, die die einzelnen Mitglieder immer weniger einzusehen in der Lage und die anzuwenden sie gleichwohl gezwungen waren. Der Zwang zu autoritärer Strukturierung von Untergrundbewegungen hatte u. a. zur Folge, dass jene Institutionen, die bereits vor dem Krieg stärker hierarchisiert waren, nun um so größere Chancen hatten, be­ stehen zu bleiben, unter der Bedingung natürlich, dass sich ihre Führungen überhaupt gegen die Behörden des Nazi-Regimes engagieren wollten. So schätzt auch Leonore Siegele-Wenschkewitz, dass es der hierarchischen Struktur der katholischen Kirche Deutschlands zu verdanken war, dass sie dem Druck der Nationalsozialisten besser widerstehen konnte als die dezentralisierte protestantische Kirche, deren Aktionen leichter schon an der Basis zu ersticken waren. (Siegele-Wenschkewitz 1982) Zu diesem Urteil kommt auch Jean Chelini für Belgien: Obwohl auch die katho­ lische Kirche von der Kollaboration und den daraus entstandenen politi­ schen Differenzen im Lande nicht unberührt blieb, »war die Solidarität der hierarchischen organisatorischen Struktur des belgischen Katholizismus in der Lage, das Schlimmste zu verhindern« (Chelini o. J., 175). 235

Die unterschiedlichen Wirkungen

Abschließend muss auf eine für das Bestehen unabhängiger Gesellschaften und die Fortführung ihrer Widerstandsaktivitäten notwendige Dimension hingewiesen werden: ihre finanziellen Mittel. In Polen ­wurden die Untergrundlehrer in der Hauptsache von der Exilregierung in ­London bezahlt. Die dänischen Juden hätten ohne eine umfassende Spenden­ tätigkeit nicht gerettet werden können, da viele von ihnen nicht die Mittel besaßen, die Überfahrt nach Schweden zu bezahlen. So war der Widerstand gezwungen, mehrere Millionen dänischer Kronen zu sammeln. In Belgien erhielt das Komitee zur Verteidigung der Juden von einer jüdisch-amerikanischen Organisation über die Schweiz wichtige Geldmittel, um diejenigen – vor allem Kinder – unterstützen zu können, die unter seinem Schutz im Untergrund lebten. In Norwegen konnten die Lehrkräfte sicher sein, dass im Falle ihrer Verhaftung wenigstens ihre Familien durch eine Solidaritätskasse unterstützt würden, die aus ihren Einkommen sowie aus anonymen Spenden finanziert wurde. In den Niederlanden war es dem Medisch Contact gelungen, eine Art Versicherungskasse einzurichten, die sich aus den Beiträgen der Ärzte finanzierte. Alle Ärzte, die aufgrund ihrer Widerstandsaktivitäten Einschränkungen beim Ausüben ihres Berufs hinzunehmen hatten, wurden von der Organisation unterstützt. Sollte ein Mediziner aufgrund seiner Beteiligung am Widerstand gar sein Leben verlieren, so war vorgesehen, dass sich die Organisation um die Erziehung seiner Kinder kümmern sollte. In den Niederlanden, dem neben Belgien am dichtesten besiedelten und zugleich die wenigsten natürlichen Verstecke bietenden Land, nahm die finanzielle Solidarität mit den im Untergrund Lebenden ein beeindruckendes Ausmaß an. Ein gegenseitiger Hilfsfonds, der im nachhinein auch von der Exilregierung anerkannt wurde, war geschaffen worden, um die verschiedensten Personen zu unterstützen: die Familien der nach London gegangenen Militärs, Gefangene, Widerstandskämpfer und ­Juden. Diese illegale »Versicherung« war durchaus mit einem Großunter­ nehmen vergleichbar, in dem mehrere Tausend Personen beschäftigt waren. Seine Einlagen stammten nicht aus Spenden, sondern aus Kre­ diten wohlhabender Bürger, deren Rückzahlung die Exilregierung für die Zeit nach dem Krieg garantierte.2 So wurden auch die Kosten für den großen Streik der niederländischen Eisenbahner im September 1944, der die Aktionen der (alliierten) Luftlandetruppen in Arnheim unterstützen sollte, komplett von der niederländischen Exilregierung übernommen. Diese finanzielle Hilfe stellte eine der Grundvoraussetzungen für die Entwicklung der Widerstandsaktivitäten dar. Sie trug entscheidend dazu 236

Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung

bei, um einer der furchtbarsten und bösartigsten Taktiken begegnen zu können, die einer Macht zur Verfügung stehen, um eine Widerstandsbewegung im Keim ersticken zu können: die ökonomische Repression. Ziviler Widerstand benötigt daher Hilfe, nicht nur in der unabhängigen Gesellschaft, sondern auch in der offiziellen (zum Beispiel seitens der Beamten), und nicht nur im Inneren des Landes, sondern auch im Ausland. Ein isolierter und auf sich selbst angewiesener Widerstand ist zum Tod verurteilt. Der Erfolg zivilen Widerstands hing unzweifelhaft von den Ressourcen ab, die ihm im Innern und Äußern der Gesellschaft eines besetzten Landes zur Verfügung standen.3 Unter Ressourcen sind dabei nicht nur Männer und Frauen zu verstehen, die bereit sind, sich gemeinsam am Widerstand zu beteiligen, sondern alle zur Verfügung stehenden Mittel: Organisationsstrukturen, Kommunikations- und Transportmittel, finanzielle Mittel, internationale Hilfen. Es ist natürlich klar, dass dem zivilen Widerstand während der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung technische, finanzielle und organisatorische »Logistik« nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stand. Dieser Mangel an Ressourcen ist eine der Hauptursachen für seine Schwäche gegenüber dem weitaus besser ausgestatteten Besatzer und der mit ihm Zusammenarbeitenden.

Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung Der zivile Widerstand kam aus dem Nichts. Er musste alles selbst »er­ finden«. Dadurch brauchte er sehr viel Zeit, um Einfluss zu erlangen, und mehr noch, um eine tragfähige organisatorische Basis aufzubauen. Selbst in den Ländern, wo günstigere politischen Bedingungen herrschten (keine Legitimation der Besatzungsmacht), nahm seine Struktu­ rierung viel Zeit in Anspruch. In Norwegen war die zivile Organisation des Widerstands kaum vor Ende 1941, Anfang 1942 abgeschlossen, d. h. mehr als anderthalb Jahre nach Ankunft des Besatzers. In Polen, das bekanntlich unter sehr viel härteren Besatzungsbedingungen zu leiden hatte, waren die Strukturen für den Geheimunterricht erst vom Sommer 1942 an wirklich tragfähig, d. h. fast drei Jahre nach dem Einmarsch der Deutschen. Das Anwachsen des zivilen Widerstands hing eng mit der Entwicklung des allgemeinen Widerstands zusammen. Im Zuge der vorliegenden komparativen Studie wurden nach und nach jene Schlüsselfaktoren ­zusammengetragen, die mit der Entwicklung des zivilen Widerstands 237

Die unterschiedlichen Wirkungen

selbst zusammenhingen – unter Vernachlässigung derjenigen, die sich aus dem Kriegsverlauf ergaben. Denn keineswegs alles hängt von dieser spezifischen Form der Auseinandersetzung ab. Viele Faktoren ergeben sich aus den Eigenheiten der betroffenen Gesellschaften. Man kann ­daher feststellen, dass sich der zivile Widerstand am besten entwickelt hat in: 1. Ländern mit demokratischer Tradition; 2. Zonen mit starker urbaner oder industrieller Konzentration; 3. Gruppen mit starkem sozialen Zusammenhalt. Weitere Faktoren waren an die Technik und Logistik des Widerstands geknüpft. Sie hingen ab von: 1. einer klandestinen Organisationsstruktur; 2. einem gleichfalls klandestinen Kommunikationssystem; 3. verschiedenen Ressourcen (Lebensmittel, Geld …); 4. internationaler Unterstützung. Weitere Faktoren hingen schließlich mit der Dynamik oder dem Verlauf der eigentlichen Aktionen zusammen:

1. Die Erhaltung oder die Bildung einer legitimen Autorität war für die Dynamisierung des Kampfes unerlässlich. 2. Für seine Entwicklung benötigte der zivile Widerstand eine eigene Sprache: Hier spielte das Symbol eine erstrangige Rolle. Es war gleichzeitig ein Ausdrucksmittel, diente der Wiedererkennung und stellte die Zusammengehörigkeit dar. Außerdem war es von der Repression nur schwerlich zu zerstören. 3. Immer wieder waren auch »auslösende Momente« notwendig, die den Übergang zur Aktion provozierten. In dieser Hinsicht waren bestimmte unpopuläre Entscheidungen des Besatzers ein Haupt-­ faktor für das Wachstum der gegen ihn gerichteten Bewegungen. 4. Die Ablehnung des bewaffneten Kampfes war an sich ein »Schutzfaktor« für den zivilen Widerstand. In den Fällen, wo er sich dennoch mit dem bewaffneten Kampf verbündete, war er zugleich den fürchterlichsten Repressionen ausgesetzt und damit um so leichter unschädlich zu machen. 5. Die Unterstützung Dritter (beispielsweise von Kirchen), denen in den Augen des Besatzers Bedeutung zukam, gab einer zivilen

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Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung



standsbewegung dahingehend größeres Gewicht, dass sie ihr mehr Gehör verschaffte und ihre Schlagkraft erhöhte. 6. Die Unterstützung durch die öffentliche Meinung im Allgemeinen bildete ebenfalls einen »Schutzfaktor« für die Widerstandsbewe gungen. 7. Und schließlich sind die potenziellen Widersprüche in den Reihen des Gegners zu nennen, die, ganz gleich, ob sie vom Widerstand verursacht wurden oder nicht, für ihn von Vorteil waren. Diese Liste von Faktoren ist sicher nicht vollständig und bedarf weiterer Verbesserungen. Doch kann sie vielleicht bereits als ein Raster zur Analyse weiterer, nicht vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges entstandener Beispiele zivilen Widerstands dienen. So kann dieses Raster auch auf die Konflikte angewandt werden, die sich unter zeitgenös­ sischen totalitären oder diktatorischen Regimen abspielen. Seine »Er­ klärungskraft« in der Anwendung auf andere historische Ereignisse zu überprüfen heißt dabei zugleich, das Raster zu verbessern. Es gilt jedoch nicht nur, die Faktoren, die zur Entwicklung des Widerstands beitragen, zu identifizieren, sondern auch seine Wirkung zu ­bewerten. Bei vielen Autoren bleibt der »Erfolg« der von den Widerstandsorganisationen durchgeführten Aktionen häufig begrifflich unklar. Sicher kann eine Aktion schon dann als Erfolg gewertet werden, wenn es ihr gelang, mehrere Zehntausend Personen zusammenzuführen. Ein solches Ereignis kann an sich schon als Zeichen für die wachsende Mobilisierung der öffentlichen Meinung gelten. Doch bedeutet dies nicht auch gleichzeitig, dass die Aktion effizient gewesen ist. Die Effi­ zienz einer Widerstandsform zu bestimmen, heißt vor allem, die Resultate der Widerstandsaktionen mit den vom Gegner verfolgten Zielen ins Verhältnis zu setzen. Die Frage ist eben, ob die Realisierung dieser Ziele von den infrage stehenden Widerstandsformen behindert, beschränkt oder sogar verhindert wurde. Bei der Okkupation eines Landes durch eine fremde Macht lassen sich zumindest drei Ziele unterscheiden: die ökonomischen Ziele des Besatzers (Ausbeutung der Reichtümer des eroberten Landes), die politischen (zum Beispiel Einsetzung einer ihm günstig gesonnenen Regierung) und die ideologischen (Überzeugung der Bevölkerung von den Werten des Besatzers). Diesbezüglich macht die vorliegende Arbeit deutlich, dass der zivile Widerstand, selbst wenn er eine noch so geringe Effizienz hatte, keineswegs zu vernachlässigen ist. An dieser Stele ist es erforderlich, drei Wirkungsformen voneinander zu unterscheiden: direkte, indirekte und abschreckende Wirkung. 239

