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German Pages 234 [242] Year 2006
Christen und Muslime
Christen und Muslime Verantwortung zum Dialog Herausgegeben von den Evangelischen Akademien in Deutschland
Redaktion: Dr. Hermann Düringer Volker Hörner Grit Giebelhausen Dr. Erika Godel
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2006 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Satz: Setzerei Gutowski, Weiterstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 3-534-18816-0
Inhalt Fritz Erich Anhelm Die Verantwortung für die Welt und die Wahrheit des Glaubens – Dimensionen des Gesprächs zwischen den Religionen in Evangelischen Akademien
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Udo Steinbach Der interreligiöse Dialog zwischen Christen und Muslimen – Verortung, Inhalte, Argumentationsstränge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Distanz und Nähe unterscheiden Dietrich Korsch Risiken des Monotheismus in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zekeriya Beyaz Grundwerte in christlicher und islamischer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolf-Dieter Achmed Aries Postsäkulare Gesellschaft – Worauf zielt die neue Sensibilität gegenüber der Bedeutung der Religion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Martin Leiner Gewinnen ohne zu unterwerfen – Zum Wahrheitsverständnis in den abrahamitischen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ludwig Ammann Auf dem Weg zu einem europäischen Islam? Muslime in Deutschland und Europa
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Imam Bekir Alboga Die Rolle der Religionen beim Aufbau und der Weiterentwicklung moderner Gesellschaften – Eine muslimische Perspektive . . . . . . . . . . . . . .
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Konflikt und Konsens entfalten Martin Affolderbach Die „Islamische Charta“ – Ein Meilenstein für den Islam in Deutschland? . . . . . .
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Inhalt
Nadeem Elyas Integration und Dialog – Stiefkinder unserer Generation – Lassen sich Muslime in eine nichtislamische Gesellschaft integrieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans G. Kippenberg Das Drama religiöser Gewalt und seine Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Otto Hondrich Konflikt der Kulturen – Auf der Suche nach dem, was die Menschen über die Verschiedenartigkeit der Kulturen hinweg zusammenhält . . . . . . . . . . 101 Martin Bauschke Jesus im Koran und im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Erhard Kamphausen Judentum und Islam im Endzeitdenken des fundamentalistischen Protestantismus und der pentekostalen Bewegung nordamerikanischen Ursprungs . . . . . . . . . . 132 Levent Tezcan Interreligiöse Kommunikation und Konflikt in Zeiten der Kultursensibilität
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Potenziale erkennen und wahrnehmen Hamideh Mohagheghi Muslime in Deutschland – Zwischen Hinterhofdasein und gesellschaftlicher Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Gregor Paul Die Zukunft der Kulturen – Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt . . . . . 166 Dieter Ohlmeier Psychoanalytische Reflexionen zum Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Hamed Abdel-Samad Radikalisierung in der Fremde? Muslime in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 181 Kai Hafez Islamismus und Medien – Eine unheilvolle Symbiose . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Paul Nolte Die religiöse Grundierung der Kulturen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
Inhalt
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Walter Schöpsdau Identität und Verständigung – Die Toleranz von Konfessionen und Religionen heute 201 Thomas Lemmen Positive Wechselwirkungen zwischen den Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Mathias Rohe Zur Stellung des Islam in der deutschen Rechtsordnung
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Alphabetisches Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Adressen der Evangelischen Akademien in Deutschland
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Fritz Erich Anhelm
Die Verantwortung für die Welt und die Wahrheit des Glaubens – Dimensionen des Gesprächs zwischen den Religionen in Evangelischen Akademien Dieser Band versammelt Beiträge aus Tagungen Evangelischer Akademien. Sie beschäftigen sich mit Aspekten eines Dialogs, der so nötig wie umstritten ist. Gefordert wird er von allen Seiten. Zugleich wird seine gewünschte Wirksamkeit, die auf Verständigung zielt, oft bezweifelt. Solche Zweifel haben Gründe. Sie erschöpfen sich nicht in der Frage, ob es denn über Glaubenswahrheiten überhaupt einen Dialog mit der Hoffnung auf Verständigung geben könne? Das Problem liegt darin, dass etwas – von dem wir lange meinten, es gut auseinander halten zu können – eine neuerliche, unheilige Mischung eingeht: Politik und Religion. Dieses Problem – das soll der Band zeigen – wird mehr und mehr zum Gegenstand der Religionsdialoge an den Evangelischen Akademien.
Die politisierte Renaissance des Religiösen – Ein noch wenig begriffener Paradigmenwechsel Religionsdialoge fanden an Evangelischen Akademien schon seit den 60er Jahren statt. Der christlich-jüdische Dialog begann zu dieser Zeit mit Akademietagungen und Kirchentagsveranstaltungen. Er kann als wichtiges Element im deutsch-jüdischen Wiederannäherungs- und Versöhnungsprozess angesehen werden. In den 80er Jahren kamen Begegnungen mit geistlichen Repräsentanten des Islam hinzu und darüber hinaus mit Vertretern fernöstlicher Religionen, insbesondere des Buddhismus. Alle diese Dialoge fokussierten sich im Wesentlichen auf religiöse Fragen und Praktiken im engeren Sinne. Das änderte sich erst zu Beginn der 90er Jahre, als sie durch die Immigrations- und Asylproblematik eine stärkere gesellschaftspolitische Dimension erhielten. Bereits in den 80er Jahren sprach man in ökumenisch-kirchlichen Kreisen von einem bevorstehenden Paradigmenwechsel. Er vollzog sich zehn Jahre nach Auflösung der Bipolarität der Systeme, aber in eine völlig andere Richtung als gedacht. Als unmittelbar nach dem 11. September 2001 durch Jürgen Habermas das Wort von der „postsäkularen Gesellschaft“ in die Welt gesetzt wurde, fand es sich philosophisch, soziologisch und auch theologisch schnell klein geredet. Die einen verteidigten die „Säkula-
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rität“ der Gesellschaft und besonders des Staates als Emanzipation von religiöser Bevormundung. Die anderen klärten uns darüber auf, dass es niemals so etwas wie eine „säkulare Gesellschaft“ gegeben habe. Also – schlossen sie messerscharf – könne es auch keine postsäkulare geben. Als so einfach indes stellte sich die Sache nicht heraus, nicht einmal in (West-)Europa und schon gar nicht im globalen Horizont. Der säkular begründete Ost-West-Gegensatz des vergangenen Jahrhunderts hinterließ mit dem Ende der Bipolarität ein ideologisches Vakuum. Das wurde zu Beginn des neuen von nun wieder religiös getönten Gegensätzlichkeiten besetzt. Sie entwickelten sich aus nationalistischer und ethnisch-regionaler Provenienz, gewannen aber bald globale Bedeutung. Dem methodischen Säkularismus der Systeme folgte der religiöse Fundamentalismus der Identitäten. Politisch gezielte Selbstmordattentate gegen ahnungslose Zivilisten in vorher nicht gekanntem Ausmaß „rechtfertigten“ sich nun eindeutig aus religiösen Motiven. Der Kampf gegen diese neue „Qualität“ des Terrorismus begründete sich nicht weniger glaubensstark. Sensiblen Vertretern der „offiziellen“ Religionen mochte es ob dieser politischen Verzweckung vermeintlicher Glaubenswahrheiten grausen. Was sich da vollzog, war ihnen jedoch aus der Hand genommen. Politik spielte mit religionskulturellen Milieus, die die Identität ganzer Gesellschaften bestimmten, und justierte sie auf aktuelle strategische und ökonomische Interessen hin. Das kalkulierte Gewalt ein. Die mittels Religion und Ethnie aufgeladene Gewalt erwies sich – wie vorauszusehen – als die schlimmste. Zwar war in den Jahren zuvor die globale Sensibilität für die wirtschaftlich-sozialen Disparitäten, für die problemlösende zivile Bearbeitung von Konflikten und für die Ökologie des Planeten gewachsen. Eine rigide Liberalisierung der Finanz- und Warenmärkte zugunsten der Global Player hatte sie jedoch überholt. Begleitet wurde sie von der „Amerikanisierung“ der Kommunikations- und Habitusmuster der Eliten. Dagegen entwickelte sich ein neuerlicher religiöser Dualismus, der sich mehr und mehr am Verhältnis der beiden global größten Religionssysteme, des christlichen und dem islamischen, festmachte. Dieser Dualismus schob sich vor die mit den großen UN-Konferenzen noch verbundene säkulare Vision einer gerechteren, friedlicheren und ökologisch bewussteren Welt als neuerliches Paradigma des hegemonialen Kampfes um regionale Einflusssphären. Es reduzierte die Komplexität dieses Kampfes mit zunehmender Dynamik auf das religiös überhöhte Deutungspotenzial von Gut und Böse.
Religionsdialog oder: Dialog der Religionen in der globalen Gesellschaft Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieses inzwischen nun global ausgespielten politischreligiösen Paradigmas erlauben es nicht, den Dialog der Religionen auf diese selbst zu beschränken. Das Paradigma des neuerlichen „Religionskampfes“ droht nämlich bis weit in säkulare, politisch-kulturelle Grundüberzeugungen hinein zu wirken. Wer in dieser Situation für den Dialog zwischen den Religionen eintritt, darf die nichtreligiösen Faktoren in der globalen Entwicklung nicht aussparen. Dies spiegelt sich im Themenspektrum des
Vorwort
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Globalisierungsdiskurses in den Evangelischen Akademien. Insgesamt sind 345 Veranstaltungen seit 1990 diesem Bereich zuzuordnen. Davon beschäftigten sich etwa 37% vorrangig mit interkulturellen und interreligiösen Aspekten. 41% behandelten Themen der internationalen Politik und Ökonomie. Der Rest verteilte sich auf Fragen der zivilgesellschaftlichen Entwicklung und des sozialen Wandels (7%), der globalen Ethik (7%), der Ökologie (4%) und der Rolle der Medien und neuen Kommunikationstechnologien (4%). In diesen Tagungen reflektiert sich ein durchgängiger Konflikt. Seine unterschiedlichen Positionierungen sind aber keineswegs in das duale Schema eines „Religionskampfes“ einzusortieren. Dieser Konflikt suggeriert nur vordergründig eine duale Struktur. Sie betont einerseits die Geltung der allgemeinen Menschenrechte, der säkular-demokratischen Staatsverfassungen, den Wert einer zivilgesellschaftlich geprägten politischen Kultur und der Religionsfreiheit. Andererseits werden gewachsene Identitäten und Traditionen gegen ihre Nivellierung in Stellung gebracht, nationale und ethnische Selbstbestimmung eingefordert und die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Depretiation im globalen Maßstab angeklagt. Faktisch vermischen sich diese Positionierungen jedoch in den Akteuren selbst, je nach dem Kontext, in dem sie sich zu behaupten haben. Diese Komplexität differenziert auf Problemlösungen hin zu orientieren und zu bearbeiten, ist der Anspruch, den Evangelische Akademien mit ihren Tagungen verbinden. Die Reduktion der im Globalisierungsprozess zutage tretenden Konflikte auf das in ihnen immer auch enthaltene religiöse Deutungspotenzial verschleiert deren ökonomisch, sozial, ökologisch, politisch und kulturell ebenso wirksame Ursachen. Sie verstellt zudem Problemlösungen, die in einer vernünftigen Abwägung der mit den Konflikten verknüpften Interessen liegen können. Um solche Abwägungen überhaupt zu ermöglichen, kommt es den Evangelischen Akademien darauf an, Akteure aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft mit Vermittlungsagenturen wie Medien, Wissenschaft und eben auch Religionen problemorientiert zu vernetzen. Dabei sind natürlich auch Religionsvertreterinnen und -vertreter als Akteure mit Problembearbeitungskompetenz gefragt. Oft lernen gerade sie erst in interdisziplinären Diskursen das Problem nicht nur als das konkurrierender Glaubenswahrheiten zu begreifen. Die Konfrontation von Glaubenswahrheiten verstärkt die religiös aufgeladenen Auseinandersetzungen in den Hegemoniekämpfen der asymmetrisch-globalen Machtkonstellationen, statt sie zu entschärfen. Und sie kann die Integration der sich kulturell und religiös diversifizierenden Gesellschaften zusätzlich erschweren. Die Erwartung an die Problemlösungskompetenz der Religionen richtet sich in der globalen Arena wie in ihrem binnengesellschaftlichen Wirkungskreis aber gerade darauf, als intermediärer Faktor konfliktregulierend tätig zu werden.
Religionskultur als Glaubenswahrheit Das Ineinssetzen von Politik und Glaubenswahrheit findet sich als Problem in allen Offenbarungsreligionen. Es charakterisiert die fundamentalistisch-politischen Strömungen des Christentums ebenso wie den jüdischen Zionismus und eben auch den politischen Islamismus, am ausgeprägtesten seine schiitische Hierokratievariante.
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Wo dieses Problem in internationalen Tagungen mit Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Religionen direkt zum Thema wird, kommt der Dialog nicht selten an seine Grenzen. Da steht dann die Feststellung, das (westliche) Christentum habe sich in seiner verfassten Form säkular-staatlich domestizieren lassen, gegen die Aussage, der Islam habe sich nie von seinen theokratischen Grundzügen befreit und sich damit gegen jede Form der Moderne entschieden. Aufklärung und Glaubensgehorsam bringen sich gegeneinander in Stellung und die Unvereinbarkeiten der Positionen bestätigen sich gegenseitig. Hinter den dabei bevorzugten Verhaltensdispositionen von Angriff und Verteidigung werden Verlustängste ahnbar, die sich argumentativ verkleiden. Unterschwellig vermittelt sind diese Ängste auch abgelöst von ihren religiösen Bezügen gesellschaftlich-habituell wirksam. Jeder terroristische Anschlag, der in das Schema des „Religionskampfes“ eingeordnet werden kann, weckt den Verdacht auf heimliches Sympathisantentum. Selbsternannte Propheten des politischen Islamismus mit ihrem Anhang nehmen in Mithaftung, was sich nicht ausdrücklich distanziert. Manchmal bleibt auch Distanzierung verdächtig. Militante und undurchsichtige Durchsetzung von „religiöser“ Präsenz, wirkliche oder vermutete autoritäre Unterrichtspraktiken an Koranschulen und – mit hohem Symbolwert versehen – auch der Kopftuchstreit ordnen sich in einen allgemeinen Misstrauensvorbehalt ein. Eine öffentliche Diskussion zwischen Ausgrenzungs-, Assimilations- und Wohlverhaltensansprüchen und eine ungeklärte Integrationspolitik tragen andersherum ebenfalls nicht zur Vertrauensbildung bei. Unübersehbar zur Schau gestellte Xenophobie, die bis zu Anschlägen auf Leib und Leben reicht, eine rigide Asylpolitik und formalisierte Abschiebung und nicht zuletzt die Verschärfung sicherheitspolitischer Überwachungs- und Kontrollpraktiken verleiten zu pointierter Selbstabgrenzung. In dieser Konstellation fällt das Paradigma des „Religionskampfes“ auf fruchtbaren Boden. Und selbst da, wo es sich nicht in voller Schärfe artikuliert, schwingt es unterschwellig in vielen Argumentationen mit. Mit der Forderung, einen vertrauensbildenden Dialog zu initiieren, wird den Religionen vor solchem Hintergrund die Verantwortung für einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozess zugewiesen. Dieser Lernprozess aber betrifft alle: die Mehrheiten wie die Minderheiten, die Globalisierer wie ihre Kritiker, Migranten wie Einheimische, Traditionalisten wie Modernisten, Gläubige wie Agnostiker. Sie alle verfügen über Orientierungen, die gewachsene Identitäten zu behaupten versprechen oder entwurzelte Identitäten kompensieren. Dies zu reflektieren, soll in den Räumen Evangelischer Akademien geschehen. Im Zuge solcher Reflexion werden Begründungen formuliert. Die dabei immer wieder neu zu beantwortende Frage ist, ob diese Begründungen sich als dialogfähig erweisen. Letztbegründungen sind Glaubenswahrheiten. Ein auf Verständigung zielender gesamtgesellschaftlicher Dialog kann jedoch nicht aus Letztbegründungen heraus geführt werden. Er braucht Raum zur argumentativen Relativierung und zu emotionalem Respekt.
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Überwältigungsverbot und hermeneutische Kompetenz In allen Offenbarungsreligionen gibt es neben fundamentalistischen Prägungen auch ausgeprägte Traditionen, zu deren Selbstverständnis es gehört, zwischen der Glaubenswahrheit und ihren religionskulturellen Ausprägungen zu unterscheiden. Es sind insbesondere Vertreterinnen und Vertreter dieser Traditionen, die zum Dialogansatz der Evangelischen Akademien am ehesten Zugang finden. Hier können historisch-kulturell bedingte Unterschiede zugelassen werden, ohne auf ihre zwanghafte Einebnung oder Konversion zu drängen. Unterschiede, die festgestellt sind, also im Dialog bewusst gemacht werden, können als gegenseitig tolerabel durchaus bestehen bleiben. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, in zunehmend religionspluraleren Gesellschaften das Verhältnis unterschiedlicher Religionskulturen zueinander in lebensdienlicher Weise zu gestalten. Auch dies hat Voraussetzungen. Die grundlegendste ist die überzeugende Beachtung des Überwältigungsverbots durch alle Beteiligten. Sie ist Prüfstein für das Grundvertrauen in die Verlässlichkeit des Anderen. In ihr bestätigt sich die Anerkennung der staatlich garantierten Religionsfreiheit. Dem folgt die Akzeptanz des geltenden, auf demokratischen Konsens gegründeten Rechtssystems, vor allem der durch die Verfassung erklärten Grundrechte. Dieses Rechtssystem reflektiert immer mehrheitskulturelle Traditionen und darunter auch die – zumeist in zivilreligöser Form säkularisierten – der mehrheitlichen Religionskultur. Es ist daher nicht wirklich religionsneutral. Aber es kann religionskulturelle Ausprägungen von Minderheitsreligionen aufnehmen, soweit diese mit den Grundrechten kompatibel sind. Viele der Religionsdialoge an den Evangelischen Akademien, etwa zur Gleichstellung von Frauen, zum islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, zur Präsenz des Islam in öffentlich-rechtlichen Medien, zum Verhältnis religiösen und staatlichen Rechtes, knüpfen hier an. Konflikte entstehen dabei auf zwei Ebenen. Die erste Ebene der Religionskulturen betrifft das unmittelbare Zusammenleben, das Arrangement im Stadtteil, die Familie, die Schule, den Beruf, das Freizeitverhalten, die Habitusformen, in denen sich Alltagsorientierungen ausdrücken. Die zweite Ebene betrifft religiöse Grundwahrheiten im engeren Sinne, das persönliche Gottesverhältnis, den Gottesdienst, die Verantwortung des eigenen Lebens und seines gesellschaftlichen Zusammenhangs vor Gott auch in ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimension. Beide Ebenen lassen sich nicht sauber voneinander trennen. Sie wollen sogar zusammengehalten werden. Dennoch ist Unterscheidung notwendig, um überhaupt Spielräume der Verständigung zu eröffnen, Spannungen gestaltbar zu halten und aushaltbar zu gestalten. Die Lösung der Alltagskonflike auf der religionskulturellen Ebene muss den Beteiligten und der Gesellschaft insgesamt mindestens insoweit gerecht werden, dass sie das Rechtssystem nicht sprengt und zugleich den Ausdruck religiöser Identität im Sinne positiver Religionsfreiheit zulässt. Im Interesse gelingenden Zusammenlebens in einer Gesellschaft darf von den in ihr vertretenen Religionskulturen verlangt werden, sich auf Verfahren der
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Konfliktbearbeitung einzulassen, die zu akzeptanzfähigen Regelungen führen. Diese Regelungen sollten sich durch Transparenz, Zumutbarkeit und Verlässlichkeit auszeichnen. Sie gesetzesförmig zu gestalten, ist das Mandat der Politik. Ihre Akzeptanzfähigkeit wird jedoch in Diskursen vorbereitet, die zivilgesellschaftlichen Charakter haben und gesamtgesellschaftlich gewollt sein müssen. Indem die Evangelischen Akademien solche Diskurse organisieren, tragen sie zur Vorbereitung und Akzeptanzfähigkeit dieser Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens unterschiedlicher Religionen bei. In der Trägerschaft ihrer Kirchen wirken sie für die Integration der Gesellschaft als Ganzer. Konflikte zwischen religiösen Grundwahrheiten lassen sich ungleich schwerer über Verfahren regeln. Hier sind Wahrheitsansprüche miteinander konfrontiert, die sich mit Glaubenserfahrungen verbinden. Als Bekenntnisse sind sie nicht integrationsfähig und müssen es auch nicht sein. In ihren wahrnehmbaren Zeugnissen sollten sie – soweit dies möglich ist – dennoch im Kontext ihrer Traditionen verstanden werden können. Verstehen meint dabei das Sich-hinein-Begeben in einen Überlieferungszusammenhang, in dem sich die Vor-Urteile aus der Vergangenheit in der Gegenwartssituation begegnen und daraus neuer Interpretationsspielraum entsteht. Dies löst geglaubte Wahrheit nicht auf, wird sie in der Regel sogar eher bestätigen. Aber es bezieht Glaubenswahrheiten aufeinander und hält sie dadurch gesprächsfähig. Das erfordert hermeneutische Kompetenz. Diese hermeneutische Kompetenz ist nicht nur von den Religionen, sondern der Gesellschaft insgesamt gefragt. Je bereitwilliger sie sich und die Religionsvertreter in ihr auf diesen Dialog des „Verstehen-Wollens“ einlassen, umso ausgeprägter entwickelt sich Raum für das Wachsen verlässlichen Grundvertrauens. Die Dialoge an den Evangelischen Akademien zeigen, dass dies auch dann gelingen kann, wenn die festgestellten Unterschiede normativ-emotional hoch besetzt sind.
Orte reflexiver Unterscheidung und Verständigung Evangelische Akademien sind in diesem Dialog keine neutralen Orte. Dies ist schon an ihrer Trägerschaft durch die Kirchen, an ihrer Ausstattung mit Kapellen, an ihrer Andachts- und Gottesdienstpraxis, an ihrer mit christlicher Symbolik durchzogenen Atmosphäre erkennbar. Ihr eigener Glaubensbezug spiegelt sich in der Thematik ihrer Programme, der Art der Moderation und den theologisch-ethischen Grundauffassungen, die die Fragestellungen leiten. Zugleich haben Evangelische Akademien – ihrer protestantisch-volkskirchlichen Tradition entsprechend – einen Wirkungsanspruch, der auf die Gesellschaft insgesamt und ihren sich globalisierenden Kontext ausgreift. Dies schließt die anderen Religionen ein. Dialogpartner aus anderen Religionen nehmen die Evangelischen Akademien in dieser christlich-protestantischen Ausrichtung bewusst wahr. Einübung in Distanz und Nähe, Unterscheidung und Gemeinsamkeit, Kritik und Respekt, Begegnung und Rückzug, Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen verlangt hohe gegenseitige Sensibilität. Sie aus- und durchzuhalten, gerade wenn es um die kritischen Fragen des Gottesverständnis-
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ses und der religiösen Praxis geht, ist wesentliche Bedingung dafür, auch die Probleme des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens ohne ideologische Überhöhungen als gesprächsfähig zu erschließen. Der Weg, den die Evangelischen Akademien mit dieser Einladung zum Dialog der Religionen beschritten haben, ist wesentlich eine Investition in die politische Kultur. Sie darf nicht erneut zur Domäne derer werden, die Glaubenswahrheiten als politische Programme ausspielen. Gerade deshalb wird es der Institutionen bedürfen, die diese Entwickung reflexiv, differenziert und auf Dialogfähigkeit hin zu bearbeiten fähig sind. Es könnte durchaus sein, dass die Möglichkeiten für „Global Governance“ von eben dieser Fähigkeit abhängen.
Udo Steinbach
Der interreligiöse Dialog zwischen Christen und Muslimen – Verortung, Inhalte, Argumentationsstränge 1. Der interreligiöse Dialog im Kontext des „Dialogs der Kulturen“ Der Begriff des Dialogs leidet nicht nur an seinem inflationären Gebrauch; er leidet auch an einem weit verbreiteten Zweifel daran, ob auf dem Weg des Dialogs gravierende Differenzen oder gar Konflikte zu lösen sein würden. Einen dieser Konflikte hat Samuel Huntington – ob man es mag oder nicht – auf den Punkt gebracht: Das politische und weltanschauliche Vakuum, das das Ende des Ost-West-Konflikts hinterlassen hat, werde vom „Zusammenprall der Kulturen“ gefüllt. Seither ist klar: culture matters – Kultur zählt; und mithin auch Religion. Und dies in globaler Dimension. Vermag der Dialog Lösungen zu erzielen? Der Dialog ist also die Alternative zu einem Konfliktszenario, das wie kaum ein anderes die Diskussion über die Zukunft des internationalen Systems dominiert hat. Während die große Mehrheit von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen bemüht war, die Ungereimtheiten und Fehlannahmen des Szenarios aufzuzeigen, ist im politischen Raum nach den Terrorattentaten vom 11. September 2001 und insbesondere im Zusammenhang der Vorbereitung und Durchführung des Krieges im Irak als Teil des „war on terrorism“ die Befürchtung gewachsen, das Paradigma des Zusammenpralls der Kulturen könne zu einer self fulfilling prophecy werden – in der Weise, dass in zunehmendem Maße sowohl Terrorismus als auch Kampf gegen Terrorismus in religiöse Koordinaten gestellt, d. h. mit der Religion entlehnten Argumenten und Handlungsperspektiven gerechtfertigt werden. „Kultur“ und „Religion“ sind nicht identisch. Aber in allen Kulturen bestimmt die Religion essenziell die Bezugskoordinaten des Menschen mit Blick auf seine diesseitige Existenz und das Jenseits. Insofern ist der Dialog zwischen den Religionen ein Bestandteil des Dialogs zwischen den Kulturen. Fritz Erich Anhelm hat in seinen einleitenden Bemerkungen deutlich gemacht, was dieser Dialog vermag und was nicht. Der Dialog als Antwort auf eine komplexe Krise und als Strategie präventiver Konfliktvermeidung macht nur Sinn, wenn er Teil eines Dialoggeschehens ist, das alle wichtigen Bereiche der Existenz des Menschen und der politischen wie gesellschaftlichen Wertvorstellungen, auf denen das Gemeinwesen beruht, einbezieht. Der an den Evangelischen Akademien geführte christlich-islamische Dialog (gelegentlich mit einer jüdischen Komponente) ist also Teil
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einer nachhaltigen Interaktion, die sich seit den beginnenden neunziger Jahren als „Dialog der Kulturen“ herausgebildet hat. Sie wurde von privaten Organisationen ebenso wie von öffentlichen Institutionen der Kulturvermittlung und nicht zuletzt herausragenden politischen Persönlichkeiten getragen. Am umfassendsten war der Ansatz des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, der wissenschaftliche Institute und die Staatspräsidenten (bzw. Regierungschefs) Indonesiens, Malaysias, Jordaniens, Ägyptens, Marokkos, Italiens, Spaniens, Norwegens, Finnlands (und Deutschlands) zu weitreichender Interaktion und kontinuierlicher Kommunikation zusammenspannte. In der im April 1999 am Amtssitz des Bundespräsidenten verabschiedeten „Berlin Declaration – Agenda to Future Action“ wurden konkrete Projekte in Kultur und Erziehung, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft und Umwelt unter dem Aspekt gemeinsamen Interesses der Dialogteilnehmer mit Blick auf eine Zusammenarbeit herausgestellt, die durchaus auch von Kultur und Religion geleitet sein sollte. (Siehe dazu ORIENT – Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients [hrsg. vom Deutschen Orient-Institut in Hamburg], Jg. 40, 1 [1999], S. 38–51.)
2. Zum interreligiösen Dialog Das vorliegende Buch der Evangelischen Akademien ist ein Beitrag des Protestantismus zum „Dialog der Kulturen“. Durchaus in diesem Sinne will es die Kenntnis voneinander vertiefen, die Kommunikation miteinander befördern und damit dem Verständnis und der Akzeptanz des jeweilig anderen den Weg ebnen. Es werden sehr unterschiedliche Texte – längere oder kürzere Studien sowie Vorträge und Redebeiträge – veröffentlicht, die gerade in ihrer Verschiedenheit reizvoll sind; neben stärker emotional geprägten Aufforderungen und Appellen stehen theologisch-philosophische Reflexionen und juristische Darlegungen; neben Grundfragen zur Rolle des Monotheismus stehen Mahnungen zum Abbau von Kurzsichtigkeit und Vorurteilsbereitschaft. Neben innertheologischen Fragestellungen werden politikrelevante und medienbezogene sowie psychologische Themen erörtert. Jeder der drei Teile des Buches steht in einer anderen Perspektive, ohne dass diese scharf voneinander zu trennen wären. Während der erste Teil der Begegnung und der gegenseitigen Wahrnehmung gewidmet ist, geht es im zweiten Teil um Auseinandersetzungen, um Streitfragen; der dritte Teil dann fragt nach dem gesamtgesellschaftlichen Horizont einer „postsäkularen Gesellschaft“, vor dem beide Seiten sich befinden und in dem beide ihre Antworten zu geben haben. Eine Zusammenstellung von Texten unterschiedlichster Provenienz bringt es mit sich, dass gleiche oder ähnliche Fragestellungen mehrfach angesprochen werden. Auf diese Weise kann deutlich werden, dass zu ihrer Beantwortung ebenfalls eine Vielzahl von Wegen beschritten werden kann. Es macht nachdenklich, dass nichtmuslimische und muslimische Autoren auffallend unausgewogen – quantitativ und qualitativ – in dem Band vertreten sind. Dies ist nicht Schuld oder gar Absicht der Herausgeber. Es reflektiert eine Situation, in der es wohl eher die nichtmuslimische Seite ist, die den Dialog sucht. Nicht selten klagen nichtmuslimische Dialogsucher – häufig Theologen –, dass sie auf muslimischer Seite kein wirkliches
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Interesse für Dialog und keinen Ansprechpartner finden. Vielfältig sind die Gründe hierfür. Die mangelnde Sprachkompetenz ist wohl der geringste, auch wenn eingeräumt werden muss, dass die Zahl der bedeutenden muslimischen Theologen in Deutschland bzw. deutschsprachiger Theologen in der islamischen Welt sehr klein ist. Wichtiger ist, dass der dialogische Weg Angehörigen einer Religion noch wenig vertraut ist, die sich erst in jüngster Zeit aufgefordert sehen, ihn in der Begegnung mit anderen Religionen, insbesondere der christlichen, zu beschreiten. Auch dialogisiert es sich aus der Perspektive einer Glaubensgemeinschaft schwerer, die sich in ihrer Selbstwahrnehmung eher in der Defensive wähnt. Demgegenüber hat auf nichtmuslimischer Seite der christlich-islamische Dialog einen wirkungsmächtigen Vorgänger im christlich-jüdischen Dialog. Der quantitativen Unausgewogenheit (das Verhältnis ist etwa zwei zu eins zugunsten nichtmuslimischer Beiträge) entspricht die Verschiedenheit der Perspektive auf den Dialog. Den nichtmuslimischen Wortführern ist der Dialog selbst ein Problem, das einer konstruktiven Begründung und Rechtfertigung aus der Religion selbst heraus bedarf. Die Beiträge muslimischer Autoren scheinen – im Großen und Ganzen – eine unmittelbar oder mittelbar defensive Einstellung zur dialogischen Begegnung zu reflektieren. Sie sind affirmativ in Sachen ihrer Religion: Der Islam sei nicht gewalttätig; der Islam verkörpere die „Alltagstheozentrizität“; der Islam bringe dem Menschen Frieden und Glückseligkeit; weitere ähnliche affirmative Feststellungen lassen sich in den Beiträgen finden. Es nimmt nicht wunder, dass den muslimischen Beiträgen durchweg die theologische, kulturwissenschaftliche sowie politik- und gesellschaftswissenschaftliche Tiefendimension abgeht, die eine Reihe der nichtmuslimischen Beiträge auszeichnet. Mit Nachdruck sei unterstrichen, dass diese Feststellung keine Kritik bedeutet; sie ist nur interessant mit Blick auf sehr unterschiedliche Traditionen der Interaktion von Religion, Politik und Gesellschaft, die auch unterschiedliche Dialogkulturen hervorgebracht haben. Das Ereignis, das die Dringlichkeit eines klärenden Gesprächs gerade auch in religiöser Dimension unabdingbar gemacht hat, war das Terrorattentat vom 11. September 2001. Es durchzieht zahlreiche Beiträge wie ein roter Faden. Kategorisch erklärt Zekeriya Beyaz, dass jede Art von Gewalt im Widerspruch zum Islam stehe. Hans Kippenberg stellt fest, dass Religion nicht verbindlich sei, sondern erst als von den Gläubigen gemachtes „Deutungsmuster“ die eigenen (auch gewalttätigen) Handlungen legitimiere. Auch Hamed Abdel-Samad sieht keinen direkten Zusammenhang zwischen Religiosität und Radikalität; vielmehr machten gesellschaftliche und politische Fehlentwicklungen Menschen für Terrorismus potenziell anfällig. Einen Aggressions- und Destruktionstrieb sieht Dieter Ohlmeier im Menschen, welchen in Schranken zu setzen die Kultur alles aufbieten müsse. Der 11. September 2001 aber wäre „nur“ ein tragisches Ereignis im Rahmen der internationalen Politik geblieben und hätte sich wohl kaum derart nachhaltig als Impuls des Dialogs erwiesen, wäre nicht durch die Migration, d. h. durch die Einwanderung von Millionen von Muslimen nach Deutschland und Westeuropa eine neuartige Realität mit Blick auf das Verhältnis der Religionen erwachsen. Der Beitrag der Muslime zur Veränderung der deutschen Gesellschaft, mithin also das Thema der Integration, wird angesprochen. Dies durchaus nicht nur im materiellen Sinne. Von der „Alltagstheozentri-
Einleitung
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zität“ war bereits die Rede. Der deutsche Muslim Wolf-Dieter Achmed Aries sieht in ihr die Alternative zu einer Säkularität, die er als „Horror der humanen Selbstentzauberung“ empfindet. Die Begegnung von und mit religiösen Menschen eröffnet auch für Thomas Lemmen den Blick auf tieferliegende gesellschaftliche Dimensionen: Sie können im zwischenmenschlichen Miteinander, in der Verbesserung der Lebensverhältnisse, im theologischen Austausch sowie in spirituellen Erlebnissen liegen. Nachhaltig sei die Rechtsordnung von der Implantation des Islam in Deutschland berührt. Diese hätte nach Mathias Rohe für „Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander“ zu sorgen; aber nicht alles sei zu verbieten, was einem oder vielen nicht gefalle. Auch die Diskussion um die „Islamische Charta“, die 2002 vom Zentralrat der Muslime in Deutschland veröffentlicht wurde, macht deutlich, dass religiöse Integration von Muslimen keine Einbahnstraße ist. Sie will einen Beitrag dazu leisten, was der Vorsitzende des Zentralrates, Nadeem Elyas, als ein „Mindestmaß an Vertrauen und Respekt“ bezeichnet. So wichtig und zeitgerecht das Dokument sowohl gesellschaftspolitisch als auch theologisch ist – auch innerislamisch ist darüber ein Dialog entbrannt –, so müssen doch Rückfragen zu „ambivalenten Botschaften“ (Martin Affolderbach) gestellt werden. Wenn die Charta feststellt, dass jeder ein Recht habe, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben, so scheint hier eine Variante von Islam am Horizont sichtbar zu werden, der in den vergangenen Jahren das Attribut „europäisch“ verliehen worden ist. Misstrauen aber ist in der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft, namentlich hinsichtlich einer verborgenen gesellschaftspolitischen Agenda, noch nicht ausgeräumt. Dies hat vor allem die „Kopftuchdebatte“, d. h. der Streit um das Kopftuch einer muslimischen beamteten Lehrerin, gezeigt. Jenseits der konkreten Achsen, an denen sich die Beiträge festmachen lassen, ist „Toleranz“ die Klammer, die die Beiträge bei allen Unterschieden zu einem Ganzen zusammenbringt. Toleranz hat viele Namen und beinhaltet viele Konzepte; auf vielfache Weise wird sie umschrieben. Solche Umschreibungen sind etwa „gemeinsame Weltverantwortung“ (Dietrich Korsch); Erwidern, Werten, Teilen, Sich-Mitteilen als „Universalien des soziomoralischen Lebens“ (Karl Otto Hondrich). Toleranz aber bedeutet nicht Beliebigkeit. Vielmehr können andere Religionen nur verstanden werden, wenn ein Teil dieses Verständnisses ihr eigenes anderes Verständnis darstellt; und Verständigungsversuche ohne greifbare Identität sind sinnlos. Der Dialog der Religionen vollzieht sich im Dialog miteinander in ihren jeweils eigenen Sprachen. Nur wenn sie „begreifen, wie weit die eigene Toleranz mit der Toleranz Gottes“ zu tun hat, wird das Gespräch fruchtbar werden können. Wenn aber Toleranz einerseits Ausdruck von Dialogfähigkeit und andererseits zugleich Ziel des Dialogs ist, dann liegt es nahe, auf Nathan den Weisen zu rekurrieren. In einer Reihe von Thesen, die durch Erzählungen aus „1001 Nacht“, aus der italienisch-jüdischen Fassung von Nathan dem Weisen, aus Bibeltexten und aus Suren des Korans angereichert sind, kommt Martin Leiner zu Ergebnissen, die er als „Hoffnung für die Gegenwart“ bezeichnet: „Das Gespräch zwischen Juden, Christen und Muslimen ist nach vielfältiger Erfahrung für jede der anderen Religionen ein ausgezeichneter Ort, an dem sich Gottes Wahrheit ereignen kann.“ Für das Ereignis von Wahrheit, nicht die Feststellung der Wahrheit selbst, bieten die
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Evangelischen Akademien ein lebhaftes Gesprächsforum. Im Lichte der Tagespolitik, die im Nahen Osten und weithin in der islamischen Welt sowie unter Muslimen eine besondere Dramatik aufweist, erscheint Dialog bisweilen verzweiflungsvoll ohnmächtig und folgenlos. Macht der Dialog angesichts von Krieg, Gewalt und Terror wirklich Sinn? Was kann er bewirken? Auch der vorliegende Band gibt keine konkrete Handlungsanweisung, vermittelt nicht Ergebnisse. Aber er erweckt Hoffnung, dass sich vollziehen möge, was Leiner das „Gewinnen von Zuhörerschaft“ nennt.
Distanz und Nähe unterscheiden
Am Anfang des Dialogs stehen die Dialogpartner. Dass diese Partnerschaft herzustellen nicht ganz leicht ist, ist das – überraschende? – Ergebnis der Lektüre der nachfolgenden sechs Beiträge. Die Reflexionen der christlichen Theologen kreisen um die Begründung des Dialogs in religiöser Dimension. Ein Beitrag aus der Feder eines islamischen Theologen – ist insofern „handfester“, als er auf konkrete politisch-gesellschaftliche Ziele des interreligiösen Dialogs verweist: Frieden, Eintracht und Menschenrechte. Die theologische Verortung tritt demgegenüber in ihm zurück. Indem unverblümt Missionierungsversuche, d. h. Versuche, „muslimische Türken zu verderben und zu christianisieren“, zurückgewiesen werden, wird klargestellt, dass hier ein anderes Verständnis von Religionsdialog zugrunde liegt. Es geht nicht um die Religion selbst und die Parameter des Dialogs in religiöser Perspektive, sondern um konkrete politische und gesellschaftliche Erscheinungsformen und Tatbestände, die mit der – islamischen – Religion und Gemeinde in Verbindung gebracht werden. Wichtig ist zu unterstreichen, dass der christlich-islamische(-jüdische) Dialog keine innerdeutsche Veranstaltung ist. Die überwältigende Mehrheit der Muslime hierzulande (und anderswo in Europa) hat ihre Wurzeln in der Türkei (bzw. anderswo in der islamischen Welt). Ihr Wahrnehmungshorizont ist noch ein anderer – ein Migrantensein lässt einen Muslim die Probleme der Gesellschaft in Deutschland anders sehen als einen Deutschstämmigen. Dies lässt auch der kurze Beitrag des einzigen deutschstämmigen Muslims erkennen: Für ihn bedeutet Muslimsein offenbar weniger eine besondere Existenzweise; mit der „Postmoderne als dem Raum der Rückkehr der Religion“ verleiht er dem Religionsdialog eine andere Akzentuierung, als sie von jenen Muslimen vorgenommen wird, die in der Türkei ihren Ursprung haben. Udo Steinbach
Dietrich Korsch
Risiken des Monotheismus in der Moderne 1. Das Judentum, das Christentum und der Islam sind monotheistische Religionen. Das heißt, ich gehe vom Selbstverständnis aller drei Religionen aus, monotheistisch zu sein. 2. Ich gehe davon aus, dass monotheistische Religionen eine vergleichbare Struktur aufweisen und damit vor ähnliche Probleme gestellt sind, was die Artikulation ihres religiösen Anliegens angeht. 3. Ich gehe davon aus, dass Judentum, Christentum und Islam – bei aller inneren Differenzierung in den Religionen und bei aller äußeren Vielfalt ihres Vorkommens in der Welt – ihren Glauben in der modernen Welt geschichtlich verantworten wollen und dass sich von daher auch vergleichbare Probleme im Umgang mit der Welt, in der wir leben, ergeben. Drei monotheistische Glaubensweisen – mit vergleichbaren inneren Anforderungen und mit gemeinsamer Weltverantwortung. Das ist der Rahmen, auf den ich das Verhältnis von Christentum und Islam in diesem Beitrag einschränke.
I. Monotheismus und Pluralismus These 1: Monotheistische Religionen unterliegen einer mit ihnen selbst verbundenen inneren Dialektik. Einerseits stellen sie eine grandiose Vereinfachung und Vereinheitlichung des Lebens dar, andererseits erzeugen sie gerade dadurch eine Vielfalt der Lebensäußerungen, die die Einheit vor Anwendungsprobleme stellt. Bei diesem Thema ist es fast unvermeidlich, mit einem berühmten Zitat Max Webers aus dem Jahr 1919 zu beginnen: „Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus jeder religiösen Prophetie [sc. jedem Monotheismus!] quillt, hatte die[se] Vielgötterei entthront zugunsten des ‚Einen, das Not tut‘ – und hatte dann, angesichts der Realitäten des äußeren und inneren Lebens, sich zu jenen Kompromissen und Relativierungen genötigt gesehen, wie wir alle es aus der Geschichte des Christentums kennen. Heute aber ist es religiöser ‚Alltag‘. Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander ihren ewigen Kampf“ (Wissenschaft als Beruf, Berlin 1967, 28). Darin ist die Dialektik ausgesprochen, die ich in meiner These meine. Wie kommt es dazu? Einige funktionale Beobachtungen können diese Frage klären. (Ich beziehe mich im Folgenden auf einen sehr erhellenden Aufsatz des Zürcher Religionsgeschichtlers und Alttestamentlers Fritz Stolz: Wesen und Funktion des Monotheismus, EvTh 61, 2001, S. 172–189.)
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Der Monotheismus stellt im Verhältnis zum Polytheismus eine große und durchgreifende Umgestaltung des religiösen Symbolsystems dar. Polytheismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Orientierungen im Raum, in der Zeit und im Sozialsystem sehr eng mit lokalen Gegebenheiten des Lebens verknüpfen. Dabei werden die einzelnen Funktionen tendenziell für sich behandelt – auf der Ebene der Gottheiten kommt es dann zu Konflikten und Turbulenzen, die im Pantheon ausgeglichen werden müssen. Die griechische Mythologie gibt davon eine deutliche Anschauung. Der Monotheismus sagt stattdessen: Gott ist überall. Gott bestimmt die Zeit. Gott ist der Herr. Wenn Gott überall ist, dann ist er nirgends sichtbar. Dann zeigt sich seine Macht eben nicht an heiligen Orten, sondern in der Bestimmung der Lebenszeit; Zeit ist die Art und Weise, wie der überall präsente Gott mitgeht. Darum kann man von ihm keine Bilder machen, sondern muss ihn sprachlich in Erinnerung rufen (das dann freilich auch in der Form von Sprach-Bildern oder Metaphern). Gottes Herrschaft drückt sich dann auch nicht unmittelbar in weltlichen Herrschaftsgebilden aus, sondern zielt auf die innere Lebensführung – Gott herrscht über das Gewissen. Und Gott wird verehrt im Glauben. Damit ergibt sich das erste strukturelle Hauptproblem des Monotheismus: Wie und wo kann mit Gott Verbindung gesucht und gehalten werden? Seine Allgegenwart und seine Allmacht erweist Gott im Glauben und im Gewissen. Im Glauben als einer Ausrichtung des Herzens auf Gott, im Gewissen als einer Orientierung des Handelns an Gott. Insofern bedeutet der Monotheismus eine ungeheure Vertiefung des religiösen Verhaltens. Eine Vertiefung, die die Menschen befreit vom Eingebundensein in enge und beengende Lebensverhältnisse. Darum folgt aus dem Monotheismus auch eine ungeheure Steigerung der Kompetenz zur Weltbearbeitung und Weltbeherrschung. Allerdings tritt genau hier schon die Dialektik des Monotheismus in Erscheinung. Denn im Glauben und Gewissen geht es immer darum, die ja nicht zu leugnende Vielfalt des Lebens auf ein einheitliches Prinzip hin zu bestimmen; insofern setzt der Monotheismus eine zu reduzierende Pluralität strukturell voraus. Aber nicht nur das; insoweit könnte man sich ja vorstellen, dass die Pluralität eben streng und konsequent beherrscht und reduziert würde. Was darüber hinausreicht, ist dies: Der Monotheismus ist gerade aufgrund des Gottesverhältnisses, das er umschreibt, und aufgrund der Gewissensbefreiung, die er bedeutet, selbst produktiv im Aufbau neuer Pluralitäten. Das lässt sich am einfachsten veranschaulichen im Bild unserer modernen Welt, die sich aus den Fähigkeiten zur technisch-industriellen Weltbearbeitung erzeugt hat. In dem Maße, wie diese Weltbearbeitung und Weltgestaltung sich erfolgreich erweisen, stärkt sich ihr Anspruch auf eine Bestimmung oder jedenfalls Mitbestimmung unseres Lebens. Das Beispiel der Sonntagsruhe mag als eines für viele hier genügen. Das heißt: Der Monotheismus bringt hervor und steigert einen Konflikt, in dem seine Beibehaltung und Durchsetzung selbst gefährdet werden. Das ist aber kein Zufall, nichts, was dem Monotheismus von außen widerfährt, er ist selbst daran beteiligt. Insofern wird es wenig helfen, diese eigenen Anteile nach außen (in die „böse Welt“) abzuspalten und etwa die Moderne zu dämonisieren. Dem Pluralismus der Moderne muss der Monotheismus von innen widerstehen, wenn er Bestand haben soll.
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II. Monotheismus und Geschichte Eine weitere, vielleicht noch größere Schwierigkeit des Monotheismus ist sein problematisches Verhältnis zwischen unbedingtem Geltungsanspruch und geschichtlichem Gewordensein. These 2: Monotheistische Religionen treten in der Geschichte mit einem unbedingten und unbeschränkten Geltungsanspruch auf. Sie stellen sich damit selbst vor das Problem, ihr Verhältnis zur Geschichte zu klären; sowohl zur Geschichte ihrer eigenen Herkunft als auch zur Weltgeschichte, auf die sie Anspruch erheben. Die historische Forschung am Alten Testament hat in den letzten Jahrzehnten deutlich erkennen lassen, wann und wie der Monotheismus Israels sich herausgebildet hat. Es ist die Zeit des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert vor Christus gewesen – fern vom Land und vom Tempel und konfrontiert mit der Götterwelt Babylons –, die den Monotheismus in Israel hat zur Durchsetzung gelangen lassen. Erst hier hat sich die Erinnerungskultur vollends aufgebaut, durch die Gott als immer und überall gegenwärtig und als Herr der Zeit und der Zukunft bekannt wurde. Das heißt, es sind bestimmte historische und soziale Umstände gewesen, die zum Monotheismus geführt haben. Erst dann konnten die Gründungsurkunden des Volkes Israel in der Weise bearbeitet werden, dass sie auf den einen Gott hinzielen – was sich dann insbesondere an der Offenbarung des Gesetzes am Sinai (und vor allem am Ersten Gebot des Dekalogs) und dem dieser Offenbarung entsprechenden Sh‘ma Jisrael (Dt 7,6) zeigt, was sich dann auch in der die ganze Welt einschließenden Schöpfungsgeschichte spiegelt. Nun hat Israel nie die Möglichkeit gehabt, diese weltumspannende Präsenz seines einen Gottes weltgeschichtlich durchzusetzen; insofern ist dem israelitischen Monotheismus von Anfang an das Bedürfnis eingeschrieben, sich über das Spannungsverhältnis von Glaubensanspruch und Weltwirklichkeit Rechenschaft zu geben; ein Problem, das wesentlich im Ausgriff auf eine Endzeit bewältigt wurde, in der nur noch Gott geschichtlicher Akteur ist. Der christliche Monotheismus lebt vom jüdischen, modifiziert ihn aber an einer entscheidenden Stelle. Einerseits vergegenwärtigt Jesus von Nazareth in seiner Reich-GottesVerkündigung die ausstehende Endzeit zur unmittelbar bevorstehenden Jetzt-Zeit. Andererseits versteht die frühe Christenheit nach Jesu Tod und Auferstehung die Gegenwart Gottes als durch Jesus selbst verwirklicht. Damit wird die ausstehende Zeit der Vollendung in die jeweilige Gegenwart hineingeholt; Gott so zu verstehen zu lehren, macht die besondere und unersetzlich grundlegende Funktion Jesu im Christentum aus. Allerdings wird damit das Problem der Geschichte noch einmal sehr verschärft. Denn jetzt ist sie in die Begründung des Wahrheitsanspruchs des Christentums selbst eingezogen. Jesus als Offenbarer Gottes ist ein geschichtlicher Mensch. Auch beim Propheten Mohammed ist die zeitliche Verortung ein ganz wesentliches Moment seiner Botschaft. Sie ist ja mit den historischen und politischen Verhältnissen in Mekka und Medina aufs engste verknüpft. Gleichwohl wird der Koran, was seine Geltung angeht, als überzeitlich geglaubt. Er ist in seinem vollen Bestand gerade nicht historisch abhängig. Allerdings gibt es auch so etwas wie einen historischen Rand im Bestand des islamischen Glaubens selbst, nämlich die beinahe kanonische Rolle der Überlieferungen
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vom Propheten, die mindestens für die Auslegung des Korans eine bedeutende Rolle spielen. Wenn denn das Verhältnis von Religion und Geschichte hinsichtlich des Ursprungs der Religion durch das Motiv der Offenbarung gelöst wird – wie ist von da aus die weiterlaufende Geschichte zu verstehen? Wie verhält sich die Offenbarung in der Geschichte zu der Geschichte, in der auch die Offenbarung nur ein Moment ist? Kann man die Offenbarung auch unter der Bedingung der fortlaufenden Geschichte in ihrer Geltung behaupten und begründen? Und wie macht man das? Das ist eine Frage, die sich die Religionen jeweils selbst stellen müssen. Grundsätzlich sind drei Modelle denkbar: Das erste will die Geltung über die Geschichte herrschen lassen. Was immer also in der Geschichte geschieht – im Vergleich mit der absoluten Geltungsnorm des Anfangs ist alles, was folgt, ein Abfall, den am Ende nur Gott selbst aufhalten oder zurecht bringen oder jedenfalls richterlich beurteilen kann. Das zweite Modell schiebt den Geltungsanspruch in die Geschichte hinein: Die Wahrheit der Religion verwirklicht sich eben im historischen Verlauf; die Frage, ob und in welcher Weise sich die Menschen daran beteiligen können, sollen oder müssen, kann dabei verschieden beantwortet werden. Das dritte Modell ist das der Koexistenz von Geschichte und Geltung. Dabei muss eine Geltung gedacht werden, die, obwohl sie geschichtlich aufgetreten ist, doch in der fortlaufenden Geschichte sich selbst verifiziert; dabei kann dann die Mitwirkung der Menschen nur eine mediale, keine konstitutive sein; auch kann die Bedeutung der Geschichte selbst für die Überzeugung von der Wahrheit der Religion keine schlechthin ausschlaggebende sein, weder im positiven noch im negativen Sinn. Diese Typen kommen in ihrer Klarheit und Unterschiedenheit erst in der Moderne zu Bewusstsein. Es lässt sich dann aber auch – schon strukturell – sagen, dass die beiden ersten Modelle, das des Abfalls und das des Aufstiegs, angesichts des modernen, aus dem Monotheismus selbst herstammenden Pluralismus unterkomplex sind. Gesucht werden sollte darum nach Möglichkeiten, religiöse Geltung am ehesten nach dem dritten Modell zu verstehen. Allerdings muss man auch sagen, dass es Realisierungsversuche aller drei möglichen Optionen in allen drei Religionen gibt: Fundamentalismus – Geschichtsoptimismus – Liberalismus. Gerade die monotheistischen Religionen bauen ein enges Verhältnis zu einer verbindlichen Lebensgestalt im Glauben auf; darunter fällt nicht nur die Ethik, sondern auch das Recht. Dabei ist die islamische Verknüpfung von Religion und Recht die engste, jedenfalls die am weitesten im Islam selbst verbreitete. Nun ist das Recht seiner Natur nach konservativ. Wenn aber die Geschichte des Monotheismus selbst Pluralisierungen hervorbringt, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen neuen Entwicklungen und altem Recht (Zinsen im modernen Kapitalismus auf der einen Seite – koranisches Zinsverbot auf der anderen, als Beispiel). Wie kann dieses Verhältnis bestimmt werden? Wer nimmt die lebensnotwendigen Anpassungen oder Deutungen vor? Ich vermute, diese Frage hängt mit der von Geltung und Geschichte eng zusammen. Sie berührt auch eine weitere Frage, nämlich die nach der Art und Weise der Vermittlung der Geltungsprinzipien in der Gegenwart. Damit ist die religiöse Organisation angesprochen. Hier gibt es bekanntlich verschiedene Modelle – vom katholischen Christen-
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tum und seiner Einheitsstruktur über die Rechtsschulen des Islam bis zu dem Reichtum religiöser Richtungen im Judentum. Eine von mir „liberal“ genannte Verantwortung für das Geltendmachen der religiösen Prinzipien müsste hier auf eine möglichst breite und rationale Beteiligung aller Betroffenen, vor allem der Gläubigen selbst, achten.
III. Monotheismus und Moderne These 3: Monotheistische Religionen müssen die von ihnen selbst beförderte Pluralisierung in der Geschichte verantworten. Sie müssen dafür nach Instanzen suchen, die es erlauben, Einheit und Vielfalt auf individuell überzeugende Weise zusammenzubringen. Sie müssen ein Modell ihrer Präsenz in der Gegenwart entwerfen, das die Durchsetzung der Wahrheit der Religion und den Erfolg in der Geschichte zu unterscheiden erlaubt. An dieser Stelle verlasse ich jetzt die Perspektive des religionsgeschichtlichen Beobachters und nehme die Position des christlichen Theologen ein – ohne dabei die bisherigen Überlegungen zu vergessen. Aber wenn es um die Reaktionen auf die angesprochenen Bedingungen geht, dann kann jede Religion nur für sich selbst sprechen. Man wird dann sehen müssen – und das ist natürlich das Spannendste –, ob sich Konvergenzen ergeben und welche das sein können. 1. Also zuerst das Pluralismus-Problem. Im Jahr 1957 hat der amerikanische Theologe Helmut Richard Niebuhr an der University von Nebraska die Montgomery Lecture on Contemporary Civilisation gehalten (erschienen Lincoln, Nebraska 1960). Sie trägt den Titel „Radical Monotheism and Western Civilization“. Zwei Grundgedanken aus dieser Schrift lege ich meinen Überlegungen zugrunde. Erstens. Niebuhr hat gemeint, einen Begriff des radikalen Monotheismus entwickeln zu können, der auf das Phänomen eines radikalen Glaubens hinausläuft. Damit ist gemeint, dass es in der Sinnrichtung des Monotheismus selbst liegt, dass es immer weniger auf irgendwelche dogmatischen Gehalte und weltanschaulichen Vorstellungen als Essenz des Monotheismus ankommt, sondern auf die Art und Weise, wie der eine Gott im Bewusstsein und in den Herzen der Gläubigen präsent ist. In dem Maße, wie die Tiefe des Glaubens wächst als ein unbedingtes Sichverlassen, in dem Maße erreicht der Monotheismus sein historisch und religionsgeschichtliches Ziel, nämlich die Menschen vor Gott gleich sein zu lassen. Nun verbindet sich mit diesem Gedanken, der unzweifelhaft aus dem Protestantismus stammt, ein anderer, und der macht erst die eigentliche Pointe aus. Dieser Glaube, so meint Niebuhr, läuft aber auf eine doppelte Loyalität hinaus. Einmal ist im Gottesglauben unmittelbar ein Gottvertrauen gegeben, das sich an Gott halten will und hält. Sodann aber gibt es, weil der Glaube immer in pluralen gesellschaftlichen und geschichtlichen Zusammenhängen lebt, auch eine Loyalität mit dem Staat und der Kultur und der Wissenschaft. Und dies gerade insofern, als die unbedingte Loyalität mit Gott nicht in Konkurrenz tritt mit den Zugehörigkeiten zur Pluralität der Lebensumstände. Das gilt aber nur unter zwei Voraussetzungen. Nämlich einmal, dass die Lebensumstände die Artikulation „radikalen Glaubens“ nicht ausschließen, also dass der Staat und die Wissenschaft
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sich aller Maßregelung des Glaubens enthalten – und dass es außerdem möglich ist, die tatsächliche historische Erscheinungsweise pluraler Lebensumstände aus dem Blickwinkel eines „radikalen Glaubens“ auch zu kritisieren. Das heißt nun zusammengenommen: Es gibt eine sehr tiefe Allianz von radikalem Monotheismus, demokratischer politischer Kultur und wissenschaftlicher Freiheit. Aus dem Glauben heraus ist die Politik befragbar, ohne dass sie nach den Maßstäben bestimmter religiöser Vorstellungen gemessen werden müsste; denn ihr Auftrag besteht eben in der Garantie, die Freiheit zur Kritik auch weiterhin möglich zu halten. Die damit in Anspruch genommene Unterscheidung zwischen Staat und Glaube würde aber gerade negiert, wenn man auf eine zu enge materiale Übereinstimmung von Politik, Wissenschaft und Religion hinauswollte. Die Unterscheidung zwischen vorgegebenen religiösen Traditionen einerseits und freiem monotheistischen Glauben andererseits ist m.E. der Kernpunkt dieser Argumentation, die damit rechnet, dass aufgrund des festen Glaubens den religiösen Traditionen zugestimmt werden kann – auch dann, wenn sie nicht in einem inhaltlichen Sinn für alle verbindlich gemacht werden können und sollen. Monotheismus in diesem Verständnis wäre die Begründung von Pluralismusfähigkeit. Zwei Fragen schließen sich an dieses eindrucksvolle Konzept Niebuhrs an. Eine geht an das Konzept selbst. Wie müsste heute ein Glaube verfasst sein und artikuliert werden, der sich diese Differenz zwischen seiner eigenen unbedingten Geltung und seinen eigenen religiösen Erscheinungsformen leisten kann? Was bedeutet ein solcher Glaube unter den Bedingungen der Medienpräsenz, die sich in der Regel eine solche Differenzierung nicht leistet? Die zweite Frage betrifft die monotheistischen Religionen selbst. Sind sie in der Lage, sich selbst auf eine solche den Pluralismus fördernde Selbstdarstellung einzulassen? Trauen sie dem Glauben so viel zu? Oder meinen sie, dem Glauben so viel nicht zutrauen zu dürfen, und müssen sie deshalb versuchen, ihre Autorität möglichst direkt durchzusetzen, um befürchtete Abwege zu vermeiden? Wie aber verhalten sie sich dann zu der Pluralismustendenz, die ihnen selbst innewohnt? 2. Ich komme zum Problem der Geschichte – und knüpfe wieder an einen großen evangelischen Theologen an. In seiner monumentalen Kirchlichen Dogmatik hat Karl Barth am Ende der Lehre von Christus einen sehr spannenden Gedanken entwickelt, den ich ganz kurz andeute (KD IV/3). Barth war der Überzeugung, dass die Wahrheit der Geschichte Jesu Christi nicht darin aufgeht, dass er einmal in der Geschichte da war, so dass wir als die Christen uns nun an ihn anhand der heiligen Texte der Bibel erinnern müssten. Wenn das so wäre, dann müssten wir vor dem Problem der Geschichte kapitulieren. Denn dann würde die Fähigkeit zur Vergegenwärtigung bei uns liegen; wir wären dann auch mit allen Schwierigkeiten beladen, uns nicht nur eine sichere Kenntnis der Historie Jesu zu verschaffen, sondern auch seine religiöse Wahrheit im Kontext der Religionsgeschichte zu verantworten. Die Wahrheit des Christentums läge dann bei der religiösen Organisation der Christenheit. So aber ist es nicht. Vielmehr ist es der Sinn der Geschichte Jesu selbst, dass sie sich selbst bezeugt und vermittelt. Noch genauer gesagt: Jesus Christus bezeugt sich selbst in der Geschichte. Und da, wo wir unseren Glauben bekennen, geht es gar nicht um uns selbst und unsere Kapazität zur Vermittlung von Religion, sondern um Christus. Wir sind nur seine Zeugen, wie Barth sich ausdrückt.
