Hannah von Bredow: Bismarcks furchtlose Enkelin gegen Hitler 3806236623, 9783806236620

Millionen Deutsche jubelten Hitler zu und begeisterten sich für den Nationalsozialismus. Auch im Adel fand Hitler viele

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German Pages 272 [274] Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Prolog
Kindheit und Jugend in goldenen Zeiten
Ehe in Zeiten des Umbruchs
Der Seelenverwandte Sydney Jessen
Femina Politica
Die Nationalsozialisten früh im Blick
Im Visier der braunen Machthaber
Der Terrorstaat im Werden
Deutsche Frau und Mutter im „Dritten Reich“
Außenseiterin der Familie
Das Leben in der „falschen“ Gesellschaft
In der Wertegemeinschaft ‚Bekennende Kirche‘
Unter politisch Gleichgesinnten im Solf-Kreis
Im Umfeld der Attentäter des 20. Juli 1944
Sonderbehandlung einer Dissidentin
Der vierte Lebensabschnitt
Epilog
Gedanken über das Phänomen Angst – Hannah von Bredow, Basel, 26. Januar 1949
Stammbaum
Chronik
Anmerkungen
Bildnachweis
Literatur
Personenverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
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Hannah von Bredow: Bismarcks furchtlose Enkelin gegen Hitler
 3806236623, 9783806236620

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Reiner Möckelmann

Hannah von Bredow Bismarcks furchtlose Enkelin gegen Hitler

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt © 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Umschlaggestaltung: Harald Braun, Berlin Umschlagabbildung: Leopold Bill v. Bredow/myheritage Redaktion: Helga Gläser, Berlin Satz: Melanie Jungels, scancomp GmbH, Wiesbaden Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3662-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3743-6 eBook (epub): 978-3-8062-3744-3

Inhalt 6

Prolog

14 Kindheit und Jugend in goldenen Zeiten 27 Ehe in Zeiten des Umbruchs 36 Der Seelenverwandte Sydney Jessen 47 Femina Politica 55 Die Nationalsozialisten früh im Blick 74 Im Visier der braunen Machthaber 74

Der Terrorstaat im Werden

78

Deutsche Frau und Mutter im „Dritten Reich“

88

Außenseiterin der Familie

97

Das Leben in der „falschen“ Gesellschaft

116

In der Wertegemeinschaft ‚Bekennende Kirche‘

136

Unter politisch Gleichgesinnten im Solf-Kreis

147

Im Umfeld der Attentäter des 20. Juli 1944

172

Sonderbehandlung einer Dissidentin

202 Der vierte Lebensabschnitt 232

Epilog

240

Gedanken über das Phänomen Angst – Hannah von Bredow, Basel, 26. Januar 1949

258

Stammbaum

259

Chronik

262

Anmerkungen

269

Bildnachweis

269

Literatur

270

Personenverzeichnis

5

Prolog

A

m Abend des 31. Januar 1933, nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, notierte Hannah von Bredow in ihrem Tagebuch: „Die Welt ist aus den Fugen, und wir können nur abwarten, bis uns das Genick umgedreht wird. Schauerlich. Die Menschen sind alle toll.“ Zwei Monate später, am 30.  März 1933, kommentiert sie nach ­einem Treffen mit Hitler, welches ihr Bruder arrangiert hatte: „Das Ekel Hitler […] Er ist ein Wahnsinniger.“ Wer war diese Frau, die mit derart deutlichen Worten gegen Hitlers Terrorregime kämpfte, unbeirrt? Die enge Kontakte zu hochkarätigen Politikern hatte und gleichzeitig zu Planern eines Hitler-Umsturzes? Die von der Gestapo überwacht wurde und doch immer wieder ihrer Verhaftung entging? Es war im Frühsommer 1967, als die 74-jährige Hannah von Bredow ihrem jüngsten Sohn Leopold Bill aus ihrem Refugium im schweizerischen Les Diablerets ihr Leben schilderte, in der Form eines abenteuerlichen Parforceritts, unauflösbar verwoben mit der unseligen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: „‚Dies ater‘ – Unglückstag! 1914 war ich in Kiel als gefeierte ‚Täuferin‘ des H.A.P.A.G.-Schiffes ‚Bismarck‘, das nie auslief, sondern vom Dock ab den Engländern 1918 ausgehändigt und ‚Majestic‘ genannt wurde. Ein Admiral von Coerper sollte ein großes Gartenfest nach der letzten Regatta geben, für den Abend war der Ball im Palais Prinz Heinrich angesetzt, und um 16 Uhr kam statt all dieser geplanten Festlichkeiten die Nachricht vom Mord in Sarajewo. Und 6

damit hörte der erste Teil meines Lebens auf; jäh und unvermittelt, wie mit einem Paukenschlag.“ Hannah von Bredow war am 22. November 1893 als Hannah Leopoldine Alice Gräfin von Bismarck-Schönhausen geboren worden, als älteste Tochter von Otto Fürst von Bismarcks Sohn Herbert und dessen Frau Marguerite, geb. Gräfin von Hoyos Freiin zu Stichsenstein. Im Rückblick erzählt sie weiter: „Der zweite Teil begann mit meiner Hochzeit im Kriege und dauerte bis zur Hitlerei 1933 gleich nach Deiner Geburt. Damals war ich 39 Jahre alt, nur fünf Jahre älter als Du jetzt bist. Nach Papas Tod begann dann der dritte Teil, der in sausender Fahrt zum Abgrund für uns alle ging und dem für mich kein vierter Teil folgen wird.“ Für die älteste Enkelin Otto Fürst von Bismarcks, des Gründers und langjährigen Kanzlers des Deutschen Reichs, folgte bis zu ihrem Tod im Juni 1971 durchaus ein vierter Teil ihres Lebens, der allerdings weit unspektakulärer als die vorherigen drei war, besonders als derjenige in „der Hitlerei“. Nur knapp einen Monat nachdem sie dem Sohn ihre Lebensphasen so skizziert hatte, vertraute Hannah von Bredow ihm im  Juli 1967 an, dass sie ihre „vielerei Schreiberei“ sichten und ordnen wolle, da diese „für die Nachkommen informatorisch interessant sein“ könne. Hannah von Bredows unzählige, in gestochener Handschrift nahezu täglich an die engere und weitere Familie, an Freunde wie Bekannte verfassten Briefe sowie ihre seit dem frühen Jugendalter akribisch geführten Tagebücher füllen Regale; Gedichte und Essays kommen hinzu. Präzise wiedergegebene Inhalte und weitsichtige Erkenntnisse aus Gesprächen, welche die Bismarck-Enkelin mit Prominenten der deutschen Gesellschaft der 1920er- und 1930er-Jahre führte, sollten nach ihren Vorstellungen nur das Interesse ihrer Nachkommen, also einer engeren Erinnerungsgemeinschaft, wecken. Tatsächlich aber kann der schriftliche Nachlass dieser scharfsinnigen politischen Denkerin Hannah von Bredow, die über exzellente Kontakte zu maßgeblichen Politikern der Weimarer Republik wie zu unterschiedlichen Gesellschaftskreisen im „Dritten Reich“ verfügte, der Nachwelt hoch interessante Einsichten in ein durch radikale Umbrüche und 7

zwei Weltkriege geprägtes  Jahrhundert bieten. Einsicht erhält die Nachwelt darüber hinaus in die konsequente Gegnerschaft einer mutigen und kämpferischen Frau zum Willkür- und Terrorregime des NS-Staates. Tragende Säule ihres schriftlichen Gedankenaustausches war für Hannah von Bredow ihre Korrespondenz mit Sydney Jessen. Den Marineoffizier und promovierten Ökonomen hatte sie im Jahre 1924 als Privatsekretär ihres Bruders, des jungen Reichstagsabgeordneten Otto Christian Archibald Fürst von Bismarck, kennengelernt. Der Briefaustausch begann Anfang  des  Jahres 1925 und währte 40 Jahre bis zum Tod Jessens im Juni 1965. Ihr Briefpartner erhielt in unterschiedlichen Abständen und verschiedenem Umfang mehr als 2.000 Briefe von Hannah von Bredow, stets beginnend mit „Lieber Herr Jessen“. Mehrmals die Woche schrieb Hannah von Bredow bis zu 30 Briefseiten an Jessen; fast täglich auch in den Kriegsjahren, als er im Oberkommando der Marine in Berlin wirkte und für die Wochenenden ein Zimmer in ihrem Haus in Potsdam bewohnte. Nahezu tägliche, wenn auch meist wesentlich kürzere  Briefe schrieb Hannah von Bredow zudem bis zum Tod ihrer Mutter im Herbst  1945 nach Friedrichsruh; sie sind im dortigen Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung verwahrt. Einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Hinterlassenschaft bilden schließlich  Briefe an ihren jüngsten Bruder Albrecht Edzard Heinrich Karl Graf von BismarckSchönhausen und an Helene Burckhardt-Schatzmann, die Mutter des Schweizer Historikers und Diplomaten Carl Jacob Burckhardt, durch den Hannah diese kennengelernt hatte. Als überzeugtes Mitglied der vom NS-Regime verfolgten Bekennenden Kirche, als regelmäßige Teilnehmerin am regimekritischen Solf-Kreis, befreundet mit Angehörigen der Kriegsgegner und mit am Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 Beteiligten sowie als Helferin von Verfolgten war Hannah von Bredow seit Hitlers Machtübernahme nicht nur eine Kritikerin, sondern eine unbeirrte Opponentin des NS-Staates: Mit Recht darf man sie zum aktiven Kreis des Widerstands zählen. Hannah von Bredow zeichneten geistige Unabhängigkeit, Lebensklugheit und Mut aus. Sie flüchtete nicht aus der Wirklichkeit. 8

Unbeugsam, unkonventionell und allen Schicksalsschlägen zum Trotz verfolgte sie fühlend, beobachtend, urteilend und kämpfend ihren Weg. Ihre unbedingte Sorge für andere erstreckte sich auf einen tätigen Einsatz für durch das Regime Gefährdete und Verfolgte. In den dunklen NS-Jahren war sie weder ein Opfer, noch opferte sie sich auf – für beides war sie zu stark. Ihre nach einem aufreibenden Tagesablauf in nächtlicher Stunde geschriebenen  Briefe verfasste sie nicht aus Lust an der puren Beschreibung oder der treffsicheren Benennung von Details, sondern zur Selbstvergewisserung, zur Reflexion und zur Erinnerung. Besonders ihre Briefe an den Vertrauten Sydney Jessen verschafften Hannah von Bredow Halt, um die Kraft zurückzugewinnen, welche ihr der nationalsozialistische Terror und die Sorge um die Familie raubten. Bereits zu Beginn des NS-Regimes lastete nach dem Tod ihres Mannes Leopold von Bredow im Oktober 1933 die alleinige Verantwortung für die Erziehung der acht Kinder auf ihr. Jessen war ihr guter Geist, dem sie sich ohne Ängste und Vorbehalte anvertrauen konnte, der ihre Gedanken wie kein anderer verstand und der ihr beruhigend und stabilisierend ermöglichte, die Terrorjahre des „Dritten Reichs“ weitgehend unbeschadet zu überleben. In ihrem zurückgezogenen Leben nach Ende der NS-Diktatur lag Hannah von Bredow wenig daran, ihre umfassenden Aufzeichnungen aus der NS-Zeit aufzuarbeiten und zu veröffentlichen. Nur ihre Nachkommen sollten Kenntnis davon erhalten. Ohnehin konzentrierten sich Veröffentlichungen über den Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland in den ersten beiden Dekaden der Nachkriegszeit schwerpunktmäßig auf den militärischen Widerstand in Verbindung mit dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944. Andere Formen des Widerstands sowie das Schicksal von Frauen im Widerstand waren damals noch kein Thema. Eine Ausnahme bildete im Jahre 1947 die Autobiografie von Lina Haag „Eine Hand voll Staub  – Widerstand einer Frau 1933 bis 1945“. Das Buch erschien in einem kleinen Verlag und fand seinerzeit weit weniger Beachtung als das 1962 aufgelegte Buch von Annedore Leber und Freya von Moltke „Für und wider. Entscheidungen in Deutschland. 1918–1945“. Dieses Buch schildert das Leben der beiden Frauen, 9

welches sie im Wissen um die Aktionen ihrer Männer, der von den NS-Henkern hingerichteten Widerstandskämpfer des Kreisauer Kreises Julius Leber und James Graf von Moltke, aufs Spiel gesetzt hatten. Erst in den 1980er-Jahren zeichneten Marion Gräfin Yorck von Wartenburg und Maria von Maltzan ihre eigenen Widerstandsaktionen auf. Den Widerstand der Elisabeth von Thadden schilderte Irmgard von der Lühe. Der Name Hannah von Bredows findet sich bis heute indessen ohne gebührende Würdigung ihres Wirkens nur in wenigen Veröffentlichungen.1 Ungeachtet der schwachen öffentlichen Wahrnehmung des Widerstands in der frühen Bundesrepublik Deutschland und der Mühen, ihre unzähligen Dokumente aufzuarbeiten, erlaubten es Hannah von Bredows Selbstverständnis, Selbstzweifel und wohl auch Rücksicht auf die Familie nicht, ihren Widerstand publik zu machen. Hannah von Bredow zeigte einen hartnäckigen und wirkungsvollen Widerstand gegen das NS-Regime in der Weise, dass sie sich zwölf  Jahre lang unter großen Opfern dem Absolutheitsanspruch des Staates entzog und damit dessen Ziele unterlief. Dank der mühevollen Sichtung ihres Nachlasses durch Leopold Bill von Bredow und seiner Tochter Vendeline von Bredow-Jory sowie der zeitraubenden Digitalisierung der handschriftlichen Aufzeichnungen durch Frau Cornelia Jobst kann der Verfasser es nun unternehmen, den Nachkommen wie der Nachwelt das Denken, Leben und Wirken einer außergewöhnlichen Frau im vergangenen  Jahrhundert anhand authentischer Selbstzeugnisse zu vermitteln. Der Dank des Verfassers gilt Leopold Bill von Bredow für den umfassenden Einblick in dem Nachlass seiner Mutter und die wertvollen Erläuterungen, Michael K. Bahr und Dr. Romedio Graf von Thun-Hohenstein für hilfreiche Auskünfte, Dokumente und Fotos, sowie Dr. Gabriele von Halem, Cornelia Jobst, Dr. Wolf Preuss und Erich Riedler für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Reiner Möckelmann Berlin, Dezember 2017 10

Herbert Fürst von Bismarck und Ehefrau Marguerite Gräfin Hoyos Freiin von Stichsenstein 1892

Hannah von Bredow zur Weihnachtsfeier 1915 in ­Friedrichsruh 12

Hochzeit von Hannah Leopoldine Alice Gräfin von Bismarck-Schönhausen mit Rittmeister Leopold Waldemar von Bredow am 15. März 1915 in Friedrichsruh 13

Kindheit und Jugend im goldenen Zeitalter „Sie loben freundlicherweise mein Wissen, das nicht mein Verdienst ist; ich verdanke es der Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, den Gesprächen, die ich angehört habe, den Menschen, die in Schönhausen und Friedrichsruh aus- und eingingen.“ (Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 193, Potsdam, den 29. Dezember 1932)

H

annah von Bredow kam als erstes Kind ihrer Eltern Herbert Fürst von Bismarck und seiner Frau Marguerite, geb. Gräfin Hoyos, am 22. November 1893 in Schönhausen im ElbeHavel-Land zur Welt. Zur Enttäuschung der Eltern war sie als erstes Kind nicht der sehnlichst erwünschte männliche Stammhalter, wie Mutter Marguerite später gestand: „Bevor Du geboren wurdest, hatte ich die felsenfeste Überzeugung, dass Du nur ein Sohn sein könntest, und von der ersten Stunde der Gewissheit über meinen Zustand an bis zum Moment Deiner Geburt habe ich nichts weiter getan, als Dich mit Papa zu identifizieren. Ich las nur Bismarckiana und Carlyle.1 Ich zwang mich dazu, alle Zeitungen zu verfolgen, ich sah Dich als Held, Führer, als Staatsmann vom Format Deines Großvaters, und ich aß Unmengen von Kartoffeln, weil ich das ein männliches Gemüse fand. Wir nannten Dich nur Otto, wenn wir von Dir sprachen und dann kam der unvergessliche Bußtag, an dem Du alle unsere Berechnungen über den Haufen warfst.“ Der ebenfalls im Schloss Schönhausen geborene und mittlerweile auf dem Alterssitz in Friedrichsruh lebende Großvater Otto Fürst von Bismarck zeigte sich im Jahre 1893 nachsichtiger – sein Sohn Herbert, Hannahs Vater, war ebenfalls nicht der Erstgeborene seiner drei Kinder.

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Herbert von Bismarck hatte die 22  Jahre jüngere Marguerite Gräfin Hoyos, die aus dem seinerzeit habsburgischen Fiume stammte, im Juni 1892 geheiratet. Er war bei der Eheschließung bereits 43  Jahre alt. Elf  Jahre hatte er benötigt, um über die im Jahre 1881 beendete zweijährige Liaison mit der Fürstin Elisabeth Carolath, geb. Gräfin Hatzfeld-Trachenberg, hinwegzukommen. Vater Otto hatte seinen Sohn, der als Botschaftsrat in London wirkte, mit ultimativen Forderungen von seinen Heiratsplänen mit der zehn Jahre älteren, geschiedenen und zudem katholischen Fürstin abbringen müssen. Die „Affäre Elisabeth“ belastete Herbert von Bismarcks Ehefrau Marguerite lebenslang. Kennengelernt hatten sich Hannahs Eltern Ende 1887 anlässlich einer Verlobung in Berlin. Marguerite lebte, 16-jährig, noch in Fiume, wo ihr Vater, zusammen mit seinem Schwiegervater Robert Whitehead, dem englischen Erfinder des Torpedos, Teilhaber der Firma Fiume Whitehead & Co war. Sie war sofort von Herbert von Bismarck eingenommen und schilderte ihrer Tochter die erste Begegnung: „Er hatte etwas sehr Warmes und Herzliches in seiner Art, seine Stimme war mächtig, sein Lachen von einer Herzlichkeit, die einen wärmte. Er erschien mir als eine überwältigende Persönlichkeit, absolut der Mittelpunkt jeder Gesellschaft.“ Die Ehe war harmonisch und glücklich, währte aber nur bis zum 18. September 1904, dem Todestag von Herbert von Bismarck. Hannah von Bredow liebte und bewunderte ihren Vater, auch wenn er später in Friedrichsruh gegen Depressionen und den Alkohol zu kämpfen hatte, aufbrausend und jähzornig sein konnte und die Kinder bisweilen schlug. Sie wusste sich ihm eng verbunden: „Da die Gedankengänge, die Einstellung zu den Menschen, die Auffassung über all die ganz wichtigen Sachen im Leben sich vollkommen deckten, so deckten, dass ich schon als ganz kleines Kind genau wusste, wie er auf gewisse Sachen reagieren würde, ist es unmöglich zu verheimlichen, dass diese Erfassung aller Schattierungen aus Ähnlichkeiten stammt.“ Nur bis zu ihrem elften Lebensjahr erlebte Hannah ihren Vater. Sein unerwarteter Tod mit nur 55 Jahren war ihr unbegreiflich: „Er war weg, ausgelöscht, sein 15

herzlich warmes Lachen, seine Witze, sein ganzes sonniges Wesen blieben unersetzlich.“ Im  August 1904 hatte ihr Vater Hannah als einzigem Familienmitglied offenbart, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hatte. Ihrem Tagebuch vertraute die elfjährige Hannah am 6. August 1904 an: „Heute bin ich geritten. Heute hat Papa mich nach dem Essen gerufen: Ich werde es Dir sagen. In ein paar Wochen gehe ich von Euch. Ich kann nicht das erleben: Schande, Unehre für Deutschland. […] Oh Gott, Gott, bitte, bitte, bitte nicht.“ Herbert von Bismarck, ein unermüdlicher Verfechter enger deutsch-britischer Beziehungen, musste Anfang  April 1904 erleben, dass die Bemühungen Großbritanniens um einen Bündnisvertrag mit dem Deutschen Reich gescheitert waren. England und Frankreich beendeten daraufhin ihre Spannungen mit der „Entente cordiale“, welche später um die Tripelentente mit Russland erweitert wurde. Mit Sorge verfolgte Herbert von Bismarck die deutsche Außenpolitik nach dem Rücktritt seines Vaters im März 1890. In den 1870er-Jahren hatte Herbert als Privatsekretär seines Vaters gewirkt und war 1885 zum Unterstaatssekretär sowie im folgenden Jahr zum Staatssekretär des Auswärtigen Amts ernannt worden. Verbittert stellte Herbert von Bismarck im Deutschen Reich politische Leichtfertigkeiten und Versäumnisse fest: Den russischen Antrag auf Verlängerung des Rückversicherungsvertrags wies die Reichsführung wenige Monate nach Otto von Bismarcks erzwungenem Rücktritt im Sommer 1890 zurück. Eine massive antibritische Propaganda des Deutschen Flottenvereins und des Alldeutschen Verbands setzte ein, und die neue Flottenpolitik Wilhelms II. stand ganz im Zeichen des Strebens nach Weltmacht. Bezeichnend war die Äußerung von Reichskanzler Bülow, der 1897 als Außenminister erklärte: „Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir wollen auch einen Platz an der Sonne.“ Die politische Einschätzung ihres Vaters übernahm die 17-jährige Hannah, als sie im Jahre  1911 ihrer Tante Lily von Reventlow-Criminil, geb. Hoyos, in Wien den Inhalt eines Gesprächs mit einem älteren, gräflichen Verehrer bildhaft darstellte: „Wir haben 16

auf den Kaiser und seine Katastrophenpolitik geschimpft, und ich habe dem Grafen gesagt, dass wir in 10 Jahren hier eine ganz nette, ordentliche Revolution mit allem Zubehör haben werden, wenn nicht jemand Bethmann rechtzeitig entlässt, Tirpitz zum Teufel jagt und den edlen Willy nach der Osterinsel zum Studium der Götzenbilder verschickt.“ Hannahs Hoffnungen erfüllten sich nicht: Admiral Alfred von Tirpitz trat erst im März 1916 in den Ruhestand, und Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg wurde nicht eher als im Sommer 1917 zum Rücktritt gezwungen. Die Revolution dagegen kam drei  Jahre früher, als Hannah gedacht hatte, und erst dann wurde Wilhelm II. ins holländische Doorn verbannt. Die ehrenvolle und hoch geschätzte Einladung des „edlen Willy“ zur Schiffstaufe in Hamburg und zur Kieler Woche im Jahre  1914 änderte nichts an Hannah von Bredows Einstellung zu ihm. Auf Landwirtschaftsvokabular zurückgreifend und mit Blick auf die drohende Machtübernahme Hitlers stellte sie am 27. Januar 1933 in wenig anerkennender Weise fest: „Emperor’s birthday – we owe him all this muck-heap.“ Zu England gab es in der Familie Bismarck nicht nur durch Marguerites Großeltern Whitehead enge familiäre Bindungen. Herbert von Bismarck verband auch eine vertraute, lebenslange Freundschaft mit Archibald Philip Primrose, dem 5. Earl of Rosebery. Der englische Staatsmann war Ende der 1880er- und Anfang der 1890er-Jahre Außenminister sowie von 1894 bis 1895 Premierminister. Seine Frau Hannah, Tochter und Erbin des Barons Mayer Amschel de Rothschild, war im Jahre 1890 gestorben. In Gedenken an den frühen Tod der Frau seines Freundes Archibald benannte Herbert von Bismarck seine Erstgeborene nach ihr. Hannah äußerte sich nur verhalten zu ihrer Namensgeberin, die als wenig attraktiv, geistlos und übergewichtig beschrieben wurde. Die Freundschaft Herbert von Bismarcks mit Randolph Churchill, dem Begründer der modernen konservativen Partei und Vater des späteren Premiers Winston Churchill, bemühte Hannah von Bredow andererseits im Juli 1945, um über diesen ihre Ausreise in die Schweiz zu erreichen. 17

Ihren Großvater Otto von Bismarck sah Hannah bis zu ihrem fünften Lebensjahr nur besuchsweise. Erst nach seinem Tod zog ihre Familie von Schönhausen nach Friedrichsruh um. Lebenslang beschäftigte Hannah sich aber mit dem Großvater und verfolgte alle Publikationen, die sich mit seinem Leben und Wirken befassten. Als Kind hatte die Enkelin sich, dem Familienbrauch folgend, mit ihrem sprachbegabten Großvater in Englisch oder in Französisch, der Sprache der Diplomatie, zu unterhalten. Dieser Tradition war Hannah insofern gewachsen, als sie bereits in früher Kindheit von einer englischen Nanny und französischen De­moi­selle in diesen Sprachen unterrichtet worden war. Hannahs Eltern redeten mit ihr erst ab ihrem vierten Lebensjahr regelmäßig deutsch. Auch Auslandsaufenthalte in England und Frankreich trugen dazu bei, dass Hannah später die beiden Fremdsprachen perfekt in Wort und Schrift beherrschte. In der guten Tradition ihres Großvaters schrieb sie längere Passagen ihrer Briefe an Sydney Jessen in Englisch oder Französisch, bisweilen angereichert durch Zitate aus Werken von Shakespeare oder Racine. Was das Lernen anging, erklärte Mutter Marguerite der erwachsenen Hannah von Bredow später: „Ich finde es nur gut, wenn ein Mädel viel lernt, besonders auch Latein und Griechisch, je mehr sie arbeitet, desto weniger neigt sie zu dummen Ideen. Ich habe ja auch rasend gelernt, aber leider, leider nicht die alten Sprachen, und Du ahnst nicht, wie das Latein z. B. mir an allen Ecken und Enden fehlt. Ich komme mir ganz verloren vor und beneide Dich um Deine Kenntnisse.“ Hannah von Bredow musste ihre Mutter allerdings daran erinnern, dass diese früher die humanistischen Interessen der Tochter abgelehnt hatte und sie „diese Lateinstunden Bitten gekostet“ hätten. Vorwurfsvoll ergänzte Hannah, dass sie „ganz allein ohne Hilfe Latein gelesen, übersetzt und geschrieben“ habe, weil „Du mich immer wieder hindertest, genau wie mit der Matura, die Du mir an meinem 12. Geburtstag fest versprochen hattest und unter dem Vorwande ‚a lady does not compete with the rabble‘ zu einem unerfüllten Traum werden ließest.“

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Die unterschiedlichen Bildungsvorstellungen von Mutter und Tochter schildert Hannah von Bredow im Jahre 1929 ihrem vertrauten Briefpartner Sydney Jessen anhand eines bezeichnenden Dialogs mit ihrer Mutter: „Weißt Du noch, wie Du mir sagtest: ‚Wen liebst Du mehr, mich oder das dumme Examen?‘ Und ich antwortete: Das ist kein Vergleich, worauf Du mir sagtest: ‚Mit 17 1/2 Jahren muss man seine Weltstellung im Auge haben, wenn man eine Frau ist, und gebildete Mädeln sind beliebt, aber studierende basbleus verhasst. Lass’ es mir zu lieb.‘ Wusstest Du das noch? Und wie ich dann nach Wien fuhr und aus Bock nach den Bällen um 5 a.m. bei hellem Sonnenschein nicht ins Bett ging, sondern Virgils Aeneis lernte, just to show myself that I was a free agent, subject to nothing! Darauf lachte sie [die Mutter] und sagte: ‚Ja, jetzt wäre ich froh, wenn Du Deinen Willen durchgesetzt und studiert hättest, wer weiß, ob du dann nicht heute eine andere Position hättest.‘“ Genauso wenig wie im Jahre  1910 dürfte Marguerite von Bismarck jedoch auch im Jahre 1929 ernsthaft daran gedacht haben, dass ihre Tochter Hannah ihr beachtliches Talent für Klavierspiel und Gesang in einer künstlerischen Karriere ausleben oder angesichts ihrer ausgeprägten geschichtlich-politischen Interessen einen wissenschafts- oder politiknahen Beruf ergreifen könnte. Nach dem Tod ihres Mannes Herbert hatte Marguerite von Bismarck die 13-jährige Hannah bereits mit verantwortungsvollen Aufgaben in Haus und Hof betraut. Diese Erfahrung und Hannahs breite Bildung sollten ihr aus Sicht der Mutter eine „gute Heirat“ ermöglichen und die Grundlage für ein ausgefülltes Leben als Ehefrau und Familienmutter bieten. Hannah von Bredow entsprach aber nicht dem Rollenbild, welches ihre Mutter einer adligen jungen Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuordnete. Für eine adlige weibliche Normalbiografie fehlten Hannah die idealen Eigenschaften einer bloßen ­Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame. Die Grundlagen für ihr nichtkonformes Wesen legten indessen aber gerade die Familien der Bismarcks und der Hoyos’, in denen Hannah „von Kindheit auf unter Leuten, denen gründliches Wissen auf möglichst vielen Gebieten als unerlässlich für eine sogenannte gute Erziehung galt,“ lebte. 19

Und weiterhin erklärt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Jessen im Jahre  1936 zu ihren prägenden Erfahrungen: „Sei es nun in Österreich oder in Deutschland, immer waren auf den paar Gütern, die ich besser kannte, im Sommer Gelehrte, Künstler oder Musiker zu Gast, immer wurde ‚schöne Konversation‘ gepflegt oder etwas ‚getrieben‘, von den städtischen Wintern ganz zu schweigen. Als ich 16 war, nahm meine Mutter zum ersten Mal wieder eine Wohnung in Berlin und widmete sich dem Problem unserer Allgemeinbildung. Dauernd kamen Leute, die man heutzutage ‚geistig prominent‘ nennen würde, zu den Mahlzeiten, dazu gesellten sich Vorträge an der Universität (so fürs Volk ohne Abitur), in Museen etc.“ So wusste Polly, Gräfin von Plessen-Cronstern, geb. Hoyos, ihrer Schwester Marguerite im Sommer  1911 über Gespräche der 18-jährigen Nichte Hannah in Wien mit ihrem Mann Ludwig zu berichten: „Ludwig und Hannah sind nur große Politik und sonst nichts. Die Debatten gehen stundenlang, Ludwig ist selig: ‚Ganz Herbert‘, meinte er neulich.“ Prägend für Hannahs Rolle als gesellschaftliche „Außenseiterin“ war auch der Umstand, dass die häufig kranke und bettlägerige Marguerite ihrer Ältesten nach dem frühen Tod von Herbert die Rolle des Familienoberhaupts übertrug. Wie erwähnt hatte Hannah schon mit 13 Jahren verantwortungsvolle Aufgaben in Haus, Hof und Forst sowie für das Personal wahrzunehmen. Bereits in diesem Alter zeigte sie Selbstvertrauen und Resolutheit, obwohl weitere prägende Erfahrungen eher für Scheu und Zurückhaltung sprachen. Von Geburt an war Hannah auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge hatte sie eine stark reduzierte Sehkraft. Aus kosmetischen Gründen entfernte man einen Star, der das rechte Auge bedeckte, als sie vier oder fünf Jahre alt war. Außerdem hatte sie ein auffälliges rotes Muttermal am linken Unterarm, welches im Alter von sieben Jahren beseitigt werden sollte. Das erschreckende Ergebnis war, dass „der ganze Arm mit dem Rasiermesser ohne Anästhesie geschält“ wurde und auf der gesamten Länge eine rote Narbe hinterließ. 20

Lebenslang trug die modebewusste und elegante Hannah von Bredow Handschuhe und langärmelige Kleider. Mit eisernem Willen machte sie das Beste aus ihren körperlichen Defiziten. Von Kindheit an war sie so erzogen worden, „dass das, was mich so sichtbar von allen anderen Menschen äußerlich unterschied, an sich belanglos sei und niemals eine Rolle in meinem Leben spielen würde.“ Frühzeitig wurde ihr gesagt, „dass man es, um keine unnützen Fragen zu erwecken, und um die Menschen nicht zu stören, immer soweit verstecken würde, wie das durch Kleidung unauffällig möglich sei. Auf Fragen sollte ich ungeniert Antwort geben, da es nichts Böses, Ansteckendes oder Krankhaftes sei.“ Ihre Sehschwäche brachte es mit sich, „dass ich notgedrungen nach Stimmen, Händedrücken, Bewegungen gehen muss, weil bei mir das Auge ausscheidet.“ Hannahs körperliche Schwächen waren häufig Gegenstand von familiärem und gesellschaftlichem Klatsch. Sie stellte sich bald darauf ein: „Im Gegensatz zu meinem Vater habe ich die dickste Haut, die je ein Mann, eine Frau oder ein Kind hatte. Wenn einem ein über Alles bewunderter Vater von jeher das ‚don’t show your feelings‘, oder ‚grin and bear it‘, oder ‚smile, while your heart is breaking‘, oder ‚where’s your grit?‘ als Grundlage aller Lebenshaltung bezeichnet, wenn diese Erziehung später eisern fortgesetzt wird, kann man nicht anders, als sie anerkennen.“ Angesichts ihrer Sehschwäche schärfte Hannah ihr Gehör und schulte ihr Gedächtnis. Beides gelang ihr in außergewöhnlichem Maße, sodass sie in der Lage war, in ihren Briefen lange Gesprächs­ dialoge wiederzugeben. Ein Rätsel bleibt dennoch, wie sie es schaffte, ihr tägliches Leben ohne Brille zu bewältigen und mit sehr eingeschränkter Sehkraft unzählige Briefe zu schreiben und auch noch zu reiten. Nur im Kino oder im Theater trug sie eine Brille. Den Verlauf ihres ersten Lebensjahrzehnts beschreibt Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen Ende des Jahres 1936 in knapper und plastischer Form: „Schönhausen – Berlin – FiumeSooß – Schönhausen – Berlin (immer im Winter bis auf 1903, wo wir in Fiume waren), Ende 1905 endgültiger Umzug nach Friedrichsruh, dessen Neubau vollendet war. Eine wohl ungewöhnlich glückliche, 21

wenn auch wegen Misshandlungen durch Schweizerinnen ebenfalls ungewöhnlich gestörte Kindheit. Dazu eine tödliche Krankheit, weil die eine Démoiselle mir Gift gab (sie kam ins Irrenhaus, die berühmte Sadistin, der Clare Sheridan in ihrer „Nuda Veritas“ ein Denkmal setzte). Dazu auch ewige Behandlungen meiner Hand, meines Armes etc. und sehr, sehr viel Unterricht in drei Sprachen, ebenfalls sehr viel Reiten. Nothing could damp my joie de vivre.“ Hannah von Bredows zweites Lebensjahrzent erfährt eine ausführlichere Beschreibung: „Bis auf den Schock von Papas Tod (1904), vom Tod meines sehr geliebten Großvaters Hoyos (beide starben drei Wochen voneinander entfernt) wohl meine vollkommen glücklichste Zeit … Dann kam der erste Versager. Ich wollte à tout prix, da ich mit 15 Jahren schon Primareife ohne Griechisch hatte, das Abitur in Hamburg machen, hätte dafür täglich hereinfahren und eine Schule besuchen müssen und das war ein unfasslicher Gedanke. Ich schob es also auf, bis 1910, wo ich 17 wurde; und da war ich den ganzen Sommer in Nehmten mit den Geschwistern, auch in Sirhagen, machte Kochkursus etc. und lernte wie eine Besessene bis nach Mitternacht alles, was für ein Gymnasium in Frage kam. Dann ließ mich Mama im November nach Wien kommen, wo sie in einem Sanatorium war und kleidete mich ein. Aufgalopp: Weekend-Party bei Auerspergs in Goldegg, bei Rohans in Albrechtsberg, Aufenthalt in Sooß, …“ Das Leben der 18-jährigen Hannah nahm dann weiter an Fahrt auf: „Winter 1911 in Berlin, Gasthörer auf der Universität, Hörer bei Wölfflin, Harnack, Erich Schmidt, massenhaft Gelehrte im Haus, Tanzstunde und als Abschluss schwere Masern. Ich verlor meine Haare, die in unerhörten Mengen vorhanden gewesen waren, und damit wohl, wie Samson, meine Energie.2 Denn ich versuchte noch einmal mit Mama das Abitur zu erreichen und sie erklärte mir, dass ich sie und die ganze Familie unglücklich machen würde, wenn ich nicht zu O’mama nach Wien ginge und die Spring Season mitmachte. Ich gab also nach und tanzte Nacht für Nacht in Wien, mit Hochgenuss, mit Vergnügen, mit einer immer steigenden Liebe zu sehr alten Männern, oh sehr, sehr alt, so 70 oder mehr, und ich wurde zu allen Dîners der Botschaften eingela22

den, verließ alle ‚Comtessenfeste‘, lebte auf den Botschaften aller Länder, vergaß Abiturwünsche, las, las, las wie ein Narr alles Historische, alles Politische, alles was ich bekommen konnte und kam in ein wahres Feuer der Begeisterung. Als ich im Juli heimkehrte, war ich mir über eines klar, dass ich noch mehr Menschen kennen lernen und vor allem nach England fahren müsse.“ Hannah nutzte ihr Startkapital der drei Vater- bzw. Mutterländer Deutschland, Österreich und England bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 bei vielen Reisen und Verwandtschaftsbesuchen: „Das Leben wurde wirklich besser und besser, ich hatte das absolute Gefühl, dass es nur nette Leute gäbe, darunter amüsante und langweilige, aber im Grunde nur nette.“ Im Winter 1913 erlebte sie, 19-jährig in Berlin, „was man einen atemberaubenden Winter nennt, das kam durch das ‚double life‘. Denn ich machte alle Bälle für die Jugend und alle Dîners und Lunches für die Würdigen mit …“ Die ersten „Heiratsredereien“ kamen auf, „aber keine Verlobung, nur ein erpichter älterer Witwer, den ich sehr unterhaltend fand, und der für Tante Polly so reizend war. Dann 1914 im Sommer nach Kiel das letzte Fest in Friedrichsruh mit drei Männern, die Mama eligible fand, und die mich langweilten und mit dem Witwer, der so besonders gut tanzte und der mir so leidtat, wegen des mir unbekannten Kindes.“ Der gute Tänzer war Leopold von Bredow, den Hannah am 15. März 1915 heiratete. Die Monate zuvor, besonders der Sommer 1914 in Kiel, bildeten zweifellos Höhepunkte im jungen Erwachsenenleben der Hannah von Bredow, einen unternehmungsreichen Ausklang der  Jahre einer Junggesellin. Hannahs Tagebuch vom 14. März bis 21. Juni 1914 gibt auf über 100 engbeschriebenen Seiten erschöpfend Auskunft über diese bewegte Zeit mit nahezu täglichen Ortswechseln: „Berlin – Friedrichsruh – Nehmten – Friedrichsruh – Wien – Friedrichsruh – Victoria-Louise (Kiel) – Friedrichsruh – Marutendorff – Friedrichsruh – Schönhausen – Berlin – Friedrichsruh – Brandenburg und wieder Friedrichsruh – Heidelberg.“ Die turbulenten Monate begannen mit einer Einladung der preußischen Kronprinzessin Cecilie ins Russische Ballett im 23

Berliner Kronprinzenpalais. Hannah fühlte sich „wohl und ganz hoheitlich“. Minutiös beschreibt sie die Garderobe, das Gebaren und die Eigenheiten einzelner Hofadeliger. Weniger hoheitlich erschien ihr indessen das Pausenbuffet in Gestalt von „Esswaren, bei denen roher Lachs und Sardellen, sowie Heringe und Salzgurken prädominierten; sie gaben einen penetranten Geruch von sich, der durch einige Käsebrote noch vermehrt wurde.“ Akribisch vermerkt Hannah ihre „sämtlichen Engagements“ bei den insgesamt 28 Bällen im Winter  1914, beginnend mit einem Ball im Hause des Diplomaten Carl von Schubert am 25. Januar und endend mit dem Kronprinzen-Ball am 18. März. Ebenso detailliert listet sie mit Namen die „ausgehenden Mädeln im Winter 1914“ ebenso auf wie die „jungen Frauen und jungen tanzenden Herren“, angefangen bei denen des Gardes du Corps über die Brandenburger Kürassiere bis zu den Diplomaten und Referendaren. Schließlich finden sich in ihrer Liste auch „untätige, wenig anziehende Leute, die manchmal auftauchten“. Der Ballsaison in Berlin ließ Hannah einen einmonatigen Aufenthalt in Wien bei ihrer Großmutter Alice Hoyos, geb. Whitehead, folgen. Hier standen Theater- und Konzertbesuche, die Teilnahme an Sportveranstaltungen, Tanz- und Gartenfesten sowie Einladungen zu Frühstück, Mittag- und Abendessen in Gesellschaft von Wiener Prominenz im Mittelpunkt. Schließlich erreichte sie die Einladung zur Schiffstaufe der „Bismarck“ am 20.  Juni 1914 in Hamburg. Diese Einladung, ausgesprochen gegenüber Marguerite von Bismarck und den vier älteren Kindern, kam nicht von irgendwem, sondern von Kaiser Wilhelm II. persönlich. Hannah wurde nicht nur die Ehre der Einladung zuteil, des Kaisers Wunsch war vielmehr, dass Hannah „die Flasche schwingen und die Taufe vollziehen“ sollte. Nachdem die Flasche bei den Worten „auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers taufe ich dich ‚Bismarck‘“ unversehrt geblieben war, trat seine Majestät persönlich in Aktion. Er ergriff die Magnum von Kupferberg Gold und „schleuderte sie mit solcher Kraft und Geschicklichkeit gegen das Schiff, dass sie in tausend Stücke flog“. Hannahs Verlegenheit dämpfte er mit der 24

Bemerkung: „Herren verstehen sich besser auf Sekt wie Damen, was?“ Im Anschluss an die Schiffstaufe in Hamburg konnte sich die Taufpatin Hannah gleich einer weiteren kaiserlichen Einladung erfreuen. In ihrem ausführlichen Tagebuch über dies Ereignis vermerkt sie: „Ich habe mir immer gerade das so sehnlich gewünscht, und nun als Kaisergäste auf dem Ballin’schen Schiff Viktoria-Luise, es wird gewiss köstlich.“ Sie und die drei Jahre jüngere Schwester Goedela „bekamen als Kaisergäste wunderbare Kabinen“ und am 26. Juni kamen sie von Hamburg „bei köstlichem Sommerwetter auf der Kieler Förde an“. Am Tag darauf war sie zum Kaiserdiner auf der Staatsyacht Hohenzollern, wo sich der Kaiser ihr mehr als eine halbe Stunde lang widmete: „Er war ganz fabelhaft gut aufgelegt und voller Witze.“ Am 28.  Juni 1914 endete das ungetrübte Vergnügen, als Hannah die Kriegsschiffe in der Förde auf Halbmast geflaggt sah: Erzherzog Franz-Ferdinand von Habsburg war tot. Gerüchte, dass der Thronfolger von Österreich-Ungarn in Sarajewo an einem Herzschlag gestorben sei, bezweifelte Hannah sofort und wurde darin bestätigt, dass er einem Attentat zum Opfer gefallen war. „Selbstverständlich wurden alle Festlichkeiten sofort abgesagt“, erklärt Hannah zur ersten Reaktion. Das Attentat war maßgeblicher Auslöser des Ersten Weltkriegs und bedeutete nicht nur für Hannah eine tiefgreifende Zäsur im Leben. Bis zu ihrem 21. Lebensjahr genoss Hannah auf Ausflügen, Ausritten, Tanzabenden, bei Vorträgen, Konzerten und Theaterbesuchen den Umgang mit den Söhnen und Töchtern der alten Familien des Guts- und Militäradels sowie mit den Spitzen des Großund Bildungsbürgertums. Auf Bällen bei Hof und in Botschaften, in hochadligen Palais und großen adligen Salons bewegte sie sich in den Kreisen der alten Hof-, Diplomaten- und Regierungseliten. In den besten Hotels und Restaurants Berlins nahm sie an geselligrepräsentativen Essen teil. Verbunden mit einer aktiven Besuchspolitik beobachtete Hannah das Gesellschaftsleben in Berlin und dessen Aufstieg zur Kulturmetropole. Ihre Jugend konnte sie im „goldenen Zeitalter der Si25

cherheit“ (Stefan Zweig) verbringen: Seit ihrer Kindheit herrschte wirtschaftliche Hochkonjunktur, und viele Erfindungen und Entdeckungen wie die Röntgenstrahlen oder das Aspirin wurden gemacht. Das von den Engländern zur Abwehr deutscher Produkte verfügte Kennzeichen „Made in Germany“ wurde zum Gütesiegel. Die Kaiserzeit zeichnete ein nahezu grenzenloser Glaube an die Stärke und glorreiche Zukunft des Deutschen Reiches aus, zumal Literatur, Malerei und Musik in Blüte standen. Der Krieg stellte alles in Frage, und dennoch entschied Hannah im Frühjahr 1915, die Ehe mit Leopold von Bredow einzugehen.

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Ehe in Zeiten des Umbruchs

„Mein Mann hat mich sehr lieb gehabt, und seine Kinder haben ihm das absoluteste Glück bedeutet, was einem Mann zuteil werden kann.“ (Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 730 – Potsdam, den 4. April 1938)

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rstmals näher kennen lernte Hannah ihren zukünftigen Ehemann Leopold Waldemar von Bredow Mitte  März 1914 im Berliner Hotel Adlon bei einer Soirée, zu der die Freifrau Ludovika von Stumm das Münchner Marionetten-Theater engagiert hatte: „Ah! Ah! Je später der Abend, desto schöner die Gäste; wie charmant, dass ich Sie hier treffe, meine gnädigste Gräfin,“ begrüßte er sie. Hannah war erstaunt, Leopold zu treffen, da er selten auf geselligen Veranstaltungen zu sehen war. Sie erlebte ihn an dem Abend als „wirklich sehr amüsant“. Durch Andeutungen über die Entfernung zwischen der Stadt Brandenburg, Leopolds Wohnsitz, und Friedrichsruh erweckte er bei ihr den Eindruck, als wäre ihm an einer Einladung in das Bismarck-Domizil gelegen. Auf Hannahs Antwort, wonach die Begegnung im Adlon wohl ihr letztes Beisammensein sei, reagierte Leopold „ganz melancholisch“. Offenbar entschieden, befindet Hannah im Tagebuch unter dem 15.  März 1914: „Solche Menschen sind in Berlin ganz nett, aber bei uns am Land! Ich rühre jedenfalls keinen Finger, um ihn herzubekommen.“ Zwei Monate später wurde ihr aber in Wien „insinuiert, dass ich von Molly Bredow sehr bewundert würde. Jedoch auch dieses wies ich natürlich von mir und glaube, dass ich bis auf weiteres nicht mehr beunruhigt werde.“ Leopold von Bredow, auch Molly genannt, war aber hartnäckig. Geboren im Jahre 1875 im brandenburgischen Bredow, war er seit 1912 als Rittmeister bei den Gardekürassieren in Brandenburg an der Havel stationiert und nutzte jede Gelegenheit, nach Berlin 27

zu fahren, um auch Hannah bei ihren häufigen Aufenthalten im Winter dort zu treffen. In Brandenburg hatte er mit 17 Jahren die Ritterakademie absolviert, war im Jahre 1893, also im Geburtsjahr von Hannah, mit 18 Jahren Leutnant geworden und diente Prinz Georg von Preußen als 20-jähriger für zwei Jahre als Adjutant. Der Prinz lebte sowohl in Berlin wie in seiner Eigenschaft als Militärgouverneur der Rheinlande in Koblenz. Er galt als Schöngeist, veröffentlichte unter Pseudonym Dichtungen und Theaterstücke und förderte als Protektor wie als Präsident Museen sowie wissenschaftliche Einrichtungen. Von Leopold von Bredow forderte er umfangreiche Literaturrecherchen und förderte dessen von Hannah später geschätzte schöngeistige Interessen. Die Kriegstrauung Hannah von Bismarcks mit Leopold von Bredow fand in kleiner Gesellschaft, im Rahmen der Familie, am 15. März 1915 in Friedrichsruh statt. Noch vier Jahre zuvor hatte Mutter Marguerite ihrer Schwester Polly gegenüber Zweifel geäußert, ob Hannah wohl einen Ehemann finden könne: „Es wird sowieso schwer sein, sie in Deutschland zu verheiraten. Sie ist so klar, so selbständig, so sicher, so zuverlässig, aber so gar nicht das, was die Deutschen lieben, so ganz und gar nicht feminin.“ Hannah habe „alle Eigenschaften eines ideal eldest son“ und sie frage sich auch, ob „ein Mann so ein Kind lieben könnte trotz allem, was sie entstellt.“ Marguerites Schwester Lily dagegen sah für Hannah durchaus Chancen, wenn auch mit Einschränkungen: „Sie kann nur einen älteren Mann heiraten, denn sie ist viel zu klug und brillant für einen jüngeren. Sie ist zu sehr eine heranwachsende große Dame. Auch muss man sie zum Trinken ans Wasser bringen, denn sie weiß absolut nicht um ihre Attraktivität.“ Leopold von Bredow war der von Lily empfohlene ältere Mann, der zudem aus einer alten Familie stammte, die wie die bismarcksche ins 13. Jahrhundert zurückreichte. Leopold beeindruckte Hannah durch seine Erfahrung und Weltläufigkeit, sein Kunstverständnis und seinen Charme. Nicht zuletzt konnte er Hannah auch wegen ihrer ausgeprägten Kinderliebe für die Ehe mit ihm gewinnen, denn er brachte die im Jahre 1906 ge28

borene Friederike „Didi“ in sie ein. Sie entstammte der ersten Ehe Leopolds mit Frances, der Tochter des US-Senators für Nevada, Francis G. Newlands. Vor der Eheschließung im Jahre  1905 war Leopold dem Militärattachéstab der deutschen Gesandtschaft in Washington zugeteilt gewesen. Die erste Ehe Leopolds währte nur kurz, denn im Sommer 1907 verstarb Frances nach längerer Krankheit in Potsdam. Sie hinterließ Leopold die gemeinsame Tochter Didi und zudem ein beachtliches Vermögen. Somit brauchte Marguerite von Bismarck sich um ihre Tochter keine Sorgen zu machen: „Hannah ist leider gar nicht reich“, schrieb sie ihrer Schwester Polly im Jahre 1911, „dabei muss sie in den größten Rahmen, den man sich vorstellen kann, heiraten.“ In der kleinen Garnisonsstadt Brandenburg an der Havel, Leopold von Bredows Kürassierstandort, vermisste Hannah den Glanz und das gesellschaftliche Leben von Berlin und Wien. Auch musste sich die Zeit des besseren Kennenlernens im Krieg auf die wenigen Fronturlaube des Ehemanns beschränken. Später machte sie sich zum Vorwurf, dass sie nicht dem Vorbild einer Freundin gefolgt war und Sanitätsdienst an der Front geleistet hatte. Stattdessen sorgte sie dafür, „Mama und Tante Polly und Onkel Ludwig durch den Krieg zu lotsen“. Ab 1916 galt Hannah von Bredows Sorge nicht nur der zehnjährigen Didi, denn die erste Tochter des Ehepaars, Marguerite, wurde geboren. Für eine Übergangszeit und kurz nach Kriegsende lebte die Familie in Friedrichsruh. Im Jahre 1919 musste Leopold von Bredow seine Militärkarriere aufgrund der Auflagen von Versailles zur Reduzierung der Reichswehr beenden. Ab diesem Jahr wäre die Familie finanziell allein auf Leopolds Offizierspension angewiesen gewesen, da das ererbte US-Vermögen eingefroren war. Hannah dagegen ermöglichte eine Erbschaft den Kauf eines Hauses, der Villa Ysenburg in der Potsdamer Wörtherstraße, der heutigen Menzelstraße, und den Umzug dorthin. In den folgenden Jahren brachte Hannah vier weitere Mädchen und drei Jungen zur Welt, sodass sie insgesamt neun Kinder zu versorgen hatte. Diener, Haus- und Küchenmädchen sowie Erzieherinnen erleich29

terten ihr die Aufgaben trotz finanzieller Engpässe, die auch zur Aufnahme von Krediten und Verkäufen zwangen. In Deutschland herrschte seit Kriegsende im  November 1918 eine Inflation, die ab 1922 außer Kontrolle geriet: Der Wert des US-Dollars, der Ende  des Jahres  1921 noch 185  Reichsmark betrug, war Ende Mai 1923 bereits auf 70.000 Reichsmark gestiegen. So konnte Hannah mit 20 Dollar, die sie von amerikanischen Verwandten erhalten hatte, mühelos ihre Bankschulden begleichen. Weite Kreise der Bevölkerung konnten sich nach der goldenen Ära der Sicherheit im Kaiserreich mit der Republik, die für sie Ausdruck von Brüchen und Widersprüchen zwischen Tradition und moderner Welt war, nicht anfreunden. Die alte Welt war gerade für den Adel aus den Fugen geraten und dieser zeigte tiefe Skepsis gegenüber dem Parteienwesen und den Erscheinungen des modernen Lebens. Zerstreuungen und Beliebigkeiten zeichneten die unübersichtlich gewordene Welt aus. Das Leben in Berlin Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre glich einem Tanz auf dem Vulkan. Berlin war eine brodelnde Metropole mit Weltflair, in der das kulturelle Leben in zahllosen Theatern, Konzertsälen, Kabaretts, Bars und Cafés aufblühte. Doch die wachsende wirtschaftliche Notlage und die hohe Arbeitslosigkeit brachte extremen Parteien wie den Kommunisten und Nationalsozialisten großen Zulauf. Ihre finanzielle Durststrecke konnte die Familie von Bredow erst im Jahre  1928 beenden, nachdem Leopolds amerikanisches Erbe freigegeben worden war. Das Potsdamer Haus wurde umgebaut, und Leopold erwarb das Chalet L’Espérance im Schweizer Les Diablerets. Dort verbrachte die kinderreiche Familie über viele  Jahre die Sommerferien. Das Vermögen erlaubte Hannah und Leopold von Bredow darüber hinaus, Mitte Februar 1930 zu einer halbjährigen Weltreise mit einem langen Aufenthalt in den USA aufzubrechen. Während dieser Reise schildert Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Sydney Jessen parallel zu ihren Tagebucheintragungen auf vielen Seiten, neben ihren Eindrücken von Städten, Museen und der Natur, besonders ihr Bild von der amerikanischen 30

Gesellschaft. Dank Leopolds früherem langjährigem US-Aufenthalt und seinen seinerzeit auch durch Senator Newlands erworbenen Bekanntschaften erhielt das Ehepaar auf jeder Station seiner Reise unzählige Einladungen in Clubs, Salons oder Restaurants. Besonders fiel Hannah von Bredow in den USA auf, dass „auf Gesellschaften, die in Deutschland als altmodisch verschrieene, ‚reinliche Scheidung der Geschlechter‘ an der Tagesordnung ist, und kein Mann, es sei denn er sei Ausländer oder ein Greis einer Frau in die Nähe geht.“ Die Männer seien „gewiss Sklaven der Frauen, haben auch alle diesen unfreien Blick, aber sie lassen sich doch nicht mehr wie früher zum Courmachen gewinnen, sondern drücken sich einfach, um zusammen ‚fach‘ zu ‚simpeln‘.“ Freimütig schildert Hannah von Bredow in ihren  Briefen aus Amerika, wie unverblümt dort ihre große Kinderzahl beurteilt wurde. So habe eine Dame der Gesellschaft, „von einer unverwüstlichen Energie, sehr witzig, laut und vulgär“, sie direkt gefragt, warum sie sieben Kinder habe, ob sie nichts über Geburtenkontrolle lese und ob alle Kinder von Leopold seien. Hannah überging die Fragen, die die „Dame“ schreiend über den Tisch an sie gerichtet hatte. Ein Mr. Robinson sprang ihr bei, und Hannah zitiert den Dialog: „Now don’t be too funny Mrs. McKin!“ – „Oh, just you be quiet, I’m sure that nice von Bredow can’t have been fool enough to have 7 children of his own“ – „He has eight as far as I know!“ erwiderte Robinson. Dann: „Well, tell me, why don’t you go to a beautyparlor! It´s time you started, it really is! You must think of your husband!“. Aber auch von männlicher Seite erfuhr Hannah einen Kommentar, den sie in ihrem Brief in seiner Offenheit als verblüffend bezeichnet: „I hear from your husband that you have actually had seven children! Only niggers breed that way with us!“ Dem Bericht Hannah von Bredows entsprechend schwieg Ehemann Leopold hierzu. Wieder einmal musste sie sich damit trösten, dass sie im Gegensatz zu ihrem Vater über „the thickest skin ever worn by man, woman or child“ verfügte. Bereits als Jugendliche hatte Hannah ihre Vorliebe für eine eigene große Familie bekundet. Während sie selbst mit vier Ge31

schwistern aufwuchs, teilte sich Ehemann Leopold das Elternhaus mit sechs Brüdern und Schwestern. Bei einem Besuch der Familie Whitehead in Efford House bei Liverpool erzählte die 18-jährige Hannah im Jahre 1912 der Großmutter von ihrer Liebe für Babys und kleine Kinder und erklärte, dass sie spätestens in drei Jahren heiraten werde. Sie wolle so schnell wie möglich ein Dutzend Kinder haben, ergänzte sie, und endete mit der verblüffenden Bemerkung, dass sie eine große Familie für erforderlich halte, „because a man is only bearable when one has him surrounded by lots and lots of children. That keeps him happy.“ Ehemann Leopold zeigte sich indessen mit neun Kindern, denen er sich mit viel Zuneigung widmete, vollauf zufrieden. Im Alter von 40 Jahren konnte Hannah dann nicht mehr daran denken, das Dutzend Kinder voll zu machen. Den letzten Sohn Leopold Bill erlebte Leopold von Bredow vor seinem Tod am 1. Oktober 1933 nur noch wenige Monate. Das Eheleben von Hannah und Leopold von Bredow war nicht ungetrübt. Ohne die Möglichkeit, seinem Beruf nachgehen zu können, widmete Leopold sich zunehmend dem Besuch von Clubs, Pferderennen, dem Golfspiel und ausgiebigen Jagdreisen. Versuche zu einer Tätigkeit in einer Reitschule sowie in einer Bank scheiterten an seinem unsteten Leben. Er schätzte das gesellige Leben, und sein Charme machte ihn zu einem gern gesehenen Gast. So war er auch mit dem Kunstsammler, Mäzen und Schriftsteller Harry Graf Kessler befreundet und traf sich mit ihm zur Jagd oder zu Opernbesuchen. Hannah von Bredow dagegen bevorzugte das reiche Kulturleben Berlins und die regelmäßigen Besuche von Theater, Konzerten und Vorträgen. Ihre große Kinderzahl hielt sie nicht von Reisen zu Verwandten und Freunden, von Einladungen zu Mittags- und Abendveranstaltungen oder eigenen Einladungen in ihr offenes Haus ab. Zurückgekehrt von ihrer Reise in die Neue Welt, feierte die Familie am 31. Oktober 1930 in Potsdam mit einem großen Familienfrühstück den 55. Geburtstag Leopolds. Kurz darauf reiste dieser mit Freunden zur Jagd nach Tamsweg ins Salzburgerland, und Hannah befürchtete am Abreisetag: „Er wird sicher krank zurückkommen.“ 32

Tatsächlich fand Hannah ihn nach seiner Jagdreise Ende  November 1930 „zum Skelett abgemagert, sehr reizbar“ vor. Zudem hatte er sich einen Knochenbruch zugezogen. Sie brachte ihn in eine Klinik, wo er erfolgreich operiert wurde. Im Herbst des Jahres 1931 ereilte Leopold von Bredow dann eine Blinddarmentzündung, die eine schwierige Operation mit Reanimierung zur Folge hatte. Eine längere Kur schloss sich an, zu der Hannah ihn begleitete. Mitte  Mai 1932 erkrankte Leopold erneut mit hohem Fieber, welches sich über einen Monat hielt und den Ärzten keine klare Diagnose ermöglichte. Als sich im Sommer  Hustenanfälle verstärkten, wurde eine Lungenentzündung festgestellt. Seinen 57. Geburtstag musste Leopold von Bredow dann im Oktober 1932 im Krankenhaus verbringen. Nach einer Phase der Beruhigung stellten sich im Frühjahr 1933 heftige eitrige Blutungen ein, Zeichen eines Lungenödems. Ende  April lieferte Hannah ihren dennoch „merkwürdig frischen und aufgeräumten“ Mann in die Klinik Martinsbrunn in Meran ein und blieb zunächst drei Wochen bei ihm. Hoffen und Bangen bestimmten die kommenden Monate. Anfang Juli 1933 traf Hannah von Bredow wieder in Meran ein und schrieb, dass sich Leopolds Befinden von Tag zu Tag bessere und er „wirklich Aussicht auf Genesung“ habe. Ende Juli heißt es im Tagebuch: „Leopold wunderbar munter und lustig. Kinder alle so nett. Wie er Billy liebt. Gott wolle doch in Gnaden geben, dass er wirklich gesund wird, denn er ist so froh, und das ergreift mich aufs Tiefste. Und wie er die Nazis hasst.“ Mitte September wurde Leopold von Bredow in eine Spezialklinik nach Lausanne verlegt, in die Hannah am 30. September eilte, um einen Tag darauf festzuhalten: „Sonntag, 1. Oktober 1933. Es ist Nacht und alles vorbei. Leopold ist in qualvollster, grauenhaftester, fürchterlichster Weise gestorben. Um 9.15 trat der Tod ein. Ich werde nie, nie, nie das Grauen loswerden.“ Die Ärzte diagnostizierten als Todesursache Encephalitis lethargica, eine besondere Form der Hirnhautentzündung. Voller Empathie schreibt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Sydney 33

Jessen zwei Tage nach Leopolds Tod: „Wenn ich nie Kinder bekommen hätte, hätte ich dies nicht ertragen können, aber auch so – ich kann eben nicht zuschauen, wenn andere leiden.“ Und sie ergänzt: „Er war gerade diesen Sommer mit dem Wunderbaby so selten glücklich, vielleicht so, wie noch nie, und ich hätte ihm ehrlich und herzlich diese Herbstferien, auf die er sich rasend freute, so gegönnt.“ Ende Oktober 1933 reiste Hannah von Bredow zur Eröffnung von Leopolds Testament in die USA. Unterwegs gedenkt sie am 31. seines Geburtstags: „Heute wäre Leopold 58  Jahre alt geworden. Ich kann und kann es nicht aushalten, bin so allein.“ Jedes Jahr legt sie zu Leopold von Bredows Geburtstag Blumen am Grab im brandenburgischen Sacrow nieder, erinnert in Tagebuch und Briefen an seinen Todestag und schreibt am 15. März 1935: „Vor 20 Jahren Ehe. Die Kinder machen mich ewig glücklich.“ Briefe und Tagebücher lassen aber auch erkennen, dass Leopold von Bredow seiner Frau in den 18 Ehejahren angesichts zunehmend sichtbar werdender unterschiedlicher Interessen und Hannahs selbstbewusster und unangepasster Lebensgestaltung viel abverlangte. Leopold von Bredow kritisierte nicht nur unter vier Augen die ausgeprägte Redefreudigkeit seiner Frau und ihren Hang zu hartnäckig und ausdauernd geführten politischen Gesprächen. Besonders auf der Weltreise forderte er sie auch in Gegenwart Dritter zur Eindämmung ihres Redeflusses auf und gab das Stichwort für wenig erfreuliche Kommentare zum Kinderreichtum des Paares. Eifersucht hatte zweifellos einen maßgeblichen Anteil an Leopold von Bredows Verhalten, zumal Hannah in Gesellschaft bevorzugt mit älteren Männern gleichermaßen eloquent in Deutsch, Englisch und Französisch sprach und diskutierte, und ihre Ansichten von diesen so anerkennend wie bewundernd kommentiert wurden. Eifersucht spielte auch eine Rolle, als Leopold von Bredow mit Hannah die halbjährige Weltreise unternahm. Es war im sechsten Jahr der Bekanntschaft und ununterbrochenen Brieffreundschaft Hannahs mit Sydney Jessen. Dieser war zwar nur ein gutes Jahr älter als Hannah, bestimmte aber ihr Denken und ihre Gefühlswelt in einem besonderen, für einen Ehemann durchaus beunruhigen34

den Maße. Die Weltreise sollte Hannah von Bredow Abstand zu Sydney Jessen verschaffen. Hannah indessen, schon an Bord des Passagierschiffes Hamburg, teilte Jessen am 17. Februar 1930 mit, dass sie ihm „von dieser ersten langen Seereise eine Art Tagebuch schreiben“ werde. Sie beließ es nicht bei täglichen Berichten über die lange Seereise, sondern schickte Jessen auch von den Landstationen wöchentlich bis zu 50 handgeschriebene Seiten mit ihren Eindrücken und Urteilen.

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Der Seelenverwandte Sydney Jessen „Wenn Sie nur ahnten, was für eine Erleichterung darin liegt, mit Ihnen korrespondieren zu können, wenn’s auch das Reden nimmermehr ersetzt. Was für eine Hilfe es ist, an jemand, der noch denken kann, schreiben zu können, und zwar so schreiben zu können, dass man sich – bis auf gewisse Gestapohemmungen – nicht jedes Wort auf seine Möglichkeit hin, verstanden zu werden, überlegen muss.“ (Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 377 – Potsdam, den 27. September 1935)

D

ie Zahl der Schreiben, die Hannah von Bredow in den Jahren 1925 bis 1965 an Sydney Jessen verfasste und bis zuletzt stets mit „Lieber Herr Jessen“ begann, ist exakt nicht ermittelbar, dürfte aber über 2000 liegen. Der Umfang der von Sydney Jessen an die „Sehr verehrte, gnädige Frau“ verfassten Briefe ist geringer. Von Verlusten durch Kriegseinwirkung sowie durch die willkürliche Vernichtung durch Hannah von Bredows Tochter Marguerite waren Jessens Briefe in höherem Maße betroffen als die von Hannah. Diese begann Anfang  des Jahres  1930 damit, ihre Briefe an Jessen zu nummerieren. Postkarten und nicht nummerierte  Briefe von bis zu 20 handgeschriebenen Seiten kommen hinzu. Der Briefaustausch erfolgte mindestens im Wochentakt, bisweilen alle zwei Tage und selbst bei räumlicher Nähe, wie am Ende der Kriegszeit. Am 19. Juli 1938 kalkuliert Hannah von Bredow in ihrem Brief Nr. 800, dass es „übermorgen 14 Jahre her sind, dass ich Sie kennenlernte“ und dass es „ungefähr 60–70 Briefe im Jahr sind, die ich Ihnen – als Durchschnitt angenommen – geschrieben habe, oder noch mehr, denn immerhin habe ich erst fünfeinhalb Jahre nach un36

serer Bekanntschaft mit dem Zählen begonnen.“ Ergänzt wurde der schriftliche Gedankenaustausch durch gegenseitige Besuche. Hannah von Bredow und Sydney Jessen begegneten sich demnach erstmals Mitte des Jahres 1924. Nach seiner Promotion in Berlin zum Dr. rer. pol. wirkte Jessen als Privatsekretär für Otto Fürst von Bismarck, Hannahs Bruder, der ab 1923 Abgeordneter für die nationalkonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) im Reichstag war. Bald entstand ein Vertrauensverhältnis zwischen dem 27-jährigen Abgeordneten und seinem um vier Jahre älteren Sekretär, in das Ottos Familie einbezogen wurde. Hannah von Bredows Interesse am ein Jahr älteren Sydney ­Jessen belebte nicht zuletzt die Lektüre von Thomas Manns im Januar 1924 erschienenem „Zauberberg“. Darin verlieh der Autor einzelnen der lungenkranken Patienten im Internationalen Sanatorium Berghof in Davos Züge bekannter Zeitgenossen, wie z. B. dem Mynheer Peeperkorn die des berühmten Autors Gerhart Hauptmann. Aber auch Geheimrat Prof. Friedrich Jessen, international anerkannter Tuberkulosespezialist und Vater von Sydney, fand sich in Gestalt des dirigierenden Arztes der Klinik, Hofrat Dr. Behrens, wieder. Wohl als sehr einseitig wird Hannah von Bredow die Sicht des „Zauberberg“-Autors auf den „Sohn des Hofrates, Knut mit Namen“ empfunden haben. Dieser „kam auf Ferienbesuch und wohnte bei seinem Vater im Seitenflügel,  – ein hübscher, junger Mann, dem aber ebenfalls schon der Nacken etwas zu sehr heraustrat. Man spürte die Anwesenheit des jungen Behrens in der Atmosphäre; die Damen legten Lachlust, Putzsucht und Reizbarkeit an den Tag, und in ihren Gesprächen handelte es sich um Begegnungen mit Knut im Garten, im Walde oder im Kurhausviertel.“1 Zwar blieb auch Hannah von Knut-Sydneys Äußerem nicht unbeeindruckt, dennoch ist die mehr als 40-jährige intensive Beziehung zwischen den beiden weit mehr den zahlreichen gleichgerichteten Interessen zuzuschreiben. In Sydney Jessen fand Hannah von Bredow einen Brief- und Gesprächspartner von breiter Bildung und umfassenden Interessen. Mit ihm konnte sie sich über gesellschaftliche, historische, künstlerische, literarische, philosophische und besonders politische Themen 37

stets angeregt und vertrauensvoll austauschen. Jessens literarische Ambitionen, die er in Gedichten, ebenso wie seine künstlerischen Fähigkeiten, die er in Porträts und Skulpturen auszudrücken wusste, trugen zur Wertschätzung und geistesverwandtschaftlichen Verbindung der Beiden über Jahrzehnte bei. Der am 24. April 1892 in Hamburg geborene Sydney Jessen kam erst spät zum Studium. Nach humanistischem Abitur trat er im Jahre 1911 mit 18 Jahren als Seekadett in die Reichsmarine ein und nahm im Rang eines Leutnants zur See am Krieg teil. Bereits im Dezember 1914 geriet er für drei Jahre in englische Gefangenschaft, konnte dank Vermittlung von Schweizer Ärzten im November 1917 freikommen, übernahm noch eine Funkstation und beendete den Krieg als Oberleutnant. Eine weitere Laufbahn bei der Marine schloss die restriktive Versailler Rüstungskontrollpolitik der Siegermächte aus, sodass Jessen sich 1919 für das Studium der Ökonomie in Zürich, München und Hamburg entschied, um es nach fünf Jahren mit der Promotion in Berlin abzuschließen.
Seine guten Englischkenntnisse kamen Jessen im Büro Otto von Bismarcks zugute, für den er bis 1926 auch die englische Korrespondenz betreute. Im Anschluss halfen ihm ab 1927 seine ebenso guten Französischkenntnisse in der Geschäftsführung des Deutsch-Französischen Studienkomitees. Das von Vertretern der Großindustrie gegründete Komitee diente der deutsch-französischen Verständigung. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise kamen die Aktivitäten bereits im Jahre 1930 zum Erliegen. Sydney Jessen hatte sich nach einer neuen Betätigung umzusehen. Seine im Jahre 1927 geschlossene Ehe mit Helene Gräfin von Zeppelin, einer Tochter des Lothringer Bezirkspräsidenten ­Friedrich Graf von Zeppelin-Aschhausen, erleichterte die Suche. Ein Jahr zuvor hatte die 21-Jährige von einer Großmutter im südbadischen Laufen ein Weingut geerbt, das Jessen dann leitete. Hannah von Bredow bemühte sich von Anfang an um ein gutes Verhältnis zu der zwölf Jahre jüngeren Helene Jessen und war nicht nur Gast bei der Hochzeitsfeier, sondern wurde auch Taufpatin der Tochter Iris. Verschiedentlich besuchte Hannah von Bredow die Familie ­Jessen in Laufen, und Helen kam auch allein zu ihr nach Potsdam. 38

Daneben entwickelte sich eine Korrespondenz zwischen den beiden Frauen, in der sich die geborenen Gräfinnen standesgemäß mit „Liebe Helene“ und „Liebe Hannah“ ansprachen. Ihre teilweise sehr umfangreichen Briefe beschloss Hannah bisweilen mit dem Gruß: „Leb wohl, meine liebste Helene, grüß Deinen Mann, küsse die liebe Iris und sei innig umarmt von Deiner Dich liebenden und dankbaren Hannah“. In ihren Schreiben an Helene Jessen ging Hannah von Bredow auf deren Interesse am erlernten Gartenbau ebenso ein wie auf ihre Vorliebe für das Modellieren. Sie erkundigte sich stets nach ihrer Patentochter, die sie reichlich beschenkte, und schrieb im Anschluss an einen Geburtstag von Iris: „Ich freue mich, dass die Kleider für Iris Dir gefallen haben. Ich schenke meinem Patenkind so sehr gern etwas, und doppelt gern, wenn die schöne und liebe Mutter auch Spaß daran hat.“ Hannah berichtete Helene in ihren Briefen häufig über ihr Familienleben, etwa über einen erheiternden Abend mit ihrer „Tante Rantzau, die ihre 238 Pfund in lichtrosa Atlas mit alten Spitzen gehüllt hatte und nach dem Dinner in aller Seelenruhe Bier verlangte – und bekam!“ Als Anspielung konnte die junge Mutter Helene die Charakterisierung des römischen Adels verstehen, die Hannah ihr anhand der Eindrücke ihrer Schwester Goedela nach einer Romreise im letzten von drei Punkten vermittelte: „Drittens, dass auch in den allerglücklichsten Ehen, wo Mann und Frau wie die Turteltauben leben, der Mann, so wie seine Frau irgendwie nicht dabei oder gar in den Wochen oder krank ist, sofort eine Nebenverbindung eingeht, sich ganz ungeniert überall zeigt und das ganz selbstverständlich gefunden wird!!“ Aufkommendes Misstrauen Helene Jessens konnte Hannah von Bredow sich angesichts ihres intensiven Schriftverkehrs mit Sydney Jessen durchaus vorstellen und wurde in ihren Vermutungen auch bestätigt. Nach einem Theaterbesuch mit Jessen fragt sie sich Mitte Februar 1935 im Tagebuch: „Kann man sich eine Ehefrau vorstellen, die alle Briefe ihres Manns liest? Sowohl die gesendeten wie erhaltenen? Welch erstaunliche Idee eines ehelichen Glücks! Aber solange sie daran Spaß hat …“ Mit Hinweisen auf ihre Treue und 39

den Altersunterschied bemühte sich Hannah in ihren  Briefen an Helene, das Misstrauen zu dämpfen: „Vergiss mich nicht ganz trotz langer Trennungen und lass Dich in treuer Freundschaft und Liebe innig umarmen. Grüße Deinen Mann und die Kinder. Deine alte, müde, traurige und allgemein erschöpfte Hannah“. Dauerhaft konnte Hannah von Bredow den Argwohn und die Eifersucht von Helene Jessen nicht dämpfen. Zum zehnten Hochzeitstag Anfang April 1937 schenkte sie dem Paar einen alten englischen Freundschaftsbecher und bemerkte in ihrem Brief an Jessen Ende des Monats: „Vielleicht hat Helene ihn in Laufen noch gesehen.“ Die Ehe war in die Brüche gegangen und Helene auf das Familienanwesen in Aschhausen gezogen. Ende Juli reichte sie die Scheidung ein. Doch hierbei ließ sie es nicht bewenden: Sie benannte Hannah als Schuldige und denunzierte sie zudem, wie diese am 12. November 1937 im Tagebuch festhält: „I have been denounced by the nurse, by Helen, by Raeder and Arnim. Well, well! A close shave. Damn those Nazis!“ Hannah erwog eine Klage und überlegte im September, „wo mein Fehler lag. Ich habe sie nie verachtet, ich fand sie nur anders. Ich hatte nie unloyale Gedanken über sie. Das Komische ist, dass ich wirklich glaubte, sie mochte mich. Jetzt muss ich das alles für mich klären.“ Nach der Rückkehr von einer Wienreise wurde Hannah von Bredow Ende Oktober 1937 in Berlin völlig überraschend von zwei Zollbeamten empfangen, die sie nach Potsdam begleiteten und ihren Schreibtisch durchsuchten. Beiläufig erwähnten sie, dass Sydney Jessen wenige Tage zuvor inhaftiert worden war. Am 13. November berichtet Hannah dem Brieffreund Jessen ausführlich über das siebenstündige Verhör der Beamten. Diese bezichtigten sie des Devisenvergehens, welches sie unter einem Pseudonym vorgenommen habe. Den Beamten erklärte Hannah hierzu: „Dieses Mal wissen Sie ja aus Frau Jessens Denunziationen den Sinn, und deshalb brauche ich ihn nicht zu wiederholen.“2 Bereits in einem Schreiben an Jessen hatte Hannah von Bredow drei Tage zuvor resignierend festgestellt: „Es interessiert mich auch sehr wenig, denn ich bin nicht mehr auf dieser Welt, weil ich ja doch nur ein Schädling bin. Vielleicht kann ich mich als Skelett ausstel40

len, sonst fällt mir nichts mehr ein. Ich wiege jetzt 48 kg und das ist immerhin nicht sehr üppig, aber es ist wohl noch immer zu viel, denn ich nehme weiter ab. Das lässt sich nun nicht ändern …“ – Ein Alarmsignal einer knapp einen Meter achtzig großen Mutter von acht Kindern. Hannah von Bredow verzagte nicht und bemühte sich mit allen Mitteln um Aufklärung. Erschwerend kam für sie aber hinzu, dass „alle Briefe, die ich Ihnen je geschrieben habe, in den Händen der Zollfahndungsstellen sind,“ schrieb sie Jessen Ende November 1937. Mit den abgefangenen und abgeschriebenen Briefen verband ­Hannah die Sorge, dass diese Jessen auch devisenrechtlich und politisch im Rahmen des Scheidungsprozesses belasten könnten. Mit Hilfe ihres Bruders Otto und ihres Rechtsanwalts Walther von Simson gelang es Hannah von Bredow immerhin, beim Oberfinanzpräsidenten die haltlosen Vorwürfe wegen Devisenvergehen auch mit eigenen unkonventionellen Mitteln aufzuklären: Ihre Brüder hatten sie nämlich darin bestärkt, „dass nur mit Marktweibergebrüll heutzutage durchzukommen sei, nicht aber mit einem einzigen Zeichen des sich Unterordnens.“ Politische Unterordnung kam für Hannah von Bredow ohnehin nicht in Frage. Besorgt war sie aber, als sie erfuhr, dass Abschriften ihrer  Briefe an Jessen auch dem Chef der Potsdamer Gestapo und zweitem Vorsitzenden im Volksgerichtshof, Wilhelm Graf von Wedel, vorlagen und er beabsichtigte, Hannah in Haft zu nehmen. Bruder Gottfried von Bismarck, Parteigenosse von Wedel, musste intervenieren und tat dies erfolgreich. Dennoch ließ Wedel im Januar 1938 Hannah von Bredows Pass einziehen. Gottfried empfahl ihr daraufhin dringlich, Sydney Jessen bis zum Abschluss des Scheidungsprozesses nicht mehr zu sehen. Hannah schlug den brüderlichen Rat aus und traf Jessen noch verschiedentlich vor Ende des Prozesses, der Anfang Oktober 1938 mit einem Schuldspruch gegen ihn endete. Kurz vor Weihnachten wurde die Scheidung wirksam. Den Jahreswechsel feierte der Geschiedene zusammen mit Hannah von Bredow und ihren acht Kindern in Potsdam. Jessens aus dem Briefwechsel mit Hannah von Bredow ersichtliche ‚politische Unzuverlässigkeit‘ bestimmte das negative Schei41

dungsurteil wohl auch unabhängig von den Scheidungsgründen seiner Frau Helene. Seine früh geäußerte Distanz zum NS-Regime beantworteten dessen Erfüllungsgehilfen bereits im Jahre 1934 mit Jessens Ausschluss aus dem Vorstand der Laufener Winzergenossenschaft und einer bäuerlichen Berufsvereinigung in der Markgrafschaft Baden. Gegenüber weiteren Schikanen sicherte er sich ab 1934 durch Teilnahme an Reserveübungen ab. Diese erleichterten ihm nach seiner Scheidung die Einstellung in der Nachrichtenabteilung der Seekriegsleitung in Berlin Anfang 1939. Angesichts der räumlichen Nähe verzeichnet Hannah von Bredow in ihrem Tagebuch für das Jahr  1939 nahezu wöchentlich Treffen mit Sydney Jessen. Wenig zur Freude der Familie BismarckBredow wohnte Sydney Jessen, als er in Berlin auf Wohnungssuche war, in den ersten Monaten sogar bei Hannah, die im Tagebuch vermerkt: „Mutter täglich ärgerlicher, dass Sydney in unserem Haus wohnt. Kein Trost für sie, dass er sich im Haus nicht wohl fühlt. Auf jeden Fall muss er bedauert werden.“ Das Mitleid für den unter unwürdigen und erniedrigenden Umständen geschiedenen Freund hatte aber Grenzen: Zur Frage ihres Bruders Gottfried, ob sie Sydney Jessen nicht heiraten wolle, vermerkt sie: „Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.“ Ein dauerhaftes Zusammenleben mit Sydney Jessen oder gar eine Ehe mit ihm kam für Hannah von Bredow allein ihrer Kinder wegen nicht in Frage. Die drei älteren Töchter, die Ende der 1930erJahre bereits über oder knapp unter 20 Jahre alt waren, lehnten es strikt ab, Jessen eine Vaterrolle zuzugestehen. Hannah hatte besonders mit ihrer Ältesten, Marguerite, erhebliche Schwierigkeiten und wollte Jessen nicht in ihre Erziehungsprobleme hineinziehen. Auch hatte sie seit dem Tod ihres Mannes Leopold den großen Haushalt, unterstützt zwar durch reichliches Personal, mehr als fünf  Jahre ohne männlichen Vorstand bewältigt. Nicht zuletzt galt es für Hannah von Bredow, Vorbehalte gegen Jessen auch im weiteren Familien- und Bekanntenkreis zu berücksichtigen. So schreibt sie schon früh, Ende des Jahres 1934, ins Tagebuch, dass sie einer Einladung Jessens nach Laufen gern nachgekommen wäre: „Wie aber soll man das machen? Schade. Ich habe so 42

wenig gute Freunde, und gerade dieser wird mir von den dümmsten Leuten verübelt, weil er bürgerlich ist. – Komische Welt.“ Hannah von Bredows Nähe zu Sydney Jessen, die sie in Form regelmäßiger Briefe und gelegentlicher Besuche seit dem Jahre 1925 hergestellt hatte, hielt sie in keiner Weise davon ab, die von ihr erwarteten gesellschaftlichen Aktivitäten und familiären Pflichten wahrzunehmen und zu erfüllen. Auch nach dem frühen Tod von Ehemann Leopold im Oktober 1933 verzichtete sie nicht auf ein reges Gesellschaftsleben. Gern nahm sie Einladungen zu Frühstücks-, Mittags- und Abendveranstaltungen von Verwandten und Freunden, von Vertretern aus Diplomatie, Politik und Wirtschaft wahr und lud ihrerseits zum Tee und zu Essen ein. Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre versäumte Hannah von Bredow darüber hinaus wenige der von Wilhelm Furtwängler, Otto Klemperer oder Bruno Walter dirigierten Konzerte der Berliner Philharmoniker und erlebte das Theater von Max Reinhardt und Gustav Gründgens. Reisen zur Mutter nach Friedrichsruh oder zu den Brüdern kamen hinzu. Ein streng eingehaltener Tagesablauf ließ ihr genügend Zeit für ihre Kinder und deren Sorgen. Selbst nach Abendeinladungen beschloss sie den Tag am Schreibtisch und erledigte die anfallenden Rechnungen, häuslichen Angelegenheiten, Listen, Krankenkassen- und Steuersachen. Die Seelenverwandtschaft mit Sydney Jessen, sichtbar in ihren bis in die Morgenstunden geschriebenen regelmäßigen Briefen, beruhigte und kräftigte Hannah von Bredow. Beim Schreiben über Gespräche mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten, über jüngst gelesene Zeitungsartikel und Bücher, über Theateraufführungen, Konzerte und Vorträge, erinnerte sie sich nicht nur an die Geschehnisse eines Tages oder eine Woche. Aus der Reflexion der Ereignisse und ihrer Gedanken gewann sie Selbstvergewisserung. Belastendes oder traurige Erlebnisse in Worte zu fassen, war für sie eine Art Selbsthilfe, um Seele und Körper zu stärken.3 In depressiven Phasen konnte sie die Lust an der puren Beschreibung von Situationen oder die treffsichere Benennung von Details aus gesellschaftlichen Dialogen von Grübelei ablenken. Im schriftlichen Dialog mit dem verständnisvollen und einfühlsamen Sydney 43

Jessen vermochte sie die Intensität ihrer Empfindungen sowie aufkommende Ängste zu zähmen. Der über vier Jahrzehnte geführte ununterbrochene Dialog erlaubte ihr trotz häuslicher Beanspruchung und wiederholter ernsthafter Erkrankungen die für sie besonders belastendenden zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs“ weitgehend unbeschadet zu überstehen. Wie wichtig Hannah von Bredow ihre Brieffreundschaft mit Sydney Jessen war, äußert sie schon nach wenigen Jahren der Bekanntschaft im Jahre  1931 in Form einer Bitte an ihn: „Es wäre netter denn je von Ihnen, wenn Sie mir, so oft es Ihre Arbeitslast gestattet, schreiben würden. Es ist ungeheuer wohltuend, mit jemand reden zu können, wenn man alles, was man sieht und hört, verschlucken muss.“ Zu ihren eigenen Briefen erklärt sie Jessen zu dessen 39. Geburtstag am 24. April 1931, sie werde sich, „was Briefeschreiben anbelangt, nicht bessern“, sondern habe die Absicht, „Sie weiter – auch einseitig – mit Episteln von allzu großer Länge zu ‚erfreuen‘“. Den Umfang ihrer  Briefe nennt Hannah von Bredow „kleinere Heftchen, denn Briefe sind die vielen Bogen wohl kaum mehr.“ Mit Beginn der NS-Zeit gewinnt der Schriftwechsel erheblich an Bedeutung, und Hannah schreibt Jessen im  April 1933: „Wenn Sie nur ahnten, was für eine Erleichterung darin liegt, mit Ihnen korrespondieren zu können, wenn’s auch das Reden nimmermehr ersetzt.“ Zweieinhalb Jahre später bekennt sie ihm, „was für eine Hilfe es ist, an jemand, der noch denken kann, schreiben zu können, und zwar so schreiben zu können, dass man sich – bis auf gewisse Gestapohemmungen – nicht jedes Wort auf seine Möglichkeit hin, verstanden zu werden, überlegen muss. Dass ich mir unter solchen Umständen beneidenswert vorkomme, brauche ich nicht zu betonen.“ Hannah von Bredow verfasste die große Zahl ihrer umfangreichen  Briefe an Sydney Jessen, die sie bisweilen mit seitenlangen Dialogen in Englisch und Französisch anreicherte, in einer eleganten, anregenden Sprache und in einem plastischen, oft erheiternden Stil, selbst bei Anweisungen an ihren Vertrauten: „Was ich Ihnen erzählen werde, ist derartig erstaunlich, dass ich’s Ihnen nicht vorenthalten mag, aber ich bitte Sie, diesen Brief zu all den anderen im 44

W.C. oder wo sonst zu vernichten. Nicht im Meer, denn das speit sie bekanntlich aus.“ Im demselben Brief ermahnt Hannah von Bredow ihren Briefpartner Jessen im August 1933: „Sie haben doch meine sämtlichen Elaborate vernichtet, hoffe ich. Erstens sind sie wert, zu sterben (wie die Schreiberin selber übrigens) und zweitens plagt mich nicht die Ambition, als ‚Sévigné II‘ der Nachwelt überliefert zu werden. Denn ich schreibe wie ich rede, nicht für die Ewigkeit.“4 Selbst wenn Hannah von Bredow ihre Selbsteinschätzung und das von ihr erwartete Rollenverständnis einen Vergleich mit ihrem Großvater Otto von Bismarck verboten, wusste sie, dass dieser seine Privatbriefe auch für die Nachwelt schrieb. Hannahs Haltung zu den eigenen Briefen dagegen wurde durch die Veröffentlichung der sehr privaten Briefe ihres Vaters Herbert von Bismarck im Nachlass seines Freundes Fürst Eulenburg-Hertefeld im Jahre 1923 bestimmt. Gleichermaßen mit ihrem Vater wie mit ihrem Großvater teilte Hannah von Bredow andererseits eine Eigenschaft, die für ihr Schreiben bestimmend war und die sie für ihre ständige innere Unruhe verantwortlich machte: „Genau zu wissen, was kommt“. Viele ihrer  Briefe und Tagebucheintragungen belegen Hannahs ausgeprägte Fähigkeit zur Vorhersage von Ereignissen, zur Prognose. Ihre damit verbundene Unruhe bemühte sie sich, in den Schreiben an Jessen endgültig loszuwerden. Dies erklärte Hannah ihm im Sommer 1931 und ergänzte: „So flüchte ich mich nicht in die Öffentlichkeit, sondern ins Tintenfass und von da ins Feuer, wofür Sie bitte Sorge tragen werden.“ Zum Glück für die Nachwelt kam Sydney Jessen dem Wunsch Hannah von Bredows nicht nach. Ihre erhalten gebliebenen Briefe an ihn, an ihre Freunde und Familienangehörigen sowie ihre Tagebuchaufzeichnungen vermitteln dank der darin enthaltenen detaillierten gesellschaftlichen und politischen Beobachtungen und Reflexionen einen tiefen Einblick in die ausgehende Monarchie, in den Todeskampf der Weimarer Republik und in die Willkürherrschaft des Nationalsozialismus. Das Privileg einer „höheren“ Geburt, mehr aber noch ihre breite Bildung, ihr scharfer Verstand und ihr außergewöhnliches Gedächtnis verschafften Hannah von Bredow 45

den Zugang zu den Elitekreisen ihrer Zeit. Bereits früh hatte sie eine enge geistige Verbindung zu ihrem Vater und Großvater verspürt und entwickelte ein ausgeprägtes Interesse an Geschichte und Politik, welches sie durch ausgiebige Lektüre und intensive Gespräche stillte. Die schriftlichen Selbstzeugnisse aus den letzten Jahren der Weimarer Republik sowie der gesamten Zeit der NS-Diktatur weisen Hannah von Bredow als ebenso scharfsinnige wie scharfzüngige Chronistin der Jahre von Unsicherheit und folgender Tyrannei als eine „Femina Politica“, aus. So traf sie mit dem Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zusammen und führte wiederholt Gespräche mit den letzten Weimarer Kanzlern Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher. Ihr ständiger Gesprächspartner und Informant war von Januar 1931 bis Januar 1933 der enge Vertraute der Reichskanzler, die „graue Eminenz“ Erwin Planck. Früh machten die Brüder Otto und Gottfried von Bismarck ihre Schwester Hannah von Bredow auch mit Adolf Hitler, Hermann Göring sowie mit anderen NS-Größen und Wirtschaftsführern bekannt. Im Auswärtigen Amt unterhielt sie Kontakte zu Ministern und Staatssekretären sowie in verschiedenen deutschen Auslandsvertretungen zu Botschaftern. Regelmäßig erhielt sie Einladungen zu Empfängen und Essen von ausländischen Botschaften in Berlin und hatte Mitarbeiter von diesen bei sich zu Gast. Von den verschiedenen Treffen mit Prominenten schildert Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen zeitnah und minutiös ihre Eindrücke und bemerkt hierzu: „Wenn ich so schnell aufschreibe, was ich gesehen und gehört habe, so versuche ich nur eines, die Situation möglichst wahrheitsgetreu wiederzugeben und die in Anführungsstrichen stehenden Reden möglichst im Wortlaut.“ Hannah von Bredows durch ihre Sehschwäche entwickelte außergewöhnliche Hörfähigkeit und ihr von dritter Seite immer wieder bestätigtes ausgezeichnetes Gedächtnis sprechen für eine hohe Authentizität ihrer schriftlichen Selbstzeugnisse.