Die unterschiedlichen Wirkungen

Der zivile Widerstand besaß direkte Wirkung vor allem dort, wo er durch bestimmte Widerstandsaktionen die Ausführung der gegnerischen Pläne behindern konnte. So wurden die Möglichkeiten, das besetzte Land auszubeuten, durch die Verweigerung der Zusammenarbeit erheblich verringert. Ebenso kann auch eine massive Bewegung zivilen Un­ gehorsams die Pläne des Gegners durchkreuzen. Hier sei an das Beispiel der Bewegung zur Verweigerung des Zwangsarbeitsdienstes erinnert. In Frankreich, den Niederlanden oder Belgien nahm die Summe der individuellen Verweigerung (insbesondere während des letzten Besatzungs­ jahres) den Deutschen einen wichtigen Teil der angeforderten Arbeitskräfte. Die Folgen dieser direkten Zwangsmaßnahmen werden auch aus einem deutschen Bericht vom Januar 1944 deutlich, der die Einstellung gegenüber dem Zwangsarbeitsdienst in der Region Nord-Pas-de-Calais wiedergibt: Die Zwangsrekrutierung trifft auf keinerlei Verständnis, und niemand ist in dieser Frage zu einer Zusammenarbeit bereit. Auf die Franzosen ist nur insoweit Verlass, wie die an sie gestellten Anforderungen nicht den angeblichen Interessen ihres Landes widersprechen und ihnen kein sonderliches persönliches Opfer abverlangen, das sie für die Besatzungsmacht zu erbringen nicht bereit sind. Das beste Beispiel für diese Tatsache ist das Scheitern des Zwangsabtransports der Arbeitskräfte nach Deutschland. (zit. n. Dejonghe / Laurent 1974, 30) Die verschiedenen Formen des langsamen Arbeitens und der technischen Sabotage hatten ebenfalls direkte Folgen, da sie eine Senkung, wenn nicht gar eine Einstellung der Produktion bewirken konnten. Dabei ist es außerordentlich schwierig, zu einer exakten Einschätzung dieser anonymen Aktivitäten zu gelangen. Statistiken erlauben jedoch, sich ein ungefähres Bild zu machen. So fiel die Kohleproduktion in Belgien seit dem Winter 1941 /42 um 36 Prozent, was vor allem der in den Stollen herrschenden »schlechten Moral« zugeschrieben wurde. (Haestrup 1981) Für die Bergwerke in Nord-Pas-de-Calais beschreibt Étienne Dejonghe das gleiche Phänomen. In einer detaillierten Studie über die Region Bergamo in Italien zeigt Stefano Piziali, daß der Produktionsrückgang in einer für Deutschland tätigen stahlproduzierenden Fabrik auf die von Arbeitern verschuldete Industriesabotage und auf die von den Alliierten verursachten Bombenschäden zurückzuführen sei.4 Das Entwenden von Anordnungen, Geldern oder Lebensmitteln fügte den deutschen Interessen ebenfalls direkten Schaden zu. Verantwortlich hierfür war vor ­allem das mit dem Widerstand zusammenarbeitende Verwaltungspersonal. 240

Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung

Eine in diesem Zusammenhang erwähnenswerte Aktivität wurde von Jean Ismeolari, einem Inspektor im französischen Arbeitsministerium, entwickelt. Ihm gelang innerhalb des Arbeitsministeriums die Gründung von hochoffiziellen »Berufungskommissionen«, die für den Zwangs­ arbeitsdienst angeforderte Arbeiter fast schon systematisch wieder davon befreite. Jacques Évrard nimmt an, dass auf das Konto dieser Kommissio­ nen nahezu 100.000 angebliche Fehlberufungen und »Ausnahmereglungen« gehen, was Deutschland einen Verlust von mehreren hundert Millionen Arbeitsstunden zugefügt haben dürfte. (Évrard 1971, 141) Sicher konnten diese Verweigerungstaktiken nicht verhindern, dass Berlin seine wichtigsten ökonomischen Ziele erreichte – und dies ins­ besondere in Westeuropa, dessen Reichtümer für das Fortschreiten der Kriegsmaschinerie von entscheidender Bedeutung waren. Dies ist jedoch vor allem der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der westeuropäischen Unternehmer zu verdanken, die im Allgemeinen nicht zögerten, mit dem Reich Handel zu treiben. Diese industrielle Zusammenarbeit trug, ob freiwillig oder erzwungenermaßen, viel dazu bei, dass Berlin seine Ziele erreichte. Gerade vor dem Hintergrund der allgemeinen Bereitschaft, mit Deutschland Kompromisse einzugehen, erhalten die hier untersuchten Formen der Verweigerung der Zusammenarbeit (wie langsames Arbeiten, technische Sabotage, Unterschlagung von Anordnungen) erst ihre eigent­ liche Bedeutung. Ihre Vervielfältigung trug in der Tat dazu bei, die Vorteile, die der Besatzer aus seiner Okkupation ziehen konnte, zu vermindern. Daneben bestand eine direkte Wirkung des zivilen Widerstands im Schutz von durch die Polizei des Besatzungsregimes bedrohten Personen, wie Juden, Widerstandskämpfern oder jenen, die den Zwangsarbeitsdienst verweigerten. Wahrscheinlich entkamen Hunderttausende mit­ hilfe des zivilen Widerstands ihrem Schicksal. Was den Genozid an den Juden betrifft, so könnte man angesichts der weltweit in der »Endlösung« erreichten Zahlen die Wirksamkeit der vom zivilen Widerstand an­ gewandten Verfahren (von der Verweigerung der Zusammenarbeit der Juden selbst bis zur aktiven Solidarität mit ihnen) durchaus anzweifeln. Doch gilt es auch hier, die Ereignisse in ihrem historischen Zusammenhang zu sehen. Der Genozid am jüdischen Volk stand am Ende einer Entwicklung antisemitischer Kräfte, deren tiefgreifende Wurzeln bis weit vor den Krieg zurückreichten. Sie wuchsen immer stärker an, um so mehr, als das internationale Umfeld der Judenverfolgung gegenüber gleichgültig blieb. Dies wurde wiederum dadurch begünstigt, dass der Genozid vor dem Hintergrund des Krieges stattfand, sodass ein 241

Die unterschiedlichen Wirkungen

greifen beinahe unmöglich wurde. So blieb nur noch die Möglichkeit, den Schaden zu begrenzen. Für eine Beurteilung der Wirkung des zivilen Widerstands ist es unbedingt notwendig, diese Zusammenhänge zu ­berücksichtigen. Auch gibt es keinen Zweifel darüber, dass die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion – obwohl sie schon sehr früh darüber unterrichtet waren, was den Juden drohte – nichts unter­ ­ nahmen, um deren Vernichtung zu verhindern, ja, dass sie sich nicht einmal zu einer Bombardierung der zu den Vernichtungslagern führenden Eisen­bahnlinien entschließen konnten, obwohl sie offen dazu aufgefordert wurden.5 Diese »Gleichgültigkeit« der militärischen Befehls­ haber ist erstaunlich, wenn nicht schockierend, obwohl ihr, vom rein militärischen Standpunkt aus betrachtet, durchaus eine gewisse Logik innewohnt. Denn die Alliierten befanden sich in einem totalen Krieg, den zu gewinnen sie keinesfalls sicher sein konnten. Es galt, ein Maximum an Kräften aufzubieten, um die deutsche und die japanische Kriegsmaschine­rie zu zerstören. Vor dem Hintergrund des totalen ­Krieges aber stellte Auschwitz in ihren Augen kein strategisch bedeutendes Ziel dar. (vgl. Laqueur 1981 und Wyman 1987) Daher war in Bezug auf den Schutz der Bevölkerung im Allgemeinen und der Juden im Besonderen der zivile Widerstand wirkungsvoller, als nichts zu tun. Es ist sicher schwierig, eine zahlenmäßige Auswertung vorzunehmen, wie viele Personen dadurch gerettet wurden, und man kann die Effizienz des zivilen Widerstands auch nicht ausschließlich im Licht der dänischen Ereignisse beurteilen. Man kann dem natürlich entgegenhalten, dass es schließlich der militä­rische Sieg der Alliierten war, der dem Genozid am jüdischen Volk ein Ende bereitete. Doch selbst im August, September und Oktober 1944, also mehr als drei Monate nach der Landung der alliierten Truppen in der Normandie, fuhren noch Züge aus Westeuropa nach Auschwitz.6 Während des Wartens auf den ungewissen Tag, an dem die militärische Kapitulation der Deutschen endlich die Lager öffnen und die Vernichtung beenden würde, bestand die einzige Möglichkeit, Wirkung zu erzielen, darin, dafür zu sorgen, dass so wenig Juden wie möglich in die Züge steigen mussten. Die erhoffte bedingungslose Kapitulation der Deutschen würde zugleich das Ende des jüdischen Leidensweges be­ deuten, allerdings in einer völlig ungewissen Zukunft. Der zivile Widerstand, der mit seinen schwachen Mitteln lediglich eine relative Sicherheit gewähren konnte, hatte zumindest den großen Vorteil, dies unverzüglich tun zu können. 242

Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung

In jenen Fällen, wo die zivilen Widerstandsaktionen erst allmählich ihre für den Besatzer negativen politischen oder psychologischen Folgen offenbarten, muss von einer indirekten Wirkung gesprochen werden. Ein gutes Beispiel für eine solche Aktion mit lang- bzw. mittelfristiger Wirkung ist die Demonstration gegen die Abfahrt der Zwangsarbeiter nach Deutschland vom 6. Januar 1943 in Frankreich auf dem Bahnhof von Montluçon. Mehrere Hundert Personen belagerten damals den Bahnhof und verhinderten so die Abfahrt des Zugs. Währenddessen nutzten die Rekrutierten das Tohuwabohu und ergriffen trotz der Präsenz der ­Ordnungskräfte die Flucht.7 Auf den ersten Blick war diese Aktion ein Misserfolg, denn anders, als man hätte glauben können, wurden alle Flüchtigen erneut gefasst. Doch die Art und Weise, wie die Aktion vonstatten gegangen und die Polizei lächerlich gemacht worden war, zeigte, dass von einer entschlossenen Menge eine Macht ausging, fand sie doch großen Widerhall in der illegalen und internationalen Presse. Mit deren Worten, die Demonstration von Montluçon hinterließ, inan­ dem sie die Möglichkeit zu kollektiver Opposition gegen den Zwangs­ arbeitsdienst aufzeigte, einen starken Eindruck in der öffentliche ­Meinung. Darin liegt die wichtigste indirekte Wirkungsweise des zivilen Widerstands: in der Verstärkung des Zusammenhalts der Besetzten, oder, wie viele Historiker schreiben, in der Stärkung der »Moral« der Bevöl­kerung. Manchmal konnten auch Streiks trotz ihres scheinbaren Misserfolgs eine ähnliche Wirkung erzielen. So konnten in den Niederlanden die Streiks von 1941 und 1943 den Deutschen keine unmittelbaren Zu­ geständnisse abringen – sondern verstärkten eher noch die anhaltende Welle der Repression. Dennoch hatten beide Streikbewegungen, die in der niederländischen Geschichte ihre Spuren hinterließen, durchaus auch positive Auswirkungen. So schreibt Jorgen Haestrup: »Diese beiden Streiks waren nichts weiter als Nadelstiche, doch ihre politischen und psychologischen Auswirkungen waren weitaus größer als ihr materieller Erfolg.« (Haestrup 1981, 105) Insbesondere der Streik vom April / Mai 1943, an dem mehrere Hunderttausend Personen teilnahmen, zeigte, dass selbst nach drei Jahren Besatzungszeit das niederländische Volk seiner Identität treu geblieben und bereit war, seine Angst zu überwinden. Als direkte Auswirkung war eine Verbreiterung der illegalen Presse und des organisierten Widerstands zu verzeichnen. Doch diese Vorfälle erweckten auch das politische Bewusstsein der Landbevölkerung und ermutigten die Jugend, den Arbeitsdienst in Deutschland zu verweigern. Kurz, dieser scheinbar erfolglose Streik stärkte die Einigkeit der Bevölkerung 243

Die unterschiedlichen Wirkungen

gegenüber dem Besatzer. Die Analyse von B. A. Sijes fasst seine Wirkung gut zusammen: Der Streik vom April / Mai war eines der größten Ereignisse seit der Kapitulation […] In kürzester Zeit war die Angstpsychose zerstört, und wir fühlten uns nicht mehr als einem Terrorregime unterworfene Subjekte, sondern als mutige, durch ein unsichtbares Band der Solidarität verbundene Menschen. (Sijes 1956, 102) Dies zeigt, dass die Bewertung einer Aktion nicht nur ihre direkte Wirkung betrachten darf (etwa die dem Besatzer vorenthaltenen Arbeits­ stunden oder die Anzahl der vor der Repression geschützten Personen). Eine symbolische Demonstration kann trotz fehlender direkter Wirkung allein durch ihren psychologischen Einfluss auf die öffentliche Meinung trotzdem eine hohe indirekte Wirkung haben. Eine Aktion kann auf die Menschen eine befreiende Wirkung ausüben, auch wenn sie objektiv unfrei sind. Denn die physische Herrschaft über ein Volk muss eben nicht auch zugleich seine politische und moralische Unterwerfung bedeuten. Hier stellt – wie gesagt – der zivile Widerstand das beste Mittel dar, um die Kluft zwischen der Beherrschung, die ein tatsächlicher Zustand ist, und der Unterwerfung zu vertiefen, die eine Geisteshaltung ist. Je weniger sich ein Volk unterworfen fühlt, desto unkontrollierbarer wird es. Wenn die Bevölkerung eines besetzten Landes lernt, Solidarität zu üben, einig zu sein, kurz, keine Angst mehr zu haben, verliert der Besatzer, wenn nicht seine Macht, so doch zumindest seine Autorität. Das bedeutet, dass der zivile Widerstand sich zuerst in den Köpfen abspielt: Er besteht vor allem aus dem Aufeinandertreffen zweier gegnerischer Willen. Sicher lag die Verantwortung für das Entstehen von politischen ­Strömungen, die sich gegen die Besatzung richteten, nicht allein beim zivilen Widerstand. Wie bereits mehrfach erwähnt, wirkte sich auch der Kriegsverlauf radikal auf die Bewusstseinslage der Bevölkerung aus. Ebenso verstärkten erfolgreiche Aktionen der Guerilla die Moral innerhalb der Bevölkerung, da sie zeigten, dass ihr Feind nicht unbesiegbar war. Was jedoch die »geistige Befreiung« angeht, so hatte hier der zivile Widerstand wohl doch die größte Wirkung, indem er durch seinen indirekten Einfluss auf die Bevölkerung die ideologischen und politischen Ziele des Besatzers durchkreuzte. Aufgrund der Einfachheit seiner Mittel – wie zum Beispiel des Symbols – lieferte der zivile ­Widerstand eine Art »ideologischen Schutzwall« gegen alle Versuche des Besatzers und seiner Kollaborateure, die eroberten Gesellschaften 244

Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung

logisch zu beeinflussen. Diesbezüglich gelang es den Nationalsozialisten nicht, ihre »Werte« oder ihre »Neue Ordnung« den rebellisch gebliebenen Bevölkerungen Westeuropas und insbesondere Skandinaviens auf­ zuoktroyieren. Der zivile Widerstand war dadurch, dass er im Gegensatz zum bewaffneten Widerstand keine elitäre Angelegenheit war, sondern von der Beteiligung der Massen lebte, das wichtigste Ausdrucksmittel dieser kollektiven Ver­weigerung. Unter bestimmten Umständen, wie während der Aktion der norwegischen Lehrer im Jahr 1942, erhielt dieser ideologische Kampf eine große politische Bedeutung. Er belegte die Tatsache, dass die militärisch besiegte Gesellschaft trotzdem noch zu weiten Teilen politisch unkontrollierbar geblieben war. Die entscheidende Wirkung des zivilen Widerstands bestand darin, dass er den Besatzer daran hinderte, zu einer »Normalisierung« des politischen und sozialen Lebens überzugehen. Noch eine zweite Art indirekter Wirkung konnte von dem zivilen Widerstand ausgehen: nämlich Spaltungen auf der Seite des Besatzers hervorzurufen. In Bezug auf die Judenfrage war das mehrfach zu beobachten. In Dänemark gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Reichskommissar und dem Kommandeur der Wehrmacht, die zudem noch durch eine persönliche Rivalität verstärkt wurden. Und es gab auch die oben erwähnte wirkungsvolle Initiative des Beamten der deutschen Botschaft in Kopenhagen, die dem dänischen Widerstand das Datum der bevorstehenden Judenverhaftungen verriet. In Frankreich und in ­Bulgarien war bekannt, dass die Behörden Eichmanns und Himmlers unterschiedliche Meinungen vertraten. In Norwegen wirkte sich die ­Rivalität zwischen Terboven und Quisling vorteilhaft für die Lehrerschaft aus. Und auch in Deutschland stand der nationalsozialistische Generalstab der Eliminierung der geistig Behinderten aufgrund der Protestaktionen der Öffentlichkeit gespalten gegenüber. Trotzdem lässt sich diese Wirkung des zivilen Widerstands nicht beweisen, etwa der­ gestalt, dass die Differenzen in Dänemark explizit von den spezifi-­ schen Widerstands­f ormen hervorgerufen worden wären. Dennoch kann man davon aus­gehen, dass der zivile Widerstand mit großer Wahrscheinlichkeit die ­internen Spaltungen innerhalb der Besatzungsmacht vorantrieb. Zahlreiche Autoren haben wiederholt auf die inneren Widersprüche des Dritten Reichs hingewiesen, auf die Machtkämpfe zwischen den Würdenträgern des Regimes und die Rangeleien um Einfluss zwischen den verschiedenen Abteilungen des Staates. Die versuchten Attentate auf den »Führer« zeigen, dass Hitler weit davon entfernt war, unangefochten 245

Die unterschiedlichen Wirkungen

zu regieren – was insbesondere für die Armee gilt. Nicht alle Deutschen waren Nazis, und darin lag eine potenzielle Sprengkraft, die durchaus hätte genutzt werden können. Die »psychologische Kriegführung« der Alliierten fand darin ein wichtiges Propagandathema. Doch wie soll die Wirksamkeit all dessen gemessen werden? Das Problem besteht darin, dass vor dem Hintergrund des totalen Krieges der offene Ausbruch dieser Widersprüche nicht gefördert wurde. Auch in dieser Hinsicht scheint die Logik des bewaffneten Widerstands eine andere als die des unbewaffneten zu sein. Denn so, wie die be­ waffnete Auseinandersetzung beim Gegner einen »körperlichen Reflex« ­hervorruft, der als ein Nebeneffekt auch dessen interne Differenzen einebnet, so verstärkt die waffenlose Auseinandersetzung die Spaltungen bei einem Gegner, der sich physisch nicht bedroht zu fühlen braucht. Der zivile Widerstand kann hier eine doppelte Wirkung erzielen. Er kann das Besatzungsregime politisch unterminieren, sodass es mit der Zeit zu seinem Zusammenbruch kommen kann – und er kann durch die Aktivierung von Widersprüchen in den Reihen des Gegners unmittelbar »Schwankungen« in der Umsetzung der Besatzungspolitik hervorrufen, was möglicherweise eine Abschwächung der Repression zur Folge haben kann. Vor dem Hintergrund des Krieges und des Kampfes gegen die Guerilla in zahlreichen Ländern sind die potenziellen politischen Differen­ zen innerhalb des Nazi-Regimes allerdings kaum in Erscheinung getreten. Schließlich konnte der zivile Widerstand eine abschreckende Wirkung auf die Besatzungsmacht haben, wenn der Druck der Zivilgesellschaft besonders stark war. Die politische Entschlossenheit der Gesellschaft des besetzten Landes war dann in der Lage, die Besatzungsmacht bzw. seine Helfershelfer dazu zu zwingen, die Durchführung eines Vorhabens zu widerrufen oder doch zumindest seine Umsetzung zu modifizieren bzw. einzuschränken. Die Abschreckung bestand darin, dass die besetzte Gesellschaft – sei es über ihre Institutionen, sei es über ihre Bevölkerung – den Besatzer zu der Überlegung brachte, dass es besser wäre, in der Durchsetzung seiner Repressionspolitik »nicht zu weit« zu gehen. Ein gutes, bereits erwähntes Beispiel hierfür ist die Entschiedenheit, mit der die dänische Regierung sich schützend vor die jüdische Bevölkerung stellte und Berlin dazu zwang, die Verhaftung der dänischen Juden ­aufzuschieben. Soziale Bewegungen konnten auf die Besatzungspolitik auch – nachträglich – einen abmildernden Einfluss ausüben. Der Streik vom April / Mai 1943 in den Niederlanden ist wahrscheinlich dafür verantwortlich, dass die Zwangsrekrutierung der für den Arbeitsdienst in Deutschland bestimmten »Reinternierten« begrenzt wurde. Zumindest 246

Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung

fuhren anstatt der von Berlin angeforderten mehreren Zehntausend ­lediglich einige Tausend nach Deutschland. In Norwegen schreckte die Niederlage Quislings in der Auseinandersetzung mit den norwegischen Lehrern den Reichskommissar davon ab, ein ähnliches Unternehmen mit den Industriegewerkschaften zu versuchen. Terboven war, nachdem er die Mobilisierungsbereitschaft der Norweger kennengelernt hatte, der Meinung, dass eine solche Aktion fürchterliche Konsequenzen haben müsste, die möglicherweise sogar einen Generalstreik auslösen könnten. Und in Frankreich führten die wiederholten Demonstrationen an symbolischen Tagen (1. Mai, 14. Juli, 11. November) dazu, dass der Besatzer den 1. Mai lieber als Feiertag gelten ließ, als an diesem Tag erneut mit Protestdemonstrationen und Streiks konfrontiert zu werden. Wenn eine Zivilgesellschaft ihre ganze Stärke einzusetzen bereit ist, kann es durchaus im Interesse der Besatzungsmacht liegen, zur Erhaltung eines relativen »sozialen Friedens« eine gewisse »Milde« an den Tag zu legen. So berichten Bosseler und Steichen von einem in Luxemburg eingesetzten deutschen Beamten, der von dem Streik 1942 stark be­ eindruckt gewesen war: Einen solchen Mut und entschlossenen Widerstandswillen hatte er nicht erwartet. Da er einen erneuten Ausbruch der Revolte für sehr wahrscheinlich hielt, versuchte er daraufhin in seinem eigenen Interesse und aus Angst vor seiner Abberufung, jene Maßnahmen zu verhindern, die, weil sie entweder zu weit gingen oder zu wichtig waren, die Bevölkerung Luxemburg erneut auf die Barrikaden getrieben ­hätten. (Bosseler / Steichen 1952, 508) Die besondere Bedeutung dieser Aussage liegt darin, zu zeigen, dass die Bevölkerungen der besetzten Länder nicht die Einzigen waren, die Sanktionen zu fürchten hatten. Die Besatzungsbeamten wurden ihrerseits von ihren Vorgesetzten danach beurteilt, ob sie fähig waren, die eroberten Gebiete zu verwalten oder nicht. Daher lag es unbedingt in ihrem In­ teresse, dass es in ihrem Einflußbereich keine »dummen Geschichten« gab. Für die besetzte Gesellschaft bedeutete dies, dass sie die Möglichkeit hatte, gegenüber den Beamten eine Art politischer Abschreckung prak­ tizieren zu können, die diese dazu zwang, zu einer relativ moderaten Politik überzugehen und unpopuläre Maßnahmen zu vermeiden. So besehen, ist die Unterdrückung einer Widerstandsbewegung nicht notwendigerweise auch gleichbedeutend mit ihrem Misserfolg. Um dies zu beurteilen, gilt es, ihre langfristigen Auswirkungen mitzubedenken. Sicher, grausame Repression wird auf lange Sicht jede Bevölkerung ­ 247

Die unterschiedlichen Wirkungen

­ emoralisieren und ihr damit jegliche Oppositionsdynamik nehmen. d Umgekehrt aber kann eine massive Widerstandsbewegung einen so starken Eindruck auf die Behörden hinterlassen, dass diese daraufhin der Repression eine Art »Selbstbeschränkung« auferlegen werden, um der Wiederholung von Unruhen aus dem Wege zu gehen. Zu guter Letzt gilt es jedoch auch, die »Grenzen« der Wirksamkeit des zivilen Widerstands zu markieren. Während der Besatzung durch die Nationalsozialisten konnte der Widerstand nie etwas anderes als eine Überlebensstrategie mit beschränkter Reichweite sein. Es stellt sich jetzt die Frage, ob der zivile Widerstand nicht auch zu höheren Zielen taugt, d. h. ob er nicht auch ein Land von einer diktatorischen oder totalitären Macht befreien kann. Denn die während der nationalsozialistischen Besatzungszeit nur sehr begrenzte Schlagkraft des zivilen Widerstands war vor allem der Tatsache geschuldet, dass er auf völlige Improvisation angewiesen war und stark disparate soziale Haltungen zu verbinden hatte. Man könnte sich das am Beispiel einer Fußball- oder Baseballmannschaft verdeutlichen. Innerhalb einer solchen Mannschaft kann ein einzelner Spieler individuell sehr erfolgreich sein. Doch wenn seine Mitspieler nicht gut spielen, sondern Fehler machen, die der Gegner auszunutzen weiß, wird die Mannschaft das Spiel verlieren. Um ein Spiel gewinnen zu können, ist es selbst­ verständlich, dass eine Mannschaft gut zusammenhält und -spielt, dass sie die Stärken des Gegners kennt und seine Schwächen auszunutzen weiß. Nichts von alledem traf auf die Gesellschaften der besetzten Länder zu. So konnten jene, die das »Spiel« der Verweigerung der Zusammenarbeit spielten, auf ihrem Gebiet sehr wirkungsvoll sein. Doch das Pro­ blem bestand darin, dass währenddessen andere das »Spiel« der Zu­ sammenarbeit spielten, dass sie sehr persönliche Initiativen ergriffen oder aber nur abwarteten, wie sich die Situation weiterentwickeln würde … Die grundlegende Schwäche der besetzten Gesellschaften lag in der Desorientierung der Akteure, ganz unabhängig davon, ob sie nun auf institutioneller Ebene agierten oder aus der Bevölkerung heraus. Unter jenen, die einfach bloß »etwas tun wollten«, wusste eigentlich niemand, welche Rolle er im Ganzen spielen würde und nach welchen Regeln er sich zu richten hätte, um seine Handlung mit der seines Nachbarn in Einklang zu bringen. Im März 1941, also mehr als eineinhalb Jahre nach dem deutschen Einmarsch in Polen, erklärte der Staatschef des polnischen Untergrundstaates, Cyryl Ratajski, als er sich im Auftrag seiner Regierung in London aufhielt, dass die Menschen nicht wüssten, wie sie sich dem Besatzer gegenüber verhalten sollten. Alle Berufsgruppen – 248

Direkte, indirekte und abschreckende Wirkung

­Ärzte, Eisenbahner, Künstler, Verwaltungsangestellte – fragten, bis zu welchem Grad sie sich auf den Besatzer einlassen sollten und auf welche Art sie in ihrem Gebiet am besten Widerstand leisten könnten. Alle waren auf sich selbst angewiesen. (s. Gross 1979, 135 ff.) Doch der Grund dafür ist einfach: Ob in Polen oder anderswo, ziviler Widerstand war als solcher niemals gedacht worden. Alles war neu zu erfinden. So stellt sich – vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und eingedenk der Tatsache, dass unglücklicherweise auch heute noch Völker in der Gefahr stehen, in eine Bsatzungssituation zu geraten – die Frage, ob es nicht möglich ist, eine Strategie der zivilen Verteidigung zu entwickeln.