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Das ist eine Herabstufung der religiösen Autorität, welche Gestalt sie auch immer annimmt. Sozusagen, in unserem Zusammenhang gelesen, eine innerreligiöse Entsprechung zu Niebuhrs radikalem Glauben, die Ermöglichung von Kirchenkritik aus dem Motiv des Glaubens selbst. Zugleich aber ist das eine Bedingung für die Glaubwürdigkeit des Christentums unter den Bedingungen der Geschichte. Denn es ist eben nicht das Christentum als Religion – in seiner unvermeidlichen kirchlichen Gestalt –, das für die Wahrheit des einen Gottes einsteht, sondern Gott selbst in der Gestalt seines Sohnes, der das fundamental uns zugewandte Wesen Gottes zur Erkenntnis bringt. Wohlgemerkt: Das tut er selbst und er allein. Darin liegt dann auch die Möglichkeit der religiösen Toleranz, ja der Anerkennung anderer Religionen; nicht aus einem übergeordneten Prinzip der Religionsgeschichte, sondern aus dem sachlichen Gehalt des Christentums selbst. Pluralismus und Geschichte – das sind die beiden stärksten Herausforderungen der monotheistischen Religionen in der Gegenwart. Die Frage ist, wie diese Herausforderungen in den Religionen selbst wahrgenommen werden. Sicher ist, dass beide, Pluralismus und Geschichte, selbst in den Horizont der monotheistischen Religionen gehören und nicht nur eine bedauerliche Rahmenerscheinung wahren Glaubens sind; schon insofern kann sich keine der monotheistischen Religionen ihnen entziehen. Allerdings muss man wohl auch sagen, dass diese selbst mit hervorgebrachten Umstände unseres Lebens heute von so großem Druck sind und so viel tief begründeten Glauben benötigen, um in ihnen standzuhalten, dass es geboten scheint, jede, aber auch wirklich jede Möglichkeit zu nutzen, diesen Herausforderungen gemeinsam standzuhalten. Ob und wie weit das geht – das ist für mich die noch spannendere Frage als die nach einem religionsgeschichtlichen Vergleich oder nach einer dogmatischen Debatte zwischen den monotheistischen Religionen. Diese Debatten kann man auch führen; sie sollten aber im Licht der gemeinsamen Weltverantwortung stehen.
Zekeriya Beyaz
Grundwerte in christlicher und islamischer Gesellschaft I. Der Terror vom 11. September – Seine Verbindung mit dem Islam und seine Beschaffenheit Den am 11. September 2001 gegen die Zwillingstürme des World Trade Center in New York und das Pentagongebäude gerichteten brutalen Terroranschlag verurteile und verwünsche ich mit Schärfe und Abscheu. Vom erhabenen Gott Gnade den Tausenden unschuldigen Menschen, die ihr Leben ließen, ihren Familien und dem amerikanischen Volk sage ich mein herzliches Beileid. Außerdem bete ich zum erhabenen Gott, dass er die ganze Menschheit vor solchen Terrorverhängnissen schütze. Nachdem bekannt geworden war, dass die Terroristen vom 11. September insgesamt arabisch-muslimisch waren, wurde von vielen eine Verbindung des Islam und der Muslime mit dem Terror behauptet. Es ist gesagt worden, dass dem Islam eine den Terror unterstützende Beschaffenheit eigen sei, ja, dass Muslime einen Hang zum Terrorismus hätten. Manche Muslime wurden sogar angegriffen, und es wurde ihnen Schaden zugefügt. Der erhabene islamische Glaube verbietet grundsätzlich jede Art von Terror, Mord und Verletzungen der Menschenrechte. Der Name unseres eigenen Glaubens, das Wort Islam hat die Bedeutung Frieden und Eintracht. Im Koran, dem heiligen Buch des Islam, gibt es sehr viele Verse, die Mord, Tötung, Angriff, Unterdrückung und Terror verbieten. Es ist davon auszugehen, dass diese allen bekannt sind und deshalb überhaupt keine Notwendigkeit besteht, sie hier zu wiederholen. Ja, der Islam hat ein Verhältnis zum Terror, aber es ist eine Verbindung des Terrorverbots, seine Missbilligung und Verfluchung. Im Grunde befürwortet keine Religion, keine Philosophie und kein Glaubenssystem, Terror gegen unschuldige Menschen zu richten und sie zu töten. Wir Türken sind eine verletzte Nation, die in den vergangenen 20 Jahren wegen separatistischen Terrors 30000 ihrer Menschen geopfert hat und die deshalb das Unglück Terror mehr als jedes andere Land mit großem Abscheu verurteilen und verfluchen. Nachdem alle diese Tatsachen erläutert wurden, sind wir verpflichtet zu erklären, ob es zwischen den Terroristen vom 11. September und dem Islam irgendeine Verbindung gibt. Die Beschaffenheit der Verbindung zwischen den Terroristen vom 11. September und dem Islam können wir so beschreiben: Das ist eine Art, den Islam falsch zu interpretieren und zu erklären. Der Terrorist Osama Bin Laden ist ein Feind, der dem ganzen amerikanischen Staat eine Front eröffnete. Die Terroristen haben auch das amerikanische Volk, weil sie diesem Staat Steuern zahlen, als mithelfende Soldaten interpretiert und deshalb
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den amerikanischen Staat und sein Volk als den Feind an der Front bestimmt, der mit ihnen, also mit den Muslimen, kämpft. Diese Deutung ist falsch und abweichend. Weder die USA noch das Volk der USA stehen im Krieg mit dem Islam und den Muslimen, so etwas gibt es nicht. Um die Wahrheit zu sagen kämpfen die Terroristen auf diese Art darum, das Arabertum und die Rechte der Araber zu verteidigen. Die Religion Islam gebrauchen sie an dieser Stelle als Motivationsund Legitimationswerkzeug. Denn da sie davon ausgehen, islamischen Dschihad zu machen, glauben sie, dass sie ins Paradies eingehen werden. Wer blind terrorisiert, überantwortet seine Seele dem Höllenfeuer. Wir fassen zusammen: Der Islam verbietet jede Art Terror und kritisiert ihn. Die Terroristen haben den Islam als Motivations- und Legitimationswerkzeug missbraucht. Aus diesem Grund haben sie falsche und abweichende Erklärungen abgegeben, haben dem Islam und den Muslimen Schaden zugefügt. Als Resultat gilt festzuhalten: Der Grund für den Terror vom 11. September ist nicht im Islam zu suchen, sondern in der seit 50 Jahren ungelösten Palästina-Frage. Diese Tatsache müssen vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika verstehen und müssen dieses Problem einer schnellen und gerechten Lösung zuführen.
II. Dialog zwischen den Religionen und Aufrichtigkeit Fast die ganze Menschheit hat in der Geschichte durch Religionskriege viel Leid erfahren. Es ist an der Zeit in die Tat umzusetzen, dass diese Epoche abgeschlossen wird und dass die Religionen der Menschheit allein zu ihrem Glück dienen sollen. Der Weg dorthin muss über einen aufrichtig geführten Dialog zwischen den Religionen gesucht werden. Wir glauben als türkische Theologen, dass wir den interreligiösen Dialog mit Aufrichtigkeit praktizieren können, um den Menschen zum Frieden und zur Eintracht zu verhelfen. Dazu gehört auch, dass die Menschenrechte besser geschützt werden. Aus diesem Grund unterstützen wir sie. Wir nehmen an jeder Veranstaltung teil, die einen Beitrag zum Dialog der Religionen leisten will; wir organisieren selbst Veranstaltungen. Unsere Aussagen über die Religionen machen wir in positiver und ausgewogener Form; den Studenten unserer theologischen Fakultät vermitteln wir das für den Dialog der Religionen entsprechende Wissen. Wir setzen bei unseren Studenten alles daran, dass Frieden und Brüderlichkeit zwischen den Religionen in ihnen Platz findet und wächst. Man muss anerkennen, dass der interreligiöse Dialog zunächst von den Religionsführern geführt werden muss. Und dies wird nur möglich sein, wenn zwischen den Religionsführern auf gegenseitige Achtung gestützte positive und ausgewogene Beziehungen wachsen können. Denn es gibt zurzeit mehrere religiöse Gruppen, die sich unter dem Deckmantel des interreligiösen Dialogs durchsetzen wollen. Diese Art von Dialog sehen wir außerhalb der Aufrichtigkeit als Tarnung. So sieht sich mein Land, die Türkei, seit einiger Zeit gegenüber einem Ansturm christlicher Missionare betroffen. Sowohl Zeugen Jehovas als auch protestantische Missionare und für Griechenland arbeitende orthodoxe
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Missionare versuchen, unter großem Aufwand den Glauben muslimischer Türken zu verderben und zu christianisieren. Indem sie gemietete Wohnungen zu heimlichen Kirchen machen, bauen sie außerhalb des Rechtes ein Zellensystem auf. Die Missionare, von denen wir sprechen, belassen es nicht beim Christianisieren. Indem sie die Türken, die ihr Interesse finden, dazu bringen wollen, sich gegenüber Staat, Flagge, Nation und allgemein gegen unsere staatlichen Werte feindlich zu verhalten, suggerieren sie ihnen Schädliches. Alle diese Missionsversuche werden über Presse, Funk und Fernsehen dem türkischen Volk nahe gebracht und deshalb wachsen bei unseren Leuten negative Gefühle gegen die Christen. Es gibt keinen Zweifel, dass diese negativen Gefühle nicht Frieden und Brüderlichkeit säen, sondern Streit und Krieg. Solche schädlichen Bemühungen erweitern nicht den Dialog der Religionen, im Gegenteil, sie schaden ihm. Deshalb muss der interreligiöse Dialog auf gegenseitiger Achtung aufgebaut sein. Auf Durchsetzung einer Religion zielende missionarische Bemühungen, die als Dialog getarnt sind, sehen wir als ein Beispiel für Unaufrichtigkeit. Wo ich nun schon zur kontroversen Frage der Aufrichtigkeit gekommen bin, möchte ich noch einen Umstand besonders unterstreichen: Die Kalenderblätter zeigen heute den 23. 2. 2002, und für uns Muslime ist heute der erste Tag eines der zwei großen heiligen Feste das Opfer-Fest (Kurban Bayram). Wir Muslime feiern ab heute vier Tage lang und haben Urlaub und pflegen nicht zu arbeiten. Die Evangelische Akademie veranstaltet heute eine Tagung zum Dialog zwischen den Religionen. Mein Herz hätte gewünscht, die Veranstalter hätten bei der Terminplanung unsere muslimischen Feiertage beachtet. Wie gut wäre es gewesen, diese Zusammenkunft vor oder nach dem Fest abzuhalten, so dass man den Dialog in gegenseitiger Achtung entsprochen hätte. Ich möchte annehmen, dass das Zusammenfallen des Datums der Versammlung keine böse Absicht war, sondern höchstens ein Irrtum.
III. Notwendigkeit und Bedingungen für das friedliche Zusammenleben von Christen und Muslimen Es ist natürlich Wunsch und Anliegen aller, die ein modernes und gebildetes Verständnis haben, dass im Zusammenhang mit dem Dialog der Religionen Christen und Muslime in Frieden zusammenleben. Sowohl Christentum als auch Islam besitzen essenziell in ihrer Religion Grundprinzipien, die den Frieden und die Eintracht für die gesamte Menschheit zum Ziel haben. Beide Religionen wollen schließlich auch, dass alle Menschen auf dieser Welt glücklich sind und dass Unterdrückung und Ungerechtigkeiten verschwinden. Dieser Wunsch ist ihr, d. h. des Christentums und des Islam, natürliches Bedürfnis als göttliche Religionen. Denn es kann einfach nicht sein, dass es der Wille des erhabenen Gottes ist, dass die Menschen unter Unterdrückung und Aggressionen zu leiden haben. Deshalb kann niemals behauptet werden, dass in den Religionen, die Gott zur Rettung der Menschheit geschickt hat, Menschen sich unter Unterdrückung und Krieg winden müssen. Das heißt, das Problem sind nicht die Religionen, sondern es liegt bei den Gläubigen
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dieser Religionen. Um es noch deutlicher zu sagen: Das Problem liegt nicht in Christentum und Islam, sondern bei Christen und Muslimen. In dieser Situation müssen Sie als Christen und wir als Muslime zunächst uns selber und erst dann die andere Seite kritisieren und zensieren, müssen feststellen, wo bei uns Hindernisse sind für Frieden und Brüderlichkeit, und uns schnellstens ihrer Korrektur zuwenden. Kein Zweifel, dass auf diesem Weg ernste Arbeit und Einsatz notwendig sind. Freilich sollten wir nicht vergessen, dass in diesem Zusammenhang die erste und Grundbedingung für Erfolg Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind. Im Folgenden möchte ich kurz die Haltung von Muslimen und dann die der Christen zu uns Muslimen kritisieren: Die muslimischen Staaten bedürfen einer Aufklärung Mit Offenheit müssen wir erklären, dass die muslimischen Staaten für die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts noch nicht genug aufgeklärt sind. Sie sind überwiegend hängen geblieben an den Auslegungen, die vor 100 Jahren für den Islam gemacht wurden. Sie leben selbst im 21. Jahrhundert, aber ihre Köpfe leben in einer Welt, die vor 1000 Jahren von den Religionswissenschaftlern entworfen wurde. Die religiösen Schulen sind nicht von Gott geschickt worden. Die Schulen sind gegründet worden von religiösen Führern im 9. bis 11. Jahrhundert nach dem Kommen der Religion als je eine Deutung und Meinung. Diese Deutung und Meinung muss man uns nicht aufhalsen. Das würde bedeuten, die Menschen auf das, was vor 1000 Jahren galt, festzulegen und festzubinden. Dabei haben die Menschen jeder Generation, jedes Zeitalters das Recht und die Fähigkeit, die Religion nach ihren eigenen wissenschaftlichen und sozialen Ordnungen zu interpretieren. Wir Muslime sind also an diesem Punkt noch nicht so erfolgreich, wie es nötig wäre. Wenn wir den Islam nach den Gegebenheiten von heute interpretieren könnten, dann würde unsere erhabene Religion im Wesentlichen alle Menschen in eine Lage bringen, dass wir mit allen Menschen in Frieden und Brüderlichkeit leben als Fundament und unverzichtbare Grundsätze anerkennen. Man kommt nicht umhin zu sagen, dass die Grundbedingung dafür ist, sich aus dem Druck der Interpretationen der früheren Jahrhunderte zu befreien und ernst zu nehmen, dass wir im 21.Jahrhundert leben. Da wir mit unserem Gegenstand nun bis hierher gelangt sind, möchte ich doch mit Freude ausdrücken, dass wir Türken im Blick auf das Islamverständnis in einem hohen Maß einen aufgeklärten und säkularen Maßstab erreicht haben. Die Qualität des in der heutigen Türkei gelebten Islamverständnisses ist so, dass es ein Modell für die anderen muslimischen Länder darstellen wird. Die Reform und die Grundsätze des verstorbenen Atatürk haben das Fundament dafür bereitet, im Blick auf eine Neuinterpretation des Islam positive Verhältnisse zu schaffen. Die Prinzipien des Grundgesetzes der heutigen Türkei lassen sich in diesem Satz zusammenfassen: ein laizistischer, demokratischer, sozialer Rechtsstaat. Diese Prinzipien sind nicht die Sichtweise einer kleinen Minderheit, sie ist die gemeinsame Überzeugung von über 90 Prozent der türkischen Nation. Denn diese Grundsätze sind mit einem Wählerpotenzial von über 90 Prozent angenommen worden. In der Türkei verstehen die Religionsbehörde
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und die Institute, die religiöse Erziehung erteilen, ihre Aufgaben gebunden an diese Prinzipien. An der Spitze der theologischen Fakultät der Marmara-Universität, deren Dekan ich bin, wird in 20 türkischen theologischen Fakultäten eine zeitgenössische und wissenschaftliche theologische Erziehung und Lehre erteilt. Noch einmal unterstreichend möchte ich zum Ausdruck bringen, dass in der Türkei ein besonders zeitgenössisches Islamverständnis gelebt wird, dessen Niveau anderen islamischen Staaten als Vorbild dienen wird. Weil die islamischen Länder in wirtschaftlicher, technologischer, aber auch in vieler anderer Hinsicht hinter christlichen Staaten zurückgeblieben sind, haben Muslime de facto weder die Möglichkeiten noch die Fähigkeiten, den Christen irgendeine Ungerechtigkeit zuzufügen. Dass sich im 11. September auch provokatorische Einflüsse von Seiten westlicher Länder, d.h. von Christen, gefunden haben, werden wir unten erklären. Ja, so kritisieren wir kurz die Situation der muslimischen Staaten. Die christlichen Staaten sind für die Muslime nicht Hilfe, sondern Hemmschuh Es macht mich traurig zu sagen, dass die christlichen Staaten die für das friedliche Zusammenleben von Christen und Muslimen nötigen Aufgaben nicht in genügender Weise lösen. Im Gegenteil, sie führen sehr viele Aktivitäten durch, die Frieden und Ruhe zerstören. Indirekt fördern sie dadurch sowohl den Terror als auch die Verletzung der Menschenrechte. Dabei hätte den Christen wohl angestanden, den muslimischen Staaten, die auf dem Weg in eine moderne Zivilisation vorwärts zu kommen versuchten, Unterstützung zu geben, Helfer zu sein. Nein, diese Hilfe und Unterstützung wurden nicht in die Tat umgesetzt, im Gegenteil, man hat den Weg des Hemmschuhs und des Beinstellens gewählt. Diese schädliche Haltung hat in den islamischen Staaten, besonders in der jüngeren Generation zu ablehnenden Gefühlen geführt, den Weg zu allergischen Reaktionen eröffnet. Und so ist es nur ganz natürlich, dass in dieser Situation das Wachsen und Fortschreiten von Frieden und Brüderlichkeit zwischen Muslimen und Christen Schaden nehmen, ja, dass sogar Terrorgefühle entstehen werden. Ein paar Beispiele zu der falschen und schädlichen Haltung, die christliche Staaten gegen muslimische Staaten eingenommen haben: Die seit über 50 Jahren fortgesetzte Palästina-Israel-Frage führen sie einfach keiner Lösung zu. Das geht seit über 50 Jahren so. Diese Hass- und Rachegefühle werden natürlich immer wieder explodieren. Der Terror vom 11. September ist nichts anderes als eine solche Explosion. Das ist ein Ergebnis der Sozialpsychologie. Eigentlich hätten die USA und Europa das Palästina-Israel-Problem schon lange vorher lösen müssen. Was die letzten Tage angeht – vor den Augen der ganzen Welt – erwürgt Israel das palästinensische Volk. Das Haus des Führers der Palästinenser, Yassir Arafat, wurde unter Feuer genommen und Arafat mit dem Tod bedroht. Dadurch wird das Gerechtigkeitsgefühl vieler verletzt und Samen für künftigen Terror gesät. An erster Stelle ist es Deutschland unter den europäischen Staaten, das seit Jahren die Terrororganisation PKK indirekt unterstützt. So haben viele Länder an der Störung von Frieden und Stabilität in der Türkei mitgewirkt. Andere gegen die Türkei gerichtete Ter-
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rororganisationen sind von europäischen Staaten geschützt und gestärkt worden. Deutschland hat das moderne und kultivierte Islamverständnis in der Türkei nicht unterstützt. Im Gegenteil, es hat reaktionäre, fanatische, so genannte politische Islamisten, die sich dem Terror zuwenden, unterstützt und ihnen geholfen. Unter diesen ist das bekannteste Beispiel die Cemalettin-Kophen-Organisation. Obwohl diese Organisation reaktionär, fanatisch war und den Terror befürwortete, hat Deutschland jahrelang ihre gegen die Türkei gerichteten Aktivitäten geschützt. Dass ihre deutschen Stiftungen durch ihre vielfältigen Aktivitäten in der Türkei unserer nationalen Einheit schaden, wird von türkischen Journalisten beschrieben und türkische Fernsehsender machen zu diesem Thema spezielle Programme. Griechenland organisiert selbst im türkischen Schwarzmeerbereich destruktive, separatistische und schädliche Aktivitäten, will eine Pontische Bewegung wachrufen. Schädliche Aktivitäten zeigen auch in der Türkei wie in den türkischen Republiken und anderen muslimischen Staaten Gruppen christlicher Missionare. Wir sagen schädlich, weil die Missionare nicht nur für das Christentum Propaganda machen, sondern gleichzeitig die religiösen und nationalen Gefühle der Völker der Länder zerstören, in denen sie arbeiten. Natürlich werden diese schädlichen Aktivitäten auch von den muslimischen Einwohnern gesehen und man weiß darum. Dies sind nur einige Beispiele der Aktivitäten durch die Christen in den muslimischen Staaten, die dem Frieden und der Brüderlichkeit Schaden zufügen. Eigentlich ist das Feld viel weiter, trauriger und katastrophaler. Denn wir haben nicht von der Besetzung islamischer Länder durch Christen in der Vergangenheit und von der wirtschaftlichen Ausbeutung gesprochen. Wir haben es für gut gehalten, sie als bittere Erinnerungen der Vergangenheit der Geschichte zu überweisen. Wenn es nun also möglich werden soll, dass auf diesem Weltschiff, auf dem wir uns befinden, Muslime mit Christen wirklich in Frieden und Brüderlichkeit ruhig leben können, ist es das Mindeste, dass die oben genannten Beispiele negativer und schädlicher Aktivitäten aufhören. Die christlichen Staaten des Westens sollten zunächst aufhören, muslimischen Staaten Schaden zuzufügen, Gräben zu graben, sie nach unten zu drücken, ihnen ein Bein zu stellen oder ein Auge auf die begrenzten Güter in ihren Händen zu werfen. Aber auch das ist nicht genug. Die reichen christlichen Staaten müssen den im Aufbau befindlichen Staaten materielle und moralische Hilfe zukommen lassen. Um diesen Punkt unseres Themas zu beleuchten, gibt es ein schönes türkisches Sprichwort: „Der eine isst, der andere schaut zu, und deswegen beginnt Streit im Nu!“ Die christlichen Staaten des Westens sollten dies auf jeden Fall erkennen: Auf dieser heutigen Welt sind so gut wie keine zurückgebliebenen Gesellschaften mehr vorhanden, ähnlich den eingeborenen Stämmen im alten Afrika. Jeder weiß über alles, zumindest über viele Dinge, sehr wohl Bescheid. Deshalb müssen die christlichen Staaten endlich aufhören, besonders die muslimischen Länder anzusehen wie die alten rückständigen afrikanischen Stämme und zu meinen: was wir tun, verstehen sie eh’ nicht, sie wissen nichts und bringen nichts fertig. Zum Schluss kommend: Als Erstes müssen die christlichen Länder des Westens und die USA dieses „Palästina-Feuer“ umgehend löschen und die Wunden verbinden. Sie müssen
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aufhören, den übrigen muslimischen Staaten materiellen und moralischen Schaden zuzufügen. Und das ist noch nicht genug, vielmehr sollten die reichen christlichen Nationen den aufstrebenden muslimischen Staaten materiell und moralisch zu Hilfe kommen. Erst dann haben Muslime mit Christen es in der Hand, wirklich in Frieden und Brüderlichkeitsgefühlen zu leben. Wir türkischen Muslime sind dazu entschlossen, denn unsere religiösen und nationalen Prinzipien erfordern dies. Wir versuchen, sie zu leben, auch in Zukunft; selbst dann, wenn Christen dies nicht positiv aufnehmen und anerkennen. Wir bleiben hoffnungsvoll und haben die Erwartung, dass auch die christlichen Staaten sich am Ende für diesen Weg entscheiden.
Wolf-Dieter Ahmed Aries
Postsäkulare Gesellschaft – Worauf zielt die neue Sensibilität gegenüber der Bedeutung der Religion? Als europäischer Muslim bin ich nicht nur zur Begründung der Gewinne unserer (Leidens-)Geschichte aufgefordert, sondern auch durch den steten Diskurs dieser, meiner Gesellschaft herausgefordert, mich an der Gestaltung der Zukunft in der Weise zu beteiligen, dass ich Ziele benenne, für die ich gute Gründe anführe. Dies tue ich in der Hoffnung, dass die Mehrheit der Gesamtgesellschaft mich bedenkend anhört. Wenn ich jedoch als im Islam gebundener (Staats-)Bürger mitdiskutiere, dann, so zeigt die Erfahrung, stoße ich rasch auf Barrieren, die aus den verdrängten Optionen und unbewussten Implikationen gegenwärtiger Säkularität zu bestehen scheinen. Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille, auf der anderen geben sich manche Zeitgenossen fasziniert. Die Fixation beider verweist auf den gleichen Gestus, nämlich die Alltagstheozentrizität der Muslime, die sich der vulgären Marginalisierung der Religion schlicht verweigert, was als Provokation oder als Skandalon in der Mehrheitsgesellschaft thematisiert wird. Das jedermann gegenwärtige Beispiel ist das Kopftuch, von dem behauptet wird, ihre Trägerin lehne die Säkularisation ab. Auf die Nachfrage, was denn mit der Säkularisation gemeint sei, folgt stets das Beispiel der Konversion kirchlichen Besitzes durch den Staat, den die Kirche als Raub bezeichnete, und nicht der ursprüngliche Vorgang, mit dem die Kirche die Entlassung eines bereits mit den Weihen versehenen Gläubigen aus einem Orden oder dem Dienst am Altar bezeichnete, so dass dieser als Weltlicher agieren konnte. Es ging darum, dass der Betreffende das Erbe der Familie fortführte, weil die anderen Erben verstorben waren. Allein, der junge Mann wurde nicht schlicht entlassen, sondern, wie Ebertz zeigte, in die Obhut des Bischofs überführt, was in der Gegenwart verdrängt wird. Die Saecula-risation meinte somit nicht die Negation bzw. die Verdrängung der Transzendenz, vielmehr eine andere Art, sie zu leben. Hieran scheinen manche Christen anzuknüpfen, wenn sie die Alltagstheozentrizität der Muslime reflektieren. So erzählt mir manch einer, dass er durch die Gebetspraxis im Islam zu den Nonengebeten zurückgefunden habe. Und genau dies befürchten andere. Sie warnen daher vor den „Gespenstern von gestern“, was bis zum Aufkommen der Debatten um ethische Codes recht bequem war, weil man billigerweise nur die Schattenseiten der Kirchengeschichte zu nennen brauchte, als wären sie die Antwort auf die Frage nach der Transzendenz. Ein Missverständnis, das die Muslime nie teilten. Europäisierte Orientalen meinten allerdings, es für ihre Gesellschaften generalisieren zu sollen.
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Die Vielfalt der ethischen Diskurse in den unterschiedlichen Disziplinen, Handlungsräumen und gesellschaftlichen Feldern von der Medizinethik bis zu den Verhaltensnormen von Abgeordneten zeigte, dass der sich selbst überlassene Mensch/Bürger der Grenzen bedarf, um nicht durch sich selbst, d.h. seinen Willen zur Dominanz, zerstörerisch zu werden. Verletzungen solcher Grenzen sollten öffentlich zu rechtfertigen sein oder, wenn der Täter nicht gute Gründe anführt, sanktioniert werden. Im Hintergrund dieser Debatte stand der Begriff der Verantwortung, die die Justiz, so man erwischt wurde, einforderte. Den Nebensatz, so man erwischt wurde, thematisierten die Gläubigen, ohne dass die Mehrheit hinhörte. Die Muslime wandten ein, dass die Verantwortung, die amana, schlechthin gelte. So wie es keinen schöpfungsfreien Raum gibt, so gibt es vor dem Schöpfer keinen verantwortungsfreien Handlungsraum. Rechenschaft sei nicht auf die diesseitige Justiz zu beschränken, vielmehr ins Eschatologische zu erweitern. Beide Einwände fanden zum ersten Male Gehör, als die Heilige der Säkularisation, die Wissenschaft, das Bild vom Menschen selber berührte. Die Entzauberung der Welt stand plötzlich vor dem Horror der humanen Selbstentzauberung. War der Biologismus des Rassenwahnes noch als Unglück deklariert worden, so ließen sich die Konsequenzen des Biologismus der Genetik nicht mehr verdrängen. Hier degenerierte die entzauberte Natur zum Legospiel. Und so stand der common sense unvermittelt vor den Grenzen der Bedingtheit des humanen Da-Seins und der Historozität seines So-Seins. Die Spaßgesellschaft musste mit Schrecken zur Kenntnis nehmen, dass die Beliebigkeit im Anblick Amok laufenden Tötens in die Sprachlosigkeit vor der humanen Begrenzung führte. So kamen gerade junge Menschen auf den Erfurter Platz vor dem Dom, um dem Bischof zuzuhören. Sie erwarteten Antwort, die der Selbstmordattentäter für sich im Gestus des Tötens erzwingen will. Hingegen betont die Lesung, der Qur’an, durch das Verbot der Selbsttötung und das Gebot der Freiheit der Glaubensentscheidung die Annahme des Risikos jeglicher Glaubensentscheidung. So bekennt der Muslim fünfmal innerhalb von 24 Stunden die Wahrheit Seines Seins, womit im gleichen Augenblick die Geschöpflichkeit konstituiert wird, an die die eschatologisch orientierte Verantwortungsethik gebunden ist. Die Emanzipation der Wissenschaft vom Lehramt der Kirche mag zur Entzauberung der Natur geführt haben, aber weder die Beschreibung ihrer Zusammenhänge noch die Sicherheit in der Prognostik ihrer Abläufe haben den Menschen dazu gebracht, die Schönheit der natürlichen Erscheinungen zu übersehen. Jeder Sonnenaufgang entfaltet seine eigene Ästhetik. Jede Bach’sche Fuge mag mathematisch beschreibbar sein und dennoch ändert dieser Umstand nichts am ästhetischen Hören. Für Muslime fallen Klang, sprachliche Dichte und linguistische Struktur in der Rezitation Seiner Lesung so zusammen, dass sie stets staunend berührt sind. Und diesen Gestus des schlichten Staunens hielten die Griechen für den Beginn der Reflexivität, dessen negative Kehrseite das Erschrecken ist. Im Kairos des Berührtseins durchbricht in der Moderne die Reflexivität die Entzauberung in rücksichtsloser Radikalität. Vielleicht ist dies das eigentliche Moment der Postmoderne, dass sie eben die Bedingtheit des Humanen wieder sichtbar macht.
Martin Leiner
Gewinnen ohne zu unterwerfen – Zum Wahrheitsverständnis in den abrahamitischen Religionen Der Dialog der drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam unterliegt besonderen Belastungen. Insofern sind sie exemplarisch für den Dialog der Religionen. Was aber heißt Dialog der Religionen? Was macht ihn sinnvoll? Was soll man als Ergebnis von ihm erwarten? „Dialog der Religionen“, so eine häufig vertretene Auffassung, setzt voraus, dass man das Ziel verfolgt, letzten Endes zu einem Konsens zu finden. Dabei ist es durchaus möglich, wenn nicht sogar erwünscht, dass man auch Sätze findet, über die die Dialogpartner unterschiedlicher Auffassung sind. Nur dann hat nach dieser diskursiv-konsensorientierten Dialogkonzeption der Dialog Sinn, wenn durch ihn herauskommt, dass eine bestimmte Religion mit einer anderen eine bestimmte Anzahl von Wahrheiten teilt und sich in anderen Wahrheiten von ihr unterscheidet. Um dabei keine Zeit zu verlieren, soll man gleich auf mögliche Konsens- und Dissensformulierungen zugehen. Es gilt: auf den Punkt zu kommen und diesen direkt anzuzielen. Ist diese Auffassung richtig? Die Überlegungen dieses Beitrags möchten deutlich machen, dass diese Konzeption von Dialog aus mehreren Gründen unzureichend ist: Wir sprechen ja auch in anderen Zusammenhängen nicht nur miteinander, um Konsense zu erzielen. Wir sprechen, so lautet eine erste Gegenthese, um Interesse aneinander wach zu halten und um so miteinander im Gespräch zu bleiben. „Wir bleiben im Gespräch“, das bedeutet zunächst einmal, dass man nicht abgleitet aus dem Wort in gleichgültiges Schweigen oder in Gewalt. „Wir bleiben im Gespräch“, das bedeutet auch, dass wir füreinander, als Angehörige unterschiedlicher Religionen im Wort sind und das in mehr als einem Sinne. „Wir bleiben im Gespräch“, das ist auch ein Versprechen: Wir sind einander im Wort, miteinander im Wort zu bleiben. Narrative, erzählerische Elemente spielen deshalb im Dialog der Religionen eine zumindest ebenso wichtige Rolle wie diskursiv-konsensorientierte Gesprächsformen. Dass im Zusammenhang mit einer narrativ-dialogischen Konzeption Konsense mit all ihrer Fragilität und Interpretationsbedürftigkeit sich immer wieder ereignen, ist nicht ausgeschlossen. Es ist vielmehr immer wieder Anlass zur Freude. Dies zeigt der erste Argumentationsgang, bei dem wir vorrangig Muslimen zuhören.
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A. Gewalt und Selbstrelativierung in den drei abrahamitischen Religionen Die Rahmenhandlung: 1001 Nacht Ein islamischer Herrscher mit Namen Schehrijar, so wird erzählt, war über die Untreue seiner eigenen Frau und der Frau seines Bruders so enttäuscht, dass er in seinem Gefühlsleben krank wurde. Dies äußerte sich so: „Von nun an nahm König Schehrijar jede Nacht eine Jungfrau; der nahm er die Mädchenschaft, und dann tötete er sie, um seiner Ehre gewiss zu sein, und so trieb er es drei Jahre lang. Da geriet das Volk in Aufruhr und flüchtete bis keine mannbare Jungfrau mehr in der Stadt war. Da befahl der König dem Wesir, er solle ihm eine Jungfrau wie gewöhnlich bringen.“1 Da kein Mädchen mehr in der Stadt war, erklärte sich die älteste Tochter des Wesirs, Schehezarade bereit, zu dem König zu gehen. Sie hatte die tausend Bücher, die im Hause des Wesirs waren, gelesen und begann deshalb, dem König eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte war so spannend und das Mädchen konnte so gut erzählen, dass der Herrscher gerne den Fortgang der Geschichte kennen lernen wollte. Er beschloss darum, eine Ausnahme zu machen und das Mädchen nicht zu töten. Nachdem die Erzählung der zweiten Nacht ihn genauso in seinen Bann zog, wie die Erzählung der ersten Nacht, beschloss er nochmals eine Ausnahme zu machen, um weiteren Geschichten zuhören zu können. So ging es auch die dritte und die vierte und die fünfte Nacht, insgesamt fast drei Jahre lang. Nach tausend Nächten des Zuhörens war der Herrscher geheilt. Über den Geschichten hatte er seinen Gedanken, Frauen zu töten, aufgegeben. Er beschloss, das Mädchen zu heiraten. Sie feierten ein großes Hochzeitsfest und lebten danach viele Jahre glücklich zusammen. Diese Geschichte gibt ein Beispiel, dass Kommunikation nicht auf Konsensbildung ausgerichtet sein muss. Hätte Schehezarade versucht, mit Schehrijar einen Konsens auszuhandeln, so wäre es ihr kaum anders ergangen als den anderen Mädchen vor ihr. Abgeklärte Konsense führen dazu, dass der andere nicht mehr interessant ist. Dauerhaftes Interesse weckt das Erzählen, das nicht im diskursiven Argument aufgeht. Dass dann überraschend sogar so etwas wie eine gemeinsame tragfähige Grundlage entsteht, die eine Heirat erlaubt, ist ein nicht zu planendes und doch nicht auszuschließendes Ergebnis.
Eine erste These: Allahu akbar oder die Selbstrelativierung menschlicher Wahrheitsansprüche ist gemeinsames Erbe der abrahamitischen Religionen „Gott ist immer größer als alle unsere Aussagen über ihn, als all unser Wissen, als all unsere Religion.“ Dieser Satz ist nicht nur ein Satz gegenwärtiger Religionstheologie, sondern auch eine Grundbekenntnis des Islam. Der Gebetsruf „Allahu akbar“ bedeutet nämlich nicht „Allah ist groß“, sondern „Allah ist größer“. Akbar ist Komparativ von
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kabirgroß. Smail Balicˇ macht in seinem Buch „Islam für Europa“ ausdrücklich auf diese Übersetzung aufmerksam: „Allahu akbar (a. [= arabisch]) Allahü ekber (t. [= türkisch]) – ‚Gott ist größer‘ (als alles, was hienieden geschieht). Weniger korrekt ist die Übersetzung: ‚Gott ist der größte‘.“2 Allah, Gott, ist immer größer als alle unsere Vorstellungen, als all unser Wissen, als alle unsere Aussagen über ihn. Über Gott allein heißt es im Koran: „Gott umfasst und weiß alles […]. Gott ist auf niemanden angewiesen und langmütig“ (Sure 2,261.263). Christen, die diese Gedanken hören, werden daran erinnert, dass sie auch Bestandteil der christlichen Tradition sind: „Deus est id quo maius cogitari nequit“, „Gott ist das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“3, heißt es im Proslogion Kap. 2, in dem Argument von Anselm von Canterbury, mit dem er gleichzeitig Gottes Existenz und seine Eigenschaft beweist und das Kant später den ontologischen Gottesbeweis nannte. Schon im Neuen Testament findet sich eine lange Geschichte der Erkenntnis, dass Gott immer größer ist als alles irdische, als all unser Denken. So sagt Jesus über Gott den Vater: „Der Vater ist größer als ich“ (Joh 14,28). Der erste Johannesbrief nimmt die Aussage, dass Gott größer ist, immer wieder auf: „Gott ist größer als unser Herz und erkennt alles“ (1 Joh 3,20). „Der in euch ist, ist größer als der in der Welt ist“ (1 Joh 4,4). „Wenn wir das Zeugnis von Menschen annehmen – das Zeugnis Gottes ist größer“ (1 Joh 5,9).
Der Islam relativiert seine Wahrheitsansprüche Fundamentalistische Muslime und nicht wenige Darstellungen des Islam reden kaum von den Selbstrelativierungen, die von dem Satz „Allahu akbar“ aus selbstverständlich sein sollten. Im Islam gibt es aber von Anfang an eine Relativierung der Wahrheitserkenntnis des Propheten und eine Anerkennung der Wahrheiten anderer Religionen. Von Mohammed hätte man nie sagen können, dass er die Wahrheit ist. Bei aller Bedeutung, die der Lebenspraxis Mohammeds, der Sunna des Propheten, zukommt, ist er ein fehlbarer Mensch, der sich auch irren kann. In Sure 13,38–40 heißt es z. B.: „Wir haben Gesandte vor Dir [= Mohammed] entsandt, und wir haben ihnen Gattinnen und Nachkommenschaft gegeben. Kein Gesandter kann ein Zeichen bringen außer mit der Erlaubnis Gottes: Jede Frist steht fest in einem Buch. Gott löscht aus, und Er bestätigt, was Er will. Bei ihm steht die Urnorm des Buches: Ob wir dich einen Teil dessen sehen lassen, was Wir ihnen androhen, dir obliegt nur die Ausrichtung (der Botschaft).“ Der Koran kann nach islamischer Auffassung nicht irren, er enthält „keinen Irrtum“, „keine Unrichtigkeit“ und „keine Lüge“. Dies bedeutet aber nicht Ausschließlichkeit. Nach Sure 13,39 und 43,4 gibt es im Himmel einen Urkoran. Der Inhalt dieses Urkorans ist nach koranischer Überzeugung auch anderen Gesandten Gottes vor Mohammed mitgeteilt worden. Sure 21,25 sagt ausdrücklich: „Wir haben vor dir keinen Gesandten auftreten lassen, dem wir nicht die Weisung eingegeben hätten: Es gibt keinen Gott außer mir. Dienet mir.“ Christen und Juden hätten die ihnen mitgeteilte Wahrheit nicht zum Verschwinden gebracht, sie hätten sie aber missdeutet und den Text ihrer heiligen Schriften gefälscht (vgl. Sure 2,75.79; 3,78; 4,46; 5,13.41).
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Daraus ergibt sich für den Islam ein Missionsverständnis, nach dem Juden und Christen nicht unbedingt und mit allen Mittel missioniert werden müssen. Seit den Anfängen des Islam gibt es zahlenmäßig bedeutende christliche Minderheiten in vielen muslimischen Staaten; in Ägypten, in Syrien, im Irak oder im Libanon leben mehrere Millionen von Christen. Anders als die Christen in Germanien im frühen Mittelalter oder in Spanien und Lateinamerika in der frühen Neuzeit haben Muslime nur selten Zwangsbekehrungen durchgeführt. Ein Wort des Korans steht dem klar entgegen: „Keinen Zwang in der Religion! Die Reife des Geistes unterscheidet sich klar vom Irrtum“ (Sure 2,256). Smail Balicˇ stellt in einer Untersuchung über die Islamdarstellung in Schulbüchern heraus4, dass bis in die jüngere Vergangenheit hinein das Bild verbreitet wurde, nach dem der Islam Mission vor allem gewaltsam, „mit Feuer und Schwert“ durchführe. In einem österreichischen Schulbuch für die 2. Klasse Hauptschule wird zum Beispiel dem Missionsbefehl aus Mt 28 folgender Koranvers gegenübergestellt: „Euch ist vorgeschrieben, gegen die Ungläubigen zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist“ (Sure 2). Balicˇ bemerkt zu Recht, dass der Vers aus einem Zusammenhang gerissen ist, der nicht viel mit Mission zu tun hat. Andere Aussagen des Korans fehlen wie der auf Mission bezogene Satz: „Rufe auf zum Weg des Herrn mit Weisheit und freundlicher Ermahnung und disputiere mit ihnen auf denkbar freundliche Art“(Sure 16,125). Dass sich die muslimische Mission immer an diesen Grundsatz gehalten hätte, wird man nicht feststellen können. Über die kriegerische Ausbreitung des Islam in den ersten beiden Jahrhunderten bis zum Ende der Umayadenherrschaft (um 750) kann man mit Siegfried Raeder Folgendes festhalten: „Nach einem islamischen Weltreich hat Mohammed selbst schwerlich getrachtet. Bei aller Zielstrebigkeit war sein Geist auf die Lösung unmittelbar anstehender Aufgaben gerichtet. Wenn er in seinen letzten Lebensjahren Feldzüge in byzantinisches Grenzgebiet unternahm, so wollte er die dort lebenden arabischen Stämme zwingen, ihn anzuerkennen. Er verstand sich als der Prophet, den Gott zu den Arabern gesandt hatte.“5 Noch in der Zeit des Propheten verband sich der Islam mit den kriegerischen Interessen der Beduinenstämme der Arabischen Halbinsel zu einer Einheit. Kriegerische Interessen der Beduinen, die Verbindung von Politik und Religion und besondere Auslegungen des Islam führten immer wieder zu Gewalttätigkeiten gegen Juden und Christen. Dennoch hat auf das Ganze der Geschichte gesehen der Islam weit weniger Zwang in Glaubensangelegenheiten ausgeübt als das Christentum.
Gewaltanwendung zur Verbreitung der Rechtgläubigkeit – Ein Irrtum in allen abrahamitischen Religionen Der Satz des Korans, „keinen Zwang in der Religion“, weckt Assoziationen an ähnliche Sätze aus der jüdischen und christlichen Theologie. Das Judentum hat sich seit der Antike von Mission und damit erst recht von Zwangsmission weitgehend fern gehalten, aber auch nach christlichem Verständnis ist das Evangelium durch das Wort weiterzutragen. „Non vi sed verbo“, „nicht durch Gewalt, sondern durch das Wort“ soll der christliche Glaube verbreitet werden. Der Missionsbefehl spricht davon, in alle Welt zu gehen und
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zu „lehren“ (Mt 28); er spricht nicht von Eroberungsfeldzügen und Zwangstaufen. Genauso wenig wie der Koran spricht die Bibel von der Inquisition oder von einem Recht, Ketzer hinzurichten. Inquisition und die Anwendung anderer Zwangsmittel in Glaubensfragen sind in allen drei abrahamitischen Religionen Folgen einer Vermischung von Religion und staatlicher Gewalt. Augustins „Coge intrare“, „zwinge die Menschen in die katholische Kirche einzutreten“6, ist bezogen auf das römische Weltreich; die islamische Inquisition ist bezogen auf die politischen Probleme der arabischen Großreiche. Im Christentum hat die Inquisition mehr mit der Sorge um das Seelenheil der Ungläubigen, der Ketzer und der durch die Ketzerei Bedrohten zu tun. Im islamischen Bereich geht es mehr um Intrigen bei Hofe und um die Kohärenz eines Staates vor den Menschen und vor Gott. Alle drei abrahamitischen Religionen müssten sich von ihrem Ursprung und von ihrem Wesen her gegen den Zwang in Religionsangelegenheiten zur Wehr setzen und sie als Fehlentwicklungen ausschließen. Staaten müssen von daher auch den Unglauben ihrer Bürger dulden, so wie es für den islamischen Bereich eine viel zitierte Formulierung aus einer Hadith sagt: „Das Reich dauert noch mit Unglauben, aber nicht mit Ungerechtigkeit.“7
„Kein Zwang in Religionsangelegenheiten“ – Bemerkungen zu einem sich einstellenden Konsens Wir haben bisher vor allem den Muslimen zugehört. Dabei sind uns Analogien aufgefallen, die zeigen, dass auch in Judentum und Christentum das Bewusstsein in zentralen Texten etabliert ist, dass kein Zwang in Religionsangelegenheiten stattfinden soll. Diesem Bewusstsein stehen in Islam und Christentum historische und zum Teil auch aktuelle Tendenzen entgegen, die eigene Religion doch mit Zwang auszubreiten. Die Notwendigkeit, ihnen entgegenzutreten, kann in religionspolitischen Fragen zu überraschenden Allianzen zwischen liberalen Muslimen und Christen führen. Es kann weiter auch dazu führen, dass Muslime über die Bedeutung des Satzes „Kein Zwang in Religionsangelegenheiten“ und Christen über das „Non vi sed verbo“ näher nachdenken.8 An dieser Stelle zeigt sich freilich, wie fragil und interpretationsbedürftig der erzielte Konsens ist. Ein holistisches Verständnis von Zeichensystemen, wie es von van Orman Quine für die Sprache entwickelt wurde9, hat darauf aufmerksam gemacht, dass religiöse Zeichensysteme zunächst durch die internen Bezüge der jeweiligen Aussagen in ihrem Sinn näher bestimmt werden müssen. Was „Gewaltlosigkeit“ im Islam bedeutet, muss in seiner Bedeutung und in seiner Reichweite innerhalb des Islam bestimmt werden, was „Gewaltlosigkeit“ im Christentum bedeutet, ist innerhalb des Christentums zu klären. Dabei zeigt sich, dass die „Gewaltlosigkeit“ der islamischen Tradition in vielen Lesarten ein staatliches Verbot zum Übertritt eines Muslimen zu einer anderen Religion nicht ausschließt. Sie schloss, vor allem in den muslimischen Großreichen des Mittelalters auch nicht aus, dass Anhänger anderer Religionen eine Reihe von Nachteilen haben können und dass sie insbesondere höhere Steuern zahlen müssen, dass ferner bis heute das öffentliche Errichten von Kir-
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chen und Synagogen in vielen muslimischen Ländern sehr erschwert, wenn nicht unmöglich ist. Das protestantische und katholische Christentum hat sich nach vielen Debatten darauf verständigt, die zu ihm gehörende Gewaltfreiheit als Religionsfreiheit auszulegen. In dieser Situation kann es dazu kommen, dass Muslime sich dafür interessieren, welche Erfahrungen Christen mit ihrer Entwicklung hin zur Religionsfreiheit gemacht haben, und Christen können sich dafür interessieren, wie die Entwicklung im Islam stattgefunden hat. Christen können fragen: Warum ist zum Beispiel in den meisten islamischen Staaten nicht die Scharia heute gültiges Gesetz? Wie gelangte man vielfach zu toleranteren Auslegungen? Muslime können fragen: Warum wurden Zwangstaufen, Inquisition und Kreuzzüge aufgegeben? Das Interesse, der anderen Religion zuzuhören, kann so zu Überlegungen führen, innerhalb der eigenen Religion und in ihrer Logik Thematiken neu zu sehen.10 Gelingt dieser Prozess, so entsteht das, was ich narrative Allianz nennen möchte. Es kommt nicht zu einer direkten Übernahme von Elementen aus einer anderen Religion. Religionsdialog führt in diesem Stadium zu keinem Synkretismus. Aber man bleibt miteinander im Gespräch und verändert sich auf Grund des Interesses, das man aneinander gefunden hat. Können die abrahamitischen Religionen in ihrem Dialog noch weiter kommen, ohne bereits Aussagen über Gottes Wirken oder Nichtwirken in den anderen Religionen zu machen? Dies ist möglich, wenn man über Gottes Liebe und die Rechthaberei der Menschen nachdenkt. Hier werden wir vor allem jüdischen Texten zuhören.
B. Gottes Liebe und die Rechthaberei der Menschen Eine italienisch-jüdische Fassung von Nathan dem Weisen Gotthold Ephraim Lessing war bekanntermaßen nicht der Erfinder der Ringparabel. Sie hat Vorformen, insbesondere eine italienische in Boccaccios Decameron.11 Dort lautet die Geschichte so: Tugend und Tapferkeit des Saladin waren so groß, dass er durch sie nicht allein aus geringem Stand zum Sultan von Babylon aufgestiegen ist, sondern überdies viele Siege über die Könige der Sarazenen und der Christen errungen hat. In verschiedenen Kriegen und für seine prächtige Hofhaltung hatte er seinen Schatz ausgegeben und benötigte für eine unvorhergesehene Angelegenheit eine größere Menge Geldes; er wusste aber nicht, woher er es so schnell, wie er es nötig hatte, nehmen könnte. Da erinnerte er sich eines reichen Juden namens Melchisedech, welcher in Alexandria Geld zu Wucherzinsen verlieh; und er glaubte, dieser könnte ihm dienlich sein, wenn er nur wollte. Er war aber so geizig, dass er es von sich aus nie getan hätte; und Gewalt wollte ihm der Sultan auch nicht antun. Da ihn die Not bedrängte, und nachdem er hin und her überlegt hatte, wie er den Juden dazu bringen könnte, ihm gefällig zu sein, verfiel er darauf, ihn unter dem Schein der Rechtmäßigkeit zu erpressen. Er ließ ihn zu sich kommen, empfing ihn freundlich, ließ ihn sich zu ihm setzen und
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sagte ihm alsdann: „Guter Mann, ich habe von mehreren Personen vernommen, dass du sehr klug seist und weit fortgeschritten in der Gottesgelehrsamkeit. Deswegen möchte ich gerne von dir erfahren, welches der drei Gesetze für dich das wahre ist: das jüdische, das sarazenische oder das christliche.“ Der Jude, der in der Tat ein kluger Mann war, merkte nur zu gut, dass Saladin darauf lauerte, ihn mit seiner Antwort zu fangen, um dann eine Forderung an ihn stellen zu können; er überlegte, dass er keine der drei Religionen mehr als die anderen lobpreisen könnte, ohne dass Saladin nicht seine Absicht erreichte. Wie einem, der eine Antwort sucht, in der er sich nicht verfängt, spannte er seinen Geist an und fand rasch, was er sagen musste. Er begann: „O Herr, die Frage, die Ihr mir vorlegt, ist schön; um alles, was ich dazu empfinde, sagen zu können, wähle ich eine kleine Erzählung, die Ihr nun hören werdet. Wenn ich mich nicht täusche, so erinnere ich mich, viele Male von einem großen und reichen Mann gehört zu haben. Unter all den kostbaren Edelsteinen, die er in seinem Schatz besaß, war ein wunderschöner und wertvoller Ring; um seines Wertes und seiner Schönheit willen schätzte er ihn besonders hoch und wollte ihn für alle Zeiten seinen Nachkommen überliefern; deswegen bestimmte er, dass derjenige seiner Söhne, bei welchem dieser von ihm hinterlassene Ring gefunden würde, als sein Erbe angesehen und von allen übrigen als der Älteste geehrt und geachtet werden sollte. Der, dem er hinterlassen wurde, bestimmte das Gleiche für seine Nachkommen und tat seinerseits, wie sein Vorfahre es getan hatte. Kurzum, der Ring ging von Hand zu Hand durch viele Generationen und gelangte schließlich in die Hände eines Mannes, der drei schöne, tugendhafte, dem Vater überaus gehorsame Söhne hatte, weswegen er sie alle drei gleichermaßen liebte. Und die jungen Leute, die die Tradition des Ringes kannten und von denen ein jeder danach strebte, der Ausgezeichnete in der Familie zu sein, baten, jeder für sich und so gut er es konnte, den Vater, der alt war, ihm selbst und nicht den Brüdern bei seinem Tod den Ring zu hinterlassen. Der gute Mann, der sie alle drei gleichermaßen liebte und nicht auszuwählen wusste, wem er den Ring hinterlassen sollte, dachte daran, nachdem er es einem jeden versprochen hatte, sie auch alle drei zufrieden zu stellen. Heimlich ließ er bei einem geschickten Meister zwei weitere Ringe anfertigen, die dem ersten so sehr glichen, dass selbst der, welcher sie angefertigt hatte, kaum noch den echten Ring erkennen konnte. Als er seinen Tod nahen fühlte, gab er heimlich einem jeden seiner Söhne einen Ring. Nach dem Tod des Vaters wollte ein jeder von ihnen das Erbe und die Auszeichnung für sich in Anspruch nehmen; ein jeder bestritt dem anderen diesen Anspruch; als Begründung und Zeugnis legte ein jeder seinen Ring vor. Die Ringe waren einander so ähnlich, dass man nicht erkennen konnte, welches der echte war; daher blieb der Streit, welcher von ihnen der wahre Erbe des Vaters ist, offen und ist es immer noch. Dasselbe, o Herr, sage ich Euch auch über die drei Gesetze, die Gottvater den drei Völkern gegeben hat und die Ihr mir zur Beurteilung vorgelegt habt. Ein jedes Volk glaubt, Gottes Erbe, sein wahres Gesetz zu besitzen und unmittelbar seinen Willen auszuführen. Aber wer es wirklich besitzt, das ist, wie bei den Ringen, eine noch offene Streitfrage.“ Saladin erkannte, dass es jenem bestens gelungen war, aus der Schlinge, die er ausgelegt hatte, herauszuschlüpfen; so beschloss er, ihm seine Notlage zu offenbaren und abzuwarten, ob er ihm dienlich sein wollte. Also er-
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öffnete er ihm, was seine Absicht gewesen wäre, wenn jener ihm nicht so klug, wie er es getan, geantwortet hätte. Der Jude gab ihm freiwillig jede Summe Geldes, die Saladin von ihm erbat. Saladin stellte ihn danach voll und ganz zufrieden; darüber hinaus überreichte er ihm reiche Geschenke und erhielt ihn sich immer als Freund und bewahrte ihm in seiner Umgebung einen ehrenvollen Platz. Nach der klassischen Studie von Marcus Landau12 verrät die Geschichte deutlich den jüdischen Hintergrund der Nathanserzählung. Der Name Babylon für Bagdad, die Tatsache, dass es sich um einen jüdischen Kaufmann handelt, der die Geschichte erzählt, die doch eher jüdische als islamische oder christliche Streitfrage, wer das „Gesetz“ Gottes besitzt, all dies verweist auf eine jüdische Herkunft. Die erzählerische Pragmatik der von Boccaccio überlieferten Fassung ist von Bedeutung: Die Geschichte betont nicht, wie die Argumentation, dass Gott immer größer ist, die Jenseitigkeit der Wahrheit. Der Ring ist real einem Sohn gegeben worden. Die Geschichte lenkt aber den Blick auf eine erstaunliche Weise weg von der Wahrheitsfrage. Die Frage, welche der drei Religionen die wahre ist, ist und bleibt eine offene Streitfrage. Der Streit wird nicht für obsolet oder sinnlos erklärt. Er wird unter den Menschen ausgetragen. Gott selber aber scheint an seiner Beendigung kein großes Interesse zu haben. Er hat jedem seiner Söhne einen gleichermaßen kostbaren Ring gegeben. Er liebt alle drei. Er will nichts dafür tun, dass einer von ihnen den Vorrang erhält. Gott verhindert so, dass es einen einzigen rechtmäßigen Erben gibt, der seinen Platz einnehmen könnte. In der Anfertigung der drei Ringe liegt somit eine verborgene Weisheit: Gott verhindert es, dass jemand sich als sein alleiniger Erbe installiert. Niemand soll Gottes Platz einnehmen können. Selbst wenn Gott gestorben wäre, müsste sein Platz freigehalten werden. Beide Elemente sind vor allem Kennzeichen des Judentums: das Offenhalten für denjenigen, der noch aussteht, nach jüdischem Verständnis der Messias, Elia, Gott selbst und sein Reich und das endlose Fortsetzen der Streitfragen, wie die religiösen Texte zu interpretieren sind und wie man ihre Wahrheit findet. Entscheidend ist dabei gar nicht, dass man die Wahrheit besitzt. Entscheidend ist auch noch nicht einmal, dass man um sie streitet. Entscheidend sind die Liebe des Vaters und das Leben in dieser Liebe. Dieses Leben, das Tun der Liebe, bereitet den Weg für das Kommen des Ausstehenden. Hinzu kommt noch ein anderes Moment:
Wahrheit ereignet sich Auch hier beginnen wir mit einer Erzählung. „Als Rabbi Schneur […] in Petersburg gefangen saß und dem Verhör entgegensah, kam der Oberste der Gendarmerie in seine Zelle. Das mächtige und stille Antlitz des Raw, der ihn zuerst, in sich versunken, nicht bemerkte, ließ den nachdenklichen Mann ahnen, welcher Art sein Gefangener war. Er kam mit ihm ins Gespräch und brachte bald manche Frage vor, die ihm beim Lesen der Schrift aufgetaucht war. Zuletzt fragte er: ‚Wie ist es zu verstehen, dass Gott der Allwissende zu Adam spricht: ‹Wo bist du?›‘ – ‚Glaubt ihr daran‘, entgegnete der Raw, ‚dass die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder
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Mensch in ihr beschlossen sind?‘ – ‚Ich glaube daran‘, sagte er. – ‚Nun wohl‘, sprach der Zaddik, ‚in jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: ‹Wo bist du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist du derweil in deiner Welt gekommen?› So etwas spricht Gott: ‹Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?›‘ – Als der Oberste die Zahl seiner Lebensjahre nennen hörte, raffte er sich zusammen, legte dem Raw die Hand auf die Schulter und rief: ‚Bravo?‘ Aber sein Herz flatterte.“13 In dieser Geschichte, die Martin Buber berichtet, wird deutlich, dass Wahrheit unter Umständen gar nicht in der Übermittlung eines inhaltlichen Wissens besteht, sondern dass Wahrheit sich je und je ereignet. In einer bestimmten Situation, in der ein bestimmter Mensch sich von ihr ins Herz treffen lässt. Wenn Wahrheit sich ereignet, wenn sie unter Umständen sogar gar kein aus Sätzen bestehendes Wissen bezeichnet und wenn Gottes Liebe zu seinen Kindern am Ende sogar wichtiger ist als die Frage, welche Religion Recht hat, dann eröffnet sich zumindest die Möglichkeit, dass Gott vielleicht gar nicht so sehr am Rechthaben gelegen ist, wie die Vertreter der abrahamitischen Religionen oft glauben.