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Femina Politica

„Ich bin in diesen Tagen doch zu der Überzeugung gelangt, dass es ein Fehler ist, als Frau geboren zu sein, wenn man geistige Interessen hat.“ (Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 670 – Potsdam, Sonntag, den 6. Februar 1938)

H

annah von Bredow verstand sich selbst nicht als eine politische Frau. Mitte des Jahres 1931 erklärt sie Sydney Jessen: „Sie wissen, dass ich weder Interesse, noch Verständnis, noch Flair für Politik in irgendeinem Sinn habe, und dass ich sowieso ein lebhaftes Grauen vor politisch tätigen Frauen empfinde. Politics are essentially mens’work – dass die Sache bei uns so häufig schiefgeht, ändert an der Wahrheit meiner Behauptung nichts.“ Auch bei ihr ging die Sache schief, denn, anders als behauptet, zeigte sie seit ihrer Jugend ein ausgesprochenes Interesse und Verständnis für Politik. Politisch aktiv war Hannah von Bredow zweifellos auch zu Beginn der Hitlerdiktatur nicht, als sie sich ständig mit der Frage auseinandersetzte, was sie über das Regime denke und wer sie sei: „Ich weiß nur, was ich nicht bin, ich bin nicht Angehöriger irgendeiner Partei, ich bin sicher kein Sozialist, bestimmt kein Demokrat, auch nicht ein Legitimist, vielleicht kein Monarchist, gewiss kein Republikaner – jedenfalls nicht im Sinne der bisherigen deutschen Republik – ich bin kein Kommunist, also passe ich wohl nirgends hin. Aber im Grunde halte ich diese Ungebundenheit bei Frauen für das einzig Wahre, besonders bei solchen, die mit der Öffentlichkeit nichts zu tun haben. Man wirkt aber dadurch manchmal aufreizend, da jeder einen verachtet, weil man keine Hakenkreuzfahne am Haus hat und keine Abzeichen trägt.“ Ihr Verhältnis zu politischen Fragen beschreibt Hannah ihrem Briefpartner Jessen als irrational und sogar beängstigend: „Wenn 47

mein Leben von Politik der Vergangenheit oder Zukunft in irgendeiner Weise gestreift wird, oder wenn ich mich sogar hinein vertiefen muss, dann wird plötzlich etwas ganz tief Vergrabenes und Zugesiegeltes in mir lebendig. Und dieses Etwas dehnt sich nach allen Richtungen, lässt mir keine Ruhe und gibt mir das geradezu groteske Gefühl, dass ich – bitte stellen Sie sich das nur vor! – derartigen Situationen vollkommen gewachsen wäre, mich in ihnen, je komplizierter sie werden würden, umso sicherer bewegen könnte, ja ich komme mir zu meinem Entsetzen wie eine Art Antenne vor, die spürt, was in der Luft liegt – oh es ist grässlich.“ In solchen Fällen wusste Hannah „genau, was kommt“, und versuchte, ihre innere Unruhe in den Briefen an Jessen loszuwerden. Bester Informant Hannah von Bredows über das politische Geschehen im inneren Zirkel der Macht war in den beiden letzten Jahren der Weimarer Republik der gleichaltrige Erwin Planck, Sohn des Physikers und Nobelpreisträgers Max Planck. Nach dem Abitur hatte Erwin Planck die Militärlaufbahn eingeschlagen und wurde nach dem Krieg dem Generalstab zugeordnet. Dort lernte er Kurt von Schleicher kennen, der ab 1929 das Reichswehrministerium und ab Dezember 1932 bis zu Hitlers Machtantritt kurzfristig das Reichskanzleramt leitete. Zwischen Schleicher und Planck entstand bald ein enges Vertrauensverhältnis. Schleicher war im Jahre 1923 Trauzeuge von Erwin und Nelly Planck. Ein Jahr später begann Plancks Karriere als Verbindungsmann des Reichswehrministeriums in der Reichskanzlei. Vom Referenten stieg er 1930 im „Kabinett der Frontsoldaten“ des Reichskanzlers Brüning zu dessen persönlichem Sekretär und ab Juli 1932 zum Staatssekretär unter dessen Nachfolger Franz von Papen auf. In den letzten Jahren der Weimarer Republik galt Erwin Planck als „graue Eminenz“ der Kanzler. Prägend für Erwin Planck war die großbürgerliche Atmosphäre seines Elternhauses: Musizieren, Opernbesuche und intellektuelle Diskurse waren selbstverständlich. Er war ein guter Cellist und traf sich regelmäßig mit seinem Vater und Albert Einstein zum Triospiel. Erstmals im  September 1930 erwähnt Hannah von Bredow eine Einladung im Hause Planck und beschreibt Sydney Jessen 48

im  Februar 1931 eine weitere Gesellschaft: „Es wurde viel politisiert und Planck  Junior gab seine Ideen bereitwillig zum Besten: ‚Die Nationalsozialisten haben ausgespielt, die einzige Gefahr sind die Kommunisten, deren Macht wächst. Die Deutschnationalen sind untauglich, die Volkspartei ebenso, Treviranus1 hat vielleicht doch Chancen, das Zentrum ist noch immer mächtig, Braun in Preußen desgleichen. Brüning ist der einzige Kanzler von Format seit 1890, Schleicher arbeitet nur pro domo, wird aber einen Freund nie fallen lassen …‘“ Hannah ergänzt: „Das war der langen Rede kurzer Sinn. Planck Senior hörte interessiert zu und sagte mir: ‚Erwin ist so geschmeidig, der würde das alles schon schaffen; Brüning hält sehr viel von ihm.‘“ Hannah von Bredow hielt nicht ganz so viel von Erwin Plancks Fähigkeiten, wusste aber seine Verehrung für sie und seine Auskunftsfreudigkeit zu schätzen. Zeitweise telefonierten beide täglich miteinander, trafen sich regelmäßig in Cafés und luden sich häufig gegenseitig ein. Planck war bei wichtigen Gesprächen Brünings, Papens und Schleichers „steinerner Gast“. In ihren  Briefen nennt Hannah ihren Kontaktmann Planck stets „Puck“ und spielt damit auf die Eigenschaften des kleinwüchsigen Hofnarren in Shakespeares Sommernachtstraum an, besonders auf dessen verwirrende Scherze, aber auch seine Hilfsbereitschaft denen gegenüber, die ihn richtig ansprechen und ihm zuhören konnten. Letzteres vermochte Hannah von Bredow sehr gut, sodass sie Jessen laufend von ihren politischen Gesprächen mit Planck berichten konnte. Hannahs Vertrauter Planck erfuhr Details über historisch bedeutsame Treffen und gab diese, oft in Dialogform, an sie weiter. So berichtete er ihr auch von der zweiten Unterredung, welche Reichspräsident von Hindenburg mit Hitler am 13.  August 1932 hatte, sowie von verschiedenen Gespräche der Reichskanzler von Papen und von Schleicher vor der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933. Die Nachwelt kann erstaunt feststellen, dass Hannah von Bredows Aufzeichnungen historischen Erkenntnissen weitgehend entsprechen.2 Erwin Plancks ständige Bereitschaft, Hannah von Bredow über aktuelle politische Entwicklungen zu unterrichten, erklärt sich da49

raus, dass er von ihr stets seine Bedeutung als „Strippenzieher“ an den Schalthebeln der Macht vermittelt bekam. Hannah ihrerseits schätzte Plancks Offenheit, bemerkte allerdings auch kritisch, dass ihm „im Grunde alles gleichgültig ist, so lang er selber weiterkommt.“ Der ambitionierte Erwin Planck setzte Ende 1932 und noch Anfang Januar 1933 alle Hoffnung und seine Zukunft in seinen Freund Kurt von Schleicher. Hannah von Bredow dagegen sah die Entwicklungen realistischer und befand nach einem Abendessen mit ihm am 23. August 1932: „Er erzählte interessant, aber der Mann ist entweder gewollt blind oder ahnungslos.“ Am 21. Januar 1933, also neun Tage vor Hitlers Machtübernahme, schreibt Hannah von Bredow im Tagebuch: „I warned Planck. He disbelieved me. I give him a week and then – Planck said: ‚Sie werden doch nicht glauben, dass die Deutschen alle irre sind!‘ I replied: ‚Irre? Ahnungslos, genau wie Sie.‘ – ‚Die ich rief, die Geister‘, werden bald viele singen. Ich riet Planck abzureisen.“ Mit Hitlers Machtantritt wurde der Vertraute Schleichers persona non grata im neuen Deutschland. Er entzog sich den wachsenden Bedrohungen aber erst Mitte März 1933 durch eine ausgedehnte Ostasienreise. Für die politische Beobachterin Hannah von Bredow bestand nach Erwin Plancks Rückkehr von seiner langen Reise im  Mai 1934 kein ausgesprochenes Interesse mehr an Treffen mit ihm. Auch hatte sich Erwins eifersüchtige Frau Nelly gegen weitere Begegnungen ihres Manns mit Hannah ausgesprochen. Im  Oktober vermerkt Hannah im Tagebuch noch einen äußerst aufgeregten Anruf Erwin Plancks. Zu dieser Zeit bemühte dieser sich nach wie vor intensiv um die Aufklärung des Mordes an Kurt von Schleicher und seiner Frau in der „Nacht der langen Messer“ vom 30. Juni 1934. Damit kam Planck wieder ins Fadenkreuz der Gestapo, der er sich bald durch Aktivitäten in der Privatwirtschaft, nämlich als Geschäftsführer der Handelsfirma Otto Wolff, entzog. Unpolitisch blieb er indessen nicht, denn sein Name wird ab Ende 1939 in Verbindung mit Widerständlern genannt. Anders als Hannah ihn charakterisiert, war dem nationalkonservativen Erwin Planck durchaus nicht alles gleichgültig, „so lang er selber weiterkommt.“ Ihm ging 50

es um Deutschlands Zukunft, und kurz nach Kriegsbeginn findet sich sein Name bis zum 10. Juli 1944 regelmäßig unter den Vertrauten des konservativen Widerständlers Ulrich von Hassell in dessen Tagebüchern. Häufiger findet sich in von Hassells Tagebüchern auch der Name Franz von Papen. Dieser war nach dem Krieg bemüht, den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg von seiner Widerständigkeit zu überzeugen, ebenso wie später auch die Leser seiner Memoiren „Der Wahrheit eine Gasse“. Hannah von Bredow machte indessen Ende des Jahres 1937 Erfahrungen mit einer Denunziation Papens, die alles andere als dessen Widerständigkeit belegte.3 Hannah von Bredow lernte Franz von Papen bereits Anfang der 1930-Jahre kennen und unterhielt sich bei verschiedenen Gelegenheiten mit ihm. So erfuhr ihr Briefpartner Jessen im Frühjahr 1931, also vor Papens Kanzlerzeit, von einer Abendgesellschaft bei den Bredows mit Papen als Gast, auf der Hannah ihrem Bruder Gottfried beispringen musste: „Papen grauste Gottfried so mit seiner geradezu krankhaften Frankophilie, dass es fast zu Unannehmlichkeiten kam,“ schreibt sie. Daraufhin beruhigte Hannah ihren Bruder mit der wenig schmeichelhaften Bemerkung, dass sie „Papen für einen der dümmsten Männer unter der Sonne hielte.“ Gut ein Jahr später und dank ihres Informanten Erwin Planck vermerkt Hannah von Bredow in ihrem Tagebuch am 31. Mai 1932, noch vor der öffentlichen Bekanntgabe von Papens Ernennung zum Reichskanzler: „Papen (Franz) ist Kanzler. Das klingt wie ein Witz, ist aber Wahrheit.“ Am selben Tag lässt Hannah ihren Briefpartner an der aktuellen Regierungskrise sowie an Hindenburgs Misstrauensvotum gegenüber Kanzler Brüning teilhaben und beendet den Bericht mit: „Und so kam Fränzchen dran.“ Schon einen Tag nach dem Treffen Hindenburgs mit Hitler am 13. August 1932, bei dem dieser in Papens Gegenwart eine Beteiligung und Mitarbeit an der bestehenden Regierung Papen strikt ablehnte, berichtet Hannah ihrem Vertrauten detailliert über das Gespräch. Ihren Brief vom 14. August 1932 beginnt sie mit der Feststellung: „Und nun gab er mir eine absolut unvorsichtige Schilderung der gestrigen Ereignisse.“ Mit „er“ meinte sie Erwin Planck, der 51

am Gespräch teilgenommen hatte und ihr Hitlers Haltung begründete: Dieser beabsichtige, die Auflösung des Reichstags zu erzwingen, um in Neuwahlen die absolute Mehrheit zu erreichen. Wenige Wochen darauf berichtet Hannah von Bredow von einer Abendgesellschaft, bei der auch Franz von Papen zugegen war: „Nach Tisch gab Sulla eine sehr interessante und sprühend lebendige Schilderung des 13.8. die aber so genau der Puck’schen Darlegung entsprach, dass ich sie nicht wiederholen will.“ Nach „Puck“, für Erwin Planck, führt Hannah einen weiteren Decknamen ein: „Sulla“ für Franz von Papen. Sie spielt damit auf den führenden Vertreter der römischen Optimaten an, der konservativen Adelspartei, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert in Rom entgegen bestehender Gesetze die Herrschaft an sich riss. Bei der Namensgebung dachte Hannah zweifellos an Papens Entmachtung der demokratisch legitimierten preußischen Regierung wenige Wochen zuvor, den „Preußenschlag“, der das Schicksal der Weimarer Republik besiegelte. Festzuhalten bleibt Hannah von Bredows ausgeprägtes politisches Interesse und Verständnis sowie ihr Bemühen, sich dank ihrer Bekanntschaft mit hochrangigen Politikern Schilderungen von wichtigen Ereignissen wie dem 13. August 1932 von mehreren Zeugen, möglichst von Augenzeugen, geben zu lassen. Aus einer dritten Quelle erfuhr Hannah von Bredow den Inhalt eines weiteren Gesprächs im Reichspräsidentenpalais an dem historischen 13. August 1932. Konstantin von Neurath, Reichsaußenminister unter Papen und bis Anfang Februar 1938 auch unter Hitler, berichtete ihr am 22. August bei einem Essen über ein Gespräch, „das Sulla am 13. zwischen 6 und 7 p.m. ohne Zeugen mit Father Xmas gehabt hat“. Das Gespräch schildert sie Jessen „mit dem Vorbehalt, dritte Instanz zu sein“, in Dialogform, wobei sie Minister von Neurath in Anlehnung an den Statthalter von Marcus Antonius auf Zypern, „Demetrius“ nennt, während Reichspräsident von Hindenburg für sie respektlos „Father Xmas“ ist. „Demetrius“, so setzt sie ihren Brief fort, habe ihr einen Text „im Wortlaut“ gezeigt und Teile daraus sogar vorgelesen. Hannahs ­Schreiben nach zu urteilen hatte Papen seinen Reichswehrminister 52

Kurt von Schleicher über das Vieraugengespräch mit Hindenburg unterrichtet, dessen Inhalt dieser festhielt und Neurath zugänglich machte. Ihren Bericht an Jessen vom 22. August 1932 beschließt Hannah mit der Mitteilung: „Tragisch sind die Verhältnisse im A.A. [Auswärtigen Amt], wo Demetrius völlig irre läuft, und wo auch Puck, Fouché etc. die größten Dummheiten machen. Demetrius will absolut nach London, alles andere ist ihm einerlei. Dabei soll der Madrider dort hin, der meinem Gefühl nicht entspricht. In Paris wird der Schaden zusehends größer, aber man ruft ihn nicht ab, weil man ‚keinen besseren‘ hat!“ Den Namen des mächtigen und intriganten Joseph Fouché, der Robespierre stürzte und Napoleon zur Macht verhalf, verlieh Hannah von Bredow Kurt von Schleicher; der „Madrider“ war ihr guter Freund Johannes Graf von Welczek. In Paris stand Botschafter Leopold von Hoesch zur Versetzung an. Demnach machte sich von Neurath knapp drei Monate nach seinem Wechsel von der Botschaft in London ins Auswärtige Amt wieder für den alten Posten stark, den dann aber von Hoesch übernahm. Auch wenn Zweifel z. B. an der Authentizität der von Hannah von Bredow in westpreußischem Dialekt wiedergegebenen Aussagen von „Father Xmas“ berechtigt sein mögen, so zeigen die Schilderungen der Interna im Auswärtigen Amt ihr großes Interesse am politischen und diplomatischen Geschehen der Zeit. Sie belegen darüber hinaus, dass sie maßgeblichen Politikern und Diplomaten wahrscheinlich eine ernsthafte Gesprächspartnerin war und diese bewegen konnte, ihr auch diskrete Informationen anzuvertrauen. Der Kontakt zu Konstantin von Neurath, der von ihr auch „der Schwabe“ genannt wurde, blieb bis zum Ende von dessen Ministerzeit im  Februar 1938 bestehen. Bereits im Frühjahr 1935 aber, als Joachim von Ribbentrop, der ehemalige Importeur von Spirituosen, in dem nach ihm benannten Büro unter Umgehung des Auswärtigen Amts Hitler in außenpolitischen Fragen direkt zuarbeitete, schreibt Hannah an Jessen bedauernd: „Der Schwabe hat den besten Moment zum Absprung verpasst, jetzt macht der Sektlieferant alle Geschäfte direkt und behauptet, dass sein ‚cru‘ der einzig Trinkbare sei.“ 53

Später als in den übrigen Ministerien wurde die Leitung des Auswärtigen Amts im Februar 1938 mit Ribbentrop ganz auf nationalsozialistischen Kurs gebracht. Bereits früh lernte Hannah von Bredow dagegen maßgebliche Personen der „Bewegung“ dank ihrer Brüder Otto und Gottfried von Bismarck kennen und einzuschätzen.

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Die Nationalsozialisten früh im Blick „Heute ist Hitler 43 Jahre alt – ob er in einem Jahr schon Reichspräsident oder Kanzler ist? Eins von beiden sicher.“ (Tagebuch Hannah von Bredow, Mittwoch, 20. April 1932)

H

annah von Bredow war die älteste von fünf Geschwistern. Schwester Goedela war drei  Jahre jünger als sie und unpolitisch; die Brüder Otto, Gottfried und Albrecht waren vier, acht und elf  Jahre jünger. Alle Brüder hatten Jura studiert. Während Albrecht ohne Abschluss blieb und sich überwiegend in Italien im Handel von Antiquitäten und als Innenarchitekt betätigte, gingen die Brüder Gottfried und Otto den Weg in die Politik bzw. die Diplomatie. Otto Fürst von Bismarck hatte sein Reichstagsmandat für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) im Jahre 1927 mit dem Eintritt in die Diplomatie und anschließenden Tätigkeiten an den deutschen Botschaften in Stockholm, London und Rom niedergelegt. Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen unternahm nach dem Juraexamen Studienreisen, arbeitete für Wirtschaftsverbände und bewirtschaftete bis zum Machtantritt Hitlers drei Jahre lang das von ihm geerbte Familiengut im pommerschen Reinfeld. Die Brüder Otto und Gottfried von Bismarck hatten ebenso Vorbehalte gegen das parlamentarische System der Weimarer Republik wie die von ihnen favorisierte nationalkonservative DNVP, obwohl diese zeitweilig auch zu Regierungstätigkeit bereit war. Nach seinem Rückzug aus dem Reichstag erlebte Otto im Mai 1928 große Verluste seiner Partei in den Wahlen zum 4. Reichstag. Die NSDAP Hitlers blieb zwar noch Splitterpartei, wurde gut zwei Jahre darauf, nach den  Septemberwahlen 1930 zum 5. Reichstag, aber bereits 55

zweitstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten. Der Stimmenanteil der DNVP halbierte sich in diesen Wahlen, sodass sie ihrerseits Splitterpartei wurde, während die NSDAP zur Massenbewegung aufstieg. In Aufmärschen, Reden und Schriften vermittelte die politisch unverbrauchte NS-Bewegung den Deutschen in der Zeit des Übergangs der Republik vom parlamentarischen zum autoritären Regime Durchsetzungskraft und Dynamik. Sie versprach den Kampf gegen den Bolschewismus sowie die Überwindung der außen- und innenpolitischen Niederlage von 1918. Nachdem der Parteiführer der DNVP, Alfred Hugenberg, im  Oktober 1931 in Bad Harzburg mit Hitler bei einer Veranstaltung der „nationalen Opposition“ zusammengetroffen war, erschien es auch Otto und Gottfried von Bismarck an der Zeit, Hitlers Ansichten genauer kennenzulernen. Am 11.  Januar 1932 luden die Bismarck-Brüder den NS-Führer Adolf Hitler, den SA-Führer und späteren Polizeipräsidenten von Potsdam, Wilhelm von Wedel, sowie den damaligen deutschen Botschafter in London, Konstantin von Neurath, mit Begleitung zum Frühstück in ein Extrazimmer des Berliner Hotels Kaiserhof. Otto von Bismarcks Frau Ann-Mari begleitete ihren Mann und schwärmte nach dem Treffen von Hitler. Gottfried von Bismarck berichtete seiner Schwester Hannah von Bredow, dass Hitler „siegessicherer denn je gewesen sei“. Er habe ihm angekündigt, dass es zwar „nicht angenehm“ sei, „Brüning den Hals umzudrehen, aber das Land geht vor.“ Auch habe Hitler eine Rücknahme seiner Gegenkandidatur zu Hindenburg bei der im März anstehenden Wahl zum Reichspräsidenten strikt abgelehnt. Nach Gottfrieds Aussage schätzte Hitler die Rolle des Militärs gering ein und stellte fest: „Sie haben keine Resonanz beim Volk und niemand will sie haben. Schleicher ist ein geriebener Gauner, weiter nichts.“ Gottfried zeigte sich enttäuscht, dass seine Schwester Hannah nicht an dem Gespräch teilgenommen hatte, „allein schon des Gedächtnisses wegen“. Der ältere Bruder Otto dagegen, der Hannahs offene Sprache fürchtete, hatte sie aus fadenscheinigen Gründen von der Teilnahme abgehalten. 56

In Unkenntnis der Hintergründe war nicht nur Bruder Gottfried, sondern auch Mutter Marguerite enttäuscht darüber, dass Hannah nicht an dem Hitler-Treffen teilgenommen hatte. Sie schrieb Hannah später wenig schmeichelhaft: „Ich kann absolut nicht begreifen, warum Du damals z. B. nicht mit Hitler im Kaiserhof gefrühstückt hast, das wäre doch eine Gelegenheit gewesen. Es macht doch gar nichts, dass Ann Mari z. B. so viel jünger und hübscher ist wie Du – ich habe mir nämlich überlegt, ob das der Grund für Deine Zurückhaltung ist.“ Diese abwegige Annahme ihrer Mutter bewertet Hannah von Bredow am 29.  Januar 1932 gegenüber Jessen: „Der Brief meiner Mutter ist so charakteristisch. Ich hatte ihr geschrieben, dass ich von Göring-Goebbels nichts hielte, Hitler nicht beurteilen könnte. Das verursacht ihr eine schlaflose Nacht.“ Allein aus Neugier hätte ­Hannah ihre Brüder zum Treffen mit Hitler, über den sie sich sehr wohl ein Urteil gebildet hatte, gern begleitet. Bereits am 12. Dezember 1930 stellte sie im Tagebuch ernüchtert, aber auch besorgt fest: „Die Menschen reden immer: Hitler oder Kommunismus. Hitler, dieser miese, aufgeregte, hysterische, weibische Trommler, ist Prolet und Kommunist mit nationalem Einschlag. Wenn er nur nicht Diktator wird. Dann wird Deutschland ein Irrenhaus. O. + G. machen bestimmt mit.“ Otto und Gottfried von Bismarck machten in der Tat mit. Im Brief vom 29. Januar 1932 berichtet Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Jessen von einem bevorstehenden Fest, zu dem die preußische Kronprinzessin Cecilie eingeladen hatte: „Ich werde hingehen und mir die Sache ansehen; mich beunruhigt am meisten die absolute Intimität, die Ihre Kaiserliche Hoheit mit Marius’ Partei hat.“ Marius’ Partei war die NSDAP und deren Führer Adolf Hitler. Hannah hatte Hitler den Namen des römischen Diktators Gaius Marius verliehen, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert mit Gewalt die Macht von Sulla übernommen hatte und dem im anschließenden Terror viele Aristokraten zum Opfer fielen. Im Hause Hohenzollern hatte sich bislang nur Prinz  AugustWilhelm, von Hannah „Auwi“ genannt, als glühender Verehrer der Nationalsozialisten gezeigt. Hannahs Bemerkung spielt zweifellos 57

darauf an, dass Kronprinz Friedrich Wilhelm im Januar 1932 Adolf Hitler in seinem Potsdamer Schloss Cecilienhof empfing. Der Kronprinz schlug Hitler eine Lösung zur Stabilisierung der politischen Lage vor, welche ihn selbst als Reichspräsidenten und Hitler als „seinen“ Kanzler vorsah. Kurz darauf publizierte der Prinz zum zweiten Wahlgang um die Reichspräsidentschaft im April 1932, in dem Hitler gegen Hindenburg antrat, in der Schlesischen Zeitung einen weithin wahrgenommenen Wahlaufruf zugunsten Hitlers: Der Thronfolger stellte sich öffentlichkeitswirksam hinter den NSDAPFührer und gegen den früheren Feldmarschall.1 Die Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“ hätte dem Kronprinzen eigentlich verdeutlichen können, dass das Führerprinzip mit der Institution der Erbmonarchie unvereinbar war.2 Friedrich Wilhelm ließ sich vermutlich von den Avancen, die Hitler den Hohenzollern machte, und dem Kapitel seiner Kampfschrift über „Die monarchistische Idee“ blenden. Darin stellt Hitler fest, dass „der Wert und die Bedeutung der monarchischen Idee nicht in der Person des Monarchen selber liegen, außer der Himmel entschließt sich, die Krone einem genialen Helden wie Friedrich dem Großen oder einem weisen Charakter wie Wilhelm I. auf die Schläfen zu drücken.“3 Dass sich selbst der preußische Hofadel, die Familie Hohenzollern, in Gestalt von „Auwis“ Sohn Prinz Alexander Ferdinand, von Hitler einwickeln ließ, schildert Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Jessen im September 1932. Sie gibt ein Gespräch wieder, in dem der Prinz ihr erklärt hatte: „Das einzig störende Element ist die sogenannte alte wirkliche Aristokratie, nicht der Militär-, nein der Hoch- und der Landadel. Mit dem Volk wird unsereins immer gut fahren, auch mit dem Bürgertum; von mir aus kann Hitler gar nicht scharf genug gegen diesen verfluchten Adel vorgehen, dann haben wir endlich Luft. Es sind ja alles renitente Kerle, diese Adligen, kommen sich vor, als seien sie wunder was!“ Hannahs lakonischer Kommentar: „Sehr ermunternd wirkt das Beispiel ja nicht!“ Nicht zu klären ist, ob die Brüder Otto und Gottfried von Bismarck angesichts ihres ausgeprägten Interesses an Hitler dessen generelle Einstellung zum Adel in „Mein Kampf“ zur Kenntnis nahmen. Im Kapitel über die „Herrschaft des Geldes“ bedauert Hitler, 58

dass der Kaiser und „leider selbst Bismarck“ die drohende Gefahr des Finanzkapitals verkennen würden. Die ideellen Tugenden des Adels sah Hitler hinter den „Wert des Geldes“, den „Schwertadel in kurzer Zeit schon hinter dem Finanzadel zurücktreten“ und den „nächstbesten Bankjuden“ ausgeliefert. Konsequenz dieser Entwicklung war für ihn: „Der Adel verlor immer mehr die rassische Voraussetzung zu seinem Dasein, und zu einem großen Teil wäre viel eher die Bezeichnung ‚Unadel‘ für ihn am Platze gewesen.“4 Aber auch in seinem regenerativen Verhalten schnitt der Adel bei Hitler durch „eine dauernde Missachtung der natürlichen Voraussetzungen für die Ehe“ schlecht ab: „Hier hat man die Ergebnisse einer Fortpflanzung vor sich, die zu einem Teil auf rein gesellschaftlichem Zwang, zum anderen auf finanziellen Gründen beruhte. Das eine führte zur Schwächung überhaupt, das andere zur Blutvergiftung, da jede Warenhausjüdin als geeignet gilt, die Nachkommenschaft Seiner Durchlaucht zu ergänzen. In beiden Fällen ist vollkommene Degeneration die Folge.“5 Den Diplomaten Otto von Bismarck schließlich hätte Hitlers Ansicht beunruhigen können, wonach die Nationalsozialisten kein Verständnis dafür haben dürfen, „dass irgendein altersschwach gewordener Adelsstamm seinem meist schon sehr dürr gewordenen Reis durch Bekleidung des Gesandtenpostens neuen Nährboden gibt. Unsere diplomatischen Vertretungen im Ausland waren schon zur Zeit des alten Reiches so jämmerlich, dass weitere Ergänzungen der damals gemachten Erfahrungen höchst überflüssig sind.“6 Während die Brüder Otto und Gottfried von Bismarck einen Tag nach ihrem Treffen mit Hitler im Kaiserhof am 12.  Januar 1932 bei Hermann Göring frühstückten, verfolgte Hannah von Bredow zu Jahresbeginn 1932 die weiteren Entwicklungen zunächst distanzierter. Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 19. Februar beschäftigten sie indessen, und sie sieht das Ergebnis voraus: „Hitler kandidiert; das Ganze ist so ungeschickt. Ich sagte heute beim Lunch dem Prinzen Philipp von Hessen, dass ich mir maximal für Hitler 12 Millionen, für Hindenburg glatt 16–18 vorstellen könne. Er glaubt umgekehrt. Das ist unmöglich.“ Hannah lag richtig, denn Hindenburg gewann, wenn auch erst im zweiten Wahlgang am 59

10. April. Auf ihn entfielen sogar 19 Millionen, auf Hitler 13 Millionen Stimmen. Besorgt und rigide beurteilt Hannah von Bredow Mitte April 1932 die Folgen der von Reichskanzler Brüning verfügten Auflösung der S.A., der paramilitärischen Kampfgruppe der NSDAP: „Wenn je ein Tag als ‚böses Omen‘ aufgefasst werden könnte, so ist es dieser 13.! Denn nun wird die Situation, die ohnehin verfahren genug ist, ganz und gar auf die Spitze getrieben. Ich gebe diesem miesen Brüning nicht mehr als 4 Wochen. Aber leider wird der Alte sicher noch wursteln anstatt die Nazis hereinzunehmen. Schleicher glaubt natürlich, dass er Kanzler wird. Davor bewahre uns Gott.” Brüning war zwar noch sechs Wochen im Amt und Hannahs Hoffnung zu Schleichers Zukunft bestätigte sich nicht, denn am 3.  Dezember übernahm dieser die Kanzlerschaft, wenn auch nur für knapp zwei Monate. Am 20. April 1932 lag Hannah indessen mit ihrer Prognose richtig: „Heute ist Hitler 43 Jahre alt – ob er in einem Jahr schon Reichspräsident oder Kanzler ist? Eins von beiden sicher.“ Knapp einen Monat zuvor, am 24. März 1932, waren Hannah und Leopold von Bredow sowie ihr Bruder Otto und dessen Frau Ann Mari zu Gast bei Hermann Göring, Hitlers Vertrauter und „politischer Beauftragter in der Reichshauptstadt“. Dessen wesentlicher Auftrag in Berlin bestand darin, die Nationalsozialisten in der besseren Gesellschaft hoffähig zu machen. Den Industriellen Fritz Thyssen hatte Göring bereits ein Jahr zuvor gewonnen, und dieser verhalf ihm in der Folge finanziell zu einem adäquaten ­Lebens- und Wohnstil. Minutiös, mit wörtlichen Dialogen und auf mehr als einem Dutzend Seiten, schildert Hannah ihrem Briefpartner Jessen das Ambiente und die Gespräche im Hause Göring, beim „Witwer nach einer schwedischen Gräfin“, wie sie dessen Status nach dem Tod seiner 1931 verstorbenen schwedischen Frau Carin bezeichnet.7 Schon die Einrichtung des ersten Zimmers ließ sie staunen: „Schwere altvenezianische, rote Samtbehänge an den Wänden, in der Mitte  des Zimmers ein großer Kamin. Über diesem ein Riesenmosaik: auf königsblauem, glasierten Grunde das riesige goldene Hakenkreuz.“ 60

Nach ein paar Minuten des Wartens „kam ein kleiner, fetter Mann herein: Blonde, leicht gewellte Haare, blaue, ausdruckslose, aber ‚herrische‘ Augen, ein enormes Kinn, das die Nase ganz in den Schatten stellte, ein breites, rötliches Gesicht, ein genießerischer ‚loose-lipped‘ Mund, erstaunlich kurze Arme, fette, weiße Hände. Am Ringfinger ein Lapislazuli von so ungewöhnlicher Größe, dass eine Biegung des Gelenkes unmöglich war. Auf dem Stein das Wappen. Im Knopfloch das Hakenkreuz.“ Beim Mittagessen saß Hannah von Bredow rechts vom Hausherrn und eröffnete die Konversation: „Wunderbar sind die Farben Ihrer blauen Teppiche und Ihrer blauen Samte.“ Er: „Ja, blau ist die Farbe der göttlichen Runen, Blau und Gold die Sonnenrunen, und darum beherrscht Blau mein Leben. Blau ist arisch, kein Jude kann Blau sehen, daher auch mein Ring!“ Ich: „Sehr interessant, ich habe auch eine große Vorliebe für blau, die aber angeboren ist.“ Nach weiteren Dialogen zur Farbenlehre und Berichten Görings über seine Herkunft gab es „Erbsensuppe mit kleinen Stücken Schweinefleisch“, die Göring schmunzelnd mit: „Schwedisches Donnerstagsessen, wir leben einfach“ kommentierte. Nach dem Essen führte Göring seine Gäste in den „Braunen Salon“, an dessen einer Wand „auf Gobelinstoff gemalt eine enorme Landkarte“ hing, „den Wunschtraum Deutschland (ein bisschen kleiner nur als das Hl. Röm. Reich deutscher Nation) darstellend.“ Eine Goldbronzebüste von Mussolini stand in einer Ecke. Vor dem Weggehen drängte Göring seine Tischdame etwas von den anderen ab, und Hannah von Bredow schreibt in wörtlicher Wiedergabe: „G.: ‚Also, ich komme bald nach Potsdam, Sie müssen zu uns.‘ Ich: ‚Ich glaube nicht, dass eine vielbeschäftigte Hausfrau für Ihre Partei Zeit hat. 7 Kinder füllen den Tag aus.‘ G.: ‚Sieben Kinder! Das ist ja fast wie ein Märchen! Ich kann das nicht verstehen!‘ Er wandte sich hilfesuchend an meinen Mann, der ihn nicht trösten konnte. G.: ‚Nur eins! Bei uns gibt es keine Rangunterschiede, bei uns gibt es keine Snobs.‘ ‚Was Sie nicht sagen!‘ erwiderte ich.“ Es war nicht die knappe Zeit, die Hannah von Bredow an einer Mitgliedschaft in der NSDAP hinderte; sie hatte eine grundsätzliche Abneigung gegen deren Personal, Methoden und Ziele. Die Haltung 61

ihrer beiden Brüder Otto und Gottfried von Bismarck zur Partei war dagegen früh und bis ins Jahr 1943 hinein positiv. Der jüngere Gottfried nahm bereits am 1.  September 1932 das Parteibuch entgegen. Bruder Otto ließ sich mit der Mitgliedschaft in der NSDAP etwas mehr Zeit als der Bruder. Am 1. Mai 1933, dem ersten mit großem Aufwand gefeierten „Tag der nationalen Arbeit“ trat er in die Partei ein. Es war in der letzten Minute, bevor die Parteileitung noch am selben Tag bis Mitte 1937 einen Aufnahmestopp verhängte, um „Konjunkturritter“ abzuhalten. Die Mitgliederzahl war nämlich von rund  860.000 im  Januar auf über 2 Millionen im April 1933 angewachsen.8 Drei Tage vor der Machtübergabe hatte Otto von Bismarck seiner Mutter am 27.  Januar 1933 geschrieben, dass das NS-Regime durchaus auch Karrierechancen für ihn und Bruder Gottfried bieten könne.9 Für seinen Bruder traf dies zweifellos zu: Gottfried von Bismarck vertrat die NSDAP von 1933 bis 1945 im Reichstag, gehörte dem Freundeskreis Reichsführer SS an und wurde später SS- Oberführer und SS-Brigadeführer. Auf Rügen übernahm er 1933 das Amt des Landrats und NSDAP-Kreisleiters, im Jahre 1935 wechselte er als Regierungspräsident nach Stettin und 1938 in gleicher Funktion nach Potsdam. Dagegen sprechen Otto von Bismarcks langjährige Zeit als Botschaftsrat in London und seine spätere Gesandtentätigkeit in Rom nicht für eine steile Karriere im NS-Staat. Wohl zeigte er aber früh Sympathie für die Nationalsozialisten. So notierte Joseph Goebbels am 1. Februar 1933, einen Tag nach der Machtübernahme Hitlers und eineinhalb Monate vor seiner eigenen Ernennung zum Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, in seinem Tagebuch:10 „Nachher noch Fürst und Fürstin Bismarck. Sie sind begeistert.“ Wichtiger als eine Karriere war für Otto Fürst von Bismarck zweifellos, dass die Nationalsozialisten die Landwirtschaft und den Grundbesitz mit ihrer ideologischen Überhöhung von Blut und Boden erheblich aufwerteten. Dementsprechend konnte der Eigentümer der Familiengüter in Schönhausen und Friedrichsruh schon Ende  1933 erleben, dass diese als Erbhöfe anerkannt wurden. 62

Den Weg in die Diktatur verfolgte Hannah von Bredow ihrerseits weiterhin genau und fragte sich am 1. Mai 1932, dem fünften Sonntag nach Ostern: „Rogate. Ob die Nazis nächstes Jahr ‚Jubilate‘ schreien? Ich bin davon überzeugt.“ Für die nächsten Maitage gibt ihr Tagebuch Auskunft über eine „große Schlägerei im Reichstag“, ebenso wie über die Eröffnung des Preußischen Landtags „mit einer Riesenprügelei“. Als Drahtzieher erkannte sie jeweils NSDAP-Abgeordnete. Am Montag, dem 30.  Mai 1932, schreibt sie schließlich: „Brüning ist entlassen, auf die abrupteste Weise. Gott Lob. Hoffentlich nehmen sie jetzt die Nazis ins Kabinett. Noch sind sie billig zu haben!“ Franz von Papen, Heinrich Brünings Nachfolger im Kanzleramt, bemühte sich ab dem 1. Juni 1932 vergeblich, die Nationalsozialisten in seine Regierung zu bringen. Hitler wollte die ganze Macht. Den Kanzler von Papen erlebte Hannah dann rund drei Monate nach seinem Amtsantritt als Essensgast in ihrem Hause. Sie hatte auch ihre Brüder Otto und Gottfried sowie die Familie Planck geladen. Freimütig berichtete Papen der Gastgeberin über ein Frühstück mit dem preußischen Kronprinzen einen Tag zuvor, am 2.  September 1932. Friedrich Wilhelm habe Papen Lob für seine Arbeit bekundet und dass er „spätestens mit dem Frühling“ rechne. Auf Hannahs Nachfrage zu diesem Halbsatz zitierte Papen den Kronprinzen: „Nun, Deutschland muss demnächst einen Kaiser haben, denn sonst kommt unweigerlich der Bolschewismus“, habe dieser erklärt, „und Sie denken doch bestimmt an die Legalität, denn, was könnte legaler sein als die Wiedereinsetzung einer Dynastie wie der Unsrigen?“ Papen schloss sich dieser Meinung vollkommen an, worauf Hannah ihm, „sehr amüsiert über diese typische Verkennung der Lage“, erwiderte: „Sie hätten ihm klipp und klar sagen müssen: niemals, denn man kann in Deutschland erst Ordnung schaffen, wenn man diese Familie völlig ausgeschaltet hat.“ Hannah von Bredows Misstrauen und sogar ihre Verachtung dem Hause Hohenzollern gegenüber ist verschiedenen Tagebucheintragungen und Briefen zu entnehmen. Die seinerzeit weltweit mit Erstaunen aufgenommene Entlassung ihres Großvaters im März 1890 63

durch Wilhelm II. verurteilte sie verständlicherweise. Mehr aber bestimmte ihre Einstellung zu den Hohenzollern die von ihr als unwürdig empfundene Abdankung des Kaisers Anfang November 1918. Seitdem hatte die Familie Hohenzollern „aufgehört, irgendeine Bedeutung zu haben.“ Schon gar nicht wollte Hannah von Bredow die Hohenzollern in der Nachfolge des Reichspräsidenten von Hindenburg sehen. Hierum kreisten die politischen Gespräche im Herbst  1932 zunehmend, zumal Hindenburg bei seiner Wiederwahl im April im 85. Lebensjahr stand und in absehbarer Zeit mit seinem Ableben zu rechnen war. Ihrem Gesprächspartner von Papen hielt Hannah vor: „Wenn Sie die Restauration anstreben, und Sie damit als Verlegenheitslösung Erfolg haben, wird der Abgrund in rasender Fahrt erreicht werden.“ Papen war anderer Meinung und fragte sie: „Wer soll denn Hindenburgs Nachfolger werden? Etwa Hitler? Nein, der Tod des Alten ist der ‚moment psychologique‘ zur Wiedereinsetzung der Hohenzollern.“ Hindenburg zeigte noch über mehr als ein Jahr eine weitgehend robuste Gesundheit und verstarb am 2. August 1934. Franz von Papen konnte seinen Plan nicht verwirklichen. Dazu war sein Vorgehen als Reichskanzler, danach als Hitlers Vizekanzler und ab März 1934 als Beauftragter Hindenburgs für den Entwurf seines politischen Testaments zu arglos und durchsichtig. Unvorsichtigerweise vertraute der Beauftragte seinen testamentarischen Nachfolgeplan Adolf Hitler so frühzeitig an, dass dieser sich bereits einen Tag vor Hindenburgs Tod mit dem „Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches“ die Machtvollkommenheit im „Dritten Reich“ sichern konnte.11 Für den 1. August 1934 hält Hannah von Bredow im Tagebuch fest: „Hitler in Neudeck. Hindenburg trat um 6.30 p.m. ins Koma ein“; und am nächsten Tag: „Hindenburg gestorben um 9. a.m.“ Nur einen Tag darauf, am 3. August, erkennt Hannah die Tragweite der Vereidigung der Soldaten durch Reichswehrminister Werner von Blomberg nicht mit dem Schwur auf die Verfassung, sondern auf Hitler: „The army has been sworn and so we have an absolute dictatorship.“ 64

Die Agonie der Weimarer Republik bis zu Hitlers Machtantritt am 30.  Januar 1933 zeichnet Hannah von Bredow in Tagebuch und Briefen im Detail auf. Das Ergebnis der letzten Reichstagswahlen der Weimarer Republik am 6.  November 1932 wertet sie am selben Tag in ihrem Tagebuch: „Nun fällt Papen bestimmt und ich wette 10:1, dass man erst Schleicher dranlässt statt Hitler.“ Hannahs Vorhersage traf knapp einen Monat später ein, als Hindenburg nach Papens Rücktritt am 17. November und vergeblichen Verhandlungen über Hitlers Regierungsbeteiligung Schleicher am 2. Dezember 1932, einem Freitag, mit der Bildung eines neuen Präsidialkabinetts beauftragte. Nach einem Gespräch mit Erwin Planck befindet Hannah von Bredow: „An einem Freitag soll man nichts beginnen! Aber heute ist Schleichers Traum zur Hälfte erfüllt. Er ist Kanzler!! Nun hofft er natürlich auch noch auf den Reichspräsidenten.“ Auch dank der Hintergrundarbeit seines direkten Amtsvorgängers währte Schleichers Kanzlertraum nur kurz, bis zum 28.  Januar 1933. Sein Versuch, den Hitlerrivalen und studierten Apotheker Gregor Strasser für sein Kabinett zu gewinnen und die NSDAP zu spalten, scheiterte kläglich. Der unerwartete NSDAP-Wahlsieg in Lippe am 15. Januar 1933 hatte Hitlers Position gestärkt, wie Hannah von Bredow ihrem Briefpartner am 19. Januar bestätigt: „Nach den lippeschen Wahlen wurde der Apotheker weniger laut, und jetzt hat er erklärt, ohne das Einverständnis Marii [Hitlers] fühle er sich nicht im Stande, die Verantwortung zu ertragen. Er müsse leider, leider darauf verzichten, in Fouchés [Schleichers] Kabinett einzutreten.“ Im Hause Bismarck setzte Gottfried Anfang Januar 1933 noch Hoffnung in Gregor Strasser, den machtbewussten Reichsorganisationsleiter der NSDAP. Hannah warnte ihn, da sie Hitlers Chancen im Machtkampf weit höher einschätzte. Falls Gottfried seine Zukunft weiter in der NSDAP sehe, müsse er sich auf Hitler stützen, riet sie ihm. Gregor Strasser und dessen Bruder Otto stünden schon auf Hitlers schwarzer Liste. Sydney Jessen berichtet Hannah am 8. Januar 1933 in Englisch: „I told Gottfried, that this was the most crucial and decisive moment in his life, and that I could 65

only repeat again and again: hands off both Hitler and Gregor, but if he absolutely insists, he must stick to Hitler to save his skin. Hitler means murder, and why should Gottfried be murdererd by that scoundrel.“ Zwei Tage darauf, am 10. Januar 1933, erklärt Hannah von Bredow ihrem Bruder Gottfried in Friedrichsruh: „I am certain that Hitler will win, alas, alas for Germany and for the world. ‚Goebbels ist klug‘, said Gottfried. Good Lord! As if that mattered.“ Resignierend zitiert Hannah dann am 28.  Januar die Haltung vieler ihrer Gesprächspartner zu Hitler: „Den machen wir in 6 Wochen fertig.“ Und sie kommentiert: „Der macht uns alle so fertig, dass wir nie mehr zur Erholung kommen. Aber was hilft’s. Quem deus vult perdere!“12 Einen Tag nach diesen Gesprächen vertraut Hannah am 29. Januar schließlich ihrem Tagebuch an: „They say Hitler is not coming in! I offered bets 1:1000 he would be in by tomorrow. If only Gottfried were not in it.“ Die Ereignisse vor und nach dem historischen 30.  Januar 1933 beobachtet Hannah von Bredow sehr genau.13 Die Sachverhalte, die zur sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten führten, konnte sie detailliert beschreiben, einordnen und bewerten, weil sie durch ihre Bekannten, insbesondere Erwin Planck und Rudolf von Schmidtseck, Geschäftsführer der Berliner Philharmoniker und NS-Mitglied, sowie ihre Brüder Otto und Gottfried von Bismarck unmittelbar Einblick in die damaligen Ereignisse hatte. Zur Machtübernahme Hitlers bemerkt sie am 30. im Tagebuch: „So, jetzt haben wir die Nazis. Hitler ist Kanzler. Die Begeisterung grenzenlos. Riesiger Fackelzug. Der alte Mann stand von 8–11.30 und ließ sich auch huldigen.“ Am folgenden Tag, dem 31.1., erkennt Hannah: „Die Welt ist aus den Fugen, und wir können nur abwarten, bis uns das Genick umgedreht wird. Schauerlich. Die Menschen sind alle toll. Ich habe so etwas doch nicht für möglich gehalten. Ach, Gottfried! Er wird furchtbare Dinge erleben.“ Entsetzen, Wut, aber auch Mitleid bestimmen den Eintrag am 1. Februar: „Es wird ja immer schöner. Die Tobsucht, die Hysterie und dazu der Greis Hindenburg. Papen verdient, gehängt zu werden. Der arme Planck!“ 66

Wenig später, am 7.  Februar 1933, hatte Hannah von Bredow ihre Schwägerin Ann Mari zu Gast und fand sie „in seliger Nazibegeisterung“. Hannah dagegen war vorausschauender und riet schon Mitte Februar 1933 ihrer Freundin Leonie, der Frau des jüdischen Bankiers Paul von Schwabach, an Auswanderung zu denken. Mit der Begründung, „dass Hitler sich bald totläuft“, antwortete Leonie ihr: „Das tut mein Mann nie, er ist ein deutscher Patriot.“ Schwabach musste die schlimmsten Auswüchse des nationalsozialistischen Rassenwahns, den Holocaust, nicht mehr erleben. Nachdem er sich im Jahre 1937 aufs Land zurückgezogen hatte, starb er Ende des Jahres 1938 im Alter von 71 Jahren eines natürlichen Todes. Vier Jahre später verstarb seine Frau Leonie mit 73 Jahren in Berlin. Am 27. Februar 1933, dem Tag des Reichstagsbrands, hörte Hannah von Bredow in der Berliner Philharmonie ein Furtwänglerkonzert. Gleichzeitig mit der Nachricht vom Brand erfuhr sie am selben Tage, dass Kommunisten ihn vorgenommen haben sollten. Mit Blick auf den einsetzenden Terror stellt sie im Tagebuch drastisch fest: „Es soll um den Kopf gehen, wenn man behauptet, das Schwein Göring hätte die Fackel geschwungen. Sei’s drum. Wer mag so leben?“ Nur einen Tag später vermerkt Hannah von Bredow: „Nun haben die Nazis die Handhabe gegen den Kommunismus; dieser Brand war wirklich ein unerhörter Glücksfall. Göring ganz in seinem Element.“ An diesem Tag waren Georg und Lily von Schnitzler bei ihr zu Gast. Als sie den beiden NS-Sympathisanten mitteilte, „Göring hätte gekokelt, wurden sie scharf.“ Kurz darauf wurde Hannah dann von einem Freund gewarnt, dass ihre Äußerungen kolportiert würden. Sie zeigt sich aber unbeeindruckt: „Wenn schon. Mir ist es ja so einerlei, denn das Leben ist ohne Bedeutung, wenn man nicht kämpfen kann gegen das Böse, das Verruchte.“ Schmerzvoll war für die begeisterte Musikliebhaberin Hannah von Bredow, wie brutal und schnell sich „das Böse, das Verruchte“ bei den Berliner Philharmonikern zeigte. Am 4. März 1933 erlebt Hannah ein Konzert des deutsch-jüdischen Dirigenten Otto Klemperer und fürchtet: „Klemperer dirigierte wunderbar die ‚Missa Solemnis‘. Von morgen ab wird eine wildere Luft wehen, und Klem67

perer wird hoffentlich nicht ihr Opfer sein. Aber da sie seit Jahren Pogrom predigen, werden sie sich wohl irgendwie Luft machen.“ Am Folgetag erbrachten die letzten noch mit mehreren Parteien durchgeführten Reichstagswahlen einen überwältigenden Erfolg der NSDAP: „340 Mandate für rechts, davon 288 Nazis“ stellt Hannah von Bredow fest. SA-Schlägertrupps hatten den Wahlkampf geprägt und Hannah erklärt zum 5.  März 1933: „This is the last day – from now on hell, hell, and I have seen so many March hares that I am sick.“ Die paranoiden Märzhasen, auf die Hannah anspielt, veranlassten Otto Klemperer wenig später, in die USA zu emigrieren. Seinem Kollegen und Freund Bruno Walter untersagten die Nazis am 20. März, die Berliner Philharmoniker zu dirigieren, und erzwangen seine Emigration nach Wien. Dort setzte die Judenverfolgung dann fünf Jahre später ein, und er musste über die Schweiz in die USA emigrieren. Die sich überstürzenden Ereignisse nach den Märzwahlen beunruhigten Hannah von Bredow in mehrfacher Hinsicht. Am 10. März vermerkt sie im Tagebuch, dass die „Judenhetze und die Verhaftungen begonnen“ haben. Besorgt ist sie aber auch über die Einstellung ihres Bruders Gottfried von Bismarck: Er „strahlt vor Nazibegeisterung und er tut mir so leid, denn er wird viel mehr zahlen als z. B. Otto, der seinen Kopf nie verlieren wird. Ich habe Gottfried angefleht, auf mich zu hören, aber es hat keinen Sinn. Blind. Blind.“ Am folgenden Tag erklärt Hannah von Bredow ihrem Bruder Gottfried, „dass in 10 Jahren alles vorbeisein und es kein Deutschland mehr geben wird, es sei denn, Hitler wurde vorher umgebracht. Ich habe ihm vorgehalten, dass es nur eines gibt, um das arme Land zu retten: Kampf mit allen Mitteln des Verstandes und mit eiskalter Berechnung, denn die Irren kann man nie überzeugen.“ Ihre Prognose verfehlte Hannah zeitlich um zwei Jahre, lag mit dem Ergebnis der Hitlerherrschaft dagegen richtig. Gottfried von Bismarck benötigte aber zehn  Jahre, um seine Blindheit abzulegen und der Aufforderung seiner Schwester zu folgen, zumindest ansatzweise kämpferisch gegen das Regime vorzugehen. Den „Tag von Potsdam“ am 23. März 1933, die feierliche Konstituierung des Reichstags am Traditionsort preußischer Geschichte, 68

erlebt Hannah in der Garnisonskirche: „Unter den hereinmarschierenden Abgeordneten war Gottfried im braunen Hemde leicht zu erkennen, weil er als einziger keine Mütze in der Hand trug. Hindenburg sah im großen Band des Schwarzen Adlers mit dem Feldmarschallstab monumental aus, und es war ein ergreifender Anblick als er, bevor er sich auf seinen Stuhl setzte, langsam und feierlich mit dem Feldmarschallstabe die vollbesetzte Kaiserloge grüßte und einen Augenblick nach dem Gruß reglos verharrte, um dann mit erstaunlicher Leichtigkeit zwischen Göring und Hitler Platz zu nehmen. Mir kam es wie ein letzter Abschied vor, man sieht die Dinge in solchen Momenten symbolisch, man denkt nicht an das, was die Loge im Augenblick fühlt, man denkt an das, was sie einst verkörperte.“ Bevor sich Hannah von Bredow während der anschließenden Parade ganz der Erinnerung an die besseren Tage in der Monarchie hingeben konnte, ernüchterte sie ein neben ihr stehender „baumlanger S.A. Mann“, der bemerkte: „Da steht nun der olle Greis mit dem janzen Klempnerladen auf der Brust und mit dem janzen Firlefanz von früher. Wie det alles in der Sonne blitzt!“ Mit ihrer propagandistischen Inszenierung vermittelte die NS-Führung dem In- und Ausland durchaus erfolgreich die symbolische Verbindung vom alten und neuen Deutschland. Die Illusion einer harmonischen Koexistenz des alten mit dem neuen Reich verflog auch zwei Tage später, am 23. März, kaum, als die NSDAP mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes durch den Reichstag sich auch ihrer rechtlichen Bindungen an die Konservativen für die Verabschiedung von Gesetzen entledigte und den Parlamentarismus im Reich beendete. Knapp eine Woche später, am 30. März, war Hannah von Bredow dann „mit all den neuen Männern“ zu einem Empfang im Hause von Papen geladen: „Der Hausherr charmant, aber nervös und elend und völlig hinter seinem Chef verschwindend“, bemerkt Hannah, und weiter: „Es war ein unheimliches Fest, jeder betrachtete misstrauisch den Nächsten, und die Anhänger Marii [Hitlers] musterten einen, als gehöre ihnen die Welt.“ Auch erlebte Hannah einen Wutanfall Hitlers, als der Markgraf von Baden ihn bat, den Leiter des In69

ternats Salem, Kurt Hahn, aus der „Schutzhaft“ zu entlassen: „Nein, auf keinen Fall, Ausnahmen mache ich nicht“, schrie er. Hahn hatte zuvor schriftlich gegen die Ermordung eines jungen Kommunisten durch fünf SA-Männer protestiert. Unmittelbar nach seiner späteren Freilassung emigrierte Hahn in die Schweiz. Hannah von Bredow ihrerseits spürte den wachsenden Druck auf Andersdenkende, als Hitler sie im Hause Papen mit einer Frage konfrontierte, welche sie mit kurzer Einleitung kommentarlos im Tagebuch wiedergibt: „Gestern sagte mir das Ekel Hitler: ‚Wollen Sie, dass Ihre Kinder in der Gosse aufwachsen?‘“ Bruder Otto von Bismarck hatte Hannah mit Hitler bekannt gemacht, und sie bemerkt gegenüber ihrem Briefpartner Jessen: „Er verneigte sich tief und küsste mir die Hand. Er ist sehr viel kleiner als ich, ich musste an die Hofbälle denken, wenn ich zum ‚Allerhöchsten‘ befohlen war.“ Mit seiner Frage an Hannah von Bredow deutete Hitler an, welche Folgen es für sie haben könnte, wenn sie sich Aktivitäten in der NSDAP verweigern würde. Späteren Hinweisen von NS-Chargen, dass sie mit ihrer großen Kinderzahl ganz der Rolle der „arischen“ Mutter entspreche und ihre positive Gesinnung in einer NS-Mitgliedschaft zum Ausdruck bringen solle, begegnete Hannah regelmäßig mit der Antwort, sie habe das Ihrige fürs Vaterland bereits vor Antritt der Nazis geleistet und benötige jetzt ihre Zeit, um sich ganz im Interesse des Volkes der Kindererziehung widmen zu können. Für alle Deutschen sichtbar zeigte sich Hitlers Rassenwahn erstmals am 1.  April 1933, als im ganzen Reich jüdische Geschäfte, Kanzleien und Ärztepraxen boykottiert wurden. Das bevorstehende Ereignis beschäftigte am 30. März Hannah und ihre Brüder, als sie zusammen mit Freunden vor dem Empfang bei Papen im Hotel Adlon Gottfrieds 32. Geburtstag feierten: „Alle sprachen ausschließlich über das am Sonnabend beginnende Judenpogrom“, berichtet Hannah und fährt fort, dass Gottfried es „als eine primitive, aber gesunde Reaktion“ bezeichnete, „die man den Leuten nur gönnen kann“. Wahrscheinlich teilte Otto von Bismarck nicht die Ansicht seines Bruders, als er mit Hitler beim anschließenden Empfang über das 70

bevorstehende Pogrom sprach und von diesem „mit wild fuchtelnden Armen“ unterbrochen wurde: „Da lass’ ich mir nichts dreinreden! Es wird mit äußerster Schärfe vorgegangen, und der Einwand, dass es uns Geld kosten könne, zählt bei mir nicht. Ich denke nicht daran, diesem Geschmeiß entgegenzukommen.“ In ihrem Tagebucheintrag vom 1. April 1933 kommentiert Hannah von Bredow, vermutlich nach Gesprächen mit Bruder Otto, deutlich die zu erwartenden ausländischen Reaktionen auf den Boykott: „Das gibt eine Riesenwut im Ausland. Wenn die Nazis stark genug sind, eine völlige Isolierung zu vertragen, soll es mich wundern. Denn dass es genau wird wie im Krieg, ist klar.“ Indessen trat die Isolierung nicht so bald ein, da sich in den USA Überlegungen zu einem Handelsboykott auf Drohungen beschränkten. Der Boykott vom 1.  April war ein erstes Zeichen, dass die Nationalsozialisten es mit der Verfolgung von Juden ernst meinten. Die systematische Entrechtung begann noch im selben Monat. Von heute auf morgen brachte das NS-Regime mit mehreren Gesetzen „Nichtarier“ um Amt und Brot. Sehr bald erstreckte sich die NSWillkür darüber hinaus auf „nichtkonforme Arier“ und wenig später zudem auf Personen, die es wagten, Umgang mit „Nichtariern“ oder „Nichtkonformen“ zu haben und hierauf trotz Drohungen, Schikanen und Verhören weiterhin bestanden. Zu diesen zählte Hannah von Bredow.

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Briefpartner Dr. rer. pol. Sydney Jessen im Jahre 1926

Brief Hannah von Bredows an Dr. Sydney Jessen Nr. 187 aus Potsdam vom 2. Dezember 1932 72

Familie Hannah und Leopold von Bredow mit 7 Kindern im Jahre 1931

Hannah von Bredow mit dem schwedischen Gesandten Arvid Gustaf Richert im Jahre 1938

Staatssekretär Dr. Erwin Planck und Reichstagspräsident Hermann Göring in Berlin 1932 73

Im Visier der braunen Machthaber „Das Leben ist ohne Bedeutung, wenn man nicht kämpfen kann gegen das Böse, das Verruchte.“ (Tagebuch Hannah von Bredow, Donnerstag, 9. März 1933)

Der Terrorstaat im Werden Hatte der Monat  April 1933 mit dem weltweit verurteilten Boykott der Geschäfte, Kanzleien und Praxen von Juden im NS-Staat begonnen, so folgte bereits am 7. April mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ das erste rassistische Gesetz. Erstmals kam der „Arierparagraph“ zum Einsatz: „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.“ Mit diesem Schritt beseitigten die Nationalsozialisten die seit 1871 im Deutschen Reich geltende Gleichberechtigung jüdischer Deutscher und zerstörten die berufliche Existenz von über 2.000 deutschen Juden. Als „nichtarisch“ galt, wer von einem Eltern- oder Großelternteil jüdischen Glaubens abstammte. Dies war der Beginn der „völkischen Gesetzgebung“ der Nationalsozialisten. Am selben Tag, dem 7. April 1933, erließen die Nationalsozialisten mit dem „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ eine weitere antijüdische Maßnahme. Dieser folgte am 22. April die „Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen“ und am 25. April das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“. Ab 6.  Mai wurde „nichtarischen“ Steuerberatern die Zulassung verweigert, bestehende Konzessionen wurden zurückgenommen. Im Juli verloren nach 1918 eingewanderte Juden die deutsche Staatsangehörigkeit, und nur Zahnärzte mit „Ariernachweis“ konnten bei Krankenkassen zugelassen werden. 74

Mit Gründung der Reichskulturkammer am 22. September 1933 wurden Juden aus der Presse sowie aus künstlerischen und freien Berufen ausgeschlossen. Schließlich wurde mit der Verabschiedung des Erbhofgesetzes vom 29. September 1933 auch der Besitz eines vererbbaren Bauernhofs an die „arische“ Abstammung gebunden. Recht bald wurde den „arischen“, am Kulturleben interessierten Deutschen bewusst, was die diskriminierende Behandlung und brutale Entrechtung der „Nichtarier“ auch für ihr Leben bedeutete. Als Bruno Walter und Otto Klemperer verwehrt wurde, weiter die Berliner Philharmoniker zu dirigieren, gab es bei den Abonnenten großes Bedauern, aber nur vereinzelt Proteste. Diese waren offenbar im Fall des österreichisch-jüdischen Intendanten des Deutschen Theaters, Max Reinhardt, so ausgeprägt, dass die Nazis sich um eine Lösung für dessen Bleiben bemühten. Als Hannah von Bredow Max Reinhardts Inszenierung von Hofmannsthals „Das große Welttheater“ am 23. April 1933 sah, stellte sie anschließend so bedauernd wie anerkennend fest: „Das letzte Reinhardt-Stück, was wir jemals sehen werden. Die Nationalsozialisten bieten Reinhardt eine ‚Ehren-Arierschaft‘ an, die er empört ablehnt. Er verlässt Berlin und geht nach Österreich.“ Max Reinhardt war in Berlin eine Institution. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert war er Intendant des Deutschen Theaters und hatte es zum Zentrum deutscher Theaterkunst gemacht. Nach NS-Auffassung waren aber rassisch artfremde Menschen nicht in der Lage, deutsche Kulturgüter zu pflegen, zu verwalten oder gar zu gestalten. Wahnwitz und Willkür der Rassenpolitik gipfelte darin, dass allein Hitler dank seiner uneingeschränkten Macht die rassische Einordnung von Menschen ändern, also Max Reinhardt zum „Deutschblütigen ehrenhalber“ machen konnte. Der Rassenwahn machte auch nicht vor Familien mit  jahrhundertelanger Tradition halt. Hannah von Bredows Bruder Otto bekam dies zu spüren, als er im  März 1933 in den diplomatischen Dienst zurückkehren wollte. Nach Stationen in Stockholm 1927 und ab 1928 in London hatte er sich im Jahre 1931 vom Auswärtigen Dienst beurlauben lassen, um seine Güter zu bewirtschaften. Zum Wiedereintritt musste Otto dem Auswärtigen Amt seine Ahnen75

reihe vorlegen, welche dem Reichssippenamt allerdings nicht für ein positives erbbiologisches Gutachten ausreichte. Probleme gab es anscheinend mit der Familie mütterlicherseits. Mitte August 1933 kann Hannah von Bredow schließlich den Erfolg der gemeinsamen Ahnenforschung vermelden: „Nun ist die Situation endlich bereinigt, und unsere 64 Ahnen liegen fein säuberlich im A.A. Nicht 64 Adelige, aber immerhin rein europäische Ahnen, und aus Bosheit ist Mama mit den Hoyos bis zu König Gundewind der Westgoten, genannt Gundus Vindus in der Urkunde, zurückgegangen. Wie wohl fühl’ ich mich, als Abkömmling so vieler Arier. Nun regnet es Entschuldigungen und Otto lächelt ironisch. Man lernt die Welt kennen – das ist auch gut.“ Als beamteter Staatsdiener hatte Otto von Bismarck seit Erlass des Berufsbeamtengesetzes vom 7. April 1933 nicht nur sein „Ariertum“ nach Paragraph  3 des Gesetzes nachzuweisen.1 Nach Paragraph  4 konnten auch „Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“, aus dem Dienst entlassen werden. Diesen Paragraphen nutzten die Nazis sofort, um nicht nur Kommunisten und Sozialdemokraten „ohne Anspruch auf Wartegeld, Ruhegeld oder Hinterbliebenenversorgung und auf Weiterführung der Amtsbezeichnung, des Titels, der Dienstkleidung und der Dienstabzeichen“ aus dem Amt zu treiben, sondern auch Mitglieder der katholischen Zentrumspartei, wenn sie nach 1918 eingestellt worden waren und nicht die erforderliche „Eignung“ besaßen. Mitglieder der DNVP, Ottos politischer Heimat, waren nicht gefährdet. Ihr Vorsitzender, Alfred Hugenberg, hatte Hitler nicht nur als „Steigbügelhalter“ gedient, sondern saß ab dem 30. Januar 1933 auch als Wirtschaftsminister in dessen erstem Kabinett. Mit seinem Eintritt in die NSDAP am 1. Mai hatte Otto von Bismarck ohnehin zu erkennen gegeben, dass er „rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“ werde. Hermann Graf von Keyserling, der Ehemann von Hannah von Bredows zwei Jahre jüngerer Schwester Goedela, war dagegen nicht bereit, dem NS-Regime Rückhalt zu verschaffen. Ab dem Jahre 1931 hatte sich der deutsch-baltische Philosoph öffentlich mit dem erstar76

kenden Nationalsozialismus auseinandergesetzt und bezeichnete ihn als Irrationalismus, der zur Katastrophe führen müsse. Schon bald zeigten sich die Folgen: Gegen ihn, den Gründer der Darmstädter „Schule der Weisheit“, wurde im  März 1933 eine Pressekampagne eingeleitet. Täglich erhielt er daraufhin bis zu 15 anonyme Drohbriefe. Als schließlich Hermann von Keyserlings Söhne in der Schule verprügelt wurden, bat er seinen Schwager Gottfried von Bismarck um Unterstützung und kündigte ihm an, „widrigenfalls aktiv in die Opposition“ zu gehen. Gottfried bot der Familie Keyserling sein Landgut Reinfeld für ein Jahr als Rückzugsort an. Keyserling, dem die Nationalsozialisten bereits Reden, Veröffentlichungen und Reisen ins Ausland verboten hatten, wollte aber in Darmstadt weiter „eine Rolle spielen“, wie Hannah von Bredow es ausdrückte. Mit seiner im Jahre 1920 gegründeten „Schule der Weisheit“ war Hermann von Keyserling einer der namhaftesten Köpfe des geistigen Lebens in der Weimarer Republik, geschätzt allerdings mehr im Ausland als in Deutschland. Zu den Förderern seiner Darmstädter Schule zählte auch Thomas Mann. An den Jahrestagungen beteiligten sich u. a. der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung, der Soziologe Max Scheler und der Ethnologe Leo Frobenius. Hannah hörte wiederholt Vorträge in Darmstadt und trat in engeren Kontakt zu C.G. Jung, der sie sehr verehrte. Ihr Verhältnis zum Schwager Hermann war dagegen nicht unproblematisch. In mehreren Schreiben charakterisiert Hannah ihn wenig schmeichelhaft als Mann mit einem „Glauben, der Berge versetzen könnte, nämlich an sich.“ Und weiter stellt sie fest: „Er bläht sich, er suchet das Seine, er ist nicht langmütig, er duldet nichts, er liebt nicht die Wahrheit und er hält sein Wissen nicht für Stückwerk, sondern für das Vollkommene.“ Schließlich meint sie zu seinen Schöpfungen: „Gierig grast er alle Weiden ab und betreibt dann mit mehr oder weniger Geschick das Geschäft des Wiederkäuens.“ Peter Panter alias Kurt Tucholsky setzte sich mit Keyserlings Charakter und Wirken im Jahre 1928 in zwei polemischen Folgen in der Weltbühne unter dem Titel „Der Darmstädter Armleuchter“ auseinander. Mit der Anfangszeile des zeitgenössischen Schmähgedichts 77

„Als Gottes Atem leiser ging“ eröffnete er seine Satire.2 Hannahs Schwester Goedela hingegen glaubte unerschütterlich an Hermanns Größe, verehrte ihn und fügte sich geduldig in seine unberechenbaren Launen.