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10. Kapitel Schlussfolgerung: Vom Phänomen des Widerstands1

Diese Arbeit über den zivilen Widerstand hat mich insbesondere dahin geführt, das Phänomen des Widerstands im Allgemeinen zu reflektieren. Zivilen Widerstand zu erforschen, heißt letztlich, den Widerstand überhaupt zu ergründen, weil die meisten, die Widerstand leisten wollten, keine Waffen hatten. Dieses elementare – quantitative – Argument ist ausschlaggebend: Der Mangel an zahlreichen und leistungsstarken Waffen, deren Bereitstellung die Alliierten verweigerten, zwang die Widerstandskämpfer, anders zu kämpfen und originelle Formen der unbewaffneten Opposition zu erfinden, die sie aus ihrer eigenen kulturellen und sozialen Geschichte schöpften. Ein anderes – qualitatives – Argument hängt mit der politischen Kultur der besetzten Länder zusammen. Die Verzögerung der Entwicklung des bewaffneten Kampfes war nicht allein durch jenen quantitativen Mangel begründet: Der Grund für diesen Rückstand lag auch in der Schwierigkeit der Bürger, die Legitimität von Gewaltanwendung jenseits staatlicher Hoheit anzunehmen. Die Praxis des bewaffneten Kampfes schien dem staatsbürgerlichen Selbstverständnis der Individuen in einem Rechtsstaat fremd zu sein.2 Aber das galt vor allem für die Länder Nord- und Westeuropas, wo ein Rechtsstaat eben gerade ein ziemlich altes Gebilde war. In den Ländern Süd- und Ost­ europas, die vor 1939 viel größere politische Instabilität sowie autoritäre und korporatistische Regime erlebten, gingen die Menschen schneller zur Praxis des bewaffneten Kampfes über.3 Daher ist es nicht erstaunlich, dass dieses Buch Fälle des zivilen Wider­ stands, die in Westeuropa und Skandinavien auftraten, ausführlicher behandelt. Falls trotz allem ein bewaffneter Widerstand von Bedeutung war, dann, weil er befohlen wurde (die kommunistischen Parteien erhielten den Befehl 1941 aus Moskau) oder weil die deutsche Unterdrückung ihn im Zusammenhang mit der Radikalisierung der Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten legitim und fast »natürlich« machte, vor allem ab 1943.

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Die beiden Dimensionen Wie ist das Phänomen des Widerstands zu definieren, unabhängig von seinen bewaffneten oder unbewaffneten Kampfmitteln? Zunächst durch seine zugleich organisatorischen und sozialen »Stützen«. Dieses Buch belegt ausführlich: Der Widerstand lässt sich nicht auf seine Strukturen, Bewegungen oder Netzwerke reduzieren.Vielmehr handelt es sich um ein soziales und politisches Phänomen mit undeutlichen Konturen, je nach Regionen und Ländern mehr oder weniger bedeutend. Das ist es, was ich als das Phänomen des Widerstands bezeichne: Es umfasst die spezifischen Widerstandsorganisationen und enthält einen erweiterten Kreis, bestehend aus einem in heimlichem Einverständnis verbundenen und solidarischen Umfeld. Insofern weist das Phänomen des Widerstands zwei verschiedene und komplementäre Dimensionen auf. Die erste beinhaltet den Begriff der »organisierten Aktion«, sowohl in ihren Strukturen als auch in ihren Kampfformen. Widerstand ist das, was institutionell aufgebaut wurde, um dem Besatzer die Verwirklichung seiner Ziele zu erschweren: Netzwerke des militärischen Geheimdienstes, Bewegungen, bewaffnete Gruppen, politische und administrative Strukturen eines Untergrundstaates. Zum Widerstand gehört auch jede Handlung, die in Verbindung mit solchen Organisationen ausgeführt wird: Spionage, Propaganda-Aktionen, Streiks, Kundgebungen, Sabotage­akte, Attentate usw. Dies ist zwar die klassische Konzeption des Widerstands, aber sie ist trotzdem nicht zufriedenstellend, da die Vervielfachung individueller Oppositionshandlungen Ausdruck eines manifesten Widerstands der besetzten Gesellschaft sein kann. Wenn quer durch ein Land Tausende Menschen ohne Absprachen bereit sind, überlebende Piloten, verfolgte Widerstandskämpfer, gesuchte Juden, ausgebrochene Fahnenflüchtige zu verstecken – ist das etwa keine konkrete Demonstration spontanen Widerstands, objektiver Indikator eines bestimmten Widerstandsgrades in der Gesellschaft, ohne dass seine Formen der Opposition miteinander verknüpft sind? Diese zweite Dimension schließt die erste ein. Basierend auf dem Begriff der »sozialen Reaktivität«, berücksichtigt sie umfassender die Art und Weise, wie eine Gesellschaft auf eine Besatzung reagiert. Insofern scheint mir der Vorschlag von François Marcot sinnvoll, von einer »Soziologie des Widerstands« zu sprechen (Marcot 1997).4 Es wäre angebracht, eine neue Geschichtsschreibung des französischen Widerstands anzustoßen, genauer: des Widerstands der Franzosen, dem doppelten institutio­nellen und sozialen Ansatz entsprechend. 252

Bruch, Bewahrung und Schöpfung Das Phänomen des Widerstands kann auch durch eine dreifache Dynamik definiert werden. Selbstverständlich die des Bruchs: Widerstand leisten heißt stören, zuwiderhandeln. Das bedeutet zunächst, mit der Legalität zu brechen und Verhaltensweisen zu entwickeln, die in einem Rechtsstaat als unrechtmäßig gelten würden. »[…] alle sind wir mit größter Seelenruhe in die Welt der Betrügerei und der Lüge eingetreten« (Aubrac 2000, 54),5 betont Lucie Aubrac. Diese Dimension des Ungehorsams und allgemeiner der Umkehrung der Moral scheint mir im Fall Vichy-Frankreichs nicht ausreichend untersucht worden zu sein, und das, obwohl der Gehorsam der Franzosen gegenüber Marschall Pétain einer der Pfeiler des Regimes war. Es fehlt eine vergleichende Studie der ver­schiedenen Formen des Ungehorsams innerhalb des Staatsdienstes nach ­Ministerien und Besatzungsphasen.6 Widerstand leisten heißt auch Spannung er­zeugen, indem man den Sprung in den bewaffneten Kampf macht, um eine Radikalisierung der Beziehungen zum Besatzer zu provo­ zieren, der seinerseits starkes Interesse an zivilem Frieden hat. Es be­ deutet, dessen polizeiliche und militärische Ordnung, seine Bediensteten, seine Kollaborateure, seine Soldaten zu attackieren. Kurz, es heißt, den Besatzer möglichst fortzujagen, jetzt und später, indem man ihm das Leben unmöglich macht. Widerstand leisten bedeutet auch, das zu bewahren, was der Besatzer ändern oder zerstören möchte. »Abbremsen«: Das ist die mechanische Bedeutung des Wortes »Widerstand«. In seiner bewahrenden Dimension besteht der Widerstand darin, nicht klein beizugeben, man selbst zu bleiben, die eigene Identität zu verteidigen. Widerstand leisten heißt, auf dem Vorrang fundamentaler Werte vor der Unwägbarkeit einer auferlegten politischen Ordnung zu bestehen. Es handelt sich darum, weitest­ gehend jenseits des Besatzers zu leben, ihn zu ignorieren, so zu tun, als existiere er nicht, wie die Heldin in Das Schweigen des Meeres von Vercors, die sich weigerte, den deutschen Offizier zu grüßen, der sich bei ihr aufhielt. Und da ich Träger einer Kultur, einer Erinnerung, einer Tra­ dition bin, kann ich dem Besatzer standhalten und manchmal bis zur Konfrontation gehen. Dieser bewahrende Widerstand gibt mir die Kraft und die Ressourcen für einen Widerstand des Bruchs. Aber das Phänomen des Widerstands ist mehr als ein Bruch, mehr als Bewahrung: Es ist auch Schöpfung. Zunächst Schöpfung des eigenen Selbst. Durch den Schock der Besatzung entdecken Männer und Frauen sich selbst neu, um Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu werden. Sie 253

Die unterschiedlichen Wirkungen

e­rschaffen sich selbst als Widerstand leistende Subjekte. Indem sie den Lauf der Geschichte – jene des unmittelbaren Ereignisses, der vollen­ deten Tatsache – ändern wollen, transformieren sie zuallererst ihre eigene Geschichte. Dann, vielleicht, werden sie sich ein Schicksal erschaffen: Gewöhnliche Personen werden außergewöhnlich, weil sie plötzlich in außergewöhnliche Umstände gestürzt wurden. Aus diesem persönlichen Erwachen, einer Art Erschaffung der eigenen Geschichte durch die historische Situation, erwächst außerdem ein kollektives Erwachen, eine gemeinsame Erfindung, die eigentliche Erschaffung des Widerstandsphänomens. Und aus diesem »gemeinsam im Wider­stand sein« kann das Vorhaben entstehen, die ganze Gesellschaft zu verändern. Realistisch oder nicht – Widerstandskämpfer glaubten, die Gesellschaft neu gründen zu können, wenn der Besatzer erst einmal aus dem Land vertrieben wäre. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der Untertitel der Zeitschrift Combat: »Von der Résistance zur Revolution«. Es war übrigens ein häufiges Thema der Untergrundpresse, zu einem gereinigten, wiederbelebten, gewandelten Frankreich aufzurufen. H ­ annah Arendt merkt das in einem wenig bekannten Text von 1945 an: Einige Bewegungen des französischen Widerstands wollten eine Neugründung der Politik unternehmen, einen »Versuch der politischen Reorganisation des Volkes« (Arendt 1945, 510).7

Welche Rolle für welche Erinnerung? Aber reicht die soziale und politische Kraft, die aus der Alchemie des Widerstands erwächst, dafür, mit dem Besatzer fertigzuwerden? Das Risiko ist groß, einen Widerstand zu glorifizieren, der meistens lediglich imstande war, die Ordnung des Feindes zu stören. Ohne eine sehr konsequente militärische Unterstützung von außen, wie England sie Tito gegenüber leistete, hatte der innere Widerstand kaum die Mittel, den Invasoren zu vertreiben. Die Historiker des Zweiten Weltkriegs messen dem inneren Widerstand im Vergleich zur enormen alliierten Kriegs­ maschinerie, deren Zweck die Zerstörung der Achsenmächte war, wenig strategische Bedeutung bei. So notiert Robert Frank, dass die Alliierten den Krieg auch ohne den Widerstand hätten gewinnen können.8 Doch die politische Rolle des Widerstands ist unbestreitbar. Nichts konnte innerhalb und außerhalb des überfallenen Landes besser eine rebellische Legitimität, Synonym der Freiheit, verkörpern. Diese Legitimität, die ganz und gar auf der Verweigerung jeden Kompromisses mit dem 254

Welche Rolle für welche Erinnerung?