Gott ist kein Rechthaber Bereits die Nathanerzählung zeigte, dass Gott nicht vorrangig daran interessiert ist, Rechthaber und Rechtbehalter unter seinen Kindern zu haben. Er selber ist nach einer bekannten jüdischen Erzählung auch kein Rechthaber. Ich erzähle sie aus dem Gedächtnis: Zwischen zwei Gruppen von Schriftgelehrten war ein Streit entbrannt über die Auslegung der Tora. Man hatte schon lange diskutiert. Die eine Gruppe war sich eigentlich ganz sicher, dass sie die richtige Auslegung gefunden hatte und die besseren Argumente vertrat. Die andere Gruppe gab aber nicht nach, sondern beharrte auf ihrer Auslegung. Da sagte einer aus der ersten Gruppe: „Jetzt sind alle Argumente genannt. Nun muss es zu einem Urteil kommen. Wenn unsere Auslegung richtig ist, dann soll die Sonne untergehen und Mond und Sterne sollen erscheinen.“ Daraufhin geschah es: Die Sonne ging sofort abrupt um die Mittagszeit unter und Mond und Sterne erschienen. Darauf sagte die andere Gruppe: „Dies besagt überhaupt nichts. Wir erkennen den Beweis nicht an. Denn es steht geschrieben, dass sich der Mensch nicht nach Sternendeutern und Himmelserscheinungen, sondern nach dem Wort Gottes halten soll.“ Daraufhin bot die erste Gruppe einen zweiten Beweis. Sie sagte: „Wenn unsere Auslegung wahr ist, dann soll der Fluss, an dem wir sitzen und diskutieren, seine Laufrichtung ändern und rückwärts fließen.“ Prompt geschah es, der Fluss lief rückwärts. Daraufhin antwortete die erste Gruppe: „Auch dies ist kein Beweis. Seltsame Erscheinungen in der Natur können das Werk von Dämonen sein, die den Menschen irreführen wollen.“ Die erste Gruppe, zunehmend ungeduldig, wandte sich schließlich an Gott selbst. Sie sagte: „Wenn wir Recht haben, dann soll sich der Himmel öffnen und Gott soll vom Himmel herab sprechen und sagen: Die erste Gruppe hat Recht.“ Darauf öffnete sich der Himmel und Gott schaute heraus und sagte: „Die erste Gruppe hat Recht.“ Daraufhin
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sagten die anderen: „Auch diesen Beweis können wir nicht anerkennen, denn es steht geschrieben, die Tora ist nicht im Himmel, sondern sie ist nah beim Herzen der Menschen, damit er sie tue.“ Als er dies mit angesehen hatte, war Gott voller Freude. Er ging im Himmel auf und ab und sagte: „Meine Kinder haben mich besiegt … meine Kinder haben mich besiegt.“
Konsequenzen für die Absolutheitsansprüche der abrahamitischen Religionen In diesem Abschnitt haben wir vor allem jüdischen Texten zugehört. Islam und Christentum werden wahrscheinlich stärker die Wahrheitsbehauptungen betonen, als es das Judentum tut, in dem das rechte Tun mehr betont wird als das rechte Glaubenswissen. Dennoch könnte innerhalb einer narrativen Allianz die Einsicht, dass Gottes Liebe größer ist als menschliches Rechthaben, eine Atmosphäre der Gelassenheit ergeben, in der Weisheit und Zuhören gedeihen können. Immerhin sehen Islam und Christentum die Liebe als eine Eigenschaft Gottes und der Menschen an, die über alles Wissen hinausgeht. Alle Grundvollzüge dieser Religionen, auch der Glaube und die Hingabe an Gott (Islam), sofern sie Vertrauen sind, gehen über das Fürwahrhalten eines in Aussagen festhaltbaren Wissens hinaus. Mystiker und Reformatoren betonen in unendlichen Variationen, dass die Gottesbeziehung mehr ist als unser Wissen.14 Dieser Überschuss der die Gottesbeziehung ausmachenden Vollzüge gegenüber dem formulierbaren Wissen kommt vor allem bei den zentralen Vollzügen der Liebe im Christentum und der Hingabe an Gott im Islam zum Ausdruck. Im Neuen Testament drückt niemand den Vorrang der Liebe vor dem Wissen klarer aus der Apostel Paulus. Es mag nicht ganz überflüssig sein, an einen sehr berühmten Text des Apostels zu erinnern: „Wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts […] Nun bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13, 2.13) und „Die Erkenntnis bläht auf; aber die Liebe baut auf“ (1. Korinther 8,1). Auch der Islam kennt in mystischen Texten den Überschuss an unaussprechlicher Liebe. Ein Beispiel von Dschelaladdin Rumi (1207–1273): „Die Feder eilt im Schreiben, kaum zu halten – Kommt sie zur Liebe, muss sie gleich zerspalten. Wie ich die Liebe auch erklären will – Komm ich zur Liebe, schweig’ ich schamvoll still. Erklärung mag erleuchten noch so sehr, Doch Liebe ohne Zungen leuchtet mehr!“15
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C. Trinitarisches Wahrheitsverständnis und Dialog der Religionen Dialog der Religionen aus dem Vollzug einer Religion, nicht aus Skeptizismus Bisher gingen wir selbstverständlich davon aus, dass diejenigen, die den Dialog der Religionen führen, im Vollzug ihrer eigenen Religion stehen. Im Bereich des Christentums sind zwei Formen der Auseinandersetzung mit anderen Religionen entstanden, die ohne den Vollzug des christlichen Glaubens zur Anwendung gebracht werden können. Der eine Weg ist der Weg der Skepsis. Religionsdialoge werden so geführt, dass man sich jedes Urteils über die Wahrheit oder Falschheit, die ethische Güte oder Schlechtigkeit und die ästhetische Schönheit oder fehlende Schönheit von Religionen enthält. Wer so argumentiert, tritt nicht mehr als Sprecher seiner Religion auf, sondern als unparteiischer Moderator. Als solcher wird wahrscheinlich nicht sehr engagiert sein und nicht viel Überzeugendes und Interessantes aus einer bestimmten Religion in das Gespräch mit einbringen. Der Glaube, selbst seinen religiösen Weg zu gehen und in seiner Religion die Wahrheit zu haben, ist darum notwenig für das interreligiöse Gespräch. Er entlastet das interreligiöse Gespräch und schafft häufig erst die Freiheit, dass man hören kann auf die Wahrheit, die sich durch die Reden des anderen ereignet. Dass Christen, Juden und Muslime die Wahrheit, die sie aus den beiden anderen Religionen anspricht, hören können oder sie zumindest kennen und respektieren lernen, ist das Ziel.
Zum Wahrheitsverständnis des christlichen Glaubens Der Vollzug einer Religion schließt ein, dass in dieser Religion auch ein eigenes Verständnis von Wahrheit entwickelt wird. Auf diesem Gebiet hat sich das Christentum besonders profiliert. Schon seit dem Neuen Testament und der Alten Kirche wurden sowohl Christus (Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“) als auch Gott der Vater („Deus ipse est veritas“) sowie der Heilige Geist als Geist der Wahrheit mit der Wahrheit identifiziert. Nach einer Jahrtausende alten Tradition erhellen sich Gotteslehre und Wahrheitstheorie gegenseitig. Das christliche Wahrheitsverständnis ist darum von seiner Gotteslehre nicht zu trennen. Wie sie ist es trinitarisch aufgebaut. Zunächst einmal ist darum festzuhalten, dass der christliche Glaube nicht einfach unter ein philosophisches Wahrheitsverständnis zu subsumieren ist. Aussagen wie: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ lassen sich nicht mit einer der gängigen philosophischen Wahrheitstheorien, Korrespondenz-, Kohärenz- oder Konsenstheorie der Wahrheit, allein adäquat erfassen. Wahrheit in christlichem Verständnis ist nicht, wie in der Korrespondenztheorie, die Übereinstimmung einer Aussage mit einer Sache. Wahrheit ist auch nicht, wie die Kohärenztheorie sagt, Widerspruchsfreiheit eines großen, möglichst die ganze Wirklichkeit abdeckenden Aussagenzusammenhangs. Wahrheit im christlichen Sinne ist auch nicht das, worauf sich alle vernünftigen Lebewesen am Ende eines herr-
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schaftsfreien Diskurses einigen werden. All dies hat mit christlicher Wahrheit zu tun, ist aber nicht das christliche Wahrheitsverständnis. Auszugehen für ein christliches Wahrheitsverständnis ist zunächst von dem spannungsreichen Raum, der zwischen Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist eröffnet ist. In ihn ist nach christlicher Überzeugung die ganze Welt eingespannt. Dieser Raum ist ein Raum der Freiheit, des Heils und eben auch der Wahrheit. Gott der Vater ist der wahre Gott, der als Schöpfer von Himmel und Erde die erstaunliche Kohärenz des Geschaffenen hervorgebracht hat. Jesus Christus ist die Wahrheit in Person, weil mit ihm das Gott entsprechende menschliche Leben auf Erden Ereignis geworden und erschienen ist und der Heilige Geist führt von jeher, innerhalb und außerhalb der christlichen Kirche Menschen zusammen in immer neuer, größerer Wahrheit.16 Das christliche Wahrheitsverständnis ist so im Ursprung unterschieden von philosophischen Wahrheitstheorien. Es findet aber dennoch Anschluss an die philosophischen Wahrheitstheorien. Dabei hat die Kohärenztheorie mehr mit Gott dem Vater, die Korrespondenztheorie mehr mit Gott dem Sohn und die pragmatische und Konsenstheorie der Wahrheit mehr mit dem Geist zu tun. Dabei hilft die Trinitätslehre vor allem folgende Sachverhalte näher ins Auge zu fassen: a. Die merkwürdige „Dreifaltigkeit“ der philosophischen Wahrheitstheorien (Kohärenz, Konsens- und Korrespondenztheorie) findet durch die Verbindung mit der Trinitätslehre eine theologische Interpretation. b. Wie die drei Personen der Trinität in Spannungen zueinander stehen, so stehen auch die philosophischen Wahrheitstheorien und menschliche Annahmen über die Wahrheit in Spannung.17 Was man an Kohärenz gewinnt, verliert man oft an Korrespondenz oder an Konsens und umgekehrt. Umgekehrt schafft das Wirken des Heiligen Geistes Einigkeit in der Wahrheit, der Bezug auf Jesus Christus erinnert an die notwenige Übereinstimmung mit der letzten Wirklichkeit, die als personales Ereignis erlebt wird, und Gott der Vater ist Ursprung der so erstaunlichen Kohärenz der Welt. c. Der Geschehnischarakter der Wahrheit, die sich, oft wie eine göttliche Offenbarung kontingent ereignet. d. Die merkwürdige Redundanz der Wahrheitsaussage, auf die Frege und Quine aufmerksam gemacht haben18, spiegelt sich in der merkwürdigen Möglichkeit, über die Welt zu reden, auch ohne von Gott zu reden, obwohl er im Grund immer vorausgesetzt werden muss. So wie man die Rede von Gott aus vielen Lebensvollzügen herausdrängen kann, so kann man auch die Rede von der Wahrheit vielfach unthematisiert lassen und sich um die Zusammenhänge der Sachaussagen kümmern. e. Die merkwürdige Unzugänglichkeit der Wahrheit, die doch eigentlich das Selbstverständlichste, das Unverborgene sein sollte, entspricht der Unzugänglichkeit des göttlichen Geheimnisses.
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Konsequenzen dieses Wahrheitsverständnisses für den Dialog der Religionen Dieses christliche Wahrheitsverständnis wird natürlich nicht von Muslimen und Juden akzeptiert werden können. Gegen die Trinitätslehre werden sie wohl auch schwerste Bedenken haben. Dennoch19 ist es ein Zugang für Christen dazu, das Christentum nicht en bloc als wahre Religion den falschen anderen Religionen entgegenzusetzen, sondern aus einem im Zentrum des christlichen Gottesverständnisses liegenden Grund darauf zu hoffen, dass sich im Dialog mit anderen Religionen durch das Wirken des Heiligen Geistes Wahrheit ereignet und dass unter Gott dem Schöpfer auch durch andere Religionen die Kohärenz und Ordnung der Welt deutlich wird. Auch über Christus wird man schließlich schwerlich sagen können, dass er den anderen Religionen fehle, verdankt das Christentum doch dem Judentum die Messiaserwartung und ist Christus im Islam doch der durch die Jungfrauengeburt und durch das endzeitliche Gericht hervorgehobene Prophet. Dennoch bleibt er als der Mensch gewordene Gott und der Gott entsprechende Mensch das ganz Besondere des christlichen Glaubens. Wenn es in der Begegnung der Religionen um Gewinnen statt Unterwerfen geht, so wird dies nicht heißen, dass man vorrangig neue Mitglieder für die eigene Religion gewinnen will. Gewinnen kann und soll in meinem Verständnis das Gewinnen von Interesse, von wirklicher Zuhörerschaft sein. Ziel sollte es sein, dass eine narrative Allianz entsteht, dass im Gespräch der Religionen untereinander das, was der andere erzählt, so sehr meine Aufmerksamkeit gewinnt, dass ich hören kann, was sich an Wahrheit durch seine Rede hindurch für mich ereignet. Wo die Wahrheit ist, dort ist aber zumindest nach christlichem Verständnis auch Gott am Wirken.
Was bedeutet dies für den Weltfrieden? Wir hatten begonnen mit der Rahmenerzählung von 1001 Nacht. In dieser Erzählung hat eine Frau es geschafft, so Interessantes zu erzählen, dass sie zunächst das Ohr und dann das Herz des Königs gewinnen konnte. Dadurch konnte die Gewalttätigkeit des Königs geheilt werden. Das Gespräch zwischen Juden, Christen und Muslimen ist nach vielfacher Erfahrung für jede der anderen Religionen ein ausgezeichneter Ort, an dem sich Gottes Wahrheit ereignen kann. Dies wäre plötzlich auch eine Hoffnung für die Gegenwart: dass das, was Juden, Christen und Muslime sich zu erzählen und zu sagen haben, für den jeweils anderen so interessant wird, dass kriegerische Absichten, sofern sie vorhanden waren, vergessen werden.
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Anmerkungen Geschichten der Liebe aus 1001 Nacht. Aus dem arabischen Urtext übertragen von Enno Littmann. Frankfurt 1973 (EA Wiesbaden 1953) S. 12. 2 Smail Balicˇ, Islam für Europa. Neue Perspektiven einer alten Religion. Köln–Weimar–Wien 2001. S. 233. 3 Anselm von Canterbury, Anrede/Proslogion. Lat./Dtsch. Hrsg. v. Robert Theiss. Ditzingen 2005. 4 Smail Balic ˇ, Islam für Europa, a. a. O. 5 Siegfried Raeder, Der Islam und das Christentum. Neukirchen-Vluyn 2001. S. 42. 6 Augustinus, Epistola 93,97, 100, 133,139, 173 und 185. Johanneskommentar 11,14. 7 Aus der Schrift Siyasetname von Nizamulmulk zit. nach Smail Balic ˇ, a. a. O. S. 98. 8 Zu Luthers Verständnis dieser Formulierung vgl. z.B. Martin Luther, Weimarer Ausgabe Bd. 11. S. 262. 9 Vgl. Willard van Orman Quine, Wort und Gegenstand (Word and Object). Stuttgart 1980. 10 Vgl. auch Hans-Martin Barth, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Gütersloh 2001, der S. 46–51 Rückwirkungen des Religionsdialogs auf die eigene Religion beschreibt. 11 Giovanni Boccaccio, Decameron. Zwanzig ausgewählte Novellen. Italienisch/Deutsch. Peter Brockmeier (Hrsg.). Stuttgart 1988. S. 55–59. 12 Marcus Landau, Die Quellen des Dekameron. Wien 1869. Die jüdische Herleitung vermag trotz christlicher Parallelen aus dem Spätmittelalter bis heute zu überzeugen. 13 Martin Buber, Werke Band III, S. 715f. 14 Jean Calvin, Genfer Katechismus und Glaubenbekenntnis (1537), in: Eberhard Busch u. a. (Hrsg.), Calvin-Studienausgabe Bd. 1.1. Neukirchen 1994. S. 163. 15 Zitiert nach: Annemarie Schimmel, Nimm eine Rose und nenne sie Lieder. Poesie der islamischen Völker, Frankfurt a. M. und Leipzig 1995. S. 71f. 16 Diese Gedanken sind angeregt durch Bruce Marshall, Truth and Trinity. Cambridge 1999. Marshall hat die Thematik Trinität und Wahrheitstheorien zu einem aktuellen Thema der Theologie in den USA gemacht. Meine Entscheidungen unterscheiden sich in den meisten Punkten von denen Marshalls. 17 Gegen ein harmonistisches Verständnis der Trinität ist geltend zu machen, dass die biblische Offenbarung von der Spannung ausgeht zwischen dem Sohn, der am Kreuz zu Gott dem Vater schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Ebenso ist jedes Gebet im Heiligen Geist nach Paulus ein Suchen nach der Antwort des Vaters. Vgl. dazu Martin Leiner, Doctrine de Dieu à la fin du XXe siècle et sensibilité postmoderne – vers une critique des conceptions harmonisantes de la Trinité, in: Gilles Emery/Pierre Gisel (Hrsg.), Le christianisme – est-il un monothéisme? Genf 2001. S. 284–321. 18 Die Redundanz der Wahrheit besagt, dass es einer Aussage wie „Peter ist krank“ nichts an Sachgehalt hinzufügt, wenn man sagt „Es ist wahr, dass Peter krank ist“. Entsprechend fügt einer Aussage wie „Die Erde entstand vor 7 Milliarden Jahren“ die Aussage „Gott schuf die Welt so, dass die Erde vor 7 Milliarden Jahren entstanden ist“ keine für die Erforschung der Welt als Welt, so wie sie etwa von den Naturwissenschaften vorgenommen wird, sachhaltig bedeutsame Information hinzu. 19 Zur Betonung der besonderen Bedeutung der Trinitätslehre für den Dialog der Religionen vgl. auch Hans-Martin Barth, Dogmatik, a.a.O. S. 60f. Das ganze Buch zeigt in allen seinen Themen die Fruchtbarkeit des trinitarischen Ansatzes. 1
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Auf dem Weg zu einem europäischen Islam? Muslime in Deutschland und Europa Vierzigtausend Muslime leben in der Europastadt Straßburg, sechzigtausend in Frankfurt. Das ist, hier wie da, fast ein Zehntel der Bürgerschaft. Allerdings täuscht diese Zahl darüber hinweg, dass sich diese Zuwanderer wie überall in der Welt in bestimmten Vierteln ballen. Dort sind darum, ob in Marseille, Paris oder Lyon, bereits ein Drittel oder die Hälfte der Jugendlichen Muslime. Und was die nächste Generation betrifft: In der Europastadt Brüssel sind schon jetzt 57 Prozent aller Neugeborenen Muslime! Der Islam ist in den letzten Jahrzehnten und zunächst unbemerkt zur zweitgrößten Religion Europas nach dem Christentum aufgestiegen. Muslimische Zuwanderer und ihre Kinder sind heute eine bedeutende Minderheit, die wächst – und zunehmend umstritten ist. Das war nicht immer so. Denn früher wurden Muslime vor allem als Zuwanderer aus diesem oder jenem Herkunftsland wahrgenommen, also als Araber, Perser oder Türken. Wenn die Mehrheit sie heute immer mehr und immer besorgter als Muslime wahrnimmt, hat das im Wesentlichen drei Gründe. Erstens das Coming-out der Muslime, also die schlichte Tatsache, dass Muslime zunehmend als Muslime erkennbar, hörbar und sichtbar in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten, vom alltäglichen Kopftuch bis hin zur Forderung nach dem Bau einer Moschee mit Minarett und Gebetsruf in der Mitte der Stadt. Es liegt zum Zweiten an der gegenwärtigen Renaissance des Glaubens in der islamischen Welt und damit auch der Diaspora. Und schließlich ist es ganz besonders der radikale Islamismus oder Fundamentalismus als eine Form des „Islamischen Erwachens“, der den Bürgern säkularer Staaten Sorgen bereitet: ein politischer Islam, der nach der Macht greift, und das womöglich mit Gewalt, von der Islamischen Revolution im Iran 1979 bis hin zum globalen Terror des Dschihad-Islam. Spätestens seit dem 11. September stehen die Debatten um den Islam im Zeichen der Angst vor militanten Extremisten, die nicht nur ihren eigenen Herrschern, sondern darüber hinaus dem Westen als Unterstützer den Kampf angesagt haben. Seither gibt es zwei gleichermaßen unbekömmliche Debattenextreme: eine schon etwas ältere Islambeschwichtigung, die in dialogbewegten Kreisen naive Züge annehmen kann, und eine neue, mitunter geradezu hasserfüllte Islamfeindschaft. Der Durchbruch in letzter Hinsicht war Oriana Fallacis rassistische Hetzschrift „Die Wut und der Stolz“ von 2001 – ein weltweiter Bestseller. Unser Beitrag möchte hingegen im Folgenden so informieren, dass die sehr verschiedenen, doch in aller Regel friedfertigen Absichten von Muslimen in Deutschland und Europa deutlich werden – ohne die ernste Gefahr zu verleugnen, die von einzelnen radikalen Personen und Organisationen ausgeht.
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Islamdebatten sind längst auch ein Streit um die Integration muslimischer Zuwanderer: Ist sie gescheitert, wie manche Beobachter behaupten, oder lässt sie wie manches andere in unserem Land schlicht zu wünschen übrig? Zugleich geht es dabei um eine überfällige Richtungsentscheidung der Politik zwischen zwei widrigen Extremen: schrankenlosem Gewährenlassen und Zwangsgermanisierung. Darüber hinaus wurde das Reden über den Islam durch den unwillkommenen Beitrittswunsch der Türkei auch zu einer Europadebatte: Es stellt sich die Frage nach den Grenzen Europas und damit nach Europas Selbstverständnis und Identität. Für den Deutschlandhistoriker Hans-Ulrich Wehler trennt eine „tiefe Kulturgrenze“ die Türkei von Europa; dies zu ignorieren sei ein „Akt mutwilliger Selbstzerstörung“. Dass eben diese Grenze nicht erst von Kemal Atatürk in einem Akt mutiger Selbstfortbildung eingerissen wurde – davon möchte der spätberufene Türkeideuter nichts wissen. Heute sind Türken mehrheitlich davon überzeugt, Europäer zu sein. Wenn die früheren Europäer dies anders sehen und ihr Ansinnen mit Schrecken abwehren, hat das dennoch seine Gründe. Einer davon reicht weit zurück: Europa hat überhaupt erst im Kampf mit einem expansiven Dschihad-Islam zu sich selbst gefunden, in der Abwehr der arabischen und osmanischen Eroberungen in Spanien und auf dem Balkan. Die Reconquista samt Vertreibung der Mauren und dann die Angriffskreuzzüge im Heiligen Land fanden noch im Namen der gesamteuropäisch mobilisierten Christenheit statt. Zum für die Selbstabgrenzung im Namen Europas entscheidenden Datum wurde erst der Fall Konstantinopels 1453. Der Humanist und spätere Papst Pius II. erklärte daraufhin in seiner Programmschrift „Europa“ von 1458: „In der Vergangenheit wurden wir in Asien und Afrika geschlagen, also in fremden Ländern. Jetzt aber trifft man uns in Europa, unserer Heimat, unserem Zuhause.“ Er gibt also dem Kontinent einen vorchristlichen Namen und bestimmt ihn dann als von Muslimen bedrohte Heimat der Christenheit. Es ist wohl auch dieses zutiefst ambivalente, halb schon verweltlichte und halb noch religiöse Selbstverständnis, das es manchem bis heute schwer macht, Muslime in Europa als Europäer zu denken. Obwohl dies seit dem Fortschritt der europäischen Staatenwelt durch die Säkularisation so schwer nicht sein sollte! Die Trennung von Religion und Staat – wohlgemerkt nicht: die Trennung von Religion und Politik, denn selbstverständlich dürfen christdemokratische Parteien sich auf christliche Werte berufen wie islamdemokratische auf islamische! – ist ein epochales Ereignis. Sie zieht die Lehre aus blutigen Konfessionskriegen und ermöglicht das Zusammenleben von unterschiedlichen Religionen im gleichen säkularen Staat. Die Äquidistanz des Staates zu allen Religionen beruht auf seiner Achtung vor der Freiheit jedes Einzelnen, dieser, jener oder keiner Religion anzugehören. Diese unbedingte Religionsfreiheit geht weit über die vormoderne islamische Duldung anderer Buchreligionen zu einschränkenden Bedingungen hinaus. Ein echter Aufklärer wie Friedrich der Große konnte darum sagen: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, so sie professieren, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land pöplieren, so wollten wir sie Mosqueen und Kirchen bauen. Ein jeder kann bei mir glauben was er will.“ Das ist moderne Zuwanderungspolitik – und radikal. Die Kehrseite dieser Freiheit ist wie immer, dass sie von ihren Feinden missbraucht werden kann – zum Beispiel von radikalen Islamisten, wie der 11. September gelehrt hat.
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Dennoch gilt: Die heutige Zuwanderung von Muslimen nach Europa ist eine Armutsmigration in friedlicher Absicht; der bislang größte Zustrom von Muslimen in unserer Geschichte ist kein Dschihad. Natürlich gibt es unter den Zuwanderern und ihren Kindern auch religiös-politische Aktivisten, die von der Islamisierung Europas durch gewaltfreie Mission träumen. Das stellt eine doppelte Neuerung dar. Denn erstens galt früher das Gebot der Rückwanderung ins „Haus des Islam“, wenn die Herrschaft an Nichtmuslime verloren ging; und zweitens sollte der Glauben durch Angriffs-Dschihad verbreitet werden, nämlich durch Eroberung und Aufruf – Da’wa – zum Glaubenswechsel, der allerdings durch den Tributvers (Sure 9,29) freigestellt war, was nicht wenig zum Erfolg der frühislamischen Eroberungen beitrug. Heute hingegen gibt es eine organisierte islamische innere und äußere Mission. So hat die 1962 gegründete Liga der islamischen Welt den Auftrag, verweltlichte Muslime zum Glauben zurückzuführen und Nichtmuslime zu bekehren, und verfolgt ihn schlagkräftig mit Petrodollarmilliarden. Es stellt sich darum die Frage: Sind wir tatsächlich auf dem Weg zu einem europäischen Islam, wie ihn sich viele wünschen – oder eher zu einem islamischen Europa? Hier ist daran zu erinnern, dass die Geburtenrate von Zuwanderern sich regelmäßig an die ortsüblichen Verhältnisse angleicht – und bei Türken auch in der Heimat bereits auf durchschnittlich 2,4 Kinder je Frau gefallen ist (BRD: 1,35). Nennenswerte Bekehrungen sind unwahrscheinlich. Viel eher dürfte der Auftritt von Muslimen und Evangelikalen auf dem europäischen Glaubensmarkt zum Wiederaufleben eines auch öffentlichen Christentums führen. Zu fordern ist aber von allen Zuwanderern das Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaat und Meschenrechten, also zumindest eine Teilassimilation an die politische Leitkultur Europas. Mit anderen Worten: die Schöpfung eines europäischen Islam. Das bedeutet umgekehrt, dass wir uns den traditionellen Scharia-Islam – die Herrschaft von Gottes- statt Menschenrecht – verbieten müssen, erst recht seine fundamentalistische Steigerung zur Theokratie. Allenfalls diskutabel wäre ein reform- und damit in der genannten Hinsicht anpassungswilliger Scharia-Islam; seine Selbstbeschränkung auf Ritus und Richtschnur wäre allerdings vorzuziehen. Welche Standpunkte vertreten nun Muslime in Deutschland? Beginnen wir mit dem organisierten Islam, beginnen wir mit einem wegweisenden Dokument: der „Islamischen Charta“, die am 3. Februar 2002 vom Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) verabschiedet wurde und alsbald die Zustimmung auch des Islamrates fand. Diese Grundsatzerklärung „zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft“ beginnt mit dem Satz: „‚Islam‘ bedeutet gleichzeitig Friede und Hingabe“ (§ 1). Das ist sprachlich und historisch falsch, denn „Islam“ bedeutet Hingabe an den Willen Gottes, Punkt. Das Wort für „Friede“, salâm, ist – auch wenn es sich von der gleichen Wurzel herleitet – ein anderes Wort. Dennoch sollte dieser Satz nicht als Irreführung abgetan werden: Er stellt eine im muslimischen wie nichtmuslimischen Lager willkommene Neudeutung dar, an der uns allen gelegen sein muss. Es folgen Bekenntnisse zu Grundgesetz und Menschenrechten – die allerdings unter einem Vorbehalt stehen: „Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten. In diesem Sinne gelten Visumserteilung, Aufenthaltsgenehmigung und Einbürgerung als Verträge, die von der muslimischen Minderheit einzuhalten sind. Ob deutsche Staatsbürger oder
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nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher (!) die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechts der Frau sowie der Religionsfreiheit“ (§ 10, 11). ZMD-Muslime bejahen unsere Grundordnung also (noch) nicht (alle) aus tiefster Überzeugung dahingehend, dass sie eine islamgemäße Ordnung darstelle. Sie fühlen sich aber immerhin vertraglich gebunden: ein Mindestzugeständnis auf Grundlage des schariarechtlichen Vertragsstaats-Status, eine Frucht der vormodernen Zweiteilung der Welt in „Haus des Islam“ und „Haus des Krieges“ … Dies ist mithin eine konservative Position, die von dem Tag träumt, an dem aus der Minderheit eine Mehrheit wird und der auf Diaspora-Verhältnisse zugeschnittene Vertrag endet. Glücklicherweise gibt es längst fortschrittlichere Positionen. So hat der iranische Reformtheologe Schabestari in seinem Diskussionsbeitrag zur Charta auf der Website des ZMD (www.islam.de) die Demokratie als zeit- und islamgemäße Regierungsform begründet: Sie erlaubt nämlich den gewaltfreien Streit um die richtige Auslegung der fundierenden Offenbarung für die Gegenwart. Selbstredend gibt es umgekehrt auch Stimmen, die hinter die Charta zurückfallen. Die Charta hat, das ist ihr Verdienst, einen Prozess der Klärung angestoßen, der überfällig war; und sie ist, das zeigt das verbesserte Grundsatzpapier der Schura Hamburg vom letzten Jahr, noch nicht das letzte Wort des organisierten Islam. Bevor wir nun einen Überblick über die Verbandslandschaft geben, ist ein Wort zu Größenordnungen angebracht. Weltweit gibt es 1,2 Milliarden Muslime, das ist ein Fünftel der Menschheit, die zweitgrößte Religion nach 2 Milliarden Christen und vor den Religionslosen (15%). In Westeuropa schätzt man die Zahl der Muslime auf mindestens 15 Millionen, die sich ungleich verteilen – in SW- und NW-Europa gibt es kaum Muslime. Noch ungleicher verteilen sich die vermutlich 7 Mio. Muslime Südosteuropas mit Anteilen zwischen 0,3% in Rumänien und 40% bzw. 70% in Bosnien und Albanien, dem einzigen Land Europas mit muslimischer Mehrheit. Die Bundesrepublik kommt mit 3,4 Mio. Muslimen, davon zwei Drittel Türken, auf 3,9%. Ähnliche Anteile finden sich in Großbritannien, den Niederlanden und Belgien. Spitzenreiter ist Frankreich mit je nach Schätzung 6–8% – bald ist jeder zehnte Franzose Muslim. Die Zuwanderer aus vielen Ländern bilden mehrheitlich keine transnationale Gemeinschaft aus. Sie zerfallen vielmehr in ethnische und konfessionelle Gruppen. In der Bundesrepublik sind dies 80% Sunniten, etwa 12% Aleviten unter den Türken (sie selbst sprechen gern von 20–30%) und 4% Schiiten. Konvertiten bilden mit 30 000 eine winzige Minderheit von gerade einem Prozent – die allerdings im Prozess der „Verkirchlichung“ des Islam von besonderer Bedeutung ist. So wenig gerade der sunnitische Islam eine Kirche kennt, so sehr fordert ihm das deutsche Staatskirchenrecht zwecks Anerkennung als Religionsgemeinschaft und vielleicht sogar Körperschaft des öffentlichen Rechtes eine kirchenähnliche Selbstorganisation in Vereinen und Verbänden ab. Diese Verkirchlichung ist ein zweischneidiges Schwert. Denn sie fördert die Dominanz von Aktivisten in Dachverbänden – die nur eine Minderheit von etwa einem Drittel der Muslime repräsentieren. Die Ausländerbeauftragte schätzt zwar, dass nur 12–15% der Muslime in religiösen Ver-
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bänden organisiert sind. Realistischer dürfte aber die Zahl sein, die eine Umfrage des Zentrums für Türkeistudien (ZfT) vom letzten Jahr nennt: nämlich 36%. Der organisierte Islam kennt drei Dachverbände: den Islamrat der Bundesrepublik Deutschland, den Zentralrat und DITIB. Der transnationale, bis ins Jahr 1986 zurückreichende Islamrat (www.islamrat.de) vereinigt 32 Verbände, darunter die Islamischen Föderationen. Er ist konservativ mit einem Spektrum von gemäßigten bis streng aktivistischen Mitgliedern und wird von der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs dominiert. Letztere, gegründet 1976/1995, hat 274 Mitgliedsvereine mit 26 500 Mitgliedern und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Sie erzieht zum Neben- statt Miteinander („Wir brauchen eine Parallelgesellschaft!“, so der Vorsitzende Mehmet Sabri Erbakan am 5. 6. 2002) und tritt gewaltfrei für einen traditionellen Scharia-Islam ein. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland distanziert sich wie der Zentralrat der Juden durch das „in“ in seinem Namen feinsinnig vom Aufenthaltsland. Die frühere Union des Organisations Islamiques en France hat sich dagegen längst umbenannt in „de France“; hier demonstrieren Musliminnen mit der Trikolore fürs Kopftuch. Auch der Zentralrat, gegründet 1994, ist transnational und bringt es mit 19 Verbänden auf etwa 43 000 Mitglieder, also 1–2% der hiesigen Muslime. Wichtigster Einzelverband ist die Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine (ATIB), seit der noch größere Verband der Islamischen Kulturzentren wieder austrat. Der ZMD ist ebenfalls konservativ mit einem Spektrum von gemäßigten bis streng aktivistischen Mitgliedern, man denke an die den Muslimbrüdern verbundenen Islamischen Zentren von Aachen und München. Weit größer ist die 1982 gegründete Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion der Türkei (DITIB) mit 150 000 Mitgliedern in 800 Vereinen. Sie steht für den laizistischen türkischen „Staatsislam“ und positioniert sich derzeit neu als integrationsbereit – siehe die von DITIB im Alleingang herbeigeführte Kölner Demonstration und die Forderung des Mannheimer Imam Bekir Alboga nach einer Ausbildung zum Imam an Islamischen Theologischen Fakultäten in Deutschland. Im Spektrum der unabhängigen Einzelverbände und Vereine findet man nicht nur den schon erwähnten Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), gegründet 1967/1980, mit 20 000 Mitgliedern in 300 Gemeinden, der sich nach einer Zeit der Öffnung wieder abgeschottet hat. Selbständig sind nämlich auch mit gutem Grund die progressive Aleviten-Föderation und die 70 Fethullaci-Bildungszentren eines Schülers von Said Nursi, Fethullah Gülens (www.fguelen.de). Tatsächlich radikale Organisationen wie die panislamistische Hizb ut-Tahrir, die allen Ernstes in ihrem Parteiprogramm zum Angriffs-Dschihad aufruft, werden mittlerweile in Deutschland endlich verboten (15.1.2003). Sie können aber nach wie vor im Internet unbehelligt für sich werben. So viel zum organisierten Islam. Und eine Warnung: Die schweigende Mehrheit der Muslime ist nicht organisiert. Sie wird aber gern von einer Minderheit glaubensstarker Aktivisten vereinnahmt, wenn Politik und Medien deren Vertretungsanspruch unkritisch akzeptieren. Frankreich zeigt, wie man dem entgegentreten kann. Hier wurde 2003 von sage und schreibe 88% aller Muslime ein Conseil Français du Culte Musulman gewählt. Natürlich ist damit die Spaltung in konservative, progressive und ethnische Fraktionen noch nicht überwunden. Aber zumindest besitzt dieser Islamrat als Ansprechpartner des Staates eine demokratische Legitimation.
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Wo steht nun die schweigende Mehrheit der nichtorganisierten Muslime in Deutschland? Hier möchten wir gegen das von Aktivisten geprägte Image der Muslime aufzeigen, wie groß die Unterschiede in der Religiosität in Wirklichkeit sind. Beginnen wir mit empirischen Daten zur Glaubenspraxis am Beispiel der Grundpflichten. Das Glaubensbekenntnis ist selbstverständlich, ausdrücklicher Atheismus ist rar. Doch schon für das Gebet gilt nach einer Studie von Brettfeld (2004) bei 15-jährigen Muslimen: 22% beten nie, 19% nur mehrmals im Jahr, wöchentlich 10%, mehrmals wöchentlich 14% und täglich 23%. Pflicht wäre fünf Mal täglich! Die Moschee besuchen türkische Jugendliche nach einer Studie von Worbs (2004) regelmäßig 10%, manchmal 52%, und 37% nie, davon 52% Frauen und 25% Männer; bei Brettfeld beträgt der Nie-Anteil 36%. Almosen geben Türken laut ZfT (2004) 79,5% immer oder meistens, und ebenso viele Türken fasten immer oder meistens und begehen das Opferfest. Dass beim Fasten Höchstwerte der Pflichterfüllung erreicht werden, sollte nicht überraschen: Das Fasten ist ein großes gemeinschaftsbildendes Fest. Damit stellt sich die eigentliche Gretchenfrage der Religionspolitik: Wie groß ist der Anteil der Kulturmuslime, also der Feiertags- oder Id-Muslime, die sich darin von Weihnachtschristen kaum unterscheiden, und wie groß der Anteil der strengen Muslime? Die Daten der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Erhebungen sind nicht leicht zu vergleichen. Nach einer Studie des ZfT (2002) schätzen sich 11% aller Türken als „sehr religiös“, 47% als „eher religiös“, 31% als „eher nicht religiös“ und 8% als „gar nicht religiös“ ein; die Polarisierung habe seit 2000 zugenommen. Nach einer Studie Heitmeyers (1997) in NRW halten sich 66% der türkischen Schüler für „nicht streng oder auf persönliche Weise“ religiös. Worbs (2004) beziffert die Relation von stark, mäßig und schwach religiösen jungen Türken in Nürnberg anhand fragwürdiger Praxis-Indikatoren (ausgerechnet Moscheebesuch, Feste und Speisetabus!) auf 46% zu 36,4% zu 17,5%. Brettfeld (2004) beziffert die Religiosität 15-jähriger Muslime nach Selbsteinschätzung (hoch) und Gebetspraxis (polar) auf „sehr niedrig“ 19,7%, „niedrig“ 28,8%, „hoch“ 26,6% und „sehr hoch“ 25,7% – obwohl die Zahlen im Detail eher eine Gleichverteilung über das gesamte Spektrum nahe legen. Alles in allem fährt man nicht schlecht mit der folgenden DreiDrittel-Faustregel: Einem Drittel auffällig glaubensstarker Muslime steht ein Drittel Kulturmuslime gegenüber; das letzte Drittel schwankt zwischen den Extremen. Das heißt für die gegenwärtigen Islamdebatten: Mindestens ein Drittel unserer überwiegend türkischen Zuwanderer wird ständig überislamisiert! Wenden wir uns den Fragen zu, die im letzten Herbst durch den Blätterwald rauschten: Sind die Muslime auf dem Rückzug in eine „Parallelgesellschaft“? Ist die viel beschworene Integration gescheitert? Auch hier kann es nicht schaden, einen Blick auf die Daten der empirischen Sozialforschung zu werfen, statt Behauptungen aus der Luft zu greifen. Beginnen wir mit dem Wertekonservativismus vieler Muslime, dem eigentlichen Stein des Anstoßes im Milieu der um ihre Diskurshoheit besorgten Meinungsmacher. Hier gilt nach der neuesten Studie des ZfT, dass sich 33,8% der Deutschtürken als „modern-liberal“ bezeichnen; bei den 18–25-Jährigen steigt der Anteil nicht überraschend sogar auf 41,8%. Nur 16,6% halten sich für „traditionell-religiös“, und 49,6 bekennen sich zu „teilsteils“. Nicht minder bedeutsam ist, dass die erfragten Werte sehr vom Gegenstand abhän-
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gen: Fürs Kopftuch in der Öffentlichkeit stimmen 27%, für Geschlechtertrennung bei Sport und Klassenfahrten hingegen nunmehr 18,7%. Das Abschottungsstreben wird wie international üblich mit folgender Frage gemessen: „Wir Türken (oder: Deutsche, Chinesen …) müssen unter uns bleiben, um unsere türkische Lebensweise nicht zu verlieren.“ Das wird von sensationellen drei Vierteln aller Befragten verneint, nur 15,4% bejahen rundheraus! Von einer Abkehr auf breiter Front kann also wahrlich nicht die Rede sein. Gibt es dennoch Phänomene, die auf ein Leben in „Parallelgesellschaften“, besser: in lokalisierbaren sozialmoralischen Milieus der deutschtürkischen Gemeinschaft deuten? Es stimmt, 23% der Deutschtürken leben in Vierteln mit überwiegend türkischen Bewohnern; aber nicht immer aus freien Stücken. Bedeutsamer scheint die bislang ungebrochene Tradition der Binnenheirat in Verbindung mit starker Heiratsmigration: 60% der türkischen Zuwandererkinder in Frankfurt und 42% in Berlin suchen ihre Partner in der Türkei, Männer doppelt so häufig wie Frauen. Deutsch-türkische Heiraten sind dagegen noch immer selten. In Frankreich heiraten dagegen ein Viertel der Zuwanderertöchter und sogar die Hälfte der Söhne von Algeriern aus der Herkunftsgruppe heraus! Noch genießt also die ethnische Selbstreproduktion Vorrang vor maximaler Integration, doch deutet sich ein Wandel an: Nach Worbs (2004) ist die gleiche Religion des zukünftigen Partners nur für 29,2% bzw. 21,7% der türkischen Jugendlichen „sehr wichtig“ oder „wichtig“ und für 24,1% bzw. 25,1% „nicht sehr wichtig“ oder „unwichtig“! Das entscheidende Integrationsdefizit ist aber ohnehin ganz anderer Natur – und betrifft keineswegs Muslime allein: Zuwanderer besuchen in Deutschland immer öfter „Restschulen“. Nach Worbs (2004) gehen 50% der nichtmuslimischen und 60% der muslimischen 16–25-jährigen Zuwandererkinder auf Haupt-, Förder- und Sonderschulen. Hier bahnt sich eine Katastrophe an – denn die Chancen dieser Schüler auf dem heutigen Arbeitsmarkt tendieren gegen Null. Zu beheben ist darum ein Schlüsselversäumnis unserer Bildungspolitik: Wer Zuwanderer will, braucht wie in Frankreich üblich eine école maternelle, eine Vorschule, die allen Kindern Deutsch beibringt, bevor es zu spät ist. Kehren wir zurück zur Gretchenfrage nach der Abschottung! Gibt es bei alledem einen Zusammenhang mit der Religiosität, wie der öffentliche Diskurs meist unterstellt? Die jüngste Studie des ZfT bejaht das: Je religiöser, desto stärker sei bei Muslimen das Bedürfnis nach Abschottung. Der Islam bleibe darum ein „drängendes Integrationsproblem“. Das ist eine unzulässige Vereinfachung; denn eine Binnendifferenzierung im Segment der stark religiösen Muslime unterblieb. Glücklicherweise hat die Studie von Worbs (2004) für 16–25-jährige Muslime genau dies geleistet. Und siehe da: Immerhin noch die Hälfte der stark religiösen jungen Muslime verneint die Abschottungsfrage – und nur 31,2% stimmen ihr zu. Mit anderen Worten: Starker Islam kann, er muss aber kein Integrationshindernis sein!
Imam Bekir Alboga
Die Rolle der Religionen beim Aufbau und der Weiterentwicklung moderner Gesellschaften – Eine muslimische Perspektive DÜn, Madanijja und Madüna – Religion, Zivilisation und Stadt bzw. Gesellschaft
„[…] Gewiss, Gott ändert die Lage eines Volkes (einer Gesellschaft) nicht, ehe sie (die Leute) nicht selbst das ändern, was in ihren Herzen ist“ (Al-Qur’an al-karim: Sura 13, Vers 11 J). Das Religionsverständnis des Islam ist etwas Allumfassendes, was häufig zu negativen Schlussfolgerungen und Missdeutungen geführt hat und führt. Umso schöner ist es, dass wir heute über die Rolle der Religionen beim Aufbau und der Weiterentwicklung moderner Gesellschaften und nicht über den Kampf der Religionen mit der Moderne bzw. dem Modernismus sprechen. Damit setzen wir uns mit dem Konzept einer Versöhnung der Kulturen und nicht mit der bedrohlichen Theorie vom „Clash of Civilizations“ auseinander. Die Rolle der Religion „Islam“ beim Aufbau und der Weiterentwicklung moderner Gesellschaften interessiert uns alle sehr, da uns der Diskurs mit den beiden hochaktuellen Phänomenen „Globalisierung“ und „Integration“ immer mehr beschäftigt. Die Rolle und der Platz, die man dabei dem Islam in globaler Hinsicht beimisst, sind die eines Feindes „moderner Gesellschaften“. Dies geschieht nur deswegen, weil man den Islam und seinen Beitrag zur Kultur und Wissenschaft nicht kennt oder aber auch das Wissen über und die Darstellung des Islam manipuliert. Man könnte dies auch mit der allgemeinen Angst in Zusammenhang bringen, die die Modernisten im Abendland seit dem Mittelalter mit sich schleppen, dass die Religion selbst, das hieß damals die katholische Kirche, die Wissenschaft und Moderne bekämpft.
Was will die Religion und die Zivilisation des Islam überhaupt? Der Islam will einen gläubigen Muslim so weit kultivieren, dass er den Schöpfer und Erhalter der Welt erkennt und durch die Verwirklichung der Normen seiner Religion einen umfassenden Frieden auf Erden und die ewige Glückseligkeit im Jenseits erreicht. Die Lebensphilosophie des Islam, die Frieden und Glückseligkeit, sowohl im Diesseits als auch im Jenseits verspricht, könnte man in wenigen und leicht verständlichen Sätzen resümieren: Eine muslimische Person, sei sie männlich oder weiblich, sollte so arbeiten, als ob sie nie sterben würde, um ihre materielle Glückseligkeit zu erwerben, und der gleiche Mus-
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lim sollte so leben, als ob er morgen sterben würde, indem er seine spirituellen Dimensionen nicht vernachlässigt, um seine Glückseligkeit im Jenseits vorzubereiten. Da der Islam auf die materielle Glückseligkeit ebenso viel Wert legt wie auf die Spiritualität und auf den Verstand ebenso viel wie auf Glauben und Wissen, dürfte keines dieser Phänomene auf Kosten eines anderen vernachlässigt werden. Diejenigen, die sich nicht an dieser Religion orientieren wollen, bezeichnet der Qur’an als Menschen, die ihre Intelligenz nicht richtig nutzen. Insofern besteht der Auftrag der Religion des Islam darin, dem Menschen seine intellektuellen Qualitäten zu verdeutlichen und ihm einen Orientierungsrahmen bereitzustellen, mit dem er in seinem Diesseits Erfüllung erlangen kann, ohne dabei das Jenseits zu verlieren. Gott fordert die Gläubigen auf und sagt dazu: „Sondern suche in dem, was Gott dir gegeben hat, die Wohnstatt des Jenseits; und vergiss deinen Teil an der Welt nicht; und tue Gutes, wie Gott dir Gutes getan hat; und begehre kein Unheil auf Erden; denn Gott liebt die Unheilstifter nicht“ (28:77). „Und unter den Menschen sind welche, die sagen: ‚Unser Herr, gib uns (Gutes) in dieser Welt.‘ Doch haben sie nicht im Jenseits Anteil (am Guten)“ (2:200). „Und unter ihnen sind manche, die sagen: ‚Unser Herr, gib uns in dieser Welt Gutes und im Jenseits Gutes und verschone uns vor der Strafe des Feuers!‘“ (2:201). Interessanterweise waren es die polytheistischen, wohlhabenden und mächtigen Stammesführer in der Stadt Mekka, die die Religion des Islam bekämpften, weil er unter Berufung auf Aufklärung die Vernunft der Menschen ansprach, und es war zu modern für diese Nichtswisser, was er predigte. Der Islam forderte die Ignoranten jener Gesellschaft im 7. Jahrhundert in Mekka zu lesen, versuchte sie aufzuklären. Der Gesandte Gottes, Muhammed, Friede sei mit ihm, bekam den göttlichen Auftrag, eine monotheistische Gesellschaft aufzubauen, die für die damaligen Verhältnisse eine moderne, eine neuartige Glaubensgemeinschaft bedeutete. Die Menschen sollten die Worte Gottes studieren und im Lichte der Vernunft über sie nachdenken. Diese aufklärende Mission wollte eine Gesellschaft aufbauen, in der die Menschen von der Sklaverei des Polytheismus und des Aberglaubens, die Frauen von Unterdrückung und Tötung und die Sklaven von physischer und psychischer Unterjochung befreit werden sollten. Das Jahr 622 bedeutete den historischen Wendepunkt dieses Prozesses. Der Auftrag des Propheten bekam in Medina eine neue Qualität: Es ging nicht nur mehr um die Überzeugung der Polytheisten vom Monotheismus, sondern gleichzeitig um die Kultivierung einer primitiven und unterentwickelten Gesellschaft in Yathrib durch ein neues Zivilisationskonzept. Dementsprechend heißt die Stadt Yathrib nun Medina, al-Madinat al-munawwarat, die beleuchtete bzw. erleuchtete Stadt, für eine geistige und neuartige Art von Aufklärung. Das bedeutete auch die faktische Geburt einer neuen tonangebenden Religion: also nicht nur „sich zum Eingottglaube bekennen“, arabisch „ad-DÜn“, vielmehr ging es um eine neue „Lebensweise“ und einen neuen „Weg“, eine madanijja, d.h. eine Zivilisation. Die Durchführung dieses Friedens-, Versöhnungs- und Aufklärungskonzeptes durch eine fundamentale Umwälzung und Kultivierung des arabischen Sippen-, Stammes- und
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Blutsverwandtschaftssystems überließ Gott nicht einem unkultivierten Beduinenführer, sondern seinem Gesandten persönlich, den ER selbst erzogen hatte. Mit Gottes Lenkung und Offenbarung wusste der Prophet, dass auch das Volk dieser kultivierenden Neugestaltung seiner Gesellschaft zustimmen müsste. „[…] Gewiss, Gott ändert die Lage eines Volkes nicht, ehe sie (die Leute) nicht selbst das ändern, was in ihren Herzen ist“ (Sura13, Vers 11). Und er wusste auch, dass es dabei und bei Glaubensangelegenheiten insgesamt: „keinen Zwang in der Religion gibt“ und geben darf […]“ (Sura 2, Vers 256). Der Gesandte Gottes musste gemäß dem göttlichen Plan zunächst als Schlichter zwischen den in Medina miteinander verfeindeten Stämmen fungieren, um ein kultiviertes Verhältnis miteinander zu erreichen, was ihm ein beträchtliches Ansehen einbrachte. Alle stimmten seiner Rolle als Lenker der neuen Gemeinschaft in Angelegenheiten der politischen und sozialen Lebensführung zu. Als ein gemeinsamer Nenner wurde der Glaube Abrahams, Friede sei mit ihm, einem vorbehaltlosen Monotheismus den Juden in Medina angeboten, um auf die ewigen gemeinsamen Wurzeln der Monotheisten hinzuweisen (Sura 3, Vers 67). Zusätzlich zu diesem Glaubensgrundsatz wurden durch einen Gesellschaftsvertrag, die Verfassung von Medina, ein bemerkenswertes schriftliches Vertragswerk, das Zusammenleben der verschiedenen Stämme und die Verpflichtung zur gegenseitigen Unterstützung im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung mit den Feinden von außen geregelt. Gleich zu Beginn des Gemeinschaftsvertrags wurde betont, dass sie, die medinensischen Muslime und Juden, eine einzige Umma, eine Gemeinschaft sind, verschieden von anderen, d. h. die Juden von Medina erscheinen in dem Verfassungsdokument als gleichberechtigte Partner innerhalb der neuen Gemeinschaft: „Zwischen ihnen besteht eine (gegenseitige Verpflichtung zur) Hilfe gegen jeden, der die Leute dieses Vertrags angreift. Zwischen ihnen besteht aufrichtige Freundschaft und ehrenvoller Umgang, kein Verrat.“ In Mekka garantierte der Islam den Polytheisten eine Religionsfreiheit mit den Worten „Euch euer Glaube und mir meiner/Ihr habt eure Religion, und ich habe meine Religion“(Sura 109, Vers G). Dort war sie, die Religion des Islam, die unterdrückte und vertriebene Religion. In Medina nun wurde den Juden garantiert: „Den Juden ihre Religion und den Muslimen ihre.“ Die Religion Islam und die Gesandtschaft des Propheten wurden ihnen nicht oktroyiert, vielmehr fungierte der Prophet lediglich als der Vermittler und Schlichter: „Wenn immer es etwas gibt, worüber ihr uneins seid, soll dies Gott und seinem Propheten vorgelegt werden.“ Nun mussten die gläubigen Muslime durch den Qur’an und persönlich durch den Gesandten Gottes gemäß diesem Zivilisations- und Modernisierungskonzept in dem Maße erzogen werden, dass diese kultivierte, politischinteressierte und religiöse Gemeinschaft, Umma, zur besten Gemeinschaft entwickelt wurde. „Ihr seid die beste Gemeinde, die für die Menschen entstand. Ihr gebietet ihr das, was rechtens ist, und ihr verbietet das Unrecht, und ihr glaubt an Gott (…)“ (Vrg. 3: 110). Der Prophet hatte – einerseits die Aufgabe als Gesandter Gottes die ganze Menschheit an die Präsenz Gottes zu erinnern; – andererseits als Mensch mit der Eigenschaft der Führungspersönlichkeit und eines Vorbildes mit den höchsten moralischen Tugenden versehen, eine vorbildliche und neuzeitliche Gemeinschaft zu gestalten.
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In einem Zeitraum von 23 Jahren, in dem die Verse und Abschnitte des Qur’ans offenbart wurden, entwickelte sich Etappe für Etappe eine tiefe spirituelle und religiöse Unterweisung. In der medinensischen Periode dieses Offenbahrungsprozesses ab 622 entwickelte sich parallel dazu eine Tradition des Wissens und der muslimischen Wissenschaftlichkeit. Zwar verfügten weder der Prophet noch seine Gefährten über eine wissenschaftliche oder eine spezialisierte Ausbildung, jedoch wurden sie von einer göttlichen Botschaft geleitet, die ihre Wahrnehmung und ihr Interesse, ihre Konzentration und ihr Verständnis des Universums vertiefte und so den Charakter ihrer individuellen und gemeinschaftlichen Beziehung zu Gott prägte. Von dieser Botschaft motiviert entwickelten sich zunächst spezifische islamische Wissenschaften. Die vorbildliche und erneuernde Tradition des Propheten überzeugte seine Gefährten von der herausragenden Wichtigkeit des Wissenserwerbs. Das Analphabetentum und die Unwissenheit, al-Jaahilijja, wurden zum Erzfeind der islamischen Religion und Zivilisation erklärt und jede muslimische Person, ausdrücklich jede Muslima und jeder Muslim, wurde zum Erwerb des Wissens, der Wissenschaft bzw. der Weisheit verpflichtet, gleichgültig ob im Hegaz in Arabien oder in China. In Medina wurden ab 622 so die erste Moschee und die erste muslimische Gemeinde und eine multireligiöse Gesellschaft errichtet. In der Moschee wurde eine ehrenvolle Stelle für eine beachtliche Anzahl von Gläubigen reserviert, die sog. Ashaab as-suffa, die nichts anderes zu tun pflegten, als sich mit dem Erwerb des Lesens und Schreibens zu beschäftigen. „Die Gläubigen sollen aber nicht allesamt gleichzeitig ausrücken. Von jeder ihrer Abteilungen soll eine Gruppe nicht ausrücken, um sich in der Religion zu unterrichten. So können sie ihre Leute nach ihrer Heimkehr ermahnen/belehren, vor dem Bösen auf der Hut zu sein“ (Sura 9: Vers 122). Jeder Kriegsgefangene, der zehn Muslimen das Lesen und Schreiben lehrte, bekam für diese Lehrtätigkeit seine Freiheit. Die Tradition der Gelehrsamkeit wurde begründet. Und auch der Lebensbezug des Islams, seine soziale, wirtschaftliche und moralische Lebensphilosophie gründete in dieser Zeit. Aus den heiligen Texten des Qur’ans und aus der Sunna des Propheten in einem soziokulturellen Geist und Umfeld entstanden allmählich innerhalb von zehn Jahren eine neue Kultur und moderne Zivilisation in Medina. Die Muslime waren und sind bemüht, den Inhalt der Botschaft des Buches zu verstehen, um die muslimische Frömmigkeit zu praktizieren und ihre Lehrinhalte und Gebote wie Verbote festzuhalten. Daher haben sie sehr früh angefangen, Auslegungsmethoden für die Worte Gottes zu entwickeln. Vor allem zum exakten Einfühlungsvermögen der religiösen Gebote und Verbote des Qur’ans diente die Exegese. Unmittelbar nach der Generation des Propheten haben die Nachkommen angefangen, zunächst die Sprache des Qur’ans durch grammatikalische Analyse und durch Heranziehung von Belegen aus der arabischen Literatur zu durchleuchten. Die Folge war eine philologische Qur’an-Exegese zur Sammlung eines literarischen Materials von unschätzbarem Wert. Es entstand eine historische Exegese des Qur’ans und der Tradition des Propheten, als die ersten Kommentatoren begannen, zur Erhellung mehrdeutiger bzw. komplizierter Stellen im Qur’an die Gründe und Anlässe zu berücksichtigen, die „Asbaab an-nuzuul“ genannt werden. Durch die besondere Beachtung dieser Umstände der Herabsendung in
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vielen Fällen halten die Exegeten die betreffenden religiösen Vorschriften so für zeitbedingt und auf die damalige Situation gemünzt. Und dies führt zu starker Relativierung, so dass man sie zwar als Beispiel heranzieht, aber nicht mehr als absolut verbindlich beachtet. Die logische Folge war dann die zeitgemäße Anpassung und Entwicklung der gesetzlichen Bestimmungen. Danach ging die Tradition weiter mit Kommentarwerken, die rechtswissenschaftlich, apologetisch, mystisch und theologisch waren. Ähnlich handelten die Rechtsgelehrten, die aus den Texten des Buches Gottes die Bestimmungen herausgearbeitet und neben der theologischen Reflexion auch die Rechtsschulen mit ihnen untermauerten, die schließlich die Grundlage des islamischen Gesetzes bildeten. Drei spezifische islamische Wissenschaften wurden entwickelt: 1. die Wissenschaft, die alles behandelt, was die Beziehungen mit Gott und der Welt des Unsichtbaren, „jenseits der Sinneswahrnehmung“ betrifft, 2. die Wissenschaft vom Gottesdienst, islamisches Recht und Rechtswissenschaft, 3. die Wissenschaft von der islamischen Mystik, Tasawwuf oder Sufismus, von der Ethik bzw. Moral und gutem Verhalten und die Wissenschaft der sozialen Beziehungen. Der Prozess der Ausbildung dieser Wissenschaften vollzog sich langsam und stufenweise und erstreckte sich über knapp drei Jahrhunderte, ungefähr vom 7. bis zum 9. Jahrhundert n.Chr. Dieser Prozess brachte die spirituellen und kulturellen Errungenschaften des islamischen Mittelalters. Dazu beigetragen haben z.B. Abu Hanifa (G97–7G7), der die Tradition der islamischen Rechtsschulen eröffnete. Für ihn spielten in der Argumentation und in der Bemühung um die Rechtsfindung das persönliche Urteil eines Rechtgelehrten (Ra’j) und die Analogie (qijas) eine entscheidende Rolle. Damit wird neben dem Glauben und den Quellen der Tradition dem gesunden Menschenverstand eine entscheidende Bedeutung zuerkannt; Al-Ghazali (1059–1111), der größte Theologe, der in Florenz etwa in einer Kirche des 15.Jahrhunderts neben Kirchenvätern als einer der größten Spiritualisten der Menschheit dargestellt wurde; Ibn Sina/Avicenna (980–1037), der größte Platoniker des Islam und als Arzt hochgefeiert im Abendland: Es genügt, dass wir uns nur an sein Werk al-Qanun fi’1-tibb (Kanon der Medizin) erinnern, das jahrhundertelang als Handbuch der Mediziner im Westen diente; Ibn Rushd/Averroes (112G–1198), der bedeutendste Philosoph des Islam, der größte zweite aristotelische Meister, der zugleich ein vollendeter Theologe und Arzt war und Theologie und Philosophie maßgebend für die moderne Welt miteinander versöhnte; und eine weitere historisch unübertreffliche Größe Ibn Khaldun (1332–140G), der die moderne Historiographie und Gesellschaftsphilosophie begründete und von dem die großen Schriftsteller im Westen vor allem im 18. Jahrhundert maßgebend profitiert haben. Ibn Musa al-Charismi um 800 n. Chr. wurde mit seinen Büchern über Mathematik zum Wegbereiter moderner Mathematik in Europa berühmt. Ein großer Teil der elektronischen Datenverarbeitung – und damit zugleich ein wesentlicher Teil unseres modernen Lebens besteht aus Nullen. Der Name al-Charismi wurde als alchoarismi und später Algorithmus zum Synonym für das neue Rechnen. In der islamischen Welt entwickelten sich der Handelsverkehr und das städtische Leben dynamisch. In jeder islamischen Stadt befanden sich zumindest eine Bibliothek und eine
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Schule, eine Tatsache die man als ein Beweis für die fortgeschrittene soziale Streuung der Kultur nennen kann. Die Bedeutung des geistigen Erbes, das der Westen vom Islam empfing, ist nicht zu bestreiten – besonders auf dem Weg über Spanien, wo jüdische, christliche und islamische Kulturen aufeinander trafen. Dieses beeinflusste die abendländische Renaissance und Moderne so nachhaltig, dass man die christlichen und altgriechischen Elemente der europäischen Kultur nicht mehr von ihnen, den muslimischen, trennen kann. Ihre wissenschaftlichen Merkmale haben eine faszinierende Vergangenheit. Eine Revitalisierung dieser islamischen Hochkultur wäre ein sehr konstruktiver Beitrag zur Weiterentwicklung moderner Gesellschaften. Im Lichte der großen Gestalten der islamischen Vorzeit kann Aufklärung zu einer offenen kulturellen Begegnung und somit zu wahren demokratischen Verhältnissen führen. Die großen Krisen könnten eine schnelle Lösung finden. Auf Orient und Okzident, Muslime und Christen bezogene Feindbilder können überwunden werden. Vor allem in der Türkei, aber auch im Rest der modernen islamischen Welt gesellen sich viele Schriftsteller, Gelehrte, Theologen und Denker zu ihnen. Sie führen einen Kampf gegen Ignoranz jeglicher Art. Sie treten dafür ein, dass man seiner eigenen Kultur dienlich ist und die Errungenschaften aus eigener Vergangenheit fruchtbar weiterentwickelt, jedoch ohne Zerstückelung, vielmehr in einer gesunden, lebendigen Integrität. In der Stadt Medina standen sowohl der Prophet als auch die erste Moschee des Islam im Mittelpunkt des spirituellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens der neuen Gemeinschaft. In ihnen erzog der Prophet seine Gemeinde zu einer demokratischen Kultur. Auch regelmäßige Sitzungen wurden abgehalten, in denen soziale, kultische, wirtschaftliche und politische Belange der neuen Gemeinschaft diskutiert wurden. Diese Zusammenkünfte wurden vom Propheten persönlich geleitet. Bei religiösen Belangen verkündete der Prophet die Worte Gottes, seine Gebote und Verbote und erörterte Verständnisfragen der Gemeinde. Gott und dem Propheten wurde in Sachen Gottesdienst nicht widersprochen, sondern gehorcht. Bei politischen Fragen entstanden jedoch Diskussionen, bei denen der Gesandte Gottes die Meinung und Stimme des Volkes akzeptierte. Er wies deutlich darauf hin: „Ich bin nur ein Mensch. Wenn ich euch also sage, etwas zu tun, das zur Religion gehört, so nehmt es an; wenn ich euch etwas nach meiner Meinung sage, so erinnert euch, dass ich ein Mensch bin. Ihr kennt eure Angelegenheiten besser.“ Dies war eine liberale und demokratische Vorgehensweise des Propheten zu Beginn des 7. Jahrhunderts. Zwar gab es noch keine Tradition von Wahlen und einer repräsentativen Demokratie, jedoch war die Beteiligung der Gemeindeglieder am gesamten Prozess demokratischer Meinungsbildung unmittelbar. Diese Unterscheidung war seinen Gefährten bewusst, und bekanntlich suchte der Gottesgesandte bei verschiedenen Gelegenheiten ihren Rat, um dann eine Entscheidung auf der Grundlage der Mehrheitsmeinungen zu treffen. Er prüfte die Fähigkeit und Reife ihrer Eigenständigkeit und fragte sie: „Worauf wird dein Urteil gründen?“ – „Es wird auf dem Buche Gottes gründen“, antwortete sein Gefährte Mu’aadh. „Und wenn du darin nichts Entsprechendes findest?“ – „Dann wird es auf der Tradition (sunna) des Gesandten Gottes gründen. “ „Und wenn du dort nichts findest?“ – „Dann werde ich mich mit aller Kraft bemühen, mir ein eigenes Urteil zu bilden.“ Daraufhin beschloss der Pro-
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phet (Friede sei mit ihm): „Gelobt sei Gott, Der den Beauftragten Seines Propheten so geleitet hat, dass es Seinem Propheten wohl gefällt.“ Er ermutigte seine Gefährten und sagte: „Wer die Anstrengung der Interpretation (idschtihaad) unternimmt und zu einer richtigen Entscheidung gelangt, wird zwei Belohnungen erhalten, während derjenige, der dies tut und zu einer falschen Entscheidung gelangt, eine einzige Belohnung erhält.“ Als der Prophet im Jahre 632 starb, hatte er keinen politischen Nachfolger ernannt. Es gibt auch im Qur’an keine Stelle, die sich mit einem bestimmten politischen System auseinander setzt, außer einem Hinweis „[…] und (für jene,) die auf ihren Herrn hören und das Gebet verrichten und deren Handlungsweise (eine Sache) gegenseitiger Beratung ist“ (Sura 42, Vers 38). Die erste Urgemeinschaft des Islam, die Generation des Propheten, hatte also aus ihrer Mitte und unmittelbar Persönlichkeiten zum Staatsoberhaupt, zum Staatspräsidenten, zum Kalifen gewählt, wobei vor 1400 Jahren bei der Wahl dieser Stellvertreter des Propheten in politischen Angelegenheiten, Khalifat ar-rasuul, sowohl die Frauen als auch die Männer dieser fortschrittlichen Gemeinschaft das aktive Wahlrecht hatten.