Deutsche Frau und Mutter im „Dritten Reich“ Als Hannah von Bredows Mutter Marguerite sich im Jahre 1911 mit ihrer Schwester Polly Gedanken über die Heiratschancen ­ihrer Töchter machte, der 18-jährigen Hannah und der 15-jährigen Goedela, stellte sie im Wesen der beiden Schwestern deutliche Unterschiede fest. Zu Hannahs Zukunft erkannte sie, dass es schwer sein werde, sie in Deutschland zu verheiraten. Sie entspreche in keiner Weise dem, „was die Deutschen lieben.“ Goedela hingegen habe „in Preußen alle Chancen. Sie ist auch begabt, ganz feminin und völlig anpassungsfähig. Und sie wird schön, sehr schön sogar, wenn nicht alles trügt.“ Goedela wurde eine attraktive und anpassungsfähige Frau, während Hannahs klares, sicheres und selbstständiges Wesen ihr stets als unweiblich angerechnet wurde. Lediglich in einem Punkt entsprach Hannah dem ab 1933 im Deutschen Reich vorgegebenen Frauenbild: als „Trägerin von Blut und Rasse“. Sie erfüllte mit acht Kindern die „natürliche Hauptaufgabe einer Frau“, nämlich zur Ausbreitung der „arischen Rasse“ möglichst viele Kinder zur Welt zu bringen. Die von der Männerwelt stärker beachtete Goedela dagegen entzog sich der „vaterländischen Gebärpflicht“ weitgehend und blieb mit lediglich zwei Söhnen deutlich hinter dem propagierten Familienbild mit vier Kindern zurück. Auf anschauliche Weise schildert Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen im Frühjahr 1933 die mit Beginn des „Dritten Reichs“ abrupt geänderten Vorstellungen über die Geschlechter. So stimmte es sie z. B. nachdenklich, als man ihr in einer Gesellschaft mitteilte, dass die Begriffe „Herr“ und „Dame“ aufgehört hätten zu existieren. Jetzt gelte nur mehr der „deutsche Mann“ und das „deutsche Weib“. „Darum“, so wurde Hannah vor78

hergesagt, „haben Sie keine Chancen, in der neuen Welt mitzukommen, denn Sie markieren den Typ der Dame, der jedem Deutschen jetzt ein Brechmittel ist; für uns gilt nur das Mädchen oder das Weib.“ Ein weiterer Gesprächsteilnehmer ergänzte begeistert: „Die ‚Dame‘ hat etwas international Gefärbtes an sich, etwas Unzuverlässiges, Geschmeidiges. Heute brauchen wir pflichtbewusste Frauen ohne Intellekt, aber mit fraulichen Eigenschaften, die der Familie zu Gute kommen.“ Hannah verschweigt die Namen der beiden „deutschen Männer von Gesellschaft“, meint aber, dass sie die Kommentare nicht erwähnt hätte, wenn es den beiden ernst gewesen wäre: „Aber es war ein Nachplappern der Schlagworte, die den ‚einfachen Mann‘ begeistern sollen.“ Hannah von Bredow nahm die Erziehung ihrer Kinder ernst. Sie beaufsichtigte die Schularbeiten und half den Kindern bei den Fremdsprachen. Die Jüngeren konnten mit ihr beim Würfel-, Karten- oder Versteckspiel rechnen, die älteren bei Besuchen von Konzerten, Oper, Theater oder Vorträgen. Gemeinsam ging die Familie zum Schwimmen, unternahm Ausflüge und besuchte Zirkusvorstellungen. Jeder Geburtstag wurde zusammen mit den Freunden des Geburtstagskinds ausgiebig bei Spiel oder Tanz gefeiert. Zur gemeinsamen Silvesterfeier gab es kleine Aufführungen der Kinder, Bleigießen, Kindertee und Punch. Vor Beginn des Kindergartens oder des Schulunterrichts frühstückte Hannah von Bredow mit ihren Kindern, aß mit ihnen zu Mittag und bemühte sich um eine gemeinsame Teestunde sowie ein Abendessen im Familienkreis. Hannahs Tagebücher geben Auskunft darüber, dass sie sich um die kranken Kinder sorgte, sie bei Arztbesuchen begleitete und hierfür nur in Ausnahmefällen die Kindermädchen beanspruchte. Die mehrwöchigen Sommerferien verbrachte die Familie, ab 1933 ohne den Vater, im schweizerischen Anwesen Les Diablerets. Den Kindern blieb ihre Jugend in Potsdam als stets anregend und behütet in guter Erinnerung. Hannah von Bredow hatte es bei der Erziehung ihrer Kinder im „Dritten Reich“ nicht leicht. Bereits in den Kinderzimmern NS79

konformer Familien fanden sich Bleisoldaten, Marschtrommeln, Mini-Panzer und SA-Puppen als Spielzeug. Auch Bilderbücher dienten der Indoktrination. Im Haushalt von Bredow, in dem eine „heldische Aufzucht“ nicht in Frage kam, hielt Hannah die Kinder von dergleichen fern. Mit Sorge betrachtete Hannah von Bredow, mit welcher Eile und Rücksichtslosigkeit das NS-Regime den Schulen seine Gefolgsleute und Insignien aufoktroyierte. Mitte März 1933 schreibt sie, dass in der Potsdamer Victoriaschule des zwölfjährigen Sohns Wolfgang „die schwarzrotgoldene Fahne feierlich verbrannt“ wurde und der Direktor „auf Anregung des Provinzialschulkollegiums hier das Hissen der Hakenkreuzfahne anordnete“. Gleichzeitig wurde „mitten in der Abiturientenprüfung der sozialdemokratische Schulrat entlassen, so dass der Direktor allein weiter prüfte. […] Der Arme ist ganz mit den Nerven niedergebrochen, weil ein durchgefallener Primaner sich erschossen hat.“ Die näheren Umstände für die Kurzschlusshandlung des Schülers nennt Hannah nicht. Noch betrafen ihn nicht die einengenden Maßnahmen und Organisationen, die das NS-Regime sehr früh für die deutsche Schuljugend ersann und rücksichtslos durchsetzte. Der von Hitler ernannte „Jugendführer des Deutschen Reiches“, Baldur von Schirach, gab im Juli 1933 die ersten Bestimmungen für die Gliederungen der Hitlerjugend (HJ) heraus. Die Aufgabe der HJ bestand darin, die deutsche Schuljugend im Sinne der nationalsozialistischen Ideale  – Aufopferungsbereitschaft, Wehrhaftigkeit und Vorrang von körperlicher Ertüchtigung gegenüber geistiger Bildung – zu formen. Für die 10- bis 14-Jährigen gab es die „‚Pimpfe“ und den „Jungmädelbund“ – Hannahs Sohn Wolfgang und die Schwestern Alexandra und Diana gehörten in diese Altersgruppe. Die älteste Tochter Marguerite hatte im Jahre  1933 mit ihren 17  Jahren bereits das Alter für den „Bund Deutscher Mädel“(BDM) erreicht. Der Zeit entsprechend bemühte sich die siebenjährige Maria, die noch nicht organisationsfähig war, das Horst-Wessel-Lied zu singen. Ihr eigener Text „Der Bahnhof hoch, die Reise fest beschlossen!“ fand allerdings nur in der Familie Anklang. 80

Druck zum Eintritt in die HJ wurde in der Schule durch einen speziellen HJ-Vertrauenslehrer in der Funktion des „Schuljugendverwalters“ ausgeübt. Mit Hausbesuchen sollten Lehrer den Druck auf die Eltern verstärken. Um die anfangs geringe Begeisterung für die HJ anzuregen, führte Baldur von Schirach 1934 einen „Staatsjugendtag“ ein, an dem alle in der HJ organisierten 10- bis 14-Jährigen schulfrei hatten. Die Nichtmitglieder wurden somit angereizt und gesellschaftlich unter Druck gesetzt, ebenfalls in die HJ einzutreten. Trotz dieser Verlockung und der massiven Propaganda schloss sich der mittlerweile 14-jährige Wolfgang, Hannahs ältester Sohn, der HJ im Jahre 1935 nicht an. Erst zwei Jahre später trat er der Potsdamer Marine-HJ bei. Ein junger Führer, dessen Familie der „Bekennenden Kirche“ angehörte, hatte Hannah mit den Worten überzeugt, dass „60 Prozent aus der HJ austreten werden, wenn wir Heiden werden sollen.“ Das Ausbildungsprogramm, in dem Boots- und Signaldienst, Schifffahrtskunde und Leibesübungen im Mittelpunkt standen und welches mit einer Seesportprüfung abschloss, schien Hannah und Sohn Wolfgang wenig ideologiebehaftet zu sein. Noch im  November 1935 verstärkte Baldur von Schirach mit einem großen Werbefeldzug den Druck zum „Eintritt der Saumseligen“. Parolen wie „Nieder mit Reaktion, Monarchie und allen Duckmäusern“ waren zu hören und zu lesen. Wolfgang gab seiner Mutter einen Laufzettel des Direktors des Victoria-Gymnasiums, der den Hinweis auf eine endgültige Aufnahmesperre in die HJ mit dem dringenden Rat an die Eltern verband, „diese letzte Gelegenheit nicht vorübergehen, sondern ihre Kinder raschestens eintragen zu lassen.“ Obwohl ihr „alle Leute zuredeten, den Buben und alle die Mädeln anzumelden“, entschied Hannah sich anders als die Mehrheit der Eltern, deren Haltung sie ihrem Briefpartner Sydney Jessen am 22. November 1935 beschreibt: „Am 16. waren nur 45 % des Gymnasiums in der Vereinigung drin, am 18. waren es schon 70 %, und jetzt sind ungefähr 95 % eingetreten; die meisten der Eltern sind Beamte und haben als solche den Bescheid bekommen, dass man ihrer Dienste nicht mehr bedürfe, wenn ihre Kinder nicht den Formationen beiträten.“ 81

Hannah hatte keine Rücksicht auf einen Beruf zu nehmen, wohl aber auf die Kinder. Mit Wolfgang war sie sich einig darin, dass es unmöglich sei, „in eine blasphemische und ganz radikale Organisation einzutreten“, da „nach dem Kampf gegen die Juden nun der Kampf gegen die Kirche begonnen werde“. Hannah sprach ausführlich mit Wolfgangs Klassenlehrer, der zur Kenntnis nahm, dass sie Wolfgang nicht zur HJ anmeldete. Sie schreibt: „Er ist ein sehr netter, kluger Mensch, der mir aber pflichtgemäß Wolfgangs verdunkelte Zukunft schilderte.“ Hannah von Bredow konnte ihre Entscheidung Ende 1935 noch damit rechtfertigen, dass es keine gesetzliche Pflicht zur HJ-Mitgliedschaft gab. Dies änderte sich Anfang Dezember 1936 mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“, wonach „die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes in der Hitlerjugend zusammengefasst ist“. Im  März 1939 wurde dann die „Jugenddienstpflicht“ eingeführt, und die Mitgliedschaft in der HJ konnte polizeilich auch gegen den Willen der Eltern erzwungen werden. Hannah hatte aber Kenntnis von der Ausnahmeregelung, wonach Jugendliche mit attestierten Gesundheitsproblemen von der HJ freigestellt werden konnten. Prof. Carl Otto von Eicken, Direktor der H.N.O.-Klinik der Berliner Charité, stellte Hannah in den Kriegsjahren bereitwillig ein Attest für Sohn Leopold Bill aus, wonach dieser unter Rückenschäden litt. Für die Freistellung von den „Pimpfen“ nahm Leopold Bill die wöchentlichen Rückenübungen gern in Kauf. Schließlich ’gehörten ab 1937 von Hannah von Bredows acht Kindern neben den Söhnen Wolfgang und Herbert nur noch die Tochter Maria einer NS-Organisation an. Gleich zum Schulbeginn im August 1933 wurden die NS-Rituale in den Schulen überall im Deutschen Reich eingefordert. Hannah berichtet, dass das Erheben der Hand zum Hitlergruß, dem offiziellen Gruß aller „Volksgenossen“, bei den Kindern auf unterschiedliche Reaktionen stieß: „Wolfgang machte es natürlich voller Freude, aber Marguerite und Diana hatten Hemmungen mitzumachen.“ Hannah stellt hierzu fest, dass „die Ansichten über Mut und freie Willensäußerung von jeher beim männlichen und beim weiblichen 82

Geschlecht in der Jugend verschieden gewesen sind, schon aus dem Grund, weil letzteres im bloßen Widerstand etwas Lobenswertes sieht, während ersteres lieber nicht auffällt und mitmacht.“ Halbherzig riet sie ihren Kindern „natürlich, sich den Vorschriften freudig zu fügen“. Seufzend kommentiert sie: „Ach, die Minorität hat solch einen unerhörten Reiz, und diesem Reiz nicht zu unterliegen, ist schwer.“ Dem Reiz der Minderheit unterlag Hannahs damals 17-jährige Tochter Alexandra im Jahre 1936, als der Direktor des Augustastifts von den Mädchen im Rahmen einer bevorstehenden NS-Haussammlung Protokolle mit genauen Angaben über die Reaktion der Bewohner auf die Aktion verlangte. Mit der Begründung, dass sie kein Spitzel sei, lehnte Alexandra dieses Verlangen brüsk ab. Aber auch die ein Jahr jüngere Schwester Diana wusste den jungen Direktor, der die Mädchen stets „Kameradinnen“ nannte, zu beunruhigen. Sie sprach ihn seelenruhig mit „mein Kamerad“ an, worüber dieser ohne Strafe hinwegging. Verständnis für ihr Verhalten fanden die beiden Jüngeren allerdings nicht bei ihrer älteren Schwester Marguerite, die den negativen Einfluss ihrer Mutter bestätigt sah: Sie hatte „ein endgültiges Urteil über meine Unfähigkeit gefällt und festgestellt, dass es ihre Pflicht ist, ihre Geschwister meinem antimarianischen [Anti-Hitler-] Einfluss zu entziehen,“ schreibt Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Jessen Ende Oktober 1936. Auf diesen Vorwurf hin fragte Hannah ihre Tochter „auf Ehre und Gewissen, ob ihre Erziehung, ihre Nichtteilnahme an den Verbänden ihr bisher irgendwie geschadet hätten.“ Marguerite konnte die Frage ihrer Mutter nicht bejahen und antwortete erbost: „Es wird aber all die anderen treffen, denn man ist auf uns aufmerksam geworden, und Wolfgangs Leben ist völlig ruiniert.“ Scheinbar ultimativ stellte Marguerite fest: „Ich trete heute noch in die nationalsozialistische Volkswohlfahrt ein, um wenigstens organisiert zu sein, und Wolfgang muss in die Hitlerjugend, die anderen müssen in den Bund deutscher Mädchen.“ Hannah von Bredow erklärte ihrer ältesten Tochter, dass sie ihre Kinder „christlich und ehrfurchtsvoll erziehen wolle“, und dass sie 83

„auf Karriere, Beruf etc. nichts gäbe, wenn die Seele dabei Schaden nähme.“ In keinem Fall kämen für sie „heidnische, blasphemische Verbände“ in Frage, denn sie könne ihren Kindern „diese Propaganda, den Denunziationszwang und alles Drum und Dran niemals zumuten“. An Marguerite von Bredow waren höchstwahrscheinlich die Lektionen in den Schulungsnachmittagen, die sie ab  November 1935 als Medizinstudentin an der Universität Berlin zu absolvieren hatte, nicht spurlos vorübergegangen. Hier lernten die Studenten und Studentinnen von NS-Propagandisten die rechte Gesinnung in der „Volksgemeinschaft“, und sie bekamen zu hören: „Deutschland wird nicht ruhen noch rasten bis es alle Länder germanisiert und national-sozialisiert hat, bis auf die romanischen. Wir nehmen das Baltikum, Österreich, die Schweiz, Holland, Skandinavien.“ Zudem hatte Marguerite als Pflichtfach Kleinkaliberschießen und Nachrichtenwesen zu belegen. Die heftige Aussprache mit ihrer Mutter schien bei Marguerite indessen nicht ohne Wirkung geblieben zu sein, denn kurz danach, Anfang November 1936, zeigte sie Hannah einen Vortragstext des systemkritischen Pädagogen und Dichters Ernst Wiechert. Mit der Bitte um Rückgabe schickte Hannah den Text, dessen Weiterverbreitung verboten war, Jessen und merkte an, es handele sich um „Marguerites einziges Exemplar und sie hat es wieder und wieder zum Abdruck verliehen.“ Ernst Wiechert stand seit 1934 wegen des Verdachts staatsfeindlicher Gesinnung unter Beobachtung der Gestapo. Im April 1936 hielt er eine Mahnrede an die Jugend, die Kritik an der gleichgeschalteten NS-Jugendpolitik enthielt. Ende 1937 untersagten die Nationalsozialisten dem Autor alle öffentlichen Auftritte, und bis zum Ende des „Dritten Reichs“ war er unter ständiger Aufsicht der Gestapo. Öffentlich sichtbar wurde Hannah von Bredows Einstellung zum NS-Regime stets an den Tagen, an denen die Beflaggung der Häuser offiziell angeordnet war. Am 9. November eines jeden Jahres, am „Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung“, stand sie indessen vor einem besonderen Problem. Am gleichen Tag hatte im Jahre  1918 die Monarchie geendet, welche sie grundsätzlich, 84

wenn auch nicht unter dem letzten Kaiser der Hohenzollern, geschätzt hatte. Fünf Jahre nach Ende der Monarchie hatte Hitler am 9. November 1923 versucht, mit dem Marsch auf die Feldherrenhalle in München, die Macht an sich zu reißen. Im Jahre 1936 stellt Hannah im Tagebuch an diesem Tage fest: „Montag, ein grässliches Datum, und man muss mit dieser roten Fahne auch noch flaggen, laut Erlass!“ Die Hakenkreuzflagge zog sie allerdings nicht an ihrem Haus auf und begründete dies damit, dass man im Erlass nur ersucht werde, so zu handeln: „Ein Ersuch ist kein Befehl!“ Mit dem Reichsflaggengesetz vom 15. September 1935 war die Hakenkreuzflagge zur Reichs- und Nationalflagge bestimmt worden. Das Hissen von Hausfahnen an den Nationalfeiertagen oder bei sonstigen Anlässen war allerdings nicht verpflichtend. Unterblieb dies jedoch, wurde dies als Akt demonstrativer Verweigerung gewertet. Der allgegenwärtige Blockwart vermerkte es in seiner Hauskartei und übergab dem „Sünder“ zur Ermahnung ein Formschreiben. Hannah von Bredows Einstellung zur Hakenkreuzflagge war für ihre Kinder indessen nicht unproblematisch. Als Hitler z. B. am 27.  März 1936 eine Rede an die „Arbeiter und Soldaten des neuen Reichs“ mit dem Satz „Kommando an die Nation: Hisst Flagge!“ beendete, kamen am nächsten Tag fast alle Deutschen dieser Aufforderung nach und beflaggten ihre Häuser. In der Annahme, dass die gleichgesinnten Nachbarn sich wie sie verhalten würden, zog Hannah von Bredow die Hakenkreuzfahne nicht auf. Nachdem ihre Töchter Marguerite und Alexandra dann bei den Nachbarn doch eine Hakenkreuzfahne sahen, zogen die beiden diese auch am eigenen Haus hoch. Hannah kommentiert den Vorfall gegenüber Jessen selbstironisch: „Ich verstehe weiland Pilatus und wasche meine Hände in Unschuld. Ein ideales Gefühl.“ Hannah von Bredow konnte die von einer deutschen Frau im Nationalsozialismus erwartete Rolle als „Quelle der Nation“ mit Charaktereigenschaften wie Selbstlosigkeit, Treue, Pflichtbewusstsein und Opferbereitschaft überzeugend und für alle sichtbar durch die Zahl ihrer acht Kinder erfüllen. Am „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“, den das NS-Regime am dritten Maisonntag 85

im Jahre 1934 einführte, wurden nicht zuletzt auch Hannahs Verdienste in der „Geburtenschlacht“ gewürdigt. Zur gleichen Zeit führte das Regime den Reichsmütterdienst ein, in dem sonntags religiös anmutende „Mütterweihen“ in Konkurrenz zu christlichen Gottesdiensten gefeiert wurden. Erstmals zum Muttertag am 21. Mai 1939 verlieh der ‚Führer‘ das eigens von ihm gestiftete „Ehrenkreuz der Deutschen Mütter“. Hannah von Bredow kam dank ihrer stattlichen Kinderzahl eigentlich automatisch für die höchste Stufe, das „Mutterkreuz in Gold“, in Betracht. Es bedurfte allerdings mehr als vier weiterer  Jahre, bevor ihr das „sichtbare Zeichen des Dankes des Deutschen Volkes an kinderreiche Mütter“ auf wenig protokollarische Weise zukam. Die erste Voraussetzung zur Verleihung des Mutterkreuzes konnte Hannah von Bredow zweifellos erfüllen: Die Eltern der Kinder mussten „deutschblütig“ und „erbtüchtig“ sein. Die zweite Voraussetzung, wonach „die Mutter der Auszeichnung würdig ist“, fiel ihr schwerer nachzuweisen. Verlangt wurde, dass eine Mutter „anständig“ und „sittlich einwandfrei“ war. Den NS-Vorstellungen von Anstand und Sitte konnte Hannah mit ihrem Verständnis aber in keiner Weise genügen, wie sie Anfang des Jahres 1938 vom Potsdamer Polizei- und Gestapochef Wilhelm von Wedel in einem Verhör erfahren musste. Ein Dutzend Verfehlungen, angefangen bei „Ausländerei“ über die Verweigerung des Hitlergrußes bis zu „unerhörten Briefen, die jeder Beschreibung spotten“, hatte er ihr als Verstöße gegen die nationalsozialistischen Anstandsnormen vorgehalten. So war die kinderreiche Hannah von Bredow in den Jahren bis zur Verleihung des Mutterkreuzes Ende des Jahres 1943 bisweilen abfälligen Reden und öffentlicher Verspottung ausgesetzt, da man davon ausging, dass mit ihr angesichts der großen Kinderzahl etwas nicht stimmen konnte. Hannah ignorierte solche Äußerungen und nahm mit Humor zur Kenntnis, in welcher Weise sie schließlich doch noch mit dem Mutterkreuz „beehrt“ wurde: Mitte Dezember 1943 beorderte der Potsdamer NS-Oberbürgermeister Hans Friedrichs Hannahs 22-jährigen Sohn Wolfgang zu sich und erklärte ihm, dass ihm ein Mutterkreuz für seine Mutter vorliege. Da er seiner Mutter die hohe Auszeichnung aufgrund ihrer politischen Einstellung aber 86

nicht persönlich übergeben könne, übertrage er Wolfgang diesen Auftrag. Dieser nahm das goldene Mutterkreuz entgegen und legte es Weihnachten zu den Geschenken unter den Tannenbaum. Auch eine würdigere Übergabe der Auszeichnung hätte Hannah von Bredow nicht dazu bewegen können, sich den gleichgeschalteten Frauenorganisationen als „Kämpferin der Volksgemeinschaft an der Heimatfront“ anzuschließen. Sie wusste aber die 800 Reichsmark, die mit der Verleihung des goldenen Mutterkreuzes verbunden waren, als Aufbesserung der schmalen Majorspension durchaus zu schätzen. Darüber hinaus nutzte sie die Ehrung, um sich z. B. im Potsdamer Postamt an protestierenden Wartenden vorbei zum Schalter zu drängen, indem sie auf ihr Mutterkreuz, das sie um die rechte Hand gewickelt hatte, verwies. Auch wenn es unstatthaft war, das Mutterkreuz im Alltagsleben und zur Arbeitskleidung anzulegen, reichte dem Postamtsleiter Hannahs Hinweis auf die Bedeutung, die der Führer der Auszeichnung beimaß, um ihr seinerseits vorzuschlagen, dass sie künftig doch ohne Warten direkt zu ihm kommen könne. Angesichts Hannah von Bredows Mangel an NS-konformer Sitte und Anstand ist es verwunderlich, dass sie das Mutterkreuz überhaupt erhielt. Sie entsprach nämlich in keiner Weise dem Frauenbild der Nationalsozialisten, wie der „Führer“ es bereits im September 1934 in einer Rede vor der NS-Frauenschaft skizziert hatte.3 Hitler geißelte darin als unnatürlich, „wenn das Weib in die Welt des Mannes, in sein Hauptgebiet eindringt“. Sie habe sich auf die „kleinere Welt“, nämlich den Dienst für Ehemann, Familie, Kinder und Haushalt zu beschränken. Hier könne sie Großes leisten, denn „jedes Kind, das sie zur Welt bringt, ist eine Schlacht, die sie besteht für das Sein oder Nichtsein ihres Volkes.“ Wohl hatte Hannah von Bredow ihre Schlacht an der Kinderfront im Sinne Hitlers geschlagen, aber der sichtbare Erfolg war monarchischen und republikanischen Verhältnissen und nicht seiner „Volksgemeinschaft“ zuzuschreiben. In diese passte Hannah nach Hitlers Vorstellungen über die Rolle der Frau ohnehin nicht: „Wenn früher die liberalen intellektualistischen Frauenbewegungen in ihren Programmen viele, viele Punkte enthielten, die ihren Ausgang 87

vom sogenannten Geiste nahmen, dann enthält das Programm unserer nationalsozialistischen Frauenbewegung eigentlich nur einen einzigen Punkt, und dieser Punkt heißt: das Kind, dieses kleine Wesen, das werden muss und gedeihen soll, für das der ganze Lebenskampf ja überhaupt allein einen Sinn hat.“ Auch wenn Hannah von Bredow seit Oktober 1933 ohne männlichen Haushaltsvorstand ihren anspruchsvollen familiären Alltag meisterte, sah sie in der Erziehung ihrer Kinder nicht den einzigen Sinn ihres Lebens: Ihr Denken und Handeln beanspruchten vielmehr ein ausgeprägtes gesellschaftliches Leben mit Familie und Freunden, ebenso wie ihre Freude an Musik, Literatur und Geschichte sowie vor allem die Reflexion und Diskussion über das politische Zeitgeschehen. Denkende oder gar emanzipierte Frauen konnten indessen aus Sicht Adolf Hitlers keine deutschen Frauen sein: „Das Wort von der Frauen-Emanzipation ist nur ein vom jüdischen Intellekt erfundenes Wort, und der Inhalt ist von demselben Geist geprägt. Die deutsche Frau braucht sich in den wirklich guten Zeiten des deutschen Lebens nie zu emanzipieren.“ Dieses Rollenverständnis Hitlers fand auch in der Familie Bismarck-Bredow einen gewissen Anklang mit nicht immer erfreulichen Folgen für Hannah von Bredow.

Außenseiterin der Familie Hannah von Bredow liebte ihre früh verwitwete Mutter Marguerite und schätzte die ausführlichen Gespräche mit ihr über Familiengeschichte, Literatur, Mode und Musik. In ihrer Kindheit und frühen Jugend hatte Hannah „so viel Liebe, so viel Güte, so viel Verwöhnung erfahren“, für die sie ihrer Mutter lebenslang dankbar war. Sie „betrachte gewisse Dinge als ewig“ vertraute sie ihrem Briefpartner Jessen an, und zu den „ewigen Begriffen gehören auch Treue, Anhänglichkeit und Liebe.“ Umso betroffener war sie darüber, dass ihre Einstellung zum Nationalsozialismus ihre Mutter immer wieder enttäuschen musste. 88

Im Sommer 1935 hörte Hannah von ihrer besorgten Mutter, dass sie „nie das Gute in den Dingen“ suche. Anstatt die Fehler des Nationalsozialismus zu ignorieren und „nur die Größe, seine fabelhaften, weit hinausragenden Erfolge zu sehen“, beiße sie sich „auf das Kleine fest“. Sie, Marguerite von Bismarck dagegen, sehe genauso wie Hannahs Brüder nur die großen Linien, und alles Unbedeutende berühre sie nicht. Hannah könne doch wohl „die wunderbaren Dinge nicht bestreiten, die erreicht worden sind“. Allein ihre „wahre Verblendung“ verbiete ihr, diese zu sehen. Mutter Marguerite warf ihrer Tochter weiter vor, sie habe von verschiedenen Personen erfahren, dass sie die Verdienste ihrer Brüder schmälere und sich „als diejenige, die mehr von den Dingen weiß“, hinstelle. Die Vorwürfe gipfelten in dem Satz: „Du bist hart wie Stein. Du hast die Fähigkeit, nichts zu empfinden und durch nichts zerbrochen zu werden. Ich aber bin sehr leicht zu vernichten, und ich kann es nicht ertragen, wenn Du nicht zur Einsicht kommen willst.“ Hannah von Bredow kam nicht zur erhofften Einsicht, und Marguerite von Bismarck forderte in späteren  Jahren die mittlerweile erwachsenen Enkelinnen Alexandra und Philippa auf, ihre Mutter wegen deren politischer Unvorsichtigkeit und ihrer „so sehr zu bedauernden Unfähigkeit unbedachte Worte zurückzuhalten, möglichst zu beaufsichtigen“. Da Hannah von Bredow sich Anfang  des Jahres  1938 aber bereits endgültig aus dem Berliner gesellschaftlichen Leben „wegen meines schlechten Rufes und meines sonstigen unmoralischen Lebens“ verstoßen sah, hätte eine mögliche Beaufsichtigung der Töchter hieran auch nicht viel ändern können. Ihren schlechten Ruf hätte Hannah nach den Vorstellungen ihrer Mutter zweifellos dadurch verbessern können, indem sie sich zu einer neuen Ehe bereitgefunden hätte: Es sei nicht gut, sich so abzuschließen wie Hannah es täte, und „Umworbensein gehöre nun einmal zum Leben,“ meinte die Mutter im Sommer  1935 und ergänzte, dass Hannah nicht zuletzt an ihre zahlreichen Kinder denken möge. Mutter Marguerite hatte zweifellos auch die enge Verbindung Hannahs mit Sydney Jessen im Blick, welche für manche 89

Person der Gesellschaft allerdings als unmoralisch galt. Die über 40-jährige Hannah konnte dergleichen Ratschläge nach zwei Jahren im Witwenstand aber gelassen hinnehmen. Schließlich sah Mutter Marguerite im Jahre 1935 noch eine weitere Möglichkeit, Hannahs schlechten Ruf aufzupolieren: Sie solle ihrer Pflicht nachkommen, ihre Kinder gut zu verheiraten, erklärte sie ihr. Die heiratsfähigen Kinder solle „sie bald und gut verheiraten – sehr reich, sehr adelig, sehr vornehm und ländlich,“ befand sie. Bei der ältesten Tochter Hannahs, der Ärztin Marguerite, schlug das Vorhaben allerdings neun Jahre später fehl, zum Leidwesen der Großmutter, aber auch der Mutter: „Der Mann, mit dem sie seit Juli 1944 zusammenlebt, ist verheiratet, Katholik, Arzt, kleinster Herkunft, Rheinländer und Sohn eines Pedells der Bonner Universität“, schrieb Hannah ihrem Bruder Albrecht ernüchtert. Am meisten Verständnis für die Einstellung Hannah von Bredows zum NS-Regime zeigte ihr um elf Jahre jüngerer Bruder Albrecht Edzard „Eddy“ Graf von Bismarck-Schönhausen. Nur kurz hatte Eddy mit den Nationalsozialisten geliebäugelt, zumal diese seine homosexuellen Neigungen als „entartetes Verhalten“ verurteilten. So bildete die Gestapo bereits im Jahre 1934, in Eddys 30. Lebensjahr, ein Sonderdezernat mit dem Auftrag, Listen von homosexuellen Einzelpersonen anzulegen. Mit der 1936 geschaffenen Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität begann SSFührer Heinrich Himmler dann die Jagd auf die zu „Volksfeinden“ Erklärten, die nicht willens waren, einen Beitrag zur Reproduktion der „Herrenrasse“ zu leisten. Eddy verließ das Deutsche Reich früh und stieg in Rom dank schnell erlernter Kenntnisse im Antiquitätenhandel in das Geschäft des Prinzen Philipp von Hessen ein. Beide verband eine intime Nähe, die Eddy später durch die Ehe mit der um sieben Jahre älteren Amerikanerin Mona Strader ablöste. Von Anlage und Beruf war Eddy zweifellos ein Außenseiter in der Familie Bismarck. Hannah von Bredow wusste besonders Bruder Eddys Sinn für das Schöne zu schätzen und besuchte ihn so oft es ging für mehrere Tage in Rom. Auch traf sie ihn häufiger in Berlin, wenn er, nunmehr als Innenarchitekt, Einkäufe für Einrichtungen von Villen und Her90

renhäusern in Italien tätigte. Im Anschluss an einen Besuch Eddys stellt Hannah im Jahre 1935 erfreut fest: „Es war enorm interessant und unsere Auffassungen deckten sich in allen Dingen.“ Die beiden Außenseiter in der Familie Bismarck-Bredow verband lebenslang eine vertrauensvolle, enge Beziehung. Mit ihrer um drei  Jahre jüngeren Schwester Goedela war Hannah von Bredow allein altersmäßig enger verbunden. Sie fühlte sich früh für sie verantwortlich, nahm die Jugendliche zu Tanzveran­ staltungen mit und führte ihr attraktive Partner zu. Verantwortung für Goedelas im Jahre 1919 geschlossene Ehe mit dem von Hannah wenig geschätzten Hermann Graf von Keyserling übernahm sie indessen nicht, wohl aber regen Anteil am Los von dessen Familie unter dem NS-Regime. Bereits im Jahre 1933 erhielt Keyserling Reiseverbot, im Jahre darauf wurde er ausgebürgert und vom hessischen Staatsministerium zur Annahme eines Fremdenpasses gezwungen. Hannah bangte mit Goedela darum, dass diese und die Kinder ihre Pässe behalten konnten. Für Hermann von Keyserling gab es vermutlich nichts mehr zu verlieren, als er Ende  1935 seinem Bewunderer Friedrich von Dungern nach einem Vortrag in dessen Potsdamer Haus erklärte, „was für ein pathologischer, verlogener Verbrechertyp Marius [Hitler] sei, was für ein des römischen [deutschen] Volkes unwürdiges Produkt er darstelle.“ Ihrem Briefpartner Jessen teilt Hannah von Bredow mit, dass sie sich hierüber ebenso amüsiert habe wie darüber, dass Dungern Leiter der Gestapo für Potsdam sei. Auch aus diesem Grunde konnte Keyserling deshalb nicht erstaunt sein, als die Reichsschrifttumskammer sein jüngstes Werk „Das Buch vom persönlichen Leben“ im Februar 1937 verbot und alle anderen Werke einzog. Goedela von Keyserling hielt stets zu ihrem Mann, konnte aber im  September 1935 einer Einladung zu einem Treffen mit Hitler nicht widerstehen, zumal „sie so eine Gelegenheit als wunderbar empfindet“, wie Hannah von Bredow erkennt. Sie war ebenfalls in das fränkische Pommersfelden auf das Schloss des Hitlerverehrers Georg Graf von Schönborn-Buchheim eingeladen worden, direkt im Anschluss an den NS-Parteitag, auf dem die Nürnberger Rassenge91

setze verkündet wurden. Hannah sagte die Einladung ab, „da ich mich zum Speichellecken sehr schlecht eigne und auch wenig Lust habe, den großen Meister balzen zu sehen.“ Goedela zog es auch am 13. Februar 1939 nach Friedrichsruh, wo Hitler vor dem Stapellauf des Schlachtschiffs ‘Bismarck’ zu Mittag essen wollte, allerdings ohne von Hausherr Otto von Bismarck dazu eingeladen worden zu sein. Anders als ihre Geschwister Goedela, Otto und Gottfried lehnte Hannah von Bredow eine Reise nach Friedrichsruh ab. Am Tage nach Hitlers Selbsteinladung urteilt Hannah: „Die Familie glücklich über Stapellauf ‚Bismarck‘. Ihre Begeisterung für Hitler ist grenzenlos. Hitler war offensichtlich sehr charmant, wovon Goedela besonders beeindruckt.“ Die Ausbürgerung ihres Mannes Hermann durch Hitlers Helfershelfer hatte Goedela offenbar verwunden. Goedelas flexible Einstellung zum NS-Regime und ihre Kritik an Hannahs gegensätzlicher Haltung hatte bereits mehrere Jahre zuvor zu Unstimmigkeiten geführt. Seinerzeit hatte Hannah erfahren, dass Goedela in einem Brief an die Mutter behauptete, sie, Hannah, „sei der Haupthetzer gegen die Brüder“. Über diese Äußerung ihrer Schwester war Hannah verständlicherweise entsetzt. Aus unbedingter Loyalität zur Familie äußerte Hannah von Bredow sich gegenüber Dritten grundsätzlich nie negativ über ihre Verwandten oder hetzte gar gegen sie. Gegenüber den Geschwistern und deren Ehepartnern machte sie aus ihrer Haltung zum NS-Regime andererseits nie einen Hehl. Von der Einstellung ihrer Familienangehörigen zu den Nationalsozialisten erfuhr als einziger Außenstehender indessen nur ihr Vertrauter Sydney Jessen. Hannahs Grundsatz galt besonders für das Familienoberhaupt Otto Fürst von Bismarck, dessen Stellung in der Familie und Wirken in der Diplomatie sie jederzeit Respekt und Rücksichtnahme zollte. In den dramatischen Tagen vor Hitlers Machtübernahme gegen Monatsende des Januar 1933 setzte Otto wie auch sein Bruder Gottfried zwar noch auf den NS-Mann Gregor Strasser, akzeptierte dann aber ab dem 30. Januar die Machtverhältnisse und trat schließlich 92

am 1. Mai der NSDAP bei. Loyal vertrat er die Politik des „Dritten Reichs“ von Herbst 1933 bis Ende 1936 in London als Botschaftsrat. Der anschließende Dienst als Ministerialdirigent in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts ermöglichte Otto von Bismarck bis ins Frühjahr 1940 einen direkten Einblick in die Politik des NSRegimes, ohne dass sich seine Einstellung grundlegend änderte. In diesen Jahren hielt er sich mit Vorwürfen zu Hannah von Bredows ablehnender Haltung gegenüber dem NS-Regime aber weitgehend zurück. Hannah ihrerseits stellte schon Mitte März 1935 bei ihrem Bruder eine gewisse Ernüchterung fest, denn er sei „viel einsichtiger und vernünftiger geworden“. Ottos Skepsis gegenüber Hannah legte sich dagegen nicht so bald: Mit Blick auf seine bevorstehende Tätigkeit in Berlin und damit auf häufigere Möglichkeiten zu Treffen mit ihr stellte er Ende 1936 fest, dass sie „ja einen ganz anderen Verkehr“ habe als er. Wie recht er damit hatte, lässt sich exemplarisch an einem Sonntag im Februar 1937 zeigen: Während Otto von Bismarck bei Wilhelm von Wedel, dem Potsdamer Polizei- und Gestapochef, eingeladen war, war Hannah zur gleichen Zeit Gast bei ihrer Freundin Lilly Schnitzler, einer geborenen von Mallinckrodt und Förderin des als „entartet“ geltenden Malers Max Beckmann, und traf dort unter anderem mit dem französischen Botschafter André François-Poncet zusammen. Skepsis gegenüber Hannah zeigte Otto von Bismarck auch Anfang 1937 im Gespräch mit Hannahs Nachbarn und guten Freunden, dem Ehepaar von Dietze. Als er Margarethe von Dietze fragte, ob ihre Kinder in den NS-Jugendorganisationen seien, verneinte diese und gab als Grund an: „Weil es reine Heiden sind, und ich das nicht mitmache.“ Otto stutzte und meinte: „Komisch, genau dasselbe sagt meine Schwester, der ich diese Behauptung nicht recht glauben wollte, weil sie ja sehr scharf urteilt.“ In dieser Zeit bemerkte Hannah von Bredow auch das Unbehagen ihres Bruders Otto, wenn beide sich auf einer größeren gesellschaftlichen Veranstaltung sahen. So berichtet sie ihrem Briefpartner Sydney Jessen im Februar 1937: „Otto und Ann Mari halten sich ganz von mir zurück, gestern war es amüsant und auffällig.“ 93

In der schwierigen Zeit jedoch, als Hannahs große finanzielle Probleme sie dem Druck von Finanzbehörden und Banken aussetzten und viel ihrer Kraft und Zeit beanspruchten, kam Otto von Bismarck seiner Schwester auf deren Bitte hin aber stets entgegen. Er setzte sich bei den jeweiligen Stellen für sie ein und half ihr großzügig mit Geld aus. Die Familienloyalität bestimmte seine Haltung selbst in Zeiten, in denen er erhebliche Bedenken gegen Hannahs öffentlich gezeigte politische Einstellung und ihre offene Sprache hatte. Ottos von Bismarcks schwedische Ehefrau Ann-Mari, geb. Tengbom, zeigte weit weniger Nachsicht als ihr Mann für Hannahs ablehnende Einstellung zum NS-Regime. Sie war 14 Jahre jünger als Hannah, sehr attraktiv und von der Männerwelt umworben. Otto hatte sie im April 1928 in Berlin geheiratet. Bereits im Januar 1932 zeigte sie sich von den NS-Größen Hitler und Göring, die sie auf Einladung und in Begleitung ihres Mannes kennengelernt hatte, sehr angetan. Kurz nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, konnte Hannah von Bredow bei Ann Mari sogar ein mit Brillanten besetztes Hakenkreuz auf ihrem Wollmantel feststellen und erlebte sie anlässlich eines Essens in ihrem Potsdamer Haus am 7. Februar 1933 in wahrer „Nazibegeisterung“. Die Schwägerin musste sich daraufhin von Hannah belehren lassen: „Mein liebes Kind, der Mann ist ein Verbrecher ganz großen Ausmaßes, und es gibt kein Wort, um Eure Blindheit zu schildern. Ich lasse mich gern hängen, wenn es sein soll, aber ich werde nie Nazi!!!“ Anfangs gingen Hannah von Bredow die mit der Nazibegeisterung ihrer Schwägerin einhergehenden Vorwürfe durchaus nah. So ärgerte sie z. B. sehr, dass Ann Mari sie der Illoyalität bezichtigte und Hitler mit Deutschland identifizierte. Mit dem Satz: „So ein ahnungsloses Schwedenkind will Deutschland kennen!“ verschaffte sie sich im Herbst 1934 im Tagebuch Luft. Ein Jahr darauf reagierte sie schon gelassener, als Ann Mari sie mit der Feststellung konfrontierte, Hannah habe in einem regimekritischen Gesprächskreis „ganz und gar unpatriotische Bemerkungen“ gemacht. Gleichmütig schreibt sie ihrem Briefpartner 94

Jessen, dass „alles nur gegen meine Person Gerichtete mich ziemlich kalt lässt“. Vorwürfe ihres Bruders Gottfried von Bismarck dagegen, die dieser seiner Schwester wegen ihrer negativen Einstellung zum NS-Staat machte, musste Hannah von Bredow ernster nehmen. Über viele  Jahre war sie ihnen ausgesetzt. Die Begeisterung des frühen NSDAP-Mitglieds Gottfried beobachtete die um acht Jahre ältere Schwester anfangs noch mit Ironie. So hält sie nach dem „Tag von Potsdam“ im Tagebuch Ende März 1933 fest, dass Gottfried „seit dem 21. im braunen Hemde schläft, isst, trinkt und vielleicht auch liebt …“ Ihren Bruder, den Landrat und NSDAP-Kreisleiter auf der Insel Rügen, nannte Hannah von Bredow in den Briefen an Sydney Jessen leicht abschätzig stets „den Inselbewohner“ oder „I.B.“ Die gegenseitigen Besuche der Geschwister hielten sich in Grenzen, auch als Gottfried 1935 in das Amt des Regierungspräsidenten nach Stettin versetzt worden war. Ende September 1938 wechselte er dann in der gleichen Funktion nach Potsdam. Damit konnte er häufiger mit Hannah zusammentreffen, blieb aber für Sydney Jessen weiterhin der „I.B.“ Obwohl für Gottfried von Bismarck die Versetzung in den deutlich größeren Regierungsbezirk Potsdam und in die Nähe des Berliner Machtzentrums eine Beförderung darstellte, war sie für ihn nicht ungetrübt. Er zeigte sich über die Versetzung nur bedingt erfreut, weil die Nähe zu Hannah von Bredow „eine Gefahr für ihn bedeuten könne,“ wie diese im August 1938 von einem gemeinsamen Bekannten erfuhr. Bereits bei einem Besuch Hannah von Bredows in Stettin Mitte 1936 hatte Bruder Gottfried ihr deutliche Hinweise gegeben, dass sie sich und ihre Kinder „außerhalb der Gemeinschaft gestellt“ habe. Auch in Anspielung auf ihre damaligen Geldprobleme riet er ihr sogar, „die Reichsfluchtsteuer zu zahlen und nach Amerika auszuwandern.“ Dort hätten ihre Kinder, anders als im „Dritten Reich“, wo Hannah sie zu Staatsfeinden erziehe, eine Zukunft. Hannah von Bredow blieb mit ihren Kindern in Potsdam und sah die Nähe zu Gottfried von Bismarck durchaus positiv. Einen Mo95

nat nach dessen Amtsübernahme berichtete sie Jessen über sein Wirken: „Alles ist in Potsdam entzückt von Gottfrieds rascher und energischer Arbeitsart. Alles erledigt er schnell und gerecht, Mimi Plessen, Elka Schlotheim, Mendelssohns schwärmen von ihm. Das freut mich sehr, weil er viel Gutes tun kann und den besten Willen hat.“ Im Einsatz zugunsten des über 70-jährigen Bankiers Otto von Mendelssohn-Bartholdy erwies sich Gottfried von Bismarcks energische Art im Herbst 1943 als durchaus hilfreich. Bereits am 23. Januar 1938, also noch vor Gottfried von Bismarcks Übersiedelung nach Potsdam, bereitete Hannah ihrem Bruder gewisse Probleme. Als Gottfried seinen Parteifreund, den Potsdamer Polizei- und Gestapochef Wilhelm von Wedel, im Polizeipräsidium besuchte, las dieser ihm Kostproben aus Hannahs Briefen vor, die sie im letzten Halbjahr an Sydney Jessen geschrieben und die von der Gestapo abgefangen worden waren. Wedel meinte dazu, dass „der Inhalt haarig und politisch geradezu unerhört“ zu beurteilen sei. Ihr Bruder Gottfried „zeigte sich aufs Tiefste erschüttert“, schreibt Hannah an Jessen, der zu dieser Zeit inhaftiert war. Hannahs Briefe mit den ungeschminkten Bemerkungen über verschiedene NS-Größen sowie ihr „unordentliches Verhältnis“ zu Sydney Jessen waren für Gottfrieds NS-Karriere sicherlich nicht förderlich. Mit Beginn des Weltkriegs verstärkten sich die Sorgen, die Hannah von Bredow sich über die künftige Entwicklung und ihren Bruder Gottfried machte. Am Jahresende 1940 sieht sie resignierend voraus: „Ich glaube, dass der Verrückte nächstes Jahr Russland angreift. Dann wird USA in Krieg eintreten. Immer überrascht, wie Leute Realität ignorieren. Kassandra war nie populär. Wenn ich nur Gottfried von der Nazi-Gang losreißen könnte! Der Versuch lohnt nicht.“ Wie sehr ihre Gedanken um die düster erscheinende Zukunft und ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten kreisen, zeigt sich in den Worten, mit denen Hannah von Bredow ihren Eintrag ergänzt: „Manchmal überlege ich, ob ich aktiv werden sollte. Aber ich bin durch die Sorgen um Mama, 8 Kinder und Mangel an Unterstützung gebunden. Wenn aber nicht bald etwas passiert, bevor der Wahnsinnige Russland angreift, werden wir unser Deutschland 96

nicht mehr haben. Ich bin keineswegs versessen darauf jemanden zu morden, aber es gibt Fälle …Wenn er weitermacht, wird alles in 10 Jahren fort sein. Die Sklaverei unter den Nazis wird eine russische Diktatur werden.“ Zum  Jahresende 1940 zeigte Hannah von Bredow eine bemerkenswerte Weitsicht. Schon am 24. Mai 1933 hatte sie nach einem Studium von Hitlers Handschrift in ihrem Tagebuch festgehalten: „I saw Hitler’s writing. I give him six or seven successful years, then horror for all of us.“ Die sieben Jahre waren Ende 1940 vorbei. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni und dem Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 war das Ende der erfolgreichen Jahre Hitlers vorgezeichnet. Das Kriegsende im Mai 1945 brachte dann die russische Diktatur für einen Teil Deutschlands allerdings erheblich früher als von Hannah vorhergesehen. Hannah von Bredows klarer Blick und ihre erstaunliche Fähigkeit zur Vorhersage politischer Entwicklungen werden nicht spurlos an Gottfried von Bismarck vorbeigegangen sein. Verbunden mit ihrer Hartnäckigkeit dürfte sie sein allmähliches, wenn auch spätes Umdenken verstärkt haben. In den späten Jahren des „Dritten Reichs“ unterstützte Gottfried von Bismarck-Schönhausen seine Schwester Hannah regelmäßig, auch wenn es ihn Mühen kostete, sei es in Passangelegenheiten oder im Zusammenhang mit Verhören der Gestapo. Gottfrieds späte Einsicht in das Verbrecherische des NS-Regimes und seine Nähe zu den Verschwörern des Attentatsversuchs vom 20. Juli beantwortete dieses am 29. Juli 1944 mit seiner Festnahme, der anschließenden Anklage vor dem Volksgerichtshof sowie einer KZ- und Gefängnishaft, aus der er erst am 8. Februar 1945 freikam.

Das Leben in der „falschen“ Gesellschaft Hannah von Bredows Neigung zum Umgang mit Menschen, die für manche der ihr Nahestehenden zur „falschen“ Gesellschaft gehörten, zeigte sich bereits vor der Zeit des NS-Regimes und seiner systematischen Einschüchterung, Diskriminierung und Entrech97

tung von Andersdenkenden und Juden. So zeigte Mutter Marguerite von Bismarck beispielsweise im Frühsommer 1932 wenig Gefallen an Hannahs Freundschaft mit Vera von Platen-Stumm. Nach einem Abendessen Hannahs mit der Freundin, an dem auch Max von Oppenheim teilnahm, wollte Marguerite von ihrer Tochter wissen, warum sie „heute noch mit Leuten verkehrte, deren Auffassungen so demokratisch-jüdisch seien.“ Hannah erklärte ihrer Mutter, sie „habe Vera gern und beabsichtige nicht, sie fallen zu lassen, weil sie politisch unklare Meinungen hat.“ Offen muss bleiben, ob Mutter Marguerite Vera von Platen-Stumm wegen deren baltischer Herkunft, die sie an die unorthodoxen Ansichten ihres Schwiegersohns Hermann Graf Keyserling erinnern mochten, ablehnte oder ob ihr deren Heirat mit Carl Gustav von Platen nach nur fünfjähriger Ehe mit Ferdinand von Stumm nicht behagte. Über das einzige Thema, das die Teilnehmer der kleinen Abendgesellschaft an jenem Tag beschäftigte, ließ Hannah von Bredow ihre Mutter sicher im Dunkeln. Denn an besagtem 29. Juni 1932 vermerkt Hannah im Tagebuch: „Gespräch nur über Hitler.“ Hannah von Bredows weiterer Gesprächspartner an diesem Tage, Max von Oppenheim, war eher monarchistisch eingestellt. Der ehemalige Diplomat, Orientforscher und Archäologe hatte in Berlin sein privates Tell-Halaf-Museum mit wertvollen Überresten aus der von ihm ausgegrabenen antiken syrischen Stadt eingerichtet. Während des NS-Regimes konnte der angesehene ‚halbjüdische‘ Privatgelehrte in Berlin auch dank seiner Denkschriften mit Empfehlungen, im Orient panislamische und antibritische Bewegungen zu stärken, weitgehend unbeeinträchtigt leben und wirken. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten stellte sich für Hannah von Bredow im täglichen Leben sehr bald die Frage, wie sie den Umgang mit ihren jüdischen Anwälten und Bankiers weiterhin fortsetzen konnte. Schon am 3. Februar 1933, also nur vier Tage nach dem Machtantritt Hitlers, findet sich in ihrem Tagebuch die Eintragung: „Mein jüdischer Rechtsanwalt Wolff ist so verschreckt, da er nicht weiß, ob er irgendwelche Arbeiten ersprießlich weiterführen kann. Ich habe ihn getröstet.“

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Die Nationalsozialisten hatten Dr. Ernst Wolff, der seit 1929 Vorsitzender der Berliner Rechtsanwaltskammer war, aus diesem Amt bereits entfernt. Hauptberuflich wirkte der renommierte Jurist in der Berliner Anwaltskanzlei Simson–Wolff. Seit Jahrzehnten war die Familie Bismarck-Bredow Klient dieser Kanzlei. Wie seine Eltern und Großeltern war auch Ernst Wolff evangelischer Christ jüdischer Herkunft. Im Februar 1933 konnte Hannah von Bredow ihn vorläufig beruhigen, zumal der „Arierparagraph“ noch nicht in Kraft war. Erheblich besorgter aber traf Hannah ihren Anwalt einen Monat später zusammen mit ihrem Bruder Gottfried in der Kanzlei an: Wolff fürchtete seine Ausbürgerung. Anscheinend gab es Anfang März 1933 bereits ernsthafte Überlegungen zum Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit für Juden, deren Einbürgerung zwischen dem 9. November 1918 und dem 30. Januar 1933 erfolgt war. Das Gesetz trat dann am 14. Juli in Kraft. Gottfried von Bismarck beruhigte Wolff mit dem Hinweis, dass seine „Familien damals ja schon längst in Deutschland lebten“. Weniger beruhigend war indessen Gottfried von Bismarcks ergänzende Bemerkung: „Nur politisieren dürfen Sie und Ihresgleichen nicht mehr, das müssen Sie schon uns überlassen.“ Verwirrt bemerkte Wolff daraufhin: „Das ist ja die Rückkehr zum Ghetto!“ Hannah von Bredow kommentiert das Gespräch in ihrem Brief vom 3. März 1933 an Sydney Jessen: „Es war entsetzlich, und ich war froh, als Gottfried ging, und ich an die Steuererklärung denken konnte.“ In diesen hektischen Wochen voller Gerüchte um die berufliche Zukunft von Anwälten mit jüdischem Hintergrund wusste Hannah von Bredow dennoch zu schätzen, dass ihr Bruder Gottfried bereit war, weiter mit Wolff zusammenzuarbeiten und sich für ihn einzusetzen. Zeitgleich mit der Verkündigung des Berufsbeamtengesetzes erließen die Nationalsozialisten am 7. April 1933 nämlich auch das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ mit seinen Beschränkungen für „nichtarische“ Anwälte. Dr. Ernst Wolf konnte nach dem Gesetz seinen Anwaltsberuf vorerst weiter ausüben, da er als sogenannter Altanwalt unter eine Ausnahmebestimmung fiel. Zwei Jahre später wurde ihm aber sein Notariat entzogen und weitere drei  Jahre darauf mit der Fünften 99

Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 27. September 1938 der Zugang zum Beruf des Rechtsanwalts ganz verwehrt. Ernst Wolff war jedoch bereits zuvor, im Februar 1938, nach England emigriert. Er kehrte 1947 nach Deutschland zurück. Die Besatzungsbehörden ernannten ihn Ende des Jahres zum Vizepräsidenten und am 1. März 1949 zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes der Britischen Zone. Im Jahre 1949 fand auch der erste Deutsche Juristentag nach 1931 unter seiner Präsidentschaft in Köln statt. Ein Jahr darauf verlieh ihm die Kölner Universität eine Honorarprofessur. Bis kurz vor seinem Lebensende Anfang 1959 hielt Wolff Vorlesungen zur Praxis des Zivilrechts. Mit Dr. Walther von Simson, Ernst Wolffs Partner in der Kanzlei, verband Hannah mehr als nur eine sachlich-berufliche Beziehung. Das deutsch-jüdische Ehepaar Simson war ab Ende 1933 oft bei ihr in der Potsdamer Wörtherstraße 15 zu Gast und sie wiederum in deren Villa in der Gilgestraße 7 in Berlin-Schlachtensee. Früh schon beobachteten NS-Kader die Häuser von „Nichtariern“ und registrierten Besuche von und bei ihnen, wie Hannah von Bredow bereits im März 1933 feststellt: „Auf dem Hause der Gutmanns und auf allen anderen jüdischen Häusern hissten S.A.-Leute die Hakenkreuzfahne.“ Hannah ließ sich nicht einschüchtern und pflegte den gesellschaftlichen Verkehr mit den Simsons bis zu Walther von Simsons Tod im Jahre 1943. Vor Aberkennung seiner Anwaltslizenz im Herbst  1938 sah Simson sich bereits im Jahre  1933 verschiedenen Schikanen der Machthaber ausgesetzt. So wurde ihm gleich nach Erlass des „Arierparagraphen“ der Zugang zum Kammergericht in Berlin verwehrt. Simson ließ dies nicht auf sich beruhen und fragte beim preußischen Ministerpräsidenten Hermann Göring nach dem Grund, wo doch sein Urgroßvater Eduard von Simson schon „Liege­christ“, also im Säuglingsalter getauft, und nicht ein später bekehrter „Stehchrist“ gewesen sei. Seine Intervention erbrachte Walther von Simson aber nicht die rote „Arierkarte“, er wurde stattdessen „bastardiert“ erklärt und erhielt lediglich eine monatliche Zulassungskarte auf Widerruf. Im Detail beschreibt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Sydney 100

Jessen den peinlichen Ablauf von Simsons Bemühungen und kommentiert: „Simsons Zustand war nicht der des Herrn Wolff, sondern er nahm die Sache wesentlich kühler, aber mir war es scheußlich.“ Ungeachtet wiederkehrender Aufforderungen aus dem engeren Bekannten- und Freundeskreis, den Kontakt zur Kanzlei Simson– Wolff und zum Ehepaar Simson zu beenden, hielt Hannah von Bredow daran fest. Walther von Simson kümmerte sich lange Zeit um ihre Vermögens- und Steuerangelegenheiten und beriet sie regelmäßig in den schwierigen Jahren 1937 und 1938, als im Scheidungsprozess von Sydney Jessen schwere Vorwürfe gegen sie laut wurden. Das Ehepaar Simson fühlte sich Deutschland als bekennende Christen tief verbunden. Sie waren aktive Mitglieder in der Bekenntnisgemeinde Berlin-Schlachtensee und hielten Bibelkreise in ihrem Hause ab. Ein Bombenangriff am 1. März 1943 zerstörte ihr Haus und beendete ihr Leben. Auch Hannahs jüdischer Bankier Dr. Paul von Schwabach sah sich uneingeschränkt als deutscher Patriot. Er war zum evangelischen Glauben konvertiert und leitete in Berlin das Bankhaus S.  Bleichröder langjährig als Teilhaber. Anfang  des 20.  Jahrhunderts hatte Kaiser Wilhelm  II. den promovierten Historiker aufgrund seiner Verdienste im Bankwesen in den erblichen Adelsstand erhoben. Bis zum Beginn der NS-Herrschaft war Paul von Schwabach über zwei Jahrzehnte Mitglied des Senats der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Dem Bankhaus S. Bleichröder war die Familie Bismarck seit Zeiten des Reichskanzlers Otto von Bismarck eng verbunden. Die Enkel setzten diese Tradition bis zum erzwungenen Ende des Bankhauses im Jahre 1938 fort. Im Jahre des Machtantritts der Nationalsozialisten war Paul von Schwabach bereits 66 Jahre alt, wirkte aber noch mit allen Kräften im Bankhaus. Am 18. April, also knapp zwei Wochen nach Einführung des „Arierparagraphen“, berichtet Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Jessen: „Dem alten Schwabach ist nichts passiert; er hat ein Schreiben bekommen, wonach er sich nicht als Deutscher, sondern als Jude mit deutschem Bürgerrecht zu betrachten hätte.“

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Paul von Schwabach traf diese demütigende Behandlung tief. Mitte August 1933 erlebte Hannah von Bredow ihn in ihrem Haus: „Er ist ein Greis geworden, und ich kann gar nicht sagen, wie unmenschlich leid er mir tut. Es ist grässlich, so einen Menschen zu sehen, dem alles zertrümmert worden ist.“ Ihre Beziehung zu Paul von Schwabach beschränkte Hannah nicht nur auf ihre Bankangelegenheiten. Sie schätzte die gebildete Familie mit den Töchtern Leonie und Vera sowie dem in der Bank S. Bleichröder tätigen Sohn Paul. In den Jahren 1933 bis 1937 verbrachte sie manches Wochenende auf deren Gut Kerzendorf bei Ludwigsfelde und traf Mitglieder der Familie auch in Gesellschaften. Im Jahre 1937 wurde die Familie von Schwabach von einem harten Schlag getroffen. Der 35-jährige Paul von Schwabach Junior, der die Bankgeschäfte nach dem Ausscheiden des Vaters im gleichen Jahr allein übernehmen sollte, starb nach nur kurzer Krankheit. Schweizer Zeitungen sprachen von Selbstmord aus verzweifelter Liebe. Nach den Nürnberger Gesetzen vom  September 1935 war ihm untersagt, die „arische“ Carmen von Wedel zu heiraten.4 Der zweite Schlag erfolgte gleich zum  Jahresbeginn 1938, und Hannah von Bredow schreibt am 30. Januar: „Ich frühstückte gestern mit Herrn und Frau von Schwabach. Sein Pass ist ihm am 27. weggenommen worden, ohne Begründung.“ Gleiches erfuhr Hannah von anderen Bekannten und folgerte: „Das soll allmählich bei allen Juden und Antinazis gemacht werden, damit man an der Hand dieser Kartothek die Leute sofort dingfest machen kann.“ In Berlin diente das Vorgehen einem speziellen Zweck: Polizeipräsident Wolf-Heinrich Graf von Helldorff, ein guter Bekannter von Hannahs Bruder Gottfried, hatte zu Jahresbeginn 1938 „Richtlinien für die Behandlung von Juden“ erlassen. Sie enthielten Verwaltungsschikanen und eine Passsperre für Juden mit Vermögen über 300.000  Reichsmark. Den abgenommenen Pass konnten die Betroffenen nur gegen eine hohes Zwangsgeld, die sogenannte GrafHelldorff-Spende, zurückerhalten.5 Paul von Schwabach musste dann im Februar 1938 erleben, dass das Bankhaus S. Bleichröder „arisiert“ und in den Besitz der Dresd102

ner Bank überging. Kurz zuvor rief er Hannah von Bredow an und unterrichtete sie über die Vorgänge. Diese bat ihren Anwalt Walther von Simson, ab sofort ihre Kreditangelegenheiten mit dem Bankhaus zu verhandeln. Wenige Tage später erlitt Paul von Schwabach einen schweren Herzanfall. Hannah stellte fest, dass die Ärzte zwar helfen konnten, „aber natürlich fehlt jeder Wille zum Leben und da helfen die Mittel allein nicht. Die Wegnahme seines Passes nimmt ihn so mit.“ Paul von Schwabach überlebte die Pogromnacht vom 9. November 1938 nur kurz und verstarb acht Tage darauf. Seine „arische“ Frau Eleonore überlebte ihn in Berlin noch vier Jahre und stand mit Hannah von Bredow bis zu ihrem Lebensende in enger Beziehung. Nach Erlass des „Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15.  September 1935“, einem der beiden sogenannten Nürnberger Gesetze, erlebte Hannah von Bredow den Wahnsinn der NS-Rassenpolitik am eigenen Leib. Alle Deutschen und nicht nur Beamte und Mitglieder von NS-Organisationen, welche bereits im Jahre 1933 ihr „Ariertum“ nachzuweisen hatten, mussten nunmehr ab Anfang 1936 einen lückenlosen Nachweis ihrer Herkunft vorlegen. Im März 1936 schreibt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner ebenso erleichtert wie ironisch: „Die Scherereien mit der arischen Abstammung habe ich hinter mir und kann alles auf Wunsch vorweisen. Bei dieser Gelegenheit haben die Bredows in dankenswerter Weise weit über das notwendige Maß hinausgearbeitet und festgestellt, dass mein Mann nicht 16, nicht 32, nicht 64, nein 128 und noch mehr uradelige Ahnen gehabt hat und dadurch theoretisch jedem regierenden Fürstenhause ebenbürtig und an Ahnenzahl überlegen sei. Da die Bredows seit 1100 in der Mark sitzen und fast nie außerhalb der märkischen Grenzen geheiratet haben, ist es leicht festzustellen gewesen. Der einzige Schuss „Slavenblut“ ist durch meine Schwiegermutter hineingekommen, aber auch sehr verwässert, da die Stechows seit Generationen stark nach Hannover tendiert und viele Wenses, Voß, Platens etc. geheiratet hatten.“

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Über das Ehepaar Paul und Eleonore von Schwabach entwickelte Hannah von Bredow auch eine Freundschaft zu deren Töchtern Leonie und Vera. Diese waren fünf bzw. sechs Jahre jünger als Hannah und beide seit dem Jahre 1919 verheiratet. Leonie von Schwabach, auch Lally genannt, heiratete den Diplomaten Alfred Horstmann. Das Ehepaar führte bis zum Kriegsende ein geselliges Haus auf dem Gut Kerzendorf. Alfred Horstmann hatte schon ein langes Diplomatenleben hinter sich, als er sich im Jahre 1933 weigerte, den Nationalsozialisten zu dienen und daraufhin den Dienst quittierte. Eigenes Vermögen erlaubte dem Privatier, im Ruhestand seinen Neigungen als Sammler von altem Meissner Porzellan, wertvollem Silber, feinem Glas und antiken Kunstwerken nachzugehen. Mit Leopold von Bredow, Hannahs kunstsinnigem Mann, stand Horstmann schon vor der Zwangspensionierung in engerem Kontakt. Hannah selbst sah Alfred Horstmann deutlich kritischer als ihr Mann. Sie fand, er habe eine snobistische Art und ein aufdringliches Wesen. Viel gab sie aber auf die ausgewählte Geselligkeit bei den Horstmanns, zu der alles, was Geist, Rang und Namen in Berlin hatte und dabei die Hitlerideologie ablehnte, sich im Salon und auf den berühmten Festen in Kerzendorf traf. An einem Abend im Februar 1936 erfuhr Hannah von Bredow, wie sie ihrerseits von Alfred Horstmann eingeschätzt wurde. Mit ihrem feinen Gehör konnte sie einem Gespräch des Gastgebers mit dem Schriftsteller Friedrich Sieburg lauschen: Hannah, so Horstmann, habe „keine Sympathie für Männer“, sei „völlig ungeeignet zum Flirt, gar nicht handlich, sondern nur rein geistig und tugendhaft bis zur Verzweiflung. Man hat keine Freude an ihr.“ Notgedrungen, so Horstmann weiter, habe er Hannah aber früher wegen seines Freundes Leopold in Kauf nehmen müssen und heute seinen Schwiegereltern zuliebe, „weil sie ihnen nämlich die Treue hält, und das ist ja immerhin etwas, denn die Wenigsten tun es.“ Lally Horstmann emanzipierte sich früh von ihrem um 19 Jahre älteren Mann. Die umfassende Bildung und umfangreichen Literaturkenntnisse der 28-Jährigen wusste im Jahre  1926 auch der Dichter Rainer Maria Rilke zu schätzen, als er mit Lally im schweizerischen Sanatorium Val-Mont über drei Monate in Verbindung 104

stand. Rilke war Lally bereits früher in Berlin begegnet. Im Sanatorium trafen sie sich täglich und korrespondierten darüber hinaus von März bis Juni 1926. Rilkes später veröffentlichte  Briefe an Lally zeigen ihn beeindruckt von ihrer literarischen Bildung sowie ihrer herben und exotischen Ausstrahlung.6 In ihrer Autobiographie ging Lally im Jahre 1953 ausführlicher auf ihre Begegnung mit Rilke ein. Ihre in London veröffentlichten Aufzeichnungen, in denen sie detailliert und amüsant ihr Gesellschaftsleben in den letzten Jahren des „Dritten Reichs“ sowie unter russischer Besatzung schildert, fanden in England ein großes Echo.7 Das Anwesen der Horstmanns in Kerzendorf lag nach dem Krieg in der sowjetisch besetzten Zone und war zunehmend Plünderungen ausgesetzt, sodass Lally Horstmann Anfang Juli 1946 mehrere Monate lang Unterkunft bei Hannah von Bredow fand. Zu dieser Zeit war Alfred Horstmann bereits in sowjetischer Haft. Dem früheren Miteigentümer des „Frankfurter Generalanzeigers“ wurde Propaganda für die Nationalsozialisten vorgeworfen. Er verschwand im NKWD-Lager Sachsenhausen und starb dort im  Mai 1947 an Unterernährung. Lally Horstmann wanderte nach Brasilien aus und veröffentlichte ein Jahr vor ihrem Tod im August 1954 ihre Lebenserinnerungen, in denen sie auch ihre Freundschaft mit Hannah schildert. Lallys Schwester Vera lebte mit dem Bankier Eduard von der Heydt bis 1927 nur wenige Jahre und kinderlos zusammen. Bereits im ersten Jahr der „nationalen Erneuerung“ verließ sie das Deutsche Reich und emigrierte nach England. Sie begann als Verlagslektorin, wendete sich aber bald der Psychoanalyse zu und ließ sich zur Therapeutin ausbilden. Kurz nach Kriegsbeginn war sie in Edinburgh am Aufbau einer psychiatrischen Klinik beteiligt. Nach Kriegsende absolvierte sie eine dreijährige psychoanalytische Fortbildung bei C. G. Jung in Zürich, wo sie auch den Kontakt zu Hannah von Bredow erneuerte, die damals in Basel lebte. Ab den 1950er-Jahren führte Vera von der Heydt-Schwabach bis ins hohe Lebensalter in London eine eigene Praxis und machte Jungs Lehren in Vorträgen populär. Ihre Passion für die Psychoanalyse begründete sie damit, 105

dass sie den Riss zwischen ihrem jüdischen und arischen Erbe zu heilen bemüht war. Im hohen Alter von 97 Jahren endete ihr Leben Ende 1996 in London.8 In direktem und regelmäßigen Kontakt auch während des „Dritten Reichs“ stand Hannah von Bredow mit Lilly von Schnitzler, die sie in den 1920er-Jahren in der „Schule der Weisheit“ ihres Schwagers Hermann von Keyserling kennengelernt hatte. Wie zuvor in Frankfurt, so führte Lilly auch in Berlin einen gern besuchten Salon für die obere Gesellschaft. Hannah wusste zu schätzen, dass sie in Lillys Heim in der Hohenzollernstraße 23 regimekritische Künstler und Literaten, aber auch Diplomaten und Anhänger des NS-Regimes aus Wirtschaft und Politik antreffen konnte. Sie war von Lillys Bildung, ihrer offenen Sprache, ihrem Zugang zu NS-Größen, aber auch ihrem Mäzenatentum für verfemte Künstler beeindruckt, weniger von ihrer Sympathie für den Nationalsozialismus und ihren Snobismus. Lilly von Schnitzler stammte aus der begüterten rheinischen Industriellenfamilie von Mallinckrodt und hatte im Jahre 1910 Georg von Schnitzler geheiratet. Dieser machte nach einem Jurastudium eine Karriere bei den Farbwerken Hoechst und später bei den I.G. Farben in Frankfurt. Im Februar 1933 zählte er zu der Gruppe von Industriellen, die Hitler im Amtssitz Görings zusagten, seinen Wahlkampf für die Märzwahlen 1933 zu finanzieren. Im Jahre  1934 schloss Georg von Schnitzler sich im Range eines Hauptsturmführers der SS an und wurde 1937 auch Mitglied der NSDAP. Ein Jahr später entwickelte er für die I.G. Farben ein Finanzsystem, das deutschen Zeitungen in der Tschechoslowakei Propagandaaktionen ermöglichte.9 Dank weiterer Dienste für das NS-Regime wurde Schnitzler im Jahre 1942 von Hitler zum Wehrwirtschaftsführer ernannt. Auch Lilly von Schnitzler zeigte sich angetan von Hitlers „Bewegung“. Hannah von Bredow erlebte sie bereits Anfang April 1932 bei einem Frühstück in Potsdam als Sympathisantin: „Sie ist Nazi geworden, ihre schönen, wohlgebildeten Töchter von 22 und 13 Jahren erst recht. Sie besinnt sich auf ihr rein arisches Blut und spricht mit toller Begeisterung vom Osaf (Oberster Sturmabteilungsfüh106

rer)“. Lillys Begeisterung galt demnach Ernst Röhm, der am 1. Juli 1934 auf Befehl Hitlers im Gefängnis Stadelheim erschossen wurde. Dank der Kontakte Lilly von Schnitzlers zu hohen Vertretern des NS-Regimes erhielt die stets am politischen Geschehen interessierte Hannah von Bredow in den folgenden Jahren direkten Einblick in das Machtgefüge des NS-Staates. Lilly offenbarte Hannah Gesprächsinhalte, die diese wiederum akribisch an Sydney Jessen weiterberichtete. Auch Hjalmar Schacht, Reichsbankpräsident von 1933 bis 1939 und zwischenzeitlich Reichswirtschaftsminister von 1934 bis Ende 1937, war ein gern gesehener Gast der Schnitzlers in kleiner Runde. So erfuhr Hannah von Bredow nach einem Essen der Schnitzlers mit Schacht im Februar 1936 von dessen Auseinandersetzung mit Hitler, in der es um die mangelnde Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ging. Da Schacht die erforderlichen Devisen für den Import nicht beschaffen konnte, beauftragte Hitler den damaligen Luftfahrtminister Hermann Göring mit der Aufgabe. Schacht habe getobt und gedroht, so Lilly, was Hannah veranlasste festzustellen, dass er seine Grenzen erkannt und den Abgang vorbereiten wollte. Lilly unterstellte Hannah böse Absichten und verteidigte Schacht als untadeligen Mann. Dieser trat dann erst im November 1937 vom Ministeramt zurück, nachdem er aufgrund der fortschreitenden Geldentwertung erfolglos auf einer Konsolidierung der Finanzen bestanden hatte. Bei größeren Essen im Hause Schnitzler traf Hannah von Bredow stets auf eine gemischte Gesellschaft. Mitte  Februar 1937 erlebte sie unter Politikern, Diplomaten und Musikern auch den Maler Max Beckmann. Hannah hatte keinen direkten Zugang zur zeitgenössischen Kunst und kam nur mühsam mit dem Maler ins Gespräch. Sie zeigte sich „amüsiert über Beckmanns devoten Ton“ und erlebte seine Frau als „eine schlechte Vorstadtbühnenlulu mit angeleimten Augenbrauen.“ Von Lilly von Schnitzler hatte Hannah erfahren, dass Beckmann mit Machtantritt der Nazis der Lehrauftrag an der Kunstgewerbeschule in Frankfurt entzogen worden war. Er galt als „entarteter Künstler“ und emigrierte mit Lillys Hilfe nach Amsterdam, als im Sommer  1937 in München seine Bilder 107

in der NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt wurden.10 Lilly von Schnitzler, die Max Beckmann schon in den 1920er-Jahren gefördert hatte, unterstützte ihn auch im Exil. Sie besaß rund zwei Dutzend seiner Gemälde. Einige von ihnen hingen in ihrem Berliner Salon. Wenn sich bei ihr und ihrem Mann hohe Nazigrößen einstellten, ließ sie die Bilder hinter einem Vorhang verschwinden. Beckmann bewunderte Lillys Mut und war dankbar für ihre Unterstützung: „Aber sonst ist die Mischung von Begeisterung für das Regime und für mich schwierig zu ertragen,“ schreibt er in einem seiner Briefe.11 Nach Kriegsende gründete Lilly von Schnitzler in ihrem Domizil im bayerischen Murnau, dem „Haus Lilamor“, die Max-BeckmannGesellschaft, zu deren erstem Vorstand sie zählte. In Murnau starb sie hochbetagt im Jahre 1981. Georg von Schnitzler wurde nach dem Krieg von der US-Armee inhaftiert und im Sommer 1948 im Nürnberger I.G.-Farben-Prozess zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Man warf ihm vor, dass er die Hauptverantwortung für die Ausbeutung von französischen und polnischen Chemiebetrieben trug, um die Vormachtstellung der I.G. Farben in Europa zu sichern. Unter Anrechnung seiner Untersuchungshaft wurde er 1949 vorzeitig entlassen. Bis zu seinem Tod im Jahre 1962 war er Präsident der Deutsch-IberoamerikanischenGesellschaft. Schnitzlers I.G. Farben war in der NS-Zeit nicht nur im Ausland aktiv, sondern neben der Finanzierung von Hitlers  März-Wahlkampf im Jahre 1933 gleich zu Beginn der NS-Zeit auch Förderer der Dirksen-Stiftung. Deren Zweck war es laut den Statuten, „im Interesse der Allgemeinheit den Führern der nationalsozialistischen Bewegung eine Stätte zu schaffen, in welcher sie außerdienstlich mit führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, der Landwirtschaft, der Arbeit, des Handels, der Industrie, der Wissenschaft und der Kunst, sowie mit heranzubildenden Führernachwuchs zusammentreffen können.“12 Die Mitgründerin Victoria von Dirksen hatte der Stiftung ihren Namen gegeben und setzte sich mit allen Kräften für das Satzungsziel ein. Hannah von Bredow war schon in den 1920er-Jahren zusammen mit ihrem Mann Leopold häufiger Gast in der Berliner Villa des 108

Gutsbesitzers und Diplomaten Willibald von Dirksen und seiner Frau Victoria gewesen. Nach dem Tod von Willibald von Dirksen im Jahre 1928 machte seine Frau den Salon in der Margarethenstraße Nr. 11 rasch zum Mittelpunkt der damaligen Berliner und Potsdamer Gesellschaft. In diesen  Jahren trat die Hausherrin als Gastgeberin von nachmittäglichen Teerunden und abendlichen Banketten sowie als Veranstalterin des einflussreichen politisch-gesellschaftlichen Salons „Hof“ auf. Zu ihren Gästen zählten Reichspräsident Paul von Hindenburg und sein Sohn Oskar, die Generäle von Hammerstein und von Schleicher, der Zentrumsführer Heinrich Brüning, der ehemalige deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm, der italienische Diplomat Graf Ciano sowie die NS-Größen Hermann Göring, Franz von Epp und Joseph Goebbels.13 Der Salonière Victoria von Dirksen wurden Beredsamkeit, Klugheit und Temperament nachgesagt, vom französischen Botschafter André François-Poncet allerdings auch eine „erprobte Taktlosigkeit“. Hannah von Bredow konnte ihm hierin durchaus zustimmen. So erlebte sie im Winter 1926 auf einem der Dirksen-Bälle, wie ihr die Gastgeberin quer durch den Saal zurief: „Ist es wahr, dass Sie diese langen Ärmel immer wegen Ihres Mutter­males tragen müssen? Wie weit geht denn das ’rum? Das muss doch scheußlich sein.“ In aller Ruhe gab Hannah der Fragenden die erwünschte Auskunft, konnte sich verständlicherweise mit Viktoria von Dirksen aber nie anfreunden. Dennoch wollte sie die Möglichkeit nicht missen, in ihrem Salon Neuigkeiten über politische und gesellschaftliche Entwicklungen zu erfahren. Zur politischen Umtriebigkeit der Victoria von Dirksen stellt Hannah von Bredow Mitte  März 1933 neidlos fest: „Bisher steht Frau von Dirksen als einzig anerkannte weibliche ‚Führerin‘ da; Hitler selber heftete ihr das sonst nur von Männern getragene Führerabzeichen an die Brust.“ Zuvor hatte Victoria von Dirksen ihre Kontakte zum Reichspräsidenten von Hindenburg genutzt, um bei ihm für Hitler und seine Ziele zu werben. So hatte Joseph Goebbels am 22. Januar 1933, knapp eine Woche vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, über die Bemühungen seiner Freundin Victoria von Dirksen, Hindenburg zugunsten einer 109

Ernennung Hitlers zum Kanzler zu beeinflussen, vermerkt: „Frau Dirksen arbeitet mächtig.“14 Nachdem diese es im  Oktober 1933 aber nicht für nötig befunden hatte, Hannah von Bredow zum Tod ihres Mannes Leopold zu kondolieren, stellte Hannah ernüchtert fest: „Ja, die Dirksen ist eben die Vertreterin der neuen Richtung, wie sie sie versteht, deshalb jeder Form abhold.“ Laut Hannah von Bredows Briefen und ihren lückenlosen Tagebucheintragungen, in denen Einladungen akribisch vermerkt und beschrieben sind, wurde sie erst Anfang 1937 wieder in den ­Salon Dirksen geladen. Sie passte nicht in die „gute“ Gesellschaft der ­Nationalsozialisten. Im Februar 1937 versuchte Victoria von Dirksen es noch einmal mit einer Einladung an Hannah. Diese berichtet Sydney ­Jessen allerdings wenig Erfreuliches über ihre Begegnung mit den Anhängern Hitlers: „Merkwürdig ist dieser kampflustige und doch verschlagene Blick der Marianer [Nationalsozialisten]; bei Frau von Dirksen fiel mir das so auf. Sie beobachten einen und lauern sehnsüchtig auf etwas. Es ist nur menschenfreundlich, ihnen entgegenzukommen. Wenn sie glauben, Goldkörner aus dem Strom der Rede gewaschen zu haben, und zu spät merken, dass es nur Glimmer ist, zeichnet sich ihr Ausdruck nicht gerade durch Geist, wohl aber durch Rachsucht aus, und das ist entschieden komisch.“ Weniger komisch wirkte auf Hannah von Bredow Mitte Februar 1937 der Bericht ihrer Freundin Lilly von Schnitzler über ein Essen im Hause Dirksen, bei dem Lilly, Hannahs Bruder Otto und Frau Ann Mari sowie Adolf Hitler zu Gast waren. Lilly war aufgefallen, „dass Hitler ausschließlich mit Otto und Ann-Mari gesprochen und beide in jeder Richtung ausgezeichnet hätte.“ Erheiternd fand Hannah dagegen die Charakterisierung der Victoria von Dirksen durch den französischen Botschafter André François-Poncet: „Frau von Dirksen ist eine Art deutsche Jungfrau von Orléans. Die Unsere war wenigstens jung, und die Engländer haben sie rechtzeitig verbrannt.“ Knapp ein Jahr nach Kriegsende starb die 72-jährige ­Victoria von Dirksen am Ort ihrer Geburt, auf dem niedersächsischen Gut Dannenbüttel. 110

Mit Vertretern des diplomatischen Korps in Berlin, und so auch mit André François-Poncet, traf Hannah von Bredow häufiger bei Empfängen zusammen. Sie war bei den Diplomaten geschätzt, weil sie außer in geschliffenem Deutsch auch in perfektem Englisch und Französisch geistreich und schlagfertig zur Konversation beitragen konnte. Dass Hannah auch an Diplomatenessen in kleinerem Kreis bei Vertretern von nicht befreundeten Staaten teilnahm, mussten prominente Nationalsozialisten notgedrungen akzeptieren, weil sie ebenfalls solchen Einladungen regelmäßig folgten. André François-Poncet vertrat sein Land von  September 1931 bis  Oktober 1938 in Berlin, in einer Zeit zunehmender Spannungen mit dem Deutschen Reich. Schon kurz nach seiner Ankunft scheiterte das ab Anfang 1931 verhandelte deutsch-österreichische Projekt einer Zollunion am Widerspruch Frankreichs und führte zu Missstimmungen in Berlin. Frankreich beurteilte das Zollprojekt als Vorstufe zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und zu dessen Machtausdehnung auf Südosteuropa. Gegen den Vertreter Frankreichs in Berlin hatte Hannah von Bredow erhebliche Vorbehalte, als er sich Ende 1931 aktiv um die Einschränkung der Macht Deutschlands bemühte und sich nicht nur gegen eine Ausweitung aussprach. Dieses Anliegen konnte Hannah einem privaten Gespräch Kurt von Schleichers, dem damaligen Chef des Ministerrats im Reichswehrministerium mit François-­ Poncet entnehmen, über dessen Inhalt ihr Vertrauter Erwin Planck ihr im Oktober 1931 berichtete. Schleicher hatte François-Poncet im Verlauf des Gesprächs zu verstehen gegeben, dass das deutsche Volk ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein habe, „das tiefer säße, als F.-P. ahnte, und warnte letzteren vor allzu starken Umtrieben in Bayern.“ Hannah von Bredow war davon überzeugt, dass François-Poncets Bestreben dahin gehe, die Desintegration und Zerstückelung des Reichs in Form eines „Fürstenbundes“ voranzutreiben: „In Württemberg und Baden ist er abgeschmiert, aber in Bayern kokettiert man mehr denn je mit ihm“, stellt sie ergänzend und unwillig fest. Aufgrund seiner perfekten Deutschkenntnisse, der gewandten Formen und direkten Sprache erwarb sich der Germanist André 111

François-Poncet nach Hitlers Machtantritt das Wohlwollen des „Führers“. Vizekanzler Franz von Papen stellte seinerseits fest, dass Adolf Hitler „Herrn Poncet mehr als alle übrigen Diplomaten schätzt.“ François-Poncet besaß die Gabe, Hitlers ausufernden Reden geduldig zuhören zu können und in zahlreichen Gesprächen mit ihm manches über dessen Absichten zu erfahren. Als das Deutsche Reich im  März 1935 wieder die Wehrpflicht einführte, als Hitler genau ein Jahr später das Rheinland besetzte und als die Wehrmacht im  Februar 1938 in Österreich einmarschierte, riet François-Poncet in seinen Berichten für Paris jeweils zu Sanktionen der Westmächte. Mit seinen Warnungen fand der Botschafter bei seiner Regierung indessen kein Gehör.15 Die Prominenten des Dritten Reiches, einschließlich Adolf Hitler, wähnten François-Poncet auf ihrer Seite, wie dieser feststellte. Er kommentierte: „Sie waren naiv in ihrem Zynismus und verstanden nicht, dass man Deutsch sprechen und von deutschen Dingen etwas verstehen könne, ohne ihnen beizustimmen und sie und ihr Tun zu bewundern.“ Zumindest mit Blick auf ihren „Führer“ war die Ansicht der NS-Prominenz nicht aus der Luft gegriffen: Bis zum Dienstende des französischen Botschafters in Berlin konnten Besucher im Salon seiner Residenz ein Hitlerbild mit Widmung auf dem Deckel des Flügels bewundern.16 Hannah von Bredow stand ab dem Frühjahr 1936 auf der Gästeliste des Ehepaars François-Poncet. Die erste Einladung kam völlig überraschend, wie sie Sydney Jessen am 6. März mitteilt: „Am 14. bin ich – urplötzlich und ohne Grund – mittags zu François Poncet eingeladen worden. Ich werde, da mein Zug ja erst abends fährt, hingehen. Ich möchte die Leute sous le coup de ces nouvelles beobachten.“ Hannah hatte offenbar Hinweise erhalten, dass einen Tag später, am 7. März 1936, Soldaten der Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland einmarschieren würden und das Deutsche Reich damit sowohl den Versailler Vertrag von 1919 als auch den Locarno-Pakt aus dem Jahr 1925 brechen würde. Es war Hannah von Bredow allerdings verwehrt, ihre Neugier in der Residenz des französischen Botschafters zu befriedigen, denn am 11. März 1936, drei Tage vor dem geplanten Essen, er112

hielt sie eine Karte von Madame François-Poncet mit der knappen Mitteilung, dass das Essen bedauerlicherweise verschoben werden müsse. Hannah stellt daraufhin fest: „Zwei Sachen sind komisch: Erstens, dass nur sie, und zweitens, dass sie absagt (oder umgekehrt), denn das spricht Bände. Ich werde heute bei den Chilenen das ganze C.D. [Diplomatische Corps] treffen und meine Erkundigungen einziehen. Sie wollen scheinbar keine Deutschen sehen.“ Die Form der Essensabsage lässt die tiefgehende Verärgerung der Franzosen über die Rheinlandbesetzung erkennen, die dann auch nichtoffizielle Deutsche zu spüren bekamen. Hannah von Bredow musste recht lange warten, bevor sie erneut in die französische Residenz gebeten wurde. Mit ihren Töchtern Marguerite und Alexandra war sie zu einem Ball eingeladen und beschreibt Jessen im Detail das Tanzvergnügen am 7.  Februar 1937. Der Gastgeber „war sehr mitteilsam, wann wäre er das nicht?“, ergänzt sie. André François-Poncet, von Hannah auch Frappo genannt, berichtete ihr unter anderem von einem Gespräch mit Hermann Göring, wonach dieser jeden Träger des Namens Bismarck unsympathisch finde. Er sei darüber hinaus von NS-Vertretern darauf hingewiesen worden, dass „429 verrückt sei, und dass man dennoch Maßnahmen werde treffen müssen, um 429 zu belehren oder dingfest zu machen.“ Die Zahl 429 benutzte Hannah seit dem Frühjahr 1936 in ihren Briefen an Jessen als ihren Decknamen. Die Aussagen des Botschafters kommentierte sie nicht weiter. Mitte Februar 1937 begegnete Hannah von Bredow dem französischen Botschafter erneut bei einem Essen, zu dem sie zusammen mit ihren Brüdern und anderen Gästen beim früheren Diplomaten Richard von Kühlmann eingeladen war. Hannah fiel auf, dass der französische Botschafter die Zustände in Deutschland deutlich kritisierte und dass „die Leute unruhig wurden.“ Sie „fand es richtiger, nach einiger Zeit aufzustehen, denn meine Geschwister taten mir leid.“ In ihrem Schreiben an Sydney Jessen wurde Hannah von Bredow nicht konkreter. Möglicherweise hatte François-Poncet die international beachtete wachsende Verfolgung von Christen in 113

Deutschland beanstandet. Diese hatte ab Herbst  1936 verstärkt eingesetzt, nachdem eine an Hitler gerichtete Denkschrift der Bekennenden Kirche mit Kritik am antichristlichen Geist der nationalsozialistischen Weltanschauung, am Antisemitismus sowie den Konzentrationslagern veröffentlicht worden war. Ohne Spannungen verliefen auch die Abende nicht, zu denen Hannah von Bredow von André François-Poncet im Juni und August 1937 eingeladen wurde. Am ersten Abend nutzte der Botschafter Hannah mit ihren perfekten Französischkenntnissen als Dolmetscherin für den Admiral Erich Raeder. Dieser hatte seine Regimetreue bereits früh bewiesen, zumal es ihm gelungen war, „im Jahre 1933 die Marine geschlossen und reibungslos dem Führer in das Dritte Reich zuzuführen.“17 Hannah verstieß vermutlich gegen Raeders Ehrgefühl, als sie ihn beim Essen in einer Sachfrage korrigierte, was diesen veranlasste, sie bei der Gestapo als französische Spionin zu denunzieren. Über diese ihr zugeschriebene Rolle klärte sie ein Gestapomann im November 1937 bei einem Verhör in Potsdam auf. Gast des französischen Botschafters war auch Wilhelm von ­Wedel. Von einem Gespräch François-Poncets mit Wilhelm von Wedel, dem Potsdamer Gestapochef, erfuhr Hannah durch ihren Bruder Otto. Dieser erörterte – wie eine Woche zuvor Bruder Gottfried nach Einzug von Hannahs Pass am 18. Januar – mit Wedel am 30.  Januar 1938 den „Fall“ seiner unbotmäßigen Schwester und trug Hannah zu, zu welch erstaunlicher Wertung ihrer Person der französische Botschafter nach Wedels Aussagen gekommen war: „Man sieht daran, dass Frau von Bredow noch immer nicht im Gefängnis sitzt, wie ungeheuer großzügig das Dritte Reich ist.“ Hannah von Bredow kommentiert diese Mitteilung ernüchtert: „Gott schütze mich vor meinen Freunden, vor meinen Feinden will ich mich schon selber schützen, möchte ich Frappo sagen.“ Den Brief vom 30. Januar 1938, in welchem sie Jessen ausführlich das Gespräch von Bruder Otto mit Wedel schildert, überschreibt Hannah mit der Frage: „Five years of concentrated hell and how many more are to come?“ Ihren Vertrauten forderte sie auf, den Brief nach Lektüre umgehend zu verbrennen. 114

Lediglich in Hannah von Bredows Tagebuch, nicht aber in ihren  Briefen mit ihren stets detaillierten Schilderungen gesellschaftlicher Ereignisse, findet sich für den 3. Juli 1938 der knappe Eintrag eines Essenstermins mit François-Poncet und für den 25.  Oktober die Einladung zu einer Abschiedsparty für ihn. Angesichts der Denunziation Raeders und der von Wedel wiedergegebenen Äußerung François-Poncets war Hannahs Interesse an Treffen mit dem Botschafter vermutlich erlahmt. Nach seinen Berliner Jahren vertrat André François-Poncet sein Land bis 1940 in Rom und wurde nach der Niederlage Frankreichs Berater des Vichy-Regimes. Zu Beginn der deutschen Besetzung von Vichy-Frankreich wurde er im November 1942 inhaftiert und bis Anfang  Mai 1945 im Kleinen Walsertal gefangen gehalten. Nach Deutschland kehrte François-Poncet als Hoher Kommissar Frankreichs im Jahre 1949 zurück und blieb dort, zuletzt als Botschafter, bis Mai 1955. Geehrt mit der Mitgliedschaft in der Académie Française und Ehrendoktoraten deutscher Universitäten starb André François-Poncet im Jahre 1978 hochbetagt in Paris. Im  November 1937 machte die allwissende Gestapo Hannah von Bredow mit ihrer Rolle als französische Spionin bekannt. Zwei Monate später, im  Januar 1938, hatte Bruder Otto von Bismarck dann das schon erwähnte Gespräch mit Gestapochef von Wedel über seine Schwester. Wedel legte ihm das ‘Sündenregister‘ aller bisher von der Gestapo registrierten Verfehlungen seiner Schwester vor. Ihre vermeintliche Spionagetätigkeit für Frankreich gründete u. a. auf dem grotesken, aber zeittypischen Vorwurf, dass sie „Ausländerei treibe, fremde Sprachen spreche und viel und ausgiebig ins Ausland fahre.“ Wilhelm von Wedel konstatierte darüber hinaus als weitere Verstöße der Hannah von Bredow gegen die NS-Normen, dass sie „nie den Hitlergruß mache“ und ihren „Verkehr möglichst auf dubiose Elemente und Juden konzentrierte.“ Ebenso gravierend war der Vorwurf, Hannah sei Mitglied der Bekennenden Kirche. Dieser oppositionellen Bewegung evangelischer Christen gegen Versuche, Lehre und Organisation der Deutschen Evangelischen Kirche mit dem NS-Regime gleichzuschalten, war sie aus tiefer Überzeugung 115

beigetreten, eine Woche bevor dieser in Brandenburg am 2.  Dezember 1935 jegliche kirchenbehördlichen Befugnisse entzogen wurden.