Besatzer beruhte, war in Frankreich im Moment der Befreiung von entscheidender Bedeutung für die Wiederherstellung des Staatsapparates. Daher wäre man im Unrecht, wenn man dem Phänomen des Widerstands lediglich einen moralischen Wert beimäße. In diesem Sinne unter­ streicht Olivier Wieviorka, dass die Bilanz des französischen Widerstands letztlich ziemlich ehrenvoll ist.9 In Dutzenden Monaten nach der Tra­ gödie der Niederlage und dem Trauma des Zusammenbruchs ersetzten die neuen Organisationen des Widerstands, so gut es eben ging, die zerrütteten politischen Institutionen des Landes. Der Widerstand ent­ wickelte quer durch seine verschiedenartigen Bewegungen eine wichtige Gegenpropaganda, leistete den Zivilisten wertvolle Dienste (indem er sie mit falschen Papiere ausstattete und den Fahnenflüchtigen zur Flucht vor dem Pflichtarbeitsdienst STO verhalf ) und bereitete den Übergang zur Wiederherstellung der republikanischen Ordnung im Moment der Ankunft der Alliierten vor. Dennoch darf die Rolle des Widerstands nicht überbewertet werden, vor allem, wenn ein Staat mit dem Besatzer Kompromisse eingegangen ist. In Bezug auf Frankreich hat Henry Rousso den Begriff »Résistancialismus« vorgeschlagen, um die missbräuchliche Gleichsetzung der Résistance mit der Gesamtheit der Nation zu beschreiben, ein Phänomen, das einige Zeit lang ermöglicht hat, die lästige Wahrheit der Mitwirkung Frankreichs an der Kollaboration und am Genozid zu verharmlosen. In seinen Untersuchungen speziell von Gedenkveranstaltungen jener Phase in den politischen Gruppierungen der Rechten beobachtet er, es sei sogar charakteristisch für die »Besiegten der Geschichte«, dass sie Re­ visionisten und sogar Negationisten sind, denn um politisch zu ­über­leben, sahen sie alle sich genötigt, eine Geschichte neu zu schreiben, die nicht nachteilig für sie wäre und in der sie weiterexistieren könnten (Rousso 1992, 555). Es gibt mindestens drei Arten, die Geschichte eines Widerstands zu »mystifizieren«: – Die Verehrung des Manns der Stunde kultivieren: das heißt, die Tatsache des Widerstands durch die alleinige historische Rolle einer charismatischen Persönlichkeit erklären, die den Widerstand vollständig zu verkörpern scheint. Als »Retter« einer Nation wahr­ genommen, symbolisiert seine Idealisierung alle anderen Formen des Widerstands derartig, dass sie auf seine Person reduziert oder in ihrer Bedeutung unterschätzt werden. 255

Die unterschiedlichen Wirkungen

– Die Wirkung der Waffen verherrlichen: das heißt, eine legendäre Geschichte erzählen, die militärische Handlungen selektiv zulasten eines weniger spektakulären zivilen Widerstands glorifiziert. So entsteht eine epische Mythologie des Widerstands, Beispiel von Mut und Tapferkeit, Symbol einer Gewalt, die von der Tyrannei befreit. – Die Opfer wie Heilige verehren: das heißt, den Widerstand weniger vermittels eventueller Erfolge gegenüber dem Besatzer in Erinnerung halten, sondern durch den Tod derjenigen, die unter seinen Kugeln ums Leben kamen. Die Beschwörung des Blutzolls ist eine andere Weise, den Widerstand einer Opferkultur einzuschreiben, die Respekt erzwingt und den Diskurs desjenigen legitimiert, der im Namen der Opfer spricht. Am Historiker ist es, Licht in den Mythos zu bringen, eine Geschichte des Widerstands zu erarbeiten, die nicht abgeschlossen ist, sondern offen für die Formulierung neuer Fragen. Es handelt sich um eine sehr komplexe Aufgabe, da der Historiker selbst von seiner Epoche geformt ist und weil es immer schwierig ist, sich von den kulturellen Vorstellungen der eigenen Generation zu lösen. So behalte er wenigstens diese Gewissheit voller Trugbilder und Mehrdeutigkeiten im Kopf: Wenn der Widerstand eines Volkes, das gestern von einem Invasoren gepeinigt wurde, nicht existieren würde, müsste man ihn wahrscheinlich erfinden. Dieses Volk müsste selbst den Mythos erschaffen, um sich von seiner eigenen Passivität reinzuwaschen und seine Ehre in den Augen der kommenden Generationen wiederherzustellen. Den aktualisierten Schluß in der vorliegenden Neuausgabe übersetzte Susanne Wittek.

256

Anhang Methodologische Elemente

Da das Feld des zivilen Widerstands sehr weit gefasst ist, sind Auswahlkriterien nötig, um diese Studie auf eine überschaubare Anzahl historischer Fälle zu beschränken. Das im zweiten Kapitel erwähnte Kriterium von der »Autonomie« des Widerstands bietet einen ersten Ansatzpunkt für eine »Erhebung« der infrage kommenden Fälle zivilen Widerstands. Wollte man dagegen wirklich alle den Kriegszielen untergeordnete Fälle zivilen Widerstands untersuchen, müssten zusätzlich Faktoren berücksichtigt bzw. ins Zentrum gerückt werden, die das Forschungsfeld nicht mehr klar erscheinen ließen. Denken wir insbesondere an den Faktor der vom Besatzer ausgehenden Repression, die ja nicht nur vom zivilen ­Widerstand selbst hervorgerufen wurde, sondern von der Tatsache, dass er militärischen oder paramilitärischen Zielen unterstellt war. Da die Realität des Widerstands gegen den Nationalsozialismus aus einer ständigen Verflechtung bewaffneter und unbewaffneter Oppositionsformen bestanden hat, liefe die Anwendung dieses Kriteriums auf eine beträchtliche Verengung des Forschungsfeldes hinaus. Doch wie gesagt, handelt es sich um ein relatives Kriterium, da Faktoren wie der allgemeine Kriegsverlauf oder die Operationen bewaffneter Widerstandsgruppen Kon­ sequenzen für und großen Einfluss auf das Entstehen, den Verlauf und die endgültige Entwicklung eines autonomen zivilen Widerstands haben können. Als weiteres Auswahlkriterium wurden nur jene Fälle autonomen zivilen Widerstands wiedergegeben, die Massencharakter besaßen. Denn es ist in der Tat kaum möglich, die Vielzahl der isolierten Fälle des Widerstands kleiner, marginaler Gruppen zu berücksichtigen. Ohne Zweifel ist es gleichwohl sinnvoll, ihnen eigene Monographien zu widmen, wie dies im Übrigen ja auch häufig geschehen ist. Mein Ziel liegt jedoch in einer anderen Richtung. Um genau zu sein, interessiere ich mich für die Aktio­ nen dieser kleinen Gruppen genau dann, wenn sie so zahlreich und wirkungsvoll werden, dass sie tatsächlich eine kollektive Dimension und damit eine soziale Bedeutung annehmen. Erst dann geben sie die Geistes­ haltung eines Volkes und den Mobilisierungsgrad einer Bevölkerung wieder. Natürlich ist es ausgesprochen schwierig zu sagen, wo genau eine »Gruppe« aufhört und wo eine »Masse« anfängt. Und natürlich muss

Anhang

gerade das Kriterium der »Masse« mit großer Behutsamkeit und Flexibilität angewendet werden. Unterm Strich bedeutet dies auch nicht mehr, als dass ich vor allem jene Aktionen berücksichtigt habe, an denen mehrere Tausend oder mehrere Zehntausend Personen beteiligt waren. Diese Formen zivilen Massenwiderstands können ebenso gut von unorganisierten Gruppen wie umgekehrt auch von bereits strukturierten Organisationen ausgehen. Aus diesem Grund unterscheidet man zwischen Mobilisierung der Bevölkerung und institutioneller Mobilisierung. Die Mobilisierung der Bevölkerung bezeichnet kollektive Aktionen von im Allgemeinen schwach organisierten Basisgruppen. Unter der institutionellen Mobilisierung versteht man dagegen die Aktionen von gesellschafts­ strukturierenden Institutionen. Hier hat der Begriff »Institution« zwei Bedeutungen: auf der einen Seite Staatskörperschaften (Verwaltung, Polizei, Justiz usw.), die prinzipiell die nationale Einheit und den nationalen Willen verkörpern – und auf der anderen Seite Repräsentativ­ organisationen der Bevölkerung (Kirchen, Gewerkschaften, Verbände usw.), die einen mehr oder weniger mit der Kategorie des »citoyen« verbundenen Kollektivwillen zum Ausdruck bringen. Zusammenfassend lässt sich mein Forschungsfeld so beschreiben: das Erforschen sowohl des bevölkerungsorientierten als auch des institutionellen autonomen zivilen Massenwiderstands – wie ich es über neben­ stehendes Diagramm zu illustrieren versuche. Wenn ich dabei den ­Begriff »ziviler Widerstand« benutze, so halte ich mich an seine defini­ tionsgemäß nur sehr begrenzte Bedeutung. Im methodologischen Sinn ist die vorliegende Arbeit keine historische. Sie beruht nicht auf der Auswertung neuer Dokumente. Sie stützt sich im Gegenteil auf bereits vorliegende historische Arbeiten, um eine neue Sichtweise bestimmter Ereignisse zu ermöglichen. In diesem Sinn ist sie mehr der historischen Soziologie bzw. der Politologie zuzurechnen. Ihr Ziel ist es, durch die vergleichende Analyse der hier zusammengetragenen historischen Ereignisse eine Gesamtschau auf das Phänomen des zivilen Widerstands zu ermöglichen, seine Hauptprobleme und seine grundlegenden Parameter zu umreißen. Dabei galt es, mehrere Hindernisse zu überwinden. Sie bestanden vor allem darin, die hier untersuchten Fälle überhaupt erst kennenzulernen und miteinander vergleichen zu können. Die Ausarbeitung eines histo­ rischen Bildes über den zivilen Widerstand steht vor ganz besonderen historiographischen Schwierigkeiten. Alle sich mit dem Widerstand befassenden Historiker haben mit dem Problem zu tun, dass nur sehr schwer genug Dokumente zu beschaffen sind, um die verschiedenen 258

Methodologische Elemente

Ziviler Widerstand

Mit Kriegszielen verbundener oder ihnen untergeordneter Widerstand Autonomer Widerstand

Gruppenwiderstand

Massenwiderstand

Institutionelle Mobiliserung

Mobiliserung der Bevölkerung

Eingrenzung des Forschungsfeldes innerhalb des Forschungsfeldes außerhalb des Forschungsfeldes

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Anhang

Ereignisse belegen zu können; denn schließlich mussten die Widerstandskämpfer peinlichst darauf achten, keine Spuren zu hinterlassen! »Selten nur machten im Untergrund Lebende regelmäßige Aufzeichnungen oder führten Tagebücher«, bemerkt Claude Lévy dazu (zit. n. Rousso 1985, 114). Doch die Geschichte des zivilen Widerstands birgt noch ein weiteres Problem. Wie bereits erwähnt, verwandten die Historiker seit 1945 sehr viel mehr Zeit darauf, die militärischen oder paramilitärischen Aspekte des Widerstands zu erforschen als seinen unbewaffneten Widerpart. Hier besteht ein bibliographisches Ungleichgewicht, das von vornherein die Auswahl des Materials beeinflusst. Fälle zivilen Widerstands werden zwar häufig erwähnt, doch selten ausreichend behandelt. Hinzu kommt, dass es für diese auf europäischer Ebene angesiedelte Arbeit notwendig war, die Wirklichkeit der unterschiedlichen nationalen Wider­ standsbewegungen kennenzulernen, ohne dabei natürlich für jedes Land über die Kenntnisse eines spezialisierten Historikers verfügen zu können. Um ehrlich zu sein, wäre für die erschöpfende Behandlung eines solchen Gegenstandes die Zusammenarbeit zwischen mehreren spezialisierten europäischen Forschungszentren nötig gewesen. Die vorliegende Arbeit kann daher nur als ein bescheidener Beitrag dazu angesehen werden. Meine Vorgehensweise war insbesondere von einer Lektüre allgemeiner Werke über den europäischen Widerstand bestimmt, von denen aus ich begann, jene Beispiele aufzuzeichnen, die meinen Auswahlkriterien entsprachen. Dies waren vor allem die Bücher von Henri Michel, La Guerre de l’ombre, Henri Bernard, Histoire de la Résistance européenne, Gordon Wright, L’Europe en guerre (1939-1945), und Jorgen Haestrup, European Resistance Movements (1934-1945). Des Weiteren unternahm ich eine umfangreiche Durchsicht von Artikeln der Revue d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale, einem unabdingbaren Arbeitsmittel von internatio­ nalem Renommee. Die Durchsicht dieser Texte führte mich zu Spezialwerken, zu denen ich über die Bibliothek des Institut d’histoire du temps présent (IHTP), dem Institut des Centre national de la recherche scientifique, sowie auch über die Bibliothéque de documentation internationale contemporaine (BDIC) und die des Centre de documentation juive contemporaine (CDJC) Zugang hatte. Daneben konnte ich während meines Aufenthaltes im Zentrum für internationale Angelegenheiten der Universität von Harvard (1986-1988) neue Hinweise in der Bibliothek Widener finden. Auch trat ich mit spezialisierten Zentren im Ausland in Verbindung, die mich in Frankreich unauffindbare Dokumente einsehen ließen. Darunter waren Institute in Belgien, Luxemburg, den Nieder­ landen, Italien und Norwegen. Schließlich konnte ich mich während 260