Ergebnis: Aus aktuellen Notwendigkeiten sollte in Deutschland und im Westen ein Beitrag geleistet werden, die islamische Kultur als Bereicherung anzusehen, wie es bereits in der Geschichte Spaniens zur Zeit der Mauren (711–1492) der Fall war. Damit und nur so könnten der Islam und die muslimische Gemeinschaft u. a. rassistischen, antiislamischen und radikalen Tendenzen entgegentreten. Wenn wir religiöse Identität und Identitätswahrung im Sinne eines modernen Miteinanders in der kulturellen und religiösen Vielfalt verstehen, dann steht das menschliche Bedürfnis nach religiöser Heimat nicht im Widerspruch zur gesellschaftlichen Eingliederung und Weiterentwicklung moderner Gesellschaften. Beides kann durchaus Hand in Hand gehen. Zum Schluss zitiere ich Claude Cahen, einen französischen Wissenschaftler, der sich vor allem durch seine Arbeiten zur islamischen Wirtschaftsgeschichte einen internationalen Ruf erworben hat: „Die neue Kultur [d.h. des Islam] […] zählte zu den glänzendsten und sollte in mancher Hinsicht zur Erzieherin des Abendlandes werden, nachdem sie selbst einen großen Teil des antiken Erbes in sich aufgenommen und zugleich mit neuem Leben erfüllt hatte. Seit dreizehn Jahrhunderten ist die islamische Geschichte im Kriege wie im Frieden unaufhörlich mit der westlich-europäischen verbunden, unsere Kulturen sind auf demselben ursprünglichen Grund gewachsen, und wenn das, was wir daraus gemacht haben, schließlich weit auseinander gegangen ist, so kann ein Vergleich uns nur helfen, uns gegenseitig zu verstehen. Aus all diesen Gründen – und nicht nur, weil ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts allen Völkerfamilien Verständnis entgegenbringen sollte, […] muss die Geschichte der islamischen Welt in unserem Denken einen bedeutungsvollen Platz einnehmen, so ist es unerlässlich, dass wir uns über eine Kulturbetrachtung erheben, die den Blick nur auf privilegierte Völker und Räume richtet. Wir müssen wissen, dass vor dem Italiener
Rolle der Religionen
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Thomas von Aquin Avicenna lebte, der aus Innerasien kam, dass die Moscheen von Damaskus und Cordoba vor den Kathedralen Frankreichs und Deutschlands erbaut wurden.“ Wir sind heute Zeugen der neuesten kulturellen Entwicklungen und Veränderungen innerhalb der muslimischen Welt. Das muslimisch geprägte Gebiet ist unmittelbar von Auswirkungen der westlichen Modernität betroffen. Die Vorstellungen und Forderungen genügen dieser Welt nicht mehr, die früher mit Blick auf die „ruhmreiche“ Geschichte verbindliche Gültigkeit besaßen. Die Geschichte bescheinigt uns, dass der Begriff Islam nicht nur eine Glaubensgemeinschaft bezeichnet, sondern auch die Geschichte, Kultur und Zivilisation der Völker, die der Lehre des Qur’an anhängen. Seit etwa Mitte des 20.Jahrhunderts erleben wir in der Türkei, in einigen weiteren Gesellschaften und Regionen des Orients und des Fernen Ostens die Wiederbelebung der islamischen Zivilisation, die in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von Cahen wie folgt begutachtet wurde: „In ferner Zukunft liegt noch das Wiedererwachen des Islam, der sich in unserer Zeit bemüht, seinen Platz in einer gründlich verwandelten Welt zu finden. In allen Epochen seiner Geschichte aber bewies der Islam eine bewundernswerte Fähigkeit, nach Katastrophen neu zu beginnen.“ Es gibt laute Stimmen unter den muslimischen Denkern, die die muslimisch geprägte Welt auffordern, aus den Quellen aller modernen Zivilisationen zu schöpfen. Mit Recht. Denn diese Welt und ihre Gesellschaften verfügen heute nicht mehr in gebührender Art und Weise qualitativ wie quantitativ über kulturelle, gesellschaftliche oder politische Institutionen. Die westliche Kultur, besonders was Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte angeht, könnte bei Aufbau und Weiterentwicklung moderner islamisch geprägter Gesellschaften sehr nützlich, konstruktiv und kreativ sein. Das beste Beispiel dafür wird aus der Türkei geliefert, auch im Rahmen der Mitgliedwerdung in der EU. Dagegen könnten und müssten Spiritualität und Frömmigkeit, Morallehre und ein vorbehaltloses Monotheismusverständnis sowie fundamentaler Gerechtigkeitssinn des Islam zur Überwindung der globalen Identitätskrisen und Ungerechtigkeit einen innovativen und heilenden Beitrag leisten. Die muslimische Gemeinschaft und damit jeder einzelne Muslim ist dazu aufgerufen, Gerechtigkeit auf der Erde zu schaffen, auch wenn dabei persönliche und gemeinschaftliche Interessen verletzt werden; auch in Form der Errichtung einer gerechten und modernen Gesellschaft. An dieser Stelle könnte noch erwähnt werden, dass es sehr wichtig ist, zwischen geistiger und materieller Entwicklung zu unterscheiden, weil der Islam als sittliches System in erster Linie eine moralische Entwicklung des Menschen herbeiführen möchte. Er übersieht jedoch dabei nicht die materiellen Entwicklungen, bewertet sie aber nicht ausschließlich positiv, da sie ohne moralische Komponenten sowieso zum Scheitern verurteilt sind. Gerade unser 21. Jahrhundert liefert dafür ein klares und bedauerliches Beispiel. Mahatma Gandhis Predigt gegen die sieben gesellschaftlichen Sünden, die eng mit den Prinzipien unserer Zeit verbunden sind, stellt mit dieser islamischen Vorstellung eine Parallelität dar: Politik ohne Prinzipien, Geschäfte ohne Moral, Reichtum ohne Arbeit, Erziehung ohne Charakter, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Genuss ohne Gewissen. Eine neue Versöhnung zwischen Wissenschaft und Religion, zwischen Modernität und Spiritualität ist unabdingbar notwendig.
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Das, worauf es ankommt, ist, dass jeder Mensch einen politischen Auftrag prädestiniert, weil die Gewährleistung des Friedens, der Gerechtigkeit und Gleichheit und das Bekämpfen der Ungerechtigkeit und Aggression dort beginnen: beim Individuum. Es ist somit die Aufgabe eines jeden, in seinem Umfeld bzw. nach seinen Möglichkeiten positiv auf die eigene Umgebung einzuwirken und Unrecht schon im Keim zu ersticken. Im Qur’an lesen wir Folgendes: „Und es soll unter euch eine Gemeinschaft sein, die zum Guten aufruft und das Rechte gebietet und Unrecht verwehrt. Sie sind es, die erfolgreich sein werden“ (3/104). Der Beitritt der Türkei in die EU wäre der innovativste Beitrag eines laizistischen Staates mit einer muslimischen Bevölkerung für die Weiterentwicklung zeitgemäßer Modernität und moderner Gesellschaften.
Konflikt und Konsens entfalten
Religionsdialog als Konfliktbewältigung – dies ist der Schwerpunkt dieses zweiten Teils. Die Politisierung von Religion, insbesondere – aber nicht ausschließlich, wie mit Blick auf den protestantischen Fundamentalismus in den USA deutlich wird – der islamischen Religion hat dem Dialog Dringlichkeit verliehen. In zahlreichen Variationen tauchen Konflikt, ja Gewalttätigkeit auf: Kopftuchstreit, 11. September, Konflikt der Kulturen, Bruderkampf zwischen Israel und Ismael. „Per aspera ad astra“ ist der Duktus einiger der Beiträge in diesem zweiten Teil: Die dialogische Erörterung konflikthafter Themen könne Diskussions- und Verständigungsprozesse fördern. Brückenschläge werden jedenfalls versucht. Mit der Ausformung der Gestalt Jesu im Koran beginne bereits der christlich-islamische Dialog. Die Gestalt Jesu in den beiden Religionen wird zum Symbol für einen theologischen Brückenschlag. Der bemühte Optimismus in diesem zweiten Teil erhält in der Islamischen Charta des Zentralrates der Muslime in Deutschland eine konkret nachvollziehbare Gestalt. Grundsätzlich ist der dauerhafte Verbleib von Muslimen unter nicht muslimischer Herrschaft eine Ausnahmesituation (auch wenn sie sich in der Geschichte von Zeit zu Zeit ereignet hat). Die Charta versucht die Prinzipien zu definieren, unter denen Muslime dauerhaft unter Wahrung ihrer Identität leben können. Kann das auf diese Weise abgesicherte Zusammenleben Vorspiel für die Verständigung auf von Muslimen wie Nichtmuslimen gleicherweise akzeptierte politische und gesellschaftliche Prinzipien sein? Udo Steinbach
Martin Affolderbach
Die „Islamische Charta“ – Ein Meilenstein für den Islam in Deutschland? Am 20. Februar 2002 stellte der Zentralrat der Muslime in Deutschland der Öffentlichkeit eine „Grundsatzerklärung … zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft“ mit dem Titel „Islamische Charta“ vor. Es gibt öffentliche Erklärungen und Deklarationen, die nach kurzer Zeit wieder vergessen sind. Es gibt aber auch Texte, auf die man nach längerer Zeit wieder zurückgreift, weil sie über eine momentane Kommentierung hinaus eine gewisse Symbolbedeutung gewonnen haben. Der Islamischen Charta scheint es so zu ergehen, dass man ihr eine gewisse paradigmatische Bedeutung beimisst. Denn es ist auffallend, dass auch und gerade nach einer gewissen Zeitspanne Kommentare und Interpretationen gewünscht und verfasst werden. Trifft es im Abstand einiger Jahre zu, dass der Veröffentlichung dieses Manifestes eine gewissermaßen paradigmatische Bedeutung zukommt, und worin bestünde diese? Ich möchte dieser Frage nachgehen und in einem ersten Abschnitt die Stimmung und die öffentliche Diskussion in Erinnerung bringen, in der diese Erklärung abgegeben wurde. Im zweiten Abschnitt will ich den zeitgeschichtlichen Kasus etwas ausleuchten. Der dritte Absatz soll die kommunikative Dimension des Textes interpretieren, der vierte Abschnitt die religions- und gesellschaftspolitische Dimension. Im fünften Absatz will ich die Rolle der Charta für den interreligiösen Dialog ansprechen, bevor ich abschließend auf die Ausgangsfrage nach der paradigmatischen Bedeutung noch einmal zurückkomme.
1. Zwischen Konfrontation und Vertrauensbildung Der nicht islamkundigen deutschen Öffentlichkeit dürfte nicht weiter aufgefallen sein, dass die Charta in zeitlicher Nähe zum muslimischen Opferfest, das den Abschluss der Wallfahrt nach Mekka bzw. Medina darstellt, veröffentlicht wurde. Entscheidender war vielmehr, dass der Schock der Terroranschläge vom 11. September 2001 noch nachwirkte und die Diskussion in vollem Gange war, welcher Zusammenhang zwischen den Motiven der Attentäter und ihrer religiösen Überzeugung bestand. Die Verbindung von Terrorismus und Islam hatte sich durch den Schock des 11. September in den Köpfen vieler Menschen eng verbunden. Der Zentralrat hatte sich von den Anschlägen wie auch von der Anwendung von Gewalt öffentlich distanziert (Presseerklärung vom 16. 9. 2001). Doch über dies hinaus spür-
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te man wohl in den Reihen der im Zentralrat organisierten Muslime einen Legitimationsdruck, mehr als nur eine verbale Distanzierung von diesen Ereignissen schuldig zu sein. Die Veröffentlichung der Charta hat ohne Zweifel in dieser Stimmung und dieser öffentlichen Diskussion ihre Motivation, ihren „Sitz im Leben“ und auch ihre beabsichtigte Zielrichtung, war aber selbst kein unmittelbarer Kommentar der Septemberereignisse mehr. Die Schlüsselbegriffe Gewalt und Terrorismus kommen in der Charta mit keinem Wort vor. Man wollte offensichtlich unabhängig von der Tagesaktualität eine Grundsatzklärung vornehmen, an der man, so der Vorsitzende des Zentralrates, schon vor dem 11. September gearbeitet habe. So wird in These 17 programmatisch formuliert: „Eine seiner wichtigsten Aufgaben sieht der Zentralrat darin, eine Vertrauensbasis zu schaffen, die ein konstruktives Zusammenleben der Muslime mit der Mehrheitsgesellschaft und allen anderen Minderheiten ermöglicht. Dazu gehören der Abbau von Vorurteilen durch Aufklärung und Transparenz ebenso wie Öffnung und Dialog.“ Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in ihrer Stellungnahme zu der Charta diese Rolle unterstrichen und die Absicht des Zentralrates sehr begrüßt: „Der Zentralrat sieht eine seiner wichtigsten Aufgaben darin, durch Öffnung und Dialog Vorurteile abzubauen und eine Vertrauensbasis in der deutschen Öffentlichkeit zu schaffen (These 17) … Diese Absicht ist zu begrüßen und sollte eine breite Aufnahme und Unterstützung finden.“1 Es ist den Verfassern in dem Punkt zuzustimmen, dass das Ziel der Vertrauensbildung sich nicht alleine durch situationsbezogene Erklärungen, Klarstellungen oder Distanzierungen erreichen lässt. Vertrauensbildung ist von seiner Natur her auf Langfristigkeit angelegt und umfasst nicht nur die überzeugende und glaubwürdige Klärung von Sachfragen, sondern bedarf auch auf der personellen Ebene einer Vertrauensbeziehung der agierenden Personen. Auf der Sachebene kann man der Charta auf der einen Seite bescheinigen, dass sie eine Reihe von Klarstellungen vorgenommen hat – und dies auch in Bereichen, in denen man dies in der Deutlichkeit nicht vermutet hätte. Auf der anderen Seite haben Kommentatoren den Verfassern vorgehalten, dass etliche Fragen offen bleiben oder Formulierungen geradezu Nachfragen provozieren, die jedoch unbeantwortet bleiben.2 So wird man nicht davon sprechen können, dass der Text an sich schon das Ziel einer Vertrauensbildung erreicht hat. Zudem wird eine solche Erklärung von den Lesenden in den Kontext dessen gesetzt, was ihnen zum Islam bislang bekannt ist. Die Thesen der Charta haben zwar die Absicht, in knappen Formulierungen Eindeutigkeiten zu schaffen. Doch an den Stellen, an denen sie in minderer oder größerer Spannung zu Aussagen stehen, die Leser mit dem Islam in Verbindung bringen, schafft eine neue Position noch nicht an sich eine Klarheit. Die Formulierung, der Islam sei „die Religion des Friedens“ (These 1), hinterlässt deutliche Fragezeichen und Skepsis, wenn im gleichen Zeitraum die Nachrichten durch die Presse gehen, dass der Islam zur Rechtfertigung von Anschlägen und Selbstmordattentaten missbraucht wird. Die Leser werden mit der schwierigen Aufgabe alleine gelassen, wie diese Kontradiktion zu verstehen und aufzulösen ist. Vertrauensbildung ist nur wirksam, wenn dieses auch personell vermittelt wird. In
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einer Gesellschaft, in der sich öffentliche Meinung vor allem über die Beiträge und die Vermittlung der Medien bildet, ist diese Dimension nicht zu unterschätzen. Der Vorsitzende des Zentralrates, Dr. Nadeem Elyas, hatte sich in den zurückliegenden Jahren auch in den Medien einen Namen gemacht. Der Zentralrat hat über längere Jahre die Zusammenarbeit mit zahlreichen Institutionen, darunter auch den Kirchen, gepflegt (Mitarbeit bei der „Woche der ausländischen Mitbürger/interkulturelle Woche“ und in den Projekten der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland mit jüdischen und muslimischen Partnern, vor allem der Initiative „Lade deine Nachbarn ein!“). Gleichzeitig wurde jedoch auch häufig die Rückfrage gestellt, welchen Anteil der Muslime diese Organisation repräsentiere und wie das Verhältnis zum wahhabitischen Islam und muslimischen Bruderschaften einzuschätzen sei. Zu beiden Fragen stehen sich unterschiedliche Aussagen oder Vermutungen gegenüber.
2. Zwischen Migration und Zeitgenossenschaft Der Islam in Deutschland kämpft gegen sein Image, eine Religion von Zuwanderern zu sein. Er wird in Deutschland oft mehr als kulturelle Prägung von Migranten empfunden denn als Religion. Gegenwärtig ist der Islam in Deutschland in der Phase der Etablierung und der Sesshaftwerdung. Der Auszug aus den Hinterhofmoscheen in repräsentativere und als solche erkennbare Moscheegebäude ist die sichtbare Seite dieser Entwicklung. Kann man die Charta demzufolge als ein Dokument der Sesshaftwerdung verstehen? Sie zeigt zumindest die ernsthaften Bemühungen in dieser Richtung, spiegelt aber an vielen Punkten die Brückensituation und die Konflikte, die zugewanderte Migranten mit anderer kultureller und religiöser Prägung nahezu in allen Gesellschaften durchlaufen. In These 19 wird diese Situation als die Spannung zwischen Integration und Bewahrung islamischer Identität beschrieben, die von jedem einzelnen Muslim in der Freiheit der eigenen Entscheidung zu lösen sei. Die Zielperspektive, die der Zentralrat vor Augen hat, ist die Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa, wie sie in These 15 postuliert wird. Diese hat eine räumliche und eine hermeneutische Dimension. Die räumliche Dimension unterstreicht, dass „Deutschland Mittelpunkt unseres Interesses und unserer Aktivitäten“ ist (These 16), was zweifellos gegen die Vermutung gerichtet werden soll, dass bestimmte islamische Organisationen der verlängerte Arm orientalischer Interessen sind und einen Islam in der Prägung der Herkunftsländer in Deutschland etablieren wollen. Der Begriff „Euro-Islam“ wird in der Charta absichtsvoll vermieden. Auch scheint bei der „eigenen muslimischen Identität in Europa“ keineswegs das Vorbild der langen Geschichte und Traditionen muslimischer Gemeinden in Südosteuropa, vor allem auf dem Balkan, oder in Spanien vor Augen zu sein. In These 15 wird dargelegt, dass man „Europa“ sowohl im räumlichen Sinne des Aktionsmittelpunktes versteht als auch als die Tradition der Aufklärung, die die Charta in ihrer Interpretation für sich in Anspruch nimmt, indem sie den Gebrauch von Vernunft und Beobachtungsgabe als ursprüngliche Forderung des Korans darlegt. Man könnte
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interpretieren, dass der Zentralrat daraus das hermeneutische Prinzip des „zeitgenössischen Verständnisses der islamischen Quellen“ ableitet (These 15). Es ist durchaus bemerkenswert, dass in einem solch expliziten Sinne die hermeneutische Aufgabe definiert und mit dem Begriff der „Zeitgenossenschaft“ die Zielsetzung einer modernen Koranexegese formuliert wird.
3. Zwischen Aufklärung und Selbstklärung Die Islamische Charta scheint einen doppelten Adressatenkreis vor Augen zu haben. Einerseits will man der Mehrheitsgesellschaft darüber Auskunft geben, wie Muslime zum Rechtsstaat und seiner Wertordnung stehen, weil diese darauf ein Anrecht hätten. Andererseits seien die Muslime in der Situation, dass sie entsprechende Antworten zu formulieren hätten. Die Charta sei von daher auch ein Angebot und eine Herausforderung für die innerislamische Verständigung. Mit der Ankündigung, dass die Muslime eine „umfassende, klar formulierte und verbindliche Antwort“ (Vorwort) geben müssten, wird von den Verfassern selbst eine sehr hohe Messlatte für die Charta angelegt. Denn alle drei Kriterien erfüllt die Charta nur eingeschränkt. (1) Obwohl sie ein breites Profil von Themen anspricht, ist sie nicht „umfassend“, da gerade einige aktuelle und kontroverse Themen – wie das Verhältnis zur Gewalt, die Stellung zur Würde des Menschen und das Verhältnis des Islam zu kulturellen Traditionen, die mit menschenrechtlichen Werten in Konflikt (wie beispielsweise Zwangsheirat und Ehrenmorde) stehen – nicht angesprochen bzw. geklärt werden. (2) Die „Charta“ bemüht sich um eine „klar formulierte“ Sprache; doch sind einige Formulierungen so gewählt, dass sie Kritik und Rückfragen geradezu herausfordern. Die einschränkenden Formulierungen zur Geltung von Grundgesetz und Menschenrechten sowie zur Rolle der Frau und dem Verhältnis der Geschlechter verstärken kritische Rückfragen mehr, als dass sie Aufklärung schaffen.3 (3) Im Hinblick auf die „Verbindlichkeit“ bleiben ebenfalls Fragen im Raum. Wenn es keine verbindliche Lehrautorität im Islam gibt, wie lässt sich dann Verbindlichkeit gewährleisten, zumal der Zentralrat nur eine begrenzte Legitimation unter den Muslimen in Deutschland aufweisen kann? Der Zentralrat beansprucht eine Autorität und Sprecherfunktion nicht nur im Hinblick auf die inhaltlichen Aussagen in der Charta, sondern auch im Hinblick auf die Pflichten von Muslimen in Deutschland, die in dem Text formuliert werden. Zu den Überzeugungen und Meinungen von Muslimen in Deutschland ist zu wenig bekannt, als dass man verlässlich einschätzen könnte, welcher Anteil von ihnen welchen Aussagen der Charta zustimmt. Ob die Charta innerhalb der muslimischen Verbände zu weiteren Diskussionen und Klärungen Anstoß gegeben hat, ist für die Öffentlichkeit wenig erkennbar. Neben zustimmenden Äußerungen waren auch kritische bis aggressive Äußerungen aus den Reihen der muslimischen Migranten zu vernehmen. Das Grundsatzpapier der SCHURA Hamburg kann als eine konstruktive Auseinandersetzung verstanden werden, ist jedoch mit seinen
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weiterführenden Klärungen gegenüber der Charta wenig zur Kenntnis genommen worden.4 Den Zentralrat wird man auf die Aussagen und die Selbstverpflichtung der Charta behaften können, kaum aber die Muslime in Deutschland in ihrer Gesamtheit.
4. Zwischen Mekka und Karlsruhe In These 8 („Daher ist der Islam Glaube, Ethik, soziale Ordnung und Lesensweise zugleich.“) wird der umfassende Anspruch des Islam formuliert, nicht nur eine private religiöse Überzeugung zu sein, sondern eine Prägung der gesellschaftlichen Werte- und Rechtsordnung. Deshalb ist das Verhältnis der Muslime zu Staat und Gesellschaft von besonderer Brisanz und bildet auch das Kernstück der Charta. These 10 lässt die im Hintergrund stehende Grundkonstruktion erkennen, mit der der Zentralrat argumentiert. Das Leben in Deutschland wird als Situation in der Diaspora definiert, also als Minderheitensituation. Der Hinweis auf die „Verträge“, die ein Muslim in Deutschland als Minderheit einzuhalten habe, weist auf die Konstruktion des „Landes des Vertrages“ in der islamischen Tradition hin. Die Respektierung der „lokalen Rechtsordnung“ (These 10), eine Bejahung der vom Grundgesetz garantierten Ordnung (These 11) und die Zusicherung, man ziele nicht auf die Herstellung eines klerikalen „Gottesstaates“ (These 12), sind Aussagen, die gerade in der Bekräftigung die Reibungsflächen erkennbar machen. Die Diasporasituation wirkt wie die vorübergehende Ausnahme, hinter der die Regel weiter wirksam bleibt. Es lässt sich auch vom Zentralrat nicht leugnen, dass es muslimische Gruppen gibt, die eine Änderung der Gesellschaftsordnung anstreben. Folgt man der Charta, dann ist das erklärte Ziel zumindest des Zentralrates, im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung in Deutschland muslimische Traditionen zu etablieren. Die Liste in These 20 ist ein Programm zu einer politischen Umsetzung dieses Zieles. Die EKD gibt in ihrer Stellungnahme eine Einschätzung und Bewertung zu den innenpolitischen Zielen des Zentralrates.5 Jürgen Schmude hat zu Recht darauf hingewiesen6, dass die Zukunft der Religionen in Deutschland auch davon abhängen wird, in welcher Weise Muslime ihre Rechte und Möglichkeiten wahrnehmen. Der Zentralrat hat gezeigt, dass er bereit ist, den Forderungskatalog, wie er in These 20 zu lesen ist, auch mit Prozessen bis zum Bundesverfassungsgericht durchzusetzen. Dies scheint mit dazu beizutragen, dass die öffentliche Präsenz der Religion in Deutschland vermindert wird und sich schrittweise ein laizistisches Verhältnis von Religion und Staat entwickelt. Es wäre zu wünschen, dass Muslime in diesen Fragen sich als Partner eines gesellschaftlichen Meinungsprozesses verstehen, dem auch bewusst ist, wo die Durchsetzung eigener Interessen nicht dem gesellschaftlichen Frieden dient.
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5. Zwischen religiöser Konkurrenz und Nachbarschaft Die Konfliktbereiche zwischen Muslimen, Rechtsstaat und Werteordnung in Deutschland lassen in den Hintergrund treten, dass die Charta bewusst mit einer Selbstauskunft über den Charakter und die Deutung des Islam als Religion beginnt. Es ist dabei auffällig und zunächst auch einmal sehr positiv zu werten, dass in mehreren Thesen die historischen und theologischen Beziehungen zu Judentum und Christentum zumindest angedeutet werden (besonders These 1 und 2). Bedeutet das, dass mit der Islamischen Charta ein besonderes dialogisches Verhältnis zu den Kirchen in Deutschland, und möglicherweise auch zum Judentum, in den Blick genommen wird? Beim genaueren Hinsehen mischen sich Licht und Schatten. Im Verhältnis zu anderen Religionen ist die Feststellung in These 11 am bemerkenswertesten, dass jeder ein Recht habe, „die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben“, da dies keine Position ist, die überall im Islam geteilt wird. Es wäre zu wünschen, dass diese Aussage in der muslimischen Welt Allgemeingut und auch als Rechtsposition von mehrheitlich muslimischen Staaten übernommen wird.7 Es wäre ebenfalls zu wünschen, dass der Zentralrat sich in diesem Sinne politisch einsetzt. Doch gleichzeitig kommen wieder Zweifel auf, wenn man in These 14 die Formulierung der „Bejahung des vom Koran anerkannten religiösen Pluralismus“ liest. Ob wirklich Religionsfreiheit im Sinne einer Gleichrangigkeit und Gleichbehandlung gemeint ist oder das Verhältnis zu den anderen Religionen nach dem Konzept der Schutzbefohlenen (arab. dhimmi) gestaltet werden soll, bleibt fraglich. Obwohl Gemeinsamkeiten mit der jüdischen und christlichen Tradition angedeutet werden, formuliert das Kirchenamt der EKD in seiner Stellungnahme zur Charta kritisch: „Dennoch besteht der Anspruch des Islam, endgültig und abschließend die ursprüngliche göttliche Wahrheit wiederhergestellt zu haben. Dieser Anspruch lässt keinen Spielraum erkennen, wie ein Dialog auf gleicher Augenhöhe mit anderen Religionen möglich ist.“8 Wenn sich die Charta (in These 17) zu einem „konstruktiven Zusammenleben der Muslime mit … allen anderen Minderheiten“ bekennt, sollte dies im Sinne der oben angesprochenen Vertrauensbildung zu einem langfristigen zivilgesellschaftlichen Programm umgeformt werden. Die Kirchen sollten dabei vor allem das Interesse haben, den Islam als religiöse Größe, in seinen theologischen Aussagen, in seiner Frömmigkeit und seinen spirituellen Traditionen erkennbar zu machen, die gegenwärtig zu stark durch die politischen Spannungen und Konflikte überdeckt werden. Abschließende Bemerkungen Ich möchte auf die Ausgangsfrage nach der paradigmatischen Bedeutung der Veröffentlichung der Charta zurückkommen und diese zu beantworten versuchen. Mit der Charta hat der Zentralrat ein prägnantes Manifest geschaffen, dem man durchaus eine paradigmatische Bedeutung beimessen kann.
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Dies sehe ich im Folgenden begründet: Nach zahlreichen Publikationen über Muslime und ihren Glauben, die gerade auch im Bereich der Kirchen erstellt wurden, artikulieren Muslime sich selbst in einer Form, die eine größere öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat. Die Charta hat eine Phase expliziter Ortsbestimmung des Islam in der deutschen Gesellschaft markiert. (2) Die mit der Charta beabsichtigte Klärung und Aufklärung ist ambivalent. Die Bekenntnisse vor allem zu Rechtsstaat, Menschenrechten, Gleichheitsgrundsatz und Religionsfreiheit werden durch Vorbehalte und sachliche Unklarheiten relativiert, so dass sachliche Klärungen weiter ausstehen und die Vertrauensbildung nicht wirklich gelingt. (3) Wenn sich der Zentralrat als Autorität der Muslime in Deutschland anbietet, wird er sich daran messen lassen müssen, ob er einen langfristigen Beitrag zu einer zivilgesellschaftlichen Partnerschaft leisten kann. Dem Verhältnis zu den Kirchen (und dem Judentum) kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Es wäre zu wünschen, dass nicht nur der Zentralrat, sondern auch andere muslimische Verbände ihr Verhältnis zu den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften grundsätzlicher klären und sich weiteren sachlichen Klärungen und Auseinandersetzungen stellen. Ein Meilenstein ist die Charta sicherlich. Verschiedene Meinungen wird man dazu haben können, an welchem Teil der Wegstrecke wir uns befinden. Unbestreitbar ist, dass noch eine lange Strecke bevorsteht, in der vor allem weitere sachliche Klärungen nötig sind. Dazu gehören – um noch einmal die These 17 der Charta zu zitieren – „der Abbau von Vorurteilen durch Aufklärung und Transparenz ebenso wie Öffnung und Dialog“. Die Bereitschaft und Offenheit dazu sind von allen Seiten notwendig.
Anmerkungen 1 Stellungnahme des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland zu der vom Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. vorgelegten „Islamischen Charta“, Hannover, Januar 2002, S. 1 (www.kirche-islam.de). 2 Vgl. dazu Nadeem Elyas, Die Islamische Charta – Resümee nach einem Jahr, in: Materialheft zur Woche der ausländischen Mitbürger/interkulturelle Woche, Frankfurt 2003, S. 36/37. 3 Vgl. auch dazu die Rückfragen in der Stellungnahme der EKD, S. 2f. 4 SCHURA – Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg e.V. Grundsatzpapier: Muslime in einer pluralistischen Gesellschaft, Mai 2004. 5 A. a. O., S. 4f . 6 Jürgen Schmude, damals Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, in einem Gastkommentar in der Tageszeitung DIE WELT (28. 2. 2002). 7 Die Stellungnahme der EKD schließt mit einer Passage, in der die Notwendigkeit der Wechselseitigkeit unterstrichen wird (a. a. O., S. 5). 8 A. a. O., S. 2.
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Integration und Dialog – Stiefkinder unserer Generation – Lassen sich Muslime in eine nichtislamische Gesellschaft integrieren? Adnan, so heißt er mit Vornamen, wurde in Damaskus als Sohn armer und bescheidener Eltern geboren. Sein Vater arbeitete am Handwebstuhl, und seine Mutter wickelte neben ihrer häuslichen Arbeit die Schussspulen für den Handwebstuhl des Vaters. 1971 kam er mit 20 Jahren nach Deutschland, um Maschinenbau an der RWTH Aachen zu studieren. Sein Startkapital für das Studium betrug ca. 1000 DM. Über mehrere Jahre arbeitete er täglich von 4 bis 7 Uhr als Zusteller von Tageszeitungen. Diese Zeit überschnitt sich nicht mit den Vorlesungszeiten, nahm ihm jedoch die schönste Zeit des Schlafes und der morgendlichen Ruhe, was nicht ohne Folgen für die Dauer seines Studiums war. Die Qualität seiner Leistung trug davon jedoch keinen Nachteil. Sein Studium schloss er mit sehr gut ab. Das Ergebnis seiner Diplomarbeit mit dem Titel „Schusseintrag bzw. Transport eines Fadens über die Webbreite einer Webmaschine mit Hilfe des Luftstrahls“ wurde patentiert und von einer schweizerischen Firma gekauft. Dem folgten über siebzig weitere Patente, die weltweit in der Webtechnik Anwendung fanden, und viele Auszeichnungen und Preise. Seine Erfindungen revolutionierten die Webtechnik. Als Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung für die Luftdüsen-Webmaschine bei der Firma Lindauer Dornier GmbH verhalf der inzwischen promovierte Ingenieur der deutschen Industrie zu großem internationalen Ansehen. Adnan Wahhoud – der deutsche Bürger syrischer Abstammung und muslimischen Glaubens – war während seines Studiums der Bilal-Moschee auf dem RWTH-Gelände eng verbunden und ist heute in seiner Wahlheimat Lindau ein engagierter Dialogpartner mit allen Teilen der Gesellschaft. Überall in der Welt tritt er als Botschafter für deutsches Know-how und Beispiel für gelungene Integration auf. „Ein Sonderfall! Was ist aber mit der Arbeitergeneration?“ Als Tursun mit 27 Jahren aus Trabzon in der Türkei vor 32 Jahren nach Deutschland kam, konnte er kein Wort Deutsch. Auch heute noch ist er kein Meister der deutschen Sprache und kein Experte im Dialog. Seine Kinder aber, Sohn Gükhan und Tochter Nurten, zog er in einem harmonischen Verhältnis zwischen islamischer Identität und Öffnung auf die Gesellschaft auf. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Schreiner bei Talbot. Sein Zuhause war die islamische Gemeinde, aus deren Mitgliedern der spätere Elektroingenieur Gükhan einen Jugendverein zur Integration von muslimischen Migranten
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gründete. Der heutige Philips-Ingenieur und seine Schwester bilden mit deren Familien eine makellose Anfangsgeneration, die sich als Teil dieser Gesellschaft versteht und sich mittendrin befindet. Aus den Kindern der ersten Arbeitergeneration sind Unternehmer, Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure, Lehrer und Hochschullehrer geworden, und zwar beider Geschlechter. Sie alle stehen mitten im öffentlichen Leben und sind voll integriert, dank der Erziehung der ersten Arbeitergeneration. Zugegeben, darin erschöpft sich die Integration nicht. Nicht alle Migranten, insbesondere nicht alle muslimische Migranten, sind voll integriert und stehen dieser Gesellschaft offen gegenüber. Nur, das andere Extrem, das uns immer wieder eingehämmert wird, stimmt auch nicht. Es ist nicht die Norm, dass die Muslime in einer Parallelgesellschaft und in selbstgewollten Ghettos leben. Mangelhafte Sprachkenntnis und fehlende Anpassung treffen bei den meisten von ihnen nicht zu. Ablehnung des freiheitlich-demokratischen Systems, innere Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft, feindseliges Verhältnis zu Nichtmuslimen findet man keinesfalls bei der Mehrheit der hier lebenden Muslime. Ausnahmen von alledem betreffen eine verschwindend kleine Minderheit, die auch innerhalb der islamischen Gemeinschaft keinen Rückhalt findet.
Jahrzehntelange Integration Sprechen wir von der Mehrheit der hier lebenden Muslime, praktizierende und nicht praktizierende, organisierte und nicht organisierte, so können wir mit aller Entschiedenheit sagen, dass sie seit Jahrzehnten trotz der Mängel auf beiden Seiten in Harmonie mit der Mehrheitsgesellschaft lebt. Während dieser Jahrzehnte gab es keine Verstöße seitens der Muslime gegen das Grundgesetz oder gruppenspezifische Konflikte mit den Gesetzen. Auch bei ihren rechtlichen Auseinandersetzungen mit einigen Behörden strebten sie nach der Entscheidung der höchsten deutschen Instanz und fügten sich deren Rechtssprüchen. Das verdient Respekt und Anerkennung, beinhaltet es doch den Respekt der Muslime für das Grundgesetz und ihr Vertrauen in die Justiz als dritte Gewalt in unserem Staat. Dass es zu solchen Auseinandersetzungen überhaupt gekommen ist, liegt nicht daran, dass die Muslime nicht anpassungsfähig sind, sondern dass Konflikte ungelöst geblieben sind, deren Lösungen nicht darin bestehen, dass die Muslime auf fest geglaubte Grundrechte verzichten, sondern dass beide Seiten nach verfassungskonformer Regelung suchen. Während dieser Jahrzehnte wuchsen die zweite und die dritte Generation der Muslime in der deutschen Sprache und in der deutschen Kultur heran. Manche Jugendliche beherrschen die deutsche Sprache besser als die eigene Muttersprache. Sie alle wissen über die deutsche Geschichte, Literatur und Kunst mehr als über die ihrer Ursprungsländer. Während dieser Jahrzehnte trugen die muslimischen Migranten entscheidend zum Wiederaufbau Deutschlands und zur Festigung seiner Wirtschaft bei. Nichts anderes wäre zu erwarten von Mitgliedern einer gemeinsamen Gesellschaft, wie die Muslime sich auch verstanden haben. Ihr Leistungsanteil am Bruttosozialprodukt, ihre Sozialabgaben und
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Steuern gehen jährlich in die Milliarden. Ausdruck ihrer Integration und Verbundenheit mit diesem Land wird deutlicher durch ihre Investitionen hierzulande. 60 000 selbstständige Betriebe sind von türkischstämmigen Unternehmern gegründet worden. Diese beschäftigen 260 000 Mitarbeiter, von denen mehr als ein Drittel Deutsche sind. Während dieser Jahrzehnte fanden sich die muslimischen Migranten in der gesellschaftlichen Struktur zurecht und organisierten sich in eigenen und gemeinsamen Vereinen. Sie fehlen in keinem Ausländerbeirat bundesweit. Tausende von ihnen sind Mitglieder in den etablierten demokratischen Parteien. Mehrere von ihnen tragen politische Verantwortung in den Gremien dieser Parteien und sind Ratsmitglieder bzw. Abgeordnete auf Landes- und Bundesebene. Auch die islamische Infrastruktur ist Ausdruck der Anpassung und der gewollten Integration. Ohne dass die Gemeindemitgliedschaft eine Pflicht im Islam ist, beträgt der Organisationsgrad der Muslime nach Erhebung des Zentrums für Türkeistudien 36%. Der Zusammenschluss der Moscheevereine zu Verbänden und der Verbände zu Spitzenorganisationen ist der Versuch, den Vorstellungen der Gesellschaft entgegenzukommen und gemeinsame Interessen nach Vorbild anderer Interessenvertretungen zu artikulieren.
Ist die Integration gescheitert? Davon kann aus verschiedenen Gründen nicht die Rede sein. 1. Auch wenn die oben erwähnten Zeichen einer mehr oder minder gelungenen Integration nicht allumfassend sind und in vielen Bereichen noch Mängel zu beheben sind, zeigen diese deutlich, dass wir bei unseren Bemühungen um die Integration nicht bei Null anfangen müssen. Die Behauptung eines völligen Fehlens ist genauso unrealistisch wie die eines perfekten Vorhandenseins. Durch die genannten Zeichen steht für mich jedoch fest, dass die grundsätzliche Bereitschaft dafür weitgehend vorhanden ist. 2. Man kann von einem Scheitern erst sprechen, wenn man ein festgelegtes Programm gezielt durchzusetzen versucht. Dies war bei dem Thema Integration nicht der Fall. Bis heute vermissen wir bei allen Politikern und Parteien auf Landes- und Bundesebene ein Gesamtkonzept für die Integration. Was von manchen Stellen als solches präsentiert wird, verdient nicht die Bezeichnung Konzept, denn es erschöpft sich in der Sprachförderung und in der Beschreibung vorhandener Kontakte und Dienstleistungen. 3. Damit man über die Integration urteilt, muss man sich auf eine Begriffsdefinition einigen. Manche sprechen von Integration und meinen Assimilation. Diese werden ewig die misslungene Integration beklagen, bis aus der Vielfalt der Menschen, Kulturen und Weltanschauungen ein Einheitsbrei geworden ist. Sind manche Muslime nicht integriert, nur weil sie für sich das gleiche Recht wie die Juden beanspruchen, geschächtetes Fleisch zu verzehren, oder weil muslimische Frauen ihr Haupt bedecken? So gesehen sind dann auch deutschstämmige Muslime integrationsbedürftig. 4. Sicherheitsgefährdende Verbrechen einzelner Muslime und ihre verfassungsfeindliche Gesinnung kann nicht als Beweis für das allgemeine Scheitern der Integration der Muslime gelten. Verfassungsfeindliches Verhalten findet man bei Einzelpersonen in jeder
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Gesellschaftsschicht, unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit. Allein dass diese Muslime sich auf den Islam berufen, darf nicht zu einem Pauschalurteil gegen den Islam oder die Muslime führen, zumal diese sich eindeutig vom terroristischen Verhalten dieser Einzelpersonen distanzieren.
Der Islam fördert die Integration, er verhindert sie nicht Die Befolgung der Lehre des Islam stellt kein Hindernis zur Integration dar. Im Gegenteil, wir können in der islamischen Lehre und Geschichte ermutigende, ja verpflichtende Belege finden für Anpassung und Integration unter Beibehaltung der eigenen Identität und Einhaltung der Prinzipien der Lehre und Grundpfeiler des Glaubens. Als die ersten muslimischen Auswanderer nach Abessinien, dem heutigen Äthiopien, gingen, wurden sie vom Propheten angewiesen, die Obrigkeit des damaligen christlichen Negus zu akzeptieren und sich ihm nicht zu widersetzen. Gleiches galt über Jahrhunderte hinweg für Scharen von muslimischen Minderheiten unter nichtislamischer Herrschaft in vielen Gegenden der Welt. Dies führte dazu, dass diese Muslime zwar ihren Glauben und ihre Identität behielten, sich aber in ihren Sitten, Bräuchen, Kleidung, Sprache und Architektur den neuen Gegebenheiten anpassten. Auch da, wo die Muslime die Mehrheit bilden, finden wir heute eine dieser Gegend angepasste Ausdrucksform, die sich gewaltig von der ursprünglichen arabischen Ausdrucksform unterscheidet. Man vergleiche die indonesische, die pakistanische, die senegalesische und die nordafrikanische Prägung des Islam und staune über die große Vielfalt unter Beibehaltung der gleichen Prinzipien und Vorschriften. Auch die islamisch fundierte Möglichkeit der Deutung des Koranischen Textes und Auslegung der Sprüche des Propheten führte zu einer großen Vielfalt der islamischen Rechtsschulen und Denkrichtungen. Solche historisch-kritische, an Zeit und Umgebung angepasste Exegese ist keine Erneuerung, sie war immer und ist noch Bestandteil der islamischen Wissenschaft. Auch zur Zeit des Propheten gab es mehrere gleichzeitig gültige Auslegungen ein und desselben Textes. Der Prophet ließ zwei verschiedene Deutungen und Anwendungen einer seiner Anweisungen gelten und bezeichnete beide als richtig. Bekannt in der Geschichte der Islamwissenschaften sind die irakischen und später die anders lautenden ägyptischen Rechtssprüche des Gründers der Schafiítschen Rechtsschule. Unter Beibehaltung derselben Prinzipien kam der allgemein anerkannte Imam Al-Schafií zu unterschiedlichen Auslegungen aufgrund der unterschiedlichen Situationen. Gerade diese Anpassungsfähigkeit des Islam können und sollen wir für uns in Europa in Anspruch nehmen, um die Integration der Muslime auf eine islamische, europäisch angepasste Art zu erreichen. Eine solche Anpassung unterbindet der Islam nicht, er verpflichtet gar dazu. Sie muss aber von kompetenten, überzeugten praktizierenden Muslimen vorgenommen werden, die die Maßstäbe der Islamwissenschaften anwenden. Eine solche Anpassung soll die Erfordernisse ihrer Zeit und Gesellschaft berücksichtigen und muss ihre Verankerung im Islam selbst behalten. Sie darf den Muslimen nicht von Außenseitern diktiert werden,
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sonst bleibt sie eine von vielen Versuchen, die in der islamischen Geschichte von der Mehrheit der Muslime unbefolgt gelassen wurden, weil unislamisch.
Die Islamische Charta: Islamischer Beitrag zur Integration Der 20. Februar 2002 stellt für den Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) mit der Veröffentlichung der Islamischen Charta (IC) einen markanten Schnitt im qualitativen Umgang mit der Gesellschaft dar. Grundsätze der Beziehung zwischen der muslimischen Bevölkerung in Deutschland auf der einen Seite und dem Staat und der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite sollten aus der Sicht des ZMD erläutert und definitiv festgelegt werden. Seit diesem Datum wurden fast 30 000 Exemplare der Charta abgegeben, der Text wurde ca. 100 000-mal vom Internet ausgedruckt und von verschiedenen Institutionen, darunter der Bundeszentrale für politische Bildung, weit verbreitet. Der Inhalt der Islamischen Charta wurde in mehr als 70 Veranstaltungen diskutiert, ganze Tagungen, darunter europäische und internationale, wurden zur Analyse der Charta veranstaltet und etliche Gespräche mit Behörden, Politikern, Kirchen und Diplomaten geführt. Seit dem Jahrestag sind die offiziellen Übersetzungen der Charta in Türkisch, Englisch, Französisch und Arabisch erhältlich. Ausgehend von dieser Charta wurde seitens des Islamischen Kooperationsrates in Europa die Europäische Islamische Charta herausgegeben. Die Umsetzung der Islamischen Charta sowohl innerislamisch als auch gesamtgesellschaftlich wird sicherlich viele Jahre, ja Jahrzehnte, in Anspruch nehmen. Die Diskussionen um den Text der Charta hielten lange und werden uns sicherlich noch länger begleiten. Jeder so knapp gehaltene Text bedarf der Auslegung und der Erläuterung. Manche Aspekte werden erst durch die zukünftige Umsetzung klar, viele durch unser bisheriges Verhalten verständlich. So kann und darf dieser Text nicht abstrakt und völlig von seinem Verfasser, dem Zentralrat der Muslime, losgelöst gedeutet werden. Besondere Reaktionen auf die IC Sowohl von muslimischer als auch von nichtmuslimischer Seite erfuhr die Charta große Zustimmung und Begrüßung im Inland und im islamischen Ausland, die jedoch auch mit reger Diskussion und Kritik verbunden waren. Nach den bisherigen Diskussionen sehen wir uns insbesondere zwei Haltungen hilflos gegenübergestellt: Von wenigen einzelnen, bis auf eine einzige Ausnahme anonym gebliebenen, Muslimen war eine grundsätzliche Ablehnung einer solchen harmonischen – wie von der Islamischen Charta angestrebten – Lebensweise in einer nichtislamischen Gesellschaft und einer Anerkennung eines „nichtislamischen Systems“ laut geworden. Vielleicht ist es auch ein Verdienst der Charta, dass die Haltung dieser wenigen deutlich wird. Sie zu unserer Haltung zu zwingen, können und wollen wir nicht. Sie von unserer islamisch fundierten Hal-
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tung zu überzeugen, fällt uns schwer. Helfen könnte ihnen ein besseres Verständnis der eigenen islamischen Lehre oder der konsequente friedliche Auszug aus diesem Land in eine vermeintlich islamische Gesellschaft. Auch dies schreibt der Islam als letzte Konsequenz vor. Die andere unverbesserliche Haltung war bei – ebenfalls – einigen wenigen Nichtmuslimen zu spüren gewesen, die uns hinter jeder Formulierung das Gegenteil unterstellten und uns der Zweizüngigkeit und der pragmatischen Ausnutzung des freiheitlich-demokratischen Systems bezichtigten. Sie sehen in den Muslimen Fundamentalisten, die auf Warteposition auf die Errichtung eines – trotz Beteuerung – islamischen Gottesstaates in Deutschland hoffen oder sogar hinarbeiten. Die unsachliche Haltung dieser Kritiker ist von so tiefgründigem Misstrauen geprägt, dass es uns unmöglich erscheint, sie durch verbale Debatten von der Aufrichtigkeit unserer Aussagen überzeugen zu können.
Formulierungsbesonderheiten der IC Bei einer Reihe anderer – aus unserer Sicht sehr sachlichen – Kritiken kam es zu Missverständnissen, welche aus der Strukturierung und Formulierung des Textes resultieren. Der Hintergrund hierfür liegt wohl vor allem an der Tatsache, dass die Charta gleichzeitig an zwei Adressaten gerichtet ist: an Muslime aus der islamischen Basis und an Nichtmuslime aus der Mehrheitsgesellschaft. Bei der Behandlung der meisten Themen wird die allgemeine Haltung der islamischen Lehre erläutert. Diese Lehre ist unser Ausgangspunkt und unser Maßstab. Wir nehmen Stellung zur Gesellschaft als muslimischer Teil derselben und geben die Islamische Charta als gläubige Muslime, nicht als Atheisten, Christen oder Juden heraus. Worte wie „Der Koran untersagt jede Gewaltausübung …“, „Das islamische Recht verpflichtet Muslime …“ und „Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten …“ sind als solche islamische Voraussetzungen zu verstehen. Im zweiten Schritt wird die Projektion dieser Lehre für die Situation der Muslime als Minderheit vorgenommen. Hier versuchen wir die Muslime da zu holen, wo sie sind, nämlich in ihrer islamischen Überzeugung, und versuchen sie, mit islamischen Begriffen, die in ihrer islamischen Bildung tief verwurzelt sind und die manchmal bei Nichtmuslimen eine andere Akzentuierung haben, zu überzeugen. Der Begriff „lokale Rechtsordnung“ bedeutet in der islamischen Literatur jede zivile Umsetzung des Rechtes. Auch im islamischen Staat wird die zivile Umsetzung der Scharia „lokale Rechtsordnung“ genannt. Der Begriff „Vertrag“ hat dem Koran zufolge die Bedeutung des höchsten Bündnisses in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Zur Einhaltung dieser Verträge und Bündnisse wird im Koran ermahnt: „Und erfüllt die eingegangene Verpflichtung. Gewiss, nach der Erfüllung der Verpflichtung wird (am Jüngsten Tag) gefragt werden.“ Die Einhaltung der Verträge gilt als Merkmal, das sich die Muslime nach koranischem Wortlaut aneignen sollen: „Und diejenigen, die ihre Verpflichtung einhalten, wenn sie eine eingegangen sind, … das sind diejenigen, die wahrhaf-
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tig sind, und das sind die Gottesfürchtigen.“ Keinesfalls bedeutet „Vertrag“ für die Muslime eine bloße Vereinbarung, die man nach Belieben kündigen kann. Im dritten Schritt erfolgt die Festlegung der Position des Zentralrates als Konsequenz aus beiden vorangegangenen Schritten. Diese Formulierungen sind die für uns hier in Deutschland relevanten Reflexionen aus der islamischen Lehre.
Das Grundgesetz in der IC Betrachten wir die oft kritisierten Thesen 10, 11 und 12 ausgehend von der oben beschriebenen Strukturierung, so erkennen wir, dass These 10 folgende islamische Grundlage enthält: „Muslime dürfen sich in jedem beliebigen Land aufhalten, solange sie ihren religiösen Hauptpflichten nachkommen können. Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora, sich grundsätzlich an die lokale Rechtsordnung zu halten.“ Die Einschränkung „grundsätzlich“ bedeutet, dass im Falle der fehlenden Religionsfreiheit oder des Zwanges zu einer religiösen Handlung, die im Widerspruch zur eigenen islamischen Überzeugung steht, keine Verpflichtung zum Gehorsam besteht, sondern die Pflicht, in ein anderes Land auszuwandern, wo der Einzelne seine religiöse Freiheit ausüben kann. Diese Eventualität besteht in Deutschland nicht, daraus folgt für uns die verbindliche Konsequenz: „Ob deutsche Staatsbürger oder nicht, bejahen die im Zentralrat vertretenen Muslime daher die vom Grundgesetz garantierte gewaltenteilige, rechtsstaatliche und demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich des Parteienpluralismus, des aktiven und passiven Wahlrechtes der Frau sowie der Religionsfreiheit.“ Unter diesen genannten Prinzipien des Rechtsstaates Deutschland verstehen wir das, was unter Gewaltenteilung, Demokratie, Parteienpluralismus und Religionsfreiheit für jede Bürgerin und jeden Bürger in diesem Land allgemein verständlich ist. Da das Thema Religionsfreiheit in Bezug auf den Islam näherer Erläuterung bedarf, wurde ausdrücklich auf die verschiedenen Möglichkeiten dieser Freiheit hingewiesen: „… die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben.“ Manche Muslime in der islamischen Welt sehen dies vielleicht anders. So wenig wir Einfluss auf Änderung dieser ihrer Meinung haben, so wenig hat ihre Meinung Einfluss auf unsere Beziehung zu diesem Staat. In diesem Zusammenhang wurde die Errichtung eines klerikalen „Gottesstaates“ abgelehnt, wobei durch die Nennung der Eigenschaft „klerikal“ andere Formen eines „Gottesstaates“ nicht als weitere offene Optionen für uns in Deutschland verstanden werden dürfen. Wir zielen nicht auf Errichtung eines Gottesstaates ab, welche Form er auch immer haben mag.
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Die Menschenrechte in der IC Die als Realitätsbeschreibung geltende Feststellung der These 13, dass „zwischen den im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten und dem Kernbestand der westlichen Menschenrechtserklärung kein Widerspruch besteht“, wurde von manchen missverstanden. Diese Formulierung trägt der Tatsache Rechnung, dass es Unstimmigkeiten bezüglich mancher Formulierungen in der Präambel und in einigen Artikeln der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und bezüglich des Umfangs der in der Menschenrechtserklärung erlaubten Einschränkung gewisser Freiheiten gibt. Solche Unstimmigkeiten bestehen übrigens auch seitens einiger Staaten und Völker außerhalb der islamischen Sphäre. Diese Differenzen betreffen erstens nicht das Wesen der Grundrechte und Freiheiten, eben nicht den „Kernbestand“ der Menschenrechtserklärung, und zweitens betrifft diese Auseinandersetzung uns in Deutschland nicht, die wir in der These 11 das Grundgesetz mit der darin enthaltenen Verankerung der Menschenrechte ohne Einschränkung bejaht haben. Dies gilt auch für die Gleichstellung von Mann und Frau. Die in der Charta ausdrücklich erwähnte Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb- und Prozessrechtes schließt andere Bereiche und Gesetze nicht aus. Die Betonung dieser Bereiche erfolgt, weil sie gerade unter manchen Muslimen umstritten sind. Es bleiben u. a. bei der Gottesdienstlehre und im Familienleben Bereiche, in denen eine unterschiedliche Behandlung von Mann und Frau für Muslime unveränderlich sind. Diese betreffen den Individualbereich der Einzelnen und stehen nicht im Widerspruch zum Grundgesetz. Ähnliche Situationen kennen das Christentum und das Judentum. Sie bestehen im Bereich gottesdienstlicher Handlungen einer jeden Religionsgemeinschaft und müssen nicht unbedingt als Widerspruch zu den Menschenrechten gedeutet werden.
Muslimische Identität In These 15 fordert die Islamische Charta „ein zeitgenössisches Verständnis der islamischen Quellen, welches dem Hintergrund der neuzeitlichen Lebensproblematik und der Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa Rechnung trägt“. Unter einer solchen „europaspezifischen“ Auslegung der islamischen Schriften verstehen wir nicht die Lossagung von den eindeutigen unumstrittenen Vorschriften des Islam, sondern die Anwendung der im Islam vorhandenen Möglichkeiten der zeit- und ortsgemäßen Auslegung der authentischen Quellen. Hierbei wird die Vernunft, wie in derselben These gefordert wird, in dem vom Islam freigelassenen weiten Raum voll zur Geltung kommen. Einen Widerspruch zwischen Offenbarung und Vernunft sehen wir Muslime nicht, so dass die Anwendung derselben im Rahmen der Vorschriften ohne weiteres eine auf Deutschland abgestimmte islamische Lebensweise hervorbringen kann. Dabei darf von uns Muslimen nicht erwartet werden, dass wir eine neue Religion, einen neuen Islam, einen „Euroislam“, erfinden.
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Die Anerkennung des Grundgesetzes und die Respektierung der freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik bedeuten für uns Muslime nicht die Aufgabe der eigenen Identität. Die Anpassung des Einzelnen in dem vom Grundgesetz und von der eigenen Religion freigestellten Bereich bleibt eine freiwillige Entscheidung des Einzelnen und darf weder von der eigenen Religionsgemeinschaft noch vom Staat erzwungen werden. Es darf von den Muslimen in unserer heutigen Gesellschaft, in der den Entfaltungsmöglichkeiten aller Bürger fast keine Grenzen gesetzt werden, nicht erwartet werden, dass sie auf Gebote und Verbote ihrer Religion verzichten, die andere ohnehin nicht in ihren Freiheiten berühren. Eine solche Selbstaufgabe als Indiz für eine gelungene Integration zu betrachten, ist der Versuch, die Muslime zu assimilieren. Die in These 20 erwähnten Aufgaben des ZMD geben Beispiele für die für uns unverzichtbaren Bereiche des muslimischen Lebens in Deutschland, wobei jeder für sich eine andere Priorität und verschiedene Möglichkeiten der Anpassung auf die deutsche Realität hat.