In der Wertegemeinschaft ‚Bekennende Kirche‘ Trost und Halt fand Hannah von Bredow Zeit ihres Lebens in der Religion, im protestantischen Glauben. Seit früher Jugend las sie die Bibel und die täglichen Losungen. Ihrem Vertrauten Sydney Jessen gestand sie schon früh: „Sie wissen, dass ich auf diesem Gebiet verlegen bin: alles, was man sagt, klingt leicht anmaßend. Ich meine damit aber nichts weiter, als dass ich mein Gefühl für Gott einfach nicht ausrotten könnte, selbst wenn ich’s wollte; und dass ich die nicht sichtbare Welt so stark spüre, ist schließlich nicht meine Schuld, nicht mein Verdienst. Es lebt ‚inwendig in mir‘ und es hilft mir, wenn die Sachen ganz arg sind; aber da ich feige und miserabel bin, muss ich oft drum kämpfen. Das wissen Sie ja, und ich weiß ebenso sicher, dass Sie genau so sehr ‚im Schutze‘ wandeln wie ich. Es macht nichts aus, dass Sie lieber ‚Schicksal‘ sagen, und ich Gott. Es ist ja nur das Gewisse, was man nicht in Worte kleiden kann, und das nur der versteht, der Ehrfurcht zu empfinden vermag.“ Hannahs Verehrung für ihren Großvater Otto von Bismarck beruhte nicht zuletzt auf dessen von ihr nachempfundener Unbedingtheit des Glaubens. Ihrem Vertrauten Jessen zitiert sie aus einer Reichstagsrede Bismarcks: „Nehmen Sie mir meine Verbundenheit mit Gott – ich lege am selben Tag alle meine Ämter nieder, denn ohne dieses Einssein mit Gott bin ich zu nichts fähig.“ Zu dem bissigen Kommentar ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Goedela, dass Hannah nur deshalb gläubig sei, weil ihr Großvater es gewesen sei, erklärt Hannah: „Ich will viel lieber stundenlang Dinge über meine Hässlichkeit und mein Alter hören als solche Bemerkungen wie ‚Nur die Schwachen brauchen solche Stützen‘“. Ihrer Schwester Goedela warf Hannah vor, dass sie „ihre Religion nur bis zu ihrem Hochzeitstag gebraucht“ habe. Für Goedela 116

existiere „kein Gottesbegriff, sie sieht in ihrem Hermann das einzig Anbetungswürdige und weiß mit dem Jenseits nichts anzufangen. Das Leben ist ihr das Maßgebende, daher die entsetzliche, schaudernde Angst vor dem Tod – weil sie ihn, ebenso wie meine Mutter, für Trennung und Vernichtung hält.“ Bei den anderen Geschwistern erlebte Hannah neben Glauben auch „sehr viel Aberglauben, der sich dem Glauben friedlich vermählt; bei Otto geht es am tiefsten, darum leidet er ganz innen am meisten und darum ist er so unruhig, eifersüchtig, aufgeregt und gespalten.“ Ihren Bruder Gottfried sah Hannah von Bredow im Glauben „so darin versponnen, so absolut sicher, so ganz ohne fragende Zweifel, dass er die Hülle nur zerreißen und mit einem Ruck fortwerfen konnte; diese einmalige Kraft hat er zu finden vermeint, und hat den Sprung in das Nur-Hiesige mit geschlossenen Augen gemacht, die Konsequenzen eisern tragend.“ Ihren jüngsten Bruder Albrecht charakterisiert Hannah als „ganz abergläubisch und deshalb auf seine Art ganz gläubig: ‚Man kann nie wissen …‘“ Hannah von Bredow kannte keine Glaubensgewissheit. Früh erkannte sie, „welche Gefahr der Überheblichkeit in einem Menschen liegt, der glauben kann. Die unendliche Weite, die einem durch diese völlig unverdiente und unerklärliche Gnade zu Teil wird, die Sicherheit, die einen nie verlässt, können im Nu in Selbstgerechtigkeit ausarten und damit zur Gefahr statt zur Hilfe werden …“ Den Halt, welchen der Glauben Hannah von Bredow gab, erklärt sie ihrem Briefpartner in wenigen Worten: „Ich weiß, dass ich sehr viel schwächer und kleinmütiger bin als andere Menschen, und dass ich nicht existieren kann, wenn ich nicht vor dem Einschlafen aus Allem herausrutschen und mich freimachen kann, so als wäre ich gar nicht auf dieser Erde, aber ich tue damit niemand weh, und ich muss für meine Kinder beten; ohne das geht es nun einmal nicht.“ Leopold von Bredow, ihrem früh verstorbenen Mann, setzte Hannah nach dessen Tod am 1. Oktober 1933 einen Grabstein mit den Worten: „Du hast mein Leben aus dem Verderben errettet, Herr, mein Gott.“ Nach dem langen Leiden ihres Mannes erklärt 117

sie, wie ihr bewusst wurde, dass nichts umsonst war, denn „es kommt im Leben nur auf die Dinge an, die aus dem Glauben geboren werden und die einen zur demütigen Erkenntnis vorbereiten.“ Ein christliches und humanes Menschenbild war für sie Maßstab ihrer Überzeugungen. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten verfolgte Hannah von Bredow die Entwicklung in der evangelischen Kirche zunächst noch mit spöttischem Unterton. Im April 1933 stellt sie fest, dass diese jetzt umgeändert werden soll, „und zwar wollen die ganz Wilden statt des Alten Testaments die ‚Edda‘ einführen. Ach, wie kindisch das alles ist.“ Bald aber wuchs Hannah von Bredows Sorge über verschiedene religiöse Bewegungen, und im  Dezember 1933 tauscht sie sich mit Sydney Jessen über die Entwicklung aus: „Wenn Sie mit dem ‚Reventlow’schen Bund‘ die ‚Deutschen Christen‘ meinen, so kann ich nur annehmen, dass Ihre Sympathie für Bruder Hossenfelder + Cie. auf Unkenntnis beruht. Das sind ganz lächerliche Leute. Ich kann über Religion darum schwer reden, weil ich auf diesem Gebiet einerseits zu schrankenlos individualistisch empfinde, andererseits mich so vollkommen ‚gottverbunden‘ fühle oder, wie man’s nennen will, dass ich all diese Bündler einfach nicht verstehen kann.“ Ernst von Reventlow war Ende  Juli 1933 in Eisenach Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Glaubensbewegung (ADG). Als Sammlungsbewegung umfasste sie zahlreiche neuheidnische und freireligiöse Gruppen. Sie vertrat die Vorstellung, dass es eine „arteigene Frömmigkeit“ gebe, welche an ein bestimmtes Volk oder eine Rasse gebunden sei. Dabei wurde „arisch“ mit „germanisch“ gleichgesetzt. Ziel der ADG war es, als eine offizielle nichtchristliche Glaubensgemeinschaft gleichberechtigt mit den Kirchen anerkannt zu werden. Zum Anderen hatte der Berliner  Pfarrer Joachim Hossenfelder seine Glaubensbewegung Deutsche Christen bereits Anfang  Juni 1932 in Preußen gegründet. Im Aufwind der „nationalen Erhebung“ Hitlers gewann die ab 1933 als Deutsche Christen bezeichnete Bewegung im ganzen Reich an Boden. Sie vertrat rassistische, antise118

mitische und am Führerprinzip orientierte Inhalte. Auf ihrer ersten Reichstagung Anfang April 1933 in Berlin forderte sie die Einführung des „Arierparagraphen“ auch innerhalb der evangelischen Kirche und die Bildung einer Reichskirche. Die erste Deutsche Evangelische Nationalsynode der Deutschen Christen wählte dann Ende September 1933 Ludwig Müller, Wehrkreispfarrer und Vertrauter Hitlers, einstimmig in das neu geschaffene Reichsbischofsamt. Das Amt eines Reichsbischofs hatten die Nationalsozialisten nach der von ihnen in einem Reichsgesetz vorgegebenen Kirchenverfassung vom 11. Juli 1933 als höchstes Organ der Deutschen Evangelischen Kirche an die Stelle des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes gesetzt. Über Zeitpunkt und Durchführung der kurz darauf folgenden Kirchenwahlen entschied aber nicht mehr die Kirche, sondern der Staat. Hannah von Bredow verfolgte im Sommer 1933, wie Martin Niemöller, Pfarrer der Gemeinde Berlin-Dahlem, mit Blick auf die Kirchenwahlen zusammen mit einer Gruppe evangelischer Pastoren und Theologen eine Initiative gegen die Deutschen Christen startete. Die sogenannte Jungreformatorische Bewegung forderte ein freies kirchliches Handeln ohne jede politische Beeinflussung und lehnte die Übernahme des „Arierparagraphen“ auf kirchliche Institutionen ab. In den Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 unterlag die Bewegung allerdings deutlich, nicht zuletzt deshalb, weil die Deutschen Christen massive Wahlkampfunterstützung durch die NSDAP erhielten. Das Ergebnis brachte einen überwältigenden Erfolg der Deutschen Christen, die im Deutschen Reich unter den Protestanten eine Mehrheit von durchschnittlich 70 Prozent erlangten.18 Pfarrer Niemöller ließ sich durch das Wahlergebnis nicht entmutigen und gründete noch im September 1933 den Pfarrernotbund. Bis Januar 1934 schlossen sich etwa 7.000 Pfarrer und damit ungefähr ein Drittel der evangelischen Geistlichen im Deutschen Reich an. Sie verpflichteten sich in einer Erklärung verbindlich, ihre Amtsführung allein an der Bibel und den reformatorischen Bekenntnisschriften auszurichten und gegen eine etwaige Verletzung, wie sie auch mit der Anwendung des „Arierparagraphen“ gegeben war, rückhaltlos zu protestieren. Darüber hinaus bildeten 119

sich in vielen Landeskirchen sogenannte Bekenntnisgemeinschaften, die mit dem  Pfarrernotbund die Wurzeln der Bekennenden Kirche darstellten. In der ersten Barmer Bekenntnissynode konstituierte sich die Bekennende Kirche dann Ende  Mai 1934. In sechs Thesen wies sie den Anspruch der Deutschen Christen zur Bildung einer neuen völkischen und antisemitischen Reichskirche zurück. So verwarf sie auch „die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“19 In einer für Hannah von Bredow beängstigenden Eile nutzten die Deutschen Christen ihre aus den Kirchenwahlen gewonnene Stärke, um missliebige Pastoren zu entlassen, häufig gegen den Willen der Gemeinden. So erlebte Hannah am Weihnachtsabend 1933 eine überfüllte Potsdamer Heiliggeistkirche, weil „Pastor Ehlert seinen letzten Weihnachtsgottesdienst hält“. In den anderen Kirchen Potsdams predigten nach ihrer Feststellung bereits Pastoren der Deutschen Christen. Anfang März 1934 war die Überführung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union in die Deutschen Christen, d. h. die regimetreue Gruppe innerhalb der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK), dann ganz vollzogen. Eine Woche später stellt Hannah von Bredow zur bevorstehenden Mitternachtsmesse in der Potsdamer Nicolaikirche bedauernd fest, dass „wir des entlassenen Superintendenten Görnandt letzte Predigt in der Nicolaïkirche hören. Er ist vom König von Dänemark nach Kopenhagen berufen worden. Görnandts Frau ist Jüdin.“ Ihre deprimierte Stimmung am Ende  des ersten  Jahres der NS-Herrschaft zeigt Hannahs Tagebucheintrag vom 31.  Dezember 1933 deutlich: „Görnandt, der Entlassene, predigte sehr ergreifend und traurig. Ich wäre froh, wenn ich einschlafen und nicht mehr aufwachen könnte.“ Die Entwicklungen in den Jahren 1934 und besonders 1935 verfolgt Hannah von Bredow intensiv. So erlebt sie Mitte  Mai 1934, wie eine Kirchenversammlung gesprengt wurde, und im  September „toben die ‚Deutschen Christen‘ in Berlin und wollen ihren Reibi 120

[Reichsbischof] einführen. Lächerlich, wie alles, was diese leeren, lauten Leute machen.“ Reichsbischof Ludwig Müller bemühte sich nach seiner Wahl im September 1933 intensiv, die Landeskirchen in die Reichskirche einzugliedern. Da sich insbesondere die Landesbischöfe von Württemberg und Bayern hiergegen sträubten, dauerte es ein knappes Jahr, bis Müller schließlich am 23. September 1934 im Berliner Dom in sein Amt als Reichsbischof eingeführt werden konnte. Der Druck auf die Mitglieder der Bekennenden Kirche erhöhte sich im Laufe des Jahres  1934 deutlich. Die Mitglieder reagierten darauf Ende Mai 1934 zunächst mit der ersten Bekenntnissynode in Barmen. In der „Barmer Theologischen Erklärung“ wandten sie sich nicht mehr allein gegen einzelne staatliche Eingriffe, sondern verurteilten darüber hinaus die von den Deutschen Christen vertretene Lehre, wonach die nationalsozialistische Parteiideologie des Staates für die Kirche verbindlich sei. Die Synode erklärte diese Lehre als eine illegitime, fundamentale Vereinnahmung der Kirche. Ferner beurteilte sie das Kirchenregiment des Bischofs Müller als unrechtmäßig, erklärte sich selbst als die einzig legale DEK und bestellte einen Reichsbruderrat als ihr Exekutivorgan. Eine zweite Bekenntnissynode beschloss in Berlin im  Oktober 1934 nunmehr auch ein „kirchliches Notrecht“ für Pfarrer, das eine Gehorsamsverweigerung gegenüber dem NS-Regime rechtfertigte. Offenbar machten Geistliche der Altpreußischen Union sehr bald von ihrem Notrecht Gebrauch, mit der Folge, dass eine größere Zahl von ihnen Ende 1934 und Anfang 1935 inhaftiert wurde. Allein in der Provinz Brandenburg wurden in konzertierten Aktionen rund 200 Bekenntnispfarrer und aktive Gemeindemitglieder festgenommen.20 Im Frühjahr 1935 kamen sie wieder frei, sodass Hannah von Bredow ihrem Vertrauten im März mitteilen kann: „Die Freilassung der gesamten inhaftierten Bekenntnispfarrer ist entschieden ein Sieg; am nächsten Sonntag werden viele Gemeinden triumphieren.“ Auf landesweite Verhaftungen von Pastoren weist Hannah von Bredow ihren Briefpartner am 20. Oktober 1935 aus Sierhagen in Holstein in einem eher erheiternden Zusammenhang hin. Sie besuchte dort ihre Patentante, die Lehensgräfin Lili Scheel-Plessen, 121

Patronin der örtlichen Kirche, deren Gemeinde einen „deutschchristlichen“ Pastor zur Probe zugewiesen bekommen hatte. Dieser wiederum „lauerte“ auf eine weitere Pfarrei, „da der 30 Jahre dort anwesende, hervorragend kluge und beliebte Pastor Auerbach wegen Judenblutes innerhalb drei Tage abgesetzt worden ist.“ Hannah von Bredow knüpfte sich den ambitionierten Jungpfarrer vor, einen „ehemaligen Kommis in einem Lebensmittelgeschäft“. Als sie ihn scheinbar ahnungslos fragte, ob er wohl der „Bekenntniskirche“ angehöre, erhielt sie zur Antwort, dass „in der sogenannten Bekenntniskirche reaktionäre und marxistische Elemente“ seien, die er ablehne. Hannah wies den Pfarrer nunmehr zurecht: „Leute wie Niemöller und Jacobi und die anderen noch immer eingesperrten 510 Pastoren sind nicht ‚sogenannt‘.“ Daraufhin habe sie ihn, „Bibelspruch auf Bibelspruch setzend, rücksichtslos zum Aufgeben aller Positionen gezwungen und schließlich aus ihm herausbekommen, dass er nur nicht den Mut hätte, dass er aber ‚dem Herzen nach‘, ein absoluter Bekenntnischrist sei.“ Hannah von Bredow schonte den Jungpfarrer aber auch weiterhin nicht und „hämmerte dieses Eisen: ‚Sie haben hier ungefähr den besten Volksteil in Deutschland, Sie haben Leute, deren angeborene Anständigkeit und Frömmigkeit so groß sind, dass Sie ihnen nur nützen können, wenn Sie absolut lauter sind; wenn Sie mir aber sagen, dass Sie zwar einen Juden taufen würden, wenn er gläubig wäre, möglichst aber vermeiden würden, Ihren vorgesetzten Beamten vorher um Erlaubnis zu fragen, um gegebenenfalls eine gewisse Unkenntnis vorschützen zu können, dann kann ich Ihnen nur raten, den Talar auszuziehen, denn Sie schaden sich und anderen.‘“ Hannah hatte daraufhin „gewonnenes Spiel, und Tante Lili wird ihn natürlich ablehnen, da allein sein Bildungsgrad für 3600 Seelen (21 Dörfer!!) nicht ausreicht.“ Beunruhigende Dinge erfährt Sydney Jessen dagegen Mitte November 1935 in Verbindung mit einem großen Gottesdienst der „Bekenntnischristen“ in Potsdam, der vor Beginn verboten wurde. Am 1. Dezember schreibt Hannah ergänzend: „Die tollen Dinge im Kirchenleben tragen auch viel Zündstoff hinein. Die Bekenntniskirche, von 16.000 Pastoren gehören 10.000 dazu, wird morgen aufgelöst. 122

Da ich das schon vorige Woche wusste, bin ich natürlich offiziell eingetreten, denn es ist jetzt eine so klare Linie, dass ich die Zweifel des Frühlings nicht mehr hege.“ Im  Oktober 1935 hatte Reichskirchenminister Hanns Kerrl begonnen, in der zerstrittenen Deutschen Evangelischen Kirche und in einigen Landeskirchen sogenannte Kirchenausschüsse einzusetzen. Diese sollten die evangelische Kirche so lange leiten, bis wieder geordnete Zustände eingetreten wären. Am 2. Dezember 1935 verfügte Kerrl daraufhin, dass in Kirchen, in denen „Kirchenausschüsse“ die Leitung übernommen hatten, die Ausübung kirchenbehördlicher Befugnisse durch kirchliche Vereinigungen oder Gruppen unzulässig sei. Damit wollte er die von der Bekennenden Kirche gebildeten Leitungen ausschalten, was ihm in der Mehrzahl der Kirchen der Altpreußischen Union auch gelang. Resignierend stellt Hannah von Bredow zum  Jahresende 1935 fest: „Ich bin auf alles gefasst. Diese Nazis sind zum Verzweifeln.“ Trotz ihres Pessimismus sah sie zu Beginn des Jahres  1936 aber noch einen Hoffnungsschimmer: „Ich bewundere Niemöller seines Mutes, seines Verstandes und seines aussichtslosen Kampfes wegen. Ein solcher Mensch nutzt mehr als tausend salbadernde Pastoren, aber man muss auch alle diese Seiten kennen, weil sie so sehr deutsch sind, und man stets mit ihnen rechnen muss.“ Der Berliner Pfarrer Martin Niemöller konnte Hannah von Bredow Ende Mai 1936 erneut Mut machen, als er mit weiteren Mitgliedern des Rates der DEK und Mitgliedern der „Vorläufigen Leitung der DEK“ eine Denkschrift an den „Führer und Reichskanzler“ übermittelte. Die an Hitler gerichtete Denkschrift vom 28. Mai 1936 ging weit über kirchenpolitische Themen hinaus. In dem siebenseitigen Dokument beklagen die Verfasser die Gefahr der Entchristlichung im Deutschen Reich, verurteilen die Zerstörung der kirchlichen Ordnung durch Eingriffe des Staates, die Verhaftung von bekennenden Geistlichen, aber auch die Existenz von Konzentrationslagern, den Terror der Gestapo und den staatlichen Antisemitismus. Sie fordern eine Abkehr vom bisherigen Weg, denn „schon jetzt übt der Zwang auf die Gewissen, die Verfolgung evangelischer Überzeugung, das

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gegenseitige Sichbespitzeln und Aushorchen unheilvollen Einfluss aus.“21 Aus der Reichskanzlei erhielten die Verfasser der Denkschrift auch nach zwei Monaten des Wartens keine Antwort. Über eine Veröffentlichung des vertraulichen Dokuments gab es noch keinen Beschluss, als es im August 1936 in der New York Herald Tribune sowie in verschiedenen europäischen Zeitungen abgedruckt wurde. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war ein Exemplar der Denkschrift ins Ausland gekommen. Die Folgen blieben nicht aus: Die Gestapo führte mehrere Verhaftungen durch und verschleppte die Betroffenen in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Die Bekennende Kirche stand für das NS-Regime endgültig als Staatsfeind fest. Noch bevor die Denkschrift öffentlich bekannt wurde, hörte Hannah von Bredows Gemeinde in der Potsdamer Heiliggeistkirche Mitte Juli 1936 ein „Wort an die Gemeinden“, das später auch im „Gesetzblatt der Deutschen Evangelischen Kirche“ in Berlin veröffentlicht wurde.22 Hierin fanden sich Elemente der Denkschrift, wie etwa das Recht auf öffentliche Abwehr von Angriffen auf Kirche und Glauben, die Beschwerde über Aufmärsche und Schulungen sonntagmorgens zur Gottesdienstzeit, das Einfordern des Erhalts von evangelischen Kindergärten und Religionsunterricht in den Schulen oder der Anspruch der Jugend auf seelsorgerische Betreuung im nationalsozialistischen Landjahr, im Arbeitsdienst und im Lager. Die Nationalsozialisten reagierten immer härter auf die selbstbewusste Haltung der Bekennenden Kirche. Im Jahre  1937 häuften sich die Festnahmen von Pastoren durch die Gestapo. So berichtet Hannah von Bredow Anfang Januar 1937: „Nachher las Pastor Bierbaum der überfüllten Kirche die lange Liste der in Sachsenhausen, Lichtenburg und Dachau eingesperrten Pastoren vor und betete für sie.“ In der Garnisonskirche vervollständigte Pastor Böhm am selben Tage die Liste der Verhaftungen und gab der Gemeinde „Austrittsbefehle für alle Amtswalter, für fast alle aktiven Parteimitglieder“ bekannt. Beeindruckt zeigte Hannah von Bredow sich in diesen schwierigen Monaten auch von Vertretern der katholischen Kirche. So 124

las sie die Enzyklika des Papstes Pius XI. „Mit brennender Sorge“ vom März 1937 und stellt fest: „Sie ist ganz hervorragend, stilistisch, inhaltlich und in der knappen Form, sie ist gemäßigt und gerade deshalb vernichtend. Sie ist natürlich sehr katholisch, aber es wäre ja falsch, wenn sie den Standpunkt des ‚Summus Episcopus‘ nicht verträte.“ Die Neujahrspredigt 1937 des Münchner Kardinals Michael von Faulhaber bezeichnet Hannah von Bredow als „fabelhaft schön“ und war im  Februar auch von der Predigt des Berliner Bischofs Konrad Graf von Preysing angetan, „die immerhin würdig an die Seite der Faulhaber’schen Äußerungen treten kann. Sie wollen alle lieber den Bruch als das verlogene Konkordat. Aber man rechnet in Deutschland mit einem Abfall von 60 % Katholiken und 85 % Protestanten, und aus diesen Massen kann man ja eine blut- und bodengebundene diesseitige Nationalkirche mit einem sichtbaren, fühlbaren Gott an der Spitze errichten.“ Intensiv beschäftigte Hannah von Bredow sich mit den von Hitler am 15. Februar 1937 angeordneten Kirchenwahlen. Eine Generalsynode sollte eine neue Verfassung für die zerstrittene DEK ausarbeiten. Mit der Wahlvorbereitung wurde Reichskirchenminister Hanns Kerrl beauftragt. Es sollte der Eindruck erweckt werden, als wolle der Staat der evangelischen Kirche ermöglichen, sich in völliger Freiheit selbst eine neue Ordnung zu geben. Tatsächlich aber erhoffte sich die nationalsozialistische Führung, dass sich die rivalisierenden kirchlichen Gruppen in der Generalsynode restlos zerstreiten und die evangelische Kirche sich schließlich ganz dem Staat ausliefern würde.23 In Erinnerung an die Wahlen vom Juli 1933, bei denen die Deutschen Christen haushoch gewonnen hatten, löste Hitlers Anordnung bei den Verantwortlichen der Bekennenden Kirche Befürchtungen aus. Zu groß war die Gefahr, dass der Staat eine völlig unkirchliche Wahlordnung durchsetzen und damit das Wahlergebnis vorprogrammieren würde. Man befürchtete, nach den Wahlen endgültig mit Deutschen Christen und Anhängern neuheidnischer Glaubensrichtungen in eine gemeinsame Kirche ohne christliches Bekenntnis gezwungen zu werden. Über die Tragweite der Wahlen wurden 125

die Bekenntnisgemeinden durch Flugblätter und Kundgebungen, in Gottesdiensten und Informationsveranstaltungen unterrichtet. Ende Februar 1937 stellt Hannah von Bredow fest: „Die Kirchenwahlen beschäftigen Berlin noch immer intensiv, ebenso ganz Norddeutschland. Es wird wohl dahin kommen, dass die Wahllokale nach bewährten Mitteln organisiert werden und dass die württembergische, bayrische und hannoversche Kirche sowie die bekennenden Christen an allen anderen Orten nicht mitwählen, weil ihnen die Sache zu grotesk vorkommt. Ich finde diesen Plan falsch, denn es wird dann einfach ‚Sabotieren der Wahl‘ genannt und man wird nicht genügend Beweismittel haben. Im anderen Fall kann man sich selber von den Zuständen überzeugen und nachher eine völlig andere Basis haben.“ Ihre Haltung besprach Hannah von Bredow eingehend mit Vertretern der Bekennenden Kirche und erklärte ihnen, „dass man Falschspieler nur entlarven könne, wenn man sich mit ihnen an einen Tisch setze nicht aber, wenn man vom anderen Ende des Zimmers laut brüllt: ‚Wir werden betrogen!‘“ Die „Falschspieler“ gingen allerdings gar nicht erst an den Tisch, denn überall versuchten Parteifunktionäre den Wahlausgang im Vorfeld zu beeinflussen: Den Deutschen Christen wurden Wahlveranstaltungen erlaubt, der Bekennenden Kirche nicht. Der Bekenntnispresse wurde die Berichterstattung zur Wahl verboten. Über Form und Zeitpunkt der Wahlen ließ der Staat monatelang nichts verlauten. Als sich im Frühsommer 1937 die Gerüchte verdichteten, die Wahlen stünden unmittelbar bevor, beschloss die Altpreußische Union am 17. Juni in einer Erklärung, die Gemeinden am Wahltag zum Wahlboykott aufzurufen. Wenige Tage später wurden daraufhin zahlreiche ihrer führenden Mitglieder in der Berliner Friedrichswerderschen Kirche von der Gestapo verhaftet. Anfang  August erfuhr Hannah von Bredow von „großen Demonstrationen vor den geschlossenen Annen-, Jesus-Christus- und Mathäuskirchen in Dahlem und Umgebung. Die Gestapo hat ungefähr 150 Leute verhaftet, von denen leider nicht, wie man anfangs annahm, die meisten freigelassen wurden, sondern man hat ca. 67 in Haft behalten.“ Die Kirchenwahlen fanden niemals statt. Die 126

Schuld daran wies Reichskirchenminister Kerrl im Herbst 1937 der evangelischen Kirche zu. Zu den inhaftierten Geistlichen zählte auch Otto Dibelius, Generalsuperintendent und Mitglied des Kirchenrats der Altpreußischen Union. Er wurde wegen regimekritischer Aussagen angeklagt, aber „in einer stürmischen Gerichtssitzung gestern vom Reichsanwalt beim Volksgericht Parey freigesprochen“, wie Hannah von Bredow am 8. August 1937 berichtet. Im April hatte sie von Dibelius eine Predigt in der überfüllten Heiliggeistkirche gehört: „Die Kirche fasst normal 800 Menschen, es waren 2000 drin, so etwas von Überfüllung können Sie sich einfach nicht ausmalen. Diesmal waren aber alle Altersklassen vertreten, und zwar beiderlei Geschlechts.“ Hannah war tief beeindruckt von Dibelius’ Predigt: „Er pole­ misierte nicht, er war maßvoll und ruhig und sehr klug, solch eine Seltenheit bei Pfarrern. Als er sagte, dass nur Ludendorff als Religionsstifter anerkannt sei, ging ein helles Lachen durch die ganze Kirche. So etwas habe ich noch nie vernommen. Für die neu Verhafteten wurde gebetet, und Dibelius erzählte, dass ein sogenannter christlicher Pastor in Mecklenburg das Abendmahl mit den Worten ausgeteilt hätte: ‚Nehmet hin und esset, das ist der deutschen Erde deutscher Leib, nehmet hin und trinket alle daraus, dieser Kelch ist das Blut des deutschen Menschen, solches tut, so oft Ihrs trinket, zur Gemeinschaft mit deutschem Blut, so oft Ihrs esset zur Gemeinschaft mit deutschem Boden!‘ Und ein anderer hatte das Johannes Evangelium verlesen: ‚Im Anfang war das Volk, und das Volk war bei Gott und Gott war das Volk, das deutsche Volk.‘“ Die Zitate konnten Hannah von Bredow bestätigen, dass die Lehren von Hitlers Rassenideologen Alfred Rosenberg bei einigen deutschchristlichen Pastoren auf fruchtbaren Boden gefallen waren. Rosenberg beließ es nicht bei seiner im Jahre 1930 veröffentlichten Kampfschrift „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“, sondern brachte zusätzlich die Hetzschrift „Protestantische Rompilger“ heraus, die Anfang 1937 als Vorabdruck erschien. Hierin griff er Pastor Otto Dibelius wegen früherer Äußerungen, mit denen dieser Wehrdienstverweigerung unter bestimmten Umständen als zulässig bewertet hatte, direkt an. Dibelius widerlegte die Angriffe Rosenbergs im 127

Frühjahr 1937 auf wenigen Seiten in der Replik „Drei Randbemerkungen zu einem Kapitel Rosenberg“, deren Verbreitung von den Nationalsozialisten sofort unter Strafe verboten wurde.24 Wie andere Mitglieder der Bekennenden Kirche so besaß auch Hannah von Bredow ein Exemplar der Schrift von Otto Dibelius. Ihrem Vertrauten Sydney Jessen teilt sie am 4. April 1937 nicht ohne Ironie mit: „Die Gestapo hat Haussuchungen nach dem Dibeliusbrief gemacht, ich werde ihn in der Entrée hinlegen, damit sie bei mir nicht, wie bei anderen Bekannten, die Mülleimer und die Kohlenkästen ausschippen muss. Man soll den Beamten ihr schweres Werk erleichtern. Besitz des Briefes zeugt von hochverräterischer Gesinnung.“ In den Verhören, denen Hannah sich nur wenige Monate später ausgesetzt sah, hielt die Gestapo ihr auch ihr Verhalten im „Fall Dibelius“ als eine „schlimme Verfehlung“ vor. Ende  Mai 1937 machte Hannah von Bredow sich Sorgen um den von ihr sehr geschätzten Pfarrer Martin Niemöller. Er sei „bei der Gestapo, die Anklagepunkte – sechs an der Zahl – umschließen auch Landesverrat. Wegen Niemöller ist die Offiziersvereinigung in großen Schwulitäten, denn sie wollten ihn gleich heraussetzen und nun weiß man nicht, ob sie noch warten.“ Vor seinem Theologiestudium war Niemöller Offizier der Kaiserlichen Marine und Mitglied der Offiziersvereinigung gewesen. Die Vereinigung konnte mit einer Stellungnahme bzw. Intervention noch einige Zeit warten, wie Hannah von Bredow mehr als zwei Monate später, am 12.  August 1937 feststellt: „Der Prozess Niemöller ist vertagt, weil die Freisprechung Dibelius’ und die nervös gereizte Stimmung der Bevölkerung es ratsam erscheinen ließen, erst auf dem Parteitag alles zu verkünden, was zu geschehen hätte und dann durchzugreifen. Für Niemöller ist es sehr hart, da die Haft in Berlin unerträglich ist; aber er soll wunderbar ruhig und mutig sein. Seine Frau darf ihn alle 10 Tage 10 Minuten sprechen.“ Weitere drei Monate später, Mitte  November 1937, hat sich die Lage Niemöllers, den Aufzeichnungen Hannah von Bredows folgend, in keiner Weise verbessert: „Für Niemöller setzt sich aus Angst niemand mehr ein; er ist vergessen und sitzt fest. Neulich 128

wurde er ohnmächtig, weil man ihm befohlen hatte, knieend seine Zelle feucht aufzuwischen. Da die Ärzte keinen Herzfehler feststellten, hat es an seiner Lage nichts geändert.“ Zum Jahresende 1937 wird in Hannahs Potsdamer Heiliggeistkirche schließlich verlesen, „dass 99  Pfarrer verhaftet und dass Niemöller und ein anderer ins Lager gekommen seien.“ Am 7. Februar 1938 kommt es endgültig zum Niemöller-Prozess vor dem Sondergericht in Berlin-Moabit: „Er war sehr dramatisch, denn die Anwälte haben den Löwenmut gehabt, zu erklären, dass sie keine Schweigepflicht anerkennen, sondern dass sie sich dann eben aus dem Prozess zurückziehen. Daraufhin ist der Prozess vertagt worden und alles ist beim Alten. Sie riskieren es nicht, Niemöller zu vergiften. Das wäre ihnen aber die einzige Rettung.“ Am 2. März 1938 kam schließlich doch ein Urteil zustande. Martin Niemöller wurde zu sieben Monaten Gefängnis, verbüßt durch die Untersuchungshaft, verurteilt. Er kam jedoch nicht frei, sondern wurde als „persönlicher Gefangener Hitlers“ in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. Gegen dieses Unrecht protestierte die Vorläufige Kirchenleitung mit einer Kanzelabkündigung und prangerte an, dass Niemöller verschleppt wurde, um die Stimme der Kirche in Deutschland zum Schweigen zu bringen und endlich den Widerstand gegen die Zerstörung und Auflösung der Kirche zu brechen.25 Den ehemaligen Marineoffizier Sydney Jessen, Hannah von Bredows Vertrauten, scheint das Schicksal seines ehemaligen Kameraden Martin Niemöller besonders bewegt zu haben. So erklärt Hannah ihm auf dessen Bemerkungen zum „Fall Niemöller“ im Sommer  1938 in einem Brief aus England den Unterschied zwischen Engländern und Deutschen und ergänzt: „Sie (d. h. die Engländer) können nicht begreifen, dass Niemöller nicht längst befreit ist, jeder einfache Kerl spricht einen darauf an, und sie finden es unfasslich, dass nicht längst ein Mann gekommen ist, der Schluss macht.“ Die Bekennende Kirche beließ es indessen bei Fürbitte-Gottesdiensten für Niemöller und der Verbreitung von Postkarten mit dem Bild und Zitaten von Niemöller. Derlei Proteste halfen aller129

dings nichts. Bei Kriegsausbruch  1939 richtete Niemöller schließlich ein Gesuch an Hitler, wiederum, wie schon im Ersten Weltkrieg, als U-Boot-Kommandant Dienst leisten zu können. Hitler lehnte ab. Erst Ende April 1945 befreiten US-Truppen Martin Niemöller aus dem Konzentrationslager Dachau. Von 1947 bis 1964 war er in der Bundesrepublik Deutschland Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Er entwickelte sich zu einem radikalen Pazifisten und arbeitete bis ins hohe Alter in kirchlichen und politischen Friedensorganisationen. Nach Martin Niemöllers Inhaftierung übernahm Otto Dibelius dessen Stelle im Kirchenrat der Altpreußischen Union. Er blieb von längerer Haft verschont. Im Leitungsgremium der Bekennenden Kirche Preußens machte er sich als Mitverfasser der sogenannten Freiburger Denkschrift Gedanken über den kirchlichen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. Dibelius prägte von 1945 bis 1966 im Bischofsamt der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und im Amt des Ratsvorsitzenden der EKD von 1949 bis1961 das neue Verständnis der evangelischen Kirche, zunächst mit der „Stuttgarter Schulderklärung der EKD“ vom Oktober 1945. Führende evangelische Geistliche und Politiker, darunter Martin Niemöller und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, erklärten in der Schulderklärung, dass „durch uns unendliches Leid über viele  Völker und Länder gebracht worden“ ist. Lange  Jahre hindurch habe man gegen das nationalsozialistische Gewaltregime gekämpft, „aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben. Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang  gemacht werden.“26 Über einen Neuanfang, über christlich-sozialethische Grundsätze zur Neuordnung Deutschlands, hatte sich bereits im Jahre  1943 Otto Dibelius zusammen mit Professoren verschiedener Fakultäten der Universität Freiburg in einer Denkschrift Gedanken gemacht. Diese betrafen innen- wie außenpolitische Fragen sowie solche der gesellschaftlichen Werteordnung. Dienst am Nächsten und Gewissensfreiheit waren Schlüsselbegriffe. Zudem sollte ein christliches Widerstandsrecht Grundbestandteil einer künftigen rechtsstaatli130

chen Verfassung werden. Die „Freiburger Denkschrift“ sollte auch in die Hände von Kriegsgegnern gelangen, damit Einfluss auf die Nachkriegsordnung genommen werden konnte. Spätestens hiermit gehörten die Verfasser zu den Widerständlern gegen den Nationalsozialismus. Einer der maßgeblichen Initiatoren und Verfasser der „Freiburger Denkschrift“ war der Agrarwissenschaftler Constantin von Dietze. Hannah von Bredow stand mit ihm und seiner Frau Margarethe jahrelang in enger Verbindung. Sie wurden Nachbarn in der Potsdamer Wörtherstraße, nachdem Dietze im Jahre 1932 einen Ruf an die Berliner Universität erhalten hatte. Als lebendiges Glied der Heiliggeistgemeinde, der Gemeinde Hannahs, wurde Dietze bald in den Bruderrat der Bekennenden Kirche gewählt. Hannah von Bredow verstand sich mit den Dietzes von Anfang an sehr gut. Nachbarschaftsbesuche fanden ebenso regelmäßig statt wie gegenseitige Einladungen im Beisein von Gleichgesinnten. Sie schätzte die umfassende Bildung des wenig älteren Constantin von Dietze, der Rechts- und Staatswissenschaften in Cambridge, Tübingen und Halle studiert und nach seiner Flucht aus russischer Gefangenschaft nach dem Ersten Weltkrieg Dolmetscher-Examina in Russisch, Englisch und Französisch abgelegt hatte. Nach Promotion und Habilitation brachte ihn seine wissenschaftliche Laufbahn über Göttingen und Jena nach Berlin. An seiner Frau, Margarethe von Dietze, geb. von Rauchhaupt, wusste Hannah besonders ihr humanitäres und kirchliches Engagement zu schätzen. Nachdem die Bekennende Kirche im Herbst 1934 ihren Pastoren Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit als Notstandsrecht zugestanden und in der Folge eine Verhaftungswelle eingesetzt hatte, beobachtete Hannah ihren Nachbarn Constantin von Dietze in einem Bekenntnisgottesdienst: „Die Kirche war gepackt voll, man betete mit besonderer Inbrunst für die eingesperrten  Pfarrer. Mein Nachbar C.D., der noch unbehelligt ist, sammelte im Zylinder an der Kirchentür, damit die Deutschen Christen nichts davon bekämen. Absolute Kampfstimmung, C.D.’s Eierkopf strahlte direkt vor Vergnügen. Er meinte, er hätte ja so viel Erfahrungen mit Bolschewiken, das käme ihm sicher noch mal zu Gute. Wir gingen zusammen nach Haus, 131

eine Schar von ca. 16 Menschen, denn das Haus C.D. ist immer voll von Gästen.“ Übereinstimmung gab es zwischen Hannah von Bredow und dem Ehepaar Dietze auch in ihrer Haltung zur Hitlerjugend, als Hannahs Sohn Wolfgang im Jahre 1935 zum Eintritt gedrängt wurde. Hannah beschloss nach langem Zögern schließlich Anfang 1937, nach einem Besuch des Anführers der Marine-Hitlerjugend, ihn dort anzumelden, denn „in der Schar von 40 Kindern sind nur Christen, worauf es mir ausschließlich ankommt. Herr von Dietze war meiner Meinung.“ Gemeinsam mit Constantin von Dietze hörte Hannah von Bredow im Frühjahr 1935 in der Berliner Weltwirtschaftlichen Vereinigung einen Vortrag des Reichspreiskommissars Carl Goerdeler über Preisgestaltung und  Marktregulierung. Der Leipziger Oberbürgermeister und Jurist Goerdeler war bereits zum zweiten Mal von Hitler beauftragt worden, die knappheitsbedingten Preissteigerungen besonders für landwirtschaftliche Produkte unter Kontrolle zu bekommen. Hannah interessierte der Vortrag hauptsächlich wegen der Problemstellung, die ihr von den Bismarck’schen Gütern in Schönhausen und Friedrichsruh vertraut war, Dietze als Agrarwissenschaftler war ohnehin in seinem Metier. In zwei Briefen an Sydney Jessen referiert Hannah von Bredow in allen Einzelheiten auf Dutzenden von Seiten den Inhalt des Goerdeler-Vortrags, den Ablauf der Diskussion sowie, in Dialogform, das anschließende Gespräch mit Goerdeler in kleinem Kreis. Bei Vortrag und Diskussion ging es um Preiskontrollen, Kartelle, Exportförderung, Freihandel, Importsubstitution und Devisenbewirtschaftung. Zum nachfolgenden Gespräch im Zoorestaurant „setzten sich Goerdeler, Dietzes und ich zusammen und redeten bis 1 a.m. Es war einerseits ungeheuer interessant, andererseits aber fragte man sich wieder und wieder ‚cui bono?‘ Goerdeler war sehr intrigiert über mich. Er begann die Konversation wie alle solche Männer: ‚Sie sind natürlich Ausländerin?‘ und als er von Dietze das Gegenteil hörte, fuhr er fort: ‚Wie sind Sie also verwandt mit dem General v.B.?‘ ‚Dem ermordeten?‘ fragte ich. ‚Wie

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käme ich dazu, so etwas zu fragen! Nein, dem Kommandeur des 3. Reservekorps?‘“27 Im Weiteren unterhielt Hannah von Bredow sich mit Carl Goerdeler angeregt, und „zum Schluss fragte er mich, ob ich Nationalökonomie studiert hätte!! was Dietze enorm amüsierte und mich erst recht. Ich hatte fast nur zugehört, weil die Marianer [Nationalsozialisten] so durchgehechelt wurden, und deshalb war die Frage besonders abwegig. Jedenfalls war es ein sehr anregender Abend.“ Der oberste „Marianer“, Adolf Hitler, entließ Goerdeler wegen seiner restriktiven Vorschläge zur Inflationsbekämpfung noch im Jahre 1935. Zwei Jahre später legte Goerdeler das Amt des Oberbürgermeisters in Leipzig unter Protest nieder, nachdem sein nationalsozialistischer Vertreter Rudolf Haake im November 1936 in Goerdelers Abwesenheit das Mendelssohndenkmal im Musikviertel beseitigt hatte. „Und dennoch ist es so kindisch, das Monument eines Menschen, dem wir die Wiedererweckung Bachs, die Erstaufführung der Matthäuspassion, die sonst weiß Gott wann aus dem Staube aufgetaucht wäre, verdanken, zu zertrümmern; genauso, wie es lächerlich ist, die Loreley zu singen und ‚Dichter unbekannt‘ darunter zu setzen“, kommentierte Hannah von Bredow das primitive antisemitische Vorgehen der Nationalsozialisten. Goerdeler unternahm zwischen 1937 und 1939 zahlreiche Auslandsreisen. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Deutschland zurück und wurde gemeinsam mit General Ludwig Beck, mit dem er seit 1935 in Kontakt stand, zum führenden Vertreter des zivilen konservativen Widerstands gegen Hitler. Ab dem  Jahre 1940 beteiligte Goerdeler sich an den Planungen der Gruppe um Ulrich von Hassell, welche einen Staatsstreich ohne Attentat zur Ausschaltung Hitlers vorsah. Nach einem erfolgreichen Sturz Hitlers sollte Goerdeler aus Sicht mehrerer Widerstandskreise das Amt des Reichskanzlers übernehmen. Constantin von Dietze stand mit Carl Goerdeler ab dem Berliner Treffen im März 1935 weiterhin in schriftlichem Kontakt. Nach Dietzes Wechsel an die Universität Freiburg lud er Goerdeler Mitte November 1942 zu einer mehrtägigen, geheimen Sitzung in sein Haus 133

ein, um mit ihm und Freiburger Universitäts-Kollegen den Entwurf der „Freiburger Denkschrift“ des Freiburger ­Bonhoeffer-Kreises zu erörtern. Als unmittelbare Reaktion auf die Novemberpogrome 1938 hatte Constantin von Dietze zusammen mit dem Ökonomen Adolf Lampe zunächst einen inneruniversitären Oppositionskreis gegründet, zu dem die Professoren Karl Diehl, Gerhard Ritter, Walter Eucken, Franz Böhm zählten. Der Kreis mündete in die „Freiburger Kreise“ ein, die monatlich bis Oktober 1944 tagten, Denkschriften zur Zukunft Deutschlands nach Hitler verfassten und Widerstandskreise berieten.28 Nach dem Attentatsversuch vom 20.  Juli 1944 gelangten Teile der „Freiburger Denkschrift“ in die Hände der Gestapo, die daraufhin einige Mitarbeiter an der Denkschrift – auch weil sie von den Umsturzplänen gewusst hatten – verhaftete. Goerdeler wurde am 1.  August 1944 wegen angeblicher Mittäterschaft zur Fahndung ausgeschrieben und nach einer Denunziation zwei Wochen später festgenommen. Am 8. September verurteilte ihn der Volksgerichtshof zum Tode, und am 2. Februar 1945 wurde er in Plötzensee hingerichtet. Constantin von Dietze, den Hannah von Bredow in Briefen CD und seine Studenten CvD  – Christ vom Dienst  – nannten, wurde von der Gestapo im September 1944 verhaftet, ins KZ Ravensbrück verbracht und dort Goerdeler gegenübergestellt, der laut Dietze „auf teuflische Weise völlig willenlos gemacht worden war.“ Nach Monaten der Internierung wurde Dietze „wegen Beteiligung an der organisatorischen Vorbereitung des Umsturzes“ angeklagt. Der Tod des Anklägers Roland Freisler Anfang Februar 1945 und der Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ verhinderten den Prozess und die Vollstreckung des als sicher geltenden Todesurteils. Dietze konnte am 24.  April aus dem Gestapo-Gefängnis in der Berliner Lehrter Straße 5 flüchten und in einem Keller vor Bombenangriffen Schutz finden. Knapp drei Wochen später hält Hannah von Bredow fest: „Am 10. Mai erschienen die Professoren von Dietze, Ritter mit Frau und Lampe und wohnten bei uns.“ Der Kontakt Hannah von Bredows zur Familie Dietze war ab dem Jahre 1937, in dem Dietze im April einen Ruf an die Universität 134

Freiburg angenommen hatte, nicht abgebrochen. Als im Juni 1937 verschiedene Mitglieder der Bekennenden Kirche in Potsdam festgenommen wurden, vermutete Hannah, dass „im Zuge der Vorbereitung der Kirchenwahlen weitere Verhaftungen folgen“ könnten. Sie war froh, dass „C.D. verreist ist; seine arme Frau, die heute aus Freiburg zurückgekehrt ist, empfindet natürlich Sorgen“. Hannah von Bredow konnte aber nur kurz beruhigt sein. Am 22. Juli 1937 muss sie ihrem Briefpartner berichten, dass „C.D., mein getreuer Nachbar seit dem elften Juli sitzt. Ich bin ganz außer mir für die arme Frau, möchte am liebsten gleich hinfahren, um ihr zu helfen. Außer C.D. noch neun andere in P. darunter zwei Damen.“ Dietze war beim Besuch seiner vorläufig in Potsdam gebliebenen Familie wegen seiner Tätigkeit in der Bekennenden Kirche verhaftet, die Anklage wegen Hausfriedensbruch und Störung eines Gottesdienstes jedoch niedergeschlagen worden. Sorgen um Margarethe von Dietze musste Hannah von Bredow sich dagegen weiterhin machen. Mitte  August 1937 berichtet sie: „Frau v. D. ist heute ums Haar verhaftet worden, schließlich nahm man aber doch nur den Pastor mit, den sie in das Gefängnis gebracht hatte, um andere zu besuchen, und ließ sie gehen. Sie ist aber in der Stadt dauernd von zwei Gestapisten verfolgt worden, die sie nicht verließen, immer drei Schritte hinter ihr.“ In Freiburg im Breisgau, wohin Margarethe von Dietze ihrem Mann Ende des Jahres 1937 folgte, zeigte sich die Gestapo weniger hartnäckig und erleichterte den Dietzes das Leben. Beide waren weiterhin in der Bekennenden Kirche, Constantin von Dietze zudem in den „Freiburger Kreisen“ aktiv. Nach Ende des Krieges nahm Constantin von Dietze im Sommer 1945 seine Lehrtätigkeit an der Universität Freiburg wieder auf. Von 1946 bis 1949 war er Rektor der Universität, dann auch Direktor des Instituts für Agrarwissenschaften. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland wählte ihn von 1955 bis 1961 zu ihrem Präses. Von ihrem benachbarten Nachkriegswohnsitz Basel aus besuchte Hannah das Ehepaar Dietze regelmäßig. Constantin von Dietze überlebte Hannah von Bredow um zwei Jahre, seine Frau Margarethe um sechs Jahre.

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Unter politisch Gleichgesinnten im Solf-Kreis Hannah von Bredows Interesse an historisch-politischen Fragen und Zusammenhängen war deutlich ausgeprägter als bei den Meisten, die ihr in der Bekennenden Kirche nahestanden. Besonders schätzte sie den politischen Gesprächskreis von Wilhelm und Johanna Solf in der Alsenstraße  9 im Berliner Tiergartenviertel. Hier traf sie regelmäßig und in unterschiedlicher Zusammensetzung ehemalige und aktive Diplomaten, Offiziere der Abwehr sowie Männer und Frauen aus Kunst, Wissenschaft und Kultur zum Gedankenaustausch. Mittelpunkt des Kreises war ab dem  Jahre 1936 Johanna Solf, die Witwe des ehemaligen kaiserlichen Gouverneurs von Samoa, späteren Staatssekretärs im Auswärtigen Amt und deutschen Botschafters in Tokio, Wilhelm Solf. Über die Ablehnung des braunen Terrorstaates bestand in dem Kreis von knapp zwei Dutzend Mitgliedern Einigkeit. Man verstand sich als eine Art Hilfsgemeinschaft für Kritiker, Gegner und Verfolgte des NS Staates, als eine Insel des offenen Wortes und der Humanität. Die langen Aufenthalte außerhalb Deutschlands hatten das tiefe Verständnis von Johanna und Wilhelm Solf für andere Kulturen geprägt. Nach acht Jahren Japanaufenthalt waren sie Ende 1928 nach Berlin zurückgekehrt. Wilhelm Solf, der 25 Jahre älter als seine Frau war, hatte das Pensionsalter erreicht. Dennoch machte er sich noch Hoffnungen auf das Amt des Außenministers, wie Hannah von Bredow im Herbst 1931 feststellte. Kurzzeitig war Solf damals im Gespräch, als der amtierende Außenminister Julius Curtius nach dem Scheitern der Zollunion zwischen Deutschland und Österreich vom Amt zurücktreten musste. Zur damaligen kritischen Lage in Berlin schreibt Hannah am 5. Oktober 1931: „Die morgigen Blätter werden alle vom Rücktritt Curtius als ‚fait accompli‘ sprechen, und man hofft auf diese Weise Erfolg zu haben. Die große Schwierigkeit liegt im Nachfolger. Der R.P. hat kategorisch erklärt, dass er Neurath befehlen will, das Portefeuille zu übernehmen; Schleicher ist ihm verhasst, und Solf zu demokratisch.“ Entgegen dem Wunsch des Reichspräsidenten von 136

Hindenburg übernahm aber nicht Konstantin von Neurath, sondern Heinrich Brüning die Leitung des Auswärtigen Amts in Personalunion mit dem Reichskanzleramt. Wilhelm Solf kam für das Ministeramt aus Hannah von Bredows Sicht aber auch deshalb nicht in Frage, weil seine „Auslassungen in der ‚New York Times‘ ganz unglaublich“ waren: „Wenn er wirklich hoffte, Außenminister zu werden, hätte er niemals im jetzigen Augenblick ‚unter Zurückstellung des in der Politik störenden Nationalgefühls‘ eine Verständigung mit Frankreich anraten dürfen.“ Mit seinem Interview wollte Wilhelm Solf zweifellos Wogen glätten helfen, denn die Beziehungen des Deutschen Reichs zu Frankreich waren wegen der Zollunionspläne äußerst gespannt und die Stellung des französischen Versöhnungspolitikers Aristide Briand gefährdet. Den Machtantritt Hitlers sah der liberal-konservative Wilhelm Solf sehr kritisch. In einer Veranstaltung von Gleichgesinnten äußerte er am 30. Januar 1933, dass nunmehr „Finis Germaniae“, das Ende Deutschlands, gekommen sei. In den folgenden Monaten der wachsenden Diskriminierung von jüdischen Gelehrten, Künstlern und Technikern bemühte er sich, diesen zur Einreise nach Japan zu verhelfen, was durch seine guten Verbindungen in einigen Fällen auch gelang.29 Die Briefe und das Tagebuch Hannah von Bredows lassen darauf schließen, dass ihre Kontakte mit dem Ehepaar Solf ab dem Jahre 1934 intensiver wurden. So traf sie Mitte April 1934 bei einer Tischgesellschaft von Johanna Solf auch mit Heinrich Brüning zusammen. Der Reichskanzler war Ende  Mai 1932 zurückgetreten und im ersten Halbjahr 1933 vor der freiwilligen Auflösung der Zentrumspartei im Juni noch kurzzeitig deren Vorsitzender. In der Folge stand er unter wachsendem Druck der Nationalsozialisten, sodass er fünf Wochen vor der „Nacht der langen Messer“ Deutschland am 21. Mai 1934 Richtung Holland verließ. Brüning wäre sicher Opfer der ersten Mordwelle der Hitler-Diktatur geworden, so wie es seinem Amtsnachfolger Kurt von Schleicher erging. Drei Wochen vor dieser Mordserie, dem sogenannten Röhmputsch vom 30. Juni 1934, traf Hannah von Bredow ebenfalls im Hause Solf mit Außenminister Konstantin von Neurath bei einem Mittag137

essen zusammen. Worüber in der Runde geredet wurde, berichtet Hannah nicht, doch gibt sie später ihrer Verwunderung Ausdruck: „wie man Nazi-Außenminister sein und so auf die gesamte Partei schimpfen kann, ist mir ein Rätsel. Die Kleider sind da. Aber was hat man davon?“ Wie Hitlers Vizekanzler Franz von Papen verstand sich auch Konstantin von Neurath als Vasall des „Führers“ und unterschied deutlich zwischen diesem und seinen „braunen NS-Horden“. Das hinderte ihn dennoch nicht, 1937 Mitglied der NSDAP zu werden und auch das Kleid der SS im Ehrenrang eines Gruppenführers zu tragen. Ihr Urteil über den Außenminister hatte Hannah von Bredow schon kurz nach dem Boykott jüdischer Geschäfte, Praxen und Kanzleien am 1. April 1933 gefällt: „Neurath, der zwar kein ganz großer Mann, aber doch ein recht bedeutender Geist sein soll, hat sich vor dem ersten April halbtot geredet, um den Boykott zu verhindern. Er hat – echt deutsch – nicht die Konsequenz seiner erfolglosen Bemühungen gezogen und seinen Abschied eingereicht, sondern hat sich ‚den Argumenten des Chefs gefügt‘. Das ist für einen Außenminister ein ganz unmöglicher Standpunkt.“ Ob im Hause Solf in Gegenwart Neuraths außer der NSDAP auch der „Führer“ kritisiert werden konnte, lässt Hannah offen. Auf einem Empfang der Solfs traf Hannah von Bredow in späteren Jahren auch den englischen Historiker John Bennett-Wheeler. Dieser lebte ab 1927 mehrere Jahre in Berlin, hatte sich auf deutsche Geschichte spezialisiert und stand mit vielen deutschen Prominenten in Kontakt. Er hatte u. a. eine Hindenburg-Biografie verfasst und charakterisierte 1974 in seinem Buch „Knaves, Fools and Heroes. Europe between the Wars“ Hannah von Bredow: Sie habe „Blut und Eisen“ ihres Großvaters geerbt und sich im Gegensatz zu ihren Brüdern, die den Nationalsozialismus aus unterschiedlichen Gründen begrüßten, resolut gegen das Neuheidentum gewandt.30 Regelmäßiger Teilnehmer des Solf-Kreises war der Diplomat Albrecht Graf von Bernstorff. Hannah von Bredow kannte ihn aus Jugendzeiten und traf ihn im Sommer 1931 anlässlich eines Besuchs in London wieder. Seit 1923 wirkte Bernstorff dort an der deutschen Botschaft. Im Juni 1933 berief ihn das Auswärtige Amt von seinem 138

Posten als Vertreter des Botschafters ab und wollte ihn an das Generalkonsulat Kalkutta versetzen, was er als demütigend ablehnte. Seine kritische Einstellung zum Hitlerregime war in Berlin bekannt: „Der Nationalsozialismus richtet sich gegen alles, wofür ich immer eingetreten bin: Geist, Toleranz, Einsicht und Menschlichkeit“, äußerte er einmal gegenüber Besuchern.31 In England hatte Bernstorff keinen Hehl aus seiner Überzeugung gemacht. Zurück in Berlin, ließ Bernstorff sich im Juli 1933 vom Auswärtigen Amt in den einstweiligen Ruhestand versetzen und begann daraufhin eine neue Tätigkeit im Berliner Bankhaus A. E. Wassermann, seiner Hausbank seit vielen Jahren. Auf eigenen Wunsch hin ließ er sich im März 1937 in den endgültigen Ruhestand des diplomatischen Dienstes versetzen. Bald wurde er Mitinhaber der Bank, die nach dem erzwungenen Rückzug der Brüder Wassermann „arische“ Teilhaber benötigte. Die Bank war Partner der Anglo-Palestine Bank. Nach einem im Jahre 1933 zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und der Zionistischen Vereinigung für Deutschland ausgehandelten Abkommen übernahmen es die Partner, für jüdische Auswanderer oder Investoren Kapital aus Deutschland in Form von Waren nach Palästina zu exportieren. Sie erleichterten somit die jüdische Auswanderung aus Deutschland.32 Gemeinsam waren Hannah von Bredow und Albrecht von Bernstorff im April 1934 mit dem ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning bei der schon erwähnten Tischgesellschaft im Hause Solfs zusammengetroffen. Nach diesem Treffen verfolgte Bernstorff das Schicksal Brünings weiter und berichtete Hannah ein Jahr später bei einem Essen von Brünings schwierigem Leben im Londoner Exil. Ständig bedaure Brüning, nicht in Deutschland geblieben zu sein, was Bernstorff als dumm bezeichnete. Dumm fand Hannah dagegen nur das rückblickende Bedauern Brünings, nicht aber den ihn leitenden Gedanken, „denn gemütlich und sorglos lebe man nur, wenn man das Äußerste, also den Tod, in die Kalkulation mit einbezöge.“ Die Flucht vor dem eigenen Schicksal erschien Hannah stets als eine falsche Handlung. Albrecht von Bernstorff unternahm nicht zuletzt als Aufsichtsratsmitglied zahlreicher Firmen viele Reisen. Nach seiner 139

Rückkehr von einer Schweiz-Reise wurde er im  Mai 1940 von der Gestapo in seiner Berliner Wohnung verhaftet und ins KZ Dachau verbracht. Gründe für seine Verhaftung wurden ihm nicht genannt. Bernstorffs zahlreiche Kontakte zu ausländischen Diplomaten und Journalisten, denen seine kritische Beurteilung des NS-Regime nicht verborgen geblieben war, sowie seine Unterstützung von jüdischen Flüchtlingen und Emigranten gaben den Nationalsozialisten genug Verdachtsmomente für eine Überwachung. Ferner wurde vermutet, dass Bernstorff Opfer einer Familienintrige um einen Erbvertrag geworden und von seiner Schwägerin, die über enge Kontakte in die NS-Führungsriege verfügte, denunziert worden war.33 Ende September 1940 wurde er freigelassen. Hannah von Bredow hatte den Kontakt mit Bernstorff viele Jahre im Solf-Kreis und durch gegenseitige Einladungen gepflegt. Dieser endete allerdings mit Bernstorffs erneuter Verhaftung am 30. Juli 1943 abrupt. Er kam zunächst in das Berliner Gestapo-Gefängnis und schließlich in das KZ Ravensbrück. In der späteren Anklageschrift wurde Bernstorff die Zugehörigkeit zum Solf-Kreis und seine dort geäußerten staatsfeindlichen Ansichten vorgeworfen. Die NS-Behörden hatten seit Längerem gegen Johanna Solf und ihren Kreis ermittelt. Der Verdacht hatte sich durch erpresste Geständnisse deutlich erhärtet. Bernstorff musste mehr als ein Jahr KZ-Haft ertragen, bevor die Vernehmungen im September 1944 abgeschlossen und der Volksgerichtshof Mitte November 1944 Anklage gegen ihn, wie auch gegen andere Angehörige des Solf-Kreises sowie Verschwörer des 20. Juli, wegen Wehrkraftzersetzung, Feindbegünstigung und Landesverrats erhob. Die Hauptverhandlung setzte der Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler für den 19. Januar 1945 an, verschob sie aber auf den 8. Februar. Zu diesem Zeitpunkt war der „Blutrichter“ allerdings bereits seit fünf Tagen nicht mehr am Leben. Bei der Hauptverhandlung, die schließlich auf den 27.  April 1945 verlegt wurde, lebte indessen der Angeklagte Albrecht von Bernstorff nicht mehr. Er war „in den Tagen vom 23. bis 25. April von der Gestapo verschleppt und ermordet worden“, schrieb Hannah von Bredow 140

Mitte Januar 1946 ihrem Bruder Albrecht von Bismarck. Seine Leiche wurde nie gefunden. Die Zeit im KZ Ravensbrück verbrachte Albrecht Graf von Bernstorff zeitgleich mit seinem früheren Amtskollegen Otto Carl Kiep, der Mitte Januar 1944 von der Gestapo festgenommen worden war. Hannah von Bredow kannte Kiep seit seiner Zeit als Botschaftsrat in Washington zwischen 1926 und 1931. Otto Kiep schien Hannah sehr zu verehren, denn im August 1929 schreibt sie ihrem Vertrauten Jessen: „Kiep ist gut in New York gelandet und hat mir ein übertrieben inniges Telegramm geschickt, das ich einlege. In Helgoland hatte er mein Zimmer im Hotel Felseneck mit 60!!! tiefroten Rosen anfüllen lassen.“ Kiep leitete im Anschluss an seinen Dienst in der Botschaft Washington von 1931 bis Herbst 1933 das deutsche Generalkonsulat in New York. Dort kam er mit den Nationalsozialisten in Konflikt, als er im März 1933 an einem Bankett zu Ehren Albert Einsteins teilnahm und ihn öffentlich lobte. Einstein hatte kurz zuvor der amerikanischen Presse bekannt gegeben, dass er unter den herrschenden Umständen nicht nach Deutschland zurückkehren werde. Der Ansprache Kieps folgten heftige Proteste aus Berlin und im August 1933 seine Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Das Auswärtige Amt wollte aber nicht auf die Kompetenz von Otto Carl Kiep verzichten. So erhielt er ab 1934 Aufträge zur Leitung verschiedener Wirtschaftsverhandlungen und war ab 1937 der deutsche Vertreter im Londoner Nichteinmischungsausschuss für Spanien. Mit Kriegsbeginn und bis zu seiner Verhaftung im Januar 1944 versah Kiep seinen Militärdienst im „Amt Ausland/Abwehr“ des Oberkommandos der Wehrmacht. Otto Kiep stand außer mit dem Solf-Kreis auch mit dem Kreisauer Kreis, dem Widerstandskreis um James Graf von Moltke, in Verbindung. Moltke warnte Kiep Anfang Januar 1944, dass im September 1943 ein Spitzel in den Solf-Kreis eingeschleust worden war und Kieps Verhaftung bevorstehe. Aufgrund des abgehörten Telefonats der beiden nahm die Gestapo Kiep am 16. Januar und Moltke zwei Tage darauf in Haft.

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Das bespitzelte Treffen des Solf-Kreises hatte am 10. September 1943 nicht in der Alsenstraße bei Johanna Solf, sondern anlässlich ihres Geburtstages bei Elisabeth von Thadden in der Carmerstraße 12 in Berlin-Charlottenburg stattgefunden. Die Gastgeberin hatte auch den Berlinbesucher Paul Reckzeh eingeladen, der einen Tag zuvor ihr Vertrauen mit Grüßen von einem gemeinsamen Schweizer Freund gewonnen hatte. Unter dem Eindruck der italienischen Kapitulation zwei Tage zuvor wurde in der Teerunde auch über ein gut funktionierendes Hilfswerk nach Kriegsende gesprochen. Reckzeh bot sich an, Briefe unzensiert ins Ausland zu bringen. Er entpuppte sich indessen als Gestapo-Spitzel, der seinem Auftraggeber meldete, dass er im Solf-Kreis Zweifel am Endsieg und damit Wehrkraftzersetzung festgestellt habe. Elisabeth von Thadden wurde von der Gestapo am 12.  Januar 1944 in Frankreich festgenommen, ins KZ Ravensbrück verbracht, am 1.  Juli 1944 wegen Landesverrats vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 8. September 1944 hingerichtet. Die Gründerin und Leiterin eines Landerziehungsheims wurde vom NS-Regime „staatsgefährdender Umtriebe“ bezichtigt, da sie auch jüdische Schüler im Heim aufgenommen hatte. Unter dem Vorwand, dass „keine ausreichende Gewähr für eine nationalsozialistisch ausgerichtete Erziehung“ mehr gegeben sei, war das Landerziehungsheim 1941 verstaatlicht und Elisabeth von Thadden ohne Bezüge von der Schulleitung suspendiert worden. In Berlin wirkte sie danach als Schwesternhelferin beim Deutschen Roten Kreuz. Ihr Leben musste sie lassen, weil sie „barmherzige Samariterin sein wollte“, wie sie aus der Haft schrieb.34 Der Prozess gegen Elisabeth von Thadden fand gemeinsam mit dem gegen Johanna Solf und Otto Kiep am 1.  Juli 1944 am Volksgerichtshof in der Bellevuestraße 15 statt. Den Angeklagten wurden Aussagen im Hause Thadden am 10. September 1943 vorgehalten, wonach der Krieg verloren sei, Friedensgespräche mit den Feindmächten zu führen und geeignete Männer für eine neue Regierung zu suchen seien.35 In der Tat fielen an diesem Tag solche Äußerungen, und auch Listen eines Schattenkabinetts Beck/ Goerdeler waren im Umlauf. Otto Kiep war im Fall eines gelunge142

nen Putsches als Reichspressechef vorgesehen. Er wurde am 1. Juli 1944 zum Tode verurteilt und am 26. August 1944 in Plötzensee gehängt. Am selben Tag wie Elisabeth von Thadden, also am 12. Januar 1944, verhaftete die Gestapo auch Johanna Solf und ihre Tochter Lagi Gräfin von Ballestrem. Beide wurden ins KZ Ravensbrück verschleppt, wo sich bereits Albrecht von Bernstorff befand und wenig später auch Otto Kiep eintraf. In einer Denkschrift über ihre Haft zitiert Johanna Solf später den Ankläger Freisler im Prozess vom 1.  Juli 1944 mit den Worten: „Angeklagte Solf, Sie können den Gerichtssaal verlassen. Sie sind stark belastet, aber ich muss noch andere Erhebungen über Sie machen“.36 Johanna Solf wurde im Zuchthaus Cottbus festgehalten und bekam Ende  November 1944 ihre zweite Anklageschrift „Solf und Andere“ zum Termin am 13. Dezember 1944. Der Prozess wurde auf den 5. Februar 1945 festgesetzt. Am 3. Februar war einer der schwersten Tagesangriffe auf Berlin und Johanna Solf erfuhr von einem Mitgefangenen, dass Freisler dabei umgekommen war. Der Prozess entfiel, da auch die Untersuchungsakten vernichtet wurden, die Haft aber blieb. Auch nachdem am 20.April 1945 alle Richter und Angestellten des Volksgerichtshofs geflohen waren, teilte ihr der Chef des Moabiter Untersuchungsgefängnisses mit, „dass keine Rede davon wäre, uns frei zu lassen.“ Am Abend gelang es jedoch dank des Eingreifens von Ernst Ludwig Heuss, Johanna Solf und ihre Tochter aus dem Gefängnis zu holen. Im Prozess hätten sie zweifellos mit der Todesstrafe wegen Hochverrats rechnen müssen. Während des NS-Terrors hatten sich Johanna Solf und ihre Tochter Lagi  jahrelang des Schicksals von Verfolgten angenommen. Zeugnisse geretteter Juden belegen, dass sie ihnen bei der Emigration aus Deutschland beistanden, indem sie Ausreisegenehmigungen und Visa besorgten. Als die Emigration unmöglich wurde, halfen sie den Verfolgten bei Fluchtversuchen und der Vermittlung von Verstecken. So berichtete die „nichtarische“ Schriftstellerin Annie Kraus, dass Gräfin Lagi Ballestrem sie „sechs Wochen lang beherbergte, ohne mich vorher gekannt zu haben.“ 143

Und sie ergänzte zum Solf-Kreis: „Sie alle riskierten ganz bewusst unaufhörlich ihr Leben, und zwar in umso höherem Grade, als sie selbst bereits durch ihre antinazistische Haltung und Tätigkeit ‚oben‘ sehr schlecht angeschrieben waren.“37 Hannah von Bredow nahm an dem bespitzelten Treffen nicht teil, auch wenn englische Quellen anderes feststellen.38 Sie half aber Verfolgten, wann immer sie konnte. Im Jahre 1943 galt dies besonders für den Großvater von Vera Schieckel-Oppenheim, die mit ihrer Tochter Philippa befreundet war. Veras Großvater Otto von Mendelssohn Bartholdy lebte als hochangesehener Bankier in der Potsdamer Villa „Casa Bartholdy“ in der Bertinistraße. Folgeverordnungen zu den Nürnberger Rassegesetzen zwangen ihn 1938, sein Aufsichtsratsmandat als Hauptaktionär der I.G. Farben niederzulegen. Als seine Frau Cécile im  Februar 1943 starb, beschlagnahmten die NS-Machthaber seine Villa und zwangen ihn zum Umzug in das Gärtnerhaus des Anwesens. Grund für die Schikane war, dass Otto von Mendelssohn Bartholdy seit Mai 1940 wegen drei jüdischer Großeltern als „Volljude“ galt und nach dem Tod seiner als „Mischling 2. Grades“ geltenden Ehefrau nicht mehr durch diese Ehe geschützt war. Es blieb für Otto von Mendelssohn nicht bei dieser Demütigung. Im Herbst  1943 wurde er von der Gestapo verhaftet. Auf diesen Ernstfall hatte Hannah von Bredow sich schon eingestellt, als Vera Schieckel sie von der Verhaftung ihres Großvaters unterrichtete. Hannah alarmierte ihren Bruder Gottfried von Bismarck, den Regierungspräsidenten von Potsdam, der in Erfahrung bringen konnte, dass Mendelssohn im Gestapo-Gefängnis in der Berliner Prinz-Albert-Straße inhaftiert war und mit dem nächsten Transport in das KZ Theresienstadt verbracht werden sollte. Kraft seines Amtes und wohl auch dank der jüngst erfolgten Beförderung zum SS-Oberführer gelang es Gottfried von Bismarck, den Häftling freizubekommen.39 Otto von Mendelssohn Bartholdy erlebte das Ende  des Zweiten Weltkriegs in Potsdam. Als klar wurde, dass er seine von den Nationalsozialisten enteigneten Besitztümer nicht zurückerhalten würde, sondern dass diese der Verstaatlichung durch die sowjeti144

sche Besatzungsmacht unterlagen, übersiedelte er in die Schweiz. Hannah von Bredow traf ihn häufig in Basel, als sie im „Schweizer Hof“ und Mendelssohn im „Berner Hof“ lebte. Auch begleitete sie ihn nach Bern zur schweizerischen Verrechnungsstelle, die sein Bankvermögen in der Schweiz als „deutsches Eigentum“ beschlagnahmt hatte. Mit Mühe gelang es Hannah, die Schweizer zur Freigabe des Geldes zu bewegen. Otto von Mendelssohn starb Ende Juli 1949 in hohem Alter in Basel und wurde dort begraben. Weniger erfolgreich war der Einsatz Hannah von Bredows für die „Nichtarierin“ Else von Schlitz-Goertz, „die 1944 von meinem Bruder Gottfried und von mir in Potsdam betreut wurde, weil sie nach Theresienstadt gebracht werden sollte.“ Gottfried von Bismarck erreichte immerhin, dass sie in Süddeutschland untertauchen konnte. Dort blieb sie eine Zeitlang unbehelligt, bevor die Gestapo sie entdeckte und doch noch nach Theresienstadt verschleppte. Immerhin konnte Hannah Ende des Jahres 1945 über das weitere Schicksal der Else von Schlitz berichten: „Sie hat den Aufenthalt in diesem schauerlichen Lager erstaunlicherweise überlebt, wurde befreit und ist jetzt wieder in ihrer unversehrt gebliebenen Heimat auf dem Schloss Brunkensen.“ Unversehrt blieb auch der junge Franzose Jean-Louis de Neuflize, den Hannah von Bredow Mitte September 1945 erneut in ihrem Haus begrüßen konnte. Er war mit einer Spezialmission der französischen Besatzungsmacht in Berlin, nachdem er Ende Januar 1945 aus Hannahs Potsdamer Haus geflohen war. De Neuflize, der als Kriegsgefangener im Berliner Zweig des Münchner NS-Verlags Franz Eher Zwangsarbeit hatte verrichten müssen, war in den Jahren 1943 und 1944 zusammen mit anderen jungen Franzosen häufig Gast bei Hannah gewesen. Drei Monate lang versteckte sie ihn in ihrem Haus vor dem Zugriff der Gestapo, die ihn wegen Konspiration suchte. Von Neuflize musste sie erfahren, dass einer der früheren Gäste „zwei Tage nach seinem Einsatz in der Normandie im August 1944 gefallen“ war und ein anderer „am 26.1.45 im Elsass gefallen, in den Kämpfen gegen eine S.S. Division“. Ihre unerschrockene Furchtlosigkeit, ihr unerschütterlicher Mut und ihre stetige Hilfsbereitschaft befähigten Hannah von Bre145

dow in den Jahren des NS-Terrors, Helferin und Ansprechpartnerin für Verfolgte wie Entmutigte zu sein. Freunde und Bekannte, die ihre Einstellung zum NS-Regime kannten, suchten bei ihr Rat, Stärkung und Trost. Ungeachtet eigener Gesundheits- und Finanzprobleme sowie der Belastung durch die Erziehung ihrer vielen Kinder fand sie immer Zeit für die „Opfer der Angstseuche“. Denn Angst war für sie ein Schlüsselbegriff zur Erklärung der Handlungsweisen von Tätern und Opfern im NS-Regime. Aus zeitlicher Distanz ergründete sie im Jahre 1949 das Phänomen der Angst in einem umfangreichen Essay.40 „Kein Volk leidet mehr unter der Angst, als das deutsche“, erkennt Hannah von Bredow und beschreibt den Besuch eines hilfesuchenden Mannes spät abends im Jahre 1937. Sie kannte den unangemeldeten Besucher nicht, „aber da er sich auf gemeinsame Freunde bezog“, bat sie ihn „einzutreten und brachte ihm einige Erfrischungen, die er heißhungrig verschlang. Er bat um ein Nachtquartier, da er seine Familie nicht ‚unnötig aufregen‘ wolle.“ Da die Familie ganz in der Nähe wohnte, fragte Hannah „ihn unumwunden, ob er auf der Flucht oder aus einem Gefängnis entlassen sei.“ Auf mehreren Seiten gibt sie das Gespräch in Dialogform wieder und erfährt schließlich nach hartnäckigem Drängen, dass der Mann aus dem KZ Sachsenhausen bei Oranienburg kam. Hannah von Bredow insistierte weiter: „Warum wurden Sie verhaftet?“ - „Weil ich erzählt hatte, dass ich bei der letzten Wahl einen leeren Stimmzettel abgegeben hatte, und weil ich einen Bekannten habe, der verhaftet war.“  – „Sie sind also denunziert worden?“  – „Ja“.  – „Von wem?“  – „Von dem Lehrer meines Neffen.“ Als der Unbekannte Hannah mitteilte, dass er wegen seiner Nichtschuld aus dem KZ entlassen worden sei, meinte sie: „Das sind sie alle, es werden ja nur Unschuldige verhaftet, also werden Sie wohl einen anderen Weg gefunden haben.“ – „Ja“ flüsterte er, „ärztliches Attest und – ich habe unterschrieben.“ – „Was denn?“ fragte ich. – „Dass ich schweigen würde.“ Hannah von Bredow will mit dem Beispiel „das Lähmende und Entnervende der Angst“ beschreiben, zumal sie den Mann für nicht feiger als den Durchschnitt hielt. Über das weitere Schicksal des Be146

suchers schreibt Hannah, dass seine Familie „über sein Erscheinen nicht erfreut war, denn nun zog bei ihnen die Angst ein, und seine Schwägerin bat ihn, nach Süddeutschland zu Bekannten zu reisen, was er auch tat.“ Und weiter: „Er wurde dann, ohne es im Mindesten zu wollen, ein Helfershelfer seiner ärgsten Feinde, ein Bazillenträger der Angst, und als der Krieg 1939 ausbrach, trat er in die Partei ein, weil er es nicht mehr aushielt ‚ein Gezeichneter‘ zu sein.“

Im Umfeld der Attentäter des 20. Juli 1944 „Als der Zusammenbruch sich unerbittlich näherte, nahm die Angst noch andere Formen an, denn nun stand vor jenen, die diese Angst zu ihren eigenen Zwecken gefördert hatten, die Frage, wie sie dem Schicksal, das ihnen drohte, entgehen könnten, und sie fanden darauf nur die Antwort, die Angst der anderen, der doch schon fast völlig willenlos Gewordenen, noch zu steigern.“ Diese Erkenntnis bezog Hannah von Bredow nicht nur auf die NS-Morde der letzten Tage vor Kriegsende, als das Deutsche Reich von alliierten Truppen in weiten Teilen besetzt war und SS-Trupps „Defätisten“ und „Verräter“ als „abschreckende Beispiele“ öffentlich hängten. Mit der Verhaftung von rund 5000  ehemaligen Mitgliedern der KPD, SPD und von Gewerkschaftern während der „Aktion Gewitter“ sowie der Hinrichtung von mehr als 200 Personen, die das NS-Regime im Anschluss an den Attentatsversuch vom 20.  Juli 1944 vornahm, hatte es dasselbe Ziel verfolgt.41 Hannah von Bredow war weder Beteiligte noch Mitwisserin des Attentatsversuchs auf Hitler. Mitwisserin von Umsturzplanungen war dagegen ihre 21-jährige Tochter Philippa, die seit 1943 mit dem Verschwörer am Attentat Werner von Haeften befreundet war. Hannah von Bredows Vertrauter Sydney Jessen zählte zum erweiterten Kreis der Widerständler in der Marine.42 Hannahs Bruder Gottfried von Bismarck dagegen war wohl ebenfalls mehr als nur Mitwisser. So war die Schwester vor allem in Sorge um ihn, „weil er den Winter über viel mit Leuten wie Schacht (der auch verhaftet ist), Planck, Olbricht, Stauffenberg zusammen war. – Er meinte, 147

dass ich mir übertrieben Sorgen machte“, teilte sie ihrem Bruder Albrecht am 1. September 1944 aus der Schweiz mit. General Friedrich Olbricht war Chef des Allgemeinen Heeresamtes und einer der führenden Köpfe des Umsturzes, Claus Graf von Stauffenberg war der Attentäter vom 20. Juli 1944. Erwin Planck, Staatssekretär unter den Kanzlern Brüning und von Papen wirkte mit Olbricht, Beck, Goerdeler und anderen an den Staatsstreichplänen mit ; der frühere Reichsbankpräsident und Minister Hjalmar Schacht kannte einige der Verschwörer. Einen Tag nach dem Attentatsversuch eilte Hannah von Bredow zu Bruder Gottfried und traf dort auch auf Marie „Missie“ Wassiltschikow, eine enge Mitarbeiterin im Auswärtigen Amt von Adam von Trott zu Solz, der wiederum an der Vorbereitung des Attentats beteiligt war, am 25. Juli 1944 verhaftet und am 26. August in Plötzensee hingerichtet wurde. Missie stellt in ihrem Tagebuch fest, dass Hannah von Bredow an dem Abend des 21.  Juli „entschlossenen Schritts ins Haus trat“, sich setzte und sofort von ihrem Bruder wissen wollte, wie weit er „in diese Sache verwickelt“ sei: „Du kannst mich nicht länger im Dunkeln tappen lassen. Ich weiß nur zu gut, dass etwas vor sich geht. Ich muss wissen, wo wir stehen“ ergänzte Hannah. Gottfried habe gestammelt und gestottert, ihr aber nichts gesagt.43 Einigermaßen beruhigt verließ Hannah von Bredow am 1. August 1944 mit ihren drei jüngsten Kindern Potsdam und trat eine mehrere Monate zuvor beantragte und kurzfristig genehmigte Reise in die Schweiz an. Während Hannah keine Kenntnis über die Beteiligung ihres Bruders Gottfried hatte, wusste sie sehr wohl von der engen Beziehung ihrer Tochter Philippa zu Werner von Haeften, dem Adjutanten Stauffenbergs, und sorgte sich um sie. Ihrem Bruder Albrecht schreibt Hannah am 1. September 1944: „Ich hatte um Philippa große Angst, denn sie war mit dem jungen Herrn von Haeften sehr befreundet gewesen und hatte ihn noch am 16. in der Bendlerstraße besucht, was sie öfters tat.“ Das Gebäude Bendlerstraße 11–13 war Sitz des Allgemeinen Heeresamtes und des Befehlshabers des Ersatzheeres im Oberkommando der Wehrmacht.