Methodologische Elemente

einiger Zusammenkünfte mit verschiedenen französischen und ausländischen Historikern austauschen, wobei ein Aufenthalt in Polen 1985 die besondere Gelegenheit bot, an Ort und Stelle Informationen und ­Stellungnahmen über den untersuchten Fall in diesem Land zu bekommen. In mehreren Fällen war es nötig, dass ich mich an Übersetzungsdienste wandte, was mir erlaubt, bisher auf Französisch nicht erschienene Texte (in Auszügen oder vollständig) vorzulegen. Im All­gemeinen kann ich die zugänglichen Nachweise jedoch in französischer, englischer oder deutscher Sprache angeben. Die zweite Schwierigkeit rührt von der Frage nach der »Vergleichbarkeit« angesichts der nationalen Heterogenität der untersuchten Fälle im Hitlerschen Europa. Jede Situation ist einzigartig und muss immer in ihrem Zusammenhang und in ihrer Entwicklung betrachtet werden. Bleibt man diesem Anspruch allerdings zu sehr verpflichtet, so riskiert man, eine zu sehr in Einzelaspekte aufgespaltene und atomisierte Geschichte zu rekonstruieren, aus der die großen sozialen und politischen Linien in ihrer transnationalen Dimension kaum hervorgehen. Mit Bedacht durchgeführt, das heißt, indem der besondere Zusammenhang der studierten Fallbeispiele berücksichtigt bleibt, erschient mir die komparative Analyse die historische Arbeit weitaus mehr zu bereichern, als dass sie diese beeinträchtigen oder entwerten würde. Dies im Bewusstsein, gilt meine besondere Aufmerksamkeit immer der Chronologie der Fakten, da sie einen der wichtigsten Schlüssel zur Interpretation darstellt. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielte die Zeit eine entscheidende Rolle – was dazu führen konnte, dass sogar Widerstandskämpfer von anderen als »Attentisten« abgetan wurden, während sie sich selbst als wütende Streiter der »direkten Aktion« wahrnahmen. Auch der allgemeine Kriegsverlauf hatte großen Einfluss auf die Entwicklung des inneren Widerstands. Doch sind noch weitere Faktoren zu berücksichtigen. Ich möchte mich dabei der vier Kriterien bedienen, die von Jean-Pierre Rioux für Frankreich aufgestellt wurden und die mir mit gewissen Abstrichen einen geeigneten Bezugsrahmen zu bieten ­scheinen: Der eigentliche Kriegsverlauf in Erwartung einer Klärung der Kräfteverhältnisse […]; die Entwicklung der Haltung des Besatzers, seine physische Präsenz seit der Korrection von 1940 bis Oradours 1944; die Fähigkeit von Regionen und Gruppen, nach dem Trauma und der Niederlage eine kollektive Identität zurückzugewinnen; die Autorität, die von einem sich wellenförmig entwickelnden und von bestimmten 261

Anhang

Gruppen ausgehenden Widerstand erwachsen kann […] und der die Masse der Franzhosen ergreifen kann. (Rioux 1985, 98 f.) Hinzu kommt, dass die politischen Regimes während der deutschen Herrschaft über Europa – wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt – trotz ihrer Heterogenität auf einige wenige strategische Grundstrukturen zu reduzieren sind, was man immer im Blickfeld behalten sollte. Mein ­Interesse liegt in Wirklichkeit nicht darin, die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu ignorieren, sondern sie im Gegenteil zur Geltung zu bringen. Vor allem hoffe ich, gezeigt zu haben, dass die Dynamik des zivilen Widerstands je nach Art der Besatzungsregimes sehr unterschiedlich sein konnte.

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Anmerkungen

Anmerkungen zum Vorwort 1 Jacques Semelin: Das Überleben von Juden in Frankreich 1940-1944, Göttingen 2018. 2 Jacques Semelin: Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg, Hamburg 2007. 3 Erika Chenoweth, Maria J. Stephan: Why Civil Resistance Works. The Strategic Logic of Non violent Conflict, New York 2011. 4 Basil Liddell Hart: Guerilla- und gewaltlose Widerstandsbewegungen und ihre geschichtlichen Lehren, in: Adam Roberts: Gewaltloser Widerstand gegen Aggres­soren. Probleme, Beispiele, Strategien, Göttingen 1971, S. 138-158, hier S. 151.

Anmerkungen zur Einleitung 1 Ein großer Teil dieser Untersuchung wurde im Rahmen einer Doktorarbeit in Geschichte bei Jean-Paul Charnay (Leiter des Centre d’études et de recherche sur les stratégies et les conflits) 1986 an der Pariser Sorbonne durchgeführt. 2 Die FEDN (Fondation pour les études de défense nationale – Studienstiftung für nationale Verteidigung) ist eine französische privatrechtliche Gesellschaft mit dem Ziel, die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigung und der Strategie zu fördern. Sie veröffentlichte zahlreiche Schriften, darunter die Zeitschrift Stratégique. 3 Das SGDN (Secrétariat général de la défense nationale – Generalsekretariat für nationale Verteidigung) ist eine öffentliche Organisation, deren Hauptaufgabe darin besteht, im Auftrag des französischen Premierministers und des Verteidigungsministeriums Informationen bezüglich militärischer und ziviler Verteidigung zu sammeln und in entsprechenden Dossiers zusammenzustellen. 4 Die École de guerre (Militärfachschule) bildet innerhalb der École militaire junge Offiziere für höhere Ränge heran.

Anmerkungen zum 1. Kapitel 1 In den letzten Jahren hat sich unter den Historikern in Deutschland ein polemischer Streit über die Frage der »wahren Natur« des Nazi-Regimes und der Einzigartigkeit des Genozids an den Juden entwickelt. S. dazu: Devant l’histoire 1988. 2 Dieses Wort wurde von dem Juristen Raphael Lemkin geprägt. Einer der ersten Artikel über dieses Thema erschien 1946: »Le génocide«, in: Revue internationale dedroit pénal, Nr. 10. 3 Eine allgemeine Darstellung der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten in den verschiedenen Ländern findet sich bei Rousso 1987b.

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Anhang 4 Zum Thema der Kollaborationsbewegungen ist das ausgezeichnete Gemeinschaftswerk von 1981: Who Were the Facists?, herausgegeben von Lansen, Stein Ulgelvick. Bergen, Oslo, Tromsö, zu empfehlen. 5 Er selbst wurde Präsident des Conseil de la Liberté, gegründet in London im September 1943. 6 Es gibt derzeit kein Werk in französischer Sprache, das auf die deutsche Besetzung Dänemarks Bezug nimmt. Ich beziehe mich daher auf Thomsen 1971 und auf Petrow 1974. 7 Die grundlegenden Arbeiten sind hier: Jäckel 1968 und Michel 1966. 8 Vgl. dazu das interessante Dossier »Les guerres franco-françaises« in der Zeitschrift Vingtième Siècle, Nr. 5, März 1985.

Anmerkungen zum 2. Kapitel 1 Dies bestätigt auch Henry Rousso in seiner Untersuchung über die unterschiedlichen »Erinnerungsformen« an das Kollaborationsregime von Vichy: Rousso 1987a. 2 Man lese hierzu in seinem Buch über die wichtigsten Etappen seiner militärischen Karriere insbesondere die spannenden Seiten über diesen Lebensabschnitt: de Bolladière 1972; s. auch Toulat 1987. 3 Die Titel zweier Kapitel des Buchs von Haestrup 1981 lauten: »Passiver Widerstand« und »ziviler Ungehorsam«. 4 Die Wirkung eines Abschreckungskonzepts bestimmt sich insofern aus der Be­ fähigung eines Verteidigungssystems, eine Bedrohung abzuwenden. 5 Vgl. den diesbezüglichen Regierungserlass vom 31. Januar 1948. 6 Zu diesem Thema vgl. Kapitel IV aus »The Analogy With the Guerilla Warfare«, in: Boserup / Mack 1974. 7 Dieses Verständnis von »zivilem Widerstand« als Ergänzung zum bewaffneten Kampf scheint bei zahlreichen Werken durch, so zum Beispiel bei Rubby 1984. 8 Zur Analyse der verschiedenen zivilen Widerstandsformen sei auf den Anhang dieser Arbeit verwiesen: »Methodologische Elemente«. Im Folgenden verwende ich den Ausdruck »ziviler Widerstand« ausschließlich zur Bezeichnung seiner unabhängigen Form.

Anmerkungen zum 3. Kapitel 1 Zum Beispiel Rings 1981. Trotz mancher historischer Irrtümer bietet dieses Buch einige anregende Perspektiven beüglich der verschiedenen Verhaltensweisen im Europa unter der Nazi-Herrschaft. 2 In Frankreich initiierte Claude Bourdet eine besondere, geheime Organisation, die ab dem November 1942 versuchte, Beamte für die Unterstützung der Widerstandsbewegungen zu gewinnen. Sie nannte sich NAP, Noyautage de l’administration publique (Unterwanderung der öffentlichen Verwaltung). 3 Nach der humoristischen tschechischen Figur des legendären Soldaten Schwejk, der niemals recht versteht, was man ihm erklärt.

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Anmerkungen 4 Artikel 5 des Ministerialerlasses vom 10. Mai 1940 zum »Gesetz bezüglich der Machtverteilung in Kriegszeiten« bestimmte: »Wenn ein Magistratsmitglied oder Beamter […] durch Militärhandlungen von jeglicher Kommunikation mit seiner nächsthöheren Autorität abgeschnitten ist oder diese ihre Funktion eingestellt hat, übernimmt der Betreffende während der Dauer seiner amtlichen Tätigkeit und im Falle eines Notfalles alle Befugnisse dieser Autorität.«

Anmerkungen zum 4. Kapitel 1 Zur Strategielosigkeit Frankreichs s. insbesondere die beiden Werke: Duroselle 1979 und ders. 1983, über Norwegen: Kersaudy 1977 und über die deutschen Absichten in Norwegen: Kersaudy 1987. 2 S. auch die vertiefende Studie, in welcher derselbe Autor den Führer der NS darstellt: Hayes 1972. 3 S. seine Memoiren: Frénay 1973, die ich mit Begeisterung gelesen habe. 4 Für eine umfassende Analyse der inneren politischen Widersprüche in den Nieder­landen s. Hirschfeld 1988.

Anmerkungen zum 5. Kapitel 1 Zu ihnen zählen in England die großen Militärhistoriker Basil Liddell Hart und Francis Buchan, der erste Vorsitzende des International Institute for Strategic Studies, sowie in Frankreich General Georges Buis, der erste Vorsitzende der Fondation pour les études de défense nationale. 2 Zu diesem Thema kann man die interessante Studie von Eckstein 1966 heran­ ziehen. 3 So findet sich ein Bericht über den Kampf der norwegischen Kirche in der französischen Untergrundzeitung Les Cahiers de Témoignage chrétiens vom Juni-Juli 1942. 4 S. Roberts 1969. 5 Leider konnte darüber keine genaue Statistik ausfindig gemacht werden. Die oftmals vorgebrachte Zahl von 12.000 Briefen kann hier nicht bestätigt werden. Von den 14.000 zu dieser Zeit angestellten Lehrkräften – Ausbilder und Gymnasiallehrer – mögen insgesamt 6000 bis 8000 Briefe an das Ministerium gegangen sein. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die Nasjonal Samling im Dezember 1942 von 54,9 Prozent »oppositionellen« Lehrkräften ausgeht, von 36,9 Prozent »loyalen« und 3,7 Prozent, die der Anhängerschaft der NS zuzurechnen seien. 6 Von den 6300 in den Niederlanden praktizierenden Ärzten gehörten 1940 etwa 90 Prozent der NMBG an. 7 Vgl. hierzu Hronek 1959; 17 Listopad 1939, Okupale archivi inluvi, Prag 1959; Mastny 1971. Anzumerken ist, dass seit diesen Ereignissen der 17. November von Studenten international als Gedenktag begangen wird. 8 Vgl. d Jong 1965 und das Kapitel »Passive Resistance« in Haestrup 1981.

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Anhang 9 Dies wird berichtet von Amouroux 1979, Band IV, 255. 10 Das berichtet Noguères 1984, Band II, 190. 11 Die Franzosen in der besetzten Zone wurden – aus Vorsichtsmaßnahmen ­heraus – in diesen Appellen niemals zu öffentlichen Kundgebungen aufgerufen. Allerdings zögerten die Kommunisten auch im Norden Frankreichs nicht, die Nationalfeiertage mit verschiedenen Sabotageaktionen zu »feiern«. 12 Nach der im Wiener Abkommen von 1815 festgelegten vierten Teilung Polens teilten Preußen, Russland und Österreich die polnischen Gebiete unter sich auf. Auch wenn Österreich einer polnischen Autonomie in der Erziehungsfrage zustimmte, stellten sich Preußen und Rußland dem doch entgegen. Damals bildeten sich spontane Gruppen Freiwilliger, zumeist Frauen, die kleine private Studien- und Alphabetisierungskreise organisierten. Im Übrigen hatte sich vor dem Ersten Weltkrieg im russischen Polen bereits eine eigene intellektuelle Tradition herausgebildet. 13 Krasuski 1971. Der Autor verweist darauf, dass er die niedrigsten Schätzungen wiedergebe. 14 Vgl. Dejonghe o. J. Dieser Vortrag wurde auf einem Kolloquium über die kommunistische Partei während der Zeit vom Oktober 1938 bis Ende 1941 gehalten, das im Oktober 1938 vom Centre de recherches d’histoirc des mouvements ­sociaux et du syndicalisme, dem Institut d’histoire du temps présent sowie der Fondation nationale des sciences politiques abgehalten wurde. 15 Vgl. auch sein allgemeines Werk: Trausch 1975. 16 Nicht berücksichtigt sind hier die von Aktionen der Stadtguerilla begleiteten Erhebungen, wie sie in einigen Ländern zum Zeitpunkt ihrer Befreiung stattfanden. Auch sie nahmen einige Male, wie vor allem in Norditalien, beträchtliche Ausmaße an.