Erwartungen an ein Gesamtkonzept für Integration Ausgangsfakten In Deutschland leben heute etwa 3,4 Millionen Muslime. Unterdessen gibt es schätzungsweise mehr als 500 000 deutsche Muslime. Jährlich erwerben mehr als 150 000 ausländische Muslime die deutsche Staatsbürgerschaft. Die meisten ausländischen Muslime möchten laut Umfrage auf Dauer in Deutschland bleiben. Mit einem Anteil von ungefähr vier Prozent an der Gesamtbevölkerung bilden die Muslime hinter den Christen auch in Deutschland die zweitgrößte Religionsgemeinschaft. Die Verbundenheit dieser Muslime mit Deutschland besteht ohne Zweifel. Dies trifft für die überwältigende Mehrheit der Muslime zu. Basis ihrer Existenz als religiöse Minorität bildet das Deutsche Grundgesetz, das keinen Widerspruch zur eigenen islamischen Überzeugung darstellt und dessen Respektierung nicht die Aufgabe der religiösen Identität der Muslime bedeutet. Die Mehrheit der Muslime in Deutschland ist in ihrer Religion tief verwurzelt, auch wenn diese Verwurzlung bei dem einen islamisch fundiert und bei dem anderen eher traditionell völkisch geprägt ist. Laut einer Veröffentlichung des Zentrums für Türkeistudien in Essen (ZfT) vom Februar 2002 definiert sich die Mehrheit der türkischstämmigen Migranten (73%) selbst als religiös. 66% sehen sich dabei als eher religiös und 7% schätzen sich gar als sehr religiös. Der längere Aufenthalt dieser Migranten in einer nichtislamischen Gesellschaft führte nicht zur Aufgabe ihrer religiösen Bindung, sondern eher zur Festigung derselben. Das ZfT stellt fest: „Je länger die Befragten in Deutschland leben, umso eher fühlen sie sich religiös. Ein langer Aufenthalt in einer nichtmuslimischen Umgebung führt folglich nicht zur Loslösung von der ursprünglichen Religion.“
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Bei näherer Betrachtung der Alltagspraxis sticht eine deutliche Frömmigkeit der Muslime ins Auge. So fasten 78,7% der Befragten, 39,1% von ihnen besuchen das Freitagsgebet, 79,5% geben die vorgeschriebenen Almosen ab, 61,3% planen die Wallfahrt nach Mekka, 79,5% beteiligen sich am Opferfest und 88,7% halten die Speisevorschriften ein. Beim Altersvergleich bestehen bei den Themen Fasten, Almosen, Wallfahrt, Opferfest und Speisevorschriften keine gravierenden Unterschiede zwischen der jüngsten und der ältesten befragten Altersschicht. Der Altersunterschied besteht lediglich beim Thema Beten. Die Studie überraschte mit der Feststellung, dass der Organisationsgrad der Muslime 36% beträgt – und nicht 10–15%, wie dieser früher geschätzt wurde. Diese wenigen Zahlen zeigen uns, welche Bedeutung die Religion für die Muslime in Deutschland und welches Gewicht die religiöse Tradition in ihrem Alltag hat. Soziale Aspekte Jeder Integrationsplan, der den besonderen Stellenwert des Islam nicht nur als privates Anliegen, sondern auch als soziale Grundlage außer Acht lässt, ist somit zum Scheitern verurteilt. Der Versuch, ihnen die verfassungsrechtlich garantierten Entfaltungsmöglichkeiten als Muslime durch bürokratische Hindernisse oder behördliche Vorschriften zu entsagen, ist ein Rückschritt auf dem Weg der Integration. Die oft grundlos inszenierten Streitigkeiten um Moscheebau, islamischen Religionsunterricht, Schächten oder Kopftuch betreffen nicht einzelne, sondern Millionen Bürgerinnen und Bürger, verletzen sie tief in ihrer Seele und tasten ihre Würde an. Die Sorge um den gesellschaftlichen Frieden und um die Erfolge der Integration verpflichten zu einem anderen Umgang mit den Minderheiten, bei dem die Priorität nicht darin liegen darf, ihre Rechte zu beschneiden und ihr Leben in der Rechtsstaatlichkeit Deutschlands zu erschweren, sondern ihr jede gesetzlich mögliche Entfaltungsmöglichkeit zu gewähren. Die Gegenreaktion auf die gegnerische Haltung der Gesellschaft ist zwangsläufig die selbst gewollte Gettoisierung der Minderheit, die ohnehin reichliche endogene Faktoren der Abschottung in sich trägt. Die Bildung solcher Enklaven in vielen europäischen Städten stellen diese Länder vor fast unlösbare Probleme. Auch in Deutschland ist diese Entwicklung in Gang. Ganze Straßenzüge, ja Stadtviertel in Berlin, Duisburg, Essen und Köln sind deutliche Beweise des Misserfolgs der Integrationspolitik, oder sagen wir besser des bisherigen Fehlens einer jeden konzeptionellen Integrationspolitik. Fast in jeder Stadt sind Ansätze einer solchen Gettobildung zu verzeichnen. Die deutsche Sprache wird überflüssig, man spricht Türkisch, Arabisch bzw. Urdu. In solcher Umgebung nimmt nicht nur die Beherrschung der Sprache der Mehrheitsgesellschaft ab, dort schwindet das Interesse für jeglichen Kontakt, Dialog und jede Zusammenarbeit mit ihr. Das Bildungsniveau nimmt ab, die Kriminalität zu. Diese Enklaven beherbergen oft Keime nationalistischer
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und rassistischer Gewalt in sich. Man lebt nicht miteinander, sondern nebeneinander. Daraus kann schnell ein Gegeneinander entstehen. Die Parteien und die Öffentlichkeit ist für dieses Problem sensibler geworden, auch wenn viele noch nicht die Notwendigkeit der Berücksichtigung der religiösen – sprich islamischen – Besonderheiten einsehen. Viele Parteien erklären deutlich, dass sie die Zuwanderer so schnell wie möglich in die Lage versetzen wollen, ihren Platz in der hiesigen Gesellschaft einzunehmen. Sie sehen ein, dass Integration nicht zum Nulltarif zu bekommen ist, und wer sie fordert, sie auch fördern und bezahlen muss. Man scheut sich jedoch immer noch davor, islamisch spezifische Probleme beim Namen zu nennen und diese gezielt anzugehen. Man versucht nicht, die fehlende Bereitschaft bei den Muslimen durch Abbau von gegenseitigem Misstrauen zu reduzieren. Vertrauensbildende Maßnahmen, wie Gleichstellung der Muslime in der deutschen Gesellschaft und Gleichbehandlung des Islam wie das Judentum und das Christentum, werden nicht programmatisch konzipiert und konsequent durchgeführt. Die Beteiligung islamischer Vertretungen und die Berücksichtigung ihrer Interessen bei der Stadtplanung können effektive Ergebnisse bei der Lösung der Integrationsproblematik hervorbringen. Die Zuweisung von Flächen für Moscheebau in verschiedenen Vierteln zum Beispiel kann nicht nur das Problem des Moscheebaus lösen, sondern gleichzeitig der überproportionalen muslimischen Konzentration in manch einem Viertel entgegenwirken. Erfahrungsgemäß siedeln sich dann die Muslime um die Moscheen als Kristallisationspunkte herum, die ihnen ja Dienstleistungen und Fürsorge bieten. Diese Erfahrung machten die Städteplaner seit Jahrhunderten, wie man in den Beispielen der alten Städte Fes, Kairouan und Aleppo sowie bei der alten türkischen Kulliye-Bauweise und -Stadtplanung sieht. Der Auszug aus den vorhandenen Gettos wird den Familien somit erleichtert, und dies kann zur Entschärfung der Gettosituation führen.
Erwartungen der Muslime und ihr Beitrag zur Integration 1. Ein Gesamtkonzept für die Integration muss in einer ausgewogenen Weise sowohl Rechte als auch Pflichten der zu Integrierenden in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen behandeln. Es muss gleichzeitig Rechte und Pflichten des Staates und der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Integration deutlich benennen. 2. Die vorhandenen und die zu erwartenden Probleme der Konzeptlosigkeit im Bereich Integration machen es erforderlich, dass dieses Thema nicht dem Thema Zuwanderung untergeordnet wird. Wir haben es ja mit Anliegen von Millionen zu tun, die zum Teil seit vier Jahrzehnten bereits hier leben. 3. Eine Vermischung der Themen Integration und Sicherheit ist unverantwortlich und führt zwangsläufig zu Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen. Die Anliegen von Millionen Migranten, die seit Jahrzehnten im Einklang mit Gesetz und Ordnung unseres Staates leben, dürfen nicht reaktiv im Schlepptau der Terrorbekämpfung behandelt werden.
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4. Die Besonderheiten der muslimischen Bevölkerung sollten einen besonderen Stellenwert in dem zu erstellenden Konzept einnehmen. Es liegt auf der Hand, dass die Integrationsproblematik hauptsächlich eine muslimische Problematik ist und dass besonders hier Nachhol- und Regelungsbedarf vonnöten sind. 5. Ein Konzept sollte aus unserer Sicht insbesondere folgende Bereiche berücksichtigen: 쐌 Gesetzliche Rahmenbedingungen 쐌 Politische Teilhabe 쐌 Jugend, Schule und Bildung 쐌 Frauen und Familie 쐌 Berufsleben und Arbeitsmarkt 쐌 Soziales 쐌 Verfasstheit und Vertretung 6. Zu jedem Bereich gehören Forderungen, die wir Muslime uns selbst stellen und die wir in einem Positionspapier an die Muslime richten werden. Dazu gehören Forderungen wie: 쐌 Gesetzestreue und Loyalität 쐌 Einbürgerung und aktives Engagement im politischen und öffentlichen Leben 쐌 Integrative Erziehung der Kinder und gesellschaftsorientierte Bildung in den Moscheen 쐌 Gesellschaftsorientierte Fortbildung der Imame und Gemeindeleiter 쐌 Berufs- und zukunftsorientierte Betreuung der Jugendlichen 쐌 Gleichberechtigung der Frauen und Bekämpfung von Gewalt in der Ehe 쐌 Stärkung der wirtschaftlichen Beteiligungen und des sozialen Engagements 쐌 Einheitliche islamische Strukturen und Mitbestimmung der Gemeindebasis 쐌 Teilhabe von Frauen und Jugendlichen am Gemeindeleben 쐌 Deutsche kulturelle Ausrichtung der Gemeindeaktivitäten und Projekte 7. Zu jedem Bereich gehören aber auch Voraussetzungen, die seitens des Staates und der Mehrheitsgesellschaft geschaffen werden sollten, damit ein Gelingen der Integration möglich wird. Dazu gehören: 쐌 Stärkung der wirtschaftlichen Beteiligungen und des sozialen Engagements 쐌 Schaffung der gesetzlichen Rahmenbedingungen 쐌 Vereinbarungen zur Gleichberechtigung der islamischen Religionsgemeinschaft 쐌 Begleitung des Prozesses zur Schaffung einer islamischen Vertretung 쐌 Chancengleichheit für Muslime in der Politik und den Medien 쐌 Sprachförderung für ältere Migranten und Kinder im Vorschulalter 쐌 Bereinigung der Schulbücher von desintegrativen und islamfeindlichen Inhalten 쐌 Berücksichtigung muslimischer Anliegen in den Kommunen, im Schulalltag und Arbeitsbereich 쐌 Einführung eines deutschsprachigen islamischen Religionsunterrichts 쐌 Errichtung von Lehrstühlen und Akademien zur Ausbildung islamischer Religionslehrer und Gemeindeleiter.
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Der Dialog ist der Weg Um eine für beide Seiten ertragreiche Integration und ein friedvolles Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu erreichen, bedarf es der engen Zusammenarbeit und des ständigen vertrauens- und respektvollen Gesprächs. Der dazu nötige gesellschaftliche und interreligiöse Dialog braucht permanente, auf Dauer angelegte Gremien, die die Planung eines systematischen zielorientierten Dialogs gewährleisten. Ein Dialog kann nur dann sachlich und fair stattfinden, wenn ein Mindestmaß an Vertrauen und Respekt vorhanden ist. Populismus und reaktive Gefühlsausbrüche verwandeln den Dialog zu einem Schlagabtausch und den Dialogtisch zu einer politischen Kampfarena. Die Fortsetzung des Dialogs als zivilisiertes Gespräch ist dann unmöglich, wenn der respektvolle Rahmen verloren geht. Von einem Dialog kann man auf der anderen Seite nur dann Ergebnisse erwarten, wenn dieser auf drei Ebenen verläuft und diese Ebenen des Gesprächs nicht vermischt werden: Die erste Ebene ist die intellektuelle Ebene. Dies ist die Ebene der Auseinandersetzung mit dem Islam als Lehre und Weltanschauung. Dazu gehören Fragen des Glaubens, der Menschenrechte, der Gleichbehandlung, der Glaubensfreiheit usw. Dies ist die Ebene der Theologen, der Denker und Wissenschaftler auf beiden Seiten. Hier können intellektuelle Auseinandersetzungen ausgetragen, sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionen und Weltanschauungen herausgearbeitet werden. Die zweite Ebene ist die globale politische Ebene. Dies ist die Ebene der Auseinandersetzung der europäischen Gesellschaft mit den muslimischen Ländern hinsichtlich aller politischer und gesellschaftlicher Probleme, wie z. B. der Stellung von Minderheiten, der Einhaltung der Menschenrechte und der Respektierung des Internationalen Rechtes. Adressat dieser Ebene sind in erster Linie die muslimischen Länder und nicht die Muslime in Deutschland. Diese sind vielmehr Teil des europäischen Lagers und auch Kritiker mancher Zustände dort. Dazu gehören auch Missstände, welche zwar im Namen des Islam gerechtfertigt werden, jedoch im Widerspruch zu seiner Lehre stehen. Ziel dieser Ebene ist die Lösung internationaler politischer Probleme. Die dritte Ebene ist die deutsche Ebene. Dies ist die Ebene, auf der die deutsche Realität und die Probleme der Gesellschaft mit den Muslimen und umgekehrt behandelt werden. Dazu gehören Fragen der Integration, der islamischen Vertretung, des Religionsunterrichts, des Gemeindelebens und der politischen Teilhabe. Hier sind sowohl die Vertreter der Politik und Gesellschaft als auch die der islamischen Organisationen gefragt. Zum Wesen dieser Ebene sollten das pragmatische ergebnisorientierte Denken und Handeln hierzulande gehören. Die Vermischung dieser drei Bereiche bei jedem Gespräch führt auf keiner Ebene zu irgendeinem Ergebnis, verzehrt die Kräfte aller und führt nur zu Resignation und Verzweiflung.
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Die letzen Krisen, in die unsere Gesellschaft und die gesamte Welt gestürzt wurden, zeigten uns, wie wichtig der Zusammenhalt jeder Gesellschaft und der gesamten Welt ist. Die Probleme der Sicherheit, Zuwanderung und Integration verdeutlichten uns unsere großen Versäumnisse. Die bitternötige Lösung dieser Probleme führt unweigerlich über den Weg des Dialogs und des zivilisierten Umgangs mit der eigenen muslimischen Bevölkerung. Wir hoffen, dass die Bereitschaft zum Dialog und zur Zusammenarbeit auf beiden Seiten besteht, und rechnen mit der Hilfe Gottes.
Hans G. Kippenberg
Das Drama religiöser Gewalt und seine Akteure Es ist noch gar nicht so lange her, dass man die scheinbar unaufhaltsame Säkularisierung als drohenden Verlust der moralischen Grundlagen der Gesellschaft beklagte. Als dann aber Religionen sich in der Öffentlichkeit zurückmeldeten und dies in einigen Fällen mit Gewalt, war die Verlegenheit groß. Gewalt als Folge des Niederganges von Religionen: Das konnte man sich vorstellen, Gewalt als Folge eines Auflebens von Religionen: Das war schier unbegreiflich. Ich möchte diese Unbegreiflichkeit zum Thema machen und nach dem Gewaltpotenzial von Religionen fragen. Wie soll das geschehen? Bei der Beantwortung möchte ich mich einer Wendung in der heutigen Erforschung religiöser Gewalt anschließen. Sie hat erkannt, dass der Ausbruch von Gewalt in aller Regel nicht am Anfang, sondern am Ende eines langen Prozesses steht. Man muss demnach den Blick auf den Prozess richten, um den Anteil von Religion am Ausgang zu klären. Ich rolle dazu zwei Fälle neu auf: den Untergang einer amerikanischen christlichen Religionsgemeinschaft in Jonestown, Mittelamerika im Jahr 1978, sowie das damit indirekt zusammenhängende Blutbad in Waco 15 Jahre später; und zweitens den Anschlag vom 11. September 2001, zu dem es mehr Hintergrundinformationen gibt, als bekannt ist.
Christliche Gewaltszenarien: Von Jonestown bis Waco Beginnen wir mit Jonestown, das heißt mit der amerikanischen Religionsgemeinschaft „People’s Temple“. Jugendliche und Alte, Männer und Frauen, Arme und Wohlhabende, und vor allem und ganz ungewöhnlich Weiße und Schwarze hatten sich in den 70er Jahren gemeinsam dem Prediger und Heiler Jim Jones angeschlossen. Eine neuartige Gemeinschaft wollten sie bilden: ohne Rassendiskriminierung, frei von privatem Eigentum und unbekümmert von den sexuellen Normen des bürgerlichen Amerikas. Religion hat man oft als das wichtigste soziale Band zwischen Menschen beschrieben. Und mit Recht. Daher ist es kein Zufall, dass religiöse Gemeinschaftsbildungen auch Werte verkörpern können, die drastisch von den Maximen der Umwelt abweichen. Damit liegt natürlich auch Konflikt, ja Gewalt in der Luft, vor allem in den USA. Erboste Familienangehörige liefen Sturm gegen die Abhängigkeit ihrer Kinder von Jim Jones und seinem Kult, gegen das Finanzgebaren der Leitung und gegen die sexuelle Freizügigkeit. So weit, so gut. Rechtfertigungszwang hat auch sein Gutes. Jedoch griffen die Gegner zu härteren Mitteln. Eine Zeitschrift brachte 1977 einen düsteren Bericht über
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finanzielle Missstände, Prügel, Nötigung, Mord und Gehirnwäsche. Er wird uns später noch einmal begegnen. Unter Berufung auf Praktiken von Gehirnwäsche in Kriegsgefangenschaft, die man an amerikanischen Soldaten meinte beobachtet zu haben, ließen Eltern ihre Kinder zwangsweise von Psychologen „deprogrammieren“. Gerichte, wiederum beraten von Psychologen, billigten es. Als es Jim Jones nicht gelang, gegen die Angriffe gerichtlich vorzugehen, wanderte er mit über 900 Anhängern nach Guayana aus. Das Motiv von Exodus oder Hijra, Auszug und Aufgabe aller verwandtschaftlichen Beziehungen, ist geradezu ein Muster der Entstehung religiöser Gemeinschaften. „Wer nicht Vater und Mutter verlässt, kann nicht mein Jünger sein.“ Doch auch in Mittelamerika waren sie nicht vor den Gegnern sicher. Als eine hochkarätige Delegation, darunter ein Kongressabgeordneter, sie dort aufsuchte und unter Druck setzte und als erste Gemeindemitglieder dem Druck nachgaben und ihre Rückkehr in die USA ankündigten, entlud sich die Spannung in Gewalt. Der Politiker wurde mit drei Begleitern auf dem Flugfeld erschossen. Die Gemeinde nahm sich in der Nacht, die folgte, kollektiv das Leben, 913 Personen an der Zahl. In diesem Ende sahen die Gegner eine Bestätigung ihres Urteils: Die persönliche Überzeugung der Gemeindemitglieder konnte nur erzwungen, Jim Jones nur ein falscher Prophet sein. „Jonestown“ wurde auf Jahre hinaus das warnende Beispiel dafür, wozu „Kulte“ alles imstande seien. 1993 geriet in Waco (Texas) eine adventistische Religionsgemeinschaft in den Verdacht rechtswidriger Handlungen – zu Unrecht, wie sich später herausstellte. Als Beamte bei der Durchsuchung auf blutige Gegenwehr stießen, belagerte das FBI das Grundstück mehrere Wochen lang. Das Denken und Handeln der Einsatzleitung galt vor allem dem Problem, wie man die Anhänger aus den Händen des Anführers David Koresch befreien könnte, der sie wie zuvor Jim Jones ihres eigenen Willens beraubt haben musste. Schließlich verloren die Einsatzkräfte die Geduld und gingen zur gewaltsamen Befreiung der angeblichen Geiseln über. 74 Tote wurden nach dem Angriff gezählt. Um zu klären, wie das alles geschehen konnte, setzte die US-Regierung eine Untersuchungskommission ein. Dabei fiel der Blick bald auch auf unausgesprochene Annahmen, die die Einsatzleitung hinsichtlich Religion gehegt hatte. Die Beamten des FBI waren davon überzeugt, dass Religion ein individueller Glaube sei, der mit gemeinschaftlichen gewalttätigen Handlungen nichts zu tun haben konnte. Die langatmigen Erklärungen des Anführers zur Offenbarung des Johannes hielten sie für „Bibelgeschwätz“. Seinen Wunsch, mit einem Neutestamentler eines nahe gelegenen Colleges über seine Bibelauslegung zu reden, lehnten sie kategorisch ab. Dass die ersten Gewaltakte und dann auch die darauf folgende Belagerung von dem Anführer der Gemeinschaft mit Hilfe der Offenbarung des Johannes gedeutet wurden und dass die Einsatzkräfte des FBI dabei das widergöttliche Babylon spielten, entging den Beamten beziehungsweise wollten sie nicht wissen. Wie die Kommission richtig erkannte: Hätten sie bei ihren Planungen die Bemühungen des Anführers um die richtige apokalyptische Deutung der Situation berücksichtigt, hätten sie mit ihren eigenen Handlungen zu einer Entschärfung der Situation beitragen können. So aber haben sie den bösen Ahnungen der Adventisten, in einer Welt voller Ungerechtigkeit zu leben, ganz und gar entsprochen. Und umgekehrt fanden sich die Beam-
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ten in der Annahme bestätigt, es wieder mit einer der vielen pseudoreligiösen Gruppen zu tun zu haben, die schon so oft in den USA aufgetreten sind und sich unter Berufung auf eine bevorstehende Gottesherrschaft von den bürgerlichen Normen Eigentum und Familie losgesagt hatten. Zum Geschichtsbild vieler Amerikaner gehört auch heute noch die Erwartung, dass die Geschichte keinen Fortschritt bringt, sondern eine Zunahme der Mächte des Bösen. Die Verschärfung der Auseinandersetzung mit dem Bösen ist daher angemessener als jeder Versuch des Ausgleichs. Im Nachhinein ist man schlauer, heißt es. Aus der Rückschau hat man erkannt, dass beide Religionsgemeinschaften nicht als solche und von Anfang an gewalttätig waren. Die Dramatik wurde von einer bestimmten Vorstellung richtiger Religion der Gegner erzeugt. Selbst ganz unschuldig erscheinende Annahmen können offenbar in Extremsituationen einen „Tunnel“ im Kopf bilden und ihren Beitrag zur Gewalt leisten. Kein Bibelgeschwätz mehr: Befreiungsaktion! Der Konflikt zwischen zwei Auffassungen von Religion hat den gewalttätigen Ausgang mitbestimmt. Auf der einen Seite persönliche Religiosität, auf der anderen Seite Religion als ein Instrument der praktischen Verortung einer Gemeinschaft in der Welt.
Ein ignoriertes Dokument zum 11. September Ich möchte einen Weg einschlagen, vor dem nachdrücklich gewarnt wurde. „Jetzt warte ich nur noch darauf“, schrieb ein Kolumnist im Spiegel direkt nach den Ereignisse, „dass irgendeine edle Seele aufsteht und sagt, die Anschläge von New York und Washington müssten im Zusammenhang mit dem Kampf der Dritten Welt gegen die Erste gesehen werden. Wetten, dass es im Laufe der nächsten Tage passieren wird, sobald sich der Trümmerrauch über Manhattan gelegt hat?“ Er konnte das nur schreiben, weil für ihn schon feststand: Es findet ein Kampf der Kulturen statt. „Es geht um die reine Lust am Morden, die inzwischen nicht einmal mehr einen Vorwand braucht.“1 Ich schlage einen anderen Zugang vor. Auch ein Handeln, das an unakzeptablen Annahmen orientiert ist, kann verständlich und folgerichtig sein. Das rüttelt nicht an der Verantwortung der Täter für ihre Taten; wohl aber an dem Denkverbot, das uns der Kolumnist im Namen eines gleichfalls gewalttätigen Deutungsmusters – des angeblichen Kampfes der Kultur des Westens mit dem Islam – auferlegen möchte. Für das Massaker, das 19 junge Männer am 11. September 2001 angerichtet haben, gibt es kein sogenanntes Bekennerschreiben. Kein Schreiben ist bei einer Redaktion eingegangen, mit dem eine Gruppe die Verantwortung übernommen hat. Daraus hat man schwer wiegende Folgerungen gezogen. Es ging den Tätern also gar nicht um die Öffentlichkeit für eine gerechte Sache. „Ein politisches Ziel jenseits der Zerstörung war nicht zu erkennen. Der Anschlag … war ein Akt der Destruktion ohne Hintersinn“ (Wolfgang Sofsky). Mit Religion hat er nichts zu tun. Wirklich nicht? Es existiert ein arabisches Dokument, das uns direkt zu der Auffassung der Täter führt, jedoch für die Aufarbeitung weitgehend ignoriert wird. Mohammed Atta, der die erste Maschine in den Nordturm des World Trade Center steuerte, war von Portland nach
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Boston geflogen und dort in die Maschine nach Los Angeles umgestiegen. Dabei war eine seiner beiden Reisetaschen nicht mit umgeladen worden. In ihr fand man später einen mit der Hand geschriebenen arabischen Text. Ein zweites Exemplar stammte aus dem abgestellten Wagen eines anderen Täters. Schließlich kamen aus den Trümmern der in Pennsylvania abgestürzten Maschine Reste eines dritten Exemplars zu Tage. „Lächele, mein junger Sohn, denn du marschierst zum Himmel.“ So wendet sich ein nicht genannter islamischer Geistlicher an den einzelnen Täter und geht mit ihm die Stationen der vor ihm liegenden Tat durch: die Nacht davor, dann auf dem Flughafen und schließlich in der Maschine. Wenn man den Anschlag als Teil eines Dramas sieht, dann haben wir hier den letzten Akt vor uns. In der Nacht zuvor schwört der Täter feierlich, dass er zu sterben bereit ist, reinigt seinen Körper und rezitiert aus dem Koran Sure 9. Die Wahl dieser späten, vielleicht sogar der letzten Sure ist vielsagend. In Medina bildete sich der islamische Staat; Mohammed kündigte dazu die Verträge mit den Heiden auf und forderte seine Anhänger auf, sie anzugreifen und zu töten, wo immer sie sie antreffen (Sure 9,5). So uneingeschränkt hat keine der früheren Suren Gewalt gegen Nichtmoslems verlangt. Ob mit ihr wirklich die toleranteren Aussagen früherer Suren aufgehoben worden sind oder nicht, ist unter Moslems umstritten. Der Geistliche sieht es so und so auch der Täter. Auf der Fahrt zum Flughafen spricht er Gebete. Auch inmitten von den vielen Ungläubigen bleibt er gelassen, ja lächelt, denn er wird von den Engeln beschützt – genauso wie Mohammed in der Schlacht von Hunain, als es ihm nur durch das Eingreifen der Engel gelang, eine überlegene Menge von Ungläubigen zu schlagen, wie die schon bekannte Sure 9,25 f. gleichfalls berichtet. Auch die überlegene Technologie fürchtet er nicht, da Gott stärker ist. Furcht vor dieser Technologie wäre selber bereits Götzendienst. Es sind die Verbündeten des Satans, die von der Macht der „westlichen Zivilisation“ beeindruckt sind; die wahren Gläubigen fürchten allein und ausschließlich den übermächtigen Gott. Im ganzen Dokument ist dies die einzige Stelle, die den Gegner beim Namen nennt. Nur hier und sonst nirgends wird der Feind konkretisiert: Es ist die westliche Zivilisation generell. Die Täter hatten wohl Huntingtons „Kampf der Kulturen“ gelesen. Dann betritt der Kämpfer die Maschine und spricht die Gebete auf Reisen. Schließlich springt er wie ein Held, der nicht mehr ins Leben zurückkehren möchte, mit einem lauten „Allahu akbar“ (Gott ist am größten) auf und beginnt den Kampf, wobei sich die Herzen der Ungläubigen mit Furcht füllen. Er tut das, was Sure 8,12 gebietet: „Haut [ihnen mit dem Schwert] auf den Nacken und schlagt zu auf jeden Finger von ihnen.“ Er ruft sich dabei in Erinnerung, dass die Gärten und Frauen des Paradieses auf ihn warten, dass die Frauen seinen Namen rufen und für ihn ihre schönsten Kleider tragen. Wenn alles wie geplant gegangen ist, beruhigt er die anderen Brüder und erklärt ihnen, es sei im Namen des allmächtigen Gottes geschehen, und verweist auf Aussagen des Korans, wo es heißt: „Betrachtet die Menschen, die im Namen Gottes gehandelt haben und dabei gestorben sind, nicht als tot.“ Beim Aufschlagen auf das Ziel rezitiert er das Glaubensbekenntnis: „Es gibt keine Gottheit außer Gott, und Mohammed ist sein Gesandter.“ So weit der Text. Es kann sich nicht um ein Bekennerschreiben handeln. Vor der Öffentlichkeit der Ungläubigen braucht, ja kann die Tat gar nicht gerechtfertigt werden. Es
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geht um eine islamische Rechtfertigung. Doch auch diese Rechtfertigung lässt noch Unsicherheiten und Zweifel durchschimmern. Auffallend oft versichert der Autor dem jungen Täter, dass er nicht tot sein wird, sondern als Märtyrer ins Paradies geht. Schon die Notwendigkeit der Wiederholung ist ein Indiz dafür, dass es dieser Zusicherung in besonderem Maße bedurfte. Selbstmord ist im Islam eine schwere Sünde; wer sie begeht, fährt zur Hölle. Die Tötung Unschuldiger ist gleichfalls verwerflich. Nur ein Geistlicher könnte in dieser Hinsicht den Kämpfer beruhigen. Doch waren diese meist ganz anderer Ansicht. Der Spiegel fragte nach den Anschlägen das geistliche Oberhaupt der libanesischen Schiiten, Ayatollah Fadlallah, ob die Attentäter des 11. September als Märtyrer gestorben seien. Dieser Interviewpartner ist gut gewählt, weil er in den 80er Jahren im Libanon eine Zeitlang Selbstmordattentätern beigestanden und ihnen wohl auch zugesichert hatte, sie würden als Märtyrer sterben. In diesem Fall aber war seine Antwort eine ganz andere: „Nein, sie sind nicht im Dschihad, dem ‚Heiligen Krieg‘ gefallen. Sie sind schlicht Selbstmörder.“2 Es sind derartige Bedenken, die der Autor der Ansprache ausräumen muss. So zeigt sich auch in diesem Fall, dass religiöse Gewalt auf Legitimation angewiesen ist.
Religiöse Gewaltszenarien im Nahen Osten Wenn Menschen eine Situation als real definieren, dann ist sie dies auch im Blick auf ihr Handeln, besagt ein soziologisches Theorem (das Thomas-Theorem). Die Definition ergibt sich nicht zwangsläufig aus der Situation selber, sondern muss ihr vom Handelnden gegeben werden. Und auch das Deutungsmodell folgt nicht zwangsläufig aus der Tradition, dazu ist der Traditionsbestand viel zu umfangreich und zu widersprüchlich. Wenn Mohammed in Sure 9 die Verträge mit den Heiden aufkündigt und gegen sie Krieg führt, dann fällt die Verwendung dieses Berichtes für eine Definition der Situation des Jahres 2001 in die Verantwortung der Handelnden. Verbindlich sind religiöse Traditionen nicht an sich; sie werden es erst, wenn Gläubige sie zu Deutungsmustern machen: zur Definition ihrer eigenen Lage und zur Legitimierung ihrer eigenen Handlungen. Die Kämpfer definierten die gegenwärtige Lage der islamischen Gemeinschaft als Bedrohung durch das Heidentum (jahiliyya). Sie vollstreckten als eine kleine Gruppe der Gerechten Gottes Gericht an deren heutigen Machtzentralen: an dem im World Trade Center untergebrachten Finanzkapital der Wall Street, an der im Pentagon residierenden Militärmacht und – geplant, aber misslungen – an dem Capitol als Zentrum seiner politischen Macht. Ihr Zerstörungswerk demonstriert die absolute Überlegenheit eines unerschütterlichen Glaubens an Gott. Wo wir nur Tod sehen können, sehen sie Auferstehung und Leben. Auch wenn wir nur diesen einen Akt des Dramas des 11. September kennen, erlaubt er uns doch, die Deutung einer reinen Zerstörungswut zurückzuweisen. Das Deutungsmuster der Attentäter ist nicht neu. Es hat selber eine Vorgeschichte. Sie ist interessant, weil sie beträchtliche Unterschiede in der Handlungspraxis aufweist: Hasan al-Banna (1906– 1949) in Ägypten rief dort im 20. Jahrhundert die Vereinigung der Moslembrüder ins Leben. Anders als herkömmliche islamische Orden waren die Moslembrüder Laien. Wer
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beitrat, verpflichtete sich per Eid, für die Herstellung einer islamischen Ordnung in der durch den Westen verdorbenen Gesellschaft aktiv einzutreten. Wer gestorben ist, ohne für diese Ordnung gekämpft zu haben, ist einen heidnischen Tod gestorben, predigte al-Banna seinen Anhängern. Die islamische Bruderschaft errichtete im Laufe der Jahrzehnte in Ägypten ein Netz von Schulen, handwerklichen Betrieben und Kliniken. Es war ein Intellektueller dieser Bruderschaft, Sayyid Qutb, der einen entscheidenden Schritt weiterging und die Eliten des Landes der Apostasie (ridda) bezichtigte. Der Islam müsse durch eine gerechte Gruppe (jamacah) gerettet werden. Die Ermordung von Anwar al-Sadat 1981 ging auf das Konto einer von ihm inspirierten Gruppe. Doch ist die Bruderschaft als Ganze diesen Weg nie gegangen, obwohl aus ihr immer wieder kleine militante Gruppen hervorgegangen sind. Im Iran der 60er Jahre hat der Schriftsteller Jalal Al-e Ahmad (1923–1969) eine ähnliche Diagnose vorgetragen. Das Land sei einer Vergiftung beziehungsweise einer Infektion (zadegî meint beides) durch den Westen (gharb) zum Opfer gefallen. Zugleich griff damals eine Neudeutung der Schia um sich, wonach diese in ihrer Frühzeit mit Gewalt für die gerechte Ordnung eingetreten sei. Als 1978 die Truppen des Schah gegen Oppositionelle in Teheran und anderen Städten Irans vorgingen und dabei Menschen erschossen, fanden nach vierzig Tagen für die Toten Gedenkfeiern statt. Als die Armee bei der Gelegenheit erneut gegen die Demonstranten vorging und wieder Menschen den Tod fanden, verbreiteten sich die Aufstände einem Schneeballeffekt gleich im ganzen Land. Dabei ist die Idee des Martyriums neu formuliert worden. „Khomeini hat gesagt, wer bei der Bekämpfung des Shah-Regimes umkommt, erleidet den Zeugentod, den Märtyrertod. Natürlich nur der, der bewusst bei der Demonstration dabei ist, nicht einer, der zufällig als Passant erschossen wird.“ Die islamische Ordnung im Iran ist auf diesem Wege hervorgebracht worden. Ein weiteres Kapitel dieses Deutungs- und Handlungsmusters wurde im Libanon aufgeschlagen. Bombenanschläge von schiitischen Selbstmordattentätern auf Kasernen der amerikanischen und französischen Friedenstruppen in Beirut an ein und demselben Morgen im Herbst 1983 machten den Westen mit dem neuen Phänomen der Selbstmordattentate bekannt. Sehr wahrscheinlich hatte der bereits erwähnte Ayatollah Fadlallah den schiitischen Angreifern auf die Kasernen zugesichert, sie würden im Jihad fallen und ins Paradies eingehen. Was sei denn der Unterschied, so fragte er rhetorisch in einer Rede, zwischen jemandem, der stirbt, nachdem er zehn andere getötet hat, und jemandem, der stirbt, während er sie tötet? Fadlallah gab dieser Handlung darüber hinaus eine Bedeutung, die auch für die Täter des 11. September wichtig wurde. Der Täter müsse seine Furcht vor dem eigenen Sterben überwinden. Die globale Arroganz des Westens ist aus dieser Sicht ein globaler Unglaube, den nur noch ein islamischer Kämpfer mit seiner Unerschrockenheit vor dem Tod das Fürchten lehren kann. Indem der Täter seine eigene Furcht besiegt und eine Angst der Ungläubigen vor den Moslems erzeugt, opfert er sich für die wahre islamische Gemeinschaft. Auch im Libanon war die Geschichte dieses Deutungsmusters eng mit der Formierung der schiitischen Gemeinschaft verknüpft. Die Toten im Kampf für die islamische Ordnung sind ein Opfer für eine erneuerte Gemeinschaftlichkeit, ähnlich wie dies Walter
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Burkert und René Girard vom Opfer allgemein behauptet haben. Von der Vorbildlichkeit des Täters strahlt etwas auf die Gruppe und ihr Ansehen ab. Vom Libanon aus sprang das Handlungsmuster in den 90er Jahren nach Palästina über. Hier hatte sich inzwischen der Nahostkonflikt gründlich gewandelt. Die politische Führung Israels hatte lange Zeit – der Tradition des säkularen Zionismus folgend – in den 1967 besetzten Territorien ein Tauschobjekt für Frieden gesehen. Seit den 70er Jahren aber traten religiöse Zionisten auf, die die Besetzung der einst zum biblischen Land gehörenden Gebiete anders deuteten. Sie sahen darin eine Etappe eines messianischen Prozesses der Wiederherstellung des verheißenen Landes und organisierten die Errichtung von jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten – dies in Absprache mit dem Verteidigungsministerium, das die Gebiete seit 1967 unter Kriegsrecht gestellt hat. Über 40 Prozent des besetzten Landes sind auf diesem Wege bis heute in den Besitz jüdischer Siedlungen oder des Staates Israel übergegangen und sollen zu einem überwiegenden Teil dort nach der sogenannten Road Map von Präsident Bush auch verbleiben. Als sich die Palästinenser nach zwanzig Jahren Kriegsrecht 1987 gegen Israel erhoben, erhielt auch die PLO einen religiösen Konkurrenten. Das Oberhaupt der Moslembrüder wollte der PLO die Organisation der Intifada nicht allein überlassen. Nach 1967 hatte Israel Gaza, eine Großstadt von 400 000 Einwohnern, unter Kriegsrecht gestellt und die Moslembrüder dort ein dichtes Netzwerk von Moscheen, Schulen, Büchereien, Kliniken errichten lassen. Heute werden zehn Prozent aller Immobilien, Hunderte von Läden, Wohnungen, Werkstätten, öffentlichen Gebäuden, Ländereien von der Bruderschaft verwaltet. Umfangreiche Finanzmittel kommen aus Kuwait und Saudi-Arabien. „Überleben ohne Staat“: Dieser Titel einer Studie zur ägyptischen Bruderschaft trifft fast noch perfekter auf Gaza zu. Das Oberhaupt der Moslembrüder rief im Dezember 1987 die Hamas ins Leben – eine Abkürzung (Akronym) für das arabische Wort für Islamische Widerstandsbewegung (harakat al muqawama al-Islamiyya) mit der Bedeutung „Eifer“. So wie die Anhänger von Raw Kuk die besetzten Gebiete für sich als eretz Yisrael reklamierten, so die Anhänger von Hamas als waqf – also als Land, das die Muslime der Eroberungszeit den späteren Generationen bis zum Tag der Auferstehung übertragen haben. Hamas bot den jungen Palästinensern etwas, das über den politischen Horizont der PLO hinausging. Politische Entrechtung schafft Hunger nach Würde – wenn nicht im Diesseits, dann im Jenseits, das hat bereits Max Weber erkannt; das Würdegefühl negativ Privilegierter beruhe auf einer ihnen verbürgten „Verheißung“. Ein und dasselbe Territorium als das Israel verheißene Land oder als das Stiftungsland der Muslime. Wir brauchen uns nur einiger biblischer Erzählungen über den Segen zu erinnern, um die religiöse Logik zu verstehen. Als Jakob sich von seinem Vater Isaak den Segen erschlichen hatte, da war für Esau, den Betrogenen, einfach nichts mehr von dem Segen übrig (Gen 27). Gottes Bund mit Israel beruhte auf dem Ausschluss aller anderen, seien es Kanaanäer oder Araber. Es sind Segen und Verheißung, und nur diese, die das Land verknappen. Die Sprache der Quellen ist gewalttätig. „Wenn der Herr dich in das Land bringt, es zu besetzen, und die Völker dort, die größer und stärker sind, in deine Hand gibt, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken: du sollst keinen Vertrag mit ihnen machen und sie nicht verschonen“ (Dtn 7,1–2). „Verflucht sei Kanaan, Knecht der Knech-
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te sei er seinen Brüdern“ (Gen 9,25). Es ist die Knappheit des Segens, von der diese Erzählungen handeln. Auch wenn die Texte nicht eindeutig sind und man sie wohl eher als Phantasien Entrechteter denn als Berichte von Kriegshandlungen lesen muss: Neuere Studien haben gerade solchen Erzählungen Aufmerksamkeit geschenkt, da ihre Wirkungen oft intensiver sind als so abstrakte Konzepte wie Monotheismus. Der Übergang zum Religionskrieg hat die Auseinandersetzung in Nahost verändert. Die religiösen Deutungsmuster wanderten in die Köpfe derer, die als Staatsmänner eher die Aufgabe hätten, die Rechtsordnung gegen religiöse Ansprüche aufrechtzuerhalten. Die Sprache wurde neu geregelt: Plötzlich gab es keinen palästinensischen „Widerstand“ mehr, sondern nur noch „Terrorismus“. Zugleich dreht sich eine Spirale der Gewalt, wobei die Zahl der durch die israelische Armee getöteten palästinensischen Zivilisten regelmäßig drei Mal höher liegt als die der Israelis, die durch Bombenattentate ums Leben gebracht wurden. Unheilvoll ist auch, dass die Anknüpfungen an die Bibel sogar noch in der Außenpolitik der USA Wirkungen entfalten. Das Stichwort eretz Yisrael mobilisiert Verständnis und Loyalität, das Stichwort waqf nur gereizte Reaktionen. Der Segen kann nur einmal vergeben werden, oder? Was das alles mit dem Deutungsmuster des 11. September zu tun hat, fragen Sie? Man macht sich etwas vor, wenn man meint, der 11. September könne mit dem Palästinakonflikt nichts zu tun haben, da die Attentäter aus Saudi-Arabien und Ägypten kamen. Es ist gerade umgekehrt: Genau darin liegt das wirklich Beunruhigende. Über das religiöse Deutungsmuster ist der Konflikt in das Denken von Muslimen auch außerhalb Palästinas gewandert. So wie das Deutungsmuster eretz Yisrael auch auf Protestanten in den USA faszinierende Wirkung ausübt.
Schluss Ich hatte dafür plädiert, in einem Zeitalter sich ausbreitender religiöser Gewalt sich nicht auf die Täter-Opfer-Beziehung zu beschränken. Religiöse Gewalt muss man als Teil eines größeren Dramas betrachten und dabei ist das Modell der Definition der Situation hilfreich. Es lässt die Handlungsabläufe und ihre Strukturen prägnanter hervortreten. Dazu zwei abschließende Bemerkungen: 1. Im Zentrum religiöser Gewalt wird ein Bedarf an religiöser Rechtfertigung erkennbar. Es ist dies die Stelle, an der religiöse Gewalt von theologischen Diskursen und geistlichen Autoritäten abhängig ist. Wir sollten alles daran setzen, die hier angesiedelten Vorgänge zu verstehen, statt immer nur das Ganze pauschal unter den Begriff des Terrorismus zu bringen. Die Ausgrenzung islamistischer Gemeinschaften aus politischen Vereinbarungen ist übrigens eine Konstante der amerikanischen Außenpolitik seit dem Sturz des Schah-Regimes. Im Rückblick bemerkte dazu ein Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat von Jimmy Carter, das für den Iran zuständig war: „Die Vorstellung, dass eine Volksrevolution zu einem theokratischen Staat führen würde, schien ebenso unwahrscheinlich wie absurd.“ Und er fügte hinzu: „Wir sind alle Gefangene unserer eigenen kulturellen Annahmen – mehr, als wir zuzugeben bereit sind.“ Allerdings bringt diese Selbst-
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kritik die Vorgänge nicht gerade auf den Punkt: dass es nämlich die von Amerika betriebene Modernisierung westlichen Typs war, die für den Zuwachs jener Verarmten und Entrechteten sorgte, die in den islamischen Netzwerken Schutz und Solidarität erfuhren. Die Verwestlichung war ja weder damals noch heute mit einer Ausbreitung sozialer Sicherung verbunden. In diesem Sinne ist sie nur eine halbierte Verwestlichung. Die soziale Sicherung geht heutzutage fast weltweit wieder auf Religionsgemeinschaften über. 2. Da ist zweitens unsere Präferenz für individuelle persönliche Religiosität. Sie ist angesichts dieser Entwicklung kein guter Ratgeber dafür, was gute und was schlechte Religion ist. Nicht dass wir unsere Werte wie Individualismus in Frage stellen oder aufgeben müssten. Es ist die Verantwortung für grassierende Gewalt und ihre Opfer, die uns gebietet, religiöse Gewalt wirklich verstehen zu wollen. Der Täter wird darum nicht weniger verbrecherisch. Wir aber müssen einen Schritt über die moralische Entrüstung hinausgehen und die neuen Formen religiöser Gemeinschaftlichkeit durchschauen. Mehr noch: Wir müssen religiöse Traditionen lesen lernen als Instrumente, mit deren Hilfe sich Gemeinschaften in der heutigen Welt einen Ort geben.
Anmerkungen 1 2
Der Spiegel, 38/2001, S. 168 und S. 170. Der Spiegel, 42/2001.
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Konflikt der Kulturen – Auf der Suche nach dem, was die Menschen über die Verschiedenartigkeit der Kulturen hinweg zusammenhält Ein Problem bei der Betrachtung des Themas ist, dass man selten jemanden findet, der zwei oder mehr Kulturen unvoreingenommen vergleichen kann. Wer von uns hat schon den gleichen Abstand zum Islam und zum Christentum? Ideal wäre eine Person, die aus einer dritten Kultur kommt, etwa aus der japanischen. Aber auch dann weiß man nicht, ob sie dem Christentum und dem Islam gleichermaßen distanziert gegenübersteht. Auch der Buddhist oder Shintoist hat Vorurteile und Eigeninteressen, die ihn für das Christentum vielleicht mehr einnehmen als für den Islam, oder umgekehrt. Vielleicht ist der objektive Kulturvergleich prinzipiell unmöglich. Gleichwohl müssen wir ihn im Alltagsleben, in dem wir mit Angehörigen anderer Kulturen zusammentreffen, ununterbrochen anstellen. Angehörige unterschiedlicher Kulturen müssen ja „praktisch“ miteinander zurechtkommen. Um die anderen nicht ständig vor den Kopf zu stoßen, müssen wir über die kulturelle Differenz zwischen uns und ihnen hinreichend Bescheid wissen. Bei einer Einladung im multikulturellen Singapur, in dem die Bürger chinesischer Abkunft die Mehrheit bilden, ist es selbstverständlich, dass mit Rücksicht auf die Hindus kein Rindfleisch, mit Blick auf die islamischen Malayen kein Schweinefleisch serviert wird. Zwar mag der einzelne Hindu oder Muslim sich über die Speiseverbote seiner Religion hinwegsetzen. Trotzdem muss der Gastgeber, der nicht jeden einzelnen Gast vorher kennen und befragen kann, ein Vorwissen zu dessen ethnokultureller Identität und zu kulturell unterschiedlichen Speiseregeln haben. Und nicht nur ein Vorwissen, sondern auch ein Vorurteil und Vorweghandeln, um vorbeugend peinliche Situationen zu vermeiden. Kollektive Vorurteile, die oft herabsetzenden Charakter haben und deshalb nach landläufiger Meinung am besten ganz getilgt gehörten, sind also andererseits auch nötig, um Angehörigen anderer Kulturen Respekt und Achtung zu erweisen. Sie können im individuellen Fall Lügen gestraft werden, wenn etwa ein „moderner“ Muslim erklärt, dass er gelegentlich Schweinefleisch isst – und bleiben doch als kollektive Vorurteile richtig und nötig, will man nicht den nächsten muslimischen Gast durch das Angebot von Schweinefleisch in Verlegenheit bringen oder gar beleidigen. Gerade diese „marginal men“ – der Ausdruck stammt von dem amerikanischen Soziologen Robert F. Park – als Kronzeugen für den Kulturvergleich aufzurufen, hat also etwas Bestechendes. Aus ihren „Erfahrungen der Nähe“ kann man etwas lernen, was der Distanz
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des Theoretikers immer verschlossen bleibt. Aber gerade in ihrer Rolle als Vermittler zwischen den Kulturen entfalten sie auch eigene Identitäten und Interessen. Diese sind nicht identisch mit den Interessen von Wissenschaftlern. Die Arbeiter und Kaufleute, Schüler und Studentinnen türkischer Herkunft, die in Deutschland leben, haben zuallererst ein Interesse daran, hier in Frieden zu arbeiten, Geschäfte zu machen oder zu studieren. Dieses existenzielle Interesse bestimmt ihre Antworten auch dann, wenn man sie als Fachleute zum Kulturvergleich befragt oder wenn sie von sich aus in Deutschland über den Islam, in der Türkei über Deutschland berichten. In der Regel, so können wir annehmen, werden sie Gemeinsamkeiten hervorheben, kulturelle Unterschiede als überwindbar darstellen und solche Unterschiede auch tatsächlich, durch Verbindlichkeit nach beiden Seiten, abschwächen. Dies ist ein allgemeines Interesse von ethnokulturellen Minderheiten, die in eine Mehrheitskultur eingewandert sind. Die Lage von Minderheiten ist ja immer prekär. Und das existenzielle Interesse von solchen Minderheiten besteht darin, sich ihren Platz zwischen den Mehrheiten – des aufnehmenden Landes und des Herkunftslandes – zu sichern. Aus diesem Interesse und der damit gegebenen Mittlerfunktion entwickeln nun die Minderheiten eine eigene, charakteristische Distanz sowohl zu ihrem Herkunfts- wie zu ihrem Aufnahmeland. In dieser relativen, von außen oft kaum wahrnehmbaren Distanz bildet sich eine eigene Kultur, die weder mit der des Herkunfts- noch mit der des Aufnahmelandes identisch ist. Solche Zwischenkulturen oder Ethnizitäten bekommen umso stärkeres Eigengewicht, je größer sie sind und je mehr sie durch andauernde Zuwanderung vom Heimatland genährt werden. Die kontinuierliche Existenz von ethnischen Minderheiten innerhalb von Mehrheitskulturen ist der lebendige Beweis dafür, dass sich Kulturen, einander nahe rückend, im Alltag friedlich miteinander arrangieren können. Allerdings, das Bild, das aus der Minderheitenkultur heraus von den Mehrheitskulturen gezeichnet wird, ist nicht identisch mit dem Bild, das die Vertreter der Mehrheitskulturen selbst voneinander zeichnen. Die in Deutschland lebenden Türkisch-Deutschen haben von Deutschland ein anderes Bild und vermitteln von Deutschland ein anderes Bild in die Türkei als die Deutsch-Deutschen. Vereinfacht gesagt, sie zeichnen Deutschland in der Türkei positiver, als sie selbst Deutschland in Deutschland erleben; vor sich selbst und vor den in der Türkei Gebliebenen rechtfertigen sie damit ihre Emigration. Dieselben Türkisch-Deutschen gewinnen aber auch von der Türkei ein anderes Bild als die dort zurückgebliebene Mehrheit der Heimat-Türken (oder türkischen Türken). Für die Emigranten bleibt nicht nur die Heimat, sondern auch das Bild der Heimat zurück; es wirkt, in den Augen der daheim gebliebenen Mehrheit, immer zurückgebliebener, unzeitgemäßer, manchmal zu kritisch, oft nostalgisch verklärt. Was wir über die eigene und die andere Kultur und das Verhältnis zwischen ihnen wissen, ist also vom Standort des Berichterstatters abhängig. Je nachdem ob wir es aus der Distanz einer dritten Kultur oder aus der satten Sicherheit einer deutschen Mehrheitskultur oder aus der prekären Lage von Minderheiten zwischen den Kulturen oder aus der Sicht der türkischen Mehrheitskultur sehen, ergibt sich ein unterschiedliches Bild. Wenn hier zum Beispiel ein Repräsentant der türkischen Mehrheitskultur zu uns spricht, ist zu
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erwarten, dass er deutlichere Worte zum Konflikt zwischen den Kulturen findet als ein Vertreter der türkischen Minderheit in Deutschland. Zwei Mehrheiten, die über ihre Repräsentanten von Gleich zu Gleich miteinander sprechen, zeigen Interessen- und Wertunterschiede oft deutlicher, als diese im Dialog zwischen Mehrheit und Minderheit erscheinen. Dass die eine Wissensquelle verlässlicher sei als die andere, dass eine Darstellung richtig und die andere falsch sei, kann man nicht sagen. Im soziokulturellen Leben gibt es, je nach Standort, mehrere Wirklichkeiten, die eine so wahr wie die andere. Der Konflikt der Kulturen ist also tatsächlich ein anderer, je nachdem ob man ihn aus der sozialen Lage einer Minderheit oder einer Mehrheit erlebt. In jedem Falle aber können wir uns, wenn wir uns dazu äußern, der eigenen kulturellen Prägung nicht entledigen. Für jeden Menschen verhält es sich so, dass er die kulturellen Regeln, mit denen er selber aufgewachsen ist, nicht nur besser kennt, sondern ursprünglich, weil er ihnen ohne Alternative anheim gegeben ist, auch höher schätzt (als mögliche andere Regeln). Das gilt sogar dann, wenn er sich später bewusst davon abwendet. Alle andern Regeln/Sitten/ Werte nehmen wir immer wie durch einen Filter wahr, der uns kulturell, in frühen Jahren, unweigerlich, unbewusst und absichtslos gleichsam eingebaut wurde. Die Übereinstimmung muss in einem Dritten gesucht werden, das die kulturellen Differenzen entweder überwölbt oder, wenn man ein anderes Bild vorzieht, ihnen eine gemeinsame Basis unterlegt. Was könnte dieses Dritte, Gemeinsame sein? Es gibt dazu bisher zwei Arten von Vorschlägen. Der eine operiert mit den Menschenrechten oder, der andere mit anderen ethischen Prinzipien. Sie sollen die Unterschiede zwischen den Kulturen aufheben. Die Lösung für interkulturelle Konflikte wird also in einer Steigerung, in einer Erhöhung der Kultur gesehen. Wir sprechen ja auch von den höchsten Tugenden oder Prinzipien. Die Erwartung geht dahin, dass die einzelnen Kulturen, gleichsam aus sich heraus, sich höher entwickeln und dabei zu einheitlichen Einsichten und Wertungen gelangen. Es ist dies eine Entwicklung durch Vernunft und zur Vernunft. Die Entwicklung des Menschen wird als eine geistige gesehen, die vom Natürlichen und Biologischen weg und emporführt zu einer einzigartigen Menschlichkeit. Auch eine soziologische Plausibilität enthält der Entwicklungsgedanke: Die arbeitsteilige und kommunikative Vernetzung lege den Grund dafür, dass die Menschheit zu einer neuen Einheitlichkeit finde. Gegen diese Erhöhung und Vereinheitlichung der Kulturen in einer Weltkultur wird in der Regel eingewandt, das Modell dafür, die Menschenrechte, sei ein Produkt des abendländischen Christentums und der Aufklärung. Es sei deshalb von anderen Kulturen nicht ohne weiteres nachzuvollziehen und rufe, in seiner kulturellen Voreingenommenheit, sogar offene Gegenbewegungen anderer Kulturen – Tribalismus, Lokalismus, Fundamentalismus – hervor. Ich möchte das, was alle Kulturen gemeinsam haben, weder so noch so, weder als Rechte noch als empirische Eigenschaften von einzelnen Menschen verstehen, sondern soziologisch, als soziale Prozesse, die zwischen Menschen ablaufen. Sie betreffen nicht Individuen, sondern Beziehungen zwischen Individuen. Sie regeln Beziehungen. Sie haben den Charakter von Regeln, denen sich niemand entziehen kann. Insofern sind sie moralischer Natur. Das bringt sie in die Nähe der Menschenrechte und anderer ethischer Postulate. Aber anders als Rechte und ethische Forderungen werden sie nicht bewusst konzipiert. Sie
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ergeben sich, unbewusst und unbeabsichtigt, aus dem Zusammenleben selbst. Sie enthalten eine Moral ohne Moralisten. Diese Moral durchdringt die Kulturen nicht als eine Forderung von oben, sondern als eine Beziehungsnotwendigkeit, ja Beziehungslogik von unten. Insofern stellt sie gleichsam die Unterwelt der Kulturen dar. So wie es in allen Kulturen das Menschlich-Allzumenschliche gibt, gibt es in ihnen die Grundvorgänge zwischen Menschen. Diese sozialen Grundprozesse sind älter als die Menschen selbst. Denn bevor der Mensch zum Menschen wurde, waren seine Vorfahren – Hominiden, Primaten – schon Lebewesen, die in Beziehung zueinander und zu anderen Arten standen. Das soziologische Element in den elementaren Prozessen ist also da, bevor das anthropologische hinzukommt. Und es ist unabhängig vom kulturellen Element vorhanden. Das ist besonders deshalb schwer zu begreifen, weil das Soziale oder Soziomoralische immer im kulturellen Gewand erscheint, immer unterschiedlich bekleidet und verkleidet. Es bedient sich der Kulturen und Individuen als Träger. Da soziale Beziehungen immer kulturell gekleidet oder geprägt sind, übersehen oder vergessen wir oft, dass sie einen Kern haben, der in allen Kulturen der gleiche ist. Könnten wir Kulturen überhaupt vergleichen, wenn sie nicht etwas hätten, in dem sie alle gleich sind? Und könnten sich Menschen unterschiedlicher Kulturen überhaupt verstehen, wenn es zwischen ihnen nicht dieses Etwas gäbe, etwas Gleiches, das nicht Kultur ist? Das interkulturelle Verstehen und Vergleichen muss, wie mir scheint, herabsteigen zu den Bedingungen des Zusammenlebens, denen alle Menschen gleichermaßen unterworfen sind. Ja, es handelt sich um ein Unterworfensein. Allesamt sind die Menschen den Prozessen und Gesetzen des Zusammenlebens ausgeliefert. Auch wenn sie nicht die gleiche Sprache sprechen: Als Ausgelieferte an die elementaren sozialen Prozesse verstehen sie sich über kulturelle Grenzen hinweg, etwa als Mütter oder als Kinder oder als Kämpfer – jedenfalls besser als in den ethischen und rechtlichen Forderungen, die nur aus einer Kultur erwachsen und den Anspruch der allgemeinen Gültigkeit erheben. Zwei solcher ethischen Postulate sind uns gleichsam in Fleisch und Blut übergegangen: Toleranz und Gewaltlosigkeit. Toleranz ist eine Haltung, die auch andere Lebensformen und Wahrheiten zulässt als die eigene. Dabei geht es nicht nur um passive Duldung, sondern um aktive Bejahung des Anderen. Das ist nicht ungewöhnlich, wenn das Andere weit weg ist: hinten, fern in der Türkei. Es wird aber schwieriger und schwieriger, wenn das oder der Andere uns nah und näher rückt. Gegenüber Schwächen und Untugenden der eigenen Eltern und Kinder sind wir oft besonders unnachsichtig. Und Toleranz wird dann noch schwieriger, wenn wir als Angehörige einer Mehrheit das Gefühl haben, dass die eine oder andere Minderheit uns auf der Nase herumtanzt. In allen Fällen liegt es nahe, die eigene Meinung mit Macht durchzusetzen und den anderen dabei auch körperlich zu verletzen. Wenn das geschieht, ist die soziale Beziehung zu einer gewaltsamen geworden. Toleranz und Gewaltlosigkeit sind demnach in sozialen Beziehungen Regelungsprinzipien, die sich nicht von selbst verstehen. Sie setzen voraus, dass es Differenzen und Verletzbarkeiten gibt. Und sie setzen voraus, dass Konflikte auch anders geregelt werden: nämlich durch Konformitätsdruck statt durch Toleranz; und durch Gewalt statt durch Friedfertigkeit.