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Von hier aus sollte Stauffenberg nach einem gelungenen Attentat auf Hitler den Putsch organisieren. Werner von Haeften war mit Philippa von Bredow nicht nur „sehr befreundet gewesen“, er hatte der 20-Jährigen im Sommer 1943 sogar einen Heiratsantrag gemacht. Der Etikette entsprechend fragte der Oberleutnant Mutter Hannah um ihre Zustimmung, die diese jedoch mit dem Argument verweigerte, dass sie keine ihrer Töchter als Kriegerwitwe erleben wolle. Philippa hielt den Kontakt zu Haeften dennoch aufrecht, und Hannah vermerkt mehr als ein Jahr später, am 31. Juli 1944, in ihrem Tagebuch: „Da Philippa schwört, dass sie Haeften sah, aber nichts über die Verschwörung weiß, werde ich mit den drei jüngsten Kindern in die Schweiz fahren.“ Werner von Haeften lebte zu dieser Zeit bereits nicht mehr: Zehn Tage zuvor, in der Nacht zum 21. Juli, war er ermordet worden. Werner von Haeften hatte Claus Graf von Stauffenberg beim Attentat in die Wolfsschanze begleitet und war nach dessen Scheitern und beider Rückkehr im Berliner Bendlerblock zusammen mit ihm festgenommen und erschossen worden. Einen Monat nach dem Mord an Haeften verhaftete die Gestapo am 22. August dessen Freundin Philippa als „Mitverschwörerin“ und verbrachte sie in das Berliner Frauengefängnis in der Neuen Kantstraße 79, ein Justiz- und kein Gestapo-Gefängnis. Dabei blieb es für die Familie von Bredow aber nicht, denn Philippas ältere Schwestern Alexandra und Diana kamen in „Sippenhaft“, als sie diese am 23. bzw. 24. August im Frauengefängnis besuchten. Einen Tag darauf sollte die vermeintliche Drahtzieherin Hannah von Bredow verhaftet werden. Hannah von Bredow war indessen noch mit ihren jüngsten Kindern in der Schweiz und musste ihre Rückreise trotz Sorgen um die Töchter verschieben: Zunächst litten die Jüngsten an der Ruhr und der Gelbsucht, und dann zwang Hannah eine hartnäckige Herzmuskelentzündung schließlich zu einem längeren Krankenhausaufenthalt in Basel. Dort ließ sie ihre Söhne Herbert und Leopold Bill zurück. Ihre Ankunft in Potsdam in Begleitung von Tochter Maria und ab der deutschen Grenze unter Bewachung der Gestapo zog sich somit bis zum 9. November 1944 hin.

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Sofort nach Rückkehr erlitt Hannah von Bredow zwei schwere Herzanfälle, welche eine stationäre Behandlung in der Berliner Charité bis Mitte  Dezember erforderlich machten und die von der Gestapo geplante Verhaftung verhinderten. Nach einer Woche Klinikaufenthalt erklärten die Ärzte Hannah für vernehmungsfähig und „es begannen die Verhöre der Gestapo an meinem Bett“. Hannah sollte gestehen, dass sie das Attentat auf Hitler mit Bruder Gottfried im Geheimen vorbereitet hätte: „Die Versammlungen seien in meinem Haus gewesen; Philippa, die mit Herrn von Haeften befreundet und in alles eingeweiht gewesen wäre, hätte die Verschwörer gewarnt, dass ihre Absichten bekannt seien, und deshalb wäre das Attentat übereilt und verfrüht am 20.7. ohne Himmlers Anwesenheit riskiert worden. Das alles sei in meinem Garten am 16.7. von Philippa, mir, Graf Tony Welsburg und Herrn Kapitän Jessen besprochen worden.“ Alexander „Tony“ von Welsburg, war ein Freund von Diana von Bredow und häufiger Hausgast. Er und Sydney Jessen waren bereits vor dem Verhör Hannahs und noch vor den Bredow-Töchtern Alexandra und Diana Ende  Juli 1944 verhaftet und vernommen worden. Philippa, so Hannah an ihren Bruder Albrecht, habe „entgegen ihrem festen Vorsatz, nur zu schweigen, in den Verhören der heißen Augusttage völlig den Kopf verloren.“ Um die belastenden Aussagen im Verhörprotokoll abzuschwächen, intervenierte Hannahs älteste Tochter Marguerite, Oberärztin an der Charité, bei der Gestapo in Abwesenheit ihrer Mutter zugunsten ihrer jüngeren Schwester Philippa. Der Hannah von Bredow ab Mitte November 1944 vernehmende Paul Opitz, Gestapo-Kommissar und SS-Sturmbannführer, zeigte ihr das Protokoll, welches er nach der Vernehmung von Philippa und des Graf Welsburg gefertigt hatte. Ihrem Bruder Albrecht teilt Hannah Mitte Januar 1946 mit: „Philippa hätte von Herrn von Haeften gehört, dass viel Unzufriedenheit unter den Offizieren sei, dass man von allerlei Ereignissen munkelte, und dies alles hätte sie aufgebauscht dem Grafen Welsburg erzählt. Graf Welsburg hatte nämlich – genauso verschreckt wie Philippa und nicht einmal gefoltert, sondern nur angebrüllt – angegeben, dass Philippa 150

ihm auf einer Theaterpartie am 14.7. vom bevorstehenden Attentat erzählt hätte und dass er diese interessante Nachricht nicht für sich behalten hätte.“ Das Protokoll lässt auch Hannah nicht unerwähnt, denn „am 16.7. sei auch in meinem Garten in meiner Gegenwart über das Attentat gesprochen worden. Diesem Gespräch hätten außer Welsburg, Philippa und mir auch Herr Jessen beigewohnt. Herr Jessen hätte diese interessanten Gerüchte seinem Freund Kapitän Kranzfelder im Oberkommando der Marine, das damals unweit Bernau unter dem Decknamen ‚Koralle‘ existierte, mitgeteilt. Dieser hätte seinem Freund Berthold Graf Stauffenberg sehr erschreckt gemeldet, dass alles verraten sei, dass entweder sofort oder gar nicht gehandelt werden könne. Graf Berthold sei sofort zu seinem Bruder, den Grafen Claus gefahren und dieser hätte dann am 20.7. übereilt die Bombe geworfen.“ Der Gestapo-Verhörer Paul Opitz schloss seine Darlegungen zum Protokoll der Vernehmung von Philippa von Bredow und Tony von Welsburg mit der Feststellung, dass „Philippa das auslösende Moment des Attentats gewesen“ sei. Diese Rolle ihrer Tochter bestätigt Hannah von Bredow ihrem Bruder Albrecht Anfang 1946 in keiner Weise, bemerkt zum umgeschriebenen Vernehmungsprotokoll aber: „Es enthielt die unanfechtbare  – und durchaus wahre Tatsache, dass der junge Haeften Philippa schon im Herbst 1943 in alle Pläne seines Chefs Stauffenberg eingeweiht hatte.“ In ihrem Tagebucheintrag vom 31. Juli 1944 hält Hannah fest: „Philippa schwört, dass sie Haeften sah aber nichts über die Verschwörung weiß.“ Die Tochter habe nicht vom konkreten Attentat, sondern lediglich von generellen Putschplänen Kenntnis gehabt. Indirekt bestätigt wird dieser Sachverhalt durch die schriftliche Aussage von Hannah von Bredows Vertrautem Sydney Jessen, der am 28.  Juli 1944 verhaftet worden war. In einer mehrseitigen Erklärung44 berichtet Jessen nach Ende der NS-Diktatur, im Jahre 1946, dass er seine Wochenenden „regelmäßig im Haus von Frau von Bredow verbrachte, in den ersten Kriegsjahren von

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Berlin aus, nach der Zerstörung des Kriegsministeriums von dem Ausweichquartier des OKM [Oberkommando der Marine].“ So befand sich Jessen aussagegemäß auch am 16. Juli 1944 in der Wörtherstraße 15. Seine Erklärung, unterschrieben mit „gez. Dr. Sydney Jessen 1946“, verfasst Jessen nicht in der ersten Person, sondern bezeichnet sich als „Kkpt. Jessen“ und berichtet: „Am Nachmittag erzählte ihm, der wusste, dass Graf von Stauffenberg gerade an diesem Tage vielleicht handeln würde, ein anderer Gast, Graf Welsburg, der ungarischer Staatsangehöriger war und als Bankangestellter in Berlin arbeitete, dass in Berlin das Gerücht umliefe, das Führerhauptquartier würde in der kommenden Woche in die Luft gesprengt werden.“ Jessen beschreibt im Weiteren, dass er das Erlebte am 17. Juli 1944 Berthold Graf Stauffenberg, Völkerrechtsberater im OKM, und seinem Kameraden Alfred Kranzberger, Korvettenkapitän im OKM, mitteilte. Kranzfelder wiederum unterrichtete am 18.  Juli Claus Graf Stauffenberg in der Bendlerstraße, „der sich auf Grund dieser Meldung zu einem sofortigen neuen Versuch entschlossen habe.“ Stauffenberg sah es als letzten Versuch und „hatte sich zum Vortrag am 20. Juli in Rasten­burg angesagt.“ In ihrem Gestapo-Protokoll verwirft Hannah von Bredow die Darstellung Sydney Jessens, wonach er am 16. Juli das Attentatsgerücht vom Grafen Welsberg erfahren habe. Ihrem Bruder ­Albrecht von Bismarck schreibt sie im  Januar 1946 zu ihrer eigenen Protokollaussage: „Das sogenannte Gartengespräch hat nie stattgefunden, was ich ohne Weiteres aus meinem Tagebuch, das ich der Gestapo aushändigte, beweisen kann. Graf Welsburg war am 16.7. nur im Segelboot auf dem Wasser, Kapitän Jessen lag krank zu Bett. Die angeblichen Behauptungen beider Herren sind völlig frei erfunden.“ Und Hannah ergänzt im Schreiben: „Dies Protokoll imponierte dem eklen Opitz ungeheuer, das Tagebuch noch mehr, denn das war ja wirklich ein ‚unwiderlegbarer Beweis‘.“ Diese Aussage Hannah von Bredows ist schwer nachzuvollziehen. In ihrem Tagebuch notiert sie für den 16. Juli 1944 nämlich: „Zum Tee hatten wir Graf Welsburg, J. Graf Hoyos und Herrn Jessen. Die beiden gingen nach dem Abendessen und letzterer 152

übernachtete.“ Sollte Gestapo-Opitz diesen Eintrag gelesen haben, hätte er Hannah von Bredow auf den Widerspruch zu ihrer Protokollaussage hingewiesen. Das entsprechende Protokoll der „Sonderkommission 20. Juli“ existiert nicht mehr. Die Leugnung des Treffens im Brief an den Bruder kann als Bemühen um eine nachträgliche Entlastung Hannahs von einer Mitwisserschaft am Attentat gesehen werden. Sie ist erklärbar aus dem Verfolgungsdruck, welchen das NS-Terrorsystem in zwölf Jahren durch Bespitzelung, Überwachung, und wochenlange, zermürbende Gestapo-Verhöre aufgebaut hatte. Auch konnte Hannah Täuschungen darüber unterlegen gewesen sein, welchen Tagebucheintrag sie Opitz tatsächlich gezeigt hatte. Das Gartengespräch wird nicht nur von Sydney Jessen im Jahre 1946, sondern auch von Philippa in einem Schreiben vom Mai 1970 und einem Gespräch im September 2002 bestätigt.45 Sydney Jessen seinerseits gab im Jahre  1946 ferner zu Protokoll, dass die Indiskretion von der er am 16.7.1944 erfahren hatte, „geringfügig und mutmaßlich wenig gefährlich“ gewesen sei, „da sie aus dem Kreis der unmittelbar Beteiligten stammte und keine unkontrollierbaren Stellen passiert hatte“.46 Jessen ging in seiner Aufzeichnung sogar so weit festzustellen, „dass es nicht zum Attentat am 20. Juli, dem einzigen Tage, an dem durch die Verlegung der Sitzung vom Bunker in die Baracke die technischen Voraussetzungen für ein Misslingen weitgehend gegeben waren, gekommen wäre, wenn Kkpt. Jessen und mit ihm seine Kameraden Kenntnis von der Indiskretion Haeftens gehabt oder sich verschafft hätten.“ Wenn Sydney Jessen, der nach eigener Aussage am 16. Juli 1944 „wusste, dass Graf von Stauffenberg gerade an diesem Tage vielleicht handeln würde“, an diesem Tag von Welsberg erfuhr, dass „das Gerücht umliefe, das Führerhauptquartier würde in der kommenden Woche in die Luft gesprengt“, hätte er sich durchaus nach der Quelle des Gerüchts erkundigen und damit rechtzeitig von Haeftens Indiskretion Kenntnis erhalten können. Offen muss indessen bleiben, ob Stauffenberg seinen Vortrag in Rastenburg mit besseren Erfolgsaussichten auch auf einen anderen Tag hätte verlegen können. Naheliegend ist aber, dass Jessens Hinweis auf die 153

Indiskretion Werner von Haeftens mittelbar Philippa von Bredow als Mitwisserin belastete. Philippa von Bredow wurde am 22. August 1944 verhaftet, nachdem der zuvor verhörte Alexander von Welsburg ihre Verbindung zu dem bereits hingerichteten Werner von Haeften preisgegeben hatte. Auch Briefe und andere Schriftstücke von Philippa, welche die Gestapo in der Wohnung Haeftens vorfand, trugen dazu und zur späteren Anklage Philippas wegen Mitwisserschaft und Beihilfe zum Hoch- und Landesverrat bei. Hannah von Bredow ahnte von Philippas Festnahme, als sie am 24.  August in Basel von ihrer Tochter Marguerite ein Telegramm mit der dringlichen Aufforderung zur Rückkehr erhielt. Sie vermutete sofort die Gestapo dahinter und vermerkt einen Tag später besorgt im Tagebuch: „All diese Sorgen um die Mädchen! Da Alexandra nicht kam, nehme ich an, dass sie auch verhaftet wurde. Aber warum? Sippenhaft wegen Gottfried? Ich kann nur vermuten.“ Bruder Gottfried von Bismarck war in der Nacht auf den 29. Juli 1944 mit dem Vorwurf der Mittäterschaft verhaftet worden. Aber nicht seinetwegen, sondern nach der Belastung Philippas durch Welsburg waren die Schwestern Alexandra und Diana im  August als Geisel in Sippenhaft genommen worden. Die 28-jährige Marguerite entging einer Inhaftierung nach wenigen Stunden des Verhörs, da sie sich als Ärztin in der Charité für unabkömmlich erklären konnte. Im Auftrag der Gestapo musste sie jedoch Eiltelegramme an ihre Mutter Hannah in der Schweiz schicken, um diese zur Rückkehr zu bewegen. Die Gestapo plante Hannah von Bredows Verhaftung. Diese konnte sie aber angesichts von Hannahs schwerer Erkrankung und ihrem Verbleib in Basel nicht vornehmen. Ihr schlechter Gesundheitszustand erforderte nach Rückkehr am 9.  November 1944, dass Hannah in die Berliner Charité eingeliefert und die Verhaftung ab dem 14. November durch Gestapo-Verhöre am Krankenbett ersetzt wurde. Hannah von Bredows Töchter Alexandra und Diana wurden am 16. November aus dem Frauengefängnis in der Berliner Kantstraße 79 nach knapp drei Monaten entlassen, zumal die Gestapo 154

nunmehr Zugriff auf die Mutter in der Charité hatte. Sobald ihr Gesundheitszustand es aber zuließ, bemühte Hannah sich ab Mitte  Dezember 1944 um die Freilassung von Tochter Philippa, die sich indessen noch viereinhalb Monate hinzog. Ihren Kampf um Philippas Freilassung beschreibt Hannah von Bredow später einer guten Freundin: „Wie oft ich auf dem ekelhaften Volksgericht mit diesen Schurken von Staatsanwälten und Richtern oder in der Prinz-Albrechtstraße mit der Gestapo gerungen habe, kann ich Dir nicht sagen. Ich war jede Woche ein bis zweimal da, und schließlich wurden sie mürbe und entließen ­Philippa am 31.  März.“ Der Hauptverhandlungstermin war für den 14. März 1945 angesetzt, kam aber angesichts der am 8. Fe­ bruar vernichteten Untersuchungsakten nicht mehr zustande. Das Schicksal ihres Bruders Gottfried machte Hannah von Bredow nach seiner Festnahme am 29. Juli nicht minder große Sorgen als das ihrer Töchter. Am 31. Oktober, dem Geburtstag ihres Mannes Leopold, vertraut Hannah ihrem Tagebuch an: „Heute wäre Leopold 69. Wie viel ist ihm durch den frühen Tod erspart geblieben. Gottfried ist vom Volksgerichtshof freigesprochen worden. Ich bin sicher, dass Himmler Gottfried nicht gehen lässt und ihn in ein KZ steckt. Das tun diese Kriminellen immer.“ Hannah von Bredow hatte Recht, denn Gottfried von Bismarck kam trotz des Freispruchs „wegen mangelnder Beweise“ am 23. Oktober 1944 als persönlicher Gefangener Hitlers in das KZ Flossenbürg und dann über verschiedene Gefängnisse Anfang  Februar 1945 kurzzeitig noch in das KZ Buchenwald. Von Gottfrieds möglicher Verstrickung in das Attentat hatte seine Schwester wohl keine Kenntnisse, denn am 1.  September 1944 schreibt Hannah ihrem Bruder Albrecht: „Ich habe keine Ahnung, ob Gottfried in der Verschwörung aktiv mit drin war, weiß aber, dass Loremarie, die sich sehr wichtig machte, in der Nacht vom 29. zum 30. Juli lauter Papiere verbrannte. Melanie ahnte von allem nichts“. Loremarie, die Prinzessin Eleonore-Marie Schönburg-Hartenstein, war eine Kusine und enge Freundin von Gottfried; Melanie war seine Frau und wurde am 1. August für zwei Monate in Gefängnishaft genommen. 155

Die Zweifel Hannah von Bredows an der Verstrickung ihres Bruders Gottfried waren auch nach dem Gespräch mit ihm einen Tag nach dem Attentat geblieben. Ihrem Bruder Albrecht schildert sie ihre Stimmung: „Die Tage vergingen, und man merkte äußerlich nichts, alles lief wie gewöhnlich. Ich hörte, dass der Polizeipräsident Graf Helldorff, Herr Planck jr., der ehemalige Staatssekretär, Oberst Momm von der Kavallerieschule Krampnitz verhaftet worden seien und fragte Gottfried nochmals voll größter Angst, ob er denn so sicher sei, dass man nicht zu ihm käme. Er meinte, dass man dann jeden verhaften könne und das war mir ein magerer Trost.“ Gottfried von Bismarcks Aussage konnte Hannah von Bredow nicht zufriedenstellen, da sie seit Mitte des Jahres 1942 meinte, eine Ernüchterung Gottfrieds gegenüber dem NS-Regime feststellen zu können. Deshalb hatte sie Vertrauen in ihn gefasst und sich laut Tagebuch am 16. Juni 1942 mit einer Bitte an ihn gewandt: „Gottfried wegen armen alten Mendelssohn-Bartholdy aufgesucht. Da gibt es scheint’s eine neue Nazi-Verwirrung.“ Es ging dabei um die drohende Enteignung des Vermögens von Otto und Cécile Mendelssohn, wogegen sich Gottfried allerdings vergeblich verwandte. Ein Jahr später war er dagegen erfolgreicher, als Hannah ihn im Herbst 1943 bat, Otto von Mendelssohn-Bartholdy aus der Haft zu befreien. Ihr Eintrag vom 17. Januar 1944 bestätigt den Einsatz ihres Bruders: „Mrs Grafstroem, geb. Mendelssohn zum Tee, um uns zu danken. Gottfried hat ihren Vater vor der Deportation bewahrt.“ Auch Hannah von Bredows Tagebucheintrag vom 12.  August 1943 spricht für die Distanzierung des Bruders Gottfried von einem Kernpunkt der NS-Ideologie: „Gräfin Goertz geb. Mayer zum Abendessen. Lebt bei Gottfried. Als Jüdin Probleme bei Unterkunft, da Gräfin Lehndorff, bei der sie wohnte, Berlin verlassen hat.“ Ob Gottfried von Bismarck die Ernennung zum SS-Oberführer im Jahre 1943 und Anfang 1944 die zum SS-Brigadeführer möglicherweise zur Tarnung annahm, kann ebenso wenig beurteilt werden wie seine Teilnahme an „einer Loyalitätsbekundung der Potsdamer für Hitler auf dem Bassinplatz“, wie Hannah einen Tag nach dem Attentatsversuch, am 21.  Juli 1944, im Tagebuch festhält. 156

Ulrich von Hassell, der am 8.  September 1944 in Plötzensee hingerichtete Widerstandskämpfer, Verehrer des Reichskanzlers Otto von Bismarck und gute Bekannte der Bismarck-Enkel, gibt in seinem Tagebuch keine Hinweise auf die politische Einstellung Gottfrieds. Er lobt lediglich dessen Gastfreundschaft. Sein Eintrag nach einem Treffen mit den Brüdern am 30. August 1943 ist wenig schmeichelhaft: „Diese Bismarckenkel sind weit mehr Hoyos als Bismarck, aber auch ihre Mutter ist mehr Persönlichkeit als sie.“ Hassell vergleicht die Brüder mit ihren Schwestern und bemerkt: „Hannah Bredow und auch die Gräfin Keyserling, deren ziemlich unerfreulicher Mann zum Kummer der Schwäger den schönen Weinkeller in Schönhausen austrinkt, haben mehr vom Großvater geerbt.“47 Eine Nähe Gottfried von Bismarcks zum aktiven Widerstand um Beck, Goerdeler, Moltke, Popitz oder Stauffenberg lässt sich Ulrich von Hassels Eintragungen nicht entnehmen. Anfang  Dezember 1943 lobt Hassell das „fabelhafte Niveau“ des Hauses von Gottfried, der „Regierung“ in Potsdam, und ergänzt: „Er selbst ist dabei nett und bescheiden, tritt hinter seinen Gästen zurück und versucht die Gesellschaft lebhaft zu gestalten.“48 Und am 23. Februar 1944 hält er fest: „Neulich abends bei Gottfried Bismarck, um seinen Bruder Otto zu sehen.“ Dieser Eintrag spricht eher für eine größere Nähe des Widerständlers Ulrich von Hassell zum älteren der Bismarck-Brüder. Gottfried von Bismarcks Rolle bei den Umsturz- bzw. Attentatsplanungen ist schwer zu ermitteln. Dass er seinen Potsdamer Dienstsitz zu Gesprächen von Widerständlern anbot, ist erwiesen. Die „Regierung“ war gegenüber der Gestapo angesichts des hohen SS-Ranges des Hausherrn ein sicherer Treffpunkt. Dass er an der Attentatsplanung aktiv teilnahm und sogar in einer von Carl ­Goerdeler geführten Regierung als Außenminister vorgesehen war,49 kann den vom Januar 1943 bis Juli 1944 entworfenen fünf Ministerlisten ­Goerdelers nicht entnommen werden. Alle weisen Ulrich von Hassell bzw. Werner von der Schulenburg als Kandidaten für das Außenministeramt aus.50 In der umfassenden Abhandlung über Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung des Goerdeler-Vertrauten und Historikers Gerhard Ritter wird Gottfried von Bismarcks Namen 157

a­ nders als der von Constantin von Dietze - nur am Rande und nicht in Verbindung mit Umsturzplanungen bzw. Widerstandsaktivitäten erwähnt. Hannah von Bredows Feststellung, dass Gottfried von Bismarck im Winter 1943/44 mit Leuten wie Hjalmar Schacht und Erwin Planck sowie den am Attentat beteiligten Claus von Stauffenberg und Friedrich Olbricht zusammen und mit letzterem sogar befreundet war, heißt nicht unbedingt, dass er in Umsturzplanungen der Goerdelergruppe eingeweiht war und im Attentatsvorhaben der Gruppe um Stauffenberg eine aktive Rolle spielen sollte.51 Andererseits belegt der Bericht von Ernst Kaltenbrunner, Chef des Sicherheitsdienstes, an Reichsleiter Bormann 10 Tage nach dem Attentat, dass Gottfried von Bismarck am 20.  Juli 1944 im Hause von Wolf-Heinrich Graf von Helldorff und anschließend zusammen mit diesem im Bendlerblock, dem Zentrum der Verschwörer, war.52 Seit der gemeinsamen Zeit im Studentenkorps Saxo-Borussia war Gottfried mit dem Berliner Polizeipräsidenten Helldorff befreundet. Wolf-Heinrich von Helldorff war bereits 1931 der SA beigetreten und organisierte als SA-Führer in Berlin schon Mitte September 1931 antijüdische Krawalle. Ab dem Jahre 1938 presste er emigrationswilligen Berliner Juden die sogenannte Helldorff-Spende ab. Nach wie vor ungeklärt ist, wann Helldorff sich vom NS-Terror distanzierte und welchen Beitrag er zum Attentatsversuch leistete.53 Am 20.  Juli 1944 schien Helldorff als Polizeipräsident von Berlin noch das Vertrauen der NS-Machthaber zu besitzen, ebenso wie Gottfried von Bismarck als Regierungspräsident von Potsdam. Kurz nach dem gescheiterten Attentat wurde Helldorff verhaftet, am 15.  August zum Tode verurteilt und noch am selben Tage in Plötzensee hingerichtet. Beim Urteil spielte zweifellos eine große Rolle, dass der Renegat Helldorff ein früherer Schützling von Hitler, Himmler und Goebbels gewesen war. Freisler, der Präsident des Volksgerichtshofs, tobte bei der Urteilsverkündigung: „Man sollte meinen, im Bereich des Verrates sei eine Steigerung des Abscheus und der Verachtung nicht mehr möglich.“54 Gottfried von Bismarcks Seitenwechsel beurteilte die „Sonderkommission 20. Juli 1944“ nach seiner Verhaftung am 29. Juli und ersten Verhören zunächst nicht viel milder. Sie kam zum Schluss, 158

dass Gottfried aktiv in den Attentatskomplex verwickelt sei. Zu diesem Urteil trug bei, dass der Verschwörer Carl Goerdeler im Verhör laut Bericht Kaltenbrunners an Bormann vom 17. August anmerkte, Stauffenberg habe Gottfried von Bismarck im Juni 1944 mit Blick auf Friedensinitiativen um Kontakt zum britischen Premier Churchill gebeten.55 Gottfried von Bismarck bestritt dies.56 Er hatte sich aber sehr wohl zuvor, im  August und  Dezember 1943, mit dem schwedischen Bankier Jacob Wallenberg in der Hoffnung getroffen, mit dessen Hilfe Friedensfühler zu Churchill ausstrecken zu können. Auch Goerdeler nahm an den Treffen teil.57 Hätte der Volksgerichtshof Gottfried von Bismarck wegen aktiver Teilnahme am Attentatsversuch auf Hitler schuldig gesprochen, wäre dies zweifellos sein Todesurteil gewesen. Der Volksgerichtshof sprach Gottfried aber am 23. Oktober 1944 mangels Beweisen frei. Gemäß dem Zeugnis von Gottfrieds Freundin Marie „Missie“ ­Wassiltschikow kommt Loremarie, der Prinzessin Eleonore-Marie Schönburg-Hartenstein, hierfür das Verdienst zu. „Missie“ berichtete Ende Juli 1944 nämlich, Gottfried habe kurz vor seiner Verhaftung, also am 25. oder 26. Juli, Loremarie mitgeteilt, „dass der von Stauffenbergs Attentat übriggebliebene Sprengstoff in einem Safe in der ‚Regierung‘ in Potsdam versteckt sei“ und ihr den Schlüssel für den Safe gegeben.58 Auf einer ganzen Seite ihrer Erinnerungen gibt Missie ­Wassiltschikow im Detail wieder, wie Eleonore-Marie SchönburgHartenstein eines von zwei Paketen „so groß wie Schuhkartons hinter einigen Büschen im Park“ sowie das andere mit Hilfe des Bismarck’schen Mädchens Anna „in einem Blumenbeet im Garten“ vergraben habe. Bewundernd urteilt Missie: „Es ist durchaus möglich, dass Loremarie Gottfried buchstäblich das Leben gerettet hat.“59 Noch eine Woche zuvor, am 23.  Juli 1944, hatte Missie nach einem Treffen mit Gottfried von Bismarck allerdings festgestellt, dieser „glaube nicht, dass man ihn verhaften werde.“ Der Sprengstoff in seinem Safe schien ihm demnach drei Tage nach dem gescheiterten Attentat sowie nach den ersten Verhaftungen und Hinrichtungen noch keine Sorge bereitet zu haben. 159

Am 27. Juli 1944 schrieb Missie, dass Gottfried sie aufgefordert habe, mit ihm und Loremarie am nächsten Tag auf sein Gut Reinfeld in Pommern zu fahren: „Er meint, inzwischen sei eine Woche vergangen; er habe während dieser Zeit ruhig zu Haus gesessen und damit bewiesen, dass er nichts zu befürchten habe. Jetzt sei es aber vielleicht doch ratsamer, die Stadt zu verlassen.“60 Hannah von Bredow mag am selben Tag mehr von ihrem Bruder erfahren und ihn gewarnt haben, als sie im Tagebuch bemerkt: „27.07.: Wir hatten besonders angenehmen Tee mit Gottfried. Gott behüte ihn!“ Einen Tag darauf stellt sie fest: „Gottfried nach Reinfeld, wo er 14 Tage bleiben will.“ Am 29. Juli heißt es: „Gottfried wurde in Reinfeld in der Nacht zuvor festgenommen.“ Den Sprengstoff in der „Regierung“ erwähnt Hannah von Bredow auch später nicht. Ihrem Bruder Albrecht von Bismarck schildert Hannah von Bredow Mitte Januar 1946 die Details der Odyssee Gottfried von Bismarcks als „Hitlers persönlicher Gefangener“ durch die Gefängnisse und KZs nach dem Freispruch am 23. Oktober 1944 und bis zur Freilassung: „Am 8.2. wurde Gottfried nach Berlin zurückgebracht und in der Prinz Albrechtstraße 8 entlassen. Er hatte nur die Erlaubnis, sich in Reinfeld (das fiel der Russen wegen aus) oder in Friedrichsruh aufzuhalten. Ich sah ihn am 9.2. wieder – es war unendlich ergreifend. Wie es zu seiner Freilassung kam, die auf Himmlers Befehl über Müller hinweg erfolgt war, haben wir nie erfahren.“ Ob der Gestapo-Chef im Reichssicherheitshauptamt, Heinrich Müller, die Gründe für die Freilassung kannte, ist nicht überliefert. Der Freispruch und die spätere Freilassung von Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen waren in Verbindung mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 beispiellos. Die Gründe sind bis heute ungeklärt. Franz von Papen hält sich in seinen Memoiren zugute, dass er am 15. August 1944, also gut zwei Wochen nach Gottfrieds Festnahme, Hitler in der Wolfsschanze beschwor, er dürfe „dem Auslande niemals das Schauspiel bieten, einen Enkel des Eisernen Kanzlers wegen dieser Sache aufhängen zu lassen.“61 Nach dem Freispruch warf Innenminister Heinrich Himmler Gottfried von Bismarck in einem Briefwechsel im Dezember 1944 160

lediglich vor, dass er „defätistische Redensarten“ nicht gemeldet habe, die er u. a. auch von Stauffenberg gehört habe. Auch die familiäre Nähe zu Hannah von Bredow war Himmler bekannt. Auf dessen Frage, was Gottfried nach einer möglichen Freilassung tun werde, antwortete dieser, er habe bereits alles mitgeteilt und werde sich in alter Militärtradition an die Front melden.62 Hierzu kam es nach der Freilassung am 8. Februar 1945 nicht mehr. Gottfried von Bismarcks Entlassung aus der Haft dürfte maßgeblich von seiner Mutter und Bruder Ottos schwedischer Frau Ann Mari betrieben worden sein. Beide wandten sich an schwedische Diplomaten, die wiederum Hitlers letzten Geheimdienstchef Walter Schellenberg um Intervention baten. Nach seiner Verhaftung im Jahre 1946 versicherte Schellenberg eidesstattlich, dass er zugunsten Gottfried von Bismarcks bei Heinrich Himmler vorstellig geworden war und von ihm erfahren hatte, dass es unmöglich sei, „ohne Hitler in dieser Sache zu entscheiden.“63 Vermutlich entschied Hitler zugunsten der Freilassung, um dem Ausland nicht zugestehen zu müssen, dass ein Enkel des großen Reichskanzlers nach dem Leben des „Führers“ getrachtet hatte. Hannah von Bredow traf ihren Bruder Gottfried nach dessen Freilassung noch häufiger in Potsdam, bevor er nach Schönau, in ein Vorwerk von Friedrichsruh, übersiedelte. Ende April 1945 vernichteten Bomben das Schloss Friedrichsruh fast vollständig. Der Schweizer Generalkonsul Adolf Zehnder und Ehefrau sowie zwei Konsulatsangestellte und die Haushälterin der Bismarcks waren Opfer des Luftangriffs. Marguerite Fürstin von Bismarck blieb unversehrt und wartete das Ende des Krieges zusammen mit ihrem Sohn Otto und dessen Frau Ann Mari in der Kutscherwohnung ab. Verständlicherweise verfolgte Hannah von Bredow nach bald 20  Jahren Bekanntschaft und intensivem Schriftwechsel mit Sydney Jessen das Schicksal ihres Vertrauten in Verbindung mit dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 besonders engagiert. Hannah beschreibt ihrem Bruder Albrecht am 1. September 1944, dass Jessen sie am 28. Juli morgens aus Berlin-Bernau anrief und ihr mitteilte, dass er umgehend kommen wolle, um sich von ihr zu verabschieden. Er erklärte ihr, dass am Vortag alle Offiziere der 161

3. Seekriegsleitung, also auch Jessen, verhört worden waren, zumal der dort tätige Berthold von Stauffenberg, der Bruder des Attentäters, seit dem 20. Juli flüchtig sei. Dessen Adjutant Alfred Kranzfelder habe sich in Widersprüche verwickelt und sei sofort verhaftet worden. In ihrem Hause erfuhr Hannah von Sydney Jessen, dass die Gestapo ihn nachmittags einbestellt habe, „weil noch Einiges zu klären sei“. Hannahs Vermutung, dass er verhaftet werden solle, wies Jessen mit der möglicherweise als Schutzbehauptung zu wertenden Bemerkung zurück: „Sie waren am Telefon doch so höflich! Und im übrigen war ich völlig ahnungslos.“ Sie warnte ihn aber dringlich und „zwang ihn, einen Koffer mit Hemden, Zahnbürste etc. zu packen, und um 4 Uhr fuhr er in die Prinz-Albrecht-Straße 8 in das Hauptquartier der Gestapo“, berichtet Hannah ihrem Bruder ­Albrecht. Jessen sei sofort verhaftet worden, erfuhr Hannah von seiner Sekretärin und schreibt am 1. September 1944 in der Schweiz deprimiert ins Tagebuch: „Inzwischen ist er wohl schon tot.“ Sydney Jessen erhielt ab Anfang August 1944 im Gefängnis täglich  Briefe von Hannah von Bredow aus der Schweiz. Schon vor Jessens Festnahme hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht, wie ihr Eintrag vom 22. Juli erkennen lässt: „SJ leidet an schwachem Herzen. Die aktuelle Lage ist kaum erträglich für ihn. Er vermisst auch seine Sekretärin, die in Madrid Urlaub macht und die er liebt, ohne es sich zuzugeben.“ Und einen Tag darauf vermerkt sie: „SJ unwohl mit einer Augeninfektion und Sehnsucht nach seiner Sekretärin Frau Kübler, die in Spanien ist.“ Hannah von Bredow lagen Missgunst und eigentlich auch Eifersucht fern. Schon früh hatte sie Sydney Jessen mitgeteilt, dass sie keine Eifersuchtsgefühle kenne. Darin war sie ihrem Vater ähnlich, ihrer Mutter sehr unähnlich. Diese hatte ein Leben lang unter der Affäre ihres Mannes mit Elisabeth Fürstin zu Carolath-Beuthen gelitten und erklärte ihrer Tochter: „Ja, er [Herbert von Bismarck] begriff keine Eifersucht. Diese entsetzliche Eigenschaft hast Du von ihm geerbt. Ich aber kenne keine Liebe ohne diese Spannung!“ Hannah von Bredows Sorgen um Jessen verstärkten sich Mitte  September 1944, begründet in ihrer Distanz am Schweizer 162

Aufenthaltsort zum Geschehen. Sie macht sich im Tagebuch Sorgen, dass Jessen unter Folter sie oder eine ihrer Töchter benennen könne, von der er den Hinweis auf den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 erhalten habe. Nach anfänglicher Weigerung, einen Namen zu nennen, war Jessen aber laut eigener Aussage „vor die furchtbare Frage gestellt, ob er den Grafen Welsburg nennen sollte, den durch die Weitergabe des Gerüchtes mittelbar Beteiligten, oder ob er die Inhaftnahme von Frau von Bredow durch Verweigerung einer Namensnennung heraufbeschwören sollte.“64 Sydney Jessen nannte den Namen Welsburgs und belastete Hannah von Bredow und ihre Töchter demnach nicht. Ohne aber eine andere Lösung anzudeuten, stellt Hannah am 2.  April 1945 vorwurfsvoll fest: „Welsburgs Prozess geplant. Armer, verteidigungsloser Mann. SJ hätte niemals seinen Namen nennen sollen. Jetzt ist es zu spät.“ Das weitere Schicksal Alexander von Welsburgs beschreibt Hannah später ihrem Sohn Leopold Bill: „Der arme Welsburg fiel dann am 25.4. auf der Flucht aus der Lehrter Straße in einem Bombenangriff der Russen, weil er, als Alarm gegeben wurde, nicht mit Dietze, Lampe, Ritter, Pilati, Jessen etc. in einem Keller Schutz suchte, sondern zu seinem Bruder nach Grunewald eilen wollte, um ‚endlich ein gutes Beefsteak‘ zu essen. Dietze versuchte noch, ihn zurückzuhalten, vergebens. Und so endete sein junges Leben völlig sinnlos am Reichskanzlerplatz.“ Nach ihrer Entlassung aus der Charité besuchte Hannah von Bredow den inhaftierten Jessen trotz ihrer körperlichen Schwächen wöchentlich im Zellengefängnis in der Lehrter Straße 5. und schreibt Bruder Albrecht Anfang 1946: „Mitte Dezember hatte ich bei Opitz in Steglitz eine Sprechstunde mit dem armen Jessen, dessen Schwester aus Hamburg gekommen war, um ihn zu besuchen. Er war in einem erschreckenden Zustand; Hungerödeme, schweres Herzleiden, völlig apathisch. Die Familie Jessen hatte sich überhaupt nicht um ihn gekümmert, so war er lange nur auf die Gefängniskost angewiesen gewesen und daran starb man allmählich. “ Hannah sorgte für ärztliche Behandlung und beschaffte ihm Essen, um „ihm etwas Lebensmut einzuflößen.“ 163

André François-Poncet, Botschafter der Republik Frankreich und Reichskanzler Adolf Hitler in Berlin 1936

Prof. Dr. Constantin von Dietze, Nachbar in der Wörthstraße und enger Vertrauter von Hannah von Bredow zwischen 1932 und 1937 164

Hannah von Bredows ­Intimfeind und Freund der Brüder: Wilhelm von Wedel, von 1936 bis 1939 Leiter der Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Potsdam

Otto Fürst von Bismarck und Adolf Hitler in Friedrichsruh 1939

Hannah von Bredow mit ihren Geschwistern in Friedrichsruh 1941 165

Weihnachten 1944 bat Hannah von Bredow ihre Tochter Diana, Jessen und der noch inhaftierten Philippa Geschenke ins Gefängnis zu bringen und besuchte beide am 30. Dezember. Von Januar bis März 1945 setzte Hannah ihre Gefängnisbesuche fort. Während Philippa Ende März freikam, gelang dies Jessen erst, nachdem die Sowjets am 25. April Berlin nördlich der Spree besetzt hatten. Fünf Tage zuvor, am 20. April „war den ganzen Tag ein Fliegergroßangriff nach dem anderen, weil es der letzte Geburtstag des eklen Hitler war“, schreibt Hannah im Januar 1946 ihrem Bruder Albrecht. Am 25. April 1945 erschien Jessen, dem „in letzter Minute die Flucht aus dem Gefängnis mit 38 anderen gelungen war“, unerwartet bei Hannah von Bredow. Er war erschöpft, herzkrank und von Ödemen gezeichnet, sodass Hannah ihn wochenlang in ihrem Haus pflegte. Anfang Juli ging Jessen, dessen Zustand sich nicht gebessert hatte, nach Berlin-Wannsee in ein Krankenhaus im amerikanischen Sektor. Bis zum Jahresende 1945 sah man ihn häufiger im Hause Bredow, zunächst noch in Potsdam und später in Berlin – nicht immer zur Freude der ganzen Familie. Zur Klarstellung ist anzumerken, dass Sydney Jessen in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu Jens Peter Jessen stand. Beide werden in der Literatur häufig verwechselt. Der Namensvetter war habilitierter Wirtschaftswissenschaftler und machte zunächst als engagierter Nationalsozialist Karriere bis zum Ordinarius an der Handelshochschule in Berlin. Vom preußischen Finanzminister Johannes Popitz Ende 1939 in die regimekritische Mittwochsgesellschaft eingeladen, kam Jens Jessen in Kontakt mit der Widerstandsgruppe um Ludwig Beck und Ulrich von Hassell sowie mit dem Kreisauer Kreis. Bald gehörte er zu deren engeren Freundeskreis und nahm an den Beratungen über Pläne nach dem Umsturz teil.65 Am 11. Oktober 1944 wurde Jens Jessen in Folge des gescheiterten Attentats vom 20.  Juli verhaftet. Knapp einen Monat später verurteilte ihn der Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler wegen „Nichtanzeige eines hochverräterischen Unternehmens“ zum Tode. Am 30. November wurde Jens Jessen in Plötzensee gehängt. Nach dem gescheiterten Putschversuch ging Hannah von Bredow das weitere Schicksal von Erwin Planck, ihres Gewährsmannes zu 166

Beginn der 1930er Jahre, nicht so nah wie das ihres engen Vertrauten Sydney Jessen. Dennoch wusste sie, dass Planck mit den Verschwörern des 20. Juli 1944 in engem Kontakt gestanden hatte. Als sie ihrem Bruder Albrecht Anfang  September 1944 detailliert die Abläufe vor und nach dem Hitler-Attentat beschrieb, erwähnte sie, dass Erwin Planck drei Tage nach dem gescheiterten Attentat verhaftet wurde. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn am 23. Oktober 1944 zum Tode. Drei Monate später, am 24. Januar 1945, schreibt Hannah, es gebe „Gerüchte, dass Planck und Moltke gestern hingerichtet“ worden seien und ergänzt: „Das wäre schlimm, denn Frau Planck war nach einem Brief von Himmler mit dem Inhalt, dass er inhaftiert, aber nicht exekutiert werde, optimistisch.“ Ausgesprochen pessimistisch war Erwin Plancks Frau Nelly dagegen nach der Antwort, die sie von Franz von Papen, Erwins früherem Chef in der Reichskanzlei, auf ihr dringliches Bittschreiben erhalten hatte. Darin hatte sie Papen gebeten, sich bei Hitler und Himmler für eine Strafumwandlung einzusetzen. Die Antwort Papens erschütterte sie: „Eine Willensbekundung des Führers“ untersage ihm „absolut“ jegliche Unterstützung zugunsten eines Verurteilten, schrieb er ihr.66 Franz von Papen behauptet indessen im Jahre 1952 in seinen Memoiren, dass er um Plancks Schicksal „gerungen“ habe, sogar „noch bis in den Februar 1945“, obwohl dieser bereits im Januar 1945 hingerichtet worden war.67 Erwin Planck war bereits früh zum konservativen Widerstand gestoßen. Ulrich von Hassell traf ihn erstmals am 3. April 1939 und vermerkt im Tagebuch: „Planck machte einen recht klugen Eindruck, ein Mann, mit dem etwas anzufangen ist.“68 Als die Widerständler nach Kriegsbeginn erste Überlegungen zu einem Putsch anstellten, erörterte Hassell am 19. Oktober 1939 mit seinem Vertrauten Johannes Popitz, wer einem engeren Kreis angehören könne. Sie befanden Carl Goerdeler und Erwin Planck als geeignet. Nach dem gescheiterten Attentat erging am 11. Oktober 1944, zweieinhalb Monate nach der Festnahme, ein offizieller Haftbefehl gegen Erwin Planck, so wie ihn am selben Tag ebenfalls Gottfried von Bismarck ereilte. Zwei Tage nach dem Todesurteil des Volksgerichtshofs wandte sich Max Planck, der international hoch angesehene Physiker und 167

Nobelpreisträger, mit dem Appell an Hitler, „dass sie der Bitte des im 87.sten Lebensjahr Stehenden, Gehör schenken. Als Dank des deutschen Volkes für meine Lebensarbeit, die ein unvergänglicher geistiger Besitz Deutschlands geworden ist, erbitte ich das Leben meines Sohnes.“69 Auch das Schreiben seiner Schwiegertochter Nelly an Franz von Papen hatte Max Planck unterzeichnet und selbst mehrmals an Reichsinnenminister Heinrich Himmler geschrieben. Alle Bemühungen waren vergeblich. Am 23. Januar 1945, ein halbes Jahr nach der Verhaftung und ein Vierteljahr nach dem Urteilsspruch, wurde Erwin Planck im Gefängnis Plötzensee hingerichtet. Um ihren Bruder Otto von Bismarck brauchte Hannah von Bredow sich mit Blick auf eine Verbindung zum Widerstand oder zum Attentat auf Hitler weniger Sorgen zu machen. In ihren Briefen und Tagebüchern der  Jahre 1939 bis 1944 finden sich keine Hinweise auf Kontakte des Bruders zu Widerstandskreisen oder zu einer Mittäter- oder Mitwisserschaft beim gescheiterten Attentat. Die Eintragungen des Widerständlers Ulrich von Hassell bieten ebenfalls keine Belege, auch wenn der ehemalige Amtskollege nach einem Gespräch im Auswärtigen Amt mit dem Ministerialdirigenten Otto von Bismarck am 2. November 1939 festhält: „Er trug sein Parteiabzeichen nicht und redete höchst umstürzlerisch.“70 Bei einem weiteren Besuch am 25.  Januar 1940 stellte Ulrich von Hassell dann fest, dass Otto von Bismarck „jetzt in seinem Glase kaum noch Wein, sondern nur noch Wasser über den Nationalsozialismus hat.“ Dennoch gab er ihm nur eine vage Auskunft, als Otto von Bismarck ihn „so nebenbei nach Goerdeler fragte“, nach dem Kopf des konservativen Widerstands gegen Hitler. Ottos Einladung an Hassell, zum  Jahresende 1940 nach Friedrichsruh zu kommen, bewertete dieser als bezeichnend für Otto von Bismarcks „gegenüber früher stark verwässerte Nazifreundschaft.“ Bis August 1943 finden sich keine Tagebucheintragungen Hassells zu Treffen der beiden. Erst nach einem gemeinsamen Abendessen bei Bruder Gottfried von Bismarck am 30. August vermerkt von Hassell: „Er sieht jetzt klar, aber etwas spät.“71 Ulrich von Hassell, ein großer Verehrer des Reichskanzlers Otto von Bismarck und häufiger Besucher von dessen Nachkommen in 168

Friedrichsruh, verfolgte beim Enkel Otto wohl einen nur langsamen Umdenkungsprozess, traute ihm aber kein Bekenntnis zum Widerstand zu. Dies galt für die Zeit von Anfang 1937 bis 1940, als Otto von Bismarck in der Zentrale des Auswärtigen Amts in Berlin tätig war, ebenso wie für seine anschließende Gesandtenzeit in Rom von April 1940 bis August 1943. Ab Ende September war er dann wieder ständig in Friedrichsruh und ließ sich im November 1943 in den einstweiligen Ruhestand versetzen. Otto Fürst von Bismarcks Name findet sich in keiner der vielen Darstellungen zum Widerstand. Er beließ es wohl dabei, „seine Abneigung gegen den ‚Größten Feldherrn aller Zeiten‘ beim dritten Glas Wein kaum noch verbergen“ zu können, wie ein Journalist kurz nach Ottos Eintreffen in Rom feststellte.72 Auch später in Deutschland blieb Otto von Bismarck zurückhaltend. Eine Reise nach Schweden kommentierte Propagandachef Josef Goebbels am 24. November 1943: „In London erwartet man eine deutsche Friedensoffensive. Man glaubt, dass der Gesandte Bismarck, der augenblicklich zu einem Verwandtenbesuch in Schweden weilt, und der frühere Staatssekretär Kühlmann dazu ausersehen seien, diese Friedensverhandlungen aufzunehmen. In Wirklichkeit kann in beiden Fällen nicht die Rede davon sein.“73 Nach Ende  des Krieges bemühte sich Gottfried von Bismarck im Spruchgerichtsverfahren seines Bruders Otto, in einer Ehrenerklärung den Eindruck zu vermitteln, dass dieser zum Kreis des Widerstandes gehört hatte. In der Erklärung heißt es, Otto habe „Mittel und Wege gesucht, um eine Änderung in der Reichsführung herbeizuführen. Zu diesem Zweck hatte er verschiedene Besprechungen mit führenden Persönlichkeiten auch außerhalb des Auswärtigen Dienstes, wie mit Admiral Canaris, dessen Mitarbeitern Reichsgerichtsrat Dohnanyi, Gisevius, General Oster, Herrn von Hassell.  … Im  Mai 1944 traf sich Fürst Bismarck in meiner Potsdamer Wohnung mit General Olbricht und dem Grafen Helldorff, um sich über die derzeitigen Möglichkeiten einer Regierungsänderung zu orientieren und nochmals auf die Dringlichkeit einer Initiative in dieser Richtung hinzuweisen.“74

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Gottfried von Bismarck meinte offenbar, mit den Namen von Gesprächsteilnehmern, die nach dem 20. Juli – abgesehen von Hans Bernd Gisevius – hingerichtet wurden, ein beeindruckendes Zeugnis des Widerstandwillens seines Bruders Otto liefern zu können. Weder das Tagebuch Ulrich von Hassels, noch Gisevius‘ Aufzeichnungen oder die Biografie über die Generäle Oster und Olbricht sprechen dafür.75 Die Seriosität von Gefälligkeitszeugnissen zeigt auch die Erklärung, die Franz von Papen im Jahre 1957 von Otto von Bismarck für seinen Kampf um Anerkennung einer Diplomatenpension erbat. Otto von Bismarck bescheinigte ihm, dass Papens Ernennung zum Botschafter in der Türkei im Frühjahr 1939 keinesfalls „im Rahmen des Ziels der NS-Außenpolitik“, sondern allein „in der besonders gefährlichen Situation für das Deutsche Reich“ begründet gewesen war. Das Gegenteil ist indessen gut zu belegen.76 In der Nachkriegszeit, und nachdem der Ruch des „Vaterlandsverrats“ einer Heldenverehrung gewichen war, bedeutete der Attentatsversuch vom 20.  Juli 1944 für manchen Mitläufer des NS-Regimes ein gern bemühtes Ereignis, um Widerstand zu belegen. Die NS-Machthaber nutzten ihrerseits die Monate nach dem Attentat zu unzähligen abschreckenden Verhaftungen und Todesurteilen. Auch schreckten sie nicht vor den abwegigsten Verdächtigungen zurück. Hannah von Bredow erfuhr dies nach ihrer Rückkehr aus der Schweiz ab dem 14. November 1944 in den Verhören durch die Gestapo. Gestapo-Opitz vernahm Hannah von Bredow von diesem Tag an in der Charité und befragte sie auch zu ihrem jüngsten Bruder Albrecht. Dieser sei seit Januar 1944 fahnenflüchtig und lebe unter falschem Namen in der Schweiz, stellte Opitz fest. Insoweit hatte er Recht, denn Albrecht von Bismarck, der Anfang März 1943 zur Wehrmacht eingezogen worden war, hatte sich aus dem Wehrwirtschaftsstab West in Grenoble im Januar 1944 in die Schweiz abgesetzt und lebte dort unter dem Namen Armando Bernasconi in einer Pension in Lugano. Hannah von Bredow bestritt indessen Opitz’‘ Beschuldigung, ihren Bruder während ihres zurückliegenden Aufenthalts in der Schweiz aufgesucht zu haben. 170

Opitz beließ es nicht dabei, Hannah von Bredow zu unterstellen, sie habe von der Fahnenflucht ihres Bruders und, das kam erschwerend hinzu, seiner geänderten Identität gewusst. Für letzteres drohte dem Deserteur, anders als bei einer bloßen Entfernung von der Truppe, die Todesstrafe und Hannah möglicherweise eine Anklage wegen Anstiftung oder gar Beihilfe zur Fahnenflucht. Zur Verblüffung Hannahs erklärte Gestapo-Opitz indessen auch, dass ihr Bruder Albrecht „den 20.7.44 vom Vatikan aus bis ins Kleinste vorbereitet hat.“ Opitz behauptete, dass festgenommene Mitwisser hierzu voll geständig seien und Albrecht belastet hätten. Er ergänzte: „Wir haben ganz Italien nach ihm durchsucht, aber er war gut versteckt und hatte im Vatikan tausend Helfershelfer. Sie wissen wohl, dass er Katholik ist?“ Hannah zeigte Opitz ihr völliges Unverständnis zur konspirativen wie abstrusen Vatikanverbindung ihres Bruders, der von ihr Mitte Januar 1946 den Verlauf des Verhörs in allen Einzelheiten schriftlich erfuhr. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte Hannah von Bredow ihren Bruder Albrecht nur als „ganz abergläubisch und deshalb auf seine Art ganz gläubig,“ auch wenn er aufgrund seiner vielen Jahre in Italien eine südliche Frömmigkeit angenommen und zum Katholizismus konvertiert war. Die „Sonderkommission 20.  Juli 1944“ wollte Hannah wahrscheinlich unterstellen, dass sie nicht nur die Fahnenflucht ihres Bruders deckte, sondern auch in dessen angebliches Komplott gegen Hitler verstrickt war. Leugnen konnte Hannah allerdings nicht, dass sie ihren Bruder in der Schweiz gesehen hatte, sodass sie sich mit Opitz auf einen unverbindlichen Protokolltext einigte: „Während meines Schweizer Aufenthaltes hat mein jüngster Bruder mich zweimal ohne mein Zutun aufgesucht. Ich kenne weder seine Adresse, noch seinen Decknamen, noch haben wir irgendetwas Politisches besprochen.“ Dieses Protokoll genügte Gestapochef Heinrich Müller indessen in keiner Weise. Er verlangte Anfang  Dezember 1944, dass Hannah oder Tochter Marguerite umgehend in die Schweiz reisen und Albrecht mitteilen solle, dass seine Mutter ins KZ käme, wenn er sich nicht bereit erkläre, all sein Wissen „der Gestapo zur 171

Verfügung zu stellen, in selbige einzutreten und ganz für sie in der Schweiz zu arbeiten.“ Albrecht sei wichtig für die Gestapo und die Sache eilbedürftig, erläuterte Opitz die Weisung Müllers und ergänzte, dass Albrecht, falls er die Zusammenarbeit verweigern sollte, von Schweizer Agenten gesucht werden würde. In Kenntnis von Hannah von Bredows Reiseunfähigkeit hatte Opitz für die Töchter Marguerite und Alexandra bereits Visa beantragt. So sah Hannah sich zum Handeln genötigt und bat einen Arzt, der in Kürze in die Schweiz fahren wollte, dem Bruder mitzuteilen, dass er auf jeden Fall unauffindbar bleiben solle. Auch bat sie den Schweizer Botschafter „um Ablehnung der Visa. Gott Lob hat das alles geklappt, und die Wut Müllers soll noch grenzenloser geworden sein, als er hörte, dass die Schweiz die Einreise für Marguerite und Alexandra abgelehnt hatte“, schreibt Hannah im Januar 1946 ihrem Bruder Albrecht. Bis Kriegsende gelang es den Gestapo-Agenten nicht, Albrecht von Bismarck aufzuspüren. Hannah von Bredow selbst tappte noch am 6. Juli 1945 im Dunkeln und fragte sich: „Albrecht 47 Jahre alt. Wo ist er wohl?“ Ein halbes Jahr später konnte sie den Kontakt zu ihrem jüngsten Bruder endlich aufnehmen und ihm lebendig die dramatischen Ereignisse nach dem Attentat auf Hitler sowie die Monate vor und nach dem Kriegsende in einem seitenlangen Brief schildern.

Sonderbehandlung einer Dissidentin „Die allgemein große Angst war nicht plötzlich da, sie wurde nicht, um sich dem Nazijargon zu bedienen, ‚schlagartig erzeugt‘, sie wurde in allmählich sich steigernden Dosen dem Volkskörper injiziert.“ Diese Erkenntnis belegt Hannah von Bredow vier Jahre nach Ende der NS-Diktatur im Einzelnen in ihrem Essay über die Angst. Ihren Briefen an Sydney Jessen und ihren Bruder Albrecht von Bismarck sowie den Tagebüchern ist zu entnehmen, welche Mittel und Wege das NS-Regime fand, um ’bei den Deutschen

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Angst zu erzeugen und sie in eine willfährige „Volksgemeinschaft“ zu zwingen. Nachdem er Hannah von Bredow im November 1944 vierzehn Tage verhört hatte, fragte Paul Opitz, Gestapo-Beauftragter in der Sonderkommission 20.  Juli 1944,sie schließlich entnervt: „Sie scheinen wirklich keine Angst zu haben?“ Hannah erwiderte ihm daraufhin: „Angst vor Menschen? Und vor Nazis? Wie sollte ich? Ich habe Ihnen hundertmal gesagt, dass ich nicht zu Ihnen gehöre, dass Sie mir fremd sind, dass ich gewiss keine Verschwörerin bin, aber dass ich besser als irgendein Mensch weiß, was ich von Ihnen allen zu halten habe.“ Ihrem Bruder Albrecht erklärte Hannah später, dass sie so „dickbramsig“ auftreten musste, denn „anders konnte man mit den Leuten nicht fertig werden. Sie waren das nicht gewöhnt und wurden dann unsicher.“ Hannah von Bredows außergewöhnliche Erinnerungsfähigkeit, verbunden mit einer überzeugenden Argumentationskraft und Schlagfertigkeit, half ihr, den Gestapomann Paul Opitz zu verunsichern. Unzählige Briefe an ihren Vertrauten Sydney Jessen bestätigen aber auch, dass es sie viel Kraft kostete, gegenüber dem nationalsozialistischen Bespitzelungs-, Repressions- und Terrorstaat Furcht und Angst unter Kontrolle zu halten. Nach den eigenen Überzeugungen und Werten zu leben und sich nicht vereinnahmen zu lassen, erforderte von ihr Standfestigkeit und Hartnäckigkeit. Mut wurde ihr abverlangt, wenn sie Willkür und Unrecht nicht nur in vertraulichen  Briefen geißelte. Rücksichtnahme auf ihre Kinder und ihren Briefpartner setzten Hannah von Bredow allerdings Grenzen, die sie angesichts zunehmender Überwachung und Denunziation stets zu beachten hatte. Das „Dritte Reich“ war noch kein halbes Jahr alt, als Hannah von Bredow sich bereits im Blickfeld der Behörde von Rudolf Diels befand. Diels war Chef der preußischen Politischen Polizei, aus der die preußische Geheimpolizei hervorging, deren erster Leiter er ab Ende April 1933 war. Am 12. Juni 1933 vermerkt Hannah so ironisch wie trotzig im Tagebuch: „Die sogenannte ‚Staatspolizei‘ (Comité de Salut Public) hat ein Auge auf mich geworfen. Das ist ja sehr lobenswert von ihnen. Braun soll ich werden? Niemals. Der Kerl heißt Diels.“ 173

Bald erfuhr Hannah, worin das Gestapo-Interesse an ihr bestand: „Es sind vier  Briefe auf einmal angekommen. Zensur!!!“, schreibt sie am 26.  September 1933 ins Tagebuch. Vier Monate später kommt sie erstmals in einen direkten Kontakt mit der DielsBehörde und stellt fest: „Die Gestapo hat mir mitgeteilt, dass ein englisches Buch ‚Nazi Germany means war‘ von ihr beschlagnahmt worden ist.“ Mit ihrem Interesse an dem frisch erschienenen Buch des amerikanischen Journalisten Leland Stowe hatte sich Hannah von Bredow knapp ein Jahr nach Hitlers Machtantritt verdächtig gemacht. Der Autor beschrieb nach einer mehrmonatigen Reise durch Deutschland faktenreich den Aufbau einer Rüstungsindus­ trie und das Aufkeimen einer Kriegspsychologie im Volk. Hatte die Gestapo Hannah von Bredow im Januar 1934 noch formell über die Beschlagnahme eines Buchs unterrichtet, so war sie einen Monat darauf direkt mit der Politischen Polizei konfrontiert: „Morgens Gestapo. Komische Sache. Ich sehe alles immer klarer, die anderen haben zu viel eigene Vorteile.“ Erste Denunziationen aus der Nachbarschaft dürften den Besuch ausgelöst haben. Hannah hatte z. B. keinen Hehl daraus gemacht, dass sie die Entlassung des „nichtarischen“ Dirigenten Bruno Walter im März 1933 und die Emigration des ebenfalls „nichtarischen“ Max Reinhardt nach dessen letzter Inszenierung im April bedauerte. Auch denkbar ist, dass sie in diesen Tagen nicht nur ihrem Tagebuch ironisch anvertraute: „Die neuen braunen Machthaber sehr prächtig. Sie machen dauernd Armbewegungen.“ Die Beschlagnahme von Büchern empfand Hannah von Bredow zwar als schmerzlich, galt ihr indessen in einer Diktatur als tragbares Opfer. Viel einschneidender für ihr Befinden war dagegen das Abfangen und Mitlesen ihrer  Briefe an ihren „Lebensmenschen“ Sydney Jessen durch die Gestapo. Für Hannah war die offene Sprache gegenüber dem gleichgesinnten Adressaten eine entscheidende Hilfe zum Überleben in dem Terrorsystem. Sollten Dritte unerwünscht an ihren vertraulichen Mitteilungen teilhaben, wollte Hannah ihnen die Lektüre zumindest erschweren. Bereits vor dem 30.  Januar 1933 hatte Hannah von Bredow in ihren  Briefen maßgeblichen Politikern Decknamen verliehen. So 174

hießen die letzten Reichskanzler der Weimarer Republik, Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher, bei ihr Minor, Sulla und Fouché. Die NS-Größen Hitler, Goering und Goebbels nannte sie bereits vor deren Amtsantritt Marius, Spearchild und Tony. Diese Namen behielt Hannah bis 1935 bei, begann dann aber in ihren Briefen zusätzlich, Deutschland durch Russland zu ersetzen und Hitler durch Stalin. So erfuhr Sydney Jessen Ende November 1935: „In Russland ist die Stimmung ganz toll. In der russischen Marine ist eine zunehmende Animosität gegen das Heer, dem man bourgeoise Schwächen vorwirft. Der Mann, der denselben Namen trägt, wie Saschas Gut, hat seine ganzen Ideen revidiert und wird Fouché II genannt. Er wird deshalb im Auftrage Stalins ausgiebig bespitzelt. Bei den großen Lebensmittelunruhen in der Hauptstadt haben nur Stalins Garden geschossen, die reguläre rote Armee lehnte es ebenso ab wie die Polizei. Die Kulaken werden in den entlegenen Gegenden des Russischen Reiches immer aufsässiger, die Jugend immer disziplinloser. Ich finde diese rasche Zersetzung ungeheuer interessant. Man dachte, dass die Sowjets ewig so weiterwursteln könnten. Dem ist nicht so.“ Dem Adressaten Sydney Jessen war bekannt, dass das Gut von Alexander „Sascha“ Graf von Strachwitz, des Ehemanns von Hannahs Stieftochter Friederike, im niederschlesischen Groß-Reichenau lag und dass also Walter von Reichenau, der Chef des Wehrmachtamts in Berlin, gemeint war. Dieser hatte sich bereits um die Eingliederung der Reichswehr in den NS-Staat verdient gemacht und war 1935 von Hitler mit der Ausarbeitung eines Wehrgesetzes beauftragt worden. Die mit seinem Machtzuwachs verbundenen Intrigen Reichenaus beantwortete Hitler mit dessen Versetzung in die einflusslosere Stellung eines Kommandierenden Generals des VII. Armeekorps in München. Die Unruhen in Berlin waren Folge des Autarkiebestrebens des Reichs, welches 1935 zu einer Verknappung in der Lebensmittelversorgung führte, seinerzeit auch „Fettlücke“ genannt. Lange Schlangen vor Berliner Lebensmittelgeschäften waren die Folge. Einsätze von SS-Trupps sind nicht bekannt, wohl aber inspizierte 175

der Polizeipräsident von Berlin, SS-Gruppenführer Wolf Graf von Helldorff, Ende September 1935 persönlich Berliner Fleischereien auf zurückgehaltenes Schweinefleisch. Einen Monat später warnte Helldorff „Hilfsbedürftige und Personen, die versuchen wollen, in Berlin Arbeit zu erhalten“, vor dem Zuzug nach Berlin. Die Stadt war zur Notstandsgemeinde und zum Sperrbezirk erklärt worden. Deutlich sichtbar war der Nahrungsmittelnotstand bereits am 26. September 1935, als Helldorff im Amtsblatt für den Landespolizeibezirk Berlin energisch anordnete, dass „die Tauben im Oktober im Interesse der Herbstbestellung nicht auf bestellte Felder und in Gärten gelassen werden dürfen.“77 Ein Jahr später, Mitte Oktober 1936, als sich die Versorgungslage in Berlin leicht gebessert hatte, erhielt Jessen einen weitaus besorgniserregenderen Bericht über die Lage in „Russland“. Hannah von Bredow hatte nämlich „einen Bericht aus russischen C. Lagern bekommen: Es sind vier neue aufgetan, und im Augenblick beherbergen diese Lager exklusive der Gefängnisse 125.000 Männer und 27.000 Frauen. Wegen der rapide ansteigenden Zahl der Frauen sind in aller Eile drei neue Frauenlager eröffnet worden. Da der Bericht ausführliche Wiedergaben von Misshandlungen enthält, die teilweise den spanischen Gräueln, die die Russen so verurteilen, an die Seite zu setzen sind, habe ich mir die Lektüre erspart und nur die Zahlen für Sie notiert. Es ist interessant zu sehen, wie fabelhaft diese Tscheka-Maschinerie funktioniert, denn der Durchschnittsrusse weiß nichts.“ Im niederschlesischen Groß-Reichenau, von wo Hannah von Bredow den Brief abschickte, hatte sie wohl Zugang zu Unterlagen über „C. Lager“, also Konzentrationslager. Im Sommer 1936 eröffnete das NS-Regime das KZ Sachsenhausen als großes „Musterlager“, einen auf Dauer angelegten neuen Lagertypus. Daneben entstanden eine größere Zahl von kleineren Außen- und Frauenlagern. Gestapo und Kripo verschleppten nun auch Menschen in die KZs, die aus rassischen und sozialdarwinistischen Gründen als „Schädlinge“ aus der „Volksgemeinschaft“ ausgesondert und verfolgt wurden. Die Bestimmungen zur „Vorbeugehaft“ wurden schrittweise ausgedehnt, 176

um „Berufs-, Sittlichkeits- und Gewohnheitsverbrecher“ sowie „asoziale Elemente“ verhaften zu können.78 Hannah von Bredows Feststellungen bezogen sich zweifellos auf deutsche und nicht auf sowjetische Zustände. Die sowjetischen Gulags bestanden zwar bereits seit den 1920er-Jahren; die Zeit der großen Säuberungen begann dagegen erst im Jahre 1937. Die „spanischen Gräuel“ waren die vom NS-Regime propagandistisch verwerteten Bilder aus dem Spanischen Bürgerkrieg, die Goebbels der dortigen Volksfront zuschreiben und als „jüdisch-bolschewistische Verbrechen“ verurteilten ließ. Auch Hannahs abschließende, auf strikte Geheimhaltung abzielende Bemerkung bestätigt, dass sie Einsicht in Unterlagen hatte, die das Deutsche Reich und nicht die UdSSR betrafen: „Ich habe die Dinge gleich zurückgegeben. Bei 429 hat man angerufen und sich genau nach dem Aufenthalt und dem Datum der Rückkehr erkundigt. Es wurde darauf keine Antwort gegeben, da man die Ordre hat, nur an Bekannte Auskunft zu erteilen.“ Eineinhalb Jahre zuvor hatte Hannah von Bredow mit dem Brief Nr.  415 vom 4.  April 1936 aus Potsdam begonnen, sich Sydney Jessen gegenüber als 429 und ihn als 430 zu bezeichnen. Welche Bedeutung Hannah diesen Zahlen zuordnete, ist nicht überliefert. Den Brief schickte sie Jessen als Einschreiben, zusammen mit einem Buch. Sie riskiere mit ihm „vielleicht etwas und möchte deshalb falls die Gestapo ihn öffnet, für diese neugierige Behörde feststellen: a), dass das Buch ungerufen bei Ihnen erscheint, b), dass ich meine eigenen Ansichten äußere und gern bereit bin, dafür die Konsequenzen zu tragen.“ Hannah bat Jessen „um die absoluteste, Ihnen ja stets eigentümliche Diskretion.“ In dem Brief vom 4. April 1936 gab Hannah von Bredow auch einen Dialog mit dem niederländischen Diplomaten Johan Paul van Limburg Stirum wieder, den sie am selben Tag in seiner Residenz besucht hatte. Der Gesandte vertrat sein Land bereits seit 1925 in Berlin und verfolgte die Entwicklungen im „Dritten Reich“ sehr kritisch. In dem Sydney Jessen auf mehreren Seiten in Englisch vermittelten Dialog äußert Stirum angesichts der massiven Aufrüstung im Reich seine Sorge über Kriegsvorbereitungen. Zu177

dem ziele die aggressive Politik gegenüber Österreich zweifellos auf einen Anschluss. Stirums Feststellung, dass er keine Männer von Statur sehe, die zu einem Putsch bereit wären, bestätigte Hannah in ihrem Brief ausdrücklich. Decknamen und Chiffren für Personen und Länder sowie in Englisch und Französisch verfasste Mitteilungen und selbst Einschreibbriefe boten für Hannah von Bredow keine Gewähr dafür, dass die Gestapo sie nicht abfing, abschrieb und entschlüsselte. Ohne größere Vorsicht konnte sie an Jessen nur aus dem Haus ihres Bruders Gottfried von Bismarck schreiben, den sie Ende Juli 1936 in Stettin besuchte. Gottfried war ein Jahr zuvor Regierungspräsident des Bezirks geworden, und Hannah schrieb aus der Hakenterrasse 4 an Jessen: „Diese ‚Höhle des Junglöwen‘, wie Sie es so schön nennen, ist für Korrespondenzen sehr sicher, da die Gestapo ihm hier im Großen und Ganzen untersteht und seine Korrespondenz seiner Ansicht nach nicht geprüft wird.“ Ungeachtet aller Überwachungsmaßnahmen ließ Hannah von Bredow Mitte  April 1937 keine Vorsicht walten, als sie Jessen im Klartext einen Flüsterwitz wiedergab: „Am 4-Jahresplan beteiligen sich alle Erfinder. Der besonders wichtigen Textilbranche haben sich Hitler, Goebbels und Göring mit drei Erfindungen angenommen, die bahnbrechend sind. Goebbels’ Stoff heißt das Lügengewebe, Hitlers das Hirngespinst, Görings die schützende Wolle aus Luftmaschen, und zum Verarbeiten all dieser wertvollen Produkte liefert das deutsche Volk den erprobten autarken Geduldsfaden.“ Hannah von Bredow muss sich bei der schriftlichen Wiedergabe des Witzes klar darüber gewesen sein, dass das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen“, das sogenannte Heimtückegesetz, bereits seit dem 1. Februar 1935 in Kraft war. Ein Verstoß gegen das Gesetz, zu dem auch „nichtöffentliche böswillige Äußerungen“ zählten, konnte eine mehrjährige Gefängnisstrafe einbringen, wenn die Gestapo davon direkt oder über Denunzianten erfuhr. Bereits im ersten Jahr der NS-Diktatur hatte Hannah von Bredow verschiedene Hinweise erhalten, dass sie im Blickfeld der Gestapo stand. In den folgenden  Jahren hatte sie sich mehrfach Verhören 178

zu unterziehen und erfuhr, dass im Jahre 1935 ein Gestapo-Dossier über sie angelegt worden war, welches mit einer Denunziation begann. Der Gestapomann Paul Opitz teilte ihr im  November 1944 ergänzend mit, dass sie „am laufenden Band von hohen und höchstgestellten Personen denunziert“ worden war. Diese Tatsache und die Namen verschiedener Denunzianten teilte Hannah ihrer Freundin Käthe von Pannwitz Anfang Oktober 1945 frei von Wertungen in einem ausführlichen Brief mit.79 Aufgrund der Denunziationen war das ‘Sündenregister‘ Hannah von Bredows Anfang  des Jahres  1938 so umfangreich geworden, dass der Potsdamer Gestapo-Chef Wilhelm von Wedel als Sühnemaßnahme ihren Pass einzog. Hannah protestierte vergeblich dagegen und bat daraufhin ihren Bruder Otto um eine Unterredung mit Wedel, deren Verlauf sie ihrem Vertrauten Jessen Ende Januar 1938 im Detail schildert: Wilhelm von Wedel zitierte aus ausführlichen Denunziationsberichten, welche bei ihm über Hannahs „unehrenhaften“ Lebenswandel eingegangen waren. Wedel bezeichnete die Quellen als sehr zuverlässig und zählte Otto von Bismarck einen ganzen Katalog von Verstößen auf, der Hannah von Bredow eindeutig als außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stehend und als kriminell ausweise. Die Aufzählung begann mit dem Vorwurf, dass Hannah von Bredow „Ausländerei“ treibe und fremde Sprachen spreche. In Kleidung und Auftreten verletze sie das deutsche Auge und wolle zudem als geistvolle Frau gelten. Sie gehöre darüber hinaus der Bekennenden Kirche an, sei keiner Nazivereinigung beigetreten und erziehe ihre Kinder zu Staatsfeinden. Im Weiteren zitierte Wedel Aussagen, wonach Hannah ihren „Verkehr möglichst auf dubiose Elemente und Juden konzentriere“, ständig „auf deutsche Art und deutsches Wesen schimpfe“, nie den Hitlergruß entbiete und sich nicht einmal bei der Olympiade zeigte. Schließlich habe Hannah auf die Frage eines Gestapomanns, warum sie „mit einer taschentuchgroßen Fahne am 30.1.34 flaggte“, erwidert: „Der rote Lappen gehört sowieso ins Küchenfenster, wenn überhaupt.“ Hannah von Bredow zeigte sich über den Katalog ihres nichtkonformen Alltagsverhaltens und die Verstöße gegen das „gesunde 179

Volksempfinden“ belustigt, über die Denunziationen als „Volksschädling“ aber erschreckt. Sie musste sich schließlich klarmachen, dass das NS-Regime mittlerweile einen effektiven Überwachungsapparat mitsamt Sanktionsmöglichkeiten geschaffen hatte. Jegliche Abweichung von den Normen des Regimes sollte durch eine umfassende Beobachtung der Staatsbürger aufgedeckt und bestraft werden können. Dabei setzte der NS-Staat nicht nur auf die Gestapo und den Sicherheitsdienst der SS, sondern gleichermaßen auf „die freiwillige Mithilfe der verantwortungsvollen Kräfte des Volkes“. Unter diesem Vorzeichen befand der NS-Jurist und Mitgründer der Gestapo, Werner Best, im Jahre 1937, dass es „das letzte Ziel aller für die Staatssicherheit tätigen Kräfte“ sei, die „totale Mobilmachung der Aufmerksamkeit des ganzen Volkes gegen alle staatsgefährlichen Bestrebungen“ herzustellen.80 Hannah von Bredow wich in vielen Belangen von den Normen des NS-Regimes ab. Denunzianten konnten sich stets auf gesetzliche Grundlagen berufen, die eine Ahndung solchen „Fehlverhaltens“ ermöglichten. So bot bereits das 1933 erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ eine Handhabe, politisch missliebige Beamte zu denunzieren, die nicht „jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat einzutreten“ bereit waren. Ein Jahr darauf folgte das „Heimtückegesetz“, welches nicht nur Tatsachenbehauptungen kriminalisierte, sondern selbst die Abgabe von Werturteilen mit Strafe bedrohte. Weite Auslegungen des Gesetzes zur Unterdrückung der freien Meinungsäußerung waren jederzeit möglich. Weiterhin gefördert wurde das Denunziantentum durch das „Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 28. Juni 1935“. Nunmehr konnten außer den bisher strafbaren Taten auch solche abgeurteilt werden, die dem „gesunden Volksempfinden“ zuwiderliefen. Somit war es möglich, politisch unliebsame Personen zu verfolgen, ohne dass diese gegen eine konkrete Gesetzesnorm verstoßen hatten. Bereits unpolitisches Schimpfen über Parteifunktionäre und die wirtschaftlichen Verhältnisse, sprachliche Unmutsäußerungen, das Weitererzählen von politischen Witzen und Gerüchten wurde von den NS-Sicherheitsbehörden unter dem Begriff der „Volksopposition“ subsumiert.81 180

Die Begegnung mit einem „typischen Denunzianten“ schildert Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen im Oktober 1936, als sie ihre Stieftochter Friederike auf Gut Reichenau besuchte. Dort traf sie auf den Grafen Nikolaus von Strachwitz, einen Verwandten des Gutsherrn Sascha Graf von Strachwitz, und wollte mit ihm über aktuelle Ernährungsprobleme diskutieren. Der überzeugte Nationalsozialist stellte Hannah provozierend sein Frauenbild vor, akzeptierte keine Sachargumente und lehnte vehement die weitere Diskussion mit ihr ab. Hannah äußerte später gegenüber dem Gutsherrn Sascha: „Wenn ich je einen Denunzianten gesehen habe, so war das heute der Fall.“ Ihr Gesprächspartner bezeichnete dies als „hässliche Bemerkung“ und erklärte: „Es versteht sich, dass Nicky als Beamter jeden namhaft machen muss, der in seiner Gegenwart an den heutigen Zuständen Kritik übt.“ Hannah stimmte ihm ironisch zu und meinte, dass „er darin sicher sehr pflichttreu ist“. Eine Meldepflicht für Beamte galt indessen erst ab dem Jahre 1937. Bereits Anfang des Jahres 1935 hatte Hannah von Bredow eine besondere Art der Denunziation erfahren, als die Post ihr ein Schrei­ ben der Reichsbank mit folgendem Inhalt lieferte: „Sie werden ersucht, sich wegen Ihrer Anzeige betreffend das Volksverratsgesetz beim Finanzamt zur Klärung Ihrer Devisenangelegenheiten baldmöglichst her zu begeben.“ Hannah fragte sich: „Bin ich denunziert, und wenn ja, auf was hin, da ich unschuldig wie ein neugeborenes Lamm dastehe, oder soll ich meine im Juni 1934 pflichtgemäß gemachte Anzeige meiner bzw. der Kinder amerikanischen Sachen klären?“ Die „amerikanischen Sachen“ waren Wertpapiere, die Hannah und ihre Kinder von Leopold von Bredow geerbt hatten, über deren Ertrag die Kinder aufgrund von Bestimmungen des Testaments aber noch nicht verfügen konnten. Hannahs Anzeige „betreffend das Volksverratsgesetz“ bezog sich auf das im April 1934 verkündete „Gesetz zur Änderung des Strafrechts und des Strafverfahrens“. Hierin wurden die bisherigen Bestimmungen zu Hoch- und Landesverrat erweitert und mit verschärften Strafandrohungen