Anmerkungen zum 6. Kapitel 1 Da sich die öffentliche Meinung im Lauf der Ereignisse ändert, ist es wichtig, stets den chronologischen Bezug herzustellen. 2 Vgl. die Protokolle zum Berliner Kolloquium von 1984 über den aktuellen Stand der Forschung zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus: Schmädike / Steinbach 1985. 3 Ich möchte an dieser Stelle Ina Ranson-Schmidt gegenüber meinen besonderen Dank ausdrücken, die mir geholfen hat, meine Kenntnisse dieses Beispiels zu vertiefen. 4 So zeigte für Frankreich Dominique Veillon anhand einer Untersuchung über eine bestimmte Bewegung, dass diese nicht von »Marginalisierten« zusammen­ gesetzt und geführt wurde, sondern von in hohem Maße in die französische Gesellschaft integrierten Menschen. Vgl. Veillon 1977. 5 Zählt man die im Widerstand Aktiven und die aktiven Sympathisanten zu­ sammen, kommt man nach der Berechnung von Jean Pierre Azéma für das Frühjahr 1944 auf eine Zahl von einer Million in den Widerstand eingebundener Franzosen. S. seinen Artikel »Résister«. Azéma 1985.

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Anmerkungen

Anmerkungen zum 7. Kapitel 1 Vgl. das Kapitel X in Noguères 1969, Band II, 145-192 und »Le point de vue de Jean-Louis Vigier« in ebd., 671-674. 2 27 wurden in Chateaubriant erschossen, 16 in Nantes, 5 in Mont-Valérien (in der Nähe von Paris) und 50 im Lager von Songes (in der Nähe von Bordeaux). 3 Vgl. zum Beispiel die Protokolle des 1983 vom Centre de recherches d’histoire des conflits sociaux et du syndicalisme, der Fondation nationale des sciences p ­ olitiques und dem Institut d’histoire du temps présent (CNRS) durchgeführten Kollo­ quiums: Azéma / Prost / Rioux 1986; s. besonders die Artikel von Bourderon, 227-249, und Courtois / Peschanski, 250-273. 4 S. insbesondere Mellon 1988, der den Versuch unternimmt, den Terrorismus zu definieren. Ich möchte Christian Mellon meine Anerkennung aussprechen, dessen kritische und distanzierte Arbeit mir eine unschätzbare Hilfe war. 5 Vgl. das Kapitel »Sabotages, attentats et grèves« in: Michel 1970, 226 ff. 6 Vgl. sein gesamtes Werk, aber im Besonderen Girard 1985. 7 Das bezieht sich vor allem auf das Kapitel »Political Jiu-Jiutsu« in: Sharp 1973, Band III l 657-703.

Anmerkungen zum 8. Kapitel 1 Eine Übersicht über die verschiedenen Interpretationsansätze bietet der Artikel von Friedlaender 1985. 2 Insbesondere zwei in der Tagespresse erschienene Texte stehen am Anfang dieses »Historikerstreits«: Ernst Nolte: »Vergangenheit, die nicht vergehen will«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Juni 1986; Jürgen Habermas: »Eine Art Schadensabwicklung«, Die Zeit, 11. Juli 1986. Die Texte erschienen 1987 im Piper Verlag, München, unter dem Titel »Der Historikerstreit«. 3 Das Standardwerk bleibt in diesem Zusammenhang das von Hilberg 1961. (Die Seitenangaben beziehen sich auf die französische Übersetzung von 1988.) 4 Leon Poliakov ist die erste umfassende Darstellung des Genozids an den Juden in französischer Sprache zu verdanken: Poliakov 1951. 5 Vgl. dazu Knobel 1986, 38-41. Diese im September 1943 auf Anweisung des ­Generalkommissariats für Judenfragen in der Südzone durchgeführte Meinungsumfrage versuchte die Einstellung der französischen Bevölkerung gegenüber den Juden im Allgemeinen und den antisemitischen Maßnahmen im Besonderen herauszufinden. Allerdings konnte sich diese Umfrage nicht auf einen repräsentativen Querschnitt der aktiven Bevölkerung stützen. Folgende Resultate kamen dabei unter anderem zutage: Von 3019 befragten Personen gaben 51 Prozent an, »Juden nicht zu mögen«, während 12 Prozent angaben, »Juden zu mögen« – was im damaligen Kontext zumindest mutig war. Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen und Marc Knobel für seine kritische Durchsicht dieses ­Kapitels danken. 6 Lazare 1987. Diese Ansicht wird von Autoren wie Cohen 1987 nicht geteilt. 7 Die Artikel erschienen in der Zeitung Le Monde; der von Stéphane Courtois am

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Anhang 8

9 10

11 12 13 14 15

7. November 1987, die von Lucien Lazare und Léon Poliakov am 13. November 1987 und eine Antwort von Stéphane Courtois am 18. November 1987. Die Debatte dreht sich diesbezüglich insbesondere um die Frage der Besonderheit des jüdischen Widerstands und darum, ob die Juden im Namen ihrer ­jüdischen Identität am Widerstand teilgenommen haben. Vgl. den Artikel von Lévy 1989; s. des Weiteren »La resistance juif en France: où est son histoire?«, table ronde dans Le Monde Juif. Nr. 118, 37-85. Louis de Jong zit. n. Laqueur 1981. Niederländische Historiker haben ein Werk zu diesem Thema verfasst, das jedoch bisher nicht übersetzt wurde: de Jong 1976. Es ist zu betonen, dass nur öffentliche Proteste einen solchen Erfolg haben konnten. Vertrauliche Umfragen konnten den Nazis bedeuten, dass bestimmte Teile der öffentlichen Meinung nicht vollständig mit diesen oder jenen antijüdischen Maßnahmen einverstanden waren. Doch dieses diffuse Unbehagen reichte nicht aus, um das teuflische Räderwerk anzuhalten. Allein ein öffent­ licher Protest konnte sein Fortschreiten möglicherweise aufhalten. Ich beziehe mich im Besonderen auf Fouilloux 1985. Nicht abgeschlossene Forschungsarbeit im Rahmen einer Dissertation an der Harvard-Universität. Leider gelang es den Deutschen, Kopien davon aufzubewahren. Die Zahlen stammen von Maxime Steinberg und werden bestätigt von Briey 1981. Während seines Prozesses nach dem Krieg behauptete Werner Best, er habe Duckwitz die Daten für die Verhaftung absichtlich gegeben, um die Razzia scheitern zu lassen – in Wahrheit habe er also während dieser Angelegenheit eine Doppelrolle gespielt. Doch dieser Punkt konnte niemals aufgeklärt werden. Vgl. Yahil 1969. Der Autor behandelt mindestens vierzig dänische Vereinigungen, die direkt mit der Rettung der Juden beschäftigt waren. Auf Nachdruck der dänischen Behörden konnte den Gefangenen eine besondere Hilfe zuteilwerden; 111 von ihnen kehrten nicht zurück, d. h. 1,4 Prozent der Gemeinde.

Anmerkungen zum 9. Kapitel 1 S. die bemerkenswerte Darstellung von Bettelheim 1972, ausgehend von seinen Erfahrungen in deutschen Konzentrationslagern. 2 Weitere Solidaritätskassen wurden auch auf Betreiben katholischer und protestantischer Verantwortlicher eingerichtet. 3 Ich verwende den Begriff »Ressourcen« im Sinne der Arbeiten Charles Tillys über die Theorie zur Mobilisierung der Ressourcen einer Gesellschaft in der Perspektive eines sozialen Wandels. Tilly 1978; vgl. des Weiteren Olson 1965. 4 Piziali 1986, 34. Die Produktion von Stahl fiel von 109.139 Tonnen 1943 auf 76.747 Tonnen 1944 und in 1945 auf 15.882 Tonnen. 5 So berichtet zum Beispiel Léon Poliakov, dass die Jewish Agency in Jerusalem 1944 die Engländer aufforderte, das Lager Birkenau zu bombardieren, um die Massaker an den ungarischen Juden hinauszuzögem. London lehnte aus »

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Anmerkungen nischen Gründen« ab. Es gibt jedoch Dokumente, die die Bombardierung einer nicht weit vom Lager entfernten Munitionsfabrik durch die britische Luftwaffe belegen. S. Poliakov 963, 252. 6 Der letzte Zug nach Auschwitz fuhr in Frankreich am 17. August, in Belgien am 31. Juli, in den Niederlanden am 9. September und in Norditalien am 24. Oktober ab. 7 S. den lesenswerten Bericht über diese Aktion in: Tillon 1962, 212 f.

Anmerkungen zum 10. Kapitel 1 Diese Schlussfolgerung wurde für das 1998 erschienene Taschenbuch verfasst. 2 Siehe insbesondere die Diskussion zwischen Serge Berstein und Serge Wolikow bei der Konferenz »La Résistance et les Français, Lutte armée et maquis« (15.-17. Juni 1995) unter der Leitung von Francois Marcot, in: Annales Littéraires de l’Université de Franche-Comté, Band 617, 1996. 3 Siehe den Beitrag von Peter Lagrou: L’Europe méditerranéenne dans une histoire comparative de la Résistance, in: Jean-Marie Guillon / Robert Mencherini: La résistance et les Européens du Sud (20.-22. März 1997), Aix en Provence. 4 François Marcot: Pour une sociologie de la résistance: intentionnalité et fonctionnalité, in: Le mouvement social, Nr. 180, Juli-September 1997, 21-41. 5 Lucie Aubrac: Heldin aus Liebe. Eine Frau kämpft gegen die Gestapo, aus dem Franz. von Andrea Spingler, München 2000, 54. 6 Der Prozess von Maurice Papon hat das Interesse an einer solchen Studie gezeigt. Man denke zum Beispiel an den Fall von Gilbert Lesage, Leiter der Sozial­ abteilung für Ausländer in Vichy, der es schaffte, zwei Tage vor der Razzia vom 26. August 1942 mehrere Siedlungen der Israelischen Pfadfinder Frankreichs zu warnen (was ihnen ermöglichte, einige Hundert Kinder zu retten), oder an Edouard Vigneron und Pierre Marie, Polizisten aus Nancy, die Juden retteten, die sie verhaften sollten. Weitere Beispiele ließen sich zitieren und erörtern. Siehe mein Artikel »Le syndrôme Papon: jusqu’où obéir?« in: Le Monde, 19. September 1997. 7 Hannah Arendt: Parties, movements and classes, in: Partisan Review, Band 12, 1945, 510. 8 Robert Frank: Identités résistantes et logiques alliées, in: Les Cahiers de l’Institut d’histoire du temps présent (IHTP), La Résistance et les Français: nouvelles approches, Nr. 37, Februar 1998, S. 73-91. 9 Olivier Wieviorka: Une certaine idée de la résistance. Défense de la France (1940-1949), a. a.O., 411 f.

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276

Abkürzungen AD Arbeitsdienst AJB Vereinigung der Juden Belgiens

(Association des juifs Belgique) BBC Britische Rundfunkanstalt (British Broadcasting Corporation) CDJ Komitee zum Schutz der Juden (Comité de défense des juifs) CIMADE Überverbandliches Komitee für Flüchtlingshilfe (Comité intermouvements auprès des évacues) DNSAP Dänische Nationalsozialistische Arbeiterpartei FEDN Studienstiftung für nationale Verteidigung (Fondation pour les études de défense nationale) FTP Francs-tireurs et partisans GEKRAT Geheimer Krankentransport KdF Kanzlei des Führers der NSDAP KK Koordinationskomitee (Koordinasjonskomiteen) MC Illegaler niederländischer Ärzteverband (Medisch Contact) MILORG Militärische Organisation (in Norwegen) NAP Unterwanderung der öffentlichen Verwaltung (Noyautage de l’administration publique) NMBG Niederländische Gesellschaft zur Förderung der Medizin (Nederlandse Maatschappij tot Bevordering der Geneeskunst) NS Nationale Sammlung (Nasjonal Samling) OCM Zivile und militärische Organisation (Organisation civile et militaire) PCF Kommunistische Partei Frankreichs (Partie Communiste Français) PPF Französische Volkspartei (Parti Populaire Français) RNP Nationale Völkische Sammlung (Rassemblement National Populaire) SGDN Generalsekretariat für nationale Verteidigung (Secrétariat général de la défense nationale) SIVORG Komitee zur Organisierung des zivilen Widerstands (in Norwegen) SIS Britischer Geheimdienst (Secret Service) SS Schutzstaffel UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UGIF Generalunion der Israeliten in Frankreich (Union générale des israélites de France) 277

Liste der untersuchten historischen Beispiele

Allgemeine Formen Langsames Arbeiten  60 f. Illegale Presse  127 Noyautage de l’administration publique (NAP; Unterwanderung der öffentlichen Verwaltung)  264

Mobilisierung der Bevölkerung Demonstrationen Tschechoslowakei (28. Oktober 1939)  109 Niederlande (29. Juni 1940)  110 Belgien (11. November 1940)  110 Frankreich (11. November 1940)  111 Frankreich (1. Januar 1941)  111 Frankreich (31. Oktober 1941)  111 Frankreich (1. Mai 1942)  112 f. Frankreich (14. Juli 1942)  113 Norwegen (3. August 1942)  110 Deutschland (27. Februar-5. März 1943) Streiks Niederlande (25.–-6. Februar 1941)  243 Belgien (10.-20. Mai 1941)  121 Frankreich (27. Mai-9. Juni 1941)  121 f. Luxemburg (31. August-4. September 1942) Frankreich (Oktober-November 1942)  134 f. Niederlande (April-Mai 1943)  123 f., 243 f., 246 Dänemark (August 1943)  64

Kursivierte Zahlen verweisen auf Stellen in den Anmerkungen.