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Toleranz und Friedfertigkeit stehen im Zentrum einer Ethik der Menschenrechte, in der die Individuen ohne Konformitätsdruck und ohne Gewalt ihre religiösen, ethnischen, sprachlichen, rassischen etc. Unterschiede leben und ihre individuellen Entscheidungen treffen können. Aber warum sperrt sich die Realität hartnäckig gegen die Forderung nach „normativer Modernisierung“ (wie Herr Höffe sagt)? Ist es eine amoralische Realität? Das kann wohl nicht sein, dass unsere Vorfahren und andere Völker keine Moralität gehabt hätten. Ist es eine unmoralische oder zumindest eine weniger gute Moralität? In dieser Annahme – wie im Begriff der „normativen Modernisierung“ überhaupt – schwingt eine Geringschätzung des Früheren und des Anderen mit, auf die man mit Dietrich Bonhoeffer antworten möchte: „Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd.“ Oder enthält die Wirklichkeit, die sich den Idealen der Menschenrechte widersetzt, eine andere Moral, die in sich viel reichhaltiger und widersprüchlicher ist als die wenigen Grundwerte und Grundrechte, die von der modernen Ethik thematisiert werden? Sie stellen nur die Spitze des Eisbergs dar. Was unter Wasser verborgen ist, darin vermute ich die gemeinsame Grundlage aller Kulturen: in der Moral von sozialen Grundvorgängen, die wir verdrängen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit nur auf bestimmte moralische Forderungen wie Toleranz, Gewaltlosigkeit, Menschenrechte richten. Die elementaren Sozialprozesse, von denen im Folgenden die Rede ist, haben wenig zu tun mit der biologischen Beschaffenheit des Menschen. Sie würden ihre Kraft auch entfalten, wenn die Menschen genetisch anders programmiert wären, als sie es sind. Sie rühren aus der sozialen Beschaffenheit der Menschen her. Und sie gelten für alle Menschen: für Europäer und Asiaten, für Mehrheiten und Minderheiten, Kranke und Gesunde, Verbrecher und Rechtschaffene. In den elementaren Sozialprozessen sichert das Leben seine Fortdauer in der Zeit. Kontinuität enthält immer beides: Wandel und Stabilität. Der Volksmund weiß das: Nur was sich ändert, bleibt sich gleich. Was sich ändern müsste und was erhaltenswürdig sei – über diese Fragen lässt sich deshalb viel diskutieren, im Alltag, in der Politik und auch in der Wissenschaft. Es sind aber nicht die wissenschaftlich wirklich wichtigen Fragen. Sie sind immer wieder anders zu stellen, damit wir neue und andere Einsichten gewinnen. Welches sind die elementaren Prozesse und Gesetze, denen gehorchend das soziale Leben sich bewegt und fortdauert? Das ist die Frage, die ich mir stelle. Den ersten Prozess nenne ich Erwidern oder Austauschen. Der Begriff des Austauschs ist sehr geläufig in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Es gibt eine Reihe von Theorien, die soziales Verhalten als Austausch erklären. Das klingt positiv, harmonisch, ausgleichend. Ich ziehe das Wort Erwidern vor. Es lässt das Widerständige, Gegensätzliche des Geschehens anklingen. Ein Lächeln wird erwidert, aber auch ein Schlag ins Gesicht. In jedem Falle ist Erwidern überlebensnotwendig – für das einzelne Individuum wie für soziale Beziehungen. Ohne die gegenseitige Erwiderung zwischen Mann und Frau wäre niemand von uns auf die Welt gekommen, ohne die gegenseitige Erwiderung zwischen Säugling und Mutter – Bezugsperson – wäre niemand groß geworden. Erwidern kann auch tödlich sein. Zumindest kann Erwidern verletzen und schaden. Der Prozess des Erwiderns enthält also in sich zwei Möglichkeiten, eine negative und eine
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positive. Die Verteidigung gegen einen Angreifer ist, in der Regel, positiv für den Verteidiger, negativ für den Angreifenden. Es kommt also, zur Bewertung, auf den Standpunkt an. In das Erwidern spielt unweigerlich ein Werten hinein. Ich habe damit schon vorgegriffen auf den zweiten elementaren Prozess. Wie würde ein Leben, das keine Erwiderung findet, verlaufen? Es würde sich buchstäblich verlaufen: ohne Halt, ohne Anhalt, ohne Einhalt, ohne Zusammenhalt, ohne Gegenhalt. Es hätte keinen lebendigen Widerpart. Es erführe keine Rückmeldung. Es würde seine Beziehungen verlieren. Es erstürbe. Wir versuchen manchmal, solche Situationen des Nichterwiderns künstlich zu schaffen. Zum eigenen Schutz, oder als Strafe. „Auf den Kerl sollte man am besten gar nicht mehr reagieren“; „die Frau ist für mich Luft, die ist für mich gestorben, die kenne ich nicht mehr“; will heißen: Ich erkenne die Person nicht mehr an, ich breche die Beziehungen ab. Wer nicht mehr erkannt wird, wird nicht anerkannt, erkennt sich selbst nicht mehr, verliert sich, lebt ins Leere hinein, überlebt nicht lange. Geben, Nehmen, Erwidern ist überlebensnotwendig. Deshalb gibt es in allen Kulturen das Gebot des Erwiderns, der Gegenseitigkeit, der Reziprozität (ohne Gegenseitigkeit kein Anerkennen, kein Erkennen). Das Prinzip der Reziprozität ist deshalb eine moralische Grundregel allen sozialen Lebens. Sie ist eine Regel hinter den Regeln – so tief verinnerlicht, dass sie nicht bewusst sein braucht, es sei denn, sie wird verletzt. In allen Kulturen und über alle kulturellen Grenzen hinweg gilt nicht nur das Prinzip der Erwiderung im weiteren Sinne: Du sollst ein Gegenüber sein, du sollst entgegnen!, sondern auch das Prinzip der angemessenen Erwiderung: Wie du mir, so ich dir. Ein flüchtiger Gruß erwidert sich nicht durch einen Bückling, ein Gastgeschenk nicht durch eine Bezahlung, eine Sympathieerklärung nicht durch überschwängliche Liebesbeweise, aber auch nicht durch Spucken ins Gesicht …Was jeweils angemessen ist, dafür haben die Kulturen unterschiedliche und höchst ausgefeilte Regeln entwickelt. Dazu gehören auch Regeln, wie eine Erwiderung vermieden werden kann. Dass angemessen zu erwidern ist, gilt aber als moralisches Gebot in allen Kulturen. Eine erstes Fazit aus diesen Überlegungen: Ein moralisches Grundprinzip des sozialen Lebens wie das der Gegenseitigkeit enthält in sich eine Gegenbewegung: Geben, Nehmen, Erwidern und so weiter. Es weist also auf den dialektischen Charakter des sozialen Lebens hin. Ich neige sogar dazu zu sagen, es begründet den dialektischen Charakter des sozialen Lebens; ich behandle es deshalb, aus didaktischen Gründen, als Erstes (zeitlich kann es keine Priorität beanspruchen). Eine zweite Schlussfolgerung: Das Prinzip der Gegenseitigkeit ruft ein Gegenprinzip gegen sich selbst hervor: die einseitige Vergebung oder Hilfe, die praktisch aus den Fängen der Gegenseitigkeit erlösen soll. Wir haben es hier mit einer zweiten Dialektik, mit einer Gegenbewegung gegen den dialektischen Charakter des Reziprozitätsprinzips zu tun. Es ist nun eine offene und, wie ich finde, spannende Frage, ob diese Gegenmoral genauso wie das Reziprozitätsprinzip dem sozialen Leben an sich, gleichsam von allem Anfang an, innewohnt oder ob sie sich erst später herausgeschält hat, entweder allmählich, peu à peu, oder durch besondere soziomoralische Großereignisse, wie zum Beispiel das Auftreten charismatischer Propheten: Moses, Jesus Christus, Mohamed. Die großen Religionen enthalten ja Gebote der Mildtätigkeit, die den Rahmen der Reziprozität sprengen.
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Ich komme nun zum zweiten elementaren Prozess, der allem Sozialen innewohnt: Das Werten. Jede Gegenseitigkeit, ob angemessen oder unangemessen, enthält nicht nur ein Sich-aufeinander-Beziehen, sondern auch ein Anziehen und Vorziehen. Diejenigen, die sich aufeinander beziehen, ziehen ihre Beziehung unweigerlich anderen Beziehungen vor. Das gilt sogar dann, wenn sie sich nicht leiden können, ja wenn sie Feinde sind. Im Kampf gegeneinander ziehen die Feinde einander sogar den Freunden vor; denn die Aufmerksamkeit und die Kraft, die der Kampf fordert, wird ja der Freundschaft entzogen. Im Vorziehen ist immer auch ein Zurücksetzen enthalten. Das ist die Dialektik des Wertens. In die Dialektik des Wertens werden wir hineingeboren. Ohne dass wir es wissen und wollen, müssen wir, als Kleinkinder, die Beziehung zu den eigenen Eltern, die eigene Muttersprache, die auf uns einwirkenden kulturellen Regeln annehmen und allen anderen vorziehen, denn wir haben keine Alternative und keine Wahl. Wenn wir, im Alter von 12 oder 15 oder 18 Jahren eine Wahl haben und uns, fliehend oder auswandernd, gegen die eigenen kulturellen Vorprägungen entscheiden, sind diese doch immer schon da. Auch wenn wir uns von ihnen abwenden und sie abwerten: Sie haben einen VorwegWert, einen Vorsprung. Wenn uns das ärgert und wir dagegen kämpfen – und welcher junge Mensch würde das nicht –, dann kettet uns der Kampf doch wieder an das, was wir bekämpfen. Es gibt im sozialen Leben einen Vorzug für das Eigene, Vorhanden-Vertraute. Ich nenne dies das Prinzip der Präferenz für das Familiäre. Damit ist, dialektisch, unweigerlich die Zurücksetzung des Fremden gegeben. Als heranwachsende und erwachsene Individuen können wir dies umkehren. Ganze Gesellschaften, Kulturen, können dies nicht. Sie können sich für kollektive Verbrechen schämen, wie das in Deutschland geschehen ist; sie können sich politisch intentional umwerten, vom Führerprinzip zur Demokratie. Aber sie können nicht, auf die Dauer, sich selbst für minderwertig halten. Die Präferenz für das Eigene wird in allen Kulturen als ein hohes moralisches Gut geachtet. Würden wir im praktischen Leben die eigenen Kinder, Eltern, Gemeindemitglieder nicht schützend und sorgend bevorzugen, sondern unsere Liebe und unser Einkommen gleichermaßen auf alle Menschen verteilen, dann bliebe für jeden so wenig, dass niemand überleben könnte. Andererseits trägt gerade die Moral der Präferenz höchste Brisanz in sich: nicht nur weil sie zur Überwertung des Eigenen, sondern auch zur ausdrücklichen Zurücksetzung, Abwertung und Diskriminierung des Anderen neigt. Um dieser unheilvollen Dialektik zu entkommen, hat sich das Gegenprinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen und Kulturen entwickelt. Den entscheidenden Schritt hat, wie es scheint, Jesus gemacht: Ihr sollt Vater und Mutter verlassen und mir anhängen. Ihr sollt die Christengemeinde genauso behandeln wie Familienmitglieder. Und ihr sollt auch Nichtchristen, alle Menschen, den Gemeindemitgliedern moralisch und praktisch gleichstellen. Damit ist das ewige Prinzip, dass Wir, die Ingroup uns moralisch höher stellen als Euch, die Outgroup, durchbrochen. Eine moralische Revolution. Aber können wir sie wirklich leben? Ehrlichen Herzens können wir zwar behaupten und überzeugt sein, dass alle Menschen gleich zu achten sind und dass es egal ist, ob jemand Buddhist, Muslim oder Christ ist. Aber niemand kann ja alles zugleich sein. Wenn wir es
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könnten, möchten wir wirklich nach hinduistischem oder taoistischem Ritus leben? Wenn meine Kinder oder ich zum Islam konvertieren, erschwert es, in einer mehrheitlich christlichen Kultur, unser Leben. Und wenn ich konvertiere, bin ich immer noch nicht dasselbe wie der geborene Muslim, sondern als Konvertit zugleich weniger und mehr. Das alles bringt, lebenspraktisch, erhebliche Nachteile, vielleicht auch Vorteile. Es kann mir deswegen gar nicht gleich wert sein. Die Gleichwertigkeit der Menschen und Kulturen ist nur ein gedanklicher Schritt, um den lebenspraktischen Abwertungen und Aufwertungen beim Zusammentreffen der Kulturen etwas entgegenzusetzen. Die Unterschiede, auch die wertenden Unterschiede zwischen den Kulturen, werden dadurch nicht aufgehoben. Hier kommt nun, systematisch gesprochen, der große Auftritt der Toleranz. Sie verlangt nicht, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen aufgehoben werden. Sie lässt uns auch die unterschiedlichen Bewertungen von Kulturen. Sie verlangt nicht das Unmögliche. Sie lässt der jeweils eigenen Kultur den Vorzug. Sie respektiert das moralische Gesetz der Präferenz für das Familiäre. Und sie setzt ihm trotzdem ein anderes moralisches Prinzip entgegen: Akzeptiere die Unterschiede und lebe mit ihnen. Das ist eine Problemlösung für das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen. Der Wert der Toleranz scheint in modernen Gesellschaften einsichtig und unbestritten zu sein. Warum fällt es uns, auch im Privaten, trotzdem so schwer, nach ihm zu leben? Dies hat nicht zuletzt mit dem dritten Grundvorgang des sozialen Lebens zu tun, dem Teilen. Im Prozess des Erwiderns und im Prozess des Wertens entstehen geteilte moralische Gefühle und Interessen. Es sind nie Gefühle, die Individuen für sich allein haben, auch wenn wir sie als ureigen-individuelle zu erleben glauben. Es sind immer mit anderen geteilte, also kollektive Gefühle. Sie durchdringen, bestätigen und bestärken sich gegenseitig. So werden sie zu einer ungeheuer bewegenden Kraft der Übereinstimmung, die im Kleinen wie im Großen wirkt. Jede Erfahrung des Dissens, der Nichtübereinstimmung, der nicht geteilten Gefühle wird nicht nur als störend, sondern oft als bedrohlich empfunden. Der Außenseiter, der Abweichler, die Minderheit, die fremde Kultur: Auf ihnen lastet, ausgesprochen oder unausgesprochen, ein Konformitätsdruck, sich anzugleichen, sich zu integrieren, kollektive Identität zu stärken und nicht länger zu stören. Der Konformitätsdruck, den wir alle, in den unterschiedlichsten Situationen verspüren, ist Ausdruck eines allgemeinen moralischen Prinzips der kollektiven Identifikation. Toleranz, als Kontrastprinzip, versucht dagegen die Störung auf Dauer zu stellen. Deshalb ist Toleranz so schwer. Auch wenn wir uns nach außen um Toleranz bemühen, werden wir oft innerlich böse, weil die anderen nicht so sind wie wir. Die elementare moralische Kraft der kollektiven Identifikation – what is wrong with it? Es wäre dagegen kaum etwas einzuwenden, wäre der Vorgang des Teilens, der ihr zugrunde liegt, nicht ein dialektischer. Will sagen: Jedes Teilen ist auch ein Trennen, jede Übereinstimmung erzeugt einen Ausschluss. Romeo und Julia teilen ihre Liebe – gegen die eigenen, verfeindeten Familien. Die Nation schließt andere Nationen aus. Die europäische Gemeinschaft, die nicht europäischen Länder. Fortwährend wird die Welt in „Wir“ und „Sie“ geteilt.
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Auch das wäre weniger dramatisch, führte nicht die fortwährende Bildung kollektiver Identitäten in Verbindung mit der Präferenz fürs Eigene zur Abwertung der Outgroup, insbesondere der Minderheiten. Sie äußert sich in der Regel in negativen Vorurteilen, die den Fremden nicht so sehr als individuelle Person, sondern als Angehörigen eines anderen Kollektivs treffen. In der Tiefe des Unbewussten ist dieser Vorgang ungreifbar. Wir können ihn nicht abstellen. Wenn wir ihn mit aller Macht des guten Willens unterdrücken wollten, würden wir ihn gerade dadurch, ihm unsere ständige Aufmerksamkeit schenkend, am Leben halten, ja möglicherweise stärken. Das Prinzip der Toleranz könnte dagegen eine Problemlösung bieten: Sowohl den Fremden/das Fremde in seiner kollektiven Identität anerkennend als auch die Präferenz für das Eigene erlauben und ermutigen uns, diese Spannung selbst auszuhalten. Aber als in sich spannungsreicher Wert ist Toleranz immer in Gefahr, nach der einen oder anderen Seite, in Feindseligkeit oder Selbstaufgabe zusammenzubrechen. Der Brisanz kollektiver Identitätsbildungen mit der fortwährenden Entgegensetzung von „Uns“ und „Ihnen“ ist deshalb nicht allein im Prozess des Wertens, eben über den Wert der Toleranz, beizukommen. Das soziale Leben sucht einen Ausweg aus dem Dilemma seiner Dialektik auch im Prozess des Teilens, genauer: durch eine Art Ausstieg aus diesem Prozess. Die Lösung heißt: Individualisierung. Statt uns, als soziale Wesen, andauernd an der Teilung der Welt in „Uns“ und „die Anderen“ zu beteiligen, sollen wir „Ich“ und „Du“ sagen, uns selbst und den anderen also als individuelle Einzelwesen sehen. Statt kollektive Zugehörigkeiten zu produzieren, sollen wir uns individualisieren. Statt die Welt als Konglomerat von Kollektiven zu sehen, sollen wir sie als Welt der Individuen sehen. Die Moral der Individualität kommt in dem kölnischen Merkspruch zum Ausdruck: Jeder Jeck ist anders. Wenn wir die Welt so sehen, schützen wir den Einzelnen davor, als Katholik oder als Muslim vorweg klassifiziert oder gar negativ bewertet zu werden. Individualisierung ist so gesehen eine Problemlösung. Aber nur von begrenztem Wert. Denn wir wollen nicht nur als Individuen, sondern auch in unseren kollektiven Identitäten, als Katholik oder Muslim, Frau oder Mann, als Kurden, Türken, oder Deutsche mit je eigener Muttersprache geachtet werden. Eine Welt von sechs Milliarden Nur-Individuen wäre völlig unübersichtlich, unberechenbar, unerträglich. Wir müssen sie in Kulturen gliedern können – mit kollektiven Vorannahmen, ja Vorurteilen: Nur so können wir Beziehungen zu Menschen anderer Kulturen knüpfen, ohne sie mit der Erwartung zu brüskieren, dass sie dasselbe essen und trinken oder glauben wie wir selbst. Die Erwartung, dass dies alles beliebig und nur eine Frage der individuellen Entscheidung sei, ist fast noch verletzender als die Erwartung, dass die anderen alle dieselben kulturellen Prägungen und Erwartungen haben wie wir selber. Individualisierung – in christlicher Sicht eher: Personalisierung – ist zwar ein notwendiges Gegengewicht gegen kollektive Auf- und Abqualifizierungen; eine Alternative ist sie aber nicht. Aus dem Prozess des Teilens, des Einschließens und Ausschließens, gibt es auch in der modernen Welt keinen Ausstieg. Ausschließen durch Einschließen wirkt nicht nur nach außen, zwischen den Kulturen, sondern auch innerhalb jeder Kultur. Wenn man sich seine Minderheiten nicht von
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außen holen kann, macht man sie im Innern. Das Streben nach Übereinstimmung in moralischen Gefühlen und Regeln schärft auch immer die Aufmerksamkeit für diejenigen, die diese Übereinstimmung mit dem Durchschnitt nicht vollständig teilen. Sie werden als Minderheiten wahrgenommen: Angehörige radikaler Parteien, neuer religiöser Gruppen, Homophile und Pädophile, gewalttätige Fußballfans, Punks. Jede Gesellschaft baut diese Spannung zwischen Mehrheiten und Minderheiten immer wieder von neuem auf. Sie braucht sie, um sich ihrer Normalität und ihrer Regeln zu vergewissern – und sich auch von den Minderheiten Alternativen und Richtungsänderungen aufzeigen zu lassen. Die bisher genannten drei Prozesse des Erwiderns, Wertens und Teilens sind uns, wie das soziale Leben insgesamt, nur zum geringsten Teil bewusst. Wenn etwas von ihnen sichtbar oder manifest wird, verschwindet etwas anderes in der Versenkung oder in der Latenz. Denn der vierte Prozess, das Sichmitteilen, ist genauso wie die anderen Prozesse dialektischer Art: Jedes Bewusstwerden, Enthüllen oder Offenbaren geht unweigerlich einher mit dem Unsichtbarwerden oder Verbergen von etwas anderem. Ja, man kann sagen, dass das Bergen und Verbergen die für das Überleben wichtigere Seite des Vorganges ist. Die Gruppe, die ihre Überlebenstüchtigkeit durch Kommunikation im Innern steigern kann, überlebt doch nur in der Geborgenheit nach außen; dieser Zusammenhang ist archaisch und zugleich hochmodern: Noch nie waren die Intimsphäre der Familie, die Vertraulichkeit von Sitzungen und Akten, das Betriebsgeheimnis so wichtig wie heute. Noch nie wurde das Kleinkind in seinem Zimmer, im Haus, im Garten und im überdeckten Kinderwagen so sehr abgeschirmt und vor fremden Blicken geschützt wie in der Gegenwart. Noch nie erschien die Individualsphäre so verbergenswert wie in den Zeiten des staatlich verbürgten Datenschutzes. Und doch lauert die größte Gefahr für die Gruppe nicht in Mitteilungen, die von außen kommen und nach außen gehen. Denn der Outgroup werden ohnehin alle Schlechtigkeiten zugetraut; das Prinzip der Präferenz für das Eigene will es so. Wen wundert es, wenn Verbrechen und Brutalitäten der anderen ruchbar werden! Viel bedrohlicher für das eigene Selbstwertgefühl ist es, wenn sich Regelverstöße, Widersprüchlichkeiten, Abgründe und Verbrechen im eigenen Kollektiv mitteilen. Handlungsverbote können dagegen nicht hinreichend schützen; denn im Verbot wird immer das ausgesprochen und damit wiedererweckt, was nicht sein darf. Nur ein nicht ausgesprochenes, tief in Ekel und Abscheu verankertes Sprech- und Denkverbot hilft: nicht einmal in Gedanken an das Innerste und Bedrohlichste rühren, zu dem die eigene Gruppe fähig ist! Dieses hohe moralische Prinzip des Tabus gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen in allen Gesellschaften. Würde das Prinzip des Tabus allein herrschen, gäbe es allerdings weder medizinische noch historische Forschung. Deshalb versuchen Gesellschaften mit dem Prinzip der Aufklärung – ebenfalls eine moralische Forderung –, die Schranken zu durchbrechen, die durch Tabu gegeben sind. Alle dynamischen Gesellschaften leben im Spannungsfeld zwischen Tabu und Aufklärung. Der letzte dialektische Prozess: das Bestimmen und Bestimmtwerden. Er führt das soziale Leben durch die Dimension der Zeit. Alle Zukunft ist unbestimmt. Im Augenblick der Gegenwart wird das Unbestimmte zu Bestimmtem, das Zukünftige verwandelt sich in Herkünftiges. Nur einen Augenblick lang, in der jeweiligen Gegenwart, haben wir kollek-
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tiv oder individuell die Chance, das Geschehen an der Schnittstelle zwischen Unbestimmtem und Bestimmtem mit zu bestimmen. „Selbst bestimmen“: eine geringe Chance angesichts der Unermesslichkeit dessen, was in Zukunft möglich ist, und dessen, was qua Herkunft bereits festgelegt ist. Im Mahlstrom der Zeit waren sich die Menschen seit jeher bewusst, dass sie einem Prinzip des Schicksals oder des Zufalls unterliegen. Sie haben dies als eine moralische Haltung akzeptiert. Sie haben ihr ein moralisches Prinzip der vita activa (Hannah Arendt), der individuellen Selbstgestaltung der sozialen Verhältnisse entgegengestellt. Aber je entschiedener sich die individuelle und kollektive Selbstbestimmung gebärdet, desto mehr läuft sie in die Falle der unvorhergesehenen und nicht beabsichtigten Folgen und der perversen Effekte. Ich fasse zusammen. In der westlichen Kultur sind uns die moralischen Prinzipien der Selbstbestimmung, der Aufklärung, der Individualität, der Toleranz und der einseitigen Hilfe/Nächstenliebe oder Vergebung zur „zweiten moralischen Natur“, zum Inbegriff des Moralischen schlechthin geworden. Fortschritt können wir uns kaum anders vorstellen denn als Siegeszug dieser Prinzipien gegen die Mächte des Schicksals, des Tabus, der kollektiven Identitäten, der Präferenz/Diskriminierung und der gegenseitigen Vergeltung. Aber genau diese Mächte sind ebenfalls moralische Prinzipien, die das soziale Leben regeln. Sie sind sogar die allgemeineren Prinzipien. Da sie aus der Logik der Sozialität, den dialektischen Prozessen des Zusammenlebens selbst hervorgehen, unterliegen sie allen Kulturen, den eher traditionalen ebenso wie auch den dynamisch-westlichen. Der Westen hat diesen Teil seiner soziomoralischen Grundlagen perhorresziert und durch ein ausgesprochenes Gegenprogramm der Selbstbestimmung, Aufklärung etc. verdrängt. Er hat dabei gerade den Teil seines eigenen moralischen Lebens verdrängt, den er mit allen andern Kulturen teilt. Das moralische Problem der Weltgesellschaft heute ist nicht, dass der Westen die fremden Kulturen nicht kennt. Das Problem ist vielmehr, dass er sich selbst in seiner moralischen Komplexität und Tiefenstruktur nicht kennt. So schiebt er – oft unter dem Stichwort Menschenrechte – im Konflikt der Kulturen gerade den Teil seines eigenen moralischen Selbstverständnisses vor, der anderswo am wenigsten verstanden wird. Was der Westen der übrigen Welt als „moralische Universalien“ ansinnt, ist gerade nicht universal und wird deshalb auch, von den Adressaten, ganz anders verstanden: als der westliche Versuch, die Präferenz für das Eigene einseitig und mit Macht durchzusetzen. Ob die Einsicht in die Universalien des soziomoralischen Lebens – die elementaren dialektischen Prozesse mit den Prinzipien der Reziprozität, der Präferenz, der kollektiven Identität, des Tabus und der unintendierten Effekte – im Konflikt der Kulturen hilfreicher ist, muss dahingestellt bleiben. Ich bemühe mich um diese Einsicht nicht, weil sie politisch nützlich sein könnte, sondern weil sie mich als Soziologen fasziniert. Es werden dabei mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben: Lassen sich die elementaren Prozesse und Prinzipien des soziomoralischen Lebens überhaupt vollständig darstellen? Wie verhalten sie sich zueinander? Sind die Gegenprinzipien Errungenschaften nur der westlichen Kultur oder finden sie sich, mehr oder weniger ausgeprägt, auch in anderen Kulturen? Können diese Prinzipien im Kontakt der Kulturen gelernt werden? Ist das Lernen ein einseitiges oder ein gegenseitiges – und welche unbeabsichtigten Folgen kann es haben …?
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Eine Gesellschaft der sechs Milliarden Menschen braucht zwar, als moralische Regelungsprinzipien, Caritas, Toleranz, Individualität, Aufklärung und selbst bestimmtes Handeln. Sie braucht aber auch die Einsicht, dass dies nur Gegenprogramme sind zu den tieferen soziomoralischen Prinzipien der Reziprozität, der Präferenz für das Eigene, der kollektiven Identität, des Tabus und des Sicheinfügens in ein Geschehen, das sich dem intentional-politischen Handeln nur zu einem geringen Teil fügt.
Martin Bauschke
Jesus im Koran und im Islam 1. Was ist der Koran und wie sollten Christen ihn lesen? Für mehr als 1,2 Milliarden Menschen ist der Koran die Heilige Schrift. Der Islam ist – noch viel ausgeprägter als das Judentum und das Christentum – eine Buchreligion. Muslime glauben, dass Gottes ewiges Wort in der Gestalt des Korans Buch geworden ist, so wie Christen glauben, dass Gottes Wort in der Gestalt Jesu Mensch geworden ist. Der Koran ist für die meisten Muslime Gottes „ungeschaffene Rede, körperliches Wort, göttlicher Atem“.1 Der Koran ist die Mitte des Islams. Er besitzt absolute Autorität; er spielt dieselbe zentrale Rolle wie Jesus im Christentum. Die Rezitation des Korans im Ritualgebet hat ungefähr denselben Stellenwert wie die Eucharistiefeier im christlichen Gottesdienst. Das arabische Wort „Koran“ – richtiger: Qur’ân – bedeutet „Lesung, Vortrag, Rezitation“ (von qara’a = lesen, vortragen, rezitieren). Der Koran enthält die Botschaft, die Muhammad im Laufe seiner Wirksamkeit als Prophet verkündigt hat. Muslime glauben, dass Muhammad diese Botschaft nicht irgendwie erfunden oder von anderen Propheten übernommen hat, sondern dass sie ihm von Gott bzw. von seinem Engel Gabriel sukzessive in arabischer Sprache offenbart worden ist. Dieses Arabisch ist so wortgewaltig, dass man den Koran als ein Sprachwunder bezeichnen könnte. Die sprachliche Schönheit des Korans ist für die Muslime ein Beweis für seine göttliche Herkunft. Während Mose magische Wunder in Anlehnung an die Hochschätzung der Magie bei den Ägyptern und Jesus Heilungswunder vollbrachte in Anlehnung an den allgemeinen Wunder-Glauben sowie die zu seiner Zeit hochgeschätzte Heilkunst, musste Muhammads Beglaubigungswunder etwas mit der Sprache zu tun haben, auf deren virtuose Handhabung die Araber größten Wert legten. Darum gilt der vollkommene Sprachstil als das Wunder, das den Koran und Muhammad vor den Menschen beglaubigt. In diesem Sinne schrieb der Wiener Orientalist Josef von Hammer-Purgstall zu Beginn des 19.Jahrhunderts: „Der Koran ist nicht nur des Islam’s Gesetzbuch, sondern auch Meisterwerk arabischer Dichtkunst. Nur der höchste Zauber der Sprache konnte das Wort des Sohnes Abdallah’s stämpeln als Gottes Wort.“ 2 Das Arabisch des Korans ist in keiner Übersetzung adäquat wiederzugeben. Dennoch gibt es einzelne geglückte Versuche, welche die sprachliche Schönheit und zugleich die Intensität der kurzen, rhythmischen Sätze im Deutschen wenigstens erahnen lassen. Solche Versuche haben die Orientalisten Friedrich Rückert und Hubert Grimme angestellt. Der Koran besteht aus 114 Kapiteln mit insgesamt 6219 Versen. Die Kapitel nennt man „Suren“, die Verse heißen âyât. Jede Sure trägt eine Überschrift. Meistens sind es Namen
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von Menschen, von Tieren, von Phänomenen aus der Natur. Der Koran ist folgendermaßen gegliedert. Am Anfang steht als Überschrift über den gesamten Koran die erste Sure. Sie heißt al-Fâtiha: „Die Eröffnende“. Sie ist das Tor zum Koran. Sie ist das islamische Hauptgebet, analog zum „Vaterunser“ im Christentum. Alle folgenden Suren sind tendenziell, aber nicht ganz konsequent der Länge nach angeordnet. – In einer ersten Gruppe (Suren 2–23) lassen sich die sehr langen Suren zusammenfassen, mit 100 oder mehr Versen. Die längste ist Sure 2 mit 286 Versen. – In einer zweiten Gruppe (Suren 24–80) lassen sich die mittellangen Suren zusammenfassen, mit 40 und mehr Versen. – In einer dritten Gruppe gegen Ende des Korans (Suren 81–114) schließlich sind die kürzeren Suren zu finden mit weniger als 40 Versen. Die kürzesten Suren sind Nr. 103; 108; 110 mit jeweils nur 3 Versen. Außer der neunten beginnen alle Suren mit denselben Worten: Bismi-Llâhi ar-rahmâni ar-rahîm („Im Namen des barmherzigen und sich erbarmenden Gottes“). Wovon auch immer die Rede sein wird: dass Gott barmherzig ist und sich voller Erbarmen des Menschen und seiner Welt annimmt – das ist die konstante Vorbemerkung des Korans. Wenn man sich als Nichtmuslim dem Koran nähern möchte, so ist es aufgrund des skizzierten Aufbaus sinnvoll, mit dem Schluss anzufangen, zu beginnen mit den kurzen, prägnanten Suren am Ende, die zugleich historisch die ältesten Botschaften Muhammads darstellen, und sich dann allmählich nach vorne vorzuarbeiten. Je weiter man bei der Lektüre kommt, je länger die Suren werden, desto komplexer wird die Materie; auch vieles Vertraute kehrt wieder. Dann, am Ziel der Lektüre, steht die Sure 2 Al-baqara („Die Kuh“) als eine großartige Zusammenfassung des Korans. Wer mit ihr endet, kann sie inhaltlich erfassen. Wer von vorne zu lesen beginnt, wird von der Fülle ihrer Themen und Stoffe fast erschlagen und kaum viel weiter kommen … Des Weiteren ist wichtig, eine solche Übersetzung zu wählen, die nicht nur philologisch möglichst genau ist, sondern auch in ihrer Diktion dem religiösen Gehalt des Korans gerecht wird. Beide Kriterien werden am ehesten erfüllt von der deutschen Übersetzung Adel Theodor Khourys, die auch meinen Koranzitaten zugrunde liegt.3 Abzuraten ist von allen älteren deutschen Koranausgaben, aber auch von der Übersetzung von Rudi Paret. Diese hat sich in der deutschen Islamwissenschaft als Klassiker fest etabliert. Sie ist zwar philologisch eine sehr genaue Übertragung, doch ist sie dem Sprachstil und der religiösen Sache des Korans leider völlig unangemessen. Die schwere Lesbarkeit des deutschen Textes lässt bei jedem Anfänger, der den Koran einmal kennen lernen möchte, die Neugier und Entdeckerfreude im Keim ersticken.
2. Warum sollten Christen und Muslime miteinander über Jesus sprechen? a) Der Koran ist – außer dem Neuen Testament – die einzige Heilige Schrift einer Weltreligion, in der Jesus eine wichtige Rolle spielt. Das unterscheidet den christlich-islamischen Dialog über Jesus von jedem anderen Dialog über ihn, denn nur hier geschieht er
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von beiden Seiten aus auf der Basis der jeweiligen Heiligen Schrift. Das ist im Judentum, in der Philosophie, der Kunst, der Literatur anders: Dort kommt Jesus mehr oder weniger vor, und wo er vorkommt, kann man mit Juden, Philosophen, Künstlern und Schriftstellern über ihn sprechen. Aber: Ich muss mich als Jude, Philosoph, Künstler oder Schriftsteller nicht unbedingt mit Jesus befassen! Wohl aber als Muslim und Muslima, weil dieser Jesus mir im Koran begegnet: 15 Suren erwähnen Jesus in mehr als 100 Versen: in den zeitlich früheren, mekkanischen Suren 6; 19; 21; 23; 42; 43 sowie in den späteren, medinischen Suren 2; 3; 4; 5; 9; 33; 57; 61; 66.4 b) Die Gestalt Jesu steht im Zentrum des christlichen Glaubens: Wie andere Menschen – zumal anders glaubende Menschen – über ihn reden, was sie über ihn denken, kann und darf keinem Christenmenschen gleichgültig sein. c) Der christlich-islamische Dialog über Jesus beginnt bereits im Koran – ein heutiger Dialog zwischen Christen und Muslimen ist kein Trend des Zeitgeistes, sondern schlicht die Wiederaufnahme und Fortsetzung einer Dialoggeschichte, die 1400 Jahre alt ist. d) Angesichts unserer kulturell, religiös und ethnisch durchmischten Gesellschaft ist heute kein christlicher Glaube mehr möglich an den unter uns lebenden Muslimen vorbei. Dasselbe Argument multikultureller Kontextualität gilt natürlich auch umgekehrt. Ignoranz dem Andersglaubenden gegenüber wäre purer Provinzialismus. Das bedeutet: Dieser Dialog bietet die wunderbare Chance, dass Christen sich endlich einmal ein wenig mit dem Koran und Muslime endlich einmal mit dem Neuen Testament vertraut machen.5 1. Der Name Jesu im Koran c Isâ ist der arabische Name für Jesus im Koran. Für Christen lautet sein Name: „Jesus Christus“, d.h. Jesus, der Gesalbte, der Messias. Schon an dieser Stelle ist Vorsicht geboten, denn auch der Koran nennt Jesus elfmal „den Messias“ (al-masîh). Man muss sich grundsätzlich klar darüber sein: Wenn in einem Dialog zwei Seiten dieselben Begriffe gebrauchen, müssen sie noch lange nicht das Gleiche damit meinen. Der Koran kennt das heilsgeschichtliche Problem der Messianität Jesu, wie es bis heute kontrovers zwischen Juden und Christen diskutiert wird, nicht. An seinen eigenen theologischen Voraussetzungen gemessen impliziert die Bezeichnung Jesu als Messias im Koran keine göttliche Würde. Das gilt auch für andere Titel Jesu, die sich der christlichen Tradition verdanken, im Koran jedoch anders verstanden werden: nämlich stets theozentrisch. Bei derlei Bezeichnungen Jesu darf keine christliche Deutung in den Koran hineingelesen werden, wie das christliche Theologen immer wieder getan haben. Die Würdetitel Jesu im Koran preisen letztlich die Größe Gottes – sie dürfen nicht als Sprungbrett für Spekulationen über das Wesen der Person Jesu missbraucht werden.6 2. Die Ankündigung der Geburt Jesu Die Weihnachtsgeschichte, so wie sie uns das Lukas-Evangelium berichtet, setze ich als bekannt voraus. Eher unbekannt dürfte das in Ägypten entstandene sog. Protevangelium des Jakobus sein, das älteste und berühmteste aller außerkanonischen Kindheitsevangelien. Es schildert die Geburt Jesu etwa 100 Jahre nach Lukas so (Kap. 11):
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„1 Und sie (sc. Maria) nahm den Krug und ging hinaus, um Wasser zu schöpfen, und siehe, eine Stimme sprach zu ihr: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr sei mit dir, du Gesegnete unter den Weibern. Und Maria schaute sich nach rechts und links um, woher diese Stimme komme. Und sie erbebte, ging in ihr Haus, stellte den Krug ab, nahm den Purpur, setzte sich (damit) auf ihren Stuhl und spann den Purpur. 2 Und siehe, ein Engel des Herrn stand (plötzlich) vor ihr und sprach: Fürchte dich nicht, Maria; denn du hast Gnade gefunden vor dem Allmächtigen und wirst aus seinem Wort empfangen. Als sie das hörte, zweifelte sie bei sich selbst und sprach: Ich sollte empfangen vom Herrn, dem lebendigen Gott, [und gebären,] wie jedes Weib gebiert? 3 Und der Engel des Herrn trat hinzu und sprach zu ihr: Nicht so, Maria; denn Kraft des Herrn wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, was aus dir geboren wird, Sohn des Höchsten genannt werden. Und du sollst seinen Namen Jesus heißen; denn er wird sein Volk von seinen Sünden retten! Und Maria sprach: Siehe, (ich bin) die Magd des Herrn vor ihm: mir geschehe nach deinem Wort!“ In zwei verschiedenen Suren erzählt der Koran von der Ankündigung der Geburt Jesu und seiner Empfängnis in Maria. Der zeitlich ältere Abschnitt findet sich in Sure 19, in der mekkanischen Kindheitserzählung, gut 400 Jahre nach dem Protevangelium: „16 Und gedenke im Buch der Maria, als sie sich von ihren Angehörigen an einen östlichen Ort zurückzog. 17 Sie nahm sich einen Vorhang vor ihnen. Da sandten Wir unseren Geist zu ihr. Er erschien ihr im Bildnis eines wohlgestalteten Menschen. 18 Sie sagte: ‚Ich suche beim Erbarmer Zuflucht vor dir, so du gottesfürchtig bist.‘ 19 Er sagte: ‚Ich bin der Bote deines Herrn, um dir einen lauteren Knaben zu schenken.‘ 20 Sie sagte: ‚Wie soll ich einen Knaben bekommen? Es hat mich doch kein Mensch berührt, und ich bin keine Hure.‘ 21 Er sagte: ‚So wird es sein. Dein Herr spricht: Das ist Mir ein leichtes. Wir wollen ihn zu einem Zeichen für die Menschen und zu einer Barmherzigkeit von Uns machen. Und es ist eine beschlossene Sache.‘ 22 So empfing sie ihn (sc. Jesus). Und sie zog sich mit ihm zu einem entlegenen Ort zurück.“ Wie bei Lukas und Jakobus hat Maria auch in Sure 19 eine Vision: „Unser Geist“ tritt an sie heran, womit nach Auffassung der meisten muslimischen Ausleger nur der Engel „Gabriel“, von dem Lukas spricht, gemeint sein kann. Bei Jakobus und im Koran wird sein Name nicht ausdrücklich genannt. Zweimal spricht Sure 19 vom sich Zurückziehen Marias (V. 16.22). Das bedeutet: Maria zieht sich von ihren Mitmenschen vollständig zurück. So wird sie die schlechthin Empfangende. Denn nur fern von allen Menschen, fern von allen menschlichen (männlichen) Möglichkeiten (etwa einer zeugenden Mitwirkung) kann sie die Verheißung des Engels hören, Jesus empfangen und zur Welt bringen. Welche Ehrentitel für Jesus gebrauchen die Texte? Lukas nennt Jesus „Sohn des Höchsten“ und „Sohn Gottes“, Jakobus allein „Sohn des Höchsten“. Beide Titel tauchen in Sure 19 nicht auf. Aus der besonderen Rolle des „Geistes“ hier resultiert der Titel: „Geist Gottes“. Er findet sich in Sure 4,171: Dort nennt der Koran Jesus „Geist von Gott“. Der Titel bringt die jungfräuliche Empfängnis Jesu in Maria und die reine Geschöpflichkeit des Menschen Jesus zum Ausdruck, ganz so, wie Gott auch Adam bei dessen Erschaffung seinen Geist eingehaucht hat (Sure 15,29). Das Neue Testament berichtet zweimal von der Ankündigung der Geburt Jesu: einmal an Josef (Matthäus) und einmal an Maria (Lukas). Auch der Koran überliefert diese Szene
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doppelt, doch beide Male an Maria, wohingegen Josef im Koran nirgends erwähnt wird, ebenso wenig wie die Orte Nazareth oder Bethlehem. Der zweite, etwa zehn Jahre jüngere Abschnitt über die Ankündigung der Geburt Jesu im Koran steht in der medinischen Kindheitserzählung in Sure 3: „42 Als die Engel sagten: ‚O Maria, Gott hat dich auserwählt und rein gemacht, und Er hat dich vor den Frauen der Weltenbewohner auserwählt. 43 O Maria, sei deinem Herrn demütig ergeben, wirf dich nieder und verneige dich mit denen, die sich verneigen.‘ 44 Dies gehört zu den Berichten über das Unsichtbare, die Wir dir offenbaren. Du warst ja nicht bei ihnen, als sie ihre Losstäbe warfen, wer von ihnen Maria betreuen solle. Und du warst nicht bei ihnen, als sie miteinander stritten. 45 Als die Engel sagten: ‚O Maria, Gott verkündet dir ein Wort von Ihm, dessen Name der Messias Jesus, der Sohn Marias, ist; er wird angesehen sein im Diesseits und Jenseits, und einer von denen, die in die Nähe (Gottes) zugelassen werden. 46 Er wird zu den Menschen sprechen in der Wiege und als Erwachsener und einer der Rechtschaffenen sein.‘ 47 Sie sagte: ‚Mein Herr, wie soll ich ein Kind bekommen, wo mich kein Mensch berührt hat?‘ Er sprach: ‚So ist es; Gott schafft, was Er will. Wenn Er eine Sache beschlossen hat, sagt Er zu ihr nur: Sei! und sie ist‘.“ Anders als in allen Erzählungen bisher hat Maria hier keine Vision, sondern eine Audition: Hier werden gleich mehrere Engel, die unsichtbar bleiben, erwähnt. Ansonsten stimmen beide koranischen Geschichten der Sache nach überein. Hier finden wir einen weiteren Würdetitel für Jesus: Er wird „ein Wort von Ihm (Gott)“ (V. 45) genannt. Der Titel „Wort Gottes (bzw. Wort von Gott)“ – nirgends: „das Wort Gottes“! – zielt exakt in dieselbe Richtung wie der „Geist“-Titel: dass Jesus sich in seinem Dasein einer direkten göttlichen Initiative verdankt. Jesu Geschöpflichkeit ist ein unmittelbares Wunder Gottes – die Folge seines Befehls wie die Welt im Ganzen, die sich ebenfalls einer Erschaffung „durch das Wort allein“ verdankt. Jesus gleicht also der Schöpfung und in ihr besonders Adam, der auch keinen Vater hatte. In diesem Sinne ist Jesus für den Koran ein zweiter Adam (Sure 3,59). Auch wenn der Wort-Gottes-Titel sicher aus der christlichen Tradition stammt, hat er nichts zu tun mit dem christlichen Verständnis vom „göttlichen Logos“ und den damit verbundenen trinitarischen Aussagen. Für die Koranlektüre gilt ganz grundsätzlich: Christologische Hoheitstitel im Koran dürfen nicht christianisierend interpretiert werden. Denn der Koran hat christlich vorgeprägten Begriffen in der Regel einen neuen Sinn gegeben. Alle Titel preisen die schöpferische Allmacht Gottes.
3. Die Schilderung der Geburt Jesu Es gibt drei verschiedene Versionen: die Weihnachtsgeschichte im Neuen Testament nach Lukas 2, die apokryphe Schilderung bei Jakobus sowie die mekkanische Erzählung in Sure 19. Sie beschreiben alle ausführlich die Geburt Jesu. Ich komme gleich zum 19. Kapitel des Protevangeliums des Jakobus. Es beginnt seine Schilderung zunächst damit, wie Josef sich auf die Suche nach einer Hebamme macht. Weiter wird berichtet: „1 (…) Und die Hebamme ging mit ihm. 2 Und sie traten an den Ort der Höhle, und siehe, eine finstere [lichte] Wolke überschattete die Höhle. Und die Hebamme sprach: Erho-
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ben ist heute meine Seele, denn meine Augen haben Wunderbares gesehen; denn Israel ist das Heil geboren. Und sogleich verschwand die Wolke aus der Höhle, und ein großes Licht erschien in der Höhle, sodass die Augen es nicht ertragen konnten. Kurz darauf zog sich jenes Licht zurück, bis das Kind erschien, und es kam und nahm die Brust von seiner Mutter Maria. Und die Hebamme schrie auf und sprach: Was für ein großer Tag ist das heute für mich, dass ich dies nie da gewesene Schauspiel gesehen habe. 3 Und die Hebamme kam aus der Höhle heraus, und es begegnete ihr Salome. Und sie sprach zu ihr: Salome, Salome, ich habe dir ein nie da gewesenes Schauspiel zu erzählen: eine Jungfrau hat geboren, was doch ihre Natur nicht zulässt. Und Salome sprach: (So wahr) der Herr, mein Gott, lebt, wenn ich nicht meinen Finger hinlege und ihren Zustand untersuche, so werde ich nicht glauben, dass eine Jungfrau geboren hat.“ In Kapitel 20 wird dann die Bestätigung dieses Wunders durch Salome berichtet. Nun der koranische Bericht der Geburt Jesu nach Sure 19: „23 Die Wehen ließen sie (sc. Maria) zum Stamm der Palme gehen. Sie sagte: ‚O wäre ich doch vorher gestorben und ganz und gar in Vergessenheit geraten!‘ 24 Da rief er ihr sogleich nach ihrer Niederkunft zu: ‚Sei nicht betrübt. Dein Herr hat unter dir Wasser fließen lassen. 25 Und schüttle den Stamm der Palme gegen dich, so lässt sie frische, reife Datteln auf dich herunterfallen. 26 Dann iss und trink und sei frohen Mutes. Und wenn du jemanden von den Menschen siehst, dann sag: Ich habe dem Erbarmer ein Fasten gelobt, so werde ich heute mit keinem Menschen reden.‘ 27 Dann kam sie mit ihm zu ihrem Volk, indem sie ihn trug. Sie sagten: ‚O Maria, du hast eine unerhörte Sache begangen. 28 O Schwester Aarons, nicht war dein Vater ein schlechter Mann, und nicht war deine Mutter eine Hure.‘ 29 Sie zeigte auf ihn. Sie sagten: ‚Wie können wir mit dem reden, der noch ein Kind in der Wiege ist?‘ 30 Er (sc. Jesus) sagte: ‚Ich bin der Diener Gottes. Er ließ mir das Buch zukommen und machte mich zu einem Propheten. 31 Und Er machte mich gesegnet, wo immer ich bin. Und Er trug mir auf, das Gebet und die Abgabe (zu erfüllen), solange ich lebe, 32 und pietätvoll gegen meine Mutter zu sein. Und Er machte mich nicht zu einem unglückseligen Gewaltherrscher. 33 Und Friede sei über mir am Tag, da ich geboren wurde, und am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich wieder zum Leben erweckt werde.‘ 34 Das ist Jesus, der Sohn Marias. Es ist das Wort der Wahrheit, woran sie zweifeln.“ Die häufigste Bezeichnung des Korans für Jesus ist der absolut gebrauchte Zuname: „Sohn Marias“ (33-mal). Das zeigt, dass Maria als Mutter Jesu eine wichtige Rolle spielt. Überdies ist sie im Koran die einzig namentlich erwähnte Frau. Vergleicht man den Geburtsbericht des Korans mit den Erzählungen der christlichen Tradition, so fallen vor allem drei Unterschiede auf: a) Jesus wird nicht in einem Stall (Lukas 2,7), einem Haus (Matthäus 2,11) oder einer Höhle (ProtJak 18–20) geboren, sondern fernab von Menschen und Tieren, einer „heiligen Familie“ in der Wüste, unter freiem Himmel. b) Maria ist bei der Geburt ganz allein – das Schlimmste, was einer Gebärenden überhaupt passieren kann. c) Der Koran versteht Jesu Abstammung matrilinear, wie es in Arabien in vorislamischer Zeit noch weit verbreitet gewesen war. Im Neuen Testament wird Jesus nur an einer einzigen Stelle „Sohn Marias“ genannt (Markus 6,3); ansonsten wird Jesus gemäß dem
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patrilinearen Abstammungsprinzip immer der „Sohn Josephs“ (Lukas 3,23; 4,22; Johannes 1,45; 6,42) oder der „Sohn des Zimmermanns“ (Matthäus 13,55) genannt. Der Titel „Sohn Marias“ im Koran ist ein Ausdruck für die Überzeugung von der Jungfrauengeburt Jesu; darüber hinaus ist er auch eine pointierte Antithese zur christlichen Bezeichnung Jesu als „Sohn Gottes“. Isa ibn Maryam – das meint: Jesus ist der Vaterlose schlechthin. Er hat weder einen irdischen noch einen himmlischen Vater. Insgesamt ist die Geburtsgeschichte durch eindrückliche Kontraste gekennzeichnet. Maria hat den verzweifelten Wunsch, „ganz und gar vergessen zu sein“ – dem entspricht das fürsorgliche, das tröstliche sich-an-sie-Erinnern Gottes. Maria ist von Todessehnsucht erfüllt – dem steht das Neugeborene, das ihr geschenkt wird, gegenüber. Die Bitterkeit der körperlichen Schmerzen bei der Geburt und der seelischen aus Angst vor der Schande in den Augen der anderen, dass sie ein uneheliches Kind geboren hat – diese doppelte Bitterkeit kontrastiert mit der wundersamen Erquickung durch süße Datteln und frisches Quellwasser. Sie legt als Erwachsene ein Schweigegelübde ab und verzichtet darauf, sich selber zu rechtfertigen – an ihrer statt redet ein Kind, der Neugeborene, der eigentlich noch gar nicht sollte reden können. Und der Jesusknabe tut das gleich zweimal und so eindrück-lich, dass er das Leben der Mutter rettet. Dieses Sprechwunder Jesu ist in der christlichen Tradition nicht bekannt. Abschließend sei gefragt: In welchem Licht erscheint dieser Jesus in den zitierten Texten? In der Art, wie sie die Geburt des Jungfrauensohns erzählen – in einem betont volksreligiös-legendarischem Stil –, sind sie einander sehr ähnlich. Lukas und Jakobus schildern die Ankunft des Erlösers auf Erden, des Davididen, Messias, Retters, Sohnes Gottes und Herrn, wie die Fülle der Hoheitstitel zeigt. Einen größeren Heiland, der unter noch wunderbareren Umständen geboren würde, kann es nicht geben. Dieser Intention christlich-orientalischer Volksfrömmigkeit begegnet der Koran entschieden. Jesus wird ganz in seiner Bezogenheit einerseits auf Gott (als dessen Geschöpf, Prophet und Zeichen der Barmherzigkeit in der Welt) und andererseits auf Maria (als deren Sohn und zweimaliger Retter vor dem Tod) geschildert. In einem entscheidenden Punkt aber sind sich alle Texte einig: Jesus ist in seinem Dasein als solches ein göttliches Wunder, das von Menschen nicht geplant, nicht gemacht werden kann. Wir können das Wunder, das Jesus ist, nur empfangen, mit leeren, dankbaren Händen – „jungfräulich“.
4. Jesus, der Prophet Wie schon die ersten Christen – das waren Judenchristen – hat auch der Koran ein prophetisch akzentuiertes Jesusbild. Jesus ist allein zu den Juden als deren letzter Prophet gesandt, um sie, in prinzipieller Übereinstimmung mit der Thora Moses, zum Glauben an den Einen und Einzigen Gott zurückzuführen. In diesem Zusammenhang findet sich das erste der beiden Ich-bin-Worte Jesu im Koran (Sure 61,6): „Und als Jesus, der Sohn Marias, sagte: ‚O Kinder Israels, ich bin der Gesandte Gottes an euch, um zu bestätigen, was von der Tora vor mir vorhanden war.‘“ Jesu Botschaft ist auch innovativ: Er klärt strittige Fragen seiner Zeitgenossen (Sure 43,63). Seine Verkündigung ist von Weitherzigkeit und Milde geprägt:
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Er bringt den Juden auch einige Erleichterungen von den Vorschriften der Thora (Sure 3,50; vgl. 57,27). Mehrfach nennt der Koran Jesus „Prophet“ (nabî). In Sure 19,30 stellt er sich selbst mit diesem Titel vor. Es ist das andere der beiden Ich-bin-Worte: „Ich bin der Diener Gottes. Er ließ mir das Buch zukommen und machte mich zu einem Propheten.“ Dass Jesus dies schon als Kind von sich sagen kann, zeigt, dass Prophetie dem Koran zufolge keine menschliche Eigenschaft oder Fähigkeit darstellt, sondern sich allein göttlicher Berufung und Befähigung verdankt. Häufiger noch wird Jesus der Titel „Gesandter“ (rasûl) beigelegt (z.B. Sure 3,49; 4,171; 5,75; 57,27; 61,6). Immer wieder ist im Dialog mit Muslimen von christlicher Seite der Vorwurf zu hören: „Bei euch im Islam ist Jesus ja nur ein Prophet …“ – Das ist falsch! Auch im Islam ist Jesus mehr als ein Prophet – er ist ein Gesandter und steht als solcher in einer langen Tradition von Propheten und Gesandten (Sure 2,136 = 3,84). Gesandte sind vor allem in zweierlei Hinsicht gegenüber den Propheten ausgezeichnet: dass ihnen eine Offenbarungsschrift geschenkt wird und dass sie nicht gewaltsam (durch Menschenhand) getötet werden können. Die Offenbarung, die Jesus von Gott empfängt, um sie den Juden zu bringen, ist „das Evangelium“ (al-indjîl). Zu beachten ist dabei: Der Koran ist der Auffassung, dass Jesus dieses Evangelium von Gott in Gestalt eines „Buches“ (Sure 19,30) bekommen habe. Das ist eine problematische Vorstellung, denn wir wissen heute historisch ganz sicher, dass Jesus kein einziges Wort niedergeschrieben hat. Die Evangelien sind erst nach seinem Tod entstanden. Jesus war Lehrer und Interpret der Thora, der allein durch das gepredigte Wort und durch machtvolle Zeichen wirkte. Was Jesus zu sagen hatte, darin ist dem Koran auf jeden Fall zuzustimmen: Es ist eine theozentrische Botschaft, die Jesus bringt! Der Kern der Botschaft Jesu, den der Koran öfters wiederholt, lautet (Sure 3,51): „Gott ist mein Herr und euer Herr, so dienet Ihm. Das ist ein gerader Weg.“ Auch über das Folgende wird man sich wundern: Jesus ist nämlich, so behauptet der Koran, der Vorläufer Muhammads. Daher gehöre es zu seinem Auftrag, dessen Kommen anzukündigen (Sure 61,6): „(…) Jesus, der Sohn Marias, sagte: ‚O Kinder Israels, ich bin der Gesandte Gottes an euch, um (…) einen Gesandten zu verkünden, der nach mir kommt: sein Name ist Ahmad.‘“ Ahmad bedeutet „der Gepriesene, der Hochgelobte“ und hat in der Wurzel dieselben drei Konsonanten (h-m-d) wie Muhammad. Daher wird dieser Vers von islamischen Auslegern durchweg als Anspielung auf den arabischen Propheten verstanden. Auch im Neuen Testament, im Johannes-Evangelium, sollen Jesu Verheißungen des sog. „Parakleten“ in Wahrheit auf Muhammad zielen. Hier kann man natürlich lange streiten. Letztlich ist das eine Glaubensentscheidung. Objektiv lässt sich nur die Beobachtung machen: Das Neue Testament hat den jüdischen Propheten Johannes den Täufer stilisiert und instrumentalisiert zum Vorläufer Jesu. Genau dasselbe macht der Koran mit Jesus: Nun wird er selber instrumentalisiert und zum Vorläufer Muhammads stilisiert. Eine spätere Religion versucht sich gegenüber der früheren Religion immer so zu legitimieren, dass sie behauptet, die Erfüllung dessen zu sein, was in der älteren Religion lediglich verheißen war. Diese uralte theologische Strategie der Selbsterhöhung einer Religion auf Kosten der Herabsetzung der anderen Religion(en) ist ein Problem, das nur in einem fairen Dialog der Religionen gelöst werden kann.
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5. Jesus, der Wundertäter Jesu Wunder werden im Koran „Beweise“, manchmal auch „Zeichen“ genannt. Jesus vollbringt sie aufgrund einer doppelten Voraussetzung. Gott hat ihn von Geburt an gestärkt mit dem Heiligen Geist; dennoch kann Jesus seine Taten allein „mit Gottes Erlaubnis“ tun. Die Wunder Jesu haben im Koran einen anderen Charakter und eine andere Zielrichtung als in der christlichen Tradition. Ich möchte Ihnen das am Beispiel des Vogelwunders zeigen. Im Kindheitsevangelium des Thomas, entstanden gegen Ende des 2. Jahrhunderts, findet sich folgender Bericht (Kap. 2): „1 Als der Knabe Jesus fünf Jahre alt geworden war, spielte er an einer Furt eines Baches; das vorbeifließende Wasser leitete er in Gruben zusammen und machte es sofort rein; mit dem bloßen Worte gebot er ihm. 2 Er bereitete sich weichen Lehm und bildete daraus zwölf Sperlinge. Es war Sabbat, als er dies tat. Auch viele andere Kinder spielten mit ihm. 3 Als nun ein Jude sah, was Jesus am Sabbat beim Spielen tat, ging er sogleich weg und meldete dessen Vater Joseph: ‚Siehe, dein Knabe ist am Bach, er hat Lehm genommen, zwölf Vögel gebildet und hat den Sabbat entweiht.‘ 4 Als nun Joseph an den Ort gekommen war und (es) gesehen hatte, da herrschte er ihn an: ‚Weshalb tust du am Sabbat, was man nicht tun darf?‘ Jesus aber klatschte in die Hände und schrie den Sperlingen zu: ‚Fort mit euch!‘ Die Sperlinge öffneten ihre Flügel und flogen mit Geschrei davon. 5 Als aber die Juden das sahen, staunten sie, gingen weg und erzählten ihren Ältesten, was sie Jesus hatten tun sehen.“ Im Koran wird weder das Alter Jesu erwähnt noch, ob das Wunder an einem Sabbat geschieht oder wie viele Vögel es genau waren. In Sure 3,49 hören wir ganz schlicht, wie Jesus sagt: „Ich komme zu euch mit einem Zeichen von eurem Herrn: Ich schaffe euch aus Ton etwas wie eine Vogelgestalt, dann blase ich hinein, und es wird zu einem Vogel mit Gottes Erlaubnis (…).“
6. Jesus, der Gottesknecht Ein weiterer Titel Jesu im Koran ist „Knecht“ oder „Diener Gottes“ (cabd Allâh). Dies ist kein besonderer Titel für Jesus, sondern die grundsätzliche Bestimmung des Menschseins. „Wer bin ich?“, ist eine Urfrage des Menschen. Ein Hadith (Ausspruch Muhammads) lautet: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn!“ Genau darum geht es im Koran. Der Mensch als solcher ist ein „Diener“. Er kann gar nicht anders Mensch sein als in seiner Verwiesenheit und seinem Angewiesensein auf Gott, seinen alleinigen „Herrn“ (rabb). Das Dienersein des Menschen bedeutet aber nicht die blinde Unterwerfung eines unmündigen Sklaven, sondern es meint die Entdeckung und Entfaltung dessen, wozu ich eigentlich in Gottes Augen bestimmt bin: voll und ganz auf Gott bezogen zu sein, voll und ganz zu wissen, wem ich mein Dasein zu verdanken habe und wem ich darum letztlich gehöre und geweiht bin. Natürlich ist klar: mit dem Titel des „Gottesknechts“ für Jesus soll ebenso wie mit der Bezeichnung „Sohn Marias“ gesagt werden, dass er nicht der „Sohn Gottes“ ist. Umgekehrt gesagt: Gott ist nicht Jesu Vater, sondern sein Herr und Schöpfer. Warum wider-
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spricht der Koran und mit ihm die islamische Theologie der Gottessohnschaft Jesu, verstanden als seine Göttlichkeit im vollen Sinne des Wortes? 1. Jesu unbestreitbares Menschsein einschließlich entsprechender Bedürfnisse, die nur ein Mensch, nicht aber ein Gott haben kann (Sure 5,75); 2. Jesu Vorbildfähigkeit für andere Menschen steht und fällt mit seinem uneingeschränkten Menschsein (Sure 43,59.63). Nur einem Menschen können Menschen nachfolgen; 3. Jesu wahrhaftiges und unbezweifelbares Selbstzeugnis Gott gegenüber, niemals für sich eine göttliche Würde beansprucht zu haben (Sure 5,116–117); 4. Gottes Einheit, Einzigkeit und Unvergleichlichkeit (tawhîd) lässt keinen Gleichrangigen an Seiner Seite zu. Wer das nicht beachtet, macht sich der Sünde der „Beigesellung“ (shirk) schuldig (z.B. Sure 112); 5. Gottes Transzendenz und Erhabenheit verbietet jegliche anthropomorphe Rede des Menschen von Ihm. Gott ist erhaben darüber, eine Gefährtin zu haben, mit der er Kinder zeugen würde. Behauptungen, die suggerieren, Gott sei ein irgendwie geschlechtliches Wesen, das Kinder zeugt, sind menschlich-allzumenschliche Fantasien (z. B. Sure 6,100–101). Muslimische Koranausleger fassen diesen ganzen Sachverhalt gerne so zusammen: Die Juden werden Jesus nicht gerecht, indem sie ihn in seiner Stellung herabsetzen und unterschätzen, da sie ihn für ein illegitimes Kind Marias halten. Die Christen gehen zu weit, indem sie Jesus überschätzen und ihn gar für einen Gott halten. Wohl dem also, der Jesus so versteht, wie er sich selber verstanden hat: als Gottesknecht und Gottesbote, dessen Demut und Gehorsam Gott in wunderbarer Weise dereinst belohnen wird.