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versehen. Als Sondergericht zur Aburteilung von Hochverrats- und Landesverratssachen wurde der Volksgerichtshof gebildet. Das geänderte Strafrecht zeigte im Frühjahr 1934 die Unsicherheit des NS-Regimes gegenüber vermeintlichen in- und ausländischen Bedrohungen. Hannah von Bredow sah sich genötigt, ihre „Ausländerei“ in Form ihrer amerikanischen Wertpapiere anzuzeigen. Aufgrund von Hinweisen verknüpften die NS-Organe diese im Zweifel mit hochverräterischen Aktivitäten Hannahs in den USA, die ihr finanziell entlohnt wurden. Sollte sie „mit hochverräterischen Absichten zu einer ausländischen Regierung in Beziehung“ getreten sein, so wäre dies mindestens mit Zuchthaus nicht unter fünf Jahren bestraft worden. Mit Hilfe ihres Anwalts Walther von Simson konnte Hannah die Unhaltbarkeit der Verdächtigungen leicht klären, zumal das Vermögen bereits nach dem Tod von Leopolds erster Frau Frances im Jahre 1907 auf ihn und nach seinem Tod im Oktober 1933 auf Hannah und die Kinder übertragen worden war. Für Privatpersonen kannte das NS-Regime keine gesetzliche Verpflichtung zur Denunziation, wohl aber das ausdrückliche Recht jedes Partei- und Volksgenossen, eine Meldung an den „Führer“ oder die „Bewegung“ zu machen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Reichsjustizminister Gürtner erklärte es sogar als sittliche Pflicht eines jeden, an der inneren Sicherung des Reiches und der Volksgemeinschaft gegen reichs- und staatsfeindliche Handlungen aktiv mitzuwirken. Solch eine Pflicht benötige keine gesetzliche Festlegung, sondern ergebe sich allein schon aus dem Gedanken der Volksgemeinschaft und der „Treupflicht gegen Volk und Führer“.82 Früh konnte somit im Deutschen Reich ein Klima entstehen, das einem aus unterschiedlichen Motiven gespeisten Denunziantentum Vorschub leistete. So waren Pflicht, Gehorsam und Staatsloyalität unbestrittene Tugenden. Denunziationen kamen aber auch einer Vorsichtsmaßnahme gleich, um selbst nicht verdächtigt zu werden und zudem eine positive Einstellung zum Regime offen darzulegen. So verstanden, erfolgten Denunziationen in Reaktion auf Repression und Willkür.83

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Schwer voneinander zu unterscheiden waren Denunziationen, die aufgrund wirklicher nationalsozialistischer Überzeugung erfolgten, von solchen aus politischem, karriereorientiertem Opportunismus. Versteckte private Motive wie Neid, Missgunst, Verbitterung und Rachegefühle kamen hinzu. Ein potenziell schlummerndes „Blockwartverhalten“ wurde besonders durch Obrigkeitshörigkeit geweckt. Auch schüchterte das NS-Terrorsystem die Bevölkerung ein, verunsicherte sie und erpresste sie zur „treupflichtigen“ Mitarbeit, um die angeblichen „Volksschädlinge“ für die Volksgemeinschaft zurückzugewinnen: „Man schritt aus Angst zur Denunzierung derjenigen, von denen man annahm, dass sie ohne Weiteres doch über kurz oder lang verhaftet werden würden,“ beschreibt Hannah im Jahre 1949 rückblickend ihre eigenen Erfahrungen. So berichtete Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen Mitte August 1937 von einem Besuch bei der Familie von Weizsäcker und bemerkte zuvor, dass in Potsdam das Gerücht umgehe, sie sei verhaftet worden: „Das Telefon klingelte dauernd, weil Leute sich nach meinem Verbleib erkundigen wollen.“ Als Hannah in das Haus des Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker eintrat, begrüßte sie der Hausherr mit der Bemerkung: „Gott sei Dank, ich hatte gehört, Sie seien …“ „Ich weiß schon“, sagte ich, „aber Sie sehen ja, wie gut es mir geht. Viele Leute haben angerufen, um sich nach der Wahrheit des Gerüchtes zu erkundigen.“ Ergänzend schreibt Hannah von Bredow ihrem Vertrauten: „Sie sehen aus diesen haltlosen Gerüchten, wie nervös man allgemein ist. Weizsäcker sagte mir sehr komisch: ‚Es ist aber völlig undenkbar, dass 429 nicht eingesperrt wird, man braucht nur 429 anzusehen, um zu wissen, dass das unvermeidlich ist. Solch eine Haltung ist einfach eine Provokation, wenn man in VI dem sexe faible angehört.‘“ Demnach hatte der eine oder andere ängstliche Denunziant im Deutschen Reich (VI), wohl in Erwartung von Hannahs (429) bevorstehender Verhaftung, noch Anzeige gegen sie erstattet. Ernst von Weizsäcker zählte mit seiner ungeschminkten Bemerkung zu Hannahs „undeutscher“ Haltung als Vertreterin des schwachen Geschlechts wohl kaum zu ihnen. 183

Als gar nicht komisch empfand Hannah von Bredow dagegen, was Gestapo-Opitz ihr während der wochenlangen Verhöre im November 1944 mitteilte. Opitz entnahm Hannahs reichhaltigem Diffamierungs-Dossier einen Bericht Franz von Papens vom November 1937, mit dem der deutsche Botschafter in Wien der Gestapo in Berlin die Anzeige eines österreichischen Bekannten von Hannah übermittelt hatte. Ihr wurden darin negative Äußerungen über Hitler und die NSDAP bescheinigt, die sie im Verwandten- und Freundeskreis in Wien anlässlich der Beisetzung ihres Onkels Graf Alexander Hoyos gemacht habe. Papen seinerseits beließ es nicht bei der Übermittlung der Anzeige an die Gestapo, sondern verschärfte sie durch den Hinweis, dass er Hannah von Bredow gut kenne und ihre Kritik für gefährlich halte.84 Auch angesichts früherer Einladungen in Hannah von Bredows Hause hätte Botschafter von Papen die Anzeige des österreichischen Denunzianten weglegen oder kommentarlos nach Berlin schicken lassen können. Er kannte das „Heimtückegesetz“ sehr wohl, wonach „gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP“ mit Gefängnis bestraft wurden. Anders als ihre Brüder Otto und Gottfried führte Hannah von Bredow allerdings nicht mehr den klingenden Namen Bismarck. Die Nähe zu Gottfried von Bismarck und dessen Abkehr von Hitler konnte Franz von Papen später im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess als Beleg seiner vermeintlichen Widerstandsgesinnung nutzen. Die Bekanntschaft mit Otto von Bismarck und dessen Zeugnis sollte ihm in den 1950er Jahren im Ringen um Pensionsansprüche für seinen Dienst in der Diplomatie angebliche NS-Ferne bestätigen. Demgegenüber sah Papen sich aus ‚Treuepflicht‘ zum ‚Führer‘ andererseits aufgefordert, der Gestapo die ‚heimtückischen‘ Äußerungen der Regimegegnerin und ‚undeutschen‘ Frau Hannah von Bredow zu melden. Das aus Bespitzelungen und Denunziationen hervorgegangene Gestapo-Dossier Hannah von Bredows war umfangreich und hochgradig belastend. Es reichte aus, um Hannah von der Gestapo verhaften und von den zuständigen Gerichten oder dem Volksgerichts184

hof nach dem „Heimtückegesetz“ aburteilen zu lassen. Die Gestapo brauchte sich indessen nicht allein auf die Zubringerdienste willfähriger „Volksgenossen“ zu stützen, denn sie hatte aus eigenen Ermittlungen noch schlagkräftigere Beweise für Hannahs angebliche „volksverräterische“ Umtriebe verfügbar. Als Hannah von Bredows Bruder Otto von Bismarck Ende  Januar 1938 den Potsdamer Polizeipräsidenten und Gestapo-Chef Wilhelm von Wedel aufsuchte, um auf Bitte Hannahs von diesem ihren eingezogenen Pass zurückzuverlangen, legte Wedel ihm nicht nur das ausführliche ‘Sündenregister‘ Hannahs vor. Wedel verwies Otto zudem auf zahlreiche Briefe seiner Schwester an Sydney Jessen, über die die Gestapo verfügte. Diese „spotteten einfach jeder Beschreibung. Da stünden über Göring, Goebbels, Hitler, ja sogar über Himmler Sachen drin, die einfach nicht wiederzugeben seien“, erklärte er Otto. Otto von Bismarck konnte feststellen, dass die Geheime Staatspolizei bereits seit dem Jahre 1934 Briefe seiner Schwester abgefangen, abgeschrieben und zusätzlich nach Haussuchungen bei Jessen im Ok­tober 1937 beschlagnahmt hatte. Hierbei konnte die Gestapo sich auf die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28.  Februar 1933 stützen. Reichspräsident von Hindenburg hatte nur einen Tag nach dem Reichstagsbrand verschiedene Artikel der Verfassung des Deutschen Reichs außer Kraft gesetzt. Somit waren nunmehr „Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Hausdurchsuchungen […] außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig.“ Die Gestapo machte von den Möglichkeiten in der Folge reichlich Gebrauch. Gestapochef Wilhelm Graf von Wedel erklärte Otto von Bismarck zu den Briefen seiner Schwester an Jessen, dass „das ganze Material als Minimum zwei Jahre Gefängnis“ einbrächte. Der Pass­ einzug sei das Wenigste, was er seinem Stab gegenüber rechtfertigen könne, denn „man habe ihm vorgeworfen, dass er Standesgenossen schütze, und das könne er nicht auf sich sitzen lassen; das müsse Otto einsehen, schließlich ginge es um seine Stellung, wenn man ihm Begünstigung nachwiese.“ Abschließend drohte 185

Wedel: Wenn Hannah nicht lerne, zu schweigen und sich zu ducken, müsse er beim nächsten Bericht zur sofortigen Verhaftung schreiten. Otto von Bismarck seinerseits erklärte Schwester Hannah nach dem Gespräch, dass mit Wedel nichts zu machen sei, denn die Schilderung über ihre Einstellung sei „ja durchaus zutreffend, und das sei Wedels starker Punkt.“ Ein persönliches Gespräch mit Wedel, das Otto ihr zu vermitteln anbot, hielt Hannah für nicht sinnvoll und stellte unbeirrt fest: „Ich will nur von ihm hören, ob es wahr ist, dass alle Menschen, die keine Nazis sind, jetzt eingesperrt werden sollen. Dann gehe ich gerne in das Loch und sterbe dort so schnell es die Umstände gestatten.“ Hannah von Bredow konnte die Äußerung ihres Bruders, wonach Wedel „wie Alle, nur Angst und nichts als Angst“ hätte, angesichts von dessen Karriereplanung durchaus nachvollziehen. Weniger dagegen verstand sie Ottos Bemerkung, Wedel hätte ihm „eigentlich leidgetan, er hätte so hilflos und besorgt ausgesehen.“ Für einen Mann, den sie von Jugend an kannte und dessen prinzipienlosen Werdegang sie ungewollt über mehrere Jahre mitverfolgen musste, konnte Hannah indessen wenig Mitleid empfinden. Erstmals hatte sie Wilhelm Graf von Wedel im Jahre 1914 während der Kieler Woche getroffen, als Wedel nach dem Abitur im Jahre 1909 die Militärlaufbahn eingeschlagen hatte. Offenbar war er in den Nachkriegsjahren auch einmal zur Jagd im Bismarck’schen Friedrichsruh eingeladen gewesen, denn Hannah erinnerte sich später respektlos an den Gast, dem „man einst in F. das Wildschwein ins Bett gelegt hatte.“ Im Jahre  1919 schied Wedel, der aus einer Hofbeamtenfamilie stammte, aus der Armee aus, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Berlin ohne Abschluss und wurde bei einer Berliner Bank tätig.85 Im Jahre 1930 schloss er sich dem Stahlhelm an, dem bewaffneten Arm der DNVP. Bald ahnte er aber die künftigen Machtverhältnisse voraus und wurde 1932 Mitglied der NSDAP, bei der er bis zum Oberführer der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg aufstieg. Konjunkturgerecht wechselte Wedel 1935 im Rang eines Oberführers von der SA zur SS und war ab  Dezember 1935 zu186

nächst kommissarisch sowie ab Juni 1936 offiziell Polizeipräsident von Potsdam, in dessen Regierungsbezirk er in Personalunion auch die Gestapo leitete. Zudem war Wedel Beisitzer am Volksgerichtshof. Sein „Verdienst um Volk und Reich“ schlug sich im April 1938 in der Beförderung zum SS-Brigadeführer nieder, welcher einem Generalsrang entsprach. Hannah von Bredow traf Wilhelm von Wedel nach längerer Zeit im Jahre 1935 kurz vor Weihnachten beim Verlassen des Berliner Hotels Bristol wieder. Wenige Tage zuvor war er zum kommissarischen Polizeipräsidenten von Potsdam ernannt worden: „Er stand groß und breit vor mir, die Brust mit Orden besät und sah genau so dumm, aber wesentlich brutaler aus als früher.“ Wedel stellte sich Hannah vor: „Wissen Sie denn, dass Sie mir jetzt unterstehen, dass Sie ganz und gar von mir abhängen, dass ich nur ein Wort sagen brauche und Ihr stolzer Nacken beugt sich vor mir?“ Hannah von Bredow ließ sich von Wedel nicht einschüchtern. Seinen mahnenden Hinweis auf die Verpackung in ihrer Hand, die auf ihren Einkauf in dem exklusiven „nichtarischen“ Bekleidungsgeschäft E. Braun & Co hindeutete, beantwortete sie provozierend: „Und jetzt gehe ich zu Rosenheim, dann zu Tietz, dann zu Wertheim, dann zu Cohn und dann ins K.d.W.“ Ausführlich schildert Hannah ihrem Vertrauten Jessen den lebendigen Dialog mit dem Gestapomann, dem sie sich in jeder Hinsicht gewachsen zeigte. Die Bediensteten im Polizeipräsidium Potsdam, die dem kommissarischen Leiter Wilhelm von Wedel unterstanden, hatten dagegen großen Respekt vor seiner durchgreifenden Art, wie Hannah bei einem Gang ins Präsidium im  Januar 1936 erfuhr: „Auf dem Polizeipräsidium war es unbeschreiblich komisch. Die bloße Andeutung, dass ich W.W. kannte, ließ die Leute dermaßen devot werden, dass mir fast übel wurde. Als ich dann boshaft hinzufügte, dass er Duzfreund und Regimentskamerad meines ältesten Bruders sei, war es aus: ‚Das ahnten wir ja nicht!‘ – Oh, wenn er das ahnte! Aber ich habe keinerlei Hemmungen und denke nicht daran, anders als so aufzutreten. Dabei grüßten sie schließlich alle wie ich. So etwas lässt mich lächeln.“

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Hannah von Bredow verweigerte grundsätzlich den „Deutschen Gruß“, sodass sie eine Gestapo-Meldung der Provinz Brandenburg vom Oktober 1935 zweifellos erheitert hätte: „Die Art des Grußes von Offizieren und ihren Angehörigen ist SS-Standartenführer Graf Wedel gleichfalls aufgefallen. Er hatte in etwa 2/3 der Fälle des Grußwechsels den Eindruck stärkster Zurückhaltung. Damen höherer Offiziere hätten seinen Hitlergruß betont mit ‚Guten Tag‘ erwidert. Graf Wedel bezeichnet es als höchst bedauerlich, dass in diesen Kreisen noch immer nicht wenigstens die rein äußerliche Geste des Dankes gegenüber dem Führer abgestattet wird.“86 Wedel musste demnach noch daran arbeiten, seine Untergebenen den Grußwechsel auch gegenüber adligen Damen vollziehen zu lassen. Auch im Laufe des Jahres  1936 traf Hannah von Bredow den mittlerweile zum Polizeipräsidenten ernannten Wilhelm von Wedel bei gesellschaftlichen Veranstaltungen oder per Zufall und verwickelte ihn regelmäßig in provozierende Gespräche. Unter ernsthaftem Hinweis auf Hannahs „undeutsches“ Wesen und die großen Kompetenzen seines Amtes fragte Wedel sie dann auch einmal: „Ja, haben Sie denn gar keine Angst vor mir?“ – „Warum denn? Früher ja, als wir noch miteinander tanzten, da hatte ich wegen meiner Füße Angst, aber jetzt kommt das nicht in Frage. Nein, vor einem so braven Familienvater habe ich keinerlei Angst.“ Unfreiwillig verfolgte Hannah von Bredow die weitere Karriere Wedels. Im August 1937 berichtet sie Jessen, dass Wedel zweiter Vorsitzender im Volksgerichtshof geworden sei. Seine Position habe er „durch sein energisches Vorgehen gegen die Pastoren und Laien Potsdams gefestigt, und er sieht einer großen Zukunft gelassen entgegen.“ Kurz danach erfährt ihr Vertrauter: „W.W. hat geschworen, dass die Heimatstadt von 429 ein Beispiel für rücksichtslose Anwendung der Gesetze sein soll. Deshalb verhaftet er verhältnismäßig wahllos, aber es werden jetzt schon viele verschickt, weil die Räume überfüllt sind, und man Seuchen befürchtet.“ Mitte November 1937 wollte die Gestapo auch Hannah von Bredow verhaften, was ihr Anwalt Walther von Simson aber vereiteln 188

konnte. Zwei Monate später fasste Hannah das Ergebnis des erfolglosen Gesprächs ihres Bruders Otto von Bismarck mit dem Polizeipräsidenten von Wedel mit den Worten zusammen: „Ich bin also auf Bewährungsfrist gesetzt und werde mich immer bereithalten müssen“. Vor Denunziationen war Hannah von Bredow auch weiterhin nicht sicher und schreibt Anfang März 1939 im Tagebuch: „Gräfin Rothkirch (Nachbarin) denunzierte mich bei Wedel.“ Mit diesem hatte sie aber nur noch weniger als ein halbes Jahr zu tun: Wilhelm von Wedel verstarb mit nur 48 Jahren am 19. Oktober 1939 nach langer schwerer Krankheit in Potsdam. Zu seiner Beerdigung trafen stattliche Kränze u.a. von Heinrich Himmler ein. Die Beziehung der Familie Bismarck-Bredow zu Wilhelm Graf von Wedel war eine besondere: Bruder Otto war Wedels Regiments-, Gottfried sein SS-Kamerad und beide waren seine Duzfreunde. Otto und Gottfried von Bismarck hatten Wilhelm von Wedel bereits zum Treffen mit Adolf Hitler am 12. Januar 1932 im Berliner Hotel Kaiserhof eingeladen. Im selben Jahr startete Wedel seine Karriere in der NSDAP und SA. Gegenseitig lud man sich regelmäßig ein, und ab September 1938 arbeiteten der Regierungspräsident Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen in Potsdam eng mit dem Polizeipräsidenten und Gestapochef Wilhelm Graf von Wedel zusammen. Die Aufgaben von Wedels Behörde sind im Lagebericht der Staatspolizei Potsdam für den Monat Februar 1936 gut belegt:87 In acht Rubriken werden die Aktivitäten aufgelistet, angefangen bei der „Allgemeinen Übersicht zur innenpolitischen Entwicklung“, über „Stand und Tätigkeit der staatsfeindlichen Bestrebungen“, über die Kirchen- und Pressepolitik bis zu „Ausländer, Spione, Landesverrat“. Auf vielen Seiten werden die Beobachtungsergebnisse erfasst. Als „Politische“ wurden nicht nur Marxisten und Kommunisten überwacht, sondern auch Monarchisten und Liberale. Die Kirchen beider christlichen Konfessionen und die Sekten standen ebenfalls unter Beobachtung. Die monatlichen Berichte gingen an Heinrich Himmler, den Chef der preußischen Geheimen Staatspolizei und späteren Chef der gesamten deutschen Polizei. 189

Zum Zeitpunkt des Amtsantritts von Gottfried von Bismarck als Potsdamer Regierungspräsident im  September 1938 galt das im Februar 1936 erlassene preußische Gestapo-Gesetz, mit dem die Staatspolizeistellen den zuständigen Regierungspräsidenten unterstellt wurden. Mit Erlass vom April 1936 hatte der Preußische Ministerpräsident Hermann Göring seine Regierungspräsidenten angewiesen, von der Erstattung eigener politischer Lageberichte abzusehen.88 Es lag demnach im Jahre 1938 nicht in Gottfried von Bismarcks, sondern ausschließlich in Wilhelm von Wedels Kompetenz, die monatlichen Lageberichte zu verfassen. Als Hannah von Bredow Ende Juli 1936 ihren Bruder Gottfried an seinem Dienstort Stettin im damaligen Amt des Regierungspräsidenten besuchte, meinte sie ihre Briefe an Jessen unbeschwert schreiben zu können, „da die Gestapo ihm hier im Großen und Ganzen untersteht.“ Hannah wusste demnach von dem bis in die späte NS-Zeit ungeklärten Kompetenzkampf zwischen innerer Verwaltung und Staatspolizei. Immer wieder musste der preußische Innenminister Wilhelm Frick auf eine „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ der beiden Behörden drängen. Eine solche dürfte in Potsdam zwischen Gottfried von Bismarck und Wilhelm von Wedel im Zweifelsfall bestanden haben, sodass Hannahs Bruder die Monatsberichte Wedels wohl regelmäßig einsehen konnte. Hannah von Bredows stattliches ‘Sündenregister‘ vermittelte ihrem Bruder Gottfried einen tiefen Einblick in ihr nichtkonformes, mutiges Verhalten im NS-Staat. Von interessierter Seite konnte ihm andererseits aber auch stets seine verwandtschaftliche Nähe zu Hannah vorgehalten und vorgeworfen werden, dass er die Schwester nicht zu ihren Pflichten in der ‚Volksgemeinschaft‘ bekehrte. In Kenntnis von Hannahs unbeugsamen Charakter und ihrer Kampfbereitschaft wird Gestapochef Wedel seinem SS-Kameraden Gottfried von Bismarck aber kaum weitergehende Vorwürfe gemacht haben. Die „milde“ Behandlung Hannah von Bredows, welche Wedel sich nach eigener Aussage aus Gestapo-Kreisen vorhalten lassen musste, spricht für eine gewisse Rücksichtnahme gegenüber Gottfried und der Familie Bismarck-Bredow. 190

Hannah von Bredows Umgang mit Wedel war geprägt von der Erkenntnis, dass dieser „kleine Führer der tiefen Angst vor der eigenen Courage unterworfen gewesen war“. Wedel war aus ihrer Sicht ein Mensch, der die Angst nicht loswerden, aber ertragen konnte, wenn er „herrschte und spürte, dass der Beherrschte seine Angst nicht kennt, weil er selber von einer noch größeren befallen ist.“ Daher mussten die Angst- und Respektlosigkeit Hannahs Wedel hilflos machen, wie sie schnell erkannte. Selbst in den aufreibenden Verhören durch Paul Opitz, Mitglied der „Sonderkommission 20.  Juli 1944“, lag Hannah von Bredow Angst fern: „Als die Ärzte mich im November vernehmungsfähig schreiben mussten, begannen die Verhöre der Gestapo an meinem Bett. Nach 4 Stunden Verhör bekam ich einen Anfall Angina Pectoris und der Kommissar Opitz einen großen Schrecken. Er war ein merkwürdiger Kerl, Sachse, an sich kein Gestapist, sondern Leiter der Grenzkontrolle. Er war am 20.7.44 berufen worden, um in der sogenannten ‚Sonderkommission IV‘ die Verhöre unter Müller zu leiten, weil man ihn für fähig hielt, ‚besonders urbaner Manieren wegen‘ mit dem Adel besser fertig zu werden als die echten Folterknechte der Gestapo.“ In der Person von Opitz hatte Hannah von Bredow es jetzt nicht mehr mit einem karrieresüchtigen Bekannten aus Jugendzeiten zu tun, der enge Verbindungen zu den Brüdern Bismarck hatte und darauf Rücksicht nahm. Während auf ihre bisherigen Verstöße gegen die NS-Normen „nur“ Schutzhaft oder KZ folgen konnte, hätte Hannah mit dem Nachweis ihrer Mitwisserschaft oder sogar Mittäterschaft am Attentat auf Hitler die Todesstrafe gedroht. Der Vorsitzende der nach dem Attentat gebildeten Sonderkommission, Heinrich Müller, konnte auf eine beachtliche NS-Karriere zurückblicken, die seine Beamtenlaufbahn deutlich überstrahlte: Im Jahre 1933 befand er sich als Polizei- und Kriminalobersekretär im Bayerischen Staatsdienst noch im mittleren Beamtengefüge. Bald aber wurde er Protegé von Reinhard Heydrich, der zunächst in Bayern und dann im Reich die Parteiformationen SS und SD mit der Polizei verzahnte. Im Spätsommer 1939 wurde Müller Chef der Abteilung IV des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), also der Gestapo, 191

und gleichzeitig SS-Oberführer. Zu seinen ersten Amtshandlungen zählte der inszenierte Überfall angeblich polnischer Soldaten auf den Rundfunksender Gleiwitz am 31. August 1939 und kurz darauf die Anweisungen zur „Sonderbehandlung“, also Ermordung, politischer Gegner. In der „Sonderkommission 20. Juli 1944“ konnte Müller über rund 400 Mitarbeiter verfügen, darunter auch über Paul Opitz. Der „merkwürdige Kerl“ Opitz hatte im Ersten Weltkrieg als Jugendlicher ohne Ausbildung gekämpft. Nach Verwundung und einjähriger englischer Kriegsgefangenschaft sowie folgenden Aktivitäten in einem paramilitärischen Freikorps hatte er sich im Jahre 1923 für den Polizeidienst gemeldet. Zur Gestapo kam er 1936. Dort befasste sich der Kriminalrat u. a. mit „staatsfeindlichem Ausländertum“. Bevor Gestapo-Müller ihn in seine Sonderkommission berief, war Opitz von der RSHA mehrere Jahre zur Grenzüberwachung eingesetzt und dann 1943 als Referent für die Grenzpolizei ins RSHA nach Berlin zurückbeordert worden. In vielen Vernehmungstagen lernte Hannah von Bredow den Sohn eines Forstbeamten so gut kennen, dass sie dessen Angst vor seinem Chef Müller richtig einzuschätzen und zu ihren Gunsten zu nutzen verstand. Sie musste Paul Opitz nicht nur davon überzeugen, dass sie keinerlei Kenntnis von den Vorbereitungen zum Attentat auf Hitler hatte. Auch um die Freilassung ihrer am 22. August 1944 inhaftierten Tochter Philippa hatte sie zu kämpfen. Ihrem Bruder Albrecht schildert Hannah den Gestapomann Opitz als „feige, verschlagen, hatte aber zweifellos den Wunsch, alle Frauen und Männer, die in seine Hände kamen, wenn er sie erst mürbegemacht und zu Geständnissen gebracht hatte, vor dem Strang zu retten, und das ist ihm tatsächlich in allen Fällen bis auf einen – Kapitän z.S. Kranzfelder, Freund des Grafen Berthold Stauffenberg (Bruder des Attentäters Claus) – gelungen“. Die Charakterisierung von Opitz hätte Hannah von Bredow auch noch um das Attribut „verschwörerisch“ ergänzen können: Im September 1944 hatte die Gestapo bei einer Durchsuchung von Hannahs Haus in der Potsdamer Wörtherstraße in ihrer Abwesenheit alle Bücher auf dem Nachttisch mitgenommen. Darunter befanden sich auch „die englische Bibel, das ‚Büchlein vom vollkommenen 192

Leben‘, anonym 1380, wahrscheinlich vom damaligen Deutsch-Ordensmeister geschrieben, die Apokalypsen auf Englisch, das Brandenburgische Gesangbuch.“ Als Hannah daraufhin Opitz aufforderte, ihr die Bücher wiederzugeben, gab er ihr einige von ihnen zurück, nicht aber die englische Bibel. Entwaffnend erklärte Opitz ihr, „dass es ja sehr bedenklich sei, dass ich eine englische Bibel gehabt hätte, denn natürlich hätte ich sie für Code-Zwecke benutzt, das sei sonnenklar! Die bekäme ich also nicht wieder.“ Im Verhör an Hannah von Bredows Krankenbett in der Charité bemühte sich Paul Opitz ab dem 11. November 1944 zunächst um ein Geständnis Hannahs, dass sie zusammen mit Bruder Gottfried von Bismarck das Attentat auf Hitler vorbereitet habe und dass die mit dem Verschwörer Werner von Haeften befreundete Tochter Philippa in alles eingeweiht gewesen sei. Wie Hannah von Bredow ihrem Bruder Albrecht berichtete, ließ sie Opitz „seinen Unsinn reden“, um sich dann Luft zu verschaffen: „Sie können lügen, so viel Sie wollen, es imponiert mir überhaupt nicht. Ich weiß genau, wie die Gestapo arbeitet, mir ist nichts, verstehen Sie, Herr Regierungsrat, nichts unbekannt, was hinter den Kulissen bei Ihnen geschieht, und wie Sie Geständnisse erpressen; mir ist dies alles ganz einerlei, denn ich habe 1937 Ihre Leute gründlich kennengelernt und unschätzbare Lehren daraus gezogen. Ich will Ihnen nur eines sagen: ich spreche die Wahrheit, Sie hingegen haben das Verhör mit Lügen begonnen, und wenn Sie so fortfahren, werden Sie viel Langeweile ertragen.“ Hannah ergänzt im Brief: „Er war völlig sprachlos und von dem Moment an hatte ich das Heft in der Hand – bis zum Herzanfall.“ Auch nach dem Herzanfall und einer Erholungspause setzte Hannah von Bredow Paul Opitz weiter zu, indem sie ihn anhand ihres Tagebuchs von der Unwahrheit der erzwungenen Aussagen Jessens und Welsburgs überzeugte. Opitz erklärte sich daraufhin zu einer gemeinsamen Formulierung des Protokolls bereit, in der festgehalten wurde, dass Philippa von ihrem Freund Werner von Haeften von Unzufriedenheiten unter den Offizieren gehört und dem Grafen Welsburg eine übertriebene Darstellung des Gehörten geliefert habe. 193

Während Opitz mit dem Ergebnis und den Protokollen leben konnte, traf dies für seinen Vorgesetzten, Heinrich Müller, in keiner Weise zu. Auf dessen strikte Weisung hin bestellte Opitz Hannah von Bredows Tochter Marguerite am 25. November 1944 zu sich. Ihrem Bruder Albrecht berichtet Hannah, dass Müller die Protokolle gelesen und „einen sinnlosen Wutanfall bekommen“ habe. Er habe „Opitz angebrüllt, dass er uns alle schütze, dass er ‚adelstoll‘ geworden sei, und dass er ihm nun mein Dossier zu lesen geben werde. Das würde ihn wohl überzeugen, dass ich ins K.Z. gehöre, noch viel mehr als mein Bruder. Ich sei ein ‚Sozialspion 1. Klasse‘, eine Kraft, die man vernichten müsse; und endlich hätte Müller mich, nachdem er jahrzehntelang auf mich gewartet hätte.“ Opitz nahm sich daraufhin Hannah von Bredows Gestapo-Dossier gründlicher vor und war „nun wirklich völlig entsetzt.“ Hannah sei nicht nur denunziert worden, sondern auch „was niemand begreifen könne, sei alljährlich mit allen Kindern in die Schweiz gefahren, darüber rase Müller retrospektiv am meisten.“ Als Ergebnis dieser neuen Erkenntnisse erklärte Opitz Tochter Marguerite, dass der „Abtransport ins K.Z. Lager“ nur für die Dauer der Haftunfähigkeit ihrer Mutter aufgehoben werde. Hannah von Bredow bat Marguerite daraufhin „Opitz zu ersuchen, nicht nur den Anfang  des Dossiers, sondern auch die Mitte und das Ende zu lesen und darin nach der ‚Ehrenerklärung‘ und ‚Entschuldigung‘, die mir die Gestapo nach der Affäre 1937, wo Wilhelm Wedel mich verhaften wollte, ausgestellt hätte, zu suchen. Wenn Müller mich daraufhin ins K.Z. Lager stecke, müsse er seine eigene Potsdamer Gestapo desavouieren, und das sei ja etwas mühsam.“ Nachdem Marguerite von Bredow diesen Sachverhalt Paul Opitz mitgeteilt hatte, erschien dieser zwei Tage später bei Hannah und teilte ihr mit, dass er inzwischen auf ihren Rat „trotz Überlastung das ganze Dossier gelesen, die Entschuldigung und Ehrenerklärung der Potsdamer Gestapo gefunden und die dadurch veränderte Lage Müller gemeldet hätte. Dieser hätte einen derartigen Wutanfall bekommen, dass ihm (Opitz) ganz ‚miesepetrig‘ ge-

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worden sei, aber er hätte eingesehen, dass nun nichts zu machen sei, jedenfalls vorläufig nicht.“ Auch das vorläufige Ende der Gestapo-Schikanen teilte Hannah von Bredow ihrem Bruder Albrecht mit: „Opitz brachte mir also meine ‚Entlassung‘ und ein Papier, das ich unterschreiben sollte. Darauf stand, dass ich mein Wort gäbe, Potsdam nie zu verlassen, außer um nach Friedrichsruh oder Schönhausen zu fahren, dass ich keinen Verkehr mit Ausländern haben dürfte, und dass ich über die Verhöre schweigen würde. Ich lehnte die Unterschrift glatt ab. Opitz meinte gottergeben: ‚Na, dann lassen wir die Sache unter den Tisch fallen, Sie sind ja nun frei, und mit Ihrer Tochter Philippa wird das wohl auch werden, aber es wird noch dauern, weil Müller sie absolut vor das Volksgericht bringen will.‘“ Gestapo-Müller war auch Ende des Jahres 1944 noch intensiv mit der „Aktion Gewitter“ beschäftigt, in deren Rahmen seine Behörde rund 6.000  vermeintlich Beteiligte, Mitwisser und Fluchthelfer in Verbindung mit dem Attentatsversuch auf Hitler festnahm und verhörte. Auch die junge Philippa von Bredow sollte ab dem 22. August im Gerichtsgefängnis Charlottenburg zu Geständnissen gebracht werden. Sie belastete indessen nur ihren Freund Werner von Haeften, der bereits am 21.  Juli auf Befehl von Generaloberst Friedrich Fromm im Bendlerblock hingerichtet worden war. Trotz anhaltender Herzschwäche besuchte Hannah von Bredow ab Mitte  Dezember 1944 Tochter Philippa nahezu täglich im Gefängnis, versorgte sie und munterte sie auf. Zur gemeinsamen Silvesterfeier vermisste sie die Tochter sehr und vermutete am  Jahresende 1944: „Philippa wird nicht vor Ostern freikommen.“ Laufend und unermüdlich bedrängte Hannah ihre Anwälte, Gestapo-Opitz und die Staatsanwaltschaft. Schließlich konnte sie erreichen, dass Philippa von Bredow am 31. März 1945, einen Tag vor Ostern, freikam. Zum Jahresende 1944 gab es für Hannah von Bredow demnach noch keinerlei Grund zum Feiern: Außer auf Philippa musste sie auch auf die Söhne Wolfgang, Herbert und Leopold Bill verzichten. Die beiden jüngeren wusste sie immerhin bei Frau Helene 195

Burckhardt-Schatzmann und ihrer Tochter Theodora von der Mühll-Burckhardt in Basel in Sicherheit. Besonders litt sie aber an dem ungewissen Schicksal ihres an der Front vermissten ältesten Sohnes Wolfgang. Sie musste lange, bis Ende März 1946, warten, bevor sein Tod ihr endgültig bestätigt werden konnte. Hannah von Bredow entbehrte aber auch die Gespräche und Korrespondenz mit ihrem Vertrauten Sydney Jessen, der seit dem 23. Juli 1944 den Verhören von Paul Opitz ausgesetzt war. Soweit ihr geschwächter Gesundheitszustand es zuließ, besuchte sie Jessen nach Verlassen der Charité zweimal wöchentlich im Gefängnis in der Lehrter Straße. Sie versorgte ihn mit „Fresspaketen“ sowie Büchern und munterte den geschwächten und depressiven Mann auf. Auch besuchte sie regelmäßig ihre ebenfalls inhaftierten Freunde Albrecht von Bernstorff und Constantin von Dietze. Zur Freilassung von Sydney Jessen vermutete sie am Jahresende 1944: „SJ wird erst freikommen, wenn die Russen in Berlin sind.“ Mit der sowjetischen Besetzung von Berlin nördlich der Spree am 25. April 1945 und Jessens Flucht aus dem Gefängnis kurz danach traf ihre Prognose dann ein. Bis Mitte April 1945 unternahm Hannah von Bredow beschwerliche Fahrten von Potsdam nach Berlin, um die Gefangenen zu besuchen. Schwere Luftangriffe verhinderten ihr in dieser Zeit das Durchkommen zur Lehrter Straße, sodass sie in einem Fall auch die Hilfe von Paul Opitz beanspruchte. Bruder Albrecht schrieb sie später, dass sie Opitz Lebensmittel und einen Brief übergeben habe, „in dem ich die Gefangenen bat, falls sie noch freikämen, alle zu uns zu kommen. Dann fuhr ich nach Potsdam zurück, was drei Stunden dauerte. Opitz hat die Lebensmittel und den Brief abgegeben.“ In den letzten Kriegstagen gelang es Hannah von Bredow demnach, ihren Quälgeist noch für sich dienstbar zu machen. Für sie war Opitz „kein absoluter Verbrecher“. Trotz aller Schikanen, denen sie in den Verhören ausgesetzt war, musste Hannah anerkennen, dass Opitz die ersten Geständnisse von Tochter Philippa im Protokoll abgeschwächt und ihren Prozess so weit verzögert hatte, dass kein Urteil mehr gesprochen wurde. So fand sich Hannah von Bredow auf Bitte von Opitz wenige Jahre nach dem Krieg bereit, eine 196

beurkundete Aussage zu seinen Gunsten vorzunehmen. Ihre Unbedenklichkeitsbescheinigung trug dazu bei, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz der jungen Bundesrepublik Deutschland Paul Opitz als Mitarbeiter einstellte. Opitz’ Vorgesetzter Heinrich Müller dagegen galt als einer der mächtigsten und brutalsten Schreibtischtäter des NS-Terrorstaates. Am 1. Mai 1945, einen Tag nach Hitlers Selbstmord, wurde er noch im Führerbunker gesehen, danach verliert sich seine Spur. Noch bis in die 1990er-Jahre suchte der US-Geheimdienst CIA vergeblich nach ihm, und auch Historiker können heute nur Vermutungen über sein weiteres Schicksal anstellen. Hannah von Bredows von festem Glauben und humanistischen Prinzipien getragene Charakterstärke, ihre Bildung, der scharfe Verstand, ihre Freude an harten Auseinandersetzungen und ihre Furchtlosigkeit erlaubten es ihr, den hartnäckigen Gestapo-Ermittlern standhalten zu können. Trotz seelischer und zeitlicher Belastung bedeuteten die Verhöre für Hannah von Bredow auch eine intellektuelle Herausforderung: Es galt, die „kleinen Führer“ in Widersprüche zu verwickeln, Lügen sowie von Nahestehenden erpresste Aussagen mit Tagebucheintragungen zu widerlegen oder unterschiedliche Ermittlungsergebnisse einzelner Gestapostellen gegeneinander auszuspielen. Da Hannah von Bredow sich von Drohungen, Einschüchterungen und Erpressungen nicht entmutigten ließ und die Gestapo bei ihr von physischer Folter Abstand nahm, konnten die Verhöre zu keinen die Gestapo befriedigenden Ergebnissen führen. Bei ihrem Bemühen, Hannah von Bredow zu einem Geständnis zu bringen, stützte sich die Gestapo vornehmlich auf eigene Quellen, wie das Abfangen und Auswerten der Korrespondenz Hannahs mit Sydney Jessen bereits ab Herbst 1933 sowie zusätzlich auf Hausdurchsuchungen. Das Beispiel der von der Gestapo in Hannahs Haus requirierten englischen Bibel unterstreicht, welchen Aufwand die Terrorbehörde z. B. beim Verdacht von vermuteten Codes betrieb, mit deren Entschlüsselung der Verdächtigten Ausländer- bzw. Hochverrat nachgewiesen werden sollte. Ergiebiger für die Gestapo waren jedoch die Anzeigen, welche sie ab dem Jahre 1935 unaufge-

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fordert aus dem engeren und weiteren Bekanntenkreis Hannah von Bredows erhielt. In ihrem Tagebuch und einem Brief an die Freundin Käthe von Pannwitz vom 5. Oktober 1945 nennt Hannah von Bredow verschiedene Namen von Denunzianten. Alle Denunziationen, abgesehen von der eines Hausmädchens und der des späteren Großadmirals Erich Raeder, stammten aus Hannahs Standeskreisen. Was immer die Motive der einzelnen Denunzianten waren – alle hielten es für berechtigt und erforderlich, der Gestapo Hannah von Bredows nonkonforme Lebensweise anzuzeigen: Ihre Verweigerung des Hitlergrußes und des Flaggens, ihre regimekritischen Äußerungen, welche Hitler wie auch einzelne Amtsträger der Partei betrafen, ihre mangelnde Spendenbereitschaft für NS-Zwecke, das Fernhalten der Kinder von NS-Organisationen, ihre Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche und im Solf-Kreis, den Umgang mit Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und Juden oder pauschal ihre „Ausländerei“ mit Spionageabsichten. Jeder dieser Verstöße gegen die ‚Treupflicht gegen Volk und Führer‘ konnte als „Heimtückedelikt“ nach der „Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung“ vom 21. März 1933 und dem „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei“ vom 20. Dezember 1934 bestraft werden. In allen Lebenssituationen erwiesen sich beide Instrumente als Allzweckwaffen gegen kritische Äußerungen. Für den Normalbürger gab es indessen in den zwölf  Jahren des Hitler-Regimes keinerlei gesetzliche Pflicht, „Heimtückedelikte“ zur Anzeige zu bringen. Reinhard Heydrich, Chef des RSHA und zugleich Chef der Sicherheitspolizei und des SD, versuchte zwar 1939 kurz nach Kriegsbeginn, eine gesetzliche Anzeigepflicht einzuführen: Jeder „Volksgenosse“ sollte durch Strafandrohung dazu gezwungen werden, alle Verbrechen und Vergehen anzuzeigen, die nach „gesundem Volksempfinden“ geeignet waren, die „Geschlossenheit und den Kampfeswillen des deutschen Volkes zu zersetzen und die Leistungs- und Kampfeskraft des deutschen Volkes zu schwächen.“89 Heydrich

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hatte mit dem von ihm geplanten „Volksmeldedienst“ aber keinen Erfolg. Die damaligen Bedenken der NS-Führung überwogen. Sie befürchtete, dass durch die umfassende Meldepflicht ein Druck entstehe, der dem Zusammenhalt und der „Volksgemeinschaft“ Schaden zufügen könnte. Ferner sollte ein grassierendes und nicht mehr zu kontrollierendes Denunziantentum vermieden werden. Heydrichs Vorstoß blieb somit ohne gesetzliche Folgen, und es bestand auch weiterhin keine generelle Pflicht, Vergehen gegen NS-Normen zu melden. Anders lag der Fall seit dem Jahre 1937 für die Beamten des Deutschen Reichs. Ab dem 26. Januar wurde der reichsdeutsche Beamte mit einer Änderung des Beamtengesetzes auf den nationalsozialistischen Staat dahingehend eingeschworen, „rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat einzutreten und sich in seinem gesamten Verhalten von der Tatsache leiten zu lassen, dass die NSDAP in unlöslicher Verbundenheit mit dem Volke die Trägerin des deutschen Staatsgedankens ist.“90 Hierbei beließ es das NS-Regime aber nicht, denn der Beamte wurde zusätzlich verpflichtet, „Vorgänge, die den Bestand des Reiches oder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gefährden können, auch dann, wenn sie ihm nicht vermöge seines Amtes bekanntgeworden sind, zur Kenntnis seines Dienstvorgesetzten zu bringen“.91 Der deutsche Beamte wurde demnach verpflichtet, auch außerdienstlich erlangte Kenntnisse zu melden. Ein Beamter, welcher seiner Dienstpflicht nachkam und ein „Delikt“ zur Anzeige brachte, konnte sich also im Gegensatz zur Privatperson grundsätzlich auf seine gesetzliche Verpflichtung berufen. Auch bereits beendete Vergehen unterlagen der Dienstpflicht zur Anzeige. Die Brüder Otto und Gottfried von Bismarck waren demnach ab dem Jahre 1937 dazu verpflichtet, die „Heimtückedelikte“ ihrer Schwester anzuzeigen: Der beamtete Diplomat Otto hatte sie bis Anfang  Februar 1938 Konstantin von Neurath und danach Joachim von Ribbentrop zu melden; der preußische Regierungsbeamte Gottfried dem Innenminister Wilhelm Frick. Auch wenn sich Hannah, ihren Tagebucheintragungen nach zu urteilen, von 1937 bis 199

zum Jahre 1944 nicht häufiger mit ihren Brüdern traf, hätten Dritte veranlasst sein können, sich danach zu erkundigen, ob die Brüder ihren Vorgesetzten die Treffen mit der Dissidentin gemeldet hatten. Meist ging es bei den wenigen Treffen der Geschwister um familiäre oder finanzielle Fragen. Schon in den frühen Jahren des NS-Regimes hatte sich Hannah von Bredow nach anfänglichen Besorgnissen und Mahnungen mit ihren politischen Ansichten den Brüdern gegenüber zurückgehalten. Auch bemühte sie sich ab 1937, ihre Brüder nicht in Verlegenheit zu bringen, ihrer Beamtenpflicht nachkommen zu müssen. So stellte sie z. B. bei Einladungen von Dritten fest, dass Otto von Bismarck ungern in ihrer Nähe gesehen werden wollte. Diese Form des Selbstschutzes verstand sie durchaus. Hannah von Bredows Brüder standen ihrer Schwester in finanziell und wirtschaftlich schwierigen Lagen stets zur Seite und legten Ende 1937 und Anfang 1938 bei der Gestapo ein Wort für sie ein. Ohne die Interventionen der Brüder beim Gestapochef von Wedel wäre Hannah an einer Haftstrafe kaum vorbeigekommen. Andererseits wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass einer der Brüder ihre nonkonforme Haltung in einem konkreten Fall zur Anzeige bringen würde. Den Brüdern ihrerseits verbot die Familienloyalität der Bismarcks eine Denunziation des abweichenden Verhaltens ihrer Schwester. Über die Motive, welche Menschen ihres Bekanntenkreises zu Denunziationen in „freiwilliger Mithilfe als verantwortungsvolle Kräfte des Volkes“ (Goebbels) veranlasste, machte Hannah von Bredow sich wenige Gedanken. Die jeweiligen Beweggründe der Einzelnen interessierten sie kaum, und nur Nikolaus Graf Strachwitz charakterisiert sie als „typischen Denunzianten“. Einem solchen war im NS-Regime Tür und Tor geöffnet, um mit der Anzeige irgendeines „Heimtückedelikts“, selbst durch Verfälschung und Ergänzung von Sachverhalten, persönliche oder ideologische Ziele zu verfolgen. Dementsprechend sah sich mancher Denunziant aus Hannah von Bredows Bekanntenkreis nahe am Ziel, als diese im Sommer 1937 ernsthaft von Inhaftierung bedroht war. Nahezu die gesamten zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs“ war Hannah von Bredow Bespitzelung und Denunziation ausge200

setzt. Die umfassende Überwachung aller Lebensbereiche sowie das Denunziantentum trugen wesentlich zum effektiven Zusammenwirken von Polizei und Gesellschaft bei. Dieses Zusammenwirken war ein wichtiger Faktor, um das Terrorsystem funktionsfähig zu erhalten. Hannah von Bredow hatte nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten, um ihre Gegnerschaft zum NS-Regime auszudrücken. So hielt sie unbeirrt an ihren nonkonformen religiösen und politischen Überzeugungen fest, welche sie nicht nur im geschlossenen Kreis zum Ausdruck brachte. Unerschütterlich wehrte und behauptete sie sich gegenüber dem massiven Verfügungsanspruch von Staat und NSDAP. Ebenso hartnäckig bemühte sie sich, ihre große Kinderzahl vor der Vereinnahmung durch das Willkürsystem zu schützen. Ungeachtet ihrer vielfältigen Belastungen und trotz größerer Risiken zeigte Hannah von Bredow darüber hinaus Hilfsbereitschaft und Solidarität für Verfolgte und gab Mutlosen Hoffnung. Hannah von Bredow war keine Widerständlerin im Sinne verschwörerischer Aktivitäten zur Beseitigung des NS-Regimes. Sie leistete andererseits aber nicht nur einen „stillen“ Widerstand. Dennoch bewahrte ihre entschiedene Form der Regimegegnerschaft sie in ihrem vierten Lebensabschnitt nicht davor, mehrere Zeugen bemühen zu müssen, um Zweifel an ihrer oppositionellen Haltung während des „Dritten Reichs“ auszuräumen. Die Herausforderungen aber, die sie zuvor in den letzten Wochen und Monaten im NSTerrorstaat bei denkbar schlechter Gesundheit zu bewältigen hatte, stählten sie auch für den späteren Kampf gegen formalistische Bürokraten in den USA.

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Der vierte Lebensabschnitt

„IT NEVER RAINS, BUT IT POURS, das kann einst wirklich auf meinem Grabe stehen.“ (Hannah von Bredow an Sydney Jessen, Nr. 187, den 2. Dezember 1932)

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ie vielfach zuvor, so kam Hannah von Bredow sich auch zum Ende des Jahres 1944 „wie eine Art Antenne vor, die spürt, was in der Luft liegt.“ Der Tagebucheintrag für den 31. Dezember 1944 belegt noch mehr ihre verblüffende Fähigkeit zur Voraussicht: „Russen werden Mitte  Januar angreifen; die Alliierten werden stärkste Luftangriffe machen; alles wird zusammenbrechen und keiner kann es aufhalten; im Mai oder Juni werden Russen wie Westalliierte in Berlin sein. Philippa wird nicht vor Ostern freikommen. SJ wird erst freikommen, wenn die Russen in Berlin sind. Alles wird zerstört sein und nur Gott weiß was mit D geschieht, wenn die Russen Oberhand haben.“ In der Tat startete die russische Offensive in Ostpreußen am 13.  Januar 1945, auch endete der Krieg mit der alliierten Besetzung von Berlin am 8. Mai, und Tochter Philippa sowie Sydney Jessen kamen zu den vorhergesagten Terminen frei. Hannah von Bredows wenig später mit Bleistift geschriebener Eintrag zeigt am Jahresanfang 1945 Erleichterung wie Resignation: „Das Jahr bedeutet das Ende des verdammten Reichs, das 1000 Jahre dauern sollte. Was soll man sagen, wenn freie Meinungsäußerung nicht erlaubt, ein Kind noch im Gefängnis, ein Bruder im KZ ist und alle anständigen Leute entweder im KZ, im Gefängnis oder zum Tode verurteilt sind? Der Krieg wird noch den Winter durch anhalten. Er wird im Mai oder Juni enden. Ich will nicht flüchten, denn die Russen können nicht schlimmer als Hitler & Co. sein.“ Akribisch verfolgt Hannah von Bredow in ihrem Tagebuch das Heranrücken der Russen. So hält sie am 21. Januar 1945 fest, dass 202

die Rote Armee Lodz einnahm und keine Passagierzüge mehr fuhren. Von Tag zu Tag stieg die Zahl der Flüchtlinge und auch die Belastung für Hannah selbst, wie sie am selben Tag vermerkt: „Etwa 25.000 Flüchtlinge kommen nach Potsdam, Sorge, da wir schon jetzt zu viele Leute.“ Drei Tage später kam eine Kommission zur Unterbringung von Ausgebombten zu ihr „und verlangt, dass weitere 15 unterkommen. Das würde 35 ausmachen.“ Diese große logistische Herausforderung musste Hannah von Bredow meistern und gleichzeitig „einen großen persönlichen Schock“ verarbeiten, den ihre älteste Tochter Marguerite ihr versetzte. Die 28-jährige Marguerite, welche als Oberärztin in der Charité während der Kriegsjahre unermüdlich Tag und Nacht im Einsatz war, zeigte in ihrem Privatleben ein für Hannah von Bredow schwer erträgliches Verhalten. Anfang November 1944 hatte Marguerite ihrer Mutter gestanden, dass ihre körperliche Schwäche nicht einer Blinddarmreizung, sondern der im Mai 1945 erwarteten Geburt eines Kindes zuzuschreiben war. Wenige Monate vor diesem Geständnis hatte Marguerite eine fünfjährige Verlobung gelöst und war zu ihrem Kollegen Dr. Johannes Linzbach gezogen. Für Hannah lebte sie nunmehr „in Sünde“, zumal Linzbach nicht geschieden war. Zuvor hatte er zudem mit einer Frau „jahrelang in wilder Ehe gelebt“ und sie erst nach Geburt des zweiten Kindes geheiratet. Auf hartnäckiges Drängen von Marguerite suchte Johannes Linzbach Mutter Hannah auf, die ihrem Bruder Albrecht zum Antrittsbesuch mitteilt: „Ich war eiskalt und höflich, und musste mir irgendeinen Unsinn vom ‚Recht auf die große Liebe‘ anhören; völlig sinnlos.“ Am 27.  Januar 1945 wurde die Zivilehe geschlossen, am 3.  Februar folgte die kirchliche Trauung, zu der Hannah den „­Bekenntnispfarrer“ Gerhard Schröder nur schwer bewegen konnte, in der Potsdamer Garnisonskirche. Hannah von Bredow „war die ganze Komödie wie ein Albdruck“, und sie „bot Dr. Linzbach selbstverständlich nicht das ‚Du‘ an.“ Kurz nach Kriegsende, am 11. Mai 1945, bekam Marguerite „im Bunker der Charité unter Sterbenden, Toten, Verwundeten, unter Wanzen, Läusen, Typhuskranken eine Tochter, die sie Barbara nannte; sie stand um 12  Uhr auf, ging um 15  Uhr zu Fuß mit dem Baby in 203

die unzerstört gebliebene Wohnung des Dr. Linzbach, wo sie sich erstaunlich schnell erholte.“ Das Verhältnis der Mutter zur ältesten Tochter blieb lebenslang getrübt, zumal bereits viele Äußerungen und Handlungen der heranwachsenden Marguerite die Mutter enttäuscht und verletzt hatten. Weit näher als Marguerite stand Hannah von Bredow dagegen ihr ältester Sohn Wolfgang, um den sie sich das gesamte Jahr 1945 größte Sorgen machte. An Ostern, dem 1. April 1945, freute sie sich zwar über das gemeinsame Frühstück mit vier Töchtern, nachdem Philippa den Tag zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. Sie vermisste aber außer Wolfgang seit Anfang  November 1944 auch ihre Söhne Herbert und Leopold Bill. Trotz monatelang ausgebliebener Nachrichten wusste Hannah sie aber wohlbehütet in der Schweiz, wo sie die beiden aber erst im August 1946 wiedersehen konnte. Sohn Wolfgang dagegen war an der Front, und am 14. April 1945 erfuhr Hannah von Bredow, dass er am 11. März verwundet und einen Tag darauf als vermisst erklärt worden war. Diese Nachricht versetzte Hannah in tiefe Trauer. Sie bangte noch ein Jahr um sein Leben und erhielt erst Ende März 1946 die Gewissheit, dass er nicht mehr lebte. Dennoch bat sie noch im Jahre 1949 den Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes um Unterstützung bei der Suche nach Wolfgang. Auch ihre Mutter Marguerite, welche sie seit Juni 1944 nicht mehr getroffen und mit der sie zuletzt im April 1945 telefoniert hatte, sah Hannah nicht mehr wieder. Das Transportchaos der ersten Nachkriegsmonate hinderte sie daran, ihre an Darmkrebs erkrankte Mutter zu besuchen. Marguerite Fürstin von Bismarck verstarb nach großen Qualen am 4.  Oktober 1945. Hannah von Bredow erfuhr erst am 10. Oktober von ihrem Tod und beklagte den schmerzhaften Verlust. Die Mutter war ihr „die treueste und verständnisvollste Freundin“, und Hannah verdankte ihr eine Kindheit und Jugend, „die schöner, sonniger und froher nicht gedacht werden kann“, schrieb sie Helene Burckhardt-Schatzmann, der „Ersatzmutter“ ihres Jüngsten Leopold Bill. Marguerite von Bismarck musste Ende April 1945 noch die völlige Vernichtung von Friedrichsruh durch einen 204

Fliegerangriff miterleben. Als Hannah von Bredow schließlich mit Mühe am 14. Oktober dort eintraf, konnte sie von ihrer Mutter nur noch am blumenbedeckten Sarg Abschied nehmen. Es war für sie „wie ein Symbol, dass Friedrichsruh, Schönhausen und sie zusammen im gleichen Jahr untergegangen sind, und dass sie nun in der Kapelle, die unzerstört geblieben ist, ruht.“ Hannah von Bredows engste Bezugsperson und die Orte unbeschwerter Jahre gab es nun nicht mehr. Ihr einziger Trost war, dass ihrer Mutter erspart blieb, den Tod eines ihrer Kinder erleben zu müssen. Wie ihre Mutter in Friedrichsruh, so musste Hannah von Bredow in Potsdam wenige Wochen vor Kriegsende heftige Luftangriffe miterleben, die die Stadt in Trümmer legten. Auch rückte die Rote Armee immer näher, sodass am 27. April 1945 in Potsdam das Gerücht umlief, die Russen würden in die Stadt einmarschieren. Hannah hängte vorsorglich weiße Tücher aus den Fenstern. Indessen erwies sich das Gerücht als falsch. Die Folgen ihrer Vorsichtsmaßnahme beschreibt Hannah ihrem Bruder Albrecht: „Und plötzlich entstand in einer Feuerpause vor meinem Haus ein Menschenauflauf. S.S.-Kerle, Zivilisten, Weiber aller Art brüllten nach mir. Ich ging ans Fenster: ‚An die Laterne die Verräterin! Handgranaten ins Haus! Weiße Fahnen! Solche Weiber sollte man zerreißen.!‘ Immer mehr Leute sammelten sich an. Mich ergriff eine ganz große Wut. Ich beugte mich heraus und rief: ‚Scheren Sie sich alle zum Teufel! Schämen Sie sich selber! Was liegt hier in der Straße herum? Gewehre, Monturen, Uniformen, Koppel, Munition! Wer bettelt um Zivilkleider? Die S.S! Wer ist feige? Sie alle! Glauben Sie, dass ich meine Töchter diesem Wahnsinn opfern will? Wenn Sie mir beweisen können, dass die Russen noch nicht da sind, werde ich die Fahnen einziehen, werde sie aber sofort heraushängen, wenn die ersten Russen kommen.“ Am 30. April 1945 kamen die ersten Russen in die Wörtherstraße 15: „Nun ging es ununterbrochen: Russen, Russen, und ich versteckte die Mädel oben im blauen Zimmer. Die Russen lieben keine Treppen.“ Einen gewissen Schutz boten Hannah von Bredow der bei ihr wohnende Sydney Jessen und der Diplomat Maximilian von Engelbrechten. So setzte Engelbrechten auf die Liebe der Russen 205

zur Musik, als ein betrunkener Soldat Jessen im Haus mit einer Pistole bedrohte. Mit Takten aus einer Arie von Haydns „Schöpfung“ beruhigte er den Angreifer und ermöglichte Hannah, ihre vier Töchter im Alter zwischen 19 und 26 Jahren im Obergeschoss zu verstecken. Einen Tag darauf fehlten nach Verlassen von 14 russischen „Übernachtungsgästen“ allerdings Teppiche, Schuhe und Wertgegenstände. Ein Protest in der russischen Kommandantur und der Hinweis auf dieselbe gegenüber weiteren russischen Eindringlingen erbrachte zumindest Schutz gegen erneute Übergriffe. Das Ende des Krieges begrüßten Hannah von Bredow und ihre Töchter mit zwei Flaschen Wein und gepökeltem Schwein: „Irgendwie mussten wir das Kriegsende feiern. Man kann es immer noch nicht glauben! Ich meine, dass unser Aller Überleben wie ein Wunder ist.“ Einen Monat später wechseln sich Hoffnungslosigkeit, Dankbarkeit und Sorge ab: „Heute vor einem Jahr war Invasion in der Normandie. So viel ereignete sich. Hoffnungslosigkeit. Dankbar, im Haus zu leben. Interalliierte Kommission trifft sich in Berlin. Veröffentlichung der Kapitulationsurkunde. Damit ist Deutschland am Ende.“ Wiederum einen Monat später machte Hannah sich große Sorgen um die 25-jährige Tochter Diana sowie die 19-jährige Maria und teilt Bruder Albrecht mit: „Am 8.7. verschwanden Diana und Maria, und Du kannst Dir meine Verzweiflung vorstellen. Ich hörte durch entlassene Gefangene, wo sie säßen und nach vier Tagen gelang es mir, sie freizubekommen. Sie waren völlig erschöpft, hatten nichts zu trinken und nur zwei Stücke Brot zu essen bekommen, waren jede Nacht von 1-5 Uhr verhört worden, hatten aber durch lautes Schreien und wildes Umsichschlagen der Vergewaltigung entgehen können.“ Die sowjetische Geheimpolizei GPU hatte die Töchter verhaftet, weil sie ohne Ausweise spazieren gegangen waren. Zu den Sorgen um die Töchter und den Übergriffen der Besatzer kam ab Sommer 1945 die Hungersnot. Im September 1945 schreibt Hannah ihren Brüdern Otto und Gottfried vorwurfsvoll nach Friedrichsruh, dass sie über ihre Notlage in Potsdam völlig falsch unterrichtet seien: „Die Hungersnot nimmt zu; wir bekommen nur 1500 g Brot pro Kopf und Woche, hie und da gibt es Kartoffeln und etwas 206

Gemüse. Vom 1.9. an darf nur an Kinder unter zwei  Jahren Gemüse abgegeben werden. Die Schwäche ist deshalb groß, man vegetiert dahin und wartet auf das Ende, denn in einem Hause ohne Fensterscheiben, ohne Heizung, ohne Gas und mit zerstörtem Dach kann man bei der Ernährung den Winter nicht überstehen.“ Bruder Ottos schwedische Frau Ann Mari nahm Hannahs Sorgen ernst und ließ ihr wiederholt große Pakete mit Nahrungsmitteln zukommen. Ungeachtet aller persönlicher Sorgen verfolgte Hannah von Bredow im Sommer 1945 aufmerksam das politische Geschehen. Am 12. Juli stellt sie im Tagebuch wachsende antideutsche Propaganda im Radio fest und nennt den 16. Juli als Beginn der Potsdamer Friedenskonferenz der drei alliierten Siegermächte. Zuvor, am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, vermerkt sie: „De Gaulle sprach ziemlich ‚Französisch‘, um den Sturm auf die Bastille zu feiern. In Berlin hatten sie einen Siegesmarsch. Franzosen hissten ‚für immer‘ die Trikolore auf der Siegessäule.“ Am Tag darauf kommentiert sie die Ankunft der Staatschefs der Siegermächte Truman, Churchill und Stalin in Potsdam: „Die Konferenz soll unlösbare Fragen lösen.“ Das Ergebnis der am 2. August beendeten Konferenz fasst Hannah knapp zusammen: „Polen geht bis zur Oder und Russland bekommt Ostpreußen.“ Kurz vor Abschluss der Konferenz, in der die Siegermächte auch die „5  D“ (Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung, Demontage, Dezentralisierung) für Deutschland beschlossen, stellte Hannah von Bredow am 30. Juli 1945 resignierend fest: „Großvater starb vor 47 Jahren. Sein Lebenswerk ist jetzt zerstört.“ Auch sah sie „wenig Hoffnung, dass Potsdam amerikanisch oder englisch wird“. Der Gedanke an einen Wegzug aus der Stadt schmerzte sie aber, denn er bedeutete für sie den Abschied aus einer seit einem Vierteljahrhundert vertrauten Heimat: „Aber was tun, wenn wir nicht verhungern wollen. Ich bin so unendlich hungrig“, beklagt sie im Tagebuch. Den Umzug in die Ulmenallee  23 in Berlin-Charlottenburg zögerte sie bis Ende Oktober 1945 hinaus. In den letzten ihrer Potsdamer Tage verfolgte Hannah von Bredow das Verhalten ihrer Landsleute im sowjetisch besetzten Land 207

Brandenburg und beschrieb es verallgemeinernd ihrem Bruder Gottfried von Bismarck: „Das sind alles ehemalige Nazis, die sich jetzt als Kommunisten tarnen und an Speichelleckerei Rekorde leisten. Es ist mir eine gewisse Befriedigung, dass die Schriften unseres Großvaters mit denen des alten Fritz u.ä. auf den Index und somit in den Schulen und den Bibliotheken in den sogenannten ‚Giftschrank‘ gekommen sind. Da können sie ruhig schlafen, wie Barbarossa im Kyffhäuser. Das deutsche Volk ist wohl in allen seinen Schichten mit so viel Schimmel durchsetzt, dass die noch essbaren Teile des Laibs immer kleiner werden. Aber vielleicht gelingt es doch, den Schimmel rechtzeitig zu entfernen, auf dass der ganze Laib nicht verfaule.“ Resignation zeichnet auch Hannah von Bredows Schreiben von Mitte Oktober 1945 an Helene Burckhardt-Schatzmann aus, als sie „das furchtbare, qualvolle, langsame Sterben eines ganzen Volkes“ beklagt und fortfährt: „Es ist dieser Hungertod, dem täglich Ungezählte zum Opfer fallen, es ist die völlige Bolschewisierung eines schönen Landes voll alter Städte und alter Kulturen, es ist eben das Ende eines Zeitalters, dessen Grauen nur mit der Hunnenzeit, den Mongolenzügen oder den Barbareneinfällen ins alte römische Reich zu vergleichen sind.“ Ganz offensichtlich trat in diesen Tagen für Hannah von Bredow das Grauen des „Dritten Reichs“ gegenüber dem Hunger und den Erfahrungen mit der sowjetischen Besatzung zurück. Die Ähnlichkeiten der Regime erkannte sie aber sehr wohl und stellte sich auf sie ein: „Sie sind so identisch wie die S.S. und all die Naziorganisationen, dass ich es leichter habe, die Lage zu übersehen, weil ich die Hitlerei bis ins letzte durchschaut habe, und die Bolschewiken mir deshalb nichts vormachen können. Persönlich gelingt es mir  – trotz mangelnder Sprachkenntnisse  – meistens irgendwie mit den Leuten fertig zu werden. Man kann nur das der Gestapo gegenüber angewandte Rezept verfolgen: ‚Ich bin‘ spricht jener, ‚zu sterben bereit und bitte nicht um mein Leben‘. Das verwirrt diese Bestien, die nur die Drohung kennen und mit Gebrüll, Revolvergefuchtel und allerlei ähnlichen Mätzchen den Wehrlosen erschrecken wollen, genau wie die Gestapo es machte.“ 208

Die Aussicht auf weniger Willkürmaßnahmen und eine bessere Versorgung erleichterten Hannah von Bredow schließlich den Abschied von Potsdam und den Umzug nach Berlin-Charlottenburg. Mit dem Tod der Mutter Anfang Oktober 1945 hatten ihre goldenen Jahre der Kindheit und Jugend, mit dem Weggang von Potsdam einen Monat später die Jahre des Umbruchs und der NSDiktatur einen endgültigen Abschluss gefunden. Im britisch besetzten Berlin-Charlottenburg brauchte Hannah von Bredow auch nicht die „unter russischer oder amerikanischer Ägide herausgegebenen deutschen Zeitungen zu lesen, in denen alles in den Schmutz gezogen wird, was jemals in Deutschland vor der Nazizeit anständig und einwandfrei war. Die englischen Zeitungen, d. h. die in der englischen Zone herausgegebenen deutschen Blätter, machen darin eine rühmliche Ausnahme“, schreibt sie zum Jahresende 1945 aus der Ulmenallee 23 in die Schweiz und ergänzt: „Für uns sind die Engländer einfach rührend, ebenso die Holländer, und Sie werden sicher verstehen, was für eine Wohltat es ist, nach den grauenhaften Monaten in der russischen Zone, die nur eine Fortsetzung der Nazizeit mit Spracherschwerung darstellten, unter normalen Menschen zu leben.“ Hannah von Bredows vier jüngere Töchter stellten sich schnell auf die neue Umgebung in Berlin ein. Noch in Potsdam hatten sie sich mit einem britischen Major angefreundet, der sie zu Bootstouren auf dem Wannsee einlud. Auch erwähnt Hannah kurz nach dem Umzug im Tagebuch, dass ihre 25-jährige Tochter Diana einen 46-jährigen englischen Witwer um Bedenkzeit bat, als dieser um ihre Hand anhielt. Großzügig ermöglichte Hannah von Bredow den Töchtern nach nur wenigen Wochen in Charlottenburg kleine Vergnügungen und stellt am 17.11.1945 ernüchtert fest: „Bin sehr müde. 12 Engländer und Holländer kamen um 1am und tanzten mit den Mädchen bis 4am. Unmöglich zu schlafen.“ Einen Tag darauf heißt es: „Um 1am kamen vier Holländer und tanzten mit den Mädchen bis 5am. Noch mehr Lärm. Trostlos wegen Kälte. Wenn ich nur in die Schweiz zu den Jungs käme.“ 209

Den letzten Brief ihres 17-jährigen Sohnes Herbert und des 12-jährigen Leopold Bill hatte Hannah von Bredow Mitte März 1945 erhalten und musste bis Mitte Oktober auf die erste weitere Nachricht aus der Schweiz warten. Es drängte sie, die Söhne möglichst bald wiederzusehen, auch wenn sie beide bei Theodora von der MühllBurckhardt bzw. deren Mutter Helene Burckhardt-Schwarzmann in besten Händen wusste. Hannah von Bredows Töchter bedurften keiner weiteren Fürsorge mehr: Die älteste, Marguerite Linzbach, hatte einen eigenen Hausstand gegründet und wurde von Hannah nüchtern beurteilt: „Im Grunde ist Marguerite weitaus mehr Arzt als Mutter oder Hausfrau, und deshalb sehe ich den Grund zu einer Nachahmung meiner Produktivität im Familienzuwachs nicht ein – ganz abgesehen von allen sonstigen Gründen, die gegen die Vermehrung deutscher Familien sprechen“, schreibt sie Bruder Otto von Bismarck Mitte 1946. Marguerite begnügte sich schließlich mit fünf Kindern. Ihre Schwestern Diana und Maria entsprachen noch mehr den Vorstellungen der Mutter, indem sie kinderlos blieben. Diana von Bredow erlangte Anfang 1946 eine Stellung als Dolmetscherin für Englisch und Französisch sowie als Privatsekretärin eines englischen Oberstleutnants. Dieser leitete die Versorgung des britischen Sektors in Berlin, sodass Diana die Familie mit manchen dringlich benötigten Versorgungsmitteln unterstützen konnte. Die 26-jährige Alexandra und die 22-jährige Philippa waren am britischen „Forces Studies Centre“ in Berlin-Spandau als Bibliothekarin und als Sekretärin untergekommen, und die 20-jährige Maria besuchte Sprachkurse für Englisch und Französisch. Den ganzen Sommer 1945 träumte Hannah von Bredow davon und tröstete sich damit, „mit meinen vier Töchtern um die Weihnachtszeit in die Schweiz zu kommen, die Buben wiederzusehen, die Töchter nach zwei Wochen heimzuschicken und selber zur Wiedererlangung meiner völlig zerrütteten Gesundheit in ein Sanatorium zu gehen, weil mein Herz den Winter hier schwerlich aushalten wird.“ Hannah litt unter Angina Pectoris, und ihr Gewicht betrug nur noch 48 Kilogramm. Ihr Traum erfüllte sich indessen nicht. Sie musste nicht nur den Winter 1945 in Berlin überstehen, 210

sondern bis August 1946 warten, bevor sie endlich ihre Söhne wiedersehen und sich ihrer Genesung widmen konnte. In den langen Monaten des Wartens schildert Hannah von Bredow ihrem Bruder Otto von Bismarck im März 1946 besorgniserregende Entwicklungen: „In der russischen Zone sind die Zustände immer wüster; neuerdings holen die Russen alle Saatkartoffeln zum ‚Verspriten‘ weg. Im Westen macht sich kein Mensch auch nur einen annähernden Gedanken über die Verhältnisse, die unter russisch- und deutsch-kommunistischer Herrschaft bestehen. In Potsdam werden dauernd Leute verhaftet, auch das Entführen von Menschen aus den anderen Sektoren der Stadt Berlin nimmt kein Ende.“ Drei Monate später, Mitte  Juni 1946, schreibt Hannah von Bredow ihrer Schwägerin Ann Mari sorgenvoll: „Für uns ist die momentan aktuellste Frage das Gerücht über eine eventuelle Räumung Berlins durch die Westalliierten falls die Pariser Konferenz fehlschlägt. Es ist natürlich nichts Authentisches über solch eine Eventualität zu erfahren, die von den Engländern je nach eigener Auffassung entweder als absurd bezeichnet, als denkbar hingestellt oder als unvermeidliche Folge einer misslungenen Einigung in Paris erwartet wird.“ Die Außenministerkonferenz der vier Siegermächte in Paris endete am 12. Juli 1946 ergebnislos. Eine Einigung war nicht zu erzielen, weil US-Außenminister Byrnes auf dem Plan eines föderativen Deutschland bestand, Moskaus Außenminister Molotow dagegen auf einem zentralistischen Einheitsstaat nach sowjetischem Vorbild. Der Fehlschlag der Konferenz führte indessen nicht zu der im Molotow-Plan vorgesehenen Räumung Berlins durch die Westalliierten, wohl aber setzte sich die Bedrohung West-Berlins durch die Sowjets bekanntlich über Jahrzehnte fort. Während Hannah von Bredow die Verhandlungen der Alliierten um die Zukunft Deutschlands mit Sorge verfolgte, entgingen ihr auch die alliierten Prozesse gegen die deutschen Kriegsverbrecher nicht. Am 20.  November 1945 findet sich der Tagebucheintrag: „Beginn des Nürnberger Prozesses. Ley ist tot, Krupp am Sterben, Bormann verschwunden und Kaltenbrunner krank, so dass diese 211

vier nicht vernommen werden können. Die anderen ja. Im Belsenprozess verurteilten sie 14 der 30 Angeklagten zum Tod.“ Im Bergen-Belsen-Prozess, dem ersten Kriegsverbrecher-Prozess auf deutschem Boden, waren 45 SS-Männer, SS-Aufseherinnen und Funktionshäftlinge ab September 1945 vor einem britischen Militärgericht angeklagt und am 17. November 11 Angeklagte zum Tod durch Hängen verurteilt worden. Den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher verfolgte Hannah von Bredow ab Mitte  November 1945 bis zur Verkündung der Urteile am 1. Oktober 1946 laufend am Radio. Zwei der Angeklagten hatten sie im Jahre 1937 bei der Gestapo denunziert. Franz von Papen wurde wegen Verschwörung und Verbrechen gegen den Frieden angeklagt, der Großadmiral Erich Raeder zusätzlich wegen Kriegsverbrechen. Ein Kommentar Hannahs zu Raeders lebenslänglicher Haftstrafe findet sich nicht. Raeder wurde im Jahre 1955 vorzeitig freigelassen, während Franz von Papen am 1. Oktober 1946 vom Nürnberger Tribunal freigesprochen wurde. Das Urteil der Richter über Franz von Papen verblüffte Hannah, und sie kommentiert es am 2. Oktober in einem Brief an ihre Schwägerin Ann Mari: „Findest Du es nicht unfasslich, dass Papen freigesprochen wurde? Der Zeitungsverkäufer sagte mir gestern: ‚Ja, so geht’s, ein Bankier, ein Katholik und ein Propagandist, die kommen natürlich überall durch!‘“ NS-Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und der Chef der NS-Rundfunkpropaganda Hans Fritsch waren ebenfalls freigesprochen worden. Hannah von Bredow reagierte mit Unverständnis auf die Behandlung der NS-Verbrecher, mehr noch machte sie sich aber Sorgen um die Zukunft Deutschlands. Ihr Verbleib selbst unter relativ guten Lebensbedingungen im britischen Teil Berlins schien ihr daher nicht als Dauerlösung geeignet. Zwar hätte sie die Söhne aus der Schweiz zu sich kommen lassen können, doch ihre schwache Gesundheit und ihr Sommerdomizil Chalet l’Espérance im schweizerischen Les Diablerets, in dem die Familie viele Jahre unbeschwerte Ferien verbracht hatte, zogen sie in das ruhige und friedliche Land. Hinzu kam ihre Überzeugung, dass sie nur aus der Schweiz die Reise in die USA zur Freigabe des dort liegenden beschlagnahmten Vermögens, 212

welches ihr und ihren Kindern aus dem Erbe des verstorbenen Ehemanns Leopold von Bredow zustand, unternehmen könnte. Monatelang kämpfte Hannah von Bredow ab Juli 1945 ohne Unterstützung der Brüder um ein Schweizer Visum für sich und ihre unverheirateten Töchter. Mitte Februar 1946 erhielt sie schließlich das heißersehnte Dokument für drei Monate, allerdings nur für sich und nicht für die Töchter. Indessen war das Visum nur eine der Hürden, die Hannah zu nehmen hatte: „Ich bin natürlich noch vor einem ungeheuren Berg von Schwierigkeiten, denn nicht nur brauche ich einen vierfachen alliierten Ein- und Ausreiseschein, sondern vor allen Dingen eine Reisemöglichkeit, die mich sicher durch die russische Zone und an die Schweizer Grenze bringt“, schreibt sie Frau Burckhardt-Schatzmann. Zunächst bereitete die Ausreisegenehmigung Hannah von Bredow am meisten Probleme. Alle Alliierten lehnten sie mit der Begründung ab, Hannah sei während des Krieges in der Schweiz gewesen.1 Auf Hannahs hartnäckiges Insistieren hin gaben die Westalliierten schließlich ihre Einwilligung. Dagegen wollten die Russen das Verlassen ihrer Zone nur mit Hannahs Zusicherung genehmigen, dass sie für sich eine Rückkehr ausschloss. Diese Zusage wollte Hannah indessen nicht geben. Die Schweizer wiederum machten eine Rückkehr, die auf einem interalliierten Schein mit dem Vermerk „Rückreise gesichert“ zu beglaubigen war, zur Voraussetzung, um ihr Visum bestätigen zu können. Die Lage war für Hannah demnach hoffnungslos, besonders nachdem die Unterstützung von George Morton, dem britischen Besatzungsoffizier und Stiefsohn von Hannahs Vetter Bobby Whitehead, mit dessen Rückkehr nach England entfallen war. Auch eine Postkarte ihres Sohns Leopold Bill aus dem Schweizerischen Dorigny von Mitte April 1946 stimmte Hannah von Bredow wenig hoffnungsvoll. Leopold Bill hatte dort Freunde und Verwandte der Familie, u. a. auch seinen Onkel Gottfried, getroffen: „So wie ich allen anderen Menschen, denen es gelingt, die Grenze zu überschreiten, die Freude eines solchen Aufenthaltes gönne, so unendlich verzweifelt bin ich bei dem Gedanken, niemals aus der russischen Zone herauszukommen“, schreibt sie Ottos Frau Ann Mari 213

Ende April. Nach hartnäckigem Einsatz konnte sie am 3. Juli 1946 Frau Burckhardt-Schatzmann schließlich erfreut mitteilen, dass sie alle Papiere zusammen habe und eine Ausreiseerlaubnis bis zum 31. Dezember in den Händen halte. Nunmehr stand Hannah von Bredow vor dem Problem, aus Berlin herauszukommen: „Mit dem Flüchtlingstransport, der heute Hannover verlassen hat, hätte ich fahren können, wenn ich bis Hannover gebracht worden wäre, aber es gab keine Möglichkeit, abgesehen davon, dass solch eine Flüchtlingsreise für ein eher unsicheres Herz sehr angreifend gewesen wäre. Nun versucht man mir eine Erlaubnis zu verschaffen, im alliierten Zug zu fahren, und es scheint Aussicht zu bestehen, dass diese Erlaubnis erteilt wird. Vielleicht bin ich schon in Basel, bevor dieser Brief Sie erreicht, aber es ist eben nicht sicher, daher schreibe ich Ihnen lieber doch noch einmal.“ Der Brief vom 3. Juli 1946 erreichte Frau Burckhardt-Schatzmann einen Monat vor Hannahs Eintreffen in Basel. Zwar brauchte Hannah von Bredow ihr angegriffenes Herz nicht in einem engen Zug der Alliierten nach Hannover zu strapazieren, wohl aber auf der mehr als doppelt so langen Fahrt von Hannover nach Basel. Hannahs gute Beziehungen zu den englischen Besatzungsmilitärs machten es möglich, dass sie den Weg von Berlin nach Hannover im Privatflugzeug von Sir William Strang, dem politischen Berater des Oberbefehlshabers der britischen Streitkräfte, General Sir Bernard Montgomery, schnell hinter sich bringen konnte. Die knapp 700 Kilometer von Hannover nach Basel dagegen bedeuteten für sie eine enorme Belastung: „Ich habe damals eine furchtbare Reise hierher gehabt, im offenen Lastkraftwagen auf einer Kiste sitzend mit 35 Menschen jeden Alters und Geschlechts. Ich kam am 7.8. abends mehr tot als lebendig hier an“, berichtet sie ihrer Schwägerin Ann Mari von Bismarck später aus Basel. Ihre Söhne konnte Hannah von Bredow dann zwei Tage später, nach eindreiviertel  Jahren der Trennung, im graubündischen Canova in die Arme schließen. Der 18-jährige Herbert absolvierte dort ein landwirtschaftliches Praktikum, während der 13-jährige Leopold Bill in Canova seine Ferien verbrachte. Nach den Strapazen der Reise konnte Hannah sich zwei Wochen erholen, bevor sie mit 214

Sohn Leopold Bill zu dessen Schulbeginn nach Basel aufbrach. Mit ihrem jüngsten Sohn lebte sie zunächst für lange  Jahre im Hotel Schweizerhof. Umgehend begann sie den Kampf um ihre eigene finanzielle Absicherung und die zukünftige ihrer Kinder. Ihre desolate Finanzsituation hatte Hannah von Bredow bereits im April 1946 der Schwägerin Ann Mari beschrieben: „Finanziell bin ich absolut blank, da ich nicht einmal meine Witwenpension mehr bekomme, und alles Geld, das in Potsdam auf der Bank war, von den Russen genommen wurde.“ Die Brüder Otto und Albrecht sprangen ein und ermöglichten Hannah vorläufig ein bescheidenes Leben. Ein halbes Jahr später erfährt Schwägerin Ann Mari aus Basel von der guten, aber fehlgeschlagenen Hilfsabsicht einer Tante ihrer in den USA lebenden Stieftochter Friederike: „Sie schickte mir einmal 150 Dollar, die aber nicht ausgezahlt werden dürfen, sondern hier auf einem Sperrkonto liegen. Sie wollte nicht dem Rat eines mir gut bekannten Direktors der Schweizerischen Bankgesellschaft folgen und die Dollar einfach in 20 Dollar-Scheinen, die man hier wechseln darf, in Briefen schicken, wie das alle Leute tun, die hier Bekannte in ähnlicher Lage wie mich haben, und so sitze ich hier ohne einen Pfennig Geld, und weiß nicht, wie ich existieren soll.“ Einnahmen aus Schmuckverkäufen und gelegentlichen englischen Übersetzungsarbeiten trugen zum Lebensunterhalt Hannah von Bredows bei. Auch weiterhin konnte sie sich auf die finanzielle Unterstützung von Bruder Otto von Bismarck verlassen, der Leopold Bill ab 1950 sogar ein Rechtsstudium in Freiburg ermöglichte. Im Wissen um das von ihrem Mann ererbte beachtliche Vermögen in den USA wollte Hannah aber nicht abhängig von Hilfe sein, sondern so schnell wie möglich über eigenes Geld verfügen können. Das Vermögen war bei der Union Trust Company in Washington deponiert. Der Zugriff darauf war Hannah von Bredow aber verwehrt. Noch war das „Gesetz über den Handel mit dem Feind“ (The Trading with the Enemy Act) in Kraft, welches die US-Regierung ein halbes Jahr nach Kriegseintritt in den Ersten Weltkrieg, am 6. Oktober 1917, verabschiedet hatte. Darin wurde neben Handelsbeschränkungen auch die Zwangsverwaltung feindlichen Eigentums festge215

legt.2 Leopold von Bredow zählte als deutscher Kriegsteilnehmer zu den Feinden, sodass sein 1907 mit dem Tod seiner amerikanischen Frau Frances ererbtes Vermögen ab  Oktober 1917 zwangsverwaltet wurde. Mit dem Tod von Leopold Anfang Oktober 1933 erhielt seine Witwe Hannah wohl Erträge aus dem Vermögen, hatte aber keine Verfügungsgewalt darüber. Hannah von Bredows Aussichten, auf das Vermögen in den USA zugreifen zu können, verschlechterten sich nach dem Zweiten Weltkrieg sogar, als die US-Regierung im Jahre 1948 Zusatzbestimmungen zu dem Gesetz erließ. Hiernach wurde den USA ermöglicht, von den Kriegsgegnern Deutschland und Japan auch privates Eigentum zu beschlagnahmen und zu veräußern, um Barmittel zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden zu schaffen, die USBürger auf deutschen und japanischen Kriegsschauplätzen erlitten hatten.3Ganz aussichtslos erschien Hannah von Bredow ihre Lage schließlich, nachdem die deutsche Bundesregierung im Jahre 1954 im Überleitungsvertrag zu den Pariser Verträgen vom 23. Oktober auf jegliche Rechtsansprüche auf das konfiszierte deutsche Eigentum in den USA verzichtet hatte.4 Die von der Bundesregierung gleichzeitig zugesicherte Entschädigung der früheren Eigentümer ließ indessen lang auf sich warten. Dreimal reiste Hannah von Bredow in die USA und versuchte mehr als zehn Jahre, mit Hilfe von amerikanischen Anwälten, Freunden und Senatoren das Vermögen freizubekommen. Ihrem guten Bekannten Dr. Werner Oppikofer schreibt sie im Sommer 1959: „Da Sie immer so freundlich meine fruchtlosen Bemühungen um die Freigabe des amerikanischen Vermögens verfolgt haben, sende ich Ihnen mit der Bitte um Weiterleitung an Billy den heute erhaltenen Brief von Mr. Hanes mit Wilsons endgültig ablehnendem Bescheid. Billy soll bitte 14 Durchschläge machen, denn ich muss diese Hiobspost nicht nur all meinen Kindern, sondern auch meinen Geschwistern senden, da sie alle erfahren müssen, dass es nun aus ist.“ Chisman Hanes war Partner der renommierten Rechtsanwaltskanzlei Hanes & Boone und vertrat Hannahs Interessen auf Erfolgshonorarbasis gegenüber dem „Office of Alien Property Custodian“. Diese Behörde hatte die US-Regierung im Ersten Weltkrieg zur Be216

schlagnahme und Verwaltung feindlichen Vermögens eingesetzt. Präsident F.D. Roosevelt unterstellte sie sich 1942 direkt, und erst im Jahre 1966 löste Präsident L.B. Johnson sie auf. Das „Office“ argumentierte im Fall Hannah von Bredows, dass diese ’während der NS-Zeit die „vollen Rechte einer deutschen Staatsbürgerin“ genossen und dass das NS-Regime sie weder aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgt habe. Somit habe sie keinen Anspruch auf Freigabe ihres Vermögens. Hannah von Bredow konnte weder eine Ausbürgerung oder ein Verfahren vor dem Volksgerichtshof noch eine Gefängnis- oder KZHaft für sich beanspruchen, die aus Sicht der ’amerikanischen Behörde eine Verfolgung eindeutig belegt hätten. Eine Verfolgung aus rassischen Gründen war von vornherein ausgeschlossen, und der Nachweis ihrer politischen und religiösen Verfolgung anhand von Tagebucheintragungen und Briefen reichte dem „Office“ nicht aus. Hannah von Bredow bemühte sich deshalb um Zeugen, wie etwa den französischen Botschafter in Bonn, André François-Poncet, der bis 1938 Hannah als NS-kritische Zeitgenossin in Berlin erlebt hatte. Auch George F. Kennan, der ab 1939 bis zum Kriegseintritt der USA Ende 1941 an der US-Botschaft in Berlin wirkte, konnte Hannahs oppositionelle Gesinnung bestätigen. Ihre Aussagen halfen Hannah aber ebenso wenig wie die Zeugnisse, welche dem „Office“ vorgelegt wurden, um die Verfolgung der Bekennenden Kirche und ihrer Mitglieder im „Dritten Reich“ nachzuweisen. Anfang des Jahres 1956 hatte Hannah von Bredow von dem 1938 in die USA emigrierten und 1949 nach Hamburg zurückgekehrten Bankier Eric M. Warburg erfahren, dass die US-Behörde die Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes gegen die Bekennende Kirche und ihre Mitglieder lediglich als einen Teil der allgemein gegen die Religionsfreiheit gerichteten Politik der Nationalsozialisten bewertete. Sie bat Eric Warburg, der früher verschiedentlich Gast der Bismarcks in Friedrichsruh gewesen war und Hannah nach dem Krieg in Basel besucht hatte, von der Hamburger Evangelisch-Lutherischen Kirche eine Stellungnahme zu dieser Einschätzung zu erwirken.