278

Liste der untersuchten historischen Beispiele

Ziviler Massenungehorsam Verweigerung des Zwangsarbeitsdienstes in Frankreich (1943-1944)  133-137 Besondere Bewegungen des Widerstands von Berufsgruppen Der Kampf der niederländischen Ärzte (1941-1945)  104-108 Der Kampf der norwegischen Lehrkräfte (1941-1945)  100-104 Der polnische Unterrichtswesen im Untergrund (1940-1945)  117-119 Bewegungen zur Unterstützung von Juden Frankreich (1942-1944)  211 f. Belgien (1942-1944)  215-217 Dänemark (1943)  217-220

Institutionelle Mobilisierung Proteste der Verantwortlichen der deutschen Kirchen (1940, 1941) der niederländischen Kirchen (1940, 1942) der Kirchen und verschiedener politischer und intellektueller Autoritäten in Bulgarien (1940, 1942, 1943) der norwegischen Vereine (1941) der Verantwortlichen der französischen Kirchen (1942) der belgischen Kirche (1942-1943) Begrenzte Verweigerung der Zusammenarbeit Opposition des dänischen Staates gegenüber der Judenverfolgung (1940-1943)  196 f. Opposition des finnischen Staates gegenüber der Judenverfolgung (1940-1944)  197 f. Opposition des italienischen Staates gegenüber der Judendeportation (1942)  195 f. Opposition des rumänischen Staates gegenüber der Judendeportation (1942-1945)  198 f. 279

Anhang

Opposition des ungarischen Staates gegenüber der Judendeportation (1942-1944)  199-201 Die Auslieferung der dänischen Kriegsschiffe an Deutschland (1941)  60 Der Cour de cassation in Belgien (1942)  67 f. Völlige Verweigerung der Zusammenarbeit Widerstand gegen den Staatsstreich Quislings (1940)  76 f. Die Position des norwegischen Staates (194-1945)  75-81 Rücktritt des Obersten Gerichtshofs in Norwegen (1940)  80 »Rücktritt« der norwegischen Kirche (1942)  97-100 Rücktritt der dänischen Regierung (1943)  63-66

280

Personenregister Abetz, Otto  30, 38

Adenauer, Konrad  151 f. Adler, Jacques  190 Amouroux, Henri  266 Antonescu, Ion  198-200 Arendt, Hannah  190, 197, 217, 254 Azéma, Jean-Pierre  12, 37, 42, 82, 168, 266

Bárdossy, Lázló  199

Barral, Pierre  123 Barth, Karl  99 Becker, Jean-Jacques  163 Beckerle, Adolf-Heinz  206 Bédarida, François  47 Bédarida, Renée  85 Belew, Aleksander  205 Berg, Paul  77, 80 Bergfeldt, Lennart  58 Berggrav, Eivind  98-100 Bernard, Henri  109, 141, 260 Bernhard, Prinz der Nieder­ lande 110 Bertelsen, Aage  220 Bertram, Adolf  148 Best, Werner  34, 63-65, 197, 218 f., 268 Bettelheim, Bruno  268 Blum, Léon  30 Boegner, Pastor  209 Boegner, Philippe  212 Bonhoeffer, Dietrich  152 Boris, König von Bulgarien 204, 206 f.

Bormann, Martin  150, 175 Bornewasser, Bischof von Trier  149 Boserup, Anders  264 Bosseler, W.  247 Bouhler, Philip  144, 146 Bourderon, Roger  267 Bourdet, Claude  153, 235, 264 Boschilow 206 Braham, Randolph  191 f. Brandt Kurt  144-146 Brauer  76 f. Braune, Paul-Gerhard  147 Broszat, Martin  46 Buchan, Francis  265 Buis, Georges  265

Carol II., König von Rumänien  198

Chaillet, Pastor  212 Chamay, Jean-Paul  12, 263 Chary, Frederick B.  206 f. Chekerdjiyski, Emile  58 Chelini, Jean  235 Christiansen, General  124 Christian X ., König von Dänemark  26, 33, 60, 197 Clausen 32 Cohen, Richard E.  267 Courtois, Stéphane  122, 162, 164168, 267 f. Crispin, Donna  206 Czemiaków, Adam  190

Dallin, Alexander  20

Dannecker, Theodor  205

Kursivierte Zahlen verweisen auf den Stellen in den Anmerkungen

281

Personenregister

Darlan, François-Xavier  37 Déat Marcel  30 De Bollardière, Jacques  45, 94 De Briey, Philippe  268 De Clerq, Staf  29 De Gaulle, Charles  38, 84-86, 110113, 160f., 163 Degrelle, Leon  29 De Jong, Louis  193, 213f., 265, 268 Dejonghe, Étienne  46, 131 f., 240, 266 Delay, Erzbischof von Marseille  209 Denzler, Georg  147 de Vries, Philippe  105 f. Dietrich, Otto  17 Doriot, Jacques  30, 113 Drieu la Rochelle, Pierre  17 Duckwitz, Georg-Ferdinand  219, 268 Duclos, Jacques  165 Duroselle, Jean-Baptiste  265 Eckstein, Harry  265 Eichmann, Adolf 188, 190, 200, 210, 245

Fabre, Émile C.  212 Fabricius, Volker  147 Fein, Helen  186 f., 213 Filow, Bogdan  204 f. Fjellbu, Dekan  99 Fouilloux, Étienne  268 Frachon, Benoît  166 Frank, Hans  25 Frénay, Henri  83, 265 Friedlaender, Saul  267 Genadios, Erzbischof  202 Gerard-Libois, J.  110, 120, 170 Gerlier, Kardinal  209, 212 282

Girard, René  172, 267 Gjelsvik, Tore  80, 98, 103 Goebbels, Josef  146 f., 150, 175, 204 Göring, Hermann  149 Gotovitch, J.  110, 170 Grabowski, Peter  205 Grober, Konrad  148 Gross, Jan Thomasz  177 f., 180, 249

Haag, Henri  140

Hakon VII., König von Nor­ wegen  24, 26, 75, 77 Habermas, Jürgen  267 Haestrup, Jorgen  33, 47, 64, 228, 240, 243, 260, 264 f. Hallie, Phillipp  212 Hayes, Paul  76, 265 Heering, A. H.  88 f., 231 Helman, Socrate  149 Heydrich, Reinhard  34 Hilberg, Raul  10, 205 f., 267 Himmler, Heinrich 20, 146, 149, 189, 196 f., 210, 214, 245 Hirschfeld, Gerhard  265 Hitler, Adolf  9, 18-20, 22, 24-26, 28-31, 35, 37-40, 42, 46, 53, 55, 63-65, 72, 75-77, 82, 115 f., 122, 141-144, 146, 149-151, 162, 164, 168-170, 183-185, 193, 197, 203, 217 f., 245, 261 Hoffmann, Peter  12, 46 Hoffmann, Stanley  15, 27, 55, 82 Horthy, Mikios  200 Hronek, Jiri  60 f., 265 Huerten, Heinz  143

Jäckel, Eberhard  264

Jacqmain, Jacques  67 Jensen, Magne  103 Jospa, Hertz  216

Personenregister

Kallay, Nicholas  200

Kaplan, Jacob  209 Karski, Jan  116 Kaspar, Erzbischof  2020 Kedward, Roderick  45, 83, 154 Keitel, Marschall  150 Kersaudy, François  265 Kiril, Bischof  206 Klarsfeld, Serge  190, 210 Klumper, A. A.  273 Knobel, Marc  267 Knochen, Helmut  209 f. Kolowski, Alesandre  119 Kozniewski 118 Krasuski, Jósef  117 f., 266 Kriegel, Annie  184, 212 Kruegler, Christoph  12

Laborie, Pierre  46, 83, 129 f., 132,

136, 173 Lacouture, Jean  85 Lademacher, Horst  89 Lansen, Stein Ulgelvick  264 Laqueur, Walter  193, 242, 268 La Rochefoucauld  193 Laval, Pierre  37, 39 f., 84, 112, 132 f., 209 Lazare, Lucien  190, 267 f. Leclef, E.  139 Lecœur, Auguste  121, 177 Lejeune, Léo  128 Lemkin, Raphael  263 Leopold III., König von Belgien  24 Lévy, Claude  12, 260 Lévy, Gunther  148 Liddell Hart, Basil  11, 172 f., 228, 263, 265 Liftion, Rober  143 Louveau, L.  68

Ludz, Victor  200 Luther, Martin  188

Machens, Bischof von Hildes-

heim 149 Mack, Andrew  264 Marrus, Michael R.  187, 195, 210 Mastny, Vojtech  265 Mellon, Christian  13, 267 Mendelsohn, Ezra  186 Mercier, Kardinal  139 Meyer, Josef  144 Michaelis, Meier  196 Michel, Henri  42, 51, 171, 260, 264, 267 Miller, Gérard  83 Molders, Werner  149 Moller, Christmas  35 Moulin, Jean  85, 112 Muller, Jean-Marie  13 Müller, Klaus Jürgen  46 f. Munch 32 Mussert, Anton  49, 104 Mussolini, Benito  26, 195

Nédic, Milan  26, 40 Neveu, Jean-Pierre  118 Noguères, Henri  110, 112, 161, 233, 266 f. Nolte, Ernst  267 Oberg, Karl-Albrecht  209 f. Olson, Mancur  268 Ory, Pascal  17 Ouzoulias, Albert  165

Paulus, General  54

Pavelié, Ante  26 Paxton, Robert  O.  8, 38, 85, 187, 195, 210 283

Personenregister

Pergande, Kurt  145 Peschanski, Denis  83 f., 163, 267 Peschew, Dimitar  206 Pétain, Philippe  26, 30, 35-38, 82-85, 131, 163, 209, 253 Petrow, Richard  65, 264 Pius XI. 142 Pius XII.  148, 201 Piziali, Stefano  61, 240, 268 Poliakov, Léon  150 f., 184, 186, 188, 267-269 Prost, Antoine  267

Quisling, Vidkun  30, 75-77, 98-103, 175, 218, 245, 247

Rabi, Wladimir  209

Ranson-Schmidt, Ina  266 Ratajski, Cyryl  248 Rauter, Hanns Albin  87 Reeder, Eggert  120, 140, 170 Reuter 104 Reynaud, Paul  36 Rings, Werner  60, 234, 264 Rioux, Jean-Pierre  261 f., 196 Roberts, Adam  263, 265 Rosenberg, Arthur  28 Rousso, Henry  12, 255, 260, 263 f., 269 Rubby, Marcel  264

Sabille, Jacques  197 Saliége, Erzbischof von Toulouse 209 Sauckel, Fritz  133 f. Scavenius, Erik  33 f., 64 f., 196 Schellenberger, Walter  205 Schmädike, Jürgen  266 Scholder, Klaus  143, 152 Schumann, Maurice  112 f., 134 284

Seyß-lnquart, Arthur  87 f., 214 Sharp, Gene  12, 176, 267 Siegele-Wenschkewitz, Leonore  143, 235 Sijes, B. A.  124, 214, 244 Sikorski, General  116 Simon, Gustav  123 Sinowjew, Alexander  184 Skodvin, Magne  77 f., 100, 102 Stalin, Josef  115, 164, 183 Stauning, Thorwald  32 Steichen, R.  123, 247 Steinbach, Peter  266 Steinberg, Maxime  216, 268 Stephan, Metropolit von Sofia  205 Stoltzfus, Nathan  202, 204 Struye, Paul  129, 139, 141 Suhard, Erzbischof von Paris  209 Szàlasi, Ferenc  200

Teleki, Pal  199

Terboven, Josef  24, 30, 77-79, 97, 99, 101-103, 126, 175, 245, 247 Ternon, Yves  149 Thalmann, Rita  188 Theas, Bischof von Montauban 209 Theis, Edouard  212 Thomsen, Erich  264 Tillon, Charles  161f., 269 Tilly, Charles  268 Tiso 25 Tito  227, 254 Toulat, Jean  264 Toynbee, Arnold  19 Trausch, G.  123, 266 Trocmé, André  212

Vago, Bela  199 van Roey, Kardinal  139 f.

Personenregister

Veillon, Dominique  12, 133, 135, 266 Visser, L. E.  289 Vistel, Alban  16 Vittori, Jean-Pierre  135 von Bodelschwingh, Fritz  145 von Falkenhausen, Alexander  24, 139 f. von Galen, Clement August  148150 von Hannecken, Hermann  63, 65, 218 von Preysing  148 von Renthefink  32 von Ribbentrop, Joachim  195, 206

Wellers, Georges  192, 207 Weygand, General  38 Wilhelmine, Königin der Niederlande  24, 87 Willem, Ernst  147 Winkelman, General  87 Wlassow, Andrei  28 Wright, Gordon  18, 21-23, 260 Wurm, Theophil  147 Wyman, David S.  242

Yahil, Leni  220, 268 Zeitoun, Sabine  192

Wallenberg, Raoul  200

Warmbrunn, Werner  88, 108, 215

285