7. Der gekreuzigte Jesus? Auch der Koran berichtet davon, dass Menschen immer wieder versucht haben, die zu ihnen gesandten Propheten zu Tode zu bringen. Jesus wird aufgrund seiner Wundertaten der „Zauberei“ beschuldigt (Sure 5,110). Nun haben die Juden Medinas in ihren Gesprächen mit Muhammad über Jesus eine ungeheure Behauptung aufgestellt, die mit folgenden Worten wiedergegeben wird (Sure 4,157): „Wir haben den Messias Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes, getötet.“ Aber ist es bei Jesus wirklich zum Äußersten gekommen? War Gott etwa nicht in der Lage, Jesus vor den mörderischen Absichten seiner Gegner zu bewahren? Muhammad hat die Behauptung der Juden von Medina bestritten. Gottes Bewahrung ist größer als alle Bedrohung durch Menschen! Deshalb widerspricht der Koran den Juden entschieden: Sie haben Jesus nicht getötet, und sie haben ihn nicht gekreuzigt (Sure 4,157). Auch sonst wird von keinem namentlich im Koran erwähnten Gesandten berichtet, er sei durch Menschenhand getötet worden. Dass Gott Jesus vor einem gewaltsamen Tod durch Menschenhand bewahrt hat, ist im Koran eindeutig (s. Sure 5,110), doch wie man sich die rettende Intervention Gottes vorstellen muss, ist nicht eindeutig zu erklären. Sure 4,157f. sagt lediglich:
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Sie haben ihn aber nicht getötet, und sie haben ihn nicht gekreuzigt, sondern es erschien ihnen eine ihm ähnliche Gestalt. Diejenigen, die über ihn uneins sind, sind im Zweifel über ihn. Sie haben kein Wissen über ihn, außer dass sie Vermutungen folgen. Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet, sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise. Dieser Vers ist von Muslimen und Christen sehr unterschiedlich ausgelegt worden. Die meisten Kommentatoren stimmen darin überein, dass der Koran nicht das historische Ereignis einer Kreuzigung als solcher verneint, wohl aber die Kreuzigung Jesu. Vielmehr sei ein anderer an Jesu statt gekreuzigt worden – eine Vorstellung übrigens, die sich schon bei christlichen Gnostikern im 2. Jahrhundert findet. Es gibt keinen Punkt im koranischen Jesusbild, bei dem sich die Auffassung des Neuen Testaments und des Korans so unüberbrückbar gegenüberstehen und sich sogar direkt widersprechen wie hier bei der Frage der Kreuzigung. Warum bestreitet denn der Koran so vehement die von Juden und Christen behauptete Kreuzigung Jesu – und das auch noch im Widerspruch zu allem, was heute als historisch gesichert gelten darf? Ich nenne zwei Gründe. Erstens sollen anmaßende jüdische Behauptungen in Bezug auf Jesus zurückgewiesen werden. Gott lässt nicht zu, dass seinem Gesandten Jesus auch nur ein Haar gekrümmt werde. Der zweite Grund, dass Gott zu groß (arab. Allâhu akbâr; lat. Deus semper maior) ist, als dass irgendeine Form menschlicher Opposition oder Konspiration etwas gegen Ihn und seine Gesandten ausrichten kann. Das Nein des Menschen, sein Unglaube ist zwar Ausdruck und Möglichkeit seines freien Willens, doch eine Rebellion gegen Gott hat niemals Erfolg, auch wenn die Menschen sich das vielleicht einbilden.
8. Jesu natürlicher Tod Kaum eine Aussage des Korans über Jesus wird von christlichen (und auch von muslimischen) Auslegern so häufig verkannt und missdeutet wie der Hinweis darauf, dass Jesus eines natürlichen Todes gestorben ist. Zugegeben: Der Koran enthält keine genauen Angaben darüber, wo und wie, wann und in welchem Alter Jesus stirbt. Eindeutig sagt der Koran zunächst nur, dass Jesus als Mensch sterblich ist. Denn Gott hat keinem Menschen Unsterblichkeit verliehen (Sure 21,34f.). In Sure 19,33 lesen wir, wie Jesus von sich selber sagt: „Friede sei über mir am Tag, da ich geboren wurde, und am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich wieder zum Leben erweckt werde.“ An zwei anderen Stellen spricht der Koran davon, dass Gott Jesus „abberufen“, „zu sich gerufen“ habe (Sure 3,55; 5,117). In den ersten Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung haben viele muslimische Exegeten ähnlich wie die Christen (oft waren sie ja ehemalige Christen!) geglaubt, dass Jesus derzeit im Himmel weilt, um eines Tages wiederzukommen und erst nach Erfüllung seiner endzeitlichen Mission zu sterben – was freilich so nirgendwo im Koran steht! Deshalb deuten sie das „Abberufenwerden“ Jesu so, dass Gott Jesus unmittelbar ergreift und von der Erde wegnimmt, so dass er lebend zu Gott erhöht wird, ohne vorher gestorben zu sein – also eine Entrückungsvorstellung, wie wir sie etwa auch aus der jüdischen und christlichen Tradition in Bezug auf Henoch kennen.
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Die andere und zutreffendere Auslegung hat als stärkstes Argument den üblichen koranischen Sprachgebrauch für sich. Der arabische Ausdruck für „abberufen werden“ (tawaffâ) ist nämlich eine Umschreibung dessen, was rein biologisch der Ausdruck „sterben“ (matâ) meint. In diesem Sinne gebraucht der Koran diesen Euphemismus des Glaubens: Gott hat Jesus zu sich gerufen, heimgeholt. Denn der gläubige Mensch – und Jesus war als Gesandter natürlich ein vorbildlich gläubiger Mensch – tritt nicht nur ab, sondern Gott als der Herr über seine Lebenszeit hat auch die Todesstunde festgelegt. Sein Lebensende ist unspektakulär und in Gottes Geheimnis gehüllt – ähnlich wie der Beginn seines Lebens. Der Koran sagt lediglich, dass Jesus wie alle übrigen Geschöpfe zu Gott, dem Ursprung des Lebens, zurückgekehrt ist. Jesus ist durch Gottes Willen und Intervention vor dem Kreuzestod bewahrt worden und – wann und wo auch immer – eines natürlichen Todes gestorben. Durch den Tod hindurch hat Gott ihn zu sich gerufen und seine Seele aufgenommen, wie die Seele jedes Gläubigen bei seinem Tod.7
9. Zusammenfassende Beobachtungen zum koranischen Jesusbild Das Zeugnis des Korans von Jesus steht den ältesten Christologien der christlichen Tradition – der Logienquelle (Q) sowie den synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas –, die noch stark vom Judenchristentum geprägt waren, erstaunlich nahe. Der irdische Jesus, wie ihn der Koran zeichnet, und der historische Jesus, wie ihn die neutestamentliche Wissenschaft durch eine Analyse der frühesten christlichen Jesus-Zeugnisse herausgearbeitet hat, konvergieren in mancherlei Hinsicht. Am christologischen Ursprungsort, diesseits der dogmatisch-christlichen und der dogmatisch-islamischen Jesusinterpretationen, weisen Christentum und Islam eine Reihe von Affinitäten in Bezug auf die Gestalt des Juden Jesus auf. Diese müssten im christlich-islamischen Dialog stärker, als das bislang der Fall war, herausgearbeitet und weiterentwickelt werden. Immer wieder finden wir im Koran Andeutungen über die notorische Uneinigkeit der Christen hinsichtlich des dogmatischen Verständnisses der Person Jesu (z. B. Sure 3,55; 43,57 f.65). Angesichts der vielfältigen, noch bis in die Zeit Muhammads miteinander konkurrierenden christlichen Christologien bedeutet die koranische Christologie nicht weniger als eine theozentrische Re-Interpretation der Gestalt Jesu. Im Wissen darum, dass die vielen Kirchen und Sekten im Raum des Christentums um die Wahrheit je „ihres“ Jesus-Verständnisses stritten, bekundet der Koran, dass Jesus allein Gottes sei und allein von Gott her und auf ihn hin verstanden werden könne, so nämlich, wie Jesus sich selber verstanden habe. Die Christologie des Korans ist als pointierte „Christologie von unten“ zugleich Ausdruck einer streitbaren Theologie. Mehrfach widerspricht sie den Aussagen diverser christlicher Christologien (und Mariologien). Summarisch lassen sich vier christologische Antithesen des Korans benennen: 1. Der Koran widerspricht jeglicher doketischen Tendenz in der Christologie (und Mariologie), wie sie in Tatians Evangelienharmonie und insbesondere in der zeitgenössischen monophysitischen Christologie (und Mariologie) bis hinein in die Liturgien der
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entsprechenden Kirchen zum Ausdruck kommt. Der Koran (Sure 5,75) betont demgegenüber das uneingeschränkte Menschsein Jesu (und Marias). 2. Der Koran widerspricht – ähnlich den Judenchristen und den arianischen Christen – einer gleichsam „göttlichen Christologie“. Jesus ist trotz seiner jungfräulichen Empfängnis und Geburt sowie seiner Begabung mit dem Heiligen Geist (Sure 5,110) kein himmlisches Wesen, sondern, ganz wie Adam (Sure 3,59), Gottes irdisches und sterbliches Geschöpf. 3. Der Koran widerspricht jeder Gottähnlichkeit oder Gottgleichheit Jesu (und Marias) im Sinne seiner (und ihrer) Teilhabe am Wesen Gottes, wie sie den Tritheismus der damaligen orientalisch-christlichen Volksfrömmigkeit kennzeichnet. Wenn der Koran Jesus „Sohn Marias“ nennt, verneint er damit nicht nur (wie die Judenchristen), dass Jesus der physische Sohn Gottes (eines Gott-Vaters) sei, sondern auch (wie die nestorianischen Christen), dass er der physische Sohn einer göttlichen Mutter bzw. Gottesmutter sei. 4. Ohne das Faktum einer Kreuzigung zu leugnen, widerspricht der Koran – wie einige gnostizierende christliche Gruppen, aber mit völlig anderer Intention – der Behauptung, Jesus sei gekreuzigt worden und am Kreuz gestorben. Vielmehr hat Gottes Weisheit und Allmacht seinen tödlich bedrohten Gesandten vor dessen Feinden bewahrt und ihn, nachdem er eines natürlichen Todes starb, bei sich aufgenommen, nicht anders als jeden gläubig gestorbenen Menschen. In den christologischen Antithesen des Korans tritt deutlich das Interesse zu Tage, die Gestalt Jesu sozusagen zurechtzurücken, sie wieder auf Gott hin zu zentrieren und die „hohe Christologie“ der Christen zu entmythologisieren. Dabei ist das koranische Zeugnis gegen jede Art von Christuskult (und Marienkult) gerichtet, jedoch nie gegen die Person Jesu (und Marias) selbst. In der Hauptsache ist Jesus Gegenstand der vernünftigen Einsichten des Glaubens über ihn. Die Aussagen des Korans über Jesus akzentuieren ihn anders als das Neue Testament und die christliche Tradition. Diese tragen primär und später immer ausgeprägter Züge einer Glaubensschau, wie sie mit den Visionen vom Auferstandenen unter den Jüngerinnen und Jüngern am Ostermorgen beginnt und sich dann in der Wahrnehmung der „Herrlichkeit“ Jesu besonders im Johannes-Evangelium fortsetzt. Dabei bin ich der Auffassung, dass es auf beiden Seiten, in beiden Religionen der Glaube ist, wie im Folgenden noch deutlicher zu machen sein wird.
10. Jesus im Islam „Jesus im Islam“ – das ist mehr als nur der koranische Jesus. Dieser ist gleichsam die Teilmenge eines größeren Ganzen; freilich kein beliebiges Teilstück neben anderen, sondern der Kern des Ganzen. Vereinfacht könnte man den umfassenden „Jesus im Islam“ unterteilen in drei christologische Haupttypen: den prophetischen Jesus des Korans (Typ 1), der bislang dargestellt wurde, den spirituellen Jesus der Volksfrömmigkeit (Typ 2) und schließlich den offiziellen Jesus der orthodoxen Tradition (Typ 3). Die späteren, nachkoranischen Christologien sind – auch das eine Parallele zum innerchristlichen Sachverhalt – nicht einfach deckungsgleich mit dem Jesus des Korans, sondern nehmen neue,
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teilweise auch ganz andere Akzentuierungen vor als der Koran. Mit der Vollendung und Kanonisierung des Korans im 7. Jahrhundert hat Jesus auch im Islam keineswegs zu sprechen aufgehört. Jesus redete weiter, weil er weiter wirkte, weil er eine lebendige Gestalt im Glauben und Leben der Muslime blieb. In der islamischen Volksfrömmigkeit, die seit den Anfängen des Islam sehr von der Mystik – dem sogenannten „Sufismus“ – geprägt ist, begegnet uns vor allem ein spirituelles Jesusbild.8 Das rationale, nüchterne, um Entmythologisierung bemühte Jesusbild des Korans verlangte nach Ergänzung und Erweiterung auf spiritueller Ebene. Die Kreise, innerhalb derer diese neue Christologie entstand und gepflegt wurde, waren – von Kufa und Basra seit Beginn des 8. Jahrhunderts ausgehend – zunächst die frommen Asketen und SufiMeister, später auch so mancher anerkannte Gelehrte (z. B. Ghazâlî, gest. 1111). Dabei ist auch dieser spirituelle Jesus der Volksfrömmigkeit keineswegs eine homogene Gestalt: „Zuerst ist Jesus der asketisch Heilige, dann der Herr der Natur, der Wundertäter, der Heiler und das soziale und ethische Vorbild. In dem Maße, wie sich das Korpus erweitert, nimmt es unterschiedliche Jesusbilder und Strömungen auf.“9 Wer einmal anfängt, sich in diese Aussprüche Jesu einzulesen, wird schnell die Nähe dieses spirituellen Jesus zu den neutestamentlichen Evangelien feststellen. Eher im Kontrast zum Jesusbild des Neuen Testaments stehen die beiden folgenden Aussprüche des spirituellen Jesus in der islamischen Volkstradition: „Fleisch, das Fleisch ißt? Welch eine widerwärtige Tat!“ (Spruch 176). Hier könnte es einen Zusammenhang des Korans mit dem Thomas-Evangelium geben (es enthält so viele Sprüche Jesu wie der Koran Suren hat: 114!). Und Spruch 49: „Jesus pflegte für seine Anhänger Essen zu bereiten, rief sie dann zum Mahl, wartete ihnen bei Tisch auf und sagte: ‚Das ist es, was ihr für die Armen tun müsst.‘“ Die Ehrentitel, die der spirituelle Jesus im mystisch geprägten Volksislam am häufigsten erhält, sind: „Geist Gottes“ (aus dem Koran: Sure 4,171), „Siegel der Heiligen“ (Ibn alArabî, gest. 1240) und „Prophet des Herzens“ (Ghazâlî). Natürlich gibt es auch zahlreiche Erzählungen über Jesus in diesem Bereich. Eine einzige möchte ich zitieren, die zugleich zeigen soll, wie sehr dieser zweite Typ islamischer Christologie bei aller Freiheit seiner Gestaltung doch den dogmatischen Vorgaben des prophetischen Urtyps islamischer Christologie, wie sie der Koran darstellt, untergeordnet bleibt. Aus dem Neuen Testament kennen wir die Erzählung von der Versuchung des fastenden Jesus in der Wüste durch den Teufel (Matthäus 4,1–11; Lukas 4,1–13). Sie gipfelt bekanntlich darin, dass Jesus die Verführung zur Anbetung des Teufels mit dem Hinweis auf das erste Gebot, Gott allein sei anzubeten, zurückweist. Diese Geschichte wird in der islamischen Mystik dahingehend variiert, dass Jesus durch Iblîs – der Name des Teufels im Koran – dazu verführt werden soll, nicht etwa dem Versucher, sondern sich selber Göttlichkeit anzumaßen. Der dritte Typ islamischer Christologie repräsentiert den „offiziellen Jesus“ der orthodoxen Tradition, wie er sich in den Geschichtsüberlieferungen, in Korankommentaren und Hadith-Sammlungen ausgebildet hat, und zwar durchaus in Konkurrenz zum spirituellen Jesusbild. Beide Christologietypen sind in unterschiedlicher Weise bemüht, das fragmentarische Jesusbild des Korans zu ergänzen und zu vervollständigen. Dabei zeigen
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die Autoren, je später sie schreiben oder überliefern, eine immer bessere Kenntnis der neutestamentlichen Evangelien, die erst seit dem 9. Jahrhundert schriftlich in arabischer Übersetzung vorliegen. Während die Texte der koranischen und der spirituellen Christologie eher verbativen Charakter haben, sind diejenigen der Hadith-Christologie primär narrativer Art.10 Breit und mit sehr starker Harmonisierungstendenz im Blick auf die christliche Tradition schildern sie viel detaillierter als der Koran Jesu Lebensanfang und Lebensende (als Entrückung beschrieben!) sowie sein Wirken am Ende der Zeiten als vom Himmel her Wiederkehrender, einer apokalyptischen, mythisch-triumphalistischen Gestalt, von welcher der Koran nichts weiß.
11. Was bedeutet Jesus den Muslimen? Muhammad Salim Abdullah, Direktor des Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland e.V. in Soest und Herausgeber der Moslemischen Revue, schreibt: „Warum ein Muslim in der Begegnung mit dem Christentum über Jesus reden muss, lässt sich relativ einfach beantworten: Weil Jesus, Sohn der Maria, Teil seines eigenen, islamischen Heilsweges ist. Denn so wie der Moslem sein Heil ausschließlich aus der Erwählung durch Gott erwartet, aus der Gnadentiefe des ihm ganz zugewandten Schöpfers, Erhalters und barmherzigen Richters, so ist seine Heilsperspektive untrennbar auch mit Jesus verbunden.“11 Damit haben wir zugleich eine muslimische Antwort auf die eingangs gestellte Frage, warum Christen und Muslime überhaupt über Jesus miteinander reden sollten. Wenn Muslime von sich selber sagen, dass sie als Muslime an Jesus glauben, kommt keinem Christ zu, dies zu bestreiten oder zu disqualifizieren. Von „Glauben an Jesus“ kann ja nicht erst und nur dann gesprochen werden, wenn solches Glauben mit der Bejahung eines bestimmten dogmatischen Inhalts oder mit einer bestimmten inneren Haltung gegenüber der Person Jesu verbunden ist. Andernfalls müssten aufgrund der innerneutestamentlichen Vielfalt der Bekenntnisse zu Jesus auch Christen einander den rechten „Glauben an Jesus“ absprechen – eine Torheit, die oft genug zu beobachten war, jedoch im Zuge der Ökumenischen Bewegung des 20.Jahrhunderts vielfach überwunden wurde. Nicht anders sollte es in der größeren Ökumene der Religionen sein. Muslime glauben an Jesus, weil dieser ihnen im Koran mit der hohen Autorität eines Gesandten Gottes entgegentritt und sie zu einer unbedingten, mithin vertrauensvollen und ausschließlichen Hingabe an Gott aufruft. Muslime glauben an Jesus, weil sein Dasein ein wunderbares Beispiel für Gottes souveränes Schöpferhandeln ist. Muslime zeigen eine außerordentlich hohe Wertschätzung für Jesus, doch ist er weder göttlicher Art (Gottes Sohn) noch ist er gekreuzigt worden. In keiner dieser beiden Auffassungen kommt eine Geringschätzung Jesu zum Ausdruck – im Gegenteil! In beidem gleicht Jesus ganz und gar Muhammad, der auch nur ein Mensch war (Sure 41,6) und trotz vielfacher Anfeindungen und Kämpfe eines natürlichen Todes sterben durfte. Aus muslimischer Sicht ist es geradezu ethisch geboten, an die Nichtkreuzigung Jesu zu glau-
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ben. Repräsentativ für diese Auffassung sei auf die Argumentation von Muzaffer Andaç hingewiesen, der seit Jahrzehnten im interreligiösen Dialog in Deutschland engagiert ist.12 Andaç zufolge könne die Auffassung vom natürlichen Tod Jesu das jüdisch-christliche Verhältnis befrieden: „Da die Christen die Juden für die Kreuzigung Jesu verantwortlich machen, herrschte in der Geschichte zwischen Juden und Christen Erzfeindschaft. (…) Der Islam versöhnt die Christen mit den Juden, indem er verkündet: Jesus ist, wie jeder andere Mensch auch, eines natürlichen Todes gestorben, und Gott hat die Seele von Jesus, und nicht seinen Leib, zu sich erhoben“ (21). Auch sühnetheologisch gebe es keine Notwendigkeit für Jesu Sterben. Zudem „sollte man sich überlegen, wie Gott es zulassen kann, den reinen Propheten Jesus von sündigen und ungläubigen mörderischen Menschen töten zu lassen. Lässt Gott dadurch nicht auf der Erde einen Weg für Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten frei?! Wenn Gott ‚Seinen lieben Sohn‘ am Kreuz sterben lässt, wie könnte dann ein normaler Mensch darauf vertrauen, dass dieser Gott ihn vor Ungerechtigkeiten beschützt?“ (135f.). Noch ein vierter, spiritueller Grund spreche gegen den Kreuzestod Jesu: „Dieses Bild macht den Menschen unmündig (…). Der Mensch wird sich nicht mehr darum bemühen, sich direkt vor Gott zu stellen und von sich aus die Kraft aufzubringen, seine Sünden zu bereuen und Gott um Vergebung zu bitten. Eine innerliche, eigenverantwortliche Arbeit zur seelischen Reinigung, die zum Erlangen höherer geistiger Stufen führt, würde sich durch die Kreuzigung von Jesus erübrigen“ (ebd.).
12. Thesen zum christlich-islamischen Dialog über Jesus Es geht nicht darum, dass es tiefgreifende Unterschiede zwischen christlichen und islamischen Jesusinterpretationen gibt. Doch bedeutet der korrekte Hinweis auf unterschiedliche Jesusinterpretationen in Christentum und Islam nicht, dass die Frage nach möglichen Affinitäten oder gar Gemeinsamkeiten verboten wäre. Sie ist im Zeitalter des Dialogs der Kulturen und Religionen geradezu geboten. In den Zeiten brutaler wechselseitiger Gewalt und Proselytenmacherei zwischen den Anhängern beider Religionen war (und ist) der Aufweis gegensätzlicher Christologien stets ein theologisches Instrument gewesen, um das Freund-Feind-Verhältnis in der jeweiligen Apologetik zu begründen: „Weil der andere ein falsches Bild von Jesus hat, ist er ein Ungläubiger und darum zu bekämpfen oder zu bekehren.“ Heute jedoch muss es darum gehen, vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den Religionen zu schaffen und nicht nur zu benennen, was sie trennt, sondern auch, was sie verbindet. Nach solchen Gemeinsamkeiten oder wenigstens Annäherungen im Jesusbild zu fragen, sie im Dialog in ihrer Reichweite und Tragfähigkeit auszuloten, ist ein Beitrag zur Verständigung und Versöhnung zwischen Christen und Muslimen als gleichberechtigten Angehörigen von Religionen oder Heilswegen, die Gott selbst gewollt und durch seine Offenbarungen ermöglicht hat. These 1: Es gibt eine ganze Reihe von Aussagen über Jesus, bei denen eine echte Annä-
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herung zwischen Christen und Muslimen möglich ist. Nachdem beide Seiten jahrhundertelang vorwiegend kontroverstheologisch und polemisch gegeneinander vorgegangen sind und dabei die dogmatischen Differenzen ihrer Jesus-Auffassungen betont haben, ist es jetzt an der Zeit, den Dialog zwischen Christen und Muslimen über Jesus so zu führen, dass die möglichen Konsenspunkte in den Vordergrund gerückt werden. These 2: Ein auf einen Grundkonsens zwischen Christen und Muslimen hinarbeitender christologischer Brückenschlag sollte theozentrisch und subordinatianisch konzipiert sein. Es geht darum zu betonen, dass Jesus sich selbstverständlich dem Einen und Einzigen Gott seiner jüdischen Väter und Mütter untergeordnet hat, dass er sich als Gottes und der Menschen „Diener“ (Markus 10,45; Lukas 22,27) verstand. These 3: Eine zwischen Christen und Muslimen konsensfähige Christologie sollte prophetisch akzentuiert sein. Sie muss darauf bedacht sein, Jesus als Gottes Prophet und Weisheitslehrer zu beschreiben. These 4: Wenngleich Jesu Selbstbewusstsein die Kategorie des Prophetischen übersteigt – er war „mehr als ein Prophet“, wie das Neue Testament und der Koran übereinstimmend sagen –, bleibt es dennoch auf eine konsequente Selbstunterscheidung von Gott, dem allein Guten und ausschließlich Anzubetenden, bezogen. These 5: Jesus repräsentiert Gott, er offenbart seine Barmherzigkeit und seinen Willen, aber er ist nicht Gott, er ist nicht diese Barmherzigkeit und dieser Wille, da er selber als Mensch auf Gottes Erbarmen angewiesen und zum Tun seines Willens verpflichtet bleibt. Darin gleicht Jesus seinem prophetischen Bruder und Nachfolger Muhammad. These 6: Eine zwischen Christen und Muslimen konsensfähige christologische Brücke sollte charismatisch akzentuiert sein. Sie beschreibt Jesus als vollmächtigen, genauer: als vom göttlichen Geist bevollmächtigten Propheten und mit diesem Geist begabten Wunderheiler. These 7: Ein christologischer Konsens zwischen Christen und Muslimen ist nur dann möglich, wenn das Sprechen von Jesus metaphorisch und nicht metaphysisch ist. Wenn sie sich einlassen auf eine symbolische, also übertragene und nicht (substanz-)ontologische Redeweise, dann kann es sogar möglich sein, dass beide Seiten, Christen und Muslime, Jesus als einen „Sohn Gottes“ bekennen in dem inklusivischen Sinne der Gotteskindschaft aller Frieden stiftenden Menschen, wie es Jesu eigenem Sprachgebrauch entspricht (z. B. Matthäus 5,9). Der christologische Dialog mit dem Islam birgt für Christen die Chance zur Wiedergewinnung des metaphorischen Verstehens der Person Jesu, die Möglichkeit, das abgelehnte semitische (judenchristliche) Erbe neu zu entdecken. These 8: Das christlich-islamische Gespräch über Jesus sollte mehr sein als nur ein dogmatischer Streit um Worte und Hoheitstitel. Es muss sich ebenso mit der ethischen Frage befassen, wie heute eine Nachfolge Jesu von beiden Seiten aus versucht werden kann. Der christologische Dialog muss zum christopraktischen Dialog werden. Jede gemeinsame christologische Aussage im Kontext des Dialogs muss sich an ihren praktischen Konsequenzen messen lassen, ob sie im Blick auf das zukünftige Verhältnis von Christen und Muslimen zueinander Früchte im Sinne einer versöhnten Geschwisterlichkeit trägt. These 9: Nachfolge und Nachahmung Jesu könnte für Christen wie für Muslime heißen: in der ausschließlichen Hingabe an Gott, im Vertrauen auf seine Barmherzigkeit und
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Vergebungsbereitschaft miteinander „um die Wette“ danach streben, Gutes zu tun. Dafür gibt es im Neuen Testament (Galater 6,9–10; 1 Thessalonicher 5,15.21) und im Koran (Sure 2,148; 3,113 114; 5,48) Hinweise. These 10: Mit Tarif Khalidi und mit Paul Schwarzenau, teile ich die Auffassung, dass sich Christentum und Islam wechselseitig ergänzen und in dieser ihrer Komplementarität bleibend aufeinander angewiesen sind.13 Folgerichtig muss auch das christlich-islamische Gespräch über Jesus weiterführen zum Gespräch über Muhammad. Es gilt, im Dialog die Fragen auszuloten: Inwieweit wird Jesus, der leidende und äußerlich scheiternde Gerechte ergänzt durch Muhammad, den siegreichen Gerechten? Inwiefern ist Jesu Reich, das „nicht von dieser Welt ist“ (Johannes 18,36), angewiesen auf eine Glaubensgemeinschaft, die dezidiert religiös und weltlich (politisch) sein möchte? These 10: Mit Tarif Khalidi und mit Paul Schwarzenau (der 2003 seinen 80. Geburtstag feierte), teile ich die Auffassung, dass sich Christentum und Islam wechselseitig ergänzen und in dieser ihrer Komplementarität bleibend aufeinander angewiesen sind. Folgerichtig muss auch das christlich-islamische Gespräch über Jesus weiterführen zum Gespräch über Muhammad. Es gilt, im Dialog die Fragen auszuloten: Inwieweit wird Jesus, der leidende und äußerlich scheiternde Gerechte ergänzt durch Muhammad, den siegreichen Gerechten? Inwiefern ist Jesu Reich, das „nicht von dieser Welt ist“ (Johannes 18,36), angewiesen auf eine Glaubensgemeinschaft, die dezidiert religiös und weltlich (politisch) sein möchte?
Anmerkungen Malek Chebel, Symbole des Islam, Wien 1997, 26. Zit. nach: Hartmut Bobzin (Hrsg.), Der Koran in der Übersetzung von Friedrich Rückert, Würzburg 1995, Einleitung, XIV. 3 Der Koran. Übersetzung von Adel Th. Khoury, erschienen 1987 bei Gütersloh (zahlreiche Auflagen). 4 In chronologischer Anordnung ergibt sich folgende Reihenfolge: Sure 19,16–37.88–93; 3,57–65; 23,50; 21,91; 42,13; 6,85; 2,87.116 f.136.253; 3,36.39.42–64.84; 61,6.14; 57,27; 4,156–159.163.171 f.; 33,7 f.; 66,12; 9,30 f.; 5,17.46 f.72–79.110–119. Hinzuzählen könnte man weitere 15 Verse, die möglicherweise indirekt von Jesus sprechen: Sure 112,3f.; 43,81–83; 21,26–29.92f.; 17,111; 10,68; 3,79f. Insgesamt wäre demzufolge in maximal 18 Suren in bis zu 123 Versen von Jesus die Rede. Welche Verse überhaupt zur koranischen Christologie gerechnet werden sollen und welche nicht, wird sehr unterschiedlich beantwortet, wobei muslimische Ausleger oft anders urteilen als nichtmuslimische (christliche) Interpreten. Eine ausführliche Darstellung des koranischen Jesusbildes findet sich in meinem Buch: Jesus im Koran, Köln/Weimar/Wien 2001. 5 Eine weitere Antwort aus muslimischer Sicht folgt unten in Abschnitt 11. 6 Zur Auseinandersetzung mit dem Jesus des Korans auf Seiten der christlichen Theologie verweise ich auf meine Publikation: Jesus – Stein des Anstoßes. Die Christologie des Korans und die deutschsprachige Theologie, Köln/Weimar/Wien 2000. 7 Zu den Angaben des Korans über Jesus und seine Rolle im Jenseits (Endgericht), worauf hier nicht eingegangen wird, s. Bauschke, Jesus im Koran, a.a.O. 115–122. 8 Zum Folgenden vgl. bes. Tarif Khalidi, Der muslimische Jesus. Aussprüche Jesu in der arabi1 2
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schen Literatur, Düsseldorf 2002; Javad Nurbakhsh, Jesus in den Augen der Sufis, Köln 1995; Annemarie Schimmel, Jesus und Maria in der islamischen Mystik, München 1996. 9 Ebd. 49f. 10 Vgl. Samuel Zwemer, Die Christologie des Islams. Ein Versuch über Leben, Persönlichkeit und Lehre Jesus Christi nach dem Koran und der orthodoxen Tradition, Stuttgart 1921; sowie neuerdings Nimetullah Akin: Untersuchungen zur Rezeption des Bildes von Maria und Jesus in den frühislamischen Geschichtsüberlieferungen, Neckarhausen 2002. 11 M. S. Abdullah, Islam. Muslimische Identität und Wege zum Gespräch, Düsseldorf 2002, 163. 12 Einladung zum Islam. Ein Vergleich zwischen Bibel und Koran aus der Sicht eines Moslems, Berlin 2000. Die folgenden Seitenangaben im Haupttext beziehen sich auf diese Veröffentlichung. 13 Paul Schwarzenau, Korankunde für Christen. Ein Zugang zum heiligen Buch der Moslems, Hamburg 3. Auflage 2001, Vorwort S. 9: „Komplementarität zwischen Christusoffenbarung und Koranoffenbarung“ (so bereits im Vorwort zur 2. Auflage 1990).
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Judentum und Islam im Endzeitdenken des fundamentalistischen Protestantismus und der pentekostalen Bewegung nordamerikanischen Ursprungs* 1. Die Bedeutung der Endzeit in der Fundamentalismusforschung Im letzten Jahrzehnt hat sich die Forschung in zunehmendem Maße mit den Entwicklungen fundamentalistischer und pentekostaler (pfingstkirchlicher) Bewegungen befasst, die sich vor allem in Nordamerika und in der Dritten Welt ausgebreitet und enorme Auswirkungen auf das religiöse, politische, kulturelle und soziale Leben dieser Gesellschaften haben. Der folgende Beitrag basiert auf den Forschungen von Ernest R. Sandeen, der mit seinem Buch eine neue und bahnbrechende Epoche in der Erforschung des protestantischen Fundamentalismus eröffnete The Roots of Fundamentalism1. Die entscheidende Entdeckung Sandeens war die Erkenntnis, dass der Fundamentalismus nur dann adäquat verstanden werden kann, wenn man ihn als eine Ausprägung eines bestimmten protestantischen Endzeitdenkens, des sog. Prämillennialismus auslegt.
2. Die prämillennialistischen Grundlagen des protestanischen Fundamentalismus Die Entstehungsgeschichte des Prämillennialismus ist Ergebnis und Reflex der krisenhaften Entwicklungen, die die nordamerikanische Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts durchlief. Ein besonderer Schock für die fortschrittsorientierte amerikanische Ideologie des frühen 19. Jahrhunderts waren die ernüchternden, alle ideologischen Träume zerschlagenden Erfahrungen im amerikanischen Sezessionskrieg (1861–1865). Dem Trauma des Bürgerkriegs folgten radikale gesellschaftliche Umbrüche, die sich aus dem Eindringen immer neuer Wellen von (oft katholischen) Immigranten, der Landflucht großer Teile der schwarzen und weißen Bevölkerung, einer rapiden Urbanisierung und Proletarisierung verbunden mit dem Verfall der traditionellen amerikanischen Werte ergaben. Es begann eine schnell wachsende Industrialisierung des Landes, die vor allem im Norden ganz neue soziale Verhältnisse schuf. Wohnungspro* Zusammenfassung einer noch nicht veröffentlichten Studie.
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bleme, Arbeitslosigkeit und das Entstehen von Großstädten waren die zentralen Probleme. Die Erfahrungen dieser Krisensymptome brachten auch im religiösen Bereich eine völlig neue Sicht der Welt und der Zukunft der Menschheit hervor. Man glaubte nicht mehr daran, dass sich die Geschichte zielgerichtet auf das Reich Gottes hin bewegt. Im Gegenteil: Der beginnende Fundamentalismus ging davon aus, dass das Ende der Welt nahe bevorsteht und dass sich noch vor der Wiederkunft Christi die in den Schriften geweissagten apokalyptischen Schreckensvisionen erfüllen würden. Als Vater dieser Bewegung gilt der aus Irland stammende Theologe John Nelson Darby (1800–1880) und die von ihm begründete Gemeinschaft der Plymouth-Brethren. Für Darby und seine Anhänger entscheidend ist „der Glaube, dass die Annahme der göttlichen Autorität der Schrift fordere, dass der Gläubige eine … wortgetreue Erfüllung aller Prophezeiungen erwarten müsse; der Glaube, dass … die Welt immer verdorbener werde und ihrem baldigen Gericht entgegeneile; der Glaube, dass Christus getreu seinem Wort auf diese Erde zurückkehren und den Juden vor Beginn des Tausendjährigen Reiches Palästina zurückgegeben werde.“2 Die Errichtung des Millenniums vollzieht sich nach dieser Auffassung als eine Folge kataklystischer Ereignisse und göttlicher Interventionen. Am Ende der apokalyptischen Schrecken, genauer vor der Errichtung des Tausendjährigen Reiches, also dem Eintritt des Millenniums, steht die Parusie, also die zweite Wiederkehr des Messias Jesus.3 Für die Popularisierung der Lehre Darbys entscheidend war die Rezeption seiner chiliastischen Eschatologie, die als Dispensationalismus bekannt wurde durch den Erweckungsprediger Dwight L. Moody, dessen großer Bekanntheitsgrad dem Prämillennialismus zu weiterer Verbreitung innerhalb der evangelikal-fundamentalistischen Bewegung verhalf.
3. Die theologischen Grundlagen des prämillennialistischen Dispensationalismus Der Begriff des (prämillennnialistischen) Dispensationalismus leitet sich von einem Periodenschema ab, mit dem John N. Darby das sich in der Menschheitsgeschichte von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende vollziehende göttliche Heilshandeln in verschiedene „Dispensationen“ einteilte. Nach diesem geschichtstheologischen hermeneutischen Prinzip entfaltet sich die Weltgeschichte in sieben Dispensationen von der Schöpfung der Welt bis zur Schaffung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, d. h. in Zeitaltern oder Epochen, die als die verschiedenen Bünde Gottes mit den Menschen beschrieben werden. Folgende Chronologie der Dispensationen vom Beginn bis zum Ende der Weltgeschichte hat sich im dispensationalistischen Diskurs durchgesetzt: 1. Dispensation: „Unschuld“ = das Zeitalter des Bundes Gottes mit Adam bis zum Sündenfall, 2. Dispensation: „Gewissen“ = der Bund Gottes mit der Menschheit nach der Vertreibung aus dem Paradies bis zur Sintflut, 3. Dispensation: „Verwaltung unter Verantwortung des Menschen“ = der Bund mit Noah (Regenbogen) bis zum Turmbau zu Babel und der Sprachverwirrung, 4. Dispensation: „Verheißung“ = der Bund mit Abraham und dem Volk Israel bis zur Versklavung des Auserwählten in Ägypten,
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5. Dispensation: „Unter dem Gesetz“ = der Bund Gottes mit Moses, der Exodus und die Gesetzgebung am Sinai; er endet mit Tod und Auferstehung Christi (Christus ist des Gesetzes Ende), der Zerstörung Jerusalems und der folgenden Zerstreuung Israels unter die Völker, 6. Dispensation: „Endzeit“ – das mit Pfingsten beginnende Zeitalter der Gnade durch die erlösende Tat Christi bis zu seiner Wiederkehr am Ende der Tage, 7. Dispensation „Millennium“ – das Errichten des Tausendjährigen Reiches im Neuen Jerusalem bis zum Ende der Geschichte. Eine große Verbreitung fand das Schema des Dispensationalismus durch die Scofield Reference Bible, die von dem Exegeten Cyrus I. Scofield entwickelt und 1909 veröffentlicht wurde. Diese Bibel zeichnet sich aus durch einen komplizierten Aufbau, der es dem Leser mit Hilfe von Kettenverweisen, Interpretamenten, Anmerkungen und Fußnoten ermöglicht, jeden biblischen Text einer der sieben Dispensationen zuzuordnen. Die gegenwärtige Epoche der Kirche, die Darby und Scofield auch die Dispensation des Geistes nennen, begann zu Pfingsten und wird mit der Parusie Christi vor Anbruch des Millenniums enden. Entscheidend für das Verständnis des Dispensationalismus ist die Lehre, dass sich die Wiederkunft Christi in zwei Phasen vollzieht: Die erste Phase beginnt mit der Entrückung (engl. rapture) der wiedergeborenen (born again) wahren Gläubigen und echten Christen und endet mit dem Kommen Christi und seiner Gemeinde zum Weltgericht. Die Entrückung steht nach Auffassung aller Dispensationalisten unmittelbar bevor – allerdings hütet man sich, Prognosen über den genauen Termin der Wiederkunft Christi zu machen. Aber da sie any moment, wie ein Dieb in der Nacht eintreffen kann, müssen die Gläubigen jederzeit bereit sein. „Christus kann jederzeit erscheinen und seine Gemeinde entrücken. Irgendwelche Vorbedingungen, die sich zuvor erfüllen müssten, gibt es heute nicht mehr.“4
4. Die Bedeutung Israels für die Endzeit Die Anhänger des Fundamentalismus entwickelten von Beginn an ein besonderes Interesse für die neuere Geschichte der Juden bzw. des Staates Israel: „Obwohl die Bibel Tausende von Jahren abgeschlossen war, bevor die gegenwärtigen Probleme im Mittleren Osten entstanden, liefert sie eine übernatürlich inspirierte Analyse der Themen und der Kräfteverhältnisse, die dabei eine Rolle spielen. … Das prophetische Wort Gottes offenbart uns, dass das gegenwärtige Zeitalter eine Zuspitzung erfährt mit der Wiedererrichtung und Erlösung Israels. Je näher wir dem Ende der Zeit kommen, umso stärker wird Israel dem Druck seiner Umgebung ausgeliefert sein. … auf der einen Seite arbeitet die Gnade Gottes für die Wiederherstellung Israels, auf der anderen Seite finden wir die Täuschungsstrategien Satans, der mit allen in seiner Macht stehenden Mitteln versucht, sich dem Prozess der Wiederherstellung entgegenzusetzen.“5 Schon als die zionistische Bewegung um die Jahrhundertwende entstand, hatten die neueren Prämillennialisten über mehrere Jahrzehnte hin die Rückkehr der Juden als Teil ihres apokalyptischen Fahrplans gepredigt. Diese prämillennialistischen „Zionisten vor dem Zionismus“ setzten sich
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vehement auf breiter politischer Ebene für die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter ein. Auch die Führer der Neuen Christlichen Rechten in den USA ließen nicht ab zu betonen, dass das Jahr 1948, in dem der Staat Israel gegründet wurde, ein besonderes Gnadenjahr in Gottes Heilsökonomie darstelle. Das Eintreffen dieses Ereignisses verlieh dem Fundamentalismus eine bis dahin nicht gegebene unleugbare Glaubwürdigkeit: „Seit der Himmelfahrt Christi hat es viele wichtige Daten in der Geschichte gegeben“, erklärte Jerry Falwell, der Begründer der in den USA politisch bedeutendsten fundamentalistischen Bewegung Moral Majority. „Aber meiner Meinung nach ereignete sich das wichtigste Datum der vergangenen zwanzig Jahrhunderte am 14. Mai 1948.“6 Dieses Datum gilt also nicht nur als der unfehlbare Beweis für die göttliche Urheberschaft der Schriften, sondern auch als unfehlbarer Beweis für die Richtigkeit der dispensationalistischen Schriftauslegung. Erst seit 1948 lassen sich, so die neueren Dispensationalisten, die politischen Entwicklungen in der Umgebung Israels in ihrer endzeitlichen Bedeutung präzise verstehen und auslegen. Von dieser Voraussetzung her ist zu verstehen, dass die Gründung des Staates Israel bei den Dispensationalisten helle Begeisterung auslöste. Mit der Wiedereroberung Jerusalems erfüllt Gott die unabdingbaren Voraussetzungen für den Anbruch der Endzeit. „Am 15. 5. 1948 hat der prophetische Countdown begonnen“ (H. Lindsey). Daher kommt dem Ergebnis des Sechs-Tage-Krieges von 1967 eine spektakuläre Bedeutung zu: „Der SechsTage-Krieg war ein entscheidender Wendepunkt in der menschlichen Geschichte. Israel hatte die Herrschaft über Jerusalem wiedergewonnen und die ‚Zeit der Heiden‘ ging nun zu Ende. Man konnte schon fast die Morgendämmerung eines neuen Zeitalters erahnen.“7 Dieser Sieg wurde als Wunder verstanden, das die Pläne des Islam, den Staat Israel zu zerstören, zunichte machte: Der Yom-Kippur-Krieg und vor allem der Golfkrieg von 1991, der in den USA eine religiöse Erregung auslöste, war für viele Dispensationalisten ein weiterer unerschütterlicher Beweis für die Nähe des Weltendes. Die übernatürliche und wunderhafte Errettung, die Israel während der irakischen Raketenangriffe erfuhr, verstand man als eindeutiges Zeichen für den baldigen Einbruch des messianischen Reiches. Für die Dispensationalisten ist es klar, dass im Blick auf Israel die entscheidendsten Etappen im Endzeitfahrplan bereits abgeschlossen waren und die Entrückung unmittelbar bevorsteht.
5. Zur Entwicklung des Fundamentalismus bis zur „Machtübernahme“ der Neuen Christlichen Rechten in den USA Seinen Namen leitet der Fundamentalismus von einer Schriftenreihe ab, die zwischen 1910 und 1915 als zwölfbändige Reihe mit dem Titel The Fundamentals: A Testimony to the Truth veröffentlicht wurde. Finanziert wurde das Unternehmen von den Ölmillionären Lyman und Milton Stewart. Insgesamt wurden drei Millionen Exemplare dieser Reihe kostenlos an Herausgeber religiöser Zeitschriften, an Pfarrer, Missionare, Sonntagsschul-
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lehrer und Theologiestudenten verteilt – sie konnten sich also einer enormen flächendeckenden Verbreitung erfreuen. Die in dieser Schriftenreihe propagierten fundamentals erhielten einen quasi dogmatischen Rang. Ihre fünf essenziellen Lehrpunkte sind: die Fehlerlosigkeit (inerrancy) der Heiligen Schrift; die Jungfrauengeburt; das stellvertretende Sühneopfer Christi; seine leibliche Auferstehung und Wiederkunft; die historische Authentizität der Wunder. Fundamentalisten und Pentekostalisten, die inzwischen in den USA und weltweit einen spektakulären Wachstumsprozess erfahren haben, bot der Dispensationalismus eine gemeinsame theologische Plattform, auf der sie ihre konservativen Kräfte vereinen konnten. Es entstanden in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts Netzwerke von Lobbygruppen, die die Politik des rechten Flügels der Republikanischen Partei massiv unterstützten und die sich mit großem Aufwand in alle Angelegenheiten der amerikanischen Innen-, Sozial-, Verteidigungs- und Außenpolitik einmischten. Als Neue Christliche Rechte verschafften sich fundamentalistische Führungspersönlichkeiten eine bedeutende politische Machtbasis. Vor allem die erstaunlichen Erfolge der Elektronischen Kirche trugen wesentlich dazu bei, dem Fundamentalismus in großen Teilen der amerikanischen Bevölkerung eine tiefe Verankerung zu verleihen. Trotz des Aufschwungs, den der Dispensationalismus seit 1948 und 1967 erfuhr, beginnt die wirklich erfolgreiche politische Agitation der fundamentalistischen Gruppierungen in der republikanischen Partei erst in den 80er Jahren. In seinem Wahlkampf erhielt der spätere Präsident Ronald Reagan von politisch-religiösen Gruppierungen aus dem fundamentalistischen und pentekostalen Lager massive Unterstützung. Auch viele christliche Fundamentalisten, die George W. Bush, Jr. unterstützen, begreifen die gegenwärtige Geschichte als Kampfplatz, auf dem eine für das natürliche Auge des Menschen verborgene geistliche Auseinandersetzung stattfindet. Dabei wird der moralische Zustand der Gesellschaft als Maßstab für den für die Endzeit geweissagten fortschreitenden Abfall von den christlichen sittlichen Normen und Werten gesehen. Die moralische Talfahrt beschleunigt sich immer mehr, so dass das Ende der Geschichte ganz nahe bevorstehen muss. Als Zeichen der Endzeit gilt auch die Zunahme von terroristischen Anschlägen („September 11“!), Kriegen und Naturkatastrophen in der Welt.
6. Endzeitliche Bedrohungszenarien: Vom Reich des Bösen (Kommunismus) zur Achse des Bösen (Islam) Sahen die prämillennialistisch-dispensationalistisch argumentierenden Vertreter der Neuen Christlichen Rechten das endzeitliche „Reich des Bösen“ zunächst im Kommunismus, d.h. in der Sowjetunion und den sozialistischen Staaten allgemein, so wurden von den Fundamentalisten nach dem Ende des Kommunismus und dem Zusammenbruch der Sowjetunion neue Bedrohungsanalysen und ein neues Feindbild entwickelt. Der in den biblischen Schriften prophezeite endzeitliche „Feind aus dem Norden“ wird nicht mehr wie noch in der Ära Reagan auf die politische Supermacht UdSSR als „dem Reich des Bösen“ bezogen. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, so wird argumentiert, wurden viele
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Christen, die bisher den Weltkommunismus als den größten Feind Gottes verstanden hatten, in falscher Sicherheit gewiegt: „Im Ergebnis nahm die Mehrheit dieser Gläubigen die weitaus gefährlicheren geistlichen Mächte, die auf der Stelle den Ruinen des Kommunismus zu entsteigen begannen, gar nicht wahr.“8 Der Feind wurde vom Satan von einer politischen Weltmacht in eine Weltreligion transformiert: in den Islam. In diesem ideologischen Denkschema wird ein Dualismus von Islam und Israel („Ismael“ und „Israel“) konstruiert und auf die gesamte Nahostpolitik übertragen. Daraus ergeben sich neue apokalyptische Konstellationen: Wie einst der Kommunismus hat im dispensationalistischen Endzeitszenario jetzt der Islam die Speerspitze der Armeen Satans übernommen. Angesichts der neu heraufziehenden Gefahren fordern die Fundamentalisten das religiöse Amerika auf, sich kompromisslos hinter Israel und gegen die arabische Welt zu stellen: Die Unterstützung des Zionismus durch die konservativen Kräfte in der Administration von George W. Bush, Jr. wird, wie bereits oben ausgeführt, mit der besonderen Rolle Israels im fundamentalistischen Endzeitdenken begründet. Der prozionistischen Ideologie des Prämillennialismus dürfte die Hoffnung zugrunde liegen, dem Zustandekommen prophezeiter endzeitlicher Verhältnisse auch politisch nachzuhelfen, um so den Weg für die Wiederkehr Christi vorzubereiten. Jedenfalls ist für fundamentalistisch orientierte Politiker jede ernsthafte Verhandlung über die Rückgabe von Land an die Palästinenser ein Sakrileg: „Israel ist der Verwalter eines Landgebietes und einer Stadt, die Gott für sich reserviert hat. Das Land Israels und seine Hauptstadt Jerusalem werden die Hauptstadt des messianischen Königreiches werden. Gott hat Sein Land und Sein Volk in einem geheimnisvollen Bund vereint.“9 Für die dispensationalistische Politik sind daher die uneingeschränkte Souveränität Israels über die West-Bank, die Golanhöhen und ganz Judäa und Samaria, sowie die Annexion Groß-Jerusalems ein von Gott gegebener Rechtsanspruch. Im Blick auf die Durchsetzung des Friedensprozesses, der sog. Road Map heißt es: „Sie und ich wissen, dass es keinen Frieden im Nahen Osten geben wird, bis eines Tages der Herr Jesus auf dem Thron Davids in Jerusalem Platz nehmen wird“ (J. Falwell). Die politischen Forderungen nach einem von Israel unabhängigen autonomen Staat Palästina werden von vielen Fundamentalisten in Frage gestellt oder gar entschieden zurückgewiesen. Kein Fußbreit der eroberten Territorien darf an die Araber zurückgegeben werden. Der arabische Hass auf Israel ist Ausdruck des satanischen Hasses. Angesichts des schnellen „Vorspringens der prophetischen Uhr“, so das fundamentalistische Credo, steigert Satan, sein baldiges Gericht vor Augen, seinen Hass gegen das Gottesvolk: „Satan hasst die Juden, weil Gott Israel zu Seinem auserwählten Volk auserkoren hat. … Satan weiß, dass Gott vorhat, den Planeten von der bösen Herrschaft zu erlösen und Sein auserwähltes Volk zu erretten. Der Teufel kennt die Prophezeiungen der Bibel. … Er weiß, dass mit der Wiedergeburt Israels im Jahre 1948 eine Kette prophetischer Ereignisse ausgelöst wurde, die unvermeidbar in dieser Generation zu seiner Vernichtung durch die Hand des Messias Jesus führt. Dieses Wissen verstärkt Satans unerbittlichen Hass gegen Israel.“10 Nach dispensationalistischer Überzeugung benutzt Satan den Islam, um Gottes Plan mit Irael zu vereiteln. Dieser wird damit zu einer Bedrohung der gesamten Menschheit. Fundamentalistische Missionare warnen daher besorgt vor dem spektakulären Fortschritt des Islam in der Dritten Welt. Der Islam stellt also nicht nur für den Nahen Osten
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eine Bedrohung dar. Vielmehr wird oft das Schreckensbild gezeichnet, dass die ganze Welt eine „islamische Invasion“ erlebt: Mit besonderer Besorgnis stellen die Dispensationalisten fest, dass der Islam inzwischen in Europa und Nordamerika seine Flagge zeigt.