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Der Hamburger Bischof Volkmar Herntrich widersprach der amerikanischen Ansicht. Er beurteilte sie, wie zuvor schon Warburg, als formalistisch und antwortete Warburg am 2. April 1956: „Die Bekennende Kirche war den nationalsozialistischen Regierungsstellen als die eigentliche kirchliche Widerstandsbewegung gegen das nationalsozialistische Regime bekannt und war deshalb dauernd besonders schweren Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Die vielen Hundert von Verhaftungen innerhalb der Kirche, die durch die Gestapo durchgeführt wurden, richteten sich fast ausschließlich gegen die Mitglieder der Bekennenden Kirche, und zwar oft allein schon aus dem Grunde, dass sie eben Mitglieder der Bekennenden Kirche waren. Redeverbote, Reise- und Aufenthaltsverbote mussten zahlreiche Mitglieder der Bekennenden Kirche über sich ergehen lassen.“5 Bischof Volkmar Herntrich war in der NS-Zeit aktives Mitglied der Bekennenden Kirche und Dozent an der theologischen Hochschule in Bethel gewesen. Er hatte Vorträge gegen die „völkische Religiosität“ gehalten und musste als Folge seiner Einstellung Gestapoverhöre, Verhaftungen und Gefängnisaufenthalte durchstehen. Ebenfalls im April 1956 wandte sich Eivind Josef Berggrav, lutherischer Bischof von Oslo, auf Bitte Hannah von Bredows direkt an das „Office of Alien Property Custodian“.6 Der Bischof war während der nationalsozialistischen Besatzungszeit Norwegens für seine unnachgiebige Haltung bekannt. Er kam unter Hausarrest und in ein KZ, von dem aus er den norwegischen Kirchenkampf gegen die Nationalsozialisten lenkte. In seinem ausführlichen Schreiben kam der Bischof zum Schluss, dass die Mitglieder der Bekennenden Kirche während des Hitler-Regimes einer besonderen Verfolgung durch die Nationalsozialisten und die Gestapo ausgesetzt waren. Bischof Berggraf legte der ’US-Behörde dar, dass sowohl Laien wie Geistliche der Bekennenden Kirche als Staatsfeinde betrachtet wurden. Während „loyale“ Christen, die sich nicht in politische Fragen einmischten, toleriert wurden, seien Mitglieder der Bekennenden Kirche Verfolgung ausgesetzt gewesen. Jede Äußerung, mit der Christen auf die Bedeutung der christlichen Ethik für das öffentliche und politische Leben verwiesen, betrachteten die Nationalsozialisten als Einmischung. Das habe besonders für die Bekennende 218

Kirche gegolten, die göttliches über staatliches Gesetz stellte. Das NS-Regime unterschied deshalb zwischen den loyalen Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche, welche die Freiheit des christlichen Gewissens als Lebensprinzip hatte und dafür verfolgt wurde. Eine Antwort des „Office“ auf das Schreiben ist nicht bekannt. Schließlich versuchte Hannah von Bredow noch, mit einem Schreiben des britischen Bischofs von Chichester das „Office“ von der NS-Gegnerschaft der Bekennenden Kirche zu überzeugen. Der Bischof stand in der NS-Zeit mit widerständigen und später hingerichteten Mitgliedern der Bekennenden Kirche wie z.B. Dietrich Bonhoeffer in engem Kontakt.7 Bischof George K.  A.  Bell zitierte in seinem Schreiben vom 19.  April aus den Aufzeichnungen des US-Geheimdienstchefs Allen Dulles „Germany’s Underground“. Allen Dulles, Bruder des damaligen Außenministers John Forster Dulles, hatte bereits während des Krieges in der Schweiz das „Office of Strategic Services“, den Vorläufer der CIA, geleitet und in Kontakt mit deutschen Widerständlern gestanden. In seinem 1947 erschienenen Buch stellte er die Bekennende Kirche in ihrem hartnäckigen Konflikt mit den in der Reichskirche gleichgeschalteten Deutschen Christen heraus und beschrieb die Verfolgung der „Bekenntnischristen“ durch das NS-Regime. Eine Antwort des „Office“ liegt nicht vor. Bereits im Jahre 1949 hatte Professor Constantin von Dietze als Mitglied des Bruderrats der Potsdamer Bekennenden Kirche seiner früheren Nachbarin Hannah von Bredow bescheinigt, dass sie und ihre Kinder aktive Mitglieder der Heiliggeistgemeinde der Bekennenden Kirche in Potsdam waren. Zuvor, im  Oktober 1948, hatte Dietze Hannahs Washingtoner Anwalt Hans A. Klagsbrunn bereits mitgeteilt, dass er in Hannah von Bredows Hause viele NS-Gegner getroffen habe und dass sie in Berlin und Potsdam als überzeugte und konsequente Gegnerin des Regimes bekannt war.8 Das „Office of Alien Property Custodian“ beurteilte Hannah von Bredows Haltung zum NS-Regime vermutlich nicht viel anders als die Sowjets in den ersten Nachkriegsmonaten, die Hannahs Ausreise in die Schweiz mit der Begründung abgelehnt hatten, dass sie kein „Opfer des Faschismus“ sei. Johanna Solf dagegen, in deren 219

Dissidentenkreis Hannah von Bredow mehrere  Jahre aktiv war, konnte Deutschland bereits Anfang 1946 verlassen, wie Hannah ihrer Schwägerin Ann Mari etwas überrascht mitteilte. Johanna Solf konnte den Besatzungsmächten indessen KZ-Haft sowie eine Anklage vor dem Volksgerichtshof nachweisen. Auch für Hannah von Bredows Tochter Philippa war der Nachweis ihrer Gegnerschaft zum NS-Regime einfacher zu erbringen. Bereits im Januar 1950 erkannte der Sonderhilfsausschuss des Kreises Lemgo sie als politisch Verfolgte des Naziregimes an. Philippa konnte den Entlassungsschein des Gerichtsgefängnisses BerlinCharlottenburg vom 3. April 1945 vorlegen, auf dem ihr der Aufenthalt vom 22.  August 1944 bis zum 31.  März 1945 bescheinigt wurde. Ende April 1953 sprach das Entschädigungsamt Berlin Philippa schließlich für jeden Tag Haft bescheidene fünf DM, für die 221 Tage also 1.105 DM, zu.9 Mit dem ihr übermittelten Negativbescheid des „Office“ vom Sommer 1959 fand Hannah von Bredow sich nicht ab und verfolgte ihre und die Interessen ihrer Kinder in weiteren Prozessen bis ins Jahr 1961. Familiäre Unterstützung durch einen Vetter ihrer Stieftochter Friederike Gräfin von Strachwitz brachte ihr schließlich den Erfolg: Auf Drängen des Vetters, eines Staatssekretärs in der Regierung von John F. Kennedy, erließ der US-Senat ein „Private Bill“, welches einen Vergleich in privaten Vermögensfragen ermöglichte. Im Ergebnis verblieb ein Drittel des Vermögens beim US-Staat, der Hannah von Bredow zustehende Betrag machte nach Abzug der Anwaltskosten aber immer noch einen beachtlichen sechsstelligen Dollarbetrag aus.10 Ihrer Schwester Goedela von Keyserling zahlte Hannah 1963 das von ihr geliehene Geld mit Zinsen zurück, während Bruder Otto von Bismarck die Rückzahlung eines weit höheren Betrags ablehnte. Ab dem  Jahre 1963 konnte Hannah von Bredow somit in der Schweiz ein finanziell sorgenfreies Leben führen, wollte aber ihre bescheidenen Wohnverhältnisse nicht unbedingt verbessern. Ab August 1946 hatte sie mit Sohn Leopold Bill bis zu dessen Abitur im Jahre 1950 in einem 2-Zimmer-Appartement im Baseler Schweizer Hof gelebt, seit 1948 unterbrochen von Aufenthalten vom Früh220

jahr bis in den späten Herbst in ihrem Chalet L’Espérance. Wie zu Potsdamer Zeiten fand die Familie in der ländlichen Idylle wochenlang zusammen. Besonders über das Kommen ihrer Töchter, ohne die Hannah sich in Basel einsam fühlte, freute sie sich. Ihre Übersetzungsarbeiten füllten Hannah nicht aus, sodass sie ausgedehnte Besuchsreisen unternahm und viele Stunden ihrer umfangreichen Korrespondenz widmete. Nach dem Tod der Mutter, mit der sie beinahe täglich Briefe gewechselt hatte, schrieb sie nun öfter an ihre Geschwister und die Töchter. Der Briefaustausch zwischen Basel und Friedrichsruh wurde regelmäßig geführt und galt weniger gesellschaftlichen und politischen als materiellen Fragen. Das Familienoberhaupt Otto Fürst von Bismarck hatte den Wechsel vom „Dritten Reich“ über die Besatzungszeit bis zur Bundesrepublik Deutschland nahezu reibungslos gemeistert. Während er den Wiederaufbau des weitgehend zerstörten Friedrichsruh zügig vorantrieb, bald über eine große Zahl von Mitarbeitern verfügte und auch landwirtschaftliche Betriebe in Übersee erwerben konnte, lebte die Schwester Hannah von der Hand in den Mund und war bis zur Freigabe des US-Vermögens auf die monatlichen Zuwendungen von Bruder Otto angewiesen. Die Abhängigkeit berührte ihren Stolz und bestimmte nicht unwesentlich das Verhältnis zum Bruder. Von Basel aus verfolgte Hannah von Bredow kurz nach Kriegsende, wie die NSDAP-Mitgliedschaft Otto von Bismarcks in den Besatzungsjahren behandelt und beurteilt wurde. So berichtete sie Bruder Albrecht zum  Jahresbeginn 1946 in ihrem umfassenden Brief über die beiden vergangenen Jahre kommentarlos, dass Otto im Juni 1945 für „14 Tage beim Bürgermeister in Lauenburg verhaftet gewesen und ohne Verhör entlassen worden“ war. Die Gründe nennt sie ihrem jüngsten Bruder nicht. Wie Ottos politische Vergangenheit beurteilt wurde, erfuhr sie dagegen zwei Jahre später aus dem Lübecker Spruchkammerverfahren: Die Spruchkammer stufte Otto von Bismarck am 8. Mai 1947 in die Gruppe V als „Entlasteter“ ein. Die frühe NS-Mitgliedschaft Otto Fürst von Bismarcks ab Mai 1933, sein Amt als Ministerialdirigent der Politischen Abteilung im 221

Auswärtigen Amt von 1937 bis 1940 sowie seine anschließende Gesandtenstelle bis August 1943 an der Botschaft in Rom hätten nach der Kontrollratsdirektive der Alliierten Nr. 38 vom 26.6.1946 eigentlich für eine Einstufung in die Gruppe der „Hauptschuldigen“ bzw. „Belasteten“ gesprochen. Hiernach galten „alle früheren deutschen Botschafter und Gesandten seit dem 30.  Januar  1933“ als „Hauptschuldige“. Zu den „Belasteten“ zählten „alle Beamten des Auswärtigen Dienstes (…) im Rang eines Ministerialrats oder in der Stellung eines Attachés.“11 Otto von Bismarck hatte dem aus politisch unbelasteten deutschen Juristen zusammengesetzten Ausschuss mitgeteilt, dass er das Regime nicht unterstützt und ernsthaft an einen Rücktritt von seinem Diplomatenposten gedacht hatte. Verschiedene Zeugenaussagen, die ihm Kontakte zu Widerstandsgruppen bescheinigten, ergänzten seine Aussage. Diese Kontakte beschränkten sich indessen eher auf Gespräche und galten keinen aktiven Umsturzplanungen . Nicht zu klären ist, inwieweit sein Bruder Gottfried ihn in die Verschwörung des 20. Juli 1944 einweihte, zumal Otto auch Wolf Heinrich Graf von Helldorf frequentierte, der ein Mitwirkender am Widerstand war.12 Sechseinhalb Jahrzehnte später konnte das Verwaltungsgericht Magdeburg im Entschädigungsverfahren zur Enteignung des Ritterguts Schönhausen den Erben nicht bescheinigen, dass Otto Fürst von Bismarck gegen das NS-Regime Widerstand geleistet hatte. Darum ging es bei der Entscheidung auch nicht, sondern im Gegenteil darum, ob Otto von Bismarck dem NS-Regime „erheblich Vorschub“ leistete. Dass dies nicht der Fall war begründete das Gericht u.a. damit, dass er keine führende Stellung in der NSDAP bekleidete, nicht der SS angehörte und kein Beschuldigter im „Wilhelm-Straßen-Prozess“ war. Aus der Summe seiner Handlungen sei ein „erhebliches Vorschubleisten“ nicht ableitbar. Er könne allerdings nicht notwendigerweise als „unbelastet“ angesehen werden, wie es der Entnazifizierungsausschuss getan hat, wobei ihm mehr als „Mitläufertum“ nicht angelastet werden könne.13 Kurz nach dem Kriege hatte der Lübecker Spruchkammerausschuss Otto von Bismarcks Wirken im NS-Staat noch anders be222

urteilt: Der Entnazifizierungsausschuss hatte seine Entscheidung im Mai  1947 auch damit begründet, dass es für Otto Fürst von Bismarck einfach gewesen wäre, sich von allen Aktivitäten des Öffentlichen Dienstes fern zu halten. Man sehe nicht ein, „warum sich Bismarck als Träger eines der berühmtesten Namen in Deutschland überhaupt unter dem Nationalsozialismus als Beamter betätigt hat“. Die Spruchkammer sah sein Motiv in einem „gewissen Geltungsdrang“.14 Diese Einschätzung veranlasste den Ausschuss seinerzeit, Otto von Bismarck mit einer Geldstrafe von 100.000 Reichsmark zu belegen, obwohl die Kontrollratsdirektive bestimmte, dass gegen Personen, welche die Kammer als entlastet erklärt hatte, keine Sühnemaßnahmen zu verhängen waren.15 Das hohe Bußgeld trieb Otto von Bismarck indessen nicht in den Ruin, verfügte er doch im Jahr 1945 allein aus der Land- und Forstwirtschaft über Einkünfte in Höhe von 210.000 Reichsmark.16 Als „Entlasteter“ unterlag er andererseits nunmehr weder einer Berufsbeschränkung noch Meldeauflagen. Otto von Bismarck kehrte im Jahre 1948 wieder in die Politik zurück, zuerst auf Kreisebene im Herzogtum Lauenburg, dann ab 1953 für die Christlich-Demokratische Union im Bundestag, dem er bis 1965 angehörte. Er vertrat seine Partei im Auswärtigen Ausschuss. 78-jährig verstarb er am 24. Dezember 1975 in Friedrichsruh. Seine Frau Ann Mari überlebte ihn um 24 Jahre und musste zuvor noch den Tod von zwei der sechs Kinder des Ehepaars miterleben. Hannah von Bredows Bruder Gottfried Graf von BismarckSchönhausen belasteten seine Aktivitäten im NS-Regime und die Kriegsfolgen in den Besatzungsjahren deutlich mehr als den älteren Bruder Otto. Seit seiner Entlassung aus der halbjährigen Gefängnisund KZ-Haft Anfang Februar 1945 war er ein gebrochener Mann. Sein Gut Reinfeld im Pommerschen, welches er in den Jahren 1930 bis 1933 bewirtschaftet hatte, gelangte bald in die Hände der Sowjets und war für ihn damit verloren. Bruder Otto überließ ihm und seiner Familie als bescheidenen Ausgleich das Verwalterhaus des Hofguts Schönau und das Vorwerk Silk, wenige Kilometer von Friedrichsruh entfernt. 223

Zusätzlich zu seinen Gesundheitsproblemen als Folge von Misshandlungen in der Gefängnis- und KZ-Haft sowie seiner selbstkritischen Bewältigung der NS-Vergangenheit bedrückte Gottfried von Bismarck sein zerrüttetes Eheleben. Er schien mit dem Leben abgeschlossen zu haben. Auch bedauerte er Hannah von Bredow gegenüber zutiefst, dass sich ihr geschwisterliches Verhältnis in den  Jahren der NS-Diktatur so verschlechtert hatte. Seine früheren Fehlentscheidungen bereute er und bekannte seiner Schwester Hannah: „Du hattest in allem recht.“ Die Schwester fühlte sich Gottfried von Bismarck seelisch eng verbunden und bedauerte ihn, den sie früh vor seinen NS-Verstrickungen gewarnt hatte, und der danach so sichtbar unter ihnen litt. In ihren Briefen bemühte sie sich, Gottfrieds selbstquälerische Gedanken in andere Bahnen zu lenken. So tauschten sich beide ausführlich über das 1948 erschienene kulturphilosophische Buch „Verlust der Mitte“ des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr aus. Der Autor behauptete darin den Zerfall einer religiös, politisch und kulturell bestimmten gesellschaftlichen Mitte, die sich auch in der modernen Kunst, die er als „krankhaft“ bezeichnete, ausdrücken würde. Angesichts der von den Geschwistern geteilten konservativen Kulturkritik Sedlmayrs und in Kenntnis von dessen NSDAP-Mitgliedschaft seit 1930 sowie seiner Zwangsemeritierung im Jahre 1945 mochten die Verirrungen von Gottfried erträglicher erscheinen. In den ersten Nachkriegsjahren sahen sich die Geschwister Hannah und Gottfried nur wenig. Das lag nicht nur an Gottfrieds Selbst­ isolierung; die Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit, namentlich sein Verfahren vor dem Spruchkammerausschuss in Lübeck Ende März 1949, beanspruchte den Bruder. Der von den Alliierten erlassenen Kontrollratsdirektive vom  Oktober 1946 folgend hätte Gottfried den „Hauptschuldigen“ zugerechnet werden müssen, da er – als ehemaliger Regierungspräsident von Stettin und von Potsdam – „sich in der Regierung des Reiches, eines Landes oder in der Verwaltung der früher besetzten Gebiete in einer führenden Stellung betätigt hat, wie sie nur von führenden Nationalsozialisten oder Förderern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bekleidet werden konnte.“17 Gottfried von Bismarcks frühe NSDAP-Mit224

gliedschaft und seine hohen Stellungen in der SS kamen erschwerend hinzu. Der Lübecker Spruchkammerausschuss stufte Gottfried von Bismarck-Schönhausen indessen als „Minderbelasteten“ in die Bewährungsgruppe III ein. Zu dieser Kategorie zählte der Kontrollratsdirektive entsprechend, wer „nicht zur Gruppe der Hauptschuldigen zählt, jedoch als Belasteter erscheint, ohne aber ein verwerfliches oder brutales Verhalten an den Tag gelegt zu haben und nach seiner Persönlichkeit eine Bewährung erwarten lässt.“17 Die entlastenden Erklärungen des Bruders Otto und von Überlebenden des 20. Juli 1944 führten zu dieser Einstufung Gottfried von Bismarcks, zumal er laut Direktive „zwar als Belasteter erschien, aber eindeutig und klar erkennbar frühzeitig vom Nationalsozialismus und seinen Methoden abgerückt ist.“ Den Begriff „frühzeitig“ legte der Ausschuss angesichts der erst Anfang 1943 nachweisbar erfolgten Distanzierung Gottfrieds vom NS-Regime zweifellos großzügig aus. Dass Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen vom Spruchkammerausschuss trotz seiner Zugehörigkeit zum Freundeskreis Reichsführer SS und den Beförderungen zum SS-Oberführer im Jahre  1943 und zum SS-Brigadeführer Anfang  1944 sowie seiner Tätigkeit im Amt des Regierungspräsidenten von Potsdam bis zur Inhaftierung Ende Juli 1944 nicht der Gruppe der Hauptschuldigen zugeordnet wurde, dürfte mehreren Gründen zuzuschreiben sein. Zunächst sprachen die halbjährige Haft Gottfried von Bismarcks und die noch sichtbaren Folgen von Misshandlungen in Gefängnisund KZ-Haft dafür, dass er in der NS-Zeit nicht nur dem Regime gedient, sondern durch seine nachweisbare Verknüpfung mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 - wenn auch spät -Gegner und schließlich Opfer des Regimes war. Auch hatte er sich nachweislich zugunsten einzelner verfolgter Juden eingesetzt. Hinzu kam, dass in der britischen Zone die alliierte Kontrollratsdirektive von 1946 im Vergleich zur amerikanischen Besatzungszone großzügiger zugunsten der NS-Verdächtigten ausgelegt wurde und damit zu niedrigeren Einstufungen führte. Die Kontrollratsdirektive sah für „Minderbelastete“ eine zweijährige Bewährungszeit vor, innerhalb derer sie weder ein Unterneh225

men leiten noch als Lehrer, Prediger, Redakteur oder Schriftsteller tätig sein konnten. Für den ehemaligen beamteten Regierungspräsidenten Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen folgte daraus die Versetzung in den Ruhestand und eine regelmäßige Meldepflicht am Wohnort. Die Sühnemaßnahmen griffen indessen nur wenige Monate, denn Gottfried von Bismarck verblieb nur noch ein halbes Jahr Lebenszeit: Auf dem Weg zu einem Freund in Westfalen zertrümmerte ein LKW seinen PKW am 14. September 1949 auf regennasser Straße in der Nähe von Verden. Ehefrau Melanie war sofort tot, während Gottfried von Bismarck wenig später an einer Gehirnblutung starb. Das Paar hinterließ drei halbwüchsige Kinder. Anders als mit Bruder Gottfried von Bismarck konnte Hannah von Bredow sich mit ihrem jüngsten Bruder Albrecht von Bismarck noch über viele Jahre brieflich und bei Treffen, meist in Italien, austauschen. Albrecht war nach seiner Desertion aus der Wehrmacht in der Schweiz geblieben und kehrte schon 1945 nach Rom zurück. Kurz danach waren ihm auch Reisen nach New York möglich. Ab Anfang der 1950er Jahre konnte Albrecht von Bismarck nach finanziell dürren Nachkriegsjahren dank der Freundschaft zu der vermögenden Mona Williams, geb. Strader, wieder großzügiger leben. Im November 1954 heiratete er die ein Jahr zuvor verwitwete und zweimal geschiedene, sieben  Jahre ältere mondäne Amerikanerin in New York. Monas verschiedene Immobilien in den USA und auf Capri standen Albrecht nunmehr unbeschränkter zur Verfügung. Jedes Jahr besuchte Hannah von Bredow das Paar für eine Woche auf Capri in der Villa Il Fortino, die später als Villa Bismarck zum italienischen Kulturdenkmal erklärt wurde. Der Tod des 66-jährigen Bruders Albrecht von Bismarck am 16. Oktober 1970 kam für Hannah von Bredow nicht ganz überraschend. Sie konnte sich auf ihn insoweit vorbereiten, als Albrecht schon zehn Jahre zuvor die Diagnose Krebs gestellt worden war. Der Verlust des jüngsten Bruders, der ihr in seiner unkonventionellen Lebensweise und seiner nach anfänglicher Sympathie strikten Abkehr vom Nationalsozialismus sehr nahegestanden hatte, schmerzte Hannah tief. Nur ihm hatte Hannah ungeschminkt ihre Erlebnisse 226

und Empfindungen in Verbindung mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 und den Nachkriegswirren anvertrauen können. Er hatte stets Sympathie und uneingeschränktes Verständnis für das selbstbewusste und widerständige Leben der ältesten Schwester gezeigt. Weit weniger Verständnis für Hannah von Bredows unabhängige und mutige Haltung in den zwölf Jahren des „Dritten Reichs“ hatte dagegen ihre drei Jahre jüngere Schwester Goedela von Keyserling aufgebracht. Obwohl Werke wie Vorträge ihres Mannes Hermann Graf von Keyserling sehr früh den Unwillen der NS-Machthaber erregt und er wie die ganze Familie darunter zu leiden hatten, war Goedela sich mit den Brüdern Otto und Gottfried einig gewesen, dass Hannah sich in ihrer Ablehnung und Kritik des NS-Regimes und seiner Vertreter zurückhalten solle. Das Schicksal ihrer Schwester nach Ende des Krieges ließ Hannah von Bredow aber nicht unberührt. Anfang Januar 1946 berichtete sie ihrem Bruder ­Albrecht, dass die auf 45 kg abgemagerte Schwester und ihr Mann Hermann über Wochen völlig entkräftet und krank in einem bayerischen Sanatorium lagen. Nach der Genesung planten sie im März 1946 in einem in Innsbruck erworbenen Haus die Darmstädter Philosophenschule neu zu eröffnen. Dazu kam es allerdings nicht mehr, denn Hermann Alexander Graf von Keyserling verstarb am 26. April 1946 im Alter von 66 Jahren in Innsbruck. Goedela von Keyserling widmete sich bis zu ihrem Tod am 12.  Juni 1981 im Alter von 85  Jahren zunächst in Innsbruck und dann in Darmstadt ganz dem Werk ihres Mannes. In Nachfolge der Darmstädter „Schule der Weisheit“ seines Vaters begründete Sohn Arnold, assistiert vom älteren Bruder Manfred, in Wien die „Schule des Rades“. Im Studienkreis „Kriterion“ erörterten die Anhänger in Seminaren und philosophischen Studien Astrologie, Yoga und die esoterische „Weisheit des Rades“. Im Gegensatz zu ihrer gelegentlichen Anwesenheit bei den Darmstädter Tagungen ihres Schwagers nahm Hannah an den Veranstaltungen der Neffen in Wien nicht teil. Weniger um philosophische als um historische, politische, lite­ rarische und künstlerische Themen ging es in der Korrespondenz, die Hannah von Bredow auch in Basel mit ihrem Vertrauten Sydney 227

Jessen fortsetzte. Ihre Erlebnisse und Gedanken tauschten beide wie in den 20 Jahren zuvor weiterhin in wöchentlichem Abstand aus. Das Vertrauensverhältnis war allerdings nicht mehr ungetrübt. So konnte Hannah von Bredow nicht vergessen, dass Sydney Jessen im Gestapo-Verhör nach dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 ihre Tochter Philippa indirekt belastet hatte. Auch enttäuschte Sydney Jessen seine Briefpartnerin, als er in den ersten Nachkriegsjahren ohne Hannah von Bredows Wissen einen im Mittelalter angesiedelten Roman mit dem Titel „Die Legende der Imagina“ veröffentlichen wollte. Viele Facetten des Themas hatten die beiden über mehrere Jahre in Briefen und Gesprächen mit der Absicht erörtert und schriftlich festgehalten, darüber gemeinsam ein wissenschaftliches Werk herauszubringen. Hannah hatte der Recherche viel Zeit und Mühen gewidmet, weshalb sie das von Jessen fertiggestellte Roman-Manuskript unangenehm überraschte. Ein Verlag fand sich indessen nicht. Das Verhältnis der beiden war darüber hinaus durch die räumliche Nähe in dem halben Jahr nach der Freilassung Sydney Jessens aus der Haft Ende  April 1945 bis zu Hannah von Bredows Umzug nach Berlin im November abgekühlt. Sydney Jessen hatte wochenlang in Hannahs Potsdamer Haus gelebt. Sie hatte ihn, der wiederholt unter Krankheiten und Depressionen litt, bedauert und umsorgt. Gleichzeitig musste sie aber zur Kenntnis nehmen, dass sich zwischen dem Hausgast Sydney Jessen und ihren Töchtern, die ihm keine Vaterrolle zubilligen wollten, immer wieder Konflikte zeigten. Im Übrigen vermisste Hannah von Bredow jegliche Empathie Sydney Jessens für ihr schmerzvolles Getrenntsein von den drei Söhnen. Der mit einer räumlichen Distanz verbundene Umzug von Potsdam nach Berlin brachte Hannah letztlich auch ein Gefühl der Erleichterung. Mit Überraschung und einigem Unverständnis nahm Hannah von Bredow folglich das Angebot von Sydney Jessen im Jahre 1952 auf, ihr eine Wohnung in seinem neu gebauten Haus im südbadischen Hohentengen am Hochrhein dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Im Vergleich zu ihrer Baseler Hotelunterkunft bot Jessen ihr eine zweifellos geräumigere und auch kostengünstigere Wohn228

möglichkeit in schöner Umgebung, die angesichts ihrer damaligen Finanzprobleme durchaus erwägenswert erschien. Eine erneute physische Nähe zu ihrem Briefpartner konnte Hannah sich indessen nicht vorstellen. Sie wollte ihre Ungebundenheit in der Distanz wahren und lehnte sein Angebot entschieden ab. Gelegentliche gegenseitige Besuche und der regelmäßige Briefwechsel reichten ihr für den vertieften Gedankenaustausch mit dem langjährig Vertrauten, dem sie sich geistig weiterhin eng verbunden fühlte. Sydney Jessen war Anfang Januar 1946 mit britischer Hilfe von Berlin zu Freunden nach Hamburg übergesiedelt.18 Mehrere Jahre kämpfte er nach dem Krieg um die Wiederherstellung seiner Ehrenrechte und für eine finanzielle Wiedergutmachungsregelung. Mitte 1952 war er erfolgreich. Für seine Entlassung aus der Marine im Jahre 1944 und die anschließende mehrmonatige Gefängnishaft wurde er mit einer bescheidenen Rente entschädigt. Für einen rückwirkend gezahlten höheren Geldbetrag baute er sich das Haus in Hohentengen, in dem er fortan lebte. Beruflich war Sydney Jessen nach dem Krieg nicht mehr aktiv. Kurzzeitig hoffte er, eine beratende Funktion in der neuen Bundesmarine übernehmen zu können, wozu es aber nicht kam. Ein wesentlicher Teil seiner Zeit galt dem Bemühen um die Rehabilitation seines Marinekameraden und Freundes Alfred Kranzfelder, welcher am 10. August 1944 in Verbindung mit dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 verurteilt und hingerichtet worden war. Erste Aufzeichnungen über den Widerstand in der Marine sandte Jessen bereits 1946 an die Schriftstellerin Ricarda Huch und den Historiker Hans Rothfels. Auch in den Folgejahren führte er einen umfangreichen Schriftverkehr mit Historikern, Soldaten und alten Crewkameraden zum Widerstand in der Marine und schrieb zahlreiche Abhandlungen zu diesem Thema. Diese blieben indessen unveröffentlicht, ebenso wie diejenigen über Friedensregelungen für Deutschland und zum Thema der „Vereinigten Staaten von Europa.“ Schon in früheren  Jahren hatte Sydney Jessen neben schriftlichen Arbeiten über wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Fragen auch Gedichte verfasst. Diese behandelte er stets vertrau229

lich und ließ sie ausschließlich Hannah von Bredow und seiner Tochter Iris zukommen. Besonders berührten Hannah von Bredow die tiefsinnigen Gedanken, die Sydney Jessen während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur verdichtete. Verständlicherweise erschütterte Hannah von Bredow nach 40 Jahren intensiven Briefaustauschs und vielen Begegnungen die Mitteilung von Sydney Jessens Tod am 27. Juni 1965 tief. Ihr Vertrauter und „Lebensmensch“, besonders in den Jahren des NS-Terrors, war mit 72 Jahren gestorben. Die Nachricht erhielt Hannah in Les Diablerets. Emotional aufgewühlt stürzte sie auf dem Weg in den Ort, brach sich einen Arm und musste der Trauerfeier für den Verstorbenen fernbleiben. Intensiver als zuvor und bis zum eigenen Lebensende pflegte Hannah von Bredow nun den Kontakt zu Dr. Werner Oppikofer. Anfang der 1960er-Jahre hatte sich zwischen ihr und dem Schweizer Juristen, der lange Jahre bei Hoffmann-La Roche in Basel als Vorstandsmitglied tätig war, die Bekanntschaft zur Freundschaft vertieft. Werner Oppikofer war für Hannah von Bredow ein weltläufiger, gebildeter und hochinteressanter Gesprächs- und Briefpartner. Für Oppikofer bedeutete die deutlich ältere Hannah von Bredow eine Ersatzmutter, der er sich anvertrauen und mit der er sich angeregt über viele Themen austauschen konnte. Gemeinsam unternahmen sie Weltreisen und hielten sich jährlich in Oppikofers Wohnung in der Villa Appia in Rom auf. Die enge Verbindung sollte allerdings nur noch wenige Jahre andauern. Wie häufig zuvor besuchte Hannah von Bredow im Mai 1971 ihre Tochter Alexandra, deren Mann, den Mathematikprofessor Friedrich Bachmann, und Enkel Sebastian in Kiel. Von dort reiste sie nach Friedrichsruh, um ihren Bruder Otto von Bismarck, seine Frau Ann Mari und deren Kinder zu besuchen. Unglücklich verfing sie sich im Gästezimmer der Bismarcks mit ihrem Schuhwerk in einem Teppichloch und brach sich rückwärtsfallend an einer scharfen Kommodenkante das Rückgrat. Im nahegelegenen Bergedorfer Unfallkrankenhaus wurde eine Querschnittslähmung diagnostiziert. Nach zwei quälenden Wochen fiel Hannah von Bredow ins Koma und starb am 12. Juni 1971 im Alter von 78 Jahren. 230

Hannah von Bredows Schwester Goedela, ihr Bruder Otto, Schwägerin Ann Mari und alle verbliebenen sieben Kinder fanden sich wenige Tage später zusammen mit ihren Ehepartnern zu den Trauerfeierlichkeiten in Friedrichsruh ein. Der jüngste Sohn Leopold Bill, damals an der Botschaft in Tel Aviv beschäftigt, hatte seine Mutter bereits im Krankenhaus aufgesucht und war von ihr zum Testamentsvollstrecker bestimmt worden. Für den Ablauf der Trauerfeier hatte Hannah von Bredow genaue Anweisungen zu Bibeltext, Liedern und Orgelstücken hinterlassen. Der örtliche Pfarrer hielt eine bewegende Andacht zum aufopferungsvollen, glaubensstarken und mutigen Leben der Verstorbenen. Ein Nachruf auf Hannah von Bredows außergewöhnliches ­Leben fand sich lediglich in einem in St.  Gallen erscheinenden ­Regionalblatt. Hannah von Bredow war und blieb auch nach ihrem Tod eine weitgehend vergessene Frau des Widerstands gegen das nationalsozialistische Unrechtssystem. Ihre letzte Ruhestätte fand Hannah Leopoldine Alice von Bredow. geb. Gräfin von Bismarck-Schönhausen in Friedrichsruh im Park des Bismarck-Mausoleums neben ihrem Bruder Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen. Die Grabinschrift stellt ihr Leben unter die Zuversicht des Apostels Paulus, welche er aus Korinth den Christen in Rom übermittelte: Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zu­künftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm HERRN. (Römer 8, 38–39)

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Epilog Gestützt auf rund 400  unveröffentlichte  Briefe der ältesten Bismarck-Enkelin Hannah von Bredow aus der Zeit von Anfang  der 1930er- bis Mitte der 1940er-Jahre, welche sie an ihren Vertrauten Sydney Jessen, an Familienangehörige und Freunde verfasste, sowie anhand ihrer Tagebucheintragungen aus dieser Periode kann das widerständige Leben einer furchtlosen Frau vor dem Vergessen bewahrt werden. Die subjektiv und zeitnah von Hannah von Bredow geschilderten und gedeuteten Abläufe können zudem einen Einblick in die Haltung der Bismarck-Geschwister und anderer namhafter Personen der Zeit zu den politischen Entwicklungen am Ende der Weimarer Republik und im NS-Regime vermitteln, welche aus heutiger Perspektive historische Bedeutung erlangt haben. Nur selten bietet sich die Möglichkeit, mittels einer dichten schriftlichen Hinterlassenschaft die Umbrüche der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert aus dem Blickwinkel einer historisch und politisch aufgeschlossenen und gebildeten Zeitzeugin mit zum Teil engen Kontakten zu einflussreichen Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik über mehrere Jahrzehnte nachvollziehen zu können. Selten zuvor sind auch die Phasen vom Ausgang der Monarchie bis zum Ende  der NS-Diktatur in Deutschland von einer einzelnen Person sowohl in akribischen Tagebucheintragungen als auch in einem großen Konvolut ausführlicher  Briefe festgehalten worden. Dadurch lässt sich ein mehrdimensionales Bild einer zeitgeschichtlichen Periode aus der Innen- und Nahperspektive trotz des Mankos der Gegenbriefe gewinnen. Die zeitgenössischen Selbstzeugnisse der Hannah von Bredow sind als historische Quellen nicht vergleichbar mit retrospektiven Autobiografien, Erinnerungsberichten oder einem Oral-History-Interview. Briefe und Tagebücher waren für Hannah von Bredow ein Mittel der Selbstverständigung, um sich über sich selbst und das eigene Verhältnis zur Umwelt Rechenschaft abzulegen. Die Dokumente wollte sie nach eigener Aussage ihren direkten Nachkommen hinterlassen, weil sie „informatorisch interessant sein könnten“. Sie waren nicht auf das Interesse der Nachwelt an der Zeit des National232

sozialismus und deren mögliche Leseerwartungen an Erinnerungswürdiges und Erzählenswertes ausgerichtet. Ungeachtet dessen sind die Briefe und Tagebücher auch mit Blick auf die öffentliche Person einer geborenen Hannah Gräfin von Bismarck-Schönhausen sowie auf ihre Plausibilität und mögliche Tarnungen im NS-Überwachungsstaat zu lesen. So teilte Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen schon zu Beginn der NS-Zeit, im Herbst 1933, ihren Argwohn mit, dass ihre  Briefe an ihn von der Gestapo abgefangen würden. Die offizielle Bestätigung ihrer Vermutung erhielt sie im Januar 1938 vom Potsdamer Gestapochef Wilhelm von Wedel. Dieser zitierte Hannahs Bruder Gottfried von Bismarck aus verschiedenen Briefen seiner Schwester an Sydney Jessen, deren Inhalt Wedel als „haarig und politisch geradezu unerhört“ befand. Mit Decknamen für prominente NS-Größen, dem Ersetzen Deutschlands durch Russland ab 1935 und des eigenen Namens und dem des Briefpartners durch Ziffern sowie langen englischund französischsprachigen Briefpassagen wollte die Schreiberin der Gestapo die Lektüre ihrer Briefe zumindest erschweren. Sie wusste aber und nahm bewusst in Kauf, dass der Inhalt ihrer Schreiben entschlüsselt und ihre regimekritische Einstellung damit eindeutig nachgewiesen werden konnte. Indem Hannah von Bredow ihre ungeschminkte Berichterstattung über die NS-Diktatur fortsetzte, zeigte sie Mut und Zivilcourage, welche sie aus Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit gewann. Geburtsnamen und Einfluss der Brüder boten zudem ein gewisses Sicherheitsnetz, das etwaige Folgen ihrer unverfälschten und authentischen schriftlichen Äußerungen abfedern helfen konnte. Hannah von Bredows Selbstzeugnisse geben Auskunft über ihren eigenen Alltag, über ihre Gefühle und Gedanken. Tagebücher und  Briefe dienten ihr als Werkzeug, mit deren Hilfe sie sich die darin niedergeschriebenen Gedanken eigentlich erst erarbeitete.19 Für das ereignisreiche zweite Halbjahr  1944 nutzte sie ihr Tagebuch wahrscheinlich auch gezielt zur Camouflage, zur bewussten Tarnung ihrer Gedanken. Dies erfolgte nicht ohne Grund, sondern im Wissen um die Kontakte ihrer Tochter Philippa, ihres Bruders 233

Gottfried und des Vertrauten Jessen zu einzelnen der Verschwörer des Hitler-Attentats vom 20. Juli. Die auf den 20. Juli folgenden Tagebucheinträge wird Hannah von Bredow bewusst dahingehend vorgenommen haben, sie im Ernstfall zu ihrer Entlastung nutzen zu können. Ihr früh erzwungener Umgang mit der Gestapo schien ihr ausreichende Gewissheit zu bieten, dass diese ihr die Authentizität der Eintragungen abnehmen würde.20 So findet sich im Tagebuch für den 21. Juli 1944 der Eintrag: „Zwei Generäle starben. Stauffenberg, Olbricht und Beck in der Bendlerstraße erschossen. Wir wissen nicht mehr. Tee mit Gottfried und Melanie. Gottfried geht zu einer Loyalitätsbekundung der Potsdamer für Hitler auf dem Bessinplatz. Ich würde auch gern hingehen, aber mein Herz ist zu schwach. Niemand glaubt an ein Attentat auf Hitlers Leben. Aber das Wunder des Überlebens ist es, was zählt.“ Auch der Eintrag vom 26. Juli 1944 kann nicht einer gewandelten Einstellung der Hannah von Bredow zu den maßgeblichen NSGrößen im Jahre 1944 zugeschrieben werden: „Goebbels sprach um 8pm., sehr gut und klar. Ein großes Redetalent.“ Beide Tagebuchnotizen dienten wohl der Camouflage und können nur im Zusammenhang mit allen vorherigen sowie mit den folgenden Tagebucheintragungen und Briefen bewertet werden. Ebenso wenig wie die Tagebücher und Briefe, so waren auch Hannah von Bredows wenige Jahre nach Kriegsende, Anfang des Jahres 1949, geschriebene Überlegungen zur Angst in der NS-Diktatur nicht für die Öffentlichkeit oder als spätere historische Quelle gedacht. Der umfangreiche Aufsatz hatte für sie den Wert einer Selbstaufklärung. Sie verarbeitete die bedrückende nationalsozialistische Zeit in einer befreienden Gesamterkenntnis. Mit ihren Einsichten in die aus Angst hergeleiteten Handlungsweisen, wie z. B. Denunziationen, schuf sie ein Zeitdokument und einen beachtenswerten Ansatz zu einer Totalitarismustheorie. Für die vorliegende Biografie mit ihrer Konzentration auf das widerständige Verhalten der Hannah von Bredow erlaubte die Fülle des Brief- und Tagebuchmaterials keine umfassende Auswertung der einzelnen Schriftstücke. Sie bleibt einer künftigen Gesamtaus234

wertung vorbehalten. Zu verweisen ist insbesondere auf die detaillierten Selbstzeugnisse mit Blick auf markante historische Daten. Dies gilt z. B. für die verschiedenen Briefe an Sydney Jessen zu Gesprächen vor und nach dem Treffen des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg mit Adolf Hitler am 13.  August 1932. Ebenfalls zu nennen ist Hannah von Bredows umfangreicher Brief an Jessen vom 3. Februar 1933, welcher die Sachverhalte, die zur sogenannten Machtergreifung führten, detailliert beschreibt, einordnet und bewertet. Der Brief an Bruder Albrecht von Bismarck vom 1.  September 1944, in welchem die Schreiberin die Umstände während und nach dem Attentatsversuch vom 20.  Juli 1944 aus ihrer Sicht erläutert, belegt, dass Hannah von Bredow schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt über zahlreiche und später bestätigte Informationen verfügte und sie weitgehend richtig einordnete. Diese zeitnahe Aufzeichnung kann in Verbindung mit dem Brief an den Bruder vom 15. Januar 1946 der mit dem Attentatsversuch auf Hitler befassten Widerstandsforschung möglicherweise neue Erkenntnisse vermitteln. Hannah von Bredows ausführliche und kontinuierlich verfasste Tagebücher und  Briefe lassen einige der Beweggründe erkennen, die zu unterschiedlichen Handlungsmustern innerhalb ein und derselben Familie führten: Geschlechtsspezifische Aspekte spielten auf dem Weg der Hannah von Bredow in den Widerstand ebenso eine Rolle wie die Position in der Geschwisterfolge, die Wahl des Ehepartners und die daraus resultierende Geselligkeit. Aus der Distanz besonders bemerkenswert erscheinen die hellsichtigen Prognosen über die für Deutschland ab 1933 zu erwartenden Entwicklungen, welche Hannah von Bredow aus ihrem beharrlich oppositionellen Blickwinkel gewann.21 Als weibliches Subjekt in einer von Männern dominierten öffentlichen Sphäre besaß Hannah von Bredow erhebliches Vertrauen in die eigene Urteilskraft und Handlungswirklichkeit. Ihre Rolle als Frau und alleinerziehende Mutter einer großen Kinderzahl zwang sie zur Bewältigung von vielen Konflikten. So distanzierte sie sich in der NS-Diktatur, nicht ohne Spannungen mit der Familie, von sozialen Konventionen, ebenso wie von den politischen und moralischen 235

Johanna Solf, Gründerin und Gastgeberin des regimekritischen ,Solf-Kreises‘

Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen als Angeklagter vor dem Volksgerichtshof im Oktober 1944 236

Hannah von Bredow im Jahre 1938, porträ­ tiert von Sydney Jessen

Hannah von Bredow in ihrem Schweizer Chalet l‘Espérance im Jahre 1971 237

Mehrheitsnormen und -ansichten. Unnachgiebig verletzte sie Normen und vertrat ihre eigenen Werte von Würde, Souveränität, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie nahm die eigene Angst für sich an und überwand sie, indem sie Risiken richtig einschätzte und bereit war, Nachteile und Misserfolge hinzunehmen. Auch glaubte sie an ihre subjektive Verantwortung, an die Wirksamkeit des eigenen Handelns und generell des Handelns einzelner Subjekte im NS-Regime. In den zwölf Jahren des „Tausendjährigen Reichs“ zeigte Hannah von Bredow in der Bekennenden Kirche, im Solf-Kreis und im Einsatz für Verfolgte viele Formen aktiven Handelns gegen die nationalsozialistische Ideologie und Herrschaftspraxis. Ihre Ansichten und Handlungen waren immer mit einem Risiko für die eigene Person, für ihre Kinder und Vertrauten verbunden. Ihre Haltung zeugt von weit mehr als nur Verweigerung und schweigender Ablehnung; sie ging auch weit über die Verurteilung Hitlers und seiner Gehilfen im geschlossenen Kreis eines gleichgesinnten Milieus hinaus. In der Verteidigung ihrer Normen und Werte lehnte sie sich erkennbar gegen das NS-Regime auf und war bereit, die Konsequenzen ihrer Haltung und Handlungen zu tragen. In Hannah von Bredows Verhalten während der nationalsozialistischen Diktatur zeigen sich somit die zentralen Elemente einer Person des Widerstands.22 In Deutschland nimmt sich die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ verdienstvollerweise der Erinnerung und Würdigung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus an. Die Gedenkstätte ist laut Satzung „ein Ort der Erinnerung, der politischen Bildungsarbeit, des aktiven Lernens, der Dokumentation und der Forschung“, und sie „will zeigen, wie sich einzelne Menschen und Gruppen in den Jahren 1933 bis 1945 gegen die nationalsozialistische Diktatur gewehrt und ihre Handlungsspielräume genutzt haben.“23 Mit Lebensläufen erinnert die Gedenkstätte in gut 600  Biografien an Deutsche aus allen Kreisen des Widerstands. Vergeblich sucht man aber die Namen der aktiven Mitglieder des Solf-Kreises, Lagi Gräfin Ballestrem, geb. Solf, und Albrecht Graf von BernstorffStintenburg, oder den des kämpferischen Christen Constantin von Dietze, die Gefängnis- und KZ-Haft erleiden mussten bzw. ermordet wurden. Dagegen werden Lebensläufe verschiedener Personen mit 238

wenig eindeutigen Widerstandshandlungen aufgeführt.24 Das Leben und Wirken der nicht nur passiven Regimekritikerin Hannah von Bredow verdient es ohne Zweifel, in die Reihe der Biografien der „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“ aufgenommen zu werden.

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Gedanken über das Phänomen Angst Hannah von Bredow, 26. Januar 1949

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as Schreiben war niemals schwerer als heute, denn im Laufe der vergangenen Jahre – bald sind es Jahrzehnte – hat die deutsche Sprache derartige Wandlungen durchgemacht, dass man sich nur weniger Worte bedienen kann, ohne in Zweifel zu geraten, ob sie noch verwendbar sind. Die Sprache ist fügsam und passt sich dem Zeitgeist an. Dass dieser böse von Grund auf war – und noch ist – spürt jedermann, und dennoch wäre es verkehrt, Gedanken, die einem zufliegen, nicht festhalten zu wollen. Es gibt kaum ein Wort, das die Nationalsozialisten nicht für ihre Zwecke umgeschmolzen und dadurch entwertet hätten. Wer mag heute noch von Ehre, Treue, Glauben, Kraft, Freude, Stolz, Macht, Mut und tausend anderen einstmals klaren Begriffen reden? In der schier unendlichen Reihe fehlte jedoch bei Hitlers Anhängern ein Ausdruck: das Wort „Angst“. Sie mieden es, weil sie von diesem Begriff besessen waren. Sie betäubten ihre Unsicherheit und Unruhe mit dem leeren Geklingel falsch angewandter heldisch scheinender Phrasen. Von der Angst, die sie peitschte, sprachen sie nie, denn es musste selbstverständlich scheinen, dass nur die Feinde unter dem Bann dieses Wortes standen. Es ist eigenartig, dass eine Sprache sich stets die Worte schafft, deren sie bedarf. Kein Volk leidet mehr unter der Angst, als das deutsche; dabei ist „Angst“ ein Lehnwort aus dem Lateinischen. Es wäre reizvoll, sich zu überlegen, wann die Angst als deutsches Wort und als deutscher Begriff auftauchte. Andere Sprachen kennen das Wort in diesem Sinne nicht. Das französische „Peur“ und auch die „angoisse“ geben den Begriff der Angst ebenso wenig wieder wie

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das englische „fear“, denn „fear“ ist „Furcht“, ebenso wie „crainte“, und „anxious“ und „anxiety“ haben mit „ängstlich“ nichts zu tun, weil ihr Sinn sich im Englischen gewandelt hat. „Peur“ „Paura“ erinnert an den Schrei, welchen ein erschreckter Mensch ausstößt, wenn er sich einer unerwarteten Gefahr gegenüber sieht, „Angst“ dagegen schildert die zusammen geschnürte, des Schreiens unfähige Kehle, den Zustand der Erstarrung, der Willenlosigkeit, der Atemnot. Einer, der noch schreien kann, vermag des Erschreckens Herr zu werden, aber die „res angusta“, die die Römer nur als Beengung und nicht als „Angst“ im deutsche Sinne empfanden, erzeugte bei den labileren Deutschen den Zustand, den sie mehr fürchten als den Tod, und dem sie nicht entfliehen können, wenn er sie packt. Furcht ist ein europäischer Begriff, und das Fürchten ist der eine Teil der Ehrfurcht. „Fürchte Gott“ heißt nicht, dass man vor Gott Angst haben soll. Auch der Franzose sagt nicht: „ayez peur de Dieu“, sondern „craignez Dieu“. Luther, dessen Sprachgewalt unerreicht ist, kennt den Unterschied und übersetzte für deutsche Gemüter den Satz in seiner ganzen Tiefe, in dem Christus spricht: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost; ich habe die Welt überwunden.“ Nicht Furcht, nein Angst, denn er weiß, dass es nur die Angst zu überwinden gibt, die sich wie ein eiserner Ring um die Glieder legt. Doch nicht genug an dem einen Wort, das diesen Zustand fühlbar schildert und auch klanglich wiedergibt. Ein weiteres wurde hinzugefügt, diesmal ein deutsches, nicht ein entlehntes, das Wort: bang. Wer vermöchte anderen Völkern genau zu erklären, was im Deutschen vorgeht, wenn ihm „angst und bange“ wird? Das Interessante an der „Bangigkeit“ liegt in der Doppeldeutigkeit des Ausdruckes. „Angst“ ist ein in sich klarer Begriff, Bangigkeit hingegen enthält noch das Quentchen Hoffnung, den Gedanken an eine Erlösung aus dem einengenden, lähmenden Zustand der Angst. Wenn ich um einen Menschen bange, gebe ich mich noch nicht der Verzweiflung hin. „Hangen und bangen in schwebender Pein“ lässt sogar die Wandlung zum „himmelhoch Jauchzen“ zu; die Angst muss man besiegen, um sie zu vertreiben, das „Bangen“ kann sich von selber lösen, und doch sind beide Worte seelisch nah verwandt. 241

Im norddeutschen Sprachbereich gibt es ein sehr aufschlussreiches Sprichwort: „Bange machen, gilt nicht.“ Hier tritt die Bangigkeit vor der Angst deutlich hervor. Ein Gegner, dem es gelingt, mir Bangigkeit einzuflößen, hat schon halb gesiegt, denn die Angst folgt der Bangigkeit auf dem Fuß. Darum schützt man sich mit der Feststellung, dass so etwas nicht gilt, nicht den Spielregeln entspricht, weil man die eigene Anfälligkeit kennt. Der Engländer stellt fest: „All is fair in love and war“, dem Deutschen ist dieser Satz besonders unheimlich, und er wirft ihm sein: „Bange machen, gilt nicht“, entgegen. Welch eine Rolle die Angst im Leben des deutschen Volkes spielen kann, ist Außenstehenden selten bewusst. Dafür gibt es zwei Gründe. Außer den Russen, auf die später zurückzukommen sein wird, leiden die europäischen Völker nicht an der typisch deutschen Angst, können sich darum schwer in diesen Zustand hineinversetzen. Ihre Furchtempfindungen sind anderer Art, sie kennen die Panik, für die es in Deutschland keinen adäquaten Ausdruck gibt, aber sie ahnen nur wenig von der Erstarrung, der völligen Lähmung des Geistes und des Körpers, die eine wahre deutsche Angst zu erzeugen vermag. Die physische Furchtlosigkeit, die Gleichgültigkeit dem drohenden Tode gegenüber, die man in Deutschland oft antrifft, lassen den Ausländer zu dem Trugschluss kommen, dass die Deutschen ein angriffslustiges, kampflustiges und daher tapferes Volk sind. Die Fehlschlüsse wussten die Nationalsozialisten gut auszunutzen, weil sie im Schutze solcher Deutungen nicht nur ihre eigene Angst verbergen, sondern das von ihnen geführte Volk als Blitzableiter ihrer eigenen Angstgefühle benutzen konnten. Primitive Menschen – und die Nationalsozialisten waren im höchsten Maße primitiv – haben oft eine untrügliche Fähigkeit, die eigene Schwäche dadurch scheinbar los zu werden, dass sie sich auf die komplizierteren Naturen, die sie zu beherrschen wünschen, abreagieren. Einige Erinnerungen an die nun abgeschlossene Zeit der Hitlerherrschaft mögen als Illustration dienen. Ich wüsste keinen der großen oder kleinen „Führer“ zu nennen, die der tiefen „Angst vor der eigenen Courage“ nicht unterworfen gewesen wären, sogar Goebbels, der immerhin in diesem Reich der heimlichen Angst am bewusstesten diese Schwäche zu meistern versuchte, war hilflos, wenn 242

er sich aus dem Bannkreis der Hitlerschen Hypnose entfernte. 1932 waren die Fronten noch nicht völlig abgegrenzt, Nazis und Antinazis verkehrten miteinander, und es fiel manches offene Wort der Verachtung und der Kritik sogar in Anwesenheit der späteren „Gewaltigen“. Wie lebhaft entsinne ich mich der flackernden Blicke, der Unsicherheit, der Unruhe der noch Zaudernden, wenn die Leere und Hohlheit Goebbelsscher Phrasen, die lächerliche Großmannssucht Görings, die merkwürdige Unsicherheit Hitlers belächelt und die Gefahren, die sich noch nicht klar erkennen ließen, außer Acht gelassen wurden. Dann fiel als letzte Verteidigung wohl aus dem Munde eines „Bräunlings“, so nannte man damals die mutigen „Mitläufer“, denen ein gnädiges Urteil zu teil wird, das Wort: „Euch und Euresgleichen wird man bald das Maul stopfen, denn unser Führer wird mit Euch kurzen Prozess machen.“ Je näher das Jahr 1933 heranrückte, desto lärmender wurde der Versuch, die eigene Angst vor dem eingeschlagenen Weg zu betäuben. Man vergesse nicht, wie schlecht es um die Partei Ende 1932 stand, wie überrascht sie war, als die schon verloren geglaubte Sache plötzlich zum Siege wurde. Die erste Reaktion war der Wunsch nach Rache für die unsagbare Angst, die in all diesen kleinen Leuten wie ein lähmendes Gift heimlich gewirkt hatte. Nun galt es, sich vom dem Übel zu befreien und – und da sich das sehr bald als unmöglich erwies – musste der Weg der Verbreitung dieser Seuche beschritten werden. „Ich habe Angst; gut, ich kann sie nicht loswerden, aber ich kann sie ertragen, wenn ich herrsche und spüre, dass der Beherrschte meine Angst nicht kennt, weil er selber von einer noch größeren befallen ist.“ Um dieses Ziel zu erreichen, verbannte man das Zauberwort aus allen Reden, allen Schriften, und stempelte es zum „größten Schimpfwort aller Zeiten.“ Im Allgemeinen gilt der Satz, dass nur die Dinge fixiert werden, die man ausspricht. So paradox es klingen mag, trifft dieser Satz auch für das Wort „Angst“ zu. Hätte man ehrlich gesagt, „ich will Euch Angst und Bange machen“, so wäre der Plan als solcher erkannt worden, und der Erfolg wäre ein anderer gewesen. Da man es aber nicht aussprach, da man die Angst nur nährte und förderte, ohne sie jemals zu nennen, blieb 243

sie die einzige Geheimwaffe dieser tollen und für die meisten Menschen unbegreiflichen Zeit. Es wäre hier einzuschalten, dass andere Völker unter gleichen Umständen möglicherweise ähnlich reagiert hätten, dass die Immunität vor Ansteckung nirgends bestände, dass es deshalb abwegig sei, die Angst als spezifisch deutsche Schwäche hinzustellen. In Amerika erschien in den 30er Jahren ein viel zu wenig beachtetes Buch, das den Titel „It can’t happen here“ trug, und das in fesselnder Form das Gegenteil dieses Titels bewies.1 It could and might happen here or anywhere else, hieß das Leitmotiv des Buches, und es wurde darin eine imaginäre „Machtergreifung“ durch eine kleine Clique verwegener und machthungriger Gesellen in Amerika dargestellt. Darauf kann man nur erwidern: „it could, but it did not“, ohne dabei die Eventualität solcher Ereignisse a priori verneinen zu wollen. Es ist besser, sich an Tatsachen zu halten, denn sie erleichtern das Verständnis der jüngsten Vergangenheit und machen einen für zukünftige Gefahren hellsichtiger. Die allgemein große Angst war nicht plötzlich da, sie wurde nicht, um sich dem Nazijargon zu bedienen, „schlagartig erzeugt“, sie wurde in allmählich sich steigernden Dosen dem Volkskörper injiziert, und diese Methode führte zu einem Erfolg, der die Nazis zwar nicht von ihrer eigenen Angst befreite, ihnen aber die Erleichterung verschaffte, die ein frühzeitig Betrunkener empfinden mag, wenn er merkt, dass seine Umgebung auch nicht mehr nüchtern ist, und sein Gebaren deshalb kaum mehr auffallend findet. Jeder, der die Angst in sich aufgenommen hatte, kannte nur ein Ziel: er musste sie seinem Bekanntenkreis aufzwingen, und wie das geschah, ist postpostum oft kaum fasslich. Als die ersten Verhaftungen bekannt wurden (man vergesse nicht, dass bis zum Ausbruch des Krieges nur deutsche Staatsbürger, zu denen ich selbstverständlich die Juden rechne, von diesem Schicksal betroffen wurden), herrschten Entrüstung, Staunen, Erregung in durchaus normaler Weise vor. Doch schon konnte es passieren, dass in kleinem Kreise auf die Bemerkung: „Haben Sie gehört, dass X heute Nacht verhaftet wurde?“, die Antwort ertönte: „Sind Sie etwa mit ihm befreundet?“ Sagte der also Interpellierte „Ja“, erfolgte die Bemerkung: „In Ihrem Interesse würde ich darü244

ber schweigen.“ „Wieso schweigen?“ „Nun, es kann leicht passieren, dass die Polizei auch bei Ihnen vorbeikommt.“ „Aber das hieße ja, dass man in diesem Staat seines Lebens nicht mehr sicher ist!“ „Soll das etwa eine Kritik an unserem Führer bedeuten?“ „Jedenfalls an seinen ausführenden Organen; es erscheint mir denkbar, dass er nicht über alles orientiert ist.“ „Eine Kritik an seinen Beamten bedeutet eine Missbilligung der eingeschlagenen Politik. Ich rate Ihnen mehr Zurückhaltung an.“ Ich zitiere nur Gespräche, die ich selber mit angehört habe. Meist endete die Kontroverse an diesem oder einem ähnlichen Punkt, aber der also Interpellierte spürte ein Unbehagen, eine Unsicherheit, er hatte Angst. Gerade das Unklare, das Allgemeine solcher bewusst ausgestreuter „Warnungen“ verfehlte selten seinen Zweck. Die von der Angst Befallenen versuchten sich von der lähmenden Wirkung zu befreien und erzählten anderen, was sie erlebt hatten. Später – die Seuche hatte sich schon ausgebreitet – begann man jene zu meiden, die mit Verhafteten in Beziehung standen, man betonte die eigene Sicherheit und lehnte es ab, Genaueres über den „modus procedendi“ zu hören, man verkapselte sich, und das allgemeine Misstrauen schlich sich ein. Dass eine normale Familie in ruhigen Zeiten unangenehme Entgleisungen ihrer Mitglieder vertuscht, dass die Polizei, das Gefängnis, eine Gerichtsverhandlung dem Durchschnittsbürger eines gesunden Staates höchst unlieb sind, ist allgemein bekannt. Die Nazis wussten selber am besten um derartige Hemmungen, da viele von ihnen aus berechtigten Gründen deutsche Gefängnisse kennengelernt hatten, und dieses Wissen erleichterte ihnen ihr Vorgehen. Frühere Regierungen hatten im Kampf gegen politische Gegner die Öffentlichkeit nicht gescheut, und waren dadurch häufig ins Unrecht gesetzt worden. Die Nazis folgten dem russischen Beispiel und vermieden es von vorherein, Märtyrer zu schaffen. Die Lücken, die ihre Opfer hinterließen, wurden nicht durch Zorn, Trauer, Entrüstung, sondern durch Angst ausgefüllt. Man wollte nicht wissen, was aus den Menschen, die ohne Aufsehen verschwanden, geworden war, man stellte keine Fragen mehr, man nahm es den Leuten, die authentische Nachrichten überbrachten, übel, wenn sie einem ihr 245

Wissen aufzwangen, und man schritt aus Angst zur Denunzierung derjenigen, von denen man annahm, dass sie ohne Weiteres doch über kurz oder lang verhaftet werden würden. All dies geschah so leise, unauffällig und heimlich, dass noch im Jahre 1936 Ausländer, die in Deutschland wohnten oder das Land bereisten, voller Begeisterung über den Aufschwung, die Fröhlichkeit der Jugend, die völlige Freiheit der Diskussionen berichteten. Wie oft war man nicht in der Lage, gebeten zu werden, nicht immer „Gräuelpropaganda“ – mit diesem Wort wurde jeder Versuch einer Klarstellung der tatsächlichen Verhältnisse zu beschreiben, abgetan – zu treiben und endlich die positiven Seiten des Systems zu betonen. Es ist wichtig festzustellen, dass es kaum etwas Schwereres gab, als tatsächliche, vollgültige Beweise für die Dinge, die allerorten sich in größter Heimlichkeit abspielten, zu finden. Ich erinnere mich aus dem Jahr 1937 an einen Fall, der sicher hundertfach oder tausendfach belegt werden könnte. Gegen 9 Uhr abends klingelte es an der Haustür. Ich öffnete. Ein Herr stand vor mir, nannte seinen Namen und bat um ein Glas Wasser, er sei so durstig. Ich kannte ihn nicht, aber da er sich auf gemeinsame Freunde bezog, bat ich ihn einzutreten und brachte ihm einige Erfrischungen, die er heißhungrig verschlang. Er bat um ein Nachtquartier, da er seine Familie nicht „unnötig aufregen“ wolle. Da die Familie unweit von uns wohnte, erschien mir dies ein wenig rätselhaft, und ich fragte ihn unumwunden, ob er auf der Flucht oder aus einem Gefängnis entlassen sei. Er sah mich aus leeren Augen schweigend an, und murmelte dann: „Ich habe nichts gesagt.“ „Nein“ erwiderte ich, „aber die Frage liegt heutzutage doch sehr nah.“ „Wieso nah? Sie werden doch nicht behaupten, dass man heutzutage so ohne Weiteres eingesperrt werden kann?“ Ein weiteres Butterbrot verschwand (es war zwar schon das Wort von dem „Kanonen statt der Butter“ gefallen, aber die Zuteilungen waren in einem kinderreichen Hause groß genug, um etwaige Gäste bewirten zu können), und die Weinflasche war geleert. Ich musste lachen, denn die zitternden Worte hatten mich mit einer leisen Verachtung erfüllt. „Lachen Sie nicht!“ sagte der Herr, „ich war nur etwas erschöpft. Ich vertrage die Hitze schlecht und 246

bin lange gegangen.“ „Sie können hier übernachten, wenn Sie das beruhigt, aber Sie werden begreifen, dass ich meine Frage wiederhole. Wie lange waren Sie gefangen, und was kann ich für Sie tun?“ Wieder dies lastende Schweigen. Das Telefon klingelte. Der Fremde sprang auf. „Lassen Sie mich fort!“ zischte er. Ich bedeutete ihm, er solle schweigen. Er sank in den Lehnstuhl zurück. Seine Hände verkrampften sich. Er flüsterte: „Ich habe nichts gesagt.“ Ich nahm den Hörer ab. Es war ein belangloses Gespräch. Er atmete auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nach Beendigung des Gespräches wandte ich mich zu ihm und sprach in strengem Ton: „Nun aber heraus mit der Sprache. Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir vertrauen.“ Die veränderte Stimmlage wirkte Wunder. „Wenn Sie es durchaus wissen wollen; ich komme aus dem Lager, ich bin aber entlassen, weil ich unschuldig war.“ „Das sind sie alle“, sagte ich trocken, „es werden ja nur Unschuldige verhaftet, also werden Sie wohl einen anderen Weg gefunden haben.“ „Ja“ flüsterte er, „ärztliches Attest und – ich habe unterschrieben.“ „Was denn?“ fragte ich. „Dass ich schweigen würde.“ Nun legte ich los, denn dies war mein erster „Fall“, und ich hatte die Opfer der Angstseuche noch nie in solch einem akuten Stadium getroffen. Ich erklärte ihm, dass er reden müsse, dass es ihm guttun würde, dass es für ihn als ehemaligen Offizier und Kriegsteilnehmer 1914–18 etc. doch geradezu grotesk sei, sich an ein erpresstes Wort zu halten, dass er sicher schon im Kriege in scheußlicheren Lagen gewesen sei und keine Angst gehabt habe, und was dergleichen Dinge auch waren. Er hörte mich an und sagte plötzlich: „Kann ich ein Bad haben?“ „Gewiss“ erwiderte ich, „aber nur, wenn Sie jetzt wie ein vernünftiger Mensch reden.“ „Decken Sie das Telefon zu, man hört alles ab.“ „Unsinn“, sagte ich, und stülpte ein Kissen über das Telefon; „aber nun reden Sie endlich. Warum wurden Sie verhaftet?“ „Weil ich erzählt hatte, dass ich bei der letzten Wahl einen leeren Stimmzettel abgegeben hatte, und weil ich einen Bekannten habe, der verhaftet war.“ „Sie sind also denunziert worden?“ „Ja“. „Von wem?“ „Von dem Lehrer meines Neffen.“ „Kamen Sie dann gleich ins Lager?“ „Nein, erst war ich im Alexanderplatz und dann im Lager.“ „Wo?“ „Bei Berlin.“ „Oranienburg?“ 247

Er wurde kreideweiß. „Ich habe nichts gesagt.“ „Also gut, Oranienburg, und wie lange waren Sie dort?“ „Drei Tage.“ „Das ist ja noch ein Glück. Hat der Lagerarzt Sie krankgeschrieben?“ „Ja, er war eigentlich ganz nett, er – aber das darf ich nicht sagen.“ „Er half also, soweit er konnte? Das ist doch ein Trost in all der Gemeinheit.“ „Bitte nehmen Sie sich in Acht.“ „Warum? Wollen Sie mich denunzieren?“ „O! Gott! Nein, ich! Ach, Sie wissen ja nichts!“ „Da täuschen Sie sich“ log ich, denn mein Wissen war ja nur ein Ahnen, ein Vermuten, und es kam mir stets darauf an, klar zu sehen, weil es mir zwecklos erschien, mit verbundenen Augen über Abgründen Seil tanzen zu wollen. „Ich weiß alles; Sie haben gehungert, man hat Sie erschreckt, Sie sind jetzt kaputt. Morgen wird das alles anders aussehen. Wie waren denn die Verhöre?“ „Ach, ich musste eben stehen.“ „Stehen?“ fragte ich, „wieso betonen Sie das?“ „Ja ich musste stehen.“ „Warum setzten Sie sich nicht auf die Erde, wenn kein Stuhl da war?“ „Das kann man doch als Mann nicht. Ich musste eben stehen.“ Die Logik schien mir nicht zwingend, aber ich wartete geduldig auf die nächsten Worte. „Ja, und da stand ich nun die ganze Nacht und den nächsten Tag, und dann fiel ich um und dann stand ich wieder und dann fiel ich wieder um, und am dritten Tag schrieb mich der Arzt krank, und dann wurde ich entlassen, nachdem ich unterschrieben hatte.“ „So sind Sie also drei Tage und drei Nächte ohne Nahrung gestanden und hingefallen und so weiter?“ „Ja“ seufzte er, „und dann bin ich eben fortgegangen. Mein Geld haben sie mir wiedergegeben, aber meinen Pass haben sie behalten, und nun ist es alles aus. Ach, wenn ich doch geschwiegen hätte.“ Ich holte ihm noch mehr Essen und ließ ihn dann baden und ins Bett gehen. Am nächsten Morgen erschien er spät zum Frühstück, sah wesentlich besser aus, und sagte mir: „Ich bin so froh, dass ich gesprochen habe, aber Sie müssen mir versprechen zu schweigen.“ „Selbstverständlich“, sagte ich, „ich will Ihnen doch nur helfen. Gehen Sie jetzt zu Ihren Verwandten, die sich bestimmt Sorgen um Sie machen.“ „Erst Ihr schriftliches Versprechen.“ „Das ist doch lächerlich“ sagte ich, „warum sind Sie denn als Fremder hergekommen, wenn Sie mir nicht trauen?“ „Ich wusste ja, wie Sie eingestellt sind, und ich musste an meine Familie denken.“ Plötzlich flackerten seine Augen, 248

und er glich einem Irren. „Wenn Sie nicht schweigen, erzähle ich, was Sie mir gesagt haben.“ Ich war nicht erstaunt, denn ich kannte diese Mentalität, aber ich ging über die Sache hinweg und verabschiedete ihn. Die Familie war über sein Erscheinen nicht erfreut, denn nun zog bei ihnen die Angst ein, und seine Schwägerin bat ihn, nach Süddeutschland zu Bekannten zu reisen, was er auch tat. Kritik zu üben, hat hier keinen Zweck, denn es handelt sich bei der Wiedergabe dieses Erlebnisses nur darum, das Lähmende und Entnervende der Angst an einem alltäglichen Beispiel zu beweisen. Dieser Mann war bestimmt nicht feiger als der Durchschnitt; er war nur unfähig, das völlig Unerwartete zu begreifen; er hatte, wie so viele, keine Phantasie, er lebte in den Tag hinein und hielt sich für berechtigt, seine Meinung zu den Ereignissen zu äußern, aber als er sich von aller Welt abgeschnitten den Schergen gegenübersah, brach seine kleine Welt zusammen, und er reagierte wie das Kaninchen vor der Schlange. Er wurde dann, ohne es im Mindesten zu wollen, ein Helfershelfer seiner ärgsten Feinde, ein Bazillenträger der Angst, und als der Krieg 1939 ausbrach, trat er in die Partei ein, weil er es nicht mehr aushielt, „ein Gezeichneter“ zu sein. Diesem Einzelschicksal möchte ich nun ein anderes Beispiel folgen lassen, denn es ist nicht nur interessant, die verschiedenen Wege der Ansteckung zu verfolgen, die schließlich alle zum erstrebten Ziel: der Masseninfektion und Verseuchung durch den Angstbazillus, führten. Der 30.6.34 war ein strahlender Sommertag. Die Ferien hatten begonnen, alles rüstete zur Abreise oder war schon mit Kind und Kegel davongefahren. Die Daheimgebliebenen genossen ihre Gärten, verbrachten die Tage in oder auf den vielen Seen, die Berlin umsäumen, und keinem oberflächlichen Beobachter wäre irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen. Das Interesse für Geschehnisse in der Außenwelt war gering, am meisten sprach man wohl vom Stapellauf des Panzerkreuzers „Gneisenau“, der an diesem herrlichen Sommermorgen in Wilhelmshaven stattfinden sollte und von einigen der größeren Boote klangen Fetzen der markigen Reden, die diesen Anlass umrahmten, über das Wasser. Denn die größeren Boote gehörten meist den Mitgliedern der Marine, und diese hatten selbstverständlich Rundfunkgeräte an Bord. 249

Gegen Mittag hörte man Schüsse. Man achtete wenig darauf, bis sich die Detonationen mehrten. Da es sich meist um Maschinengewehrfeuer handelte, und nur einzelne schwerere Kaliber in der Ferne zu hören waren, hielt man die Sache für Manöver. Es wurde in der Gegend – wegen der Versuchsanstalt für Feuerwaffen in Wannsee – oft geschossen. Nachher erfuhren wir, dass es sich um die Erschießungen in Lichterfelde gehandelt hatte, und dass in Dallgow-Döberitz sogar Kämpfe mit den Soldaten stattgefunden hätten. Letzteres habe ich nie nachprüfen können, aber schon am frühen Nachmittag sahen wir sogenannte „Sankas“ (Sanitäter-Kraftwagen) über die Glienicker Brücke fahren. Ich fragte einige Ausflügler, ob sie etwas wüssten, ob da nicht etwas im Gange sei. Ich begegnete sofort dem leeren Blick, den man später so gut kennen sollte: „Los? Was meinen Sie mit „los“? Manöver gibt’s doch immer im Sommer.“ Kurz darauf klingelte es an meiner Haustür. Zwei undefinierbare Kerle mit Schiebermützen fragten: „Wohnt hier der Major X?“ „Mein Mann ist am 1.10.33 gestorben“, erwiderte ich. „Pech“, sagte der eine, und beide schlürften von dannen. Abends kamen dann die ersten Radionachrichten mit Goebbels’ kolportagehafter Beschreibung des Mordes an Röhm und all den anderen durch. Ich war sehr besorgt, denn meine Kinder sollten gerade an dem Abend in die Schweiz reisen. Ich beabsichtigte ein paar Tage später zu folgen, weil ich unser Haus absperren und alles ordentlich hinterlassen wollte. Ich ließ die Kinder mit der Pflegerin fahren, weil ich auf eine allgemeine Revolte gefasst war und mir sagte, dass die Grenzen möglicherweise gesperrt werden würden. Die Vermutungen erwiesen sich zum Teil als irrig, und die Reise verlief normal; meine Erleichterung war groß, als ich ein Telegramm aus Basel in meinen Händen hielt. Am 1.7. hätte man annehmen sollen, dass eine sichtbare Panik die Bevölkerung im Bann hielt. Welch ein Irrtum. Das Schießen wurde zwar fortgesetzt und es war anzunehmen, dass jeder wusste, worum es ging. Dennoch war das Bild unverändert. Nicht nur strahlte die Sonne vom wolkenlosen Himmel, sondern die Seen waren mit Segeln besät, und das frohe Volk der Ausflügler tummelte sich am Strande. „Das frohe Volk“? Ja, so schien es; kaum merkte man ein 250

Zucken in den Gesichtern, wenn die Schüsse erklangen, aber wehe, wenn man die Taktlosigkeit beging, zu fragen: „Was das wohl zu bedeuten hätte.“ Dann starrte einem die unverhüllte Angst entgegen, und je nach der Herkunft des Gefragten wurde man entweder angebrüllt oder mit blassen Lippen gebeten, doch „an diesem schönen Tag“ nicht „von solch schauerlichen Dingen“ zu reden. Eine unheilbare, aber scheinbar nicht tödliche Krankheit erzeugt eine gewisse Gewöhnung. Der Patient kennt die schmerzenden Stellen und bemüht sich, seine Lage so zu gestalten, dass der gefürchtete Schmerz nicht ausgelöst wird. Man bezeichnet den also erreichten Zustand als „erträglich“ und scheut jede Störung. Wenn der Arzt einen chirurgischen Eingriff empfiehlt, meint man, es sei doch noch nicht so schlimm, man müsse eben abwarten, die Zeit heile so manches. Das deutsche Volk verhielt sich sehr ähnlich. Die Angst breitete sich weiter aus, aber die Gewöhnung an diesen Zustand wuchs ebenfalls. Es gab im Grunde nur eine Wut, nur einen Hass, und diese Empfindungen richteten sich gegen die scheinbar immun Gebliebenen. Als die erschütternden Ereignisse der Besetzung Österreichs, der Eroberung der Tschechoslowakei, der „spontanen“ Judenverfolgung eintraten, wuchs die Spannung oft ins Unerträgliche, die Spannung darüber, ob diese Ereignisse aufklärend, oder reinigend wie ein Gewitter, wirken würden, oder ob die Paralyse den Höhepunkt erreicht hätte, und die Angst somit als eine bis auf Weiteres unheilbare Seuche auf allen lasten würde. Ich habe weder die Absicht, eine Geschichte der furchtbaren 12 Jahre zu schreiben, noch will ich weiter auf die sattsam bekannten äußeren Ereignisse eingehen, denn das würde berufeneren Federn vorausgreifen, und die Vielseitigkeit des Stoffes würde es unmöglich machen, meine Skizze, die sich lediglich um den Begriff der Angst dreht, zu vollenden. Ich weiß, dass es nicht ganz einfach ist, Dinge, die man selber jahrelang genau beobachtet, Zustände, unter denen man gelitten hat, einem Kreis von Menschen, denen die Voraussetzungen womöglich weithergeholt erscheinen, weil sie das alles von außen sahen, aber nicht miterlebten, überzeugend zu schildern. Es ist sogar möglich, dass viele Deutsche mir widersprechen werden, weil sie selber Opfer dieser Angst waren, oder zu denen 251

gehörten, die sie erzeugten und förderten und sie im Inneren selbst empfanden, aber das lässt mich an meiner Einsicht nicht irrewerden. Ich bin selber weder mutig, noch furchtlos, noch in irgendeiner Weise heldenhaft, im Gegenteil – und gerade deshalb kann ich die Lage, in der sich das gesamte deutsche und österreichische Volk bei Ausbruch des Krieges befand, beurteilen. Jetzt war die Angst einerseits auf dem Höhepunkt angelangt, andererseits aber gaben die sich überstürzenden Ereignisse den Menschen ihre scheinbare Freiheit wieder. Siegesrausch und Machttaumel, völlige Abgeschnittenheit vom Auslande, Sorge um die ins Feld Ziehenden, Furcht vor den drohenden Luftangriffen, all diese Empfindungen erzeugten eine schwer zu beschreibende Massenpsychose, die als Erleichterung zu wirken schien. Aber die Angst blieb, und furchtbar ward ihre Gewalt, als die Machthaber von den ersten Zweifeln am Gelingen des wahnsinnigen Kampfes ergriffen wurden. Fast alles, was geschah, lässt sich auf diese dem Fremden unbegreifliche Angst zurückführen; die Gräuel, die Morde, all das Grausen, das auf dem Lande, in dem das Böse scheinbar Sieger war, wie ein Alb lastete, wuchsen aus der gleichen Wurzel. Dass nicht alle Menschen dieser Angst verfielen, versteht sich von selbst. Wäre dies der Fall gewesen, gäbe es keine Zukunft und keine Hoffnung, aber der Druck war so allgemein, dass die wenigen, die immun blieben und dennoch ihrer Freiheit nicht beraubt waren, keine Änderung herbeizuführen vermochten. Die Spannung, unter der sie lebten, setzte ihnen in anderer Weise zu, denn die Ohnmacht zu fühlen, wenn man das Verderben vor Augen sieht, ist zermürbend. Als der Zusammenbruch sich unerbittlich näherte, nahm die Angst noch andere Formen an, denn nun stand vor jenen, die diese Angst zu ihren eigenen Zwecken gefördert hatten, die Frage, wie sie dem Schicksal, das ihnen drohte, entgehen könnten, und sie fanden darauf nur die Antwort, die Angst der anderen, der doch schon fast völlig willenlos Gewordenen, noch zu steigern. Daraus erklären sich die Morde der letzten Tage; wie wäre es sonst begreiflich, dass in Städten, die schon zum Teil von den Siegern besetzt waren, in den letzten Straßenkämpfen noch „Defätisten“ und „Verräter“ als „abschreckende Beispiele“ gehängt wurden? Dann kam das Ende her252

bei und – so unbegreiflich auch dieses erscheinen mag – die Angst schwand dahin. Es ist nicht leicht, den Zustand dieser letzten Tage so zu schildern, dass andere, die den Zusammenbruch von außen beobachteten, sich von der Seelenverfassung der Betroffenen ein Bild machen können. Vergleiche hinken zwar meist, aber dennoch möchte ich das Bild gebrauchen: Das deutsche Volk – einerlei ob es sich um die Kämpfenden, aber nun besiegten Heere oder um die sonstigen Männer und Frauen handelte, glich dem Mann, der auf den Richtplatz geführt ist und gehängt werden soll und [dem] dann die Begnadigung verkündet wird, als der Henker gerade im Begriff ist, seines Amtes zu walten. Fassungslos und aller eigenen Gedanken beraubt, steht der Verurteilte, dessen Leben nun enden sollte, da, und es besteht für ihn noch keinerlei Konnex zur Umwelt. Er weiß nur, dass er leben darf, dass ein neuer Abschnitt beginnt, aber er weiß nicht, was seiner harrt, da er zwar noch lebt, aber diese Tatsache noch nicht zu erfassen im Stande ist. Nicht ganz unähnlich war die Reaktion der Deutschen auf das Kriegsende, und die geradezu unwahrscheinliche Ahnungslosigkeit, die den Siegern als das unbegreiflichste Merkmal dieses rätselhaften Volkes vorkam, lässt sich nur annähernd verstehen, wenn man bedenkt, dass die Angst gewichen war, und der Lebenswille, die Daseinsfreude in diesen Maitagen geradezu unsagbare Formen annahmen. Was bedeuteten die Niederlage, der Zusammenbruch, die „bedingungslose Kapitulation“ gegenüber diesem Weichen der Angst? Das Unglaublichste an diesem Phänomen war die Einstellung der bisherigen „Parteigrößen“, soweit sie nicht geflohen waren, sich verborgen hielten oder durch Selbstmord geendet hatten. Lächelnd versicherten sie einander und den staunenden Landsleuten, die bisher aus Überzeugungsgründen und aus Angst nichts mit ihnen zu tun haben wollten, dass nun „alles gut“ würde, dass die „Feinde“ schon mit sich reden lassen würden u. s. w. Dass in solch einer allgemeinen Psychose sogar die Russen als „Befreier“ empfangen wurden, dass man die Truppen der Westalliierten sogar mit Jubel begrüßte, kann nur den wundern, der nicht in diesem Irrenhaus gelebt hat.

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Meine eigenen Beobachtungen beschränken sich auf die Umgebung von Berlin, aber alles, was ich später von anderen Teilen Deutschlands hörte, klang nicht viel anders. Dabei war gerade Berlin mit seinen Vororten ein besonders schlagender Beweis für die völlige Weltfremdheit, die Ahnungslosigkeit, die in diesen Tagen die meisten Deutschen erfüllten. Als die Russen sich um diese eigenartigen Reaktionen in keiner Weise kümmerten, sondern durchaus mittelalterliche Siegesorgien im zerstörten Berlin feierten, als von allen Seiten berichtet wurde, welchen Leiden, welchen Misshandlungen die Deutschen ausgesetzt waren, hätte man annehmen können, dass dieser Traumzustand einem jähen Umschwung gewichen wäre. Das war aber anfangs nicht der Fall. Die völlige Unberechenbarkeit der Russen ermöglichte eine Verschiedenheit der Erlebnisse, die den Hoffnungen und den irrigen Auffassungen neuen Auftrieb gaben. Jene, die Leib und Leben einbüßten, hatten „eben Pech“ gehabt, im Grunde waren die Russen „gute Kerle“, und es „ließ sich mit ihnen leben.“ So stark war der Wunsch, nie wieder dem Fluch der unbestimmten Angst zu verfallen. Alles wurde verfälscht, nichts schien mehr einer normalen Deutung fähig. Dass die Sieger nicht nur den größten Triumph, der kämpfenden Truppen seit Menschengedenken zu teil geworden war, erlebt hatten, sondern, dass sie auch als Rächer für all das Vergangene gekommen waren, dass ihnen alle Deutschen ausnahmslos als Verbrecher vorkamen, dass „wer Wind sät, Sturm erntet,“ – all diese Tatsachen wurden nicht erfasst. Versuche in gegenteiliger Richtung wurden abgewiesen: „Sie sind doch immer ein Schwarzseher; Hauptsache, dass man die Angst los ist, das Weitere findet sich schon.“ Ja, jetzt fiel zum ersten Mal das Wort: die Angst. Man konnte sie erwähnen, weil man sich von ihr befreit glaubte. Wunder – jedenfalls von Menschen erdacht und herbeigesehnte Wunder, traten nicht ein. Es verlockte einen aber, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn die Westmächte – es hat keinen Zweck diese Hypothese auf die Russen auszudehnen, die ja selber unter dem Druck lähmender Angst leben – diesen Augenblick begriffen und ausgenutzt hätten. Gewiss – wo wäre denn die Rache geblieben, wo die Strafe, wo die Sühne? Da menschliche Rache, Strafe, Sühne niemals das zu er254

reichen vermögen, was sie beabsichtigen, weil sie nur neue Leidenschaften, neue Ungerechtigkeiten erzeugen, ist es vielleicht erlaubt, an das Wort zu erinnern: „Mein ist die Rache, ich will vergelten.“ Und an dieser Vergeltung zu zweifeln, wagt wohl heute kein Mensch mehr. Wenn aber damals die Sieger sich tatsächlich als Befreier hätten feiern lassen, wenn sie die Einsicht gehabt hätten, die man von Menschen nicht verlangen kann, dann wäre es den Deutschen in Wahrheit vorgekommen, als seien sie aus einem bösen Traum erwacht, und sie hätten in ihrer grenzenlosen Freude der Welt neue Rätsel aufgegeben. Dass diese Freude weitaus ehrlicher und tiefer gewesen wäre, als all die hysterischen Massenausbrüche der Hitlerzeit, ist nicht zu bezweifeln, und die Erkenntnis der eigenen Schuld wäre auch eine ganz andere geworden. Denn nur der von Angst befreite Mensch hat den Mut, die eigenen Sünden einzusehen und ehrlich zu bekennen und nur auf diesem Wege gibt es für Gemeinschaften und für einzelne eine wahre Umkehr und Wandlung. Aber weder konnte man solch eine Entwicklung erwarten, noch konnte man sie verlangen; und so nahm das Schicksal seinen Lauf, und sehr bald erhob die Angst wieder ihr Haupt, und zwar in der russischen Zone, denn dort wurden die angstgewohnten Deutschen nun einem neuen Herrscher ausgeliefert, der mit den gleichen Mitteln arbeitete, aber durch Gründlichkeit und Sachkenntnis auf dem Gebiet der Angst und ihrer Reaktionen der früheren Gestapo um ein gutes Stück überlegen war. Auch in den Zeiten der stärksten Vorherrschaft der S.S. und Gestapo sah ich niemals gewöhnliche deutsche Soldaten die Farbe wechseln und in kaltem Schweiß gebadet zur Salzsäule werden, wenn ein Gestapofunktionär vorbeikam. Bei den Russen dagegen trat diese Wirkung automatisch ein. Ich sah eine Menge Soldaten am offenen Feuer Fleisch braten. Sie johlten, sie sangen, sie tranken Wodka, sie nagten halbgare Fleischstücke – sie waren gewiss nicht anziehend, aber sie waren harmlos fröhlich. Plötzlich erstarrten sie. Etliche standen auf, andere fanden hierzu nicht einmal die Kraft. Einige N.K.W.D. Funktionäre waren vorbeigekommen und hatten die Leute betrachtet. Sie taten nichts. Sie standen nur ruhig da. 255

Unwillkürlich musste ich an das Märchen von Dornröschen denken, denn die vorher so lärmenden Soldaten glichen den schlafenden Gestalten des Märchens. Da saß ein Mann und führte eben ein Stück Fleisch zum Munde. Weder wagte er den Arm zu senken, noch in das Fleisch hineinzubeißen. Ein anderer hatte die Wodkaflasche geschwungen. Die Bewegung blieb unterbrochen; ein dritter hatte ein Scheit Holz in der Hand und blieb in gebückter Haltung stehen. Ich hätte das Bild gerne fotografiert, so grotesk wirkte es in der plötzlichen Stille. Alles dauerte nur wenige Sekunden. Dann wandten die Männer von der N.K.W.D. sich ab und setzten ihren Weg fort. Die Soldaten jedoch brauchten eine geraume Weile, um aus ihrer Erstarrung herauszukommen. Während der Potsdamer Konferenz konnte man unzählige Beweise dieser grenzenlosen Angst vor der N.K.W.D. sammeln, denn die kleine, zerstörte Stadt war von Beamten dieser Polizeimacht angefüllt. Dass die deutschen Einwohner trotz all der schlimmen Erlebnisse diese Angst erst später empfanden, dass das von mir erwähnte Gefühl der „Befreiung“ trotz allem noch einige Wochen, vielleicht sogar Monate vorhielt, ist nur durch das Verhalten der Russen zu erklären. Der primitive Mensch zeigt seine Angst in einer für den komplizierteren Erdenbürger unbegreiflichen Offenheit. Diese Offenheit wirkte fast komisch, und deshalb übertrug das russische Angstgefühl sich nicht gleich auf die Deutschen, die ihre eigenen Empfindungen zu verbergen getrachtet hatten, als sie unter der Herrschaft der Nationalsozialisten standen. So nahm man auch die ersten Verhöre nicht ernst, man fand die Methoden der N.K.W.D. infantil, man wiegte sich in dem Glauben, als Besiegter dennoch überlegen zu sein. Kurz war der Traum, und das Erwachen umso furchtbarer. Die Verschleppungen begannen, man spürte die völlige Rechtlosigkeit, und zur alten wieder erstandenen Angst gesellten sich das Grauen und die Furcht. Sehr interessant war es für mich nun zu beobachten, dass die Engländer gegen die Angst nicht gefeit waren, wenn sie mit Russen zusammenkamen. Ich erlebte es mehrmals, dass hohe englische Offiziere, die uns in der russischen Zone besuchten, von russischen Mannschaften der neben unserem Hause 256

liegenden Kommandantur abgeführt und einem Verhör unterzogen wurden. Sie verloren die Haltung, folgten den russischen Soldaten, die sie abführten, ohne Widerrede und waren unsagbar erleichtert, wenn sie nach einigen Stunden entlassen wurden. Sie erklärten mir nachher, dass ein Leben unter derartigen Umständen unmöglich sei. Ich konnte ihnen nur beipflichten, äußerte aber mein Erstaunen über ihre Hilflosigkeit, die sie damit zu begründen suchten, dass ihnen alles so fremd sei und dass man ja nie wisse, was die Russen beabsichtigten. Die Jahre gehen hin, und es wäre vermessen prophezeien zu wollen, was für Umwälzungen und Entwicklungen der europäischen Menschheit noch bevorstehen. Eines aber erscheint mir festzustehen: solange die Angst nicht überwunden wird, ist eine Gesundung nicht möglich. Die Angst, die sich anfänglich auf Deutschland beschränkte, beginnt sich auch in den anderen Ländern auszubreiten. Sie ist nicht so allgemein wie sie es in Deutschland während der Hitlerzeit war, aber sie ist und bleibt die wahre Gefahr und die beste Waffe der Russen, die sie meisterhaft zu handhaben verstehen. Gerade weil sie sich nicht wegdisputieren lässt, weil sie zum großen Teil auf Suggestion beruht, weil sie von Leuten erzeugt wird, die ihr selber unterliegen, ist sie so schwer zu bekämpfen. Und dennoch muss jeder einzelne den Kampf mit ihr aufnehmen, denn die inneren Kräfte des Widerstandes sind nicht erstorben. Sie sind gelähmt, sie schlummern, aber die Erkenntnis beginnt sich zu regen, und jeder kleinste Sieg gegen diese erdrückende Unfreiheit gewinnt steigende Bedeutung. In jedem Volk lebt der Wunsch nach Erlösung von den furchtbaren Mächten, die heute noch den Geist zu knebeln versuchen. Nicht durch Waffen oder Drohungen kann man die Angst vertreiben, sondern durch den Willen zur inneren Freiheit und durch den Glauben an das, was jenseits aller irdischen Angst und Bedrängnis im Herzen der Menschen wohnt und das Leben wieder lebenswert zu machen vermag, denn heute noch, wie vor 2000 Jahren gilt das Wort des Dichters Juvenal: „Summum crede nefas, animam praeferre pudori, et propter vitam vivendi perdere causas!“ („Als größte Sünde gelt‘ es dir, der Ehre vorzuziehn das Leben. Und um das liebe Leben hier des Daseins Ziele aufzugeben!“) 257

258 ∞

Goedela 1896–1981



Otto 1897–1975

Marguerite 1916–1990 Alexandra 1919–1997 Diana 1920–2014 Wolfgang 1921–1945 Philippa 1923–2010 Maria 1926– 2015 Herbert 1928–2017 Leopold-Bill geb. 1933

Manfred 1920– 2008 Arnold 1922–2005

Mari-Ann 1929–1981 Ferdinand geb. 1930 Alexander 1939– 1992 Maximilian geb. 1947 Gunilla geb. 1949 Leopold geb. 1951



Vendeline 1937– 1968 Barbara 1939–1985 Andreas 1941–2013

Edmona Strader 1897–1983

Melanie Gräfin Hoyos 1916–1949



Albrecht 1904–1970

Gottfried 1901–1949

Herbert ∞ Marguerite Gräfin Hoyos Wilhelm ∞ Sybille von Arnim 1849–1904 1871–1945 1852–1901 1864–1945

Otto ∞ Johanna von Puttkamer Malwine ∞ Oskar von Arnim-Kröchlendorff 1827–1908 1815–1898 1824–1894 1813–1903

Leopold von Bredow Hermann Graf von Keyserling Ann Mari Tengbom 1875–1933 1180–1946 1907–1999



Hannah 1893–1971

Marie ∞ Kuno Graf zu Rantzau 1848–1926 1843–1917

Bernhard ∞ Adelheid Fanninger 1810–1893 1824–1844

Ferdinand von Bismarck ∞ Louise Mencken 1771–1845 1789–1839

Die Bismarcks-„Schönhausener“ Linie

Chronik 1893

22. November: Hannah Leopoldine Alice Gräfin von Bismarck-­Schönhausen wird als ältestes von fünf Kindern des Herbert Fürst von Bismarck und der Marguerite Gräfin von Hoyos in Schönhausen geboren 1897 Beginn des Privatunterrichts u. a. in Englisch, Französisch und Latein 1898 30. Juli: Tod von Großvater Otto Fürst von Bismarck 1904 18. September: Tod des Vaters Herbert Fürst von Bismarck 1905 endgültige Übersiedlung nach Friedrichsruh 1911 Gasthörerin an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin 1912 Englandreise 1913 Gesellschaftsleben in Friedrichsruh, Berlin und Wien mit Bällen und Gesellschaftsessen 1914 Schiffstaufe der ‚Bismarck‘ und Kieler Woche als Gast Wilhelms II. 1915 15. März: Heirat in Friedrichsruh mit Leopold von Bredow, geboren am 31. Oktober 1875 Wohnsitz in Brandenburg an der Havel 1916–1928 Geburt der Kinder Marguerite, Alexandra, Diana, Wolfgang, Philippa, ­Maria, ­Herbert 1919 Erwerb der Villa Ysenburg in Potsdam, Wörtherstraße 15 1925 Beginn der Brieffreundschaft mit Sydney Jessen 1928 Freigabe des amerikanischen Erbes von Leopold von Bredow und Kauf des ­Chalets L’Espérance im Schweizer Les Diablerets 1930 halbjährige Weltreise mit Leopold von Bredow 1932 11. Januar: Brüder Fürst Otto von Bismarck und Gottfried Graf von BismarckSchönhausen treffen Hitler 24. März: Essen bei Hermann Göring mit Brüdern Otto und Gottfried 20. April: „Heute ist Hitler 43 Jahre alt – ob er in einem Jahr schon R.P. oder ­Kanzler ist? Eins von beiden sicher.“ 30. Mai: „Brüning ist entlassen, auf die abrupteste Weise. Gott Lob. Hoffentlich nehmen sie jetzt die Nazis ins Kabinett. Noch sind sie billig zu haben!“ 31. Mai: „Papen (Franz) ist Kanzler. Das klingt wie ein Witz, ist aber Wahrheit.“ 1. September: Gottfried von Bismarck-Schönhausen wird Mitglied der NSDAP 6. November: „Reichstagswahl. Enorme Nazimasse. Nun fällt Papen bestimmt und ich wette 10:1, dass man erst Schleicher dran lässt statt Hitler.“ 2. Januar: Geburt von Sohn Leopold-Bill 1933 31. Januar: „Die Welt ist aus den Fugen, und wir können nur abwarten, bis uns das Genick umgedreht wird. Schauerlich.“ 11. März: „Ich habe Gottfried gesagt, dass in 10 Jahren alles vorbeisein und es kein Deutschland mehr geben wird, es sei denn, Hitler wurde vorher umgebracht.“ 29. März: „Nachher Soirée Papen mit all den neuen Männern. Hitler bekam „Wutanfall“ als der Markgraf (Berthold Graf von Baden) ihn wegen Hahn (Leiter von Salem) ansprach.“ 1. Mai: Otto Fürst von Bismarck wird Mitglied der NSDAP 1. Oktober: Tod von Ehemann Leopold von Bredow mit 58 Jahren in Lausanne 1934 3. Juli: „Papen, Au-Wi verhaftet. Kronprinz bewacht. Bose + Tschirschky begingen Selbstmord. Klausener wurde erschossen. Es ist allerhand los.“ 30. Januar: Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen wird Regierungspräsident 1935 in Stettin 15. März: „Vor 20 Jahren Ehe. Die Kinder machen mich ewig glücklich.“ 19.November: Wolfgang (14 J.) geht nicht zur HJ 29. Oktober: Hannah von Bredow bei Ankunft aus Wien in Berlin von zwei 1937 Gestapo­beamten festgenommen und verhört 1938 18. Januar: „Polizist kam und zog Pass ein.“

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31. Dezember: „Ich sage Krieg voraus. Ich will Frieden. Ich erwarte nichts.“ 13. Februar: Hitler zu Besuch in Friedrichsruh 28. August: „Goethes Geb. vor 180 Jahren. Und wir stehen scheint’s am Ende der uns bekannten Welt.“ 1. September: „Hitler kann nicht gestoppt werden. Danzig eingenommen, der Korridor besetzt, Kampfgerüchte. Ich denke, dass dies das Ende ist, denn wie sollte England nicht reagieren?“ 31. Dezember: „Sinnlos, fürs neue Jahr Voraussagen zu machen. Dies ist das absolute Ende einer Ära, die seit langem tot war.“ April: Bruder Otto Fürst von Bismarck wird Gesandter an der deutschen Botschaft in Rom 31. Dezember: „Glaube, dass der Verrückte nächstes Jahr Russland angreift. Dann wird USA in Krieg eintreten.“ 1. Januar: „Dieses Jahr wird kein Frieden sein. Die Deutschen werden Spanien, Ukraine und Portugal besetzen, aber nicht England. Ich bin sicher, dass es Krieg gegen Russland gibt.“ 4. Juni: Wilhelm II stirbt in Doorn. 21. Juni: „Herrlich wolkenlose Nacht. Ich bin sicher, dass der Krieg gegen Russland heute Nacht beginnt.“ 31. Dezember: „If only somebody had the guts to kill the brute, like a mad dog, but all plans are useless as these cowardly Germans prefer anything to taking the matter into their own hands. “ 1. Januar: „Der Krieg endet auch nicht 1942, obwohl er schon von D als verloren gelten kann. Totaler Zusammenbruch Deutschlands wird wahrscheinlich im Winter 1943/44 stattfinden.“ 19. Dezember: „Russen berichten von großen Erfolgen in Stalingrad.“ 28. August: „Unruhe in Kopenhagen. König Boris stirbt. Bin sicher, dass die Nazis ihn vergifteten. Dem glorreichen Regime der Nazis gebe ich nicht mehr als eineinhalb Jahre. Das reicht aber, um alles zu zerstören.“ 28. Oktober: „Merkwürdig wie alle glauben, dass D vor Weihnachten besiegt ist.“ 1. Januar: „Der Krieg endet auch dieses Jahr nicht. Ich bin absolut sicher, auch wenn niemand mir glauben will.“ 27. Januar: Bruder Albrecht Graf von Bismarck desertiert von Wehrmacht 22. März: Mittags großer Luftangriff auf Berlin. Nachmittags Furtwängler-Konzert 21. Juli: „Zwei Generäle starben. Stauffenberg, Olbricht und Beck in der Bendlerstraße erschossen. Wir wissen nicht mehr.“ 29. Juli: „Gottfried wurde in Reinfeld in der Nacht zuvor festgenommen. Gestapo nahm – als sie in meiner Abwesenheit Haussuchung machte – alle Bücher, die auf meinem Nachttisch lagen.“ 1. August: „Sydney Jessen ist beinahe sicher verhaftet, armer Mann, obwohl er sicher nicht Anteil an solchen Dingen hat.“ 22. August: Tochter Philippa verhaftet, da sie mit dem 20. Juli-Verschwörer ­Werner von Haeften liiert war. 20. Oktober: „Heute ist die arme Diana 24 Jahre alt und im Gefängnis. Es ist kaum zu glauben, wie viel Leid diese Nazis verursachen.“ 31. Oktober: Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen wird vom Volksgerichtshof freigesprochen und auf Geheiß Himmlers ins KZ Flossenburg überstellt 11. November: Beginn der Gestapo-Verhöre Hannah von Bredows am Krankenbett 16. November: Diana und Alexandra von Bredow (Sippenhaft) kommen frei 1. Dezember: Ende der Gestapoverhöre und Entlassung aus der Charité 1. Januar: „Das Jahr bedeutet das Ende des verdammten Reichs, das 1000 Jahre dauern sollte. Der Krieg wird noch den Winter durch anhalten. Er wird im Mai oder Juni enden.“ 8. Februar: Gottfried Graf von Bismarck-Schönhausen wird aus KZ Buchenwald entlassen 31. März: Philippa von Bredow kommt aus dem Gefängnis

1946 1949 1965 1970 1971

14. April: Hannah von Bredow erhält Mitteilung, dass Sohn Wolfgang verwundet und vermisst ist 25. April: Sydney Jessen wird aus der Haft entlassen 30. April: Erste Russen betreten Hannah von Bredows Haus in Potsdam 4. Oktober: Tod der Mutter Marguerite von Bismarck in Friedrichsruh 13. November: Umzug nach Berlin-Charlottenburg, Ulmenstraße 14 7. August: Übersiedlung nach Basel und Les Diablerets 26. Januar: Essay über das Phänomen Angst 14. September: Tod von Gottfried von Bismarck-Schönhausen mit 48 Jahren 27. Juni: Tod von Sydney Jessen mit 72 Jahren 16. Oktober: Tod von Albrecht von Bismarck-Schönhausen mit 66 Jahren 12. Juni: Tod von Hannah von Bredow mit 78 Jahren in der Klinik HamburgBergedorf und Beisetzung in Friedrichsruh

Hannah von Bredows Kinder und Enkel Friederike („Didi“), Stieftochter, Jg. 1906, heiratete 1927 Alexander Graf Strachwitz von Großzauche und Camminetz und wanderte nach Verlust des Gutes in Großreichenau, Schlesien 1946 mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern in die USA aus. Ihr 1931 geborener Sohn Christian ist ein bekannter Sammler und Experte amerikanischer Volksmusik. Er erhielt 2016 einen Grammy für sein Lebenswerk. Marguerite, Jg. 1916, Hannahs älteste Tochter, wurde Ärztin und heiratete 1945 Professor Dr. Johannes Linzbach, 1967/68 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie. Für seine Forschungen erhielt er die Carl Ludwig Ehrenmedaille. Ihrer Ehe entstammen fünf Kinder und zahlreiche Enkel. Alexandra, Jg. 1919, heiratete 1949 Prof. Dr. Friedrich Bachmann, international anerkannter Ordinarius für Mathematik an der Universität Kiel. Ihr einziger Sohn, Professor Dr. Sebastian Bachmann, ist seit 1995 Professor für Anatomie an der Charité Berlin, die ihm 2017 den Ehrentitel Senior Professor verlieh. Für seine Forschungen über die menschliche Niere wurde er mit der Jakob Henle Medaille ausgezeichnet. Diana, Jg. 1920, heiratete 1958 Aribert Graf von Saurma Freiherr von und zu der Jeltsch. Das Ehepaar bewirtschaftete zwanzig Jahre eine Farm in Namibia. Die Ehe blieb kinderlos. Wolfgang, Jg. 1921, fiel im März 1945 als Oberleutnant, dreiundzwanzig Jahre alt, bei Bad Hoff in Pommern. Philippa, Jg. 1923, heiratete 1950 Romedio Graf von Thun Hohenstein. Ihr einziges Kind, Dr. Romedio Galeazzo, lebt als Privatgelehrter und Militärhistoriker mit seiner Frau und vier Kindern in Salzau, Holstein. Maria, Jg. 1926, blieb unverheiratet und arbeitete für den Besucherdienst der Bundesregierung. Herbert, Jg. 1928, heiratete 1958 in Lausanne Laure de Charriere de Severy. Er arbeitete für einen Finanzdienstleister. Sein Sohn, der Rechtsanwalt Dr. Philippe von Bredow, heiratete 1999 Isabelle Gräfin von Pourtales. Das Ehepaar hat vier Kinder. Leopold-Bill, Jg. 1933, war Diplomat, Protokollchef des Berliner Senats und geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er ist seit 1969 mit Marie Eleonore Prinzessin zu Schwarzenberg verheiratet. Das Ehepaar hat drei Kinder: Vendeline schreibt seit 18 Jahren als Journalistin für die englische Zeitschrift „Economist“. Mit ihrem Mann, dem Vermögensverwalter Oliver Jory, hat sie einen Sohn.- Leopold ist Geschäftsführender Gesellschafter der deutschen Tochter des Immobilienbewirtschafters Foncia in Frankfurt. Er ist seit 2005 verheiratet mit der Personalberaterin für Finanzdienstleister Anne de Vesian, die 2003 in den Philippinen ein Erziehungsprogramm für unterprivilegierte Kinder gründete. Sie haben drei Kinder. - Felix ist Transaktionswalt bei der Firma EY, Ernst und Young, in Eschborn, seit 2005 verheiratet mit Andrea Kern, Kunstberaterin für die Deutsche Bank. Sie haben zwei Söhne.

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Anmerkungen Prolog 1

Hannah von Bredow schrieb in den Jahren von 1925 bis 1965 etwa 2.000 bis 2.500 Briefe an Sydney Jessen. Die Zahl seiner Antworten liegt wohl darunter. Exzerpiert und digitalisiert liegen 800 nummerierte, dazu rund 60 nicht nummerierte Briefe sowie Postkarten an Sydney Jessen vor. Ein Teil der Briefe ist wahrscheinlich in Berlin verbrannt, als Jessens Wohnung 1943 bombardiert wurde. Nach Jessens Tod übersandte dessen Tochter Iris Bleienheuft die verbliebenen Briefe Hannah von Bredows in mehreren Koffern an diese. Nach deren Tod gingen sie auf den Testamentsvollstrecker Leopold Bill von Bredow über. Die Gegenbriefe Jessens wurden im Jahre 1949 bei der Auflösung der Wohnung Hannah von Bredows in Berlin-Charlottenburg vernichtet. Hannah von Bredows beinahe täglich geschriebene Briefe an ihre Mutter befinden sich im Archiv der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Leopold Bill von Bredow besitzt abgesehen von den Jessen-Briefen eine große Zahl von Briefen seiner Mutter an ihren Bruder Albrecht (­Eddie) sowie ein Konvolut Briefe an Helene Burckhard-Schatzmann. (Leopold Bill von Bredow, 23. Juli 2016).

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Thomas Carlyle, 1795–1881, war ein schottischer Essayist und Historiker, der im viktorianischen Großbritannien sehr einflussreich war. Samson, eine Gestalt des Alten Testaments und Held des israelitischen Stammes Dan, bereitete den Unterdrückern Israels, den Philistern, viele Niederlagen. Solange er sein Haupthaar ungeschoren ließ, war er unbesiegbar. Erst als er dieses Geheimnis seiner Frau Delila verriet, die es an die Philister weitergab, wurde er gefangen genommen, geblendet und geschoren.

Kindheit und Jugend im goldenen Zeitalter 2

Der Seelenverwandte Sydney Jessen 1

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Zit. nach: Thomas Mann: Ausgewählte Werke, Bd. 2, Der Zauberberg (Totentanz), Stuttgart 1970, S. 408. Thomas Manns Beschreibungen gehen auf Eindrücke aus dem Jahr 1912 zurück, als seine Frau Katia für mehrere Monate im Waldsanatorium lebte und er sie besuchte. „Knut“,Sydney Jessen, war damals 20 Jahre alt. Die Scheidungsakten Jessen-Jessen des Familiengerichts Karlsruhe sind verbrannt (Auskunft Michael K. Bahr vom 10.02.2018), so dass die Quelle der Beschuldigung von Devisenvergehen Sydney Jessens nicht belegbar ist. Vgl. Claudia Wüstenhagen: Tagebuch schreiben. Schreib dich frei, in: Die Zeit, Nr. 14/2016, 23. März 2016. Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de Sévigné, (1626–1696) ist bekannt für ihre zahllosen Briefe, in denen sie das Leben im Umfeld des Hofes von Ludwig XIV schildert. Als Briefe von ihr in die Hände des Königs geraten, ist dieser so von ihrem Schreibstil angetan, dass er sie an den Hof holt. Ihre Briefe, u. a. über 700 an ihre Tochter, wurden nach ihrem Tod veröffentlicht und erlangten Berühmtheit.

Femina Politica 1

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Gottfried Reinhold Treviranus (1891–1971), Mitglied der Konservativen Volkspartei, war ein persönlicher Freund Brünings und gehörte dessen Kabinett zweimal als Minister an. Im September 1930 übernahm er für ein Jahr das Amt des Reichskommissars für die Osthilfe. Zum Gespräch Hindenburgs mit Hitler und Papen am 13. August 1932: Hannah von Bredow an Jessen Nr. 171, 172, 173, 174, 175 – Potsdam, den 14., 18., 24., 30. 8. und 6.9. 1932. Am ausführlichsten berichtet Hannah von Bredow am 18.8. Sydney Jessen von einem Gespräch mit Erwin Planck am Vortag. Dieser erzählte ihr von einem Treffen Schleichers mit Hitler am 7.8. und Schleichers Angebot des Kanzleramts, über ein anschließendes Treffen SchleicherPapen-Planck, ein Treffen am 11.8. von Papens mit Hindenburg sowie von Papens, Schleichers und Plancks mit Hindenburg, ein Gespräch von Papens und Plancks mit Röhm am 12.8., ein vierstündiges Gespräch am 13.8. morgens zwischen Papen, Schleicher und Hitler und ein Gespräch Schleichers mit Hindenburg, um diesen für ein Treffen mit Hitler zu gewinnen. Am 13.8. um 16.30 fand dann das Gespräch zwischen Hindenburg, Papen, Hitler, Röhm und Frick statt, das Planck im Auftrag Papens protokollierte. Planck erwähnt aufgrund der Weigerung Hitlers, das Vizekanzleramt in einer Regierung Papen zu übernehmen, Pläne Schleichers für

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eine Militärdiktatur. Im Brief vom 24.8. schildert Hannah von Bredow ein Gespräch mit Constantin von Neurath am 18.8. Darin unterrichtete er sie über ein Treffen Papens mit Hindenburg am 13.8. abends, welches Papen Schleicher und dieser Neurath mitteilte, der es notierte. Hier findet sich auch ein Angebot Papens an Hitler. Am 30.8. berichtete Hannah über ein Treffen vom Vortag zwischen Schleicher, Papen, Hitler und Göring (Plank als „steinerner Gast“), in dem Schleicher Hitler mit der Auflösung des Reichstags drohte. – Hannah von Bredows enger Kontakt zu Planck sowie ihr Zugang zu Neurath und Papen ermöglichten ihr, mehrere Quellen zum Vor- und Ablauf des Treffens Hindenburg-Hitler abzugleichen. Reiner Möckelmann: Franz von Papen. Hitlers ewiger Vasall, Darmstadt, S. 278 f.

Die Nationalsozialisten früh im Blick 1 2 3 4 5 6 7

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Vgl. Stefan Malinowski, in: Die Zeit Nr. 33/2015, 13. August 2015. Vgl. Alexander Hertz, Skizzen über den Totalitarismus, Göttingen 2014. Zit. nach: Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1940, S. 260. Ebd., S. 256. Ebd., S. 270. Ebd., S. 646. 1920 hatte Göring die verheiratete Schwedin Carin Freifrau von Kantzow, geb. Freiin von Fock, kennengelernt. Sie ließ sich scheiden und heiratete Göring am 25. Januar 1923. Sie starb am 17. Oktober 1931 an Tuberkulose. Vgl. Bibliographisches Institut Leipzig: Schlag nach! Wissenswerte Tatsachen aus allen Gebieten. 1. Auflage, Leipzig 1938. Vgl. Malinowski, a.a.O., S. 500. Zit. nach Joseph Goebbels: Tagebücher 1924–1945, hrsg. von R.G. Reuth, München 2003, S. 759l f. Vgl. Möckelmann, a.a.O., S. 255 ff. Quem deus vult perdere = Wen Gott vernichten will, verblendet er zuvor. Hannah von Bredow beginnt ihren mehrseitigen Bericht an Sydney Jessen vom 3. Fe­bruar 1933 mit der Feststellung: „Ich kann Ihnen ein ziemlich lückenloses Gemälde der letzten sechs Tage entwerfen, und zwar auf Grund recht guter Quellen. Die Aufregung aller Beteiligten war gewaltig.“ Demnach beauftragte Hindenburg Franz von Papen, sich am 4. Januar im Hause des Bankiers Schröder in Köln mit Hitler zu treffen. Hannah von Bredow beschreibt darüber hinaus Putschpläne, die Kurt von Schleicher am 27.1. mit dem Ziel einer Militärdiktatur und der Ablösung Hindenburgs durch Kronprinz Wilhelm von Preußen hatte. Gleichzeitig habe Papen Hindenburg mehrfach gedrängt, Hitler zum Kanzler zu ernennen mit dem Argument, dass er nur dann Reichspräsident bleiben könne.

Im Visier der braunen Machthaber 1

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vgl. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Vom 7. April 1933. http://www.documentarchiv.de/ns/beamtenges.html (abgerufen am 25.3. 2017). Vgl. Peter Panter, Die Weltbühne, 12.06.1928, Nr. 24, S. 901. Kurt Tucholsky bezog sich auf das Schmähgedicht des Münchner Grafikers und Bühnenbildners Emil Preetorius (in: E. Preetorius: Weise Woche in Darmstadt, zit. nach Ute Gahlings, Hermann Graf Keyserling. Ein Lebensbild, Darmstadt 1996, S.233 f.): „Als Gottes Atem leiser ging – Schuf er den Grafen Keyserling – Den Baltenspross mehr laut als still – Der was uns nottut weiß und will – Jedem ohne Fehl – Neu fusionierte Leib und Seel – Und so vom Darm aus machet weiss – Mehr oder minder je nach Preis – Das ganz verdummte Jetzt und Hie: – Baronus, Plato und Comagnie!“ Hier und im Folgenden zit. nach Max Domarus: Hitler: Reden und Proklamationen, 1932–1945. Bd. I: Triumph: Erster Halbband, 1932–1934, Wiesbaden: R. Löwit, 1973, S. 450–52. Vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, München 2011, S. 753. Vgl. http://www.rothenburg-unterm-hakenkreuz.de/author/wolf-stegemann (abgerufen am 6.2. 2017) Vgl. Ursula Voß (Hrsg.): Rainer Maria Rilke Lally Horstmann. Eine Begegnung in Val-Mont, Frankfurt 1996. Vgl. Lally Horstmann: Nothing for Tears, London 1953. Vgl. John Skinner in: Independent, 22 November 1996, http://www.independent.co.uk/news/ people/orbituary-baroness-vera-von-der-heydt-1353602.html (abgerufen am7.02.2017). Vgl. Diarmuid Jeffreys, Hell’s Cartel: IG Farben and the Making of Hitler’s War Machine, ­London 2009. Vgl. http://kuenste-im- exil.de/KIE/Content/DE/Sonderausstellungen/Max Beckmann/ Personen/01ZeitVorExil/von-schnitzler-lilly.html. (abgerufen am 8.2.2017).

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Zit. nach Max Beckmann, https://www.berlinischegalerie.de/ausstellungen-berlin/rueckblick/2015/max-beckmann-und-berlin/beckmann-und/beckmann-und-die-frauen/. 8.2.2017. Zit. nach George W. F. Hallgarten, Joachim Radkau: Deutsche Industrie und Politik von Bismarck bis in die Gegenwart. Reinbek: Rowohlt 1981. Vgl. Academic dictionaries and encyclopedias.de: academic.ru/dic.nsf/dewiki/1465298, (abgerufen am 9.2.2017). Zit. nach Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Bd. 2/III, München 2005, S. 112. Vgl. François-Poncet – Ein Zeuge tritt ab, Der Spiegel 10/1955. Vgl. ebd. Zit. nach Michael Salewski: Die Deutschen und die See. Studien zur deutschen Marinegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Jürgen Elvert und Stefan Lippert. Stuttgart: Steiner, 1998, S. 333 (Dok. 8). Vgl. Jungreformatorische Bewegung, in: Online-Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“, 2011, http://de.evangelischer-widerstand. de/html/view.php?type=dokument&id=44 (abgerufen am 15.02.2017). Vgl. Bekennende Kirche, in: reformiert online 2011, www.ekir.de/www/ueber-uns/barmertheologische-erklaerung.php (abgerufen am 16.02.2017). Vgl. Bethke/Finker: Zum antifaschistischen Widerstand in Potsdam und der Provinz Brandenburg 1933–1945, 2004, http://www.dielinke-brandenburg.de/fileadmin/Arbeitsgemeinschaften/ AG_Geschichte/Heft_11_Neu.pdf (abgerufen am 16.02.2017). Zit. nach: Denkschrift der Vorläufigen Kirchenleitung in: Online-Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“, 2011, http://de.evangelischerwiderstand.de/html/view.php?type=dokument&id=91, (abgerufen am 16.02.2017). Vgl. Propagandafeldzug „Entkonfessionalisierung“, in: Online-Ausstellung „Widerstand!? Evangelische Christinnen und Christen im Nationalsozialismus“, 2011, http://de.evangelischerwiderstand.de/html/view.php?type=dokument&id=75 (abgerufen am 17.02.2017). Vgl. Widerstand gegen die Kirchenwahlen 1937, in: ebd., http://de.evangelischer-widerstand. de/html/view.php?type=dokument&id=89 (abgerufen am 17.02.2017). Vgl. Dibelius, Otto: Drei Randbemerkungen zu einem Kapitel Rosenberg / von Otto Dibelius ;Hrsg.: Evang. Hilfsdienst, Berlin 1937, Landeskirchliches Archiv Kassel. Vgl. Der Fall Niemöller, in: ebd., http://de.evangelischer-widerstand.de/html/view. php?type=dokument&id=96 (abgerufen am 18.02.2017). Zit. n. Die Stuttgarter Schulderklärung, Stuttgart 18./19. Oktober 1945, https://archiv.ekd.de/ glauben/grundlagen/stuttgarter_schulderklaerung.html (abgerufen am 19.02.2017). Ferdinand von Bredow war ein deutscher Offizier sowie enger Mitarbeiter und Vertrauter des Kurt von Schleicher. Er wurde wie Schleicher im Zuge des ‚Röhm-Putsches‘ am 30.6.1934 von den Nationalsozialisten ermordet Vgl. Hans Maier (Hg.). Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2014, S. 16ff. Vgl. Ralph Erbar: Solf, Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 549–550 [OnlineVersion], https://www.deutsche-biographie.de/gnd118748777. html#ndbcontent, (abgerufen am 22.2.2017). Vgl. John Wheeler-Bennett: Knaves, Fools and Heroes. Europe Between the Wars, New York, 1974, S. 85 f.: „… Hanna von Bredow (née countess of Bismarck) – a granddaughter of the Iron Chancellor. She had inherited the ‘blood and iron’ of her forebear and while two of her brothers (the third lived in Rome and remained there until his death) embraced National Socialism, though from different motives, she resolutely set her face against such pagan …“ Zit. nach Knut Hansen: Albrecht Graf von Bernstorff. Diplomat und Bankier zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt 1996, S. 247. Vgl. Ingo Köhler: Die „Arisierung“ der Privatbanken im Dritten Reich. Verdrängung, Ausschaltung und die Frage nach Wiedergutmachung, München 2008, S. 397 f. Vgl. Eckart Conze: Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert, Stuttgart-München, 2000, S. 201 f. Vgl. Barbara Hohmann: Elisabeth von Thadden (1890–1944), in: Zukunft braucht Erinnerung, http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/elisabeth-von-thadden (abgerufen am 25.2.2017). Vgl. Otto Kiep: Mein Lebensweg 1886–1944. Aufzeichnungen während der Haft. Mit einem Nachwort von Johannes Tuchel, Berlin 2013, S. 205 f. Zit. nach Johanna Solf, Denkschrift über meine Haft, Genf 1947, http://www.arenberg-info.de/ htm/Denkschrift-J-S.htm (abgerufen am 25.2.2017). Brief von Annie Kraus an Waldemar Gurinan vom Sommer 1947, zit. nach: FAZ Nr.166 vom 20.7.2007, S. 35.

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Vgl. Solf Circle Wikipedia, The tea party and betrayal of the Solf Circle, last edited on 13 January 2018, https://en.wikipedia.org/wiki/Solf_Circle (abgerufen am 15.01.2018)“. Hannah von Bredows Sohn Leopold Bill erfuhr von seiner Mutter ­verschiedentlich über die Treffen bei und mit Hanna Solf. Ihre Teilnahme am Treffen vom 10. September 1943 erwähnte sie nicht (mündliche Auskunft Leopold Bill von Bredow am 16.01.2018). Vgl. Sebastian Panwitz: Otto (von) Mendelssohn Bartholdy (1868–1949). Privatbankier, Adliger, Verfolgter. Grundlagen einer Biographie, in: Hanns G Klein / Christoph Schulte (Hrsg.): Mendelssohn-Studien 16, Hannover 2009, S. 457 ff. Hannah von Bredow: Gedanken über das Phänomen Angst, Basel, 26. Januar 1949, siehe Anhang. Vgl. Stefanie Schüler-Springorum: Masseneinweisungen in Konzentrationslager, in: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Band 1: Die Organisation des Terrors. München 2005, S. 162. Jörg Hillmann. Über die Rolle der Marine im Widerstand: „Über Berthold Schenk Graf von Stauffenberg und Alfred Kranzfelder wurden weitere Marineoffiziere für nachrichtentechnische und allgemeine Aufgaben in den erweiterten Kreis der Widerstandsgruppe angeworben, ohne dass diese allerdings detaillierte Kenntnisse über die Gesamtoperation besaßen: Kapitän zur See Max Kupfer, Chef der Abteilung Nachrichtenübermittlungsdienst, Korvettenkapitän Dr. Sidney Jessen aus der Nachrichtenabteilung in der Reichsmarine, …“ http://www.marine.de/ portal/poc/marine?uri=ci%3Abw.mar.ueberuns.geschichte.reichsundkriegsmarine.widerstand (abgerufen am16.2. 2018). Zit. nach: Die Berliner Tagebücher der Marie „Missie“ Wassiltschikow 1940–1945, München 1996, S. 246. Vgl. Dr. Jessen, Institut für Zeitgeschichte, Archiv 2094/57, ZS-1484-69, www.ifz-muenchen. de/archiv/zs/zs-1484.pdf (abgerufen am 01.03.2017). Im Dokument ZS-1484-19 erklärt Jessen, dass er die Aufzeichnung für Prof. Hans Rothfels, Vorsitzender des Beirats des Instituts für Zeitgeschichte, vorgenommen hat. Vgl. Schreiben Philippa Gräfin v. Thun-Hohenstein an Prof. Dr. Peter Hoffmann, 25. Mai 1970 und Gespräch am 18. September 2002 mit Michael Bahr, Verfasser einer Sydney-JessenBiografie. Beide im Besitz von M. Bahr befindlichen Dokumente bestätigen das Treffen am Sonntag, dem 16. Juli 1944, in Potsdam. Unterschiedlich ist die Erinnerung von Philippa, geb. von Bredow, zur eigenen Teilnahme an dem Gespräch. Dr. Jessen, a.a.O., Dokument ZS-1484-73. Zit. n. Hassell, a.a.O., S. 457 - Auffällig ist, dass Hassell für die Brüder Bismarck in den Tagebüchern keine Decknamen verwendet; anders als z.B. für Wolf Graf von Helldorf (He) oder Hjalmar Schacht (Herzer). Zit. nach Hassell, a.a.O., S. 433. Zit. nach Jochen Thies: Die Bismarcks. Eine deutsche Dynastie, München Zürich 2013, S. 256. Vgl. Gerhard Ritter. Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, München 1964, S.575ff. Die von HvB genannten Olbricht, Planck und von Stauffenberg wurden in Folge des 20. Juli 1944 verurteilt und hingerichtet. Schacht wurde festgenommen, zu Gefängnis- und KZ-Haft verurteilt und im Mai 1945 befreit. Weder in Schachts Buch „Abrechnung mit Hitler“ von 1948 noch in seiner Biographie „76 Jahre meines Lebens“ von 1953 finden sich Hinweise auf GvB. In der quellenreich und auf Erwin Planck konzentrierten Biographie „Die Plancks. Eine Familie zwischen Patriotismus und Widerstand“ (A. v. Pufendorf, Berlin 2008) wird GvB lediglich anlässlich eines Treffens in Friedrichsruh im August 1932 und in Verbindung mit dem 11. Oktober 1944 genannt, dem Tag des Haftbefehls für Plank wie GvB. In den beiden OlbrichtBiografien (Helena P. Page. General Friedrich Olbricht: Ein Mann des 20. Juli, Bonn 1994 und Helena Schrader. Codename Valkyrie: General Friedrich Olbricht and the Plot Against Hitler, 2009) gibt es keine Hinweise auf GvB. In den zahlreichen Stauffenberg-Biografien (u.a. Peter Steinbach. Claus Schenk Graf von Stauffenberg: Wagnis - Tat – Erinnerung, Stuttgart 2015; Antje Vollmer/Lars-Broder Keill, Stauffenbergs Gefährten: Das Schicksal der unbekannten Verschwörer, München 2015; Peter Hoffmann. Claus Schenk Graf von Stauffenberg: die Biographie, München 2007; Werner Bräuninger. Claus von Stauffenberg: Die Genese des Täters aus dem geheimen Deutschland, Wien 2001) wird GvB ausschließlich am Tage des 20. Juli 1944 erwähnt. Als Quelle dient die Aufzeichnung des Mitverschwörers Hans Bernd Gisevius „Bis zum bitteren Ende. Vom 30. Juni 1934 zum 20. Juli 1944“, Berlin 1946/1964). Gisevius war am 20. Juli zusammen mit GvB zunächst im Berliner Polizeipräsidium bei Wolf Heinrich von Helldorf, der GvB laut Gisevius in das Attentat eingeweiht hatte (1964: S.342). Zusammen fuhren sie in den Bendlerblock, den Sitz des Allgemeinen Heeresamtes und des Befehlshabers des Oberkommandos des Heeres. Gisevius und GvB treffen dort auf Ludwig Beck, den früheren Generalstabschef des Heeres, der 1938 im Tschechoslowakei-Konflikt im Falle eines Krieges

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die Absetzung Hitlers plante. Neben Goerdeler wurde er Kopf der Widerstandsbewegung. Laut Gisevius kannte Beck GvB nicht. Es entstand eine Verlegenheitspause, schreibt Gisevius, wegen „der Anwesenheit des für Beck fremden Bismarck. In Gegenwart Fernerstehender spricht man sich ungern über solche heiklen Dinge aus, wie sie uns jetzt gerade auf der Zunge liegen.“ Gisevius bemühte sich um ein 4-Augengespräch mit Beck und schreibt mit Blick auf GvB (S. 374): „Ich bin so unhöflich und mache ihn darauf aufmerksam, dringende Aufgaben erwarteten ihn im Regierungspräsidium Potsdam.“ (1964: S.374). – Im Gegensatz zum Berliner Polizeipräsidenten WvH wurde der Potsdamer Regierungspräsident GvH für die Operation Walküre nicht benötigt. Er gehörte demnach nicht zum Handlungskreis der Verschwörer. Vgl. Bericht Kaltenbrunner an Bormann vom 30.7.1944, in: Spiegelbild einer Verschwörung: Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann, hrsg. von H.-J. Jacobsen, Band 1, S. 100. Mit der Vita des Grafen Wolf-Heinrich von Helldorff befasste sich der britische Historiker Ted Harrison im Jahre 1997 in einer Abhandlung: „Alter Kämpfer“ im Widerstand. Graf Helldorff, die NS-Bewegung und die Opposition gegen Hitler, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 45, 1997, S. 385–423. Im Jahre 2008 veröffentlichte der Chemnitzer Neuhistoriker FrankLothar Kroll ergänzend den Aufsatz „Ein nationalsozialis­tischer Aktivist im Widerstand. Wolf-Heinrich Graf von Helldorff“, in: Der 20. Juli 1944 – Profile, Motive, Desiderate. Hrsg. von St. Schröder und Chr. Studt, Berlin 2008, S. 47–63. Zit. nach Harrison, a.a.O., S. 422. Vgl. Bericht Kaltenbrunner an Bormann vom 17. August 1944, a.a.O., S. 247 f. Vgl. Bericht Kaltenbrunner an Bormann vom 29. November 1944, a.a.O., S. 505. Vgl. Jobst Knigge: Das Dilemma eines Diplomaten: Otto II: von Bismarck in Rom 1940–1943, Berlin 2006, S. 76. Siehe Wassiltschikow, Die Berliner Tagebücher, a.a.O., S. 254 f. Ebd., S. 255. Ebd., S. 250 f. Siehe Franz von Papen: Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 606. Vgl. Ernst und Achim Engelberg: Die Bismarcks. Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute, München 2012, S. 314. Ebd., S. 316 Siehe Jessen, a.a.O., Dokument ZS-1484-72. Vgl. Hassell-Tagebücher, a.a.O., Geleitwort, S. 36. Vgl. Franz von Papen an Nelly Planck, 27. Oktober 1944, Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung, Nachl. 334 (Erwin Planck), Mappe 108, Bl. 15–17. Siehe Papen: Der Wahrheit eine Gasse, a.a.O., S. 607. Zit. nach Hassell-Tagebücher, a.a.O., S. 94. Zit. nach Astrid von Pufendorf: Die Plancks. Eine Familie zwischen Patriotismus und Widerstand, Berlin 2008, S. 459. Zit. nach: Hassell-Tagebücher, a.a.O., S. 153. Ebd., S. 433. Zit. nach Knigge, a.a.O., S. 73. Zit. nach Elke Fröhlich (Hrsg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 10, München 1994, S. 348. Zit. nach Knigge, a.a.O., S. 76 f. Vgl. H.B. Gisevius. Zum bitteren Ende. Vom 30. Juni 1934 zum 30. Juli 1944, Berlin 1964 (keine Erwähnung OvBs) R.M. Graf von Thun-Hohenstein. Der Verschwörer. General Oster und die Militäropposition, Berlin 1982 (keine Erwähnung OvBs); vgl.H.P. Page. General Friedrich Olbricht, Bonn 1994 und H. Schrader. Codename Valkyrie. General Friedrich Olbricht and the plot against Hitler, London 2009 (keine Erwähnung). Vgl. Möckelmann, Franz von Papen, S.402 f. Zit. nach: Chronik: Berlin im Jahr 1935. Fakten Tag für Tag – Luise Berlin, 26.9., 28.9.,29.10., http://www.luise-berlin.de/kalender/jahr/1935.htm (abgerufen am 7.3. 2017). Vgl. Konzentrationslager und Außenlager, Das Bundesarchiv 2010, https://www.bundesarchiv. de/zwangsarbeit/haftstaetten/index.php?tab=24. (abgerufen am 7.3. 2017). Brief Hannah von Bredow an Catalina (Käthe) Carolina Friedericke Georgine von Pannwitz 5.10.1945: „In den Akten fand man aus dem Jahre 1938 neben vielen Denunziationen, u. a. von Generaladmiral Raeder, Herrn von Arnim, Leiter der technischen Hochschule, Gräfin Wedel, geb. von Schubert, Gräfin Zeppelin-Aschhausen, Gräfin Rothkirch, , Herr Gogo von Nostitz, Herr Rost von Tonningen (Holländischer Mussertmann), Erbprinz Josias Waldeck, Graf Bellegarde, auch ein Leumundszeugnis der Potsdamer Gestapo, die betonte, dass es mir in mehrmaligen Verhören gelungen sei, all diese Dinge zu entkräften, und dass man mir nichts Positives nachsagen könne, obzwar ich keinen Zweifel darüber gelassen hätte, dass ich kein Parteimitglied werden wolle oder irgendwelche Sympathien für die Partei habe.“

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Zit. nach Stefan Christian Böske: Denunziationen in der Zeit des Nationalsozialismus und die zivilrechtliche Aufarbeitung in der Nachkriegszeit, Dissertation Universität Bielefeld, 2008, S. 12. Ebd., S. 14 Vgl. Böske, a.a.O., S. 63. Ebd., S. 41. Vgl. Möckelmann, a.a.O., S. 278. Wolf Christian von Wedel Parlow. Ostelbischer Adel im Nationalsozialismus: Familienerinnerungen am Beispiel der Wedel (Formen der Erinnerung), Band 64. Göttingen 2017, S.51ff. Zit. nach: Lageberichte Stapo Potsdam. Monat Oktober 1935, in: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei über die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin 1933 bis 1936, Teilband I: Der Regierungsbezirk Potsdam, Köln 1998, bearbeitet, eingeleitet und erläutert von Sybille Hinze, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 342. Vgl. Lagebericht Stapo Potsdam. Monat Februar 1936, in: Ribbe, a.a.O., S. 424 ff. Vgl. Dokumentation: Staatspolizei und Innere Verwaltung 1934–1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg.13 (1965), Heft 2, S. 194. Zit. nach Böske, a.a.O., S. 57 f. Zit. nach: Deutsches Beamtengesetz vom 26. Januar 1937, Abschnitt II, § 3 Abs. 2, S. 1, http:// www.verfassungen.de/de/de33-45/beamte37.htm (abgerufen am 27.5.2017). Ebd., S. 2.

Der vierte Lebensabschnitt 1

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Für Hannah von Bredows Ausreise galt das Gesetz des Alliierten Kontrollrates im besetzten Deutschland Nr. 161 vom 7. März 1945. Danach war es Deutschen verboten, die äußeren Zonengrenzen ohne Genehmigung der Militärbehörden, den ‚Exit-Permits‘, zu überschreiten. Die Ausgabe von Genehmigungen war zunächst auf Gegner und Opfer des NS-Regimes (aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen Verfolgte), auf Besatzungssoldaten und andere Staatsangehörige alliierter Länder sowie auf humanitäre Fälle (insbesondere kranke Menschen, die nur im Ausland medizinisch versorgt werden konnten, Kinder und Alte mit Verwandten im Ausland) beschränkt. Vgl. Alexander Freund. Aufbrüche nach dem Zusammenbruch: Die deutsche Nordamerika-Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004, S. 171. Vgl. Das amerikanische Gesetz über den Handel mit dem Feinde, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 13 (1918), S. 274 ff., http://www.digizeitschriften.de/dms/resolveppn/? PID=PPN345575296_0013|log271 (abgerufen am 15.05.2017). Vgl. Der Spiegel, Nr. 32/1958 vom 06.08.1958, S. 44 f. Vgl. Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen („Überleitungsvertrag“) (in der gemäß Liste IV zu dem am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichneten Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland geänderten Fassung). Amtlicher Text, BGBl. 1955, Teil VI, Artikel 3 und 5, http://www.deutsches-reichheute.de/html/gesetze/ueberleitung.htm (abgerufen am 15.05.2017). Evangelisch-Lutherische Kirche im Hamburger Staate. Der Landesbischof an Eric M. Warburg, 2. April 1956 (Privatbesitz Leopold Bill von Bredow). Biskop Eivind Berggrav, Oslo to the Office of the Alien Property Custodian in Washington D.C., Oslo April 3d 1956 (Privatbesitz Leopold Bill von Bredow). George K.A. Bell, Bishop of Chichester, an Custodian of Alien Property, Washington, 19. April 1956 (Privatbesitz Leopold Bill von Bredow). Prof. C. v. Dietze an Hans A. Klagsbrunn, 25. Oktober 1948 (Privatbesitz Leopold Bill von Bredow). Kreisverwaltung Lemgo an Philippa von Bredow, 20.1.1950; Entlassungsschein Gerichtsgefängnis Charlottenburg AZ. IV S.K. 20.7.44, Gestapo-Berlin, 3.4.1945; Entschädigungsamt Berlin an Dr. W. Rossmann, Bescheid-Nr. 14577, 27.4.1953 (Privatbesitz Dr. Romedius Graf von Thun und Hohenstein). Hannah von Bredows Anteil machte ein Viertel des von Leopold von Bredow hinterlassenen Gesamtvermögens aus. Dreiviertel erbten seine acht Kinder aus seiner Ehe mit Hannah. Seine älteste Tochter Friederike Strachwitz hatte auf den ihr zustehenden Anteil am Vermögen ihres Vaters zugunsten ihrer Halbgeschwister verzichtet. In seinem Testament hatte Leopold verfügt, dass die Anteile seiner noch minderjährigen Kinder bis zur Vollendung ihres 25. Lebensjahres in Trusts der Union Trust Company in Washington festgelegt werden sollten. Hannahs Viertel stand ihr frei zur Verfügung. Sie richtete jedoch 1934, kurz nach dem Tode ihres Mannes, ihrerseits einen „Irrevocable Trust“ bis zu ihrem Ableben ein, mit der Geheimklausel, dass sie diesen im Notfall auflösen konnte. Sie traf diese Regelung in der Voraussicht, dass die nationalsozialistische Regierung deutsche Staatsbürger in Kürze verpflichten würde, deutsches Auslandsvermögen zu repatriieren. Als dies geschah, bat sie als „brave“ Staatsbürge-

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rin die Union Trust Company, ihr Geld nach Deutschland zu überweisen. Als Antwort verwies die US Bank auf den „unwiderruflichen Trust“, den sie selbst eingerichtet hatte. So blieb ihr Vermögen in den USA. Lediglich das Einkommen wurde bis zum Kriegseintritt der USA in die Anti-Hitler-Koalition regelmäßig nach Potsdam überwiesen. Im Kriege wurde Hannahs US-Vermögen wie das ihrer Kinder als deutsches Eigentum beschlagnahmt, verblieb jedoch als Trustvermögen bei der Union Trust Company. Allerdings wurde das Vermögen der Kinder jeweils, sobald es an deren 25. Geburtstag frei wurde, vom Feindtreuhänder (Alien Property Custodian) konfisziert. So kam es dazu, dass nur Hannahs Vermögen in den 1960er-Jahren zwar beschlagnahmt, aber noch nicht enteignet bei der Union Trust Company lag. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass sie dann einen Vergleich mit der US-Regierung schließen konnte. Auf Grundlage des erst am 12. Februar 1969 vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Reparationsschädengesetzes konnten die Kinder in den 1970er-Jahren eine Entschädigung von jeweils rund 70.000 DM erwirken (Leopold Bill von Bredow 29.06.2017). Kontrollratsdirektive Nr. 38. Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen vom 12. Oktober 1946, Anhang A Abschnitt I und II http://www. verfassungen.de/de/de45-49/kr-direktive38.htm.(abgerufen 10.5.2017). Vgl. Knigge, a.a.O., S. 100. Vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 29.3. 2011, Aktenzeichen 5 A 6/11, https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=VG%20Magdeburg&Dat um=10.11.2008&Aktenzeichen=5%20A%202/08“ https://dejure.org/dienste/vernetzung/ rechtsprechung?Gericht=VG%20Magdeburg&Datum=10.11.2008&Aktenzeichen=5%20A%20 2/0 (abgerufen 12.5. 2017). Zit. nach: Otto Fürst von Bismarck, Akten zum Spruchgerichtsverfahren, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 460.5 Nr. 32. Vgl. Kontrollratsdirektive Nr. 38., Art. XII, a.a.O. Vgl. Knigge, a.a.O., S. 107. Zit. nach: Kontrollratsdirektive Nr. 38, Art. II.5, a.a.O. Die Schilderung von Jessens Nachkriegsaktivitäten beruht weitgehend auf dem unveröffentlichten Manuskript von Michael K. Bahr „Sydney Jessen (1892–1965) - Militärischer Widerstand in der Seekriegsleitung des Oberkommandos der Marine, Teil D: Der letzte Lebensabschnitt (1945–1965)“. (Stand: 15.5. 2017). Der Autor hatte Einblick in wenige Abschnitte des umfangreichen Bahr-Manuskripts und nicht in solche, die die Jessen-Familie betreffen. Vgl. Janosch Steuwer: „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017, S. 24. In der vorliegenden Arbeit wurden außer im Fall des Gartengesprächs vom 16.4.1944 HvBs Tagebucheinträge nicht mit Aussagen über gleiche Vorgänge in ihren Briefen überprüft. Der Tagebucheintrag zum Gartengespräch war keine Camouflage, da er ihr selbst und den Beteiligten schaden musste. Die Leugnung des Treffens im Brief vom 15.1.1946 an Bruder Albrecht kann als nachträgliche Entlastung von einer Mitwisserschaft am Attentat gewertet werden. Sie ist erklärbar aus tiefgehenden psychischen Verwundungen, die das NS-Terrorsystem HvB in zwölf Jahren durch Bespitzelung, Überwachung, Zensur und Verhöre beigebracht hatte. Detailuntersuchungen bleibt es andererseits vorbehalten, HvBs Briefe in der NS-Zeit ab Herbst 1933, als sie die erste Zensur feststellte aber ihre Regimekritik in den Jessen-Briefen weiterhin ungeschminkt formulierte, mit dem akribisch geführten Tagebuch zu vergleichen. Im Zweifel wird HvB ihre Tagebucheinträge erst nach dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 in Ahnung der Rolle ihres Bruders Gottfried, derjenigen ihrer Tochter Philippa und der von Sydney Jessen camoufliert haben. Vgl. Andrea Hopp: Tagungsbericht: Augenzeugnisse versus Geschichtsbilder: Deutsche Geschichte (1870–1945) als erlebtes Ereignis und gedeutete Vergangenheit, 29.09.2005– 30.09.2005 Friedrichsruh, in: H-Soz-Kult, 02.12.2005, (abgerufen am 06.07.2017). Vgl. Wolfgang Benz: Der deutsche Widerstand gegen Hitler, C.H. Beck München 2014, S. 8. Zit. nach: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, http://www.gdw-berlin.de/. (abgerufen am 06.07. 2017). Das Beispiel Theodor Heuss: Für ein widerständiges Verhalten in der NS-Zeit sprechen nach den einschlägigen Widerstandskriterien weder der von Peter Steinbach und Peter Merseburger kommentierte umfangreiche Briefwechsel noch Zeitzeugenaussagen. Vgl. Peter Steinbach: Rezension zu: Elke Seefried: Theodor Heuss. In der Defensive. Briefe 1933–1945 (Stuttgarter Ausgabe, Bd. 3), München, 2009, in: liberal. Vierteljahreshefte für Politik und Kultur 51 (2009), Nr. 3, S.77–80. https://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/geschichte/neueste/ Forschung1(abgerufen am 10.07.2017); Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident. Biographie, München 2012, S. 340 ff.

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Gedanken über das Phänomen Angst 1

Sinclair Lewis. It can´t happen here, New York 1985

Abbildungsverzeichnis S. 12 oben: WBG-Archiv; unten: Leopold Bill von Bredow; S. 13 oben und unten: Leopold Bill von Bredow; S. 72 oben: Michael Bahr; unten: Leopold Bill von Bredow; S. 73 oben: Leopold Bill von Bredow; unten links: Leopold Bill von Bredow; unten rechts: Nachlass Erwin Planck, Staatsbibliothek Berlin; S. 164 oben: bpk; unten links Universität Freiburg/WBG-Archiv; unten rechts: bpk; S. 165 oben: WBG-Archiv; unten: Leopold Bill von ­Bredow; S. 236 oben: Gedenkstätte Deutscher Widerstand; unten: WBG-Archiv; S. 237 oben und unten: Leopold Bill von Bredow.

Literatur Verzeichnet ist vor allem frühe Literatur zum Widerstand Cook, Bernard A.: Women and War: A Historical Encyclopedia from Antiquity to the Present, 2006. Czernin, Monika und Melissa Müller: Hitler und der Adel, Dokumentarfilm 2004, www.veoh.com/watch/v18603896EgagRrey Dulles, Allen: Verschwörung in Deutschland, Zürich 1948. Engelberg, Ernst und Achim Engelberg: Die Bismarcks: Eine preußische Familiensaga vom Mittelalter bis heute, Berlin 2010. Hassell, Ulrich von: Die Hassell-Tagebücher 1938–1944, Berlin 1988. Hoffmann, Peter: History of German Resistance, Montreal 1996. Horstmann, Lally: Nothing for Tears, London 1953. Kardorff, Ursula von: Berliner Aufzeichnungen 1942–1945, München 1962. Knigge, Jobst C.: Das Dilemma eines Diplomaten. Otto Christian von Bismarck in Rom 1940–1943, Berlin 2013. Metternich, Tatiana: Bericht eines ungewöhnlichen Lebens, München 1976.

Möckelmann, Reiner: Franz von Papen. ­Hitlers ewiger Vasall, Darmstadt 2016. Pechel, Rudolf: Deutscher Widerstand, Zürich 1947 Ringshausen, Gerhard: Widerstand und christlicher Glaube angesichts des Nationalsozialismus, Münster 2007. Ritter, Gerhard: Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, München 1964 Thies, Jochen: Die Bismarcks. Eine deutsche Dynastie, München 2013. Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994 Tuchel, Johannes: „… und ihrer aller wartet der Strick“. Das Zellengefängnis Lehrter Straße 3 nach dem 20. Juli 1944, Berlin 2014. Wassiltschikow, Maria ‚Missie‘: Die Berliner Tagebücher 1940–1945, Berlin 1987. Wheeler-Bennett, John: Knaves, Fools and Heroes. Europe Between the Wars, New York, 1974. Wulff, Karl und Monika Schotten (Hrsg.): Zurück aus Afrika: Briefe und Tagebücher 1938–1948, Hamburg 2015.

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Personenregister Die Namen von Adolf Hitler und Sydney Jessen werden nicht gesondert ausgewiesen. Arnim, Achim Konstantin Rudolf ­Ferdinand von 40 Auerbach, Walter 122 Bachmann, Friedrich 230 Ballestrem, Lagi Gräfin von 143, 238 Beck, Ludwig 133, 142, 148, 157, 166, 234 Beckmann, Max 93, 107f. Bell, George K.A. 219 Bennett-Wheeler, John 138 Berggrav, Eivind Josef 218 Bernstorff-Stintenburg, Albrecht Graf von 138ff., 196, 238 Best, Werner 180 Bethmann-Hollweg, Theodor von 17 Bierbaum, Hans 124 Bismarck, Albrecht Edzard Heinrich Karl Graf von Bismarck-Schönhausen 8, 55, 90, 117, 141, 148, 150ff., 155, 160ff., 166f., 170ff., 192ff., 203, 205f., 221, 226f., 235 Bismarck, Ann Mari, Fürstin von 56f. 60, 67, 93ff., 110, 161, 207, 211ff., 220, 223, 230f. Bismarck, Gottfried Alexander Leopold Graf von Bismarck-Schönhausen 41f., 46, 51, 54ff., 62ff., 77, 92, 95ff., 99f., 114, 117, 144f., 147f., 150, 154ff., 167ff., 178, 184, 189ff., 193, 199, 206, 208, 213, 222ff., 231, 233f. Bismarck, Herbert Fürst von 7, 12, 14ff., 19f., 45, 162 Bismarck, Marguerite Fürstin von 7., 12., 14f., 17ff., 24., 28f., 57, 78, 88ff., 98, 161, 204 Bismarck, Melanie Gräfin von 155, 226, 234 Bismarck, Otto Eduard Leopold Fürst von (Reichskanzler) 7, 14ff., 18, 45, 101, 116, 156, 168 Bismarck, Otto Christian Archibald Fürst von (Otto II.) 8, 37f., 41, 46, 54ff., 59ff., 68, 70f., 75f., 92ff., 96, 110, 114ff., 157, 161, 165, 168ff., 179, 184ff., 188f., 199f., 206f., 210ff., 220ff., 230f. Böhm, Franz 134 Böhm, Hans 124 Blomberg, Werner von 64 Bormann, Martin 158, 211 Bredow, Alexandra von 80, 83, 85, 89, 113, 149f., 154, 172, 210, 230 Bredow, Frances von 29, 182, 216 Bredow, Friederike von 29, 175, 181, 215, 220 Bredow, Diana von 80, 82f., 149f., 154, 163, 206, 209f. Bredow, Goedela von 39,55,76,78,91f.116,220, 227,231, Bredow, Herbert von 82, 149, 195, 204, 210, 214 Bredow, Leopold Bill von 6, 10, 28, 32f. 82, 149, 163, 195, 204, 210, 213ff., 220, 231 Bredow, Leopold Waldemar von 9, 13, 23, 26ff.,

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42f., 60, 73, 104, 108, 110, 117, 155, 181f., 213, 216 Bredow, Marguerite von 29, 36, 42, 80, 82ff., 90, 113, 150, 154, 171f., 193f., 203ff., 210, Bredow, Maria von 80, 82, 149, 206, 210 Bredow, Philippa von 89, 144, 147ff., 163, 166, 192f., 195f., 202, 204, 210, 220, 228, 233 Bredow-Jory, Vendeline von 10 Bredow, Wolfgang von 80ff., 86f., 132, 195f., 204 Brüning, Heinrich 46, 48ff., 51, 56, 60, 63, 109, 137, 139, 148, 174 Bülow, Bernhardt Fürst von 16 Burckhardt, Carl Jacob 8 Burckhardt-Schatzmann, Helene 8, 195, 204, 208, 210, 213f. Byrnes, James F. 211 Canaris, Wilhelm 169 Carolath-Beuthen, Elisabeth Fürstin zu 15, 162 Churchill, Randolph 17 Churchill, Winston 17, 159, 207 Ciano, Galeazzo Graf 109 Coerper, Carl von 6 Dibelius, Otto 127f., 130 Diehl, Karl 134 Diels, Rudolf 173 Dietze, Constantin von 93, 131ff., 157, 163f., 196, 219, 238 Dietze, Margarethe von 93, 131, 135 Dirksen, Victoria von 108ff. Dirksen, Willibald von 109 Dohnanyi, Hans von 169 Dulles, Allen Welsh 219 Dulles, John Foster 219 Dungern, Friedrich von 91 Ehlert, Gustav 120 Eicken, Carl Otto von 82 Einstein, Albert 48, 141 Engelbrechten, Maximilian von 205 Epp, Franz von 109 Eucken, Walter 134 Eulenburg und Hertefeld, Philipp Friedrich Alexander Fürst zu 45 Faulhaber, Michael von 125 François-Poncet, André 93, 109ff., 164, 217 Freisler, Roland 134, 140, 143, 158, 166 Friedrichs, Hans 86 Frobenius, Leo 77 Fromm, Friedrich 195 Furtwängler, Wilhelm 43, 67 Gisevius, Hans Bernd 169f. Goebbels, Joseph 57, 62, 109, 158, 169, 174, 177f., 185, 200, 234, 242f., 250 Goerdeler, Carl 132ff., 142, 148, 157ff., 167f.

Göring, Hermann 46, 57, 59ff., 67, 69, 73, 94, 100, 106f., 109, 113, 178, 185, 190, 243 Görnandt, Werner 120 Grafstroem, Cécile 156 Gründgens, Gustav 43 Gürtner, Franz 182

Klagsbrunn, Hans A. 219 Klemperer, Otto 43, 67., 75 Kranzfelder, Alfred 151f., 192, 229 Kraus, Annie 143 Krupp, Alfred 211 Kühlmann, Richard von 113, 169

Haag, Lina 9 Haake, Rudolf 133 Habsburg, Erzherzog Franz-Ferdinand von 25 Haeften, Werner von 147ff., 150f., 153f., 193, 195 Hahn, Kurt 70 Hammerstein, Kurt von 109 Hanes, Chisman 216 Harnack, Adolf von 212 Hassell, Ulrich von 51, 133, 156f., 166ff. Hauptmann, Gerhard 37 Helldorf, Wolf-Heinrich Graf von 102, 156, 158, 169, 175f. Heinemann, Gustav 130 Herntrich, Volkmar 218 Hessen, Philipp Prinz von 59, 90 Heydrich, Reinhard 191, 198f. Heydt, Eduard von der 105 Himmler, Heinrich 90, 150, 155, 160f., 167f., 185, 189 Hindenburg, Oskar von 109 Hindenburg, Paul von 6, 46, 49, 51ff., 56, 58f., 64ff., 69, 109, 137f., 185, 235 Hoesch, Leopold von 53 Horstmann, Alfred 104f. Horstmann, Leonie geb. v. Schwabach 67, 102, 104f. Hossenfelder, Joachim 118 Hoyos, Alexander Graf von 184 Hoyos, Alice Gräfin von 24 Huch, Ricarda 229 Hugenberg, Alfred 56, 76

Lampe, Adolf 134, 163 Leber, Annedore 9 Leber, Julius 10 Lehndorff, Gottliebe von 156 Ley, Robert 211 Limburg Stirum, Johan Paul van 177 Linzbach, Johannes 203f. Lühe, Irmgard von der 10

Jacobi, Gerhard 122 Jessen, Friedrich 37 Jessen, Helene 38ff., 42 Jessen, Iris 38f., 230 Jessen, Jens Peter 166 Jobst, Cornelia 10 Johnson, Lyndon B. 217 Jung, Carl Gustav 77, 105

Olbricht, Friedrich 147f., 158, 169f., 234 Opitz, Paul 150ff., 163, 170ff., 179, 183, 191ff. Oppenheim, Max von 98 Oppikofer, Werner 216, 230 Oster, Hans 169f.,

Kaltenbrunner, Ernst 158, 211 Kennedy, John F. 220 Kerrl, Hans 123, 125, 127 Kessler, Harry Graf 32 Keyserling, Arnold Graf von 227 Keyserling, Goedela Gräfin von s. von Bredow Keyserling, Hermann Graf von 76f., 91, 98, 106, 157, 227 Keyserling, Manfred Graf von 227 Kiep, Otto Carl 141ff.

Maltzan, Maria von 10 Mann, Thomas 37, 77 Mecklenburg, Cecilie Auguste Marie Herzogin zu 23, 57 Mendelssohn Bartholdy, Cécile von 96, 144, 156 Mendelssohn Bartholdy, Felix 133 Mendelssohn Bartholdy, Otto von 96, 144f., 156 Molotow, W. Michailowitsch 211 Moltke Freya Gräfin von 9 Moltke, James Graf von 10, 141, 157, 167 Momm, Harald 156 Montgomery, Sir Bernard 214 Morton, George 213 Mühll-Burckhardt, Theodora von der 195, 210 Müller, Heinrich 160, 171f., 191ff., 197 Müller. Ludwig 119, 121 Mussolini, Benito 61 Neurath, Konstantin von 52ff., 56, 136ff., 199 Neuflize, Jean-Louis de 145 Newlands, Francis G. 29, 31 Niemöller, Martin 119, 122f., 128ff.

Pannwitz, Käthe von 179, 198 Panter, Peter 77 Papen, Franz von 46, 48f., 51f., 63ff., 69f., 112, 138, 148, 160, 167f., 170, 174, 184, 212 Papst Pius XI. 125 Pilati, Oscar Graf 163 Planck, Erwin 46, 48ff., 63, 65f., 73, 111, 147f., 156f., 166f. Planck, Max 48, 63, 168 Planck, Nelly 63, 167f. Platen, Carl Gustav von 98 Platen-Stumm, Vera von 98 Plessen-Cronstern, Polly Gräfin von 20, 23, 28f., 78

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Popitz, Johannes 157, 166f. Preußen, Alexander Ferdinand Prinz von 58 Preußen, August Wilhelm Heinrich Günther Viktor von 58 Preußen, Friedrich Wilhelm Victor August Ernst Prinz von 58, 63, 109 Preysing, Konrad Graf von 125 Primrose, Archibald Philip, Earl of Rosebery 17 Primrose, Hannah, Countess of Rosebery 17 Raeder, Erich 40, 114f., 198, 212 Reckzeh, Paul 142 Reichenau, Walter von 175 Reinhardt, Max 43, 75 Reventlow-Criminal von, Lily 16 Reventlow, Ernst von 118 Ribbentrop, Joachim von 53f., 199 Rilke, Rainer Maria 104f. Ritter, Gerhard 134, 157, 163 Röhm, Ernst 107, 250 Roosevelt, Franklin D. 217 Rosenberg, Alfred 127f. Rothschild, Mayer Amschel de 17 Schacht, Hjalmar 107, 147f., 157, 212 Scheel-Plessen, Lily Lehnsgräfin 121 Scheler, Max 77 Schellenberg, Walter 161 Schieckel-Oppenheim, Vera 144 Schirach, Baldur von 80f. Schleicher, Kurt von 46, 48ff., 53, 56, 60, 65, 109, 111, 136f., 174 Schlitz-Goertz, Else von 145, 156 Schmidt, Erich 22 Schmidtseck, Rudolf von 66 Schnitzler, Georg von 67, 106, 108 Schnitzler, Lilly von 67, 93, 106ff., 110 Schönborn-Buchheim, Georg Graf von 91 Schönburg-Hartenstein, Eleonore-Marie Prinzessin 155, 159 Schubert, Carl von 24 Schwabach, Eleonore von 103f. Schwabach´, Leonie von s. Horstmann Schwabach, Paul von 67, 101ff. Schwabach, Vera von der Heydt 102, 104f. Sedlmayr, Hans 224 Sheridan, Clare 22 Sieburg, Friedrich 104

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Simson, Eduard von 100 Simson, Walther von 41, 100f., 103, 182, 188 Solf, Johanna 8, 136ff., 219f., 236 Solf, Wilhelm 8, 136ff. Stalin, Josef W. 175, 207 Stauffenberg, Berthold Graf von 151f., 192 Stauffenberg, Claus Graf von 147ff., 157ff., 160f., 234 Stowe, Leland 174 Strachwitz, Alexander Graf von 175, 181 Strachwitz, Friederike Gräfin von s. Bredow Strachwitz, Nikolaus Graf von 181, 200 Strang, Sir William 214 Strasser, Gregor 65, 92 Strasser, Otto 65 Stumm, Ferdinand von 98 Stumm, Ludovika von 27 Thadden, Elisabeth von 10, 142f. Trott zu Solz, Adam von 148 Thyssen, Fritz 60 Tirpitz, Alfred von 17 Truman, Harry S. 207 Tucholsky, Kurt 77 Wallenberg, Jacob 159 Walter, Bruno 43, 68, 75, 174 Warburg, Eric M. 217f. Wartenburg, Marion Gräfin York von 10 Wassiltschikow, Maria Fürstin 148, 159 Wedel, Carmen von 102 Wedel, Wilhelm von 41, 56, 86, 93, 96, 114f., 164, 179, 185ff., 194, 200 Weizsäcker, Ernst von 183 Welczek, Johannes von 53 Welsburg, Alexander Graf von 150ff., 163, 193 Whitehead, Robert 15 Wiechert, Ernst 84 Wilhelm II., Kaiser 17, 24, 64, 101 Williams, Mona 226 Wölfflin, Heinrich 22 Wolff, Ernst 98ff. Wolff, Otto 50 Zehnder, Adolf 161 Zeppelin-Aschhausen, Friedrich Graf von 38 Zweig, Stefan 26

Informationen zum Buch Otto von Bismarcks Enkelin Hannah von Bredow (1893–1971) hatte beste Kontakte zur Führungsriege des NS-Regimes: Sie war bekannt mit Hitler, Göring und Co. Und doch kämpfte sie unbeirrbar gegen die nationalsozialistische Diktatur – überwacht von der Gestapo und geschützt durch den Namen ihres Großvaters. »Die Lebensgeschichte einer ganz außergewöhnlichen, mutigen Frau im Spannungsfeld zwischen familialständischer Tradition und persönlicher Autonomie, Opposition und Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Auf der Grundlage einer nahezu unerschöpflichen Fülle unveröffentlichter persönlicher Aufzeichnungen dieser begnadeten Briefe- und Tagebuchschreiberin vom Autor glänzend erzählt und überzeugend in die geschichtlichen Kontexte integriert. Weit mehr als ›nur‹ ein weiteres Buch zu den Frauen im Nationalsozialismus.« Prof. Heinz Reif

Informationen zum Autor Reiner Möckelmann, geb. 1941, war langjähriger Diplomat in Ankara, Belgrad, Istanbul, Lima, Moskau und Wien und ist Publizist. Zuletzt erschien von ihm die hochgelobte Biographie »Franz von Papen. Hitlers ewiger Vasall« (2016).