7. Christliche Mission, geistliche Kriegsführung und die Bollwerke des Islam In der pentekostalen und fundamentalistischen Missionstheologie – vor allem in den USA und der Dritten Welt – hat in den letzten Jahrzehnten ein neues theologisches Paradigma an Bedeutung gewonnen, in dem die Auseinandersetzung mit dem Islam eine zentrale Rolle spielt: das Konzept der geistlichen Kriegsführung (spiritual warfare) und des Kampfes mit dämonischen Engeln.11 Nach dieser Vorstellung versucht Satan, durch die Mobilisierung seiner letzten Kräfte den bevorstehenden Einbruch des Gottesreiches zu verzögern. Da die jetzige Generation in der Endzeit lebt, wird gefordert, angesichts des strategischen Vorgehens des Teufels die Konturen der geistlichen Schlachtfelder neu zu bestimmen. Im prämillennialistischen Denken, das sich auf die genaue Auslegung biblischer Prophetie beruft, soll der geistliche Kampf immer hitziger werden, je näher die Wiederkunft Christi heranrückt. Der holländische Dispensationalist W. Malgo drückte dies so aus: „In unseren Tagen kommt die Hölle in Bewegung. Satan hat einen großen Zorn, denn er weiß, dass er wenig Zeit hat. Dass die geistliche Atmosphäre auf dieser Erde immer schlechter wird, hat seine Ursache in den fliehenden Heerscharen der Dämonen, die durch das Herannahen des Herrn Jesu ins Gedränge kommen. … Wenn die Mächte der Finsternis unter dem Himmel sind, also zwischen Himmel und Erde, und sich die himmlische Atmosphäre dieser Erde nähert, werden diese Fürsten und Gewalten und bösen Geister zusammengedrängt und wüten in ihrer Verzweiflung auf dieser Erde, soviel sie nur wüten können.“12 C. Peter Wagner, der bekannteste Theoretiker der kalifornischen ChurchGrowth-Bewegung, gehört heute zu den fundamentalistischen Theologen, die das verdrängte Thema Existenz unsichtbarer territorialer Geistmächte (territoral spirits) und deren Exorzismus aufgreifen.13 Die Strategien, die sich aus der Lehre vom spiritual warfare und der Existenz von den territorial spirits ergeben, nehmen ihren Ausgang mit der Erstellung einer sog. „Realitätskarte“. Danach gibt es „bestimmbare geographische Regionen …, in denen sich nicht nur menschliche Schlechtigkeit auffällig zu ballen scheint …, sondern in denen auch der Widerstand gegen das freie Bekenntnis des christlichen Glaubens besonders hart ist“14. Hier treten die islamischen Länder ins Blickfeld der geistlichen Strategen: „Dämonische Täuschungsmanöver, Angriffe und Festungen sind real und wohl ausgeklügelt. In ihnen vermischen sich einseitige Maßnahmen gegen und geplante Reaktionen auf die Schlachtreihen Gottes. Um heute auf dem geistlichen Schlachtfeld durchzublicken, müssen wir unseren Weg durch feindlich beherrschte oder überdurchschnittlichem feindlichen Einfluss ausgesetzte Zonen (Festungen) abstecken und mit Dingen wie der Stärke und den Zielsetzungen rivalisierender Glaubenssysteme (wie dem Islam) zu Rande kommen.“15
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Intendiert ist also eine genaue geographische Lokalisierung des Feindes, um so die Verläufe der geistlichen Fronten möglichst genau festzustellen. Dabei muss folgende Leitfrage berücksichtigt werden: Welche satanischen Bollwerke, Brückenköpfe und Territorien, die in der strategischen Planung des Feindes eine wichtige Rolle spielen, können die christlichen Kämpfer lokalisieren? Viele Vertreter dieser Missionsstrategie ziehen in diesem Zusammenhang eine scharfe Linie, die im Westen ganz Nordafrika umfasst, dann nach Osten laufend, Indien, Pakistan und Bangladesch umgreift, bevor sie im Fernen Osten wellenförmig um Südostasien herumläuft und schließlich durch die Mongolei, Zentralasien, die Türkei und Albanien zurückschnellt. In fundamentalistischen Missionskreisen wird dieser geographische Raum als das „10/40 Fenster“ bezeichnet, weil das Gebiet sich ungefähr zwischen dem 10. und dem 40. Breitengrad erstreckt. Innerhalb dieses Fensters leben, wie es in der Fachsprache heißt, alle noch „unevangelisierten ethnischen Megagruppen“, „die größten spirituell bankrotten, ethnisch und sprachlich verwandten Riesenvölker“ und die „Steuerzentren“ des Islam und aller großen nichtchristlichen Weltreligionen. Für die dispensationalistischen Missionarstheologen ergibt sich daraus folgende Konsequenz: „Als Heimstatt all jener religiösen Nervenzentren, dazu 95 Prozent der unerreichten Völker auf Erden, können die Länder und Gesellschaften des 10/40-Fensters kaum dem Schicksal entgehen, zum wesentlichen Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts zu werden. „Ziel der ‚evangelistischen Streitmächte‘ ist das Zentrum des 10/40-Fensters: Mesopotamien, wohin Gott seine Gemeinde zum Schluss in Vollendung eines geschichtlichen Kreislaufs nach Eden zurückführen wird.“16 Solche Einschätzungen ergeben sich ausschließlich aus der Überzeugung, dass es sich um endzeitliche Vorgänge handelt, die den Gläubigen durch prophetische Vorhersagen kundgetan wurden. Besonders hervorzuheben ist der ehemalige Ehrenpräsident der Organisation „Christians for Reagan“, George Otis, Jr., der die aggressive Sprache der geistlichen Kriegsführung auf den Islam überträgt. Damit erhält der Islam, „der Letzte der Riesen“, eine besondere Bedeutung und spielt eine wichtige Rolle im Szenario der Endzeit. Im 10/40-Fenster ist zu erkennen, dass der Islam eines der stabilsten „Bollwerke des Feindes“ darstellt. Die islamische Herausforderung ist gewaltig, denn „unter den Unerreichten der Welt ist … jeder Dritte ein Muslim“17. Daher gilt: „Jeder neue Tag bringt uns der Endzeit näher, und jeden Tag richten sich die Augen der Welt zielgerichteter auf die Ereignisse im Mittleren Osten und in Mesopotamien. Angesichts der endzeitlichen Ereignisse im Nahen Osten ist es erforderlich, dass die christliche Kirche eine klare geistliche – und das heißt auch politische und militärische – Entscheidung für Israel und gegen die islamische Welt trifft, denn: „Israels Feind ist der Islam. Die winzige Nation Israel ist in gewisser Hinsicht ausersehen, den Islam in seinem Vormarsch auf die Weltherrschaft aufzuhalten, aber es ist jetzt Zeit für die Kirche, sich wie nie zuvor geistlich in diese Schlacht einzumischen, damit sie nicht von den Mächten, die hinter dem Islam stehen, verschlungen wird. … Es gibt heute keine Nationen auf der Erde, die gefährlicher und tödlicher und begieriger sind, jede andere Nation auf der Erde zur zerreißen, als die islamischen Nationen.“18 Für Dispensationalisten kann es keinen Zweifel geben: „… die stärkste geistliche Macht, die sich heute im Nahen Osten gegen Gottes Plan und Gottes Volk stellt, ist die mohammedanische Religion. Doch Mohammed war ein falscher Prophet. Deshalb
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werden seine Worte und seine Religion von Gott irgendwann zunichte gemacht werden. … es gibt eine starke geistliche Kraft, welche die Nationen des Nahen Ostens in fanatischer und unnachgiebiger Feindschaft gegen Israel und das Zustandekommen des Planes Gottes vereinigt – und das ist der Islam.“19 Um den antichristlichen und widergöttlichen Charakter des Islam zu entlarven, muss der crusader oder „geistliche Krieger“ den Islam nicht als eine politische, sondern als eine „im Kern geistliche Bewegung“ verstehen und als solche bekämpfen. In ihm „verbirgt sich eine dunklere Seite, eine Seite, die deutlich erkennen lässt, dass eine tiefere Kraftquelle vorhanden ist“20. Damit ist für die Dispensationalisten der Nachweis erbracht, dass Mohammed als Vorläufer des endzeitlichen Antichristen verstanden werden muss: „Wenn der Islam die Manifestation des Tieres auf der Erde ist, dürften seine Worte Ausdruck des Wesens und der Botschaft Satans sein. Der Koran ist der Ausdruck dieses Wortes.“21 Von manchen Fundamentalisten wird der Bruderkampf zwischen Israel und Ismael (wie im Marxismus der Klassenkampf) zum Grundprinzip der Geschichte überhaupt postuliert. Wichtigster Vertreter dieser Geschichtstheologie ist Marius Baar, der 25 Jahre als protestantischer Missionar unter den muslimischen Ethnien im Tschad wirkte.22 Baar interpretiert die Weltgeschichte als einen Kampf zwischen Arabern und Israel, beginnend mit der im Alten Testament überlieferten Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Ismael und Isaak. Nach seiner Auffassung setzt sich der Bruderkrieg in der heutigen Endzeit fort. Daraus ergibt sich, dass die heutigen politischen Konstellationen in Nahost im Kontext der biblischen Endzeitereignisse auszulegen sind: „Die islamische Welt hat … sich mit Ismael identifiziert … Der wilde und kriegerische Geist Ismaels hat alle Anhänger des Islam, der Religion, die Ismaels Theologie und Geist verbreitet, durchdrungen und ergriffen. … Es ist sicher, dass Ismaels Plan in Übereinstimmung mit den Forderungen des Islam darin besteht, jeden Menschen auf dieser Erde zu töten, der nicht willens ist, sich zum Islam zu bekehren.“23 Entscheidend für die radikale Ablehnung des Islam ist für den protestantischen Fundamentalismus nicht so sehr sein „religiöser Irrtum“, sondern seine prophetisch-schicksalhafte Rolle im apokalyptischen Endgeschehen; er wird von Satan benutzt mit dem Ziel, Israel, Gottes auserwähltes Volk, zu vernichten. Der arabische Widerstand gegen Israel und die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten finden statt, weil Satan verhindern will, dass Gottes Plan im Blick auf Israel zum Ziel kommt. Der dispensationalistische anti-islamische Diskurs im amerikanischen Fundamentalismus hat eine Parallele in der neueren Theorie des Kampfes der Kulturen (Clash of Civilizations) die von dem renommierten und einflussreichen Politologen Samuel P. Huntington vertreten wird. Nach dessen Prognose werden nach dem Zusammenbruch des Kommunismus neue Konflikte globalen Ausmaßes die Weltpolitik des 21.Jahrhunderts beherrschen: Die Grenzen zwischen den Kulturen werden die Fronten der Zukunft sein. Der Islam ist ein solcher Konfliktherd: „Das tiefere Problem (für den Westen) ist der Islam, eine andere Kultur, deren Menschen von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer Macht besessen sind. Das Problem für den Islam sind nicht die CIA oder das US-amerikanische Verteidigungsministerium. Das Problem ist der Westen, ein
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anderer Kulturkreis, dessen Menschen von der Universalität ihrer Kultur überzeugt sind und glauben, dass ihre überlegene, wenngleich schwindende Macht ihnen die Verpflichtung auferlegt, diese Kultur über die ganze Erde zu verbreiten. Das sind die wesentlichen Ingredienzien, die den Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen anheizen.“24
8. Die Bedeutung des Tempels von Jerusalem für die Endzeit Im endzeitlichen Szenario des Prämillennialismus kommt dem wiedergebauten Tempel eine äußerst wichtige Funktion zu. Im fundamentalistischen Denken ist es geradezu ein Glaubenssatz, dass sich am Ende der Zeiten der Antichrist auf den Thron im neu erbauten Jerusalemer Tempel niederlassen wird. Für Dispensationalisten ist es daher ein Skandal, dass sich auf dem Jerusalemer Tempelberg, auf dem der antike Tempel einst gestanden hatte, zwei der bedeutendsten Heiligtümer der moslemischen Welt befinden: der Felsendom und die Al-Aksa-Moschee. Um den Wiederaufbau des Tempels zu ermöglichen – daran lässt man keinen Zweifel –, müssen auf irgendeine Weise, notfalls auch mit Gewalt, diese Hindernisse ausgeräumt werden.25 Mit besonderer Aufmerksamkeit beobachten die Dispensationalisten daher die archäologischen Projekte des israelischen Staates; sie sind davon überzeugt, dass die Ausgrabungen im ehemaligen Tempelbereich und der Klagemauer darauf zielen, die Voraussetzungen für den Wiederaufbau des Tempels zu schaffen. Besondere Beachtung fand die 1989 vom Israelischen Religionsministerium geförderte Conference of Temple Research, auf der wohl zum ersten Mal öffentlich die Frage diskutiert wurde, ob das heutige Judentum verpflichtet sei, den Tempel wieder aufzubauen. Nach dispensationalistischem Verständnis ist der wiederaufgebaute Tempel vor allem Zwischenstation des nach der Entrückung der Gläubigen die Macht ergreifenden und die gesamte Welt beherrschenden satanischen Antichristen. Er ist aber auch Hoffnungszeichen der messianischen Freudenzeit. W. Malgo fasst diese Hoffnung auf den endzeitlichen Sieg Christi zusammen: „Was ist Zion? Sichtbar ein sehr winziger Berg, unsichtbar ein heiliger Berg. … Im Berg Zion sehen wir gleichsam einen Zipfel des himmlischen Zion, das unsichtbar ist. Solange die gewaltige himmlische Bedeutung Zions nicht sichtbar wird, solange wird auch der herrliche Sieg Jesu Christi nicht offenbarwerden.“26
9. Die Drangsal: Antichrist und Falscher Prophet Dispensationalistische Theologen gehen in ihren Vorhersagen davon aus, dass mit der Entrückung der Gemeinde die letzte Hürde genommen sein wird, die auf dem Weg nach Harmageddon, dem Abschluss der Endzeit, also der gegenwärtigen 6. Dispensation, liegt. Dieser auf „sieben Jahre“ limitierte Zeitraum wird als Tribulation oder Zeit der Drangsal bezeichnet. Die Zeit der Drangsal wird wiederum in zwei Zeitabschnitte aufgeteilt, in denen jeweils neue Eskalationen der endzeitlichen Schreckensereignisse erfolgen. Nach
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der „Evakuierung“ der gläubigen Christen von der Erde wird Satan ungehindert seinen letzten Siegeszug über die Welt antreten. Dispensationalisten sind davon überzeugt, dass zu Beginn der ersten Epoche einem von einem satanischen Geist besessenen Menschen die Weltherrschaft übertragen wird. Dieser endzeitliche politische Führer, dessen Identität und Herkunft zu Beginn der Drangsal nicht bekannt sind, wird in der theologischen Literatur durchgehend als Antichrist bezeichnet. Die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Fundamentalisten glaubt, dass der Antichrist aus Europa stammt und wesentlich dazu beiträgt, die Macht der Europäischen Union in der Welt zu festigen.27 Theologisch wird der Antichrist als eine der schlimmsten satanischen Erscheinungsformen in der Geschichte der Menschheit beschrieben: „Das schrecklichste und unheimlichste Bild, das in den Schriften gezeichnet wird, ist das Bild des Antichristen, der dort auch Sohn der Sünde, Sohn der Verdammnis und der Böse genannt wird. Am Ende der Zeiten wird sein gottloses Reich offenbar werden. Ohne von dem zurückgehalten zu werden, was ihn jetzt noch aufhält, wird ihm die Freiheit gegeben, alle höllischen und teuflischen Mächte zu mobilisieren. Da die Kirche entrückt wurde und der ‚welcher jetzt zurückhält, aus dem Weg ist‘, wird der ‚Gesetzlose geoffenbart werden, dessen Ankunft gemäß der Wirksamkeit des Satans erfolgt‘“ (2.Thess 2,8f.).28 Um auch in religiösen Kreisen Anerkennung zu finden, beruft der Antichrist einen Führer, den die dispensationalistischen Theologen Falscher Prophet nennen: „Der Falsche Prophet wird ein religiöser Führer sein, der die Werke des Antichristen abstützt. Beide erhalten ihre Macht von Satan“ (Offenb. 13, 11–18; 16, 13; 19,20).29 Der Falsche Prophet wird Jerusalem zum Zentrum seines Wirkens erheben und dort die Große Hure, eine Art dämonischer Weltreligion oder Weltkirche, wie sie jetzt bereits ansatzweise vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf propagiert werde, etablieren. Im wieder aufgebauten Tempel von Jerusalem wird der Falsche Prophet den Antichristen zum Gott erheben und dessen kultische Verehrung fordern. Um die totale Kontrolle über das religiöse Verhalten ihrer Untertanen zu gewinnen, führen der Falsche Prophet und der Antichrist ein totalitäres Kontrollsystem ein, das durch die Zahl 666 symbolisiert wird. Die Zahl 666 wird nach Offenb. 13, 15–18, als Zeichen des Tieres und als Zeichen des Antichristen ausgelegt. Diese Zahl hat seit jeher in der apokalyptischen Literatur Spekulationen bezüglich der Frage ausgelöst, auf wen sie sich bezieht.30 Die meisten Dispensationalisten sind überzeugt, dass die moderne Elektronik die technischen Voraussetzungen zu dem apokalyptischen Überwachungssystem bereits entwickelt hat. Mit der gnadenlosen Verfolgung religiöser Dissidenden wird der Antichrist nach und nach seine wahre satanische Natur offenbaren: Plötzlich und unerwartet wird er im Tempel von Jerusalem den Greuel der Verwüstung errichten, die wieder eingeführten Opferhandlungen verbieten und eine weltweite Judenverfolgung inszenieren. Im theologischen Diskurs des Dispensationalismus wird der nun anbrechende zweite Abschnitt der Drangsal als Zeit der Großen Trübsal bezeichnet. Man bezieht sich dabei auf die Weissagung Jesu, dass sich in Israel eine gewaltige Krise entwickelt, wenn im Tempelbezirk etwas aufgerichtet wird, was als „Greuel der Verwüstung“ bezeichnet wird. Dieser Begriff geht auf das Jahr 165 v. Chr. zurück, in dem der Diadoche Antiochus Epiphanes in das Allerheiligste des Zweiten Tempels eindrang, dort die Statue eines heidnischen Gottes aufrichtete und vor ihr ein Schwein opferte. Der von Jesus geweissagte „Greuel der Verwüstung“ (Matth. 24, 15;
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2.Thess. 2, 4f.) wird im dispensationalistischen Diskurs eine apokalyptische Judenverfolgung unvorstellbaren Ausmaßes auslösen. Man geht nämlich davon aus, dass in der Mitte der Großen Trübsal der Antichrist – ermächtigt von Satan – versuchen wird, Israel und das jüdische Vok zu vernichten. „Nach zweitausend Jahren des Exils, der Verfolgung und des Holocaust, lässt Satan die sündigen Nationen einen letzten Versuch unternehmen, Gottes auserwähltes Volk zu zerstören. Armeen aus aller Welt werden Jerusalem belagern, wie der Prophet Sacharja (12, 1) vorhergesagt hat“ (Salem Kirban). Damit treten die letzten apokalyptischen Ereignisse ein, die mit der Wiederkunft Christi ihren Abschluss finden.
10. Harmageddon: Endkampf der Völker und die Parusie zum Gericht Im Diskurs der dispensationalistischen Theologie werden die letzten Tage der Erde mit der Chiffre einer apokalyptischen Endschlacht, der Schlacht von Harmageddon bezeichnet. Dieser Schlacht, die sich in verschiedenen zeitlich voneinander getrennten Phasen vollzieht, gehen Natur- und Ökokatastrophen, Kriege, Epidemien, Hungersnöte und Massensterben voran, die nach der Weissagung des Verfassers der Johannes-Apokalypse in furchtbarem Ausmaße die Erde in den letzten Tagen heimsuchen werden. Der geographische Ort Harmageddon bezeichnet die Jesreel-Ebene, die das Heilige Land vom Mittelmeer bis zum Jordan durchschneidet und sich vom nördlichen Israel 200 Meilen nach Süden bis Jerusalem erstreckt. Die letzten Gefechte werden sich in dieser Talebene konzentrieren und in Jerusalem zum Abschluss kommen. Aber in seinen Anfangsphasen wird der Krieg von Harmageddon auch Asien, Nordafrika, Europa und den Mittleren Osten umfassen. Hunderte von Millionen Menschen kommen in den blutigen Kämpfen ums Leben.31 Die Mehrheit der heutigen Dispensationalisten ist überzeugt, dass in der Schlacht von Harmageddon chemische, nukleare und biologische Massenvernichtungswaffen verwendet werden, die den Tod von 90% der Bevölkerung in den kriegsführenden Staaten verursachen.
11. Gog und Magog: der Untergang des Islam Im dispensationalistischen Diskurs wird der als Gog und Magog bezeichneten Phase der endzeitlichen Schlacht von Harmagedon eine besondere Bedeutung zugemessen: In ihr findet der Untergang des Islam statt. Schon in der älteren vordispensationalistischen apokalyptischen Tradition wird Gog und Magog mit dem türkischen Reich identifiziert, das in den letzten Tagen das Heilige Land überfallen wird, um das auserwählte Volk Gottes zu vernichten. Fundamentalisten weisen gerne darauf hin, dass Muslime schon immer in der Christenheit als „the prophecied invaders of Israel in the last days“ angesehen wurden. Nach dispensationalistischer Spekulation kommt es in der Schlacht von Gog und Magog zu einer apokalyptischen Verschwörung verschiedener islamischer Staaten gegen Israel. Für G. Otis Jr. erweist sich der Islam damit als die „endgültige systematische Inkarnation des Tieres“32: „Gehen wir davon aus, dass das apokalyptische siebenköpfige Tier aus Offenbarung die politischen
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Reiche und Systeme der Menschen darstellt – das Hauptvehikel der Wirksamkeit Satans auf dieser Erde –, dann gewinnt es eine gewisse Wahrscheinlichkeit, in der militärischen Niederlage der islamischen Welt (Gog und Magog) … die tödliche Wunde zu sehen, die Johannes in Offenbarung 13.3 anspricht.“33
12. Die zweite Phase der Parusie Christi und seiner Gemeinde zum Weltgericht Angesichts der erschlagenden Überzahl seiner Feinde in der Endschlacht von Harmageddon wäre das Schicksal des bedrängten Gottesvolkes Israel besiegelt, würde nicht in letzter Sekunde Jesus Christus vom Himmel auf den Ölberg herabsteigen, um auf wunderhafte Weise sein Volk zu befreien. Alle dispensationalistischen Autoren stimmen übrigens darin überein, dass Israel während der Völkerschlacht von Harmageddon, die sich auf Jerusalem zubewegt, eine gottgewirkte spirituelle Verwandlung erfahren wird: „Jahrhunderte geistlicher Blindheit werden zu Ende kommen, wenn Gott den Schleier von den Augen Seines auserwählten Volkes entfernt, so dass es zum ersten Mal seinen Messias klar erkennen kann. Gott hat ja versprochen, dass er sich am Ende mit Seinem Volk versöhnen wird.“34 Das Erscheinen Christi in Macht und Herrlichkeit öffnet den Juden („im Unglauben“) die Augen, und sie kommen, nach dispensationalistischer Lehre, zu der Erkenntnis, dass der Rabbi Jesus von Nazareth ihr lang ersehnter Messias ist. Begleitet wird der siegreiche Triumphator Christus von seiner in weißem Linnen gekleideten Brautgemeinde, den Märtyrern und entrückten Christen. Er erscheint nicht mehr als das „Lamm“, sondern als „Löwe“. Mit detailliert ausgemalter und geradezu morbider Lust am Grauen stellen die Dispensationalisten den soteriologischen Charakter der Schreckenszenen der apokalyptischen Endzeitereignisse heraus: „Wenn der Tag der endgültigen Abrechnung kommt, wird Christus die unzähligen Legionen der Engel und auch die Heiligen der Kirche um sich versammeln, um mit Ihm im Triumph zurückzukehren und Sein tausendjähriges Königreich aufzurichten.“35
13. Die siebte Dispensation: Das Jüngste Gericht und das Tausendjährige messianische Friedensreich Unmittelbar nach dem Ende der Schlacht von Harmageddon und der Wiederkunft Christi werden alle aufrührerischen Nationen und ihre Führer – der Antichrist und der Falsche Prophet – gerichtet und ihrer Strafe zugeführt. Satan wird gefesselt, und Christus wird nun die Gläubigen, die die Zeit der Trübsal überlebt haben, von den Ungläubigen scheiden und sie in sein Reich führen. In Jerusalem wird er seinen Thron besteigen und als König der Könige herrschen und regieren. Sein Reich zeichnet sich aus durch universalen Frieden, Heiligkeit und Gerechtigkeit, und es wird tausend Jahre (Millennium) währen. Sogar die Tierwelt wird ihre Wildheit verlieren, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Im Millennium wird es keine Not mehr geben, denn alles wird reichlich vorhanden
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sein. In dieser Zeit wird auch das Haus Gottes auf dem Berge Morijah in Jerusalem Gott geweiht werden. Damit erweist sich Jerusalems neuer Tempel nicht nur als zentrales Heiligtum für Israel, sondern auch als kultischer Mittelpunkt, zu dem Menschen aus der ganzen Welt pilgern werden.
14. Das Ende der Geschichte Das Millennium endet mit einem spektakulären Ereignis: Christus schenkt Satan noch einmal die Freiheit und gibt ihm die Vollmacht, Menschen, die während der Epoche des Tausendjährigen Friedensreiches geboren wurden, zu versuchen und zum Abfall zu verführen. Satan nutzt diese Zeit, um eine beträchtliche Anhängerschaft zu sammeln und einen letzten Aufstand gegen Gott zu inszenieren. Doch das Zwischenspiel der Herrschaft des Bösen ist nur kurz: Satan und seine Entourage wird in einer zweiten Schlacht von Gog und Magog wieder überwältigt und nun für alle Ewigkeit in den See von brennendem Schwefel geworfen (…). Nach der Vernichtung Satans folgt die Auferstehung der Toten zum Jüngsten Gericht. Das in Offenbarung 20,11–15, beschriebene Gericht „vor dem großen weißen Thron“ ist das letzte Strafgericht, dem sich die Unerlösten aus allen Epochen der Weltgeschichte zu stellen haben. Jesus sitzt auf diesem Thron, und sein Anblick ist so schrecklich, dass Himmel und Erde vor Seiner Gegenwart fliehen. Alle, die vor seinem Thron erscheinen, werden dazu verdammt, die Ewigkeit in dem Feuersee bei vollem Bewusstsein zu erleiden. Dieses Gericht ist der Abschluss der siebten Dispensation und damit das Ende der gesamten Weltgeschichte.
Anmerkungen 1 Sandeen, E. R., The Roots of Fundamentalism, British and American Millennarianism 1800– 1930, Chicago 1970. 2 Sandeen, E. R., a. a. O., 39. 3 Wir haben es hier mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel vom Postmillennialismus zum Prämillennialismus zu tun. Der Postmillennialist versteht das Millennium als Ergebnis der fortschreitenden Christianisierung und Besserung der Welt. Der Postmillennialismus erreichte im Kontext der amerikanischen Erweckungsbewegung (revival movement) und der anglo-amerikanischen Missionsbewegung sowie durch die Identifizierung Amerikas als von Gott auserwählte „ErlöserNation“ im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den USA eine große Popularität, verlor aber nach dem amerikanischen Bürgerkrieg an Plausibilität. 4 Lindsey, H. (mit C. C. Carlson), Alter Planet Erde wohin?, Wetzlar 1972, 172f. 5 Prince, D., The Destiny of Israel and the Church, Milton Keynes, 1992, 11f. 6 Falwell, J., Listen America, Toronto/New York 1981, 93. 7 Prince, D., Biblische Prophetie und der Nahe Osten – Gottes Zeiger an der Weltenuhr, Erzhausen 1994, 89. 8 Otis, G. Jr., Der Letzte der Riesen. Der Islam und seine Rolle in der Endzeit, Lüdenscheid 1996, 33.
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Lynn, B., Pathways to Armageddon … and Beyond. Eugene 1992, 193ff. Jeffrey, G. R., Armageddon, New York 1990, 201. 11 Vgl. dazu Peter C. Wagner, Der Kampf mit satanischen Engeln, Solingen 1993. 12 Malgo, W., Im Schatten von Harmaggedon, Pfäffikon o.J., 58. 13 Wagner, C. P., Der Kampf mit satanischen Engeln, 78. 14 David Aikman, zit. bei Otis, G. Jr., a. a. O., 11. 15 Otis, G. Jr., a. a. O., 32. 16 Otis, G. Jr. a. a. O., 12. 17 Otis, G. Jr., a. a. O., 78. 18 Byers, M., Yasser Arafat-a biblical Character?, Miami 1996, 30. 19 Prince, Derek, Erzhausen 1994, Biblische Prophetie und der Nahe Osten, 62f. 20 Otis, G. Jr., a. a. O., 57. 21 Otis G. Jr., a. a. O., 41, mit Hinweis auf Salman Rushdies „Satanische Verse“. 22 Baar, M., Das Abendland am Scheideweg. Ismael oder Israel – Koran oder Bibel – Mohammed oder Jesus?, Asslar 1980, 23–26, 44f., 54. 23 Baar, M., a. a. O., 33. 24 Huntington, S. P., Kampf der Kulturen, München/Wien 1996, 350. 25 Einige dispensationalistische Theologen gehen aufgrund einer Kombination der Exegese von Offenbarung 11, 1–2 und Daniel 9,27 davon aus, dass der Tempel noch vor der Entrückung wieder aufgebaut werden wird; andere vertreten die Auffassung, dass der Wiederaufbau in der ersten Phase der großen Drangsal nach dem Erscheinen des Antichristen erfolgen wird. 26 Malgo, Wim, a. a. O., 43f. 27 Siehe dazu: Prince, Derek, Kommt der Antichrist aus Europa?, Solingen o.J. 28 De Haan, Martin R., The Second Coming of Jesus, Grand Rapids 1996, 128 – in der Übersetzung des Verf. 29 Salem Kirban. Vgl. Hoeft, Peter, In den letzten Tagen, Hamburg 1996, 45f. 30 Vgl. Neumann, Bruno, Die Zahl 666. Die Zahl des Antichristen – der Versuch einer Deutung, Bad Liebenzell 1977. 31 Der amerikanische Präsident Ronald Reagan, der seine Wahl nicht zuletzt der Neuen Christlichen Rechten verdankte, legte dem Vorsitzenden des Senats von Kalifornien, James Mills, einen prophetischen Text aus: „In the 38th chapter of Ezechiel, it says that the land of Israel will come under the attack by the army of ungodly nations … and that’s a sign that the day of Armageddon isn’t far off. … All of the prophecies that had to be fulfilled before Armageddon have come to pass. In the 38th chapter of Ezekiel it says God will take the children of Israel from among the heathen, where they’d been scattered, and will gather them again in the promised land. That has finally come about after 2000 years. For the first time ever, everything is in place for the battle of Armageddon and the Second Coming of Christ.“ Diamond, Sarah., Spiritual Warfare. The Politics of the Christian Right, Boston 1989, 132. 32 Der letzte der Riesen, 223. 33 Otis, G. Jr., a. a. O., 222. 34 Jeffrey, G. R., The Prince of Darkness, Toronto 1994, 321. Vgl. auch Lindsey, H. 3, Alter Planet Erde Wohin?, 199f. 35 Jeffrey, G. R., The Prince of Darkness, Toronto 1994, 318. Vgl. auch Lindsey, H./Carlson, C. C., Alter Planet Erde wohin?, 206. 9
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Interreligiöse Kommunikation und Konflikt in Zeiten der Kultursensibilität Wer sich derzeit mit der islamischen Präsenz in Deutschland befassen möchte, bedarf keiner tiefer gehenden Begründung für sein Anliegen. Kein Zweifel besteht darüber, dass die massenhafte Präsenz einer Religion, die in der Geschichte angespannte Beziehungen zum Christentum gehabt hat und deren Ruf seit der iranischen Revolution weltpolitisch erheblich belastet ist, das öffentliche Leben hierzulande auf unterschiedlichste Weise affiziert. Man kann etliche Themen dafür zum Gegenstand der Betrachtung machen – an diesen mangelt es nicht, schon gar nicht an den dramatischen (allen voran die Terrorproblematik), die leicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Oder man könnte sich auch die Frage stellen, ob das wieder erstarkte Interesse an Religion (insbesondere in intellektuellen Diskursen) und damit an einer christlichen Identität als Quell, als Grundlage der bestehenden Kultur sich denn nicht genau dieser Begegnung mit dem Islam verdankt oder sich damit zumindest trifft. Im Folgenden werde ich mich bei der Vielfalt der Aspekte auf knapp drei Themenfelder beziehen, die seit einigen Jahren die Gemüter bewegen: Das erste betrifft die materielle Präsenz des Islam im öffentlichen Raum. Beim zweiten Themenfeld handelt es sich um die heikle Frage der Institutionalisierung. Das zurzeit zweifellos renommierteste Thema, nämlich das Kopftuch, will ich nach hinten verlagern und unter dem allgemeinen Titel „Körperlichkeit und Geschlecht“ behandeln.
1. Die materielle Präsenz des Islam und das symbolische Gesicht des öffentlichen Raums Zunächst einmal stellt die islamische Präsenz für europäische Gesellschaften eine Herausforderung einfach auf der Ebene des symbolischen Gesichts des materiellen Raumes dar: Moscheebauten mit ihren Minaretts und der potenziellen Möglichkeit des Gebetsrufes verändern das gewohnte Stadtbild. Hier entstehen Entfremdungsgefühle, die Kultur bzw. die kulturellen Wurzeln werden plötzlich relevanter. Offenbar fühlen sich die Einheimischen im Kern ihres Heiligen getroffen, ob dieses Heilige in diesem Fall tatsächlich mit einem lebendigen Verhältnis zum christlichen Glauben verbunden ist oder nicht, ist nicht entscheidend. Seitdem Islam ein weltpolitisch hoch geladenes, ja im buchstäblichen Sinne explosives Thema ist, gibt es kaum ein Moscheeprojekt, das nicht gleich in den Bezugsrahmen eines globalen Kampfes gebracht wird. Es verläuft natürlich im konkreten Fall nicht so dramatisch wie angedeutet. Konflikte gehen auch abhängig von verschiedenen Faktoren un-
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terschiedlich aus (dazu ausführlich Leggewie/Joost/Rech 2002; Schmitt 2003; Hüttermann 2003). Dennoch artikuliert sich anlässlich der islamischen Präsenz eine gewisse Sakralität des öffentlichen Raumes, die es dann zu verteidigen gilt. In der Regel erzeugt der lautsprecherverstärkte Gebetsruf die heftigsten Reaktionen (wie z. B. in Duisburg, vgl. dazu Tezcan 2000), während Moscheebauten, ja selbst Minarette eher verhandelbar erscheinen. Andererseits darf man daraus nicht eine ungeschichtliche Erscheinung machen, die einfach in der Natur der interreligiösen Begegnung läge und ungeachtet der spezifischen Umstände mit einer Naturnotwendigkeit zu Konflikten führte. Die französische Soziologin Claire de Galambert (2004) beschreibt sehr plausibel ein Moscheebauprojekt aus Mantesla-Jolie (Moont la Joli) in Frankreich, das Mitte der 70er Jahre begann und 1981 abgeschlossen wurde. Sie legt dar, dass der Konflikt damals weitgehend lokal und thematisch sehr begrenzt geblieben sei. Dies habe im Wesentlichen damit zu tun gehabt, dass der Islam damals keine weltpolitische Bedeutung bzw. Aufgeladenheit besaß, wie es hingegen heute der Fall ist. Von England sind wiederum solche Konflikte um Moscheebauprojekte kaum zu vermelden (Husband 2004) – offenbar spielt die jeweilige Nationalkultur mit ihrer spezifischen, historisch gewachsenen Form der Einbettung der Fremden mit herein. Neben der weltpolitischen Aufgeladenheit der islamischen Präsenz vor Ort sind die sozialen Probleme zu erwähnen, die sich vornehmlich in den Stadtteilen kumulieren, in denen auch eine muslimische Präsenz eher vorhanden ist. Da der Islam weiterhin eine Einwandererreligion ist und die Einwanderer an der sozialen Skala die unteren Etagen belegen, kommt es zu einer gefährlichen Mischung in den sozial schwachen Stadtteilen. Sozial schwache Alteingesessene und Einwanderer begegnen sich in einem durch den Problemdruck belasteten Alltag. Die kaufkräftigen Alteingesessenen, aber auch aufsteigenden Einwanderer verlassen diese Stadtteile, worauf dann meist das Schließen von Geschäften folgt. Bruckhausen in Duisburg ist nach Abbau von Tausenden von Arbeitsplätzen auf dem Bergbau zu einem Stadtteil verkommen, der kaum mehr Infrastruktur besitzt. Marxloh, das immerhin seit jeher einen eigenen, belebten Stadtteilkern hatte, ist zumindest in der Wahrnehmung der deutschen Alteingesessenen auf demselben Wege. In einem solchen belasteten sozialen Klima erscheint eine Forderung nach Gebetsruf per Lautsprecher als ein Knotenpunkt, an dem alle einzelnen Probleme zusammenlaufen und explosiv artikuliert werden (zu diesem Themenkomplex vgl. mehrere Beiträge in: Heitmeyer/Anhut 2000). Es handelt sich also nicht um abstrakte Veränderungen, sondern um solche, welche unmittelbar die Gruppenverhältnisse und damit die Machtbeziehungen im Stadtteil betreffen. Die visuelle und akustische, die sichtbare wohnhafte Präsenz der Fremden, die faktisch existiert, wird damit im Grunde symbolisch gefestigt. Gleichzeitig ergeben sich neue Wege angesichts der Erfahrungen, die die Bevölkerungsgruppen aus den Konflikten ziehen. So hat sich beispielsweise um ein großes Moscheebauprojekt in Marxloh ein Förderkreis herausgebildet, in dem Moschee- und Kirchenvertreter, Nachbarschaft sowie andere Vertreter zusammensitzen und bemüht sind, um das Projekt herum dauerhafte Kommunikation und Austausch anzuregen. Bei allen Problemen kann man sagen, dass die Konflikte um Moscheebauten letztlich auch integrative Effekte haben, weil dadurch die Menschen unterschiedlichen Glaubens, die lange Zeit Nachbarn waren, ohne viel miteinander zu tun gehabt zu haben, sich in der Auseinander-
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setzung kennen lernen. Weil es bei diesen Konflikten tatsächlich um etwas geht, hinterlassen sie im Falle einer relativ einvernehmlichen Lösung bleibende integrative Effekte, und im Konflikt stellt sich die Anerkennung ein, von der jüngst vielerorts viel zu viel und so unverbindlich gesprochen wird. Bei aller relativ einvernehmlichen Lösung vorhandener Konflikte bleibt gleichwohl eine Unsicherheit bestehen. Es ist eine wichtige Frage, ob sich die Religion (gegenwärtig oder schon immer?) auf eine besondere Art und Weise für Skandalisierungen sowie Sensationen eignet. Empirisch konnte man jedenfalls jüngst beobachten, wie aus einem einzigen Anlass wie z. B. dem Mordanschlag am holländischen Künstler Theo van Gogh die ganze öffentliche Stimmung umzukippen droht und die Präsenz der Muslime überhaupt in Frage gestellt werden kann. In solchen Momenten drohen die Errungenschaften des wechselseitigen Arrangements sehr leicht verloren zu gehen.
2. Die heikle wie unumgängliche Frage der Institutionalisierung Als ein wichtiges Feld der Kommunikation über den Islam und mit den Muslimen fällt die Frage der Institutionalisierung auf. Damit wird einerseits dem Faktum Rechnung getragen, dass der Islam sich in Europa doch mehr oder weniger etabliert hat und die Muslime dauerhaft einen Teil der Bevölkerung ausmachen. Auf der anderen Seite soll man gerade durch die Institutionalisierung einen legitimen Ansprechpartner und benennbare Orte haben, um negativen, sprich fundamentalistischen Entwicklungen entgegenzuwirken. Hier laufen Ordnungsinteressen (Verwaltung der Bedürfnisse, Abwehr gefährlicher Tendenzen) und politische Konzepte wie Gleichheit und Religionsfreiheit zusammen. Neben der Geschlechterfrage, symbolisiert durch die Schleier, die europäischen Befindlichkeiten empfindlich (be-)trifft, scheint somit die Institutionalisierungsfrage ein weiteres zentrales Feld in Sachen Islam auszumachen. Wer soll den Islam repräsentieren? Da die europäischen Gesellschaften sich am Modell der Kirche orientiert und in Auseinandersetzung mit ihr entwickelt haben, wird mitunter auch die Frage gestellt: Wo ist die islamische Kirche? Überhaupt ist der Moscheeverein bzw. Moschee als Organisation ein Produkt der Migration, entstanden unter den Bedingungen europäischer Rechtsnormen und politischkultureller Traditionen, wo Religion als ein „apartes“ Gebilde erkennbar ist (Matthes 1992). In den mehrheitlich muslimischen Ländern, beispielsweise in der Türkei, ist die Moschee lediglich ein religiöser Ort und keine Organisation; sie wird von einer staatlichen Religionsbehörde verwaltet. Dadurch stellt sich für die Muslime jedenfalls bezogen auf die Institution der Moschee nicht die Frage, für welche Gruppe sie Partei ergreifen müssen, um von deren Infrastruktur Gebrauch machen zu können.1 Die administratorische Einbindung und politische Kontrolle der Ulema (Geistlichen) in der Türkei korrespondieren folglich mit dem spezifischen institutionellen Charakter der Moschee, die sich gerade infolge der staatlichen Verwaltung von politischen und weltanschaulichen Differenzen fernhalten kann. Die Moschee als religiöses Zentrum, fern weltanschaulicher Differenzen2, entspricht wiederum einer Religiosität, die weitgehend auf die Ausübung ritueller Pflichten beschränkt bleibt und in der ethisch-moralischen Ausrichtung des alltäg-
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lichen Handelns eingewurzelt ist. Diese Art der Religiosität, die ritualistisch orientiert ist und keiner dezidierten religiösen Organisation bedarf, gilt auch für die Mehrheit der muslimischen Einwanderer in Europa. Sie wird allerdings gerade unter den Bedingungen westlicher Gesellschaften gewissermaßen schwierig. Eine dem Türkischen relativ ähnliche staatliche Kooptierung intendierte wohl auch der französische Staat, als 1995 der Innenminister Pasqua mit einem Konzil ein Abkommen unterzeichnete und eine zentrale Repräsentanz schaffen wollte. Anders als in Deutschland beteiligen sich allerdings am bestehenden repräsentativen Rat der Muslime nicht allein Moscheeassoziationen, sondern Intellektuelle und andere öffentlich angesehene Personen mit muslimischem Hintergrund, was die Repräsentationsfrage in Frankreich völlig different auftauchen lässt. In Deutschland hingegen kommt es auf die Moscheevereine bzw. Dachverbände als Vertreter einer authentischen Religion an. Die unvermeidliche Institutionalisierung des Islam bringt somit eine Tendenz mit sich, dass Muslimsein in einem neuen Sinne politische Bedeutung bekommt. Um fortan als authentischer Muslim zu gelten, muss man erkennbar sein und sich auch als solcher repräsentieren. Hier taucht ein Paradox auf. Das politische Interesse zielt darauf, einen unpolitischen, „rein“ religiösen Islam ausfindig zu machen. Aber das, was sich da als islamischer Repräsentant ins Spiel bringt, ja bringen kann, sind Organisationen mit einer bestimmten politischen Geschichte und mehrfachen Bindungen an die Mutterorganisationen in der alten Heimat, die jetzt qua Gesetz eine religiöse Legitimation anstreben. Und mit diesen Organisationen hat man eben politische Probleme. Dann setzt sich bei der Suche nach Ansprechpartnern ein unaufhörliches Spiel in Gang: Ist der oder der Moscheeverein koscher? Das ist ein Problem, das unmittelbar aus dem Institutionalisierungsprozess hervorspringt. Institutionalisierung erweist sich als unvermeidlich, bringt aber das Problem der Legitimation mit sich. Einmal die Frage, ob und wen der jeweilige Verein repräsentieren darf; also die Legitimation innerhalb des Rechtsrahmens. Es taucht aber auch die Frage der innerislamischen Legitimation auf, die man eher „theologisch“ nennen könnte: Darf denn diese Gruppe den Islam repräsentieren, sind dogmatische Grundsätze notwendig und woher sollen sie kommen, auf welcher/wessen Legitimität sollen sie beruhen? Nimmt man allerdings den Ausdruck „religiöse Organisation“ ernst, dann ist zumindest deutlich, dass sie ausdrücklich ihre Mitglieder repräsentiert. Diesem eher organisationssoziologischen Modell steht die gesellschaftspolitisch überzogene Erwartung nach einer generellen religiösen Repräsentation gegenüber, zumal ja alle Muslime als Mitglieder einer muslimischen Gemeinschaft (Umma) wahrgenommen werden, und zwar als Quasi-Rechtsgemeinschaft, die als Kollektiv betrachtet wird. Überhaupt taucht für die Mehrheit der Muslime, für die der Heilsweg mit einem absoluten Individualismus verbunden und das Wissen des Imam eher eine Wegweisung ist als eine Autoritäts- und Repräsentationsbeziehung, die Religion zum ersten Mal in einem Repräsentationszusammenhang auf und wird dadurch auch politisiert. Die Moscheegemeinde wird in eine Kommunikation hineingezogen und sie drängt im Gegenzug selber in diese ihr angebotene Kommunikation hinein, gegen deren Erfordernisse sie aber als Institution nicht gewappnet ist. So sieht sich die Moscheegemeinde immer mehr dazu gezwungen, als eine Ortsgemeinde mit einer korporativen Identität, organisatorischem Rüstzeug und dem Imam an der Spitze als Gemeindevertreter bzw. Funktionsträger aufzutreten.
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Damit geht die Tatsache einher, dass die pragmatisch orientierte und in keinem Repräsentationsverhältnis stehende Religiosität der Mehrheit der Muslime unter dem Gesichtspunkt einer organisierten Repräsentation kaum wahrgenommen werden kann.3 Hier stecken übrigens die Tücken des Anerkennungsdiskurses, den sich auch einige muslimische Organisationen nur zu gerne zu Eigen machen. Damit ist der Umstand gemeint, dass eine religiös unterlegte Identitätspolitik Auftrieb bekommt, die die Einwanderer muslimischen Glaubens auf eine muslimische Identität festlegt und danach strebt, eine staatlich anerkannte Community-Repräsentation zu etablieren.4 Die Frage der Institutionalisierung steckt somit verschiedentlich in einem Dilemma. Dem Dilemma versuchen die Institutionen wie die Politik eher pragmatisch zu entkommen. So werden, obwohl es offiziell kein institutionelles Zentrum des Islam in Deutschland gibt, die Moscheen der türkischen Religionsbehörde (der Dachverband DITIB) inoffiziell als offizielle Vertreter aufgesucht. Am wenigsten hier vermutet man einen fundamentalistischen Einfluss, weil nicht zuletzt der türkische Staat mit seinem offiziellen Laizismus als eine Gewähr dafür stehen soll. Andererseits bestehen hier auch Bedenken, da man sich wiederum nicht (mehr) auf einen ausländischen Staat verlassen will, der seinerseits Interesse daran hat, dass seine (ehemaligen) Bürger ihre nationale Identität bewahren. Die Distanz konkretisiert sich insbesondere bei der Ausbildung der Imame, die auf Dauer in Deutschland stattfinden soll.
3. Körper und Geschlechterfrage: Wie die islamische Präsenz das alltägliche „Heilige“ berührt Die öffentlichen Debatten letzter Zeit legen unmissverständlich Zeugnis davon ab, dass das Kopftuch einige europäische Gesellschaften empfindlicher trifft als jedes andere auf den Islam bezogene Thema – mit Ausnahme der Terrorfrage. Zunächst einige Informationen über den Konflikt, der fast zeitgleich in zwei zentralen europäischen Ländern, in Frankreich und Deutschland, ausbrach: In Frankreich wurde das Kopftuchtragen wie alle anderen ostentativen religiösen Symbole verboten, und zwar sowohl für die Schülerinnen wie auch für Lehrerinnen. Dabei war selbst die Öffentlichkeit des laizistischen Frankreich bei dieser Frage keineswegs einstimmig. Dennoch kann man sagen, dass hier weiterhin die zentrale Dramatik der französischen politischen Kultur wieder inszeniert wurde: die Schule der Republik als Ort der civil religion vs. Kirche, in diesem Fall die religiösen Symbole in staatlichen Einrichtungen. So verbot Frankreich gleich alle religiösen Symbole in öffentlichen Schulen. In Deutschland ist die Sachlage etwas anders, die Aufgeladenheit des Themas aber gleich hoch zu veranschlagen. Das Verfassungsgericht hatte befunden, dass dem Kopftuchverbot eine gesetzliche Grundlage fehlt. So gab das höchste Gericht die Entscheidung an die Politik zurück. Im Unterschied zu Frankreich betrifft ein Verbot in Deutschland allerdings nur die Lehrerinnen, wobei mittelbar auch die Schülerinnen davon betroffen sind, sofern sie später einen öffentlichen Dienst anstreben. Es ist nicht meine Absicht, hier auf den (menschen-)rechtlichen Aspekt (prägnant dazu
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vgl. Bielefeldt 2004) einzugehen. Im Folgenden möchte ich lediglich einige Aspekte hervorheben, die einen relativierenden Effekt auf den gegenwärtig unkontrolliert grassierenden Kulturdiskurs zeitigen sollen5: 1. Zunächst einmal relativierte die Behandlung der Kopftuchfrage die allgemeine Rede von der „europäischen Kultur vs. Islam“. Denn es ergaben sich ganz unterschiedliche Umgangsformen – wenn man so will, durchaus „kulturelle“ Unterschiede selbst innerhalb Europas. Während in England das Tragen religiöser Symbole in öffentlichen Einrichtungen (darunter auch in Schulen) durchgehend erlaubt ist, verbietet Frankreich das Tragen religiöser Symbole durchgehend. Deutschland wiederum schlägt eher einen Mittelweg ein und bürdet sich damit gleichzeitig solche Verrenkungen auf, definieren zu müssen, was als religiöses Symbol, als religiöses Gebot und was als politische Indoktrination gilt. 2. Es stehen bei diesem Konflikt nicht einfach Nichtmuslime den Muslimen gegenüber. Die Konfliktlinie verläuft durch alle Volksgruppen und politischen Strömungen sowie ethnischen, religiösen Gemeinschaften hindurch. Nicht nur die Sozialdemokraten und Grünen waren geteilter Meinung, sondern auch, und das in besonderem Maße, Feministinnen. Das Verbot erntete sowohl Fürsprache, weil Kopftuch die Unterdrückung der Frau symbolisiere (so Alice Schwarzer), als auch Ablehnung, weil sich die Frauen keine Kleiderordnung von außen aufoktroyieren lassen sollten. Der Streit spaltete auch die Einwanderer muslimischen Glaubens. Hier schaltete sich eine Gruppe von (meist türkischstämmigen) Einwanderinnen öffentlich mit der Stellungnahme ein, dass das Kopftuchverbot für Lehrerinnen in den öffentlichen Schulen keineswegs die Religionsfreiheit beeinträchtige. Letzten Endes kann konstatiert werden, dass die Kopftuchfrage die ganze Emanzipationsfrage, die ja seit einiger Zeit ein wesentlicher Bestandteil europäischer Selbstverständnisse geworden ist und im globalen Kulturwettbewerb als Markenartikel feilgeboten wird, völlig auf den Kopf gestellt hat. Hatte denn nicht zuvor die Frauenbewegung gegen körperliche Zwänge bzw. Unterdrückung weiblichen Körpers aufbegehrt? Nun treten junge Frauen mit freiwillig auferlegtem Kopftuchzwang auf den Plan und formulieren dabei das Motto der Frauenbewegung um: „Mein Kopf gehört mir.“ Damit berühren sie im Grunde eine weitere heilige Selbstverständlichkeit moderner abendländischer Gesellschaften. Hier hatte sich eine diskursive Verkettung zwischen Subjektivität, Reflexivität und Körper hergestellt, die unmittelbar in Emanzipation mündet. An der Kopftuchfrage bricht diese Kette auf, sie funktioniert nicht mehr reibungslos. Die Unterwerfung unter Gebote körperlicher Verhüllung präsentiert sich als eine „selbstbewusste, eigene Entscheidung“. Die Quintessenz meiner Ausführungen dazu lässt sich folgendermaßen formulieren: Die Präsenz des Islam bringt nicht einfach völlig neue Problemlagen in die westlichen Öffentlichkeiten hinein; vielmehr lässt sie bestehende, zum Teil überwunden geglaubte Konflikte und Differenzen neu aufbrechen. Man kann auch umgekehrt fragen: Hätte denn der Islam so viel Aufsehen erregt, wenn er nicht im Mindesten die ureigenen Fragen dieser Gesellschaften berührt hätte? 3. Bei der Heftigkeit der Reaktionen und der Spaltung bestehender politischer Lager und gesellschaftlicher Gruppen drängt sich die Vermutung auf, dass mit dem Kopftuch etwas Heiliges in den europäischen Gesellschaften berührt wird. Und zwar nicht einfach nur das Christentum betreffend. Denn hier gab es zumindest in Deutschland keine kom-
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promisslose Frontstellung. Außerdem haben ja hierzulande auch Frauen bis vor einer Generation noch häufig Kopftuch getragen, die Nonnen tun es weiter. Gemeint sind vielmehr Vorstellungen von Körper und Geschlecht, die im besonderen Maße affiziert werden. An dieser Stelle möchte ich mir erlauben, etwas mehr als bisher ins Spekulative hinein zu argumentieren. Dabei möchte ich auf die Bilder hinweisen, welche die mediale Präsentation der Muslime in der Öffentlichkeit nahezu ausnahmslos begleiten. Ich habe konkret das Bild von betenden Massen im Blick. Immer wenn von Islam die Rede ist, dann werden derartige Bilder eingeblendet. Welche Signale enthalten sie denn, was macht sie denn bedeutungsschwer, dass sie immer wieder fast wie, ja eigentlich als, ein Ritual zelebriert werden? Interessant ist z. B., dass die Betenden immer in der Position gefilmt werden, wenn sie sich niedergeworfen haben. Das trifft insofern die Sache, als ja das Wort Islam auch mit Sichunterwerfen/-niederwerfen zu tun hat.6 Eine ganze Körpermasse wirft sich dabei wie eine Maschine nieder. Welche Gefühle erzeugen nun solche Bilder für Angehörige einer Religion, deren Glaube sich weitgehend intellektualisiert und mehr aufs Wort verlagert hat? Welche Assoziationen löst diese körperliche Präsenz aus? Ich vermute eine ambivalente Haltung. Einerseits kann man eine gewisse Faszination unterstellen, sonst würde man ja diese Bilder nicht unendlich wiederholen. So wie die Reflexion in der europäischen Kulturgeschichte immer gefeiert wurde, so hat sie auch immer ein kulturkritisches Aufbegehren gegen den Reflexionszwang begleitet. Die Suche nach der natürlichen Harmonie, die man vermeintlich bei den so genannten „Naturvölkern“ fand, ja gar die Romantisierung der Natur und der Natürlichkeit, die Fantasien über den Orient waren schon immer unabwendbare Begleiterscheinungen der modernen Weltwahrnehmung. Kann es sein, dass im Anblick betender Massen eine Körperlichkeit vermutet wird, von der man glaubt, dass sie einem abhanden gekommen ist? Dabei ist es fraglich, ob die Betenden tatsächlich eine solche totale innere Hingabe empfinden oder sich nicht vielmehr einfach in ein Geschehen einordnen. Jedenfalls kulminieren alle einzelnen Vorstellungen vom Islam in dem Bild eines sich automatisch bewegenden Gesamtkörpers – oder in den Bildern von außer sich geratenden, wütenden oder aber auf jeden Fall chaotisch anmutenden Massen. Man meint nicht selten eine innige, bedingungslose Hingabe an den Glauben, den man bei sich oder zumindest bei den Anhängern der eigenen Religionsgemeinschaft vermisst. Ein solches Bild löst jedoch gleichzeitig eine Abwehrhaltung aus, darin liegt ihre Ambivalenz begründet. Die Bilder wirken bedrohlich, denn die eigene Individualität könnte in der Masse von Körpern verschwinden. Ähnlich wie um die möglichen Effekte dürfte es auch um das Kopftuch bestellt sein. Einerseits hat das Beharren von Frauen auf der Einhaltung der Gebote ihrer Religion, so wie sie sich auslegen, etwas für sich. Eine Art unbedingte Hingabe demonstriert sich hier, die nicht einfach eine Rolle für ihren Glauben in der Kultur sucht, sondern den Glaubensanspruch absolut setzt.7 Andererseits führt die Imagination vom Kopftuch sehr leicht und unter historischen Bedingungen nicht ganz ohne Recht zur Burka, zur ganzkörperlichen Verschleierung der Frau unter der Talibanherrschaft, in der die Frauen tatsächlich als eine gesichtlose Masse erschienen. In dem Kopftuch nimmt man etwas wahr, was demnach
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eine Spitze des Eisberges wäre. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten mag diese Assoziation nicht legitim sein. Im politischen Bewusstsein, aber auch in der alltäglichen Wahrnehmung hingegen, steht das Kopftuch in einer Reihe politischer und kultureller Entwicklungen in globaler Reichweite. Ist nun diese Wahrnehmung etwas Zeitloses, oder hat sie doch auch mit unserer Zeit etwas zu tun, also auch mit dem Bedeutungsumfeld, in das der Islam seit einiger Zeit eingebunden ist? Ein Problem hängt vermutlich damit zusammen: So wie es sich heute präsentiert, geht das Kopftuch auf eine politische Bewegung in den muslimischen Ländern zurück, in der es als eine disziplinäre, standardisierende Zuchtrute im öffentlichen Raum aufgetaucht ist und über staatliche Regelung zu einem Kulturwerkzeug umgemodelt wurde. Es ist dort vielmehr der Ausdruck einer fundamentalistischen Massenreligiosität, die die Gesellschaft uniformiert und bestimmte religiöse Vorstellungen als öffentliche Norm zur Gestaltung der Gesellschaft durchsetzen will. So sehr auch diese Gefahr für Deutschland nicht bestehen mag, dem Kopftuch haftet dieser genealogische Makel an, der in der juristisch ausgerichteten Debatte keinen Ort haben kann, auf das öffentliche Gemüt hingegen offenbar unterschwellig wirkt. Ein weiterer Grund für Aufregung dürfte darin bestehen, dass mit dem Kopftuch eine bestimmte Art von sozialer Regulation verbunden ist, die das gegenwärtige westlich-moderne Selbstverständnis im Kern trifft. Bei aller subjektivierenden Deutung (z. B. „Kopftuch aus freiem Entschluss“) darf man nicht vergessen, dass das Verhüllungsgebot auf folgender Grundidee basiert: Damit Männer nicht verführt werden, soll sich die Frau bedecken. Ich glaube, die Heftigkeit der Auseinandersetzung (nicht nur zwischen Christen und Muslimen, sondern innerhalb der Muslime selbst) hat in erheblichem Maße mit dieser spezifischen Art der Triebmodulation zu tun. Die künftige Debatte könnte diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit schenken.
Schlussbemerkungen Zum Schluss meines Beitrags werde ich nicht meine Ausführungen zusammenfassen. Stattdessen soll hier ein Punkt hervorgehoben werden, der in der öffentlichen Debatte sehr prominent geworden ist. Es geht um die Frage der Kultur, besser gesagt um die äußerst schwierige Frage, die man insbesondere in unserer globalisierten Welt nicht umgehen kann, mit der wir aber einen differenzierten Umgang entwickeln müssen. Denn die Kultur ist bei aller Berechtigung, sie zu berücksichtigen, zugleich eine trügerische Angelegenheit. Zweifellos ermöglicht eine Klärung über die kulturellen Bezüge unseres Handelns eine besseres Fremd- und Selbsterkenntnis, um die wir nicht herumkommen. Das Kultur-Argument, von dem seit dem Diskurs „Clash of Civilization“ üppig Gebrauch gemacht wird, kann aber auch dazu dienen, politische Dimensionen öffentlicher Belange zu neutralisieren und somit Beziehungen zwischen den Angehörigen von Religionsgemeinschaften und Bevölkerungsgruppen so festzuzurren, dass diese sich als geschlossene Blöcke gegenüberstünden. Dann nämlich kommt man in eine Lage (oder wird man in eine Lage hineingedrängt), in der man nicht mehr als politisches Subjekt denkt und handelt,
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sondern als ein ethnisches oder religiöses Gattungswesen einen eingebauten Kulturcode abspult. Dann wäre es aber nicht mehr so, dass wir es mit gesellschaftlich relevanten Fragen zu tun hätten, über die dann in vielen sozialen und kulturellen Gruppen kontrovers debattiert würde, sondern mit fixen ethnischen und religiösen Gruppen, die nun homogen ihre naturgemäß vorgegebenen Interessen verfolgten: Fixiert man sich auf derartige Kulturautomaten, so wird nicht nur die kontroverse Haltung in den jeweiligen Gruppen, Ländern, Religionsgemeinschaften etc. aus den Augen verloren. Wir geben dadurch auch dem unheiligen Diskurs vom Kampf der Kulturen einen Auftrieb, welcher eine der größten Herausforderungen unserer Zukunft sein wird: eine Herausforderung für alle Kulturen, wenn man so will.
Anmerkungen Die Gruppendifferenzen, die es selbstverständlich gibt, artikulieren sich dort entlang der Institutionen wie Parteien, Unternehmen (Stiftungswesen + Ordensgemeinschaften), Koranschulen etc., nicht aber der Moschee. 2 Diese Differenzen äußern sich in anderen Bereichen, z.B. in Gestalt von Parteien oder der Bruderschaften, die oft als Stiftung und damit zusammenhängende Unternehmensgruppen existieren. 3 Diese Muslime besuchen vornehmlich die Moscheen der türkischen Religionsbehörde, die man auch analog zu christlichen Institutionen als eine Art „Volkskirche mit ihrer weltfreundlichen Moral“ (nach Troeltsch 1964) verstehen kann. Die Organisationen der Bruderschaften sowie partiell die der Milli Görüs könnte man nach diesem religionssoziologischen Schema wiederum analog als „Sekte“ bezeichnen, die schon auf einem gewissen religiösen Virtuosentum basieren und sich durch eine Art religiöse Durchbildung auszeichnen. 4 So gesehen bleibt der von der Islamischen Föderation in Berlin angebotene Religionsunterricht weiterhin bereits unter den Muslimen umstritten, weil sie dadurch ungewollt den Repräsentationsanspruch dieser Gruppe und die von ihr angebotenen Inhalte akzeptiert hätten. 5 Für ausführliche Informationen und länderübergreifenden Überblick vgl. Oetreich 2004 und die Internetseite Qantara http://www.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-548/i.html 6 Das muss aber nicht wie gemeinhin geglaubt eine politische Unterwerfung bzw. eine Autoritätshörigkeit zur Folge haben. Genauso kann umgekehrt eine Unterwerfung vor Gott die politische Option stützen, sich nur Gott und sonst niemand zu unterwerfen. Eine überstürzte Übersetzung theologischer Konzepte ins politische Handeln schlägt oft fehl. 7 Das bedeutet allerdings nicht im Umkehrschluss, dass dem Nichttragen des Kopftuchs ein schwacher Glauben zugrunde läge und dies folglich nicht authentisch wäre. 1
Potenziale erkennen und wahrnehmen
Culture matters – das war einleitend festgestellt worden. Nach dem auf Konflikte und Verwerfungen abhebenden zweiten Teil suchen die Autoren des dritten Teils nunmehr nach Wegen, sich in einer postsäkularen Welt zu orientieren, die in der Selbstvergewisserung in Kultur und Religion – nicht zuletzt als Antwort auf die Globalisierung – auch im christlich geprägten Raum ein unübersehbarer Trend ist. Ein optimistischer Grundton herrscht vor, denn die Frage, ob offensichtlich bestehende Verwerfungen sowohl global wie auch lokal entspannt werden können, wird von den Autoren im Prinzip positiv beantwortet. Das Spektrum der Antworten auf die Frage, was zu tun sei, ist breit gefächert. Auf der einen Seite steht die Forderung nach praktischer und pragmatischer Selbstreflexion. Integration als Strategie gedeihlichen Zusammenlebens setzt das Erlernen der Sprache und die Bereitschaft voraus, theologische und ethnische Unterschiede der verschiedenen Herkunftsländer in den Hintergrund zu stellen. Die Muslime aufnehmende Gesellschaft muss sich verstärkt um emotionalen und sozialen Anschluss muslimischer Migranten an die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft kümmern. Eine besondere Rolle wird den Medien beigemessen: Auf Stimmungen und öffentliche Emotionen ausgerichtet paktieren sie häufig mit den falschen politischen Kräften, denen sie Öffentlichkeit und Foren für Publizität geben. Der unheilvollen Symbiose zwischen Terroristen und Medien gelte es entgegenzuarbeiten. Auf der anderen Seite sind Kulturen und Identitäten keine unveränderbaren Größen. Veränderungen können freilich nur von innen geschehen. Das Vertrauen ist nicht unbegründet, dass Kultur und Religion – richtig verstanden – Neigungen entgegenarbeiten können, Differenzen gewalthaft auszutragen. Keiner der Autoren zweifelt grundsätzlich daran, dass das multireligiöse Europa gelingen kann. Udo Steinbach
Hamideh Mohagheghi
Muslime in Deutschland – Zwischen Hinterhofdasein und gesellschaftlicher Anerkennung Nach 40 Jahren Einwanderung aus den muslimisch geprägten Ländern hat sich die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung verändert und der Islam ist eine der drei großen Religionen in Deutschland. Um diese Tatsache zu verinnerlichen, bedarf es auf beiden Seiten, sowohl bei der Mehrheitsbevölkerung als auch bei den Muslimen, einer Überprüfung, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Mittlerweile leben ca. 3,2 Millionen Muslime in Deutschland; davon ca. 802 000 mit deutschem Pass. Die Zahl der hier geborenen Muslime beträgt ca. 900 000. Das sind beachtliche Zahlen, so dass die Mitwirkung der Muslime in gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten nicht mehr ignoriert werden kann. Die Muslime durchlaufen noch teilweise den Prozess, als vollwertige Mitbürger anzukommen und von der Mehrheitsgesellschaft angenommen zu werden. Es wird immer noch die Frage gestellt, wie weit sich Muslimsein mit Bürger/Bürgerin einer westlichen Welt vereinbart.
Ein kurzer Blick in die Geschichte der Anwesenheit der Muslime in Deutschland Die Begegnung mit den Muslimen geht in der Geschichte weit zurück. Schon Karl der Große pflegte gute Kontakte zu Bagdad, dem damaligen Zentrum des islamischen Kalifat. Vor allem waren die Handelsbeziehungen Anlass für freundschaftlichen Austausch von Geschenken und Gesandten. Obwohl in der gleichen Zeit Karl der Große gegen die Araber in Spanien Krieg führte, beeinträchtigte dies nicht die gute Beziehung zum islamischen Kalifat in Bagdad. Die Präsenz der muslimischen Soldaten im 18. Jahrhundert und das Bemühen der Könige, ihnen die Möglichkeit zu schaffen, ihre religiösen Praktiken ausüben zu können, wie z. B. die Einrichtung von Gebetsräumen in den Kasernen, sind exemplarisch für die Akzeptanz und den Respekt vor einer fremden Religion. Der erste islamische Grundbesitz auf deutschem Boden war ein Friedhof. Als im Jahr 1798 der türkische Gesandte und Botschafter am Berliner Hof, Ali-Aziz-Effendi starb, erwarb König Friedrich Wilhelm III. ein Gelände in Hasenheide, das als Grabstätte für Muslime dienen sollte. Eigentümer dieses Friedhofes war von Anfang an das Osmanische Reich. (Der Friedhof wurde im Jahr 1866 verlegt, gegenüber dem Demewitz-Friedhof.)
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Im Jahr 1922 wurde von Maulana-Sadruddin, einem indischen Imam, die erste organisierte islamische Gemeinde in Berlin gegründet. Zwei Jahre später konnte die Gemeinde in Berlin-Wilmersdorf eine Moschee eröffnen, die erste, die Muslime selbst gebaut haben. Sie war bis 1945 Mittelpunkt des islamischen Lebens in Deutschland. Das Zentralinstitut Islam-Archiv wurde 1927 in Berlin gegründet und ist bis zum heutigen Tage aktiv. 1932 gründeten 60 muslimische Flüchtlinge aus der Sowjetunion gemeinsam mit deutschen Muslimen eine deutsche Sektion des islamischen Weltkongresses in Berlin. Unter deren Dach schlossen sich im Jahr 1933 alle muslimischen Vereinigungen zusammen. Die hier lebenden Muslime waren meistens Kaufleute, Akademiker, Forscher und Schriftsteller. Auf dieser Ebene fanden Begegnungen mit Andersgläubigen statt. Für die breite Masse der Bevölkerung waren sie, wenn man sie kannte, Exoten, die man evtl. aus 1001-Nacht-Geschichten kannte. Es scheint, dass die Angelegenheiten, deren Durchführung sich heutzutage teilweise als sehr problematisch darstellen, wie z. B. Moscheebau oder Einrichtung muslimischer Friedhöfe, seinerzeit als eine Selbstverständlichkeit betrachtet wurden.
Die Muslime seit den 60er Jahren in Deutschland Nach dem 2. Weltkrieg, als zum Aufbau des zerstörten Nachkriegsdeutschland die ersten „Gastarbeiter“ auch aus der muslimisch geprägten Türkei nach Deutschland kamen, waren sie Menschen, die zuerst als fleißige Arbeitskräfte wahrgenommen wurden. Die angeworbenen „Gastarbeiter“ mussten zuerst sehen, wie sie sich in dem fremden Land mit den alltäglichen Begebenheiten zurecht finden. Der Begriff „Gastarbeiter“ könnte so verstanden sein: Der Gastgeber war froh, diese Menschen als Arbeitskraft für den Aufbau gewonnen zu haben, und war sicher, dass der „Gast“ ja irgendwann nach Hause geht! Der „Gast“ fühlte sich hier als eine Kraft, die gut funktionieren sollte und gut verdienen konnte, um später in seiner Heimat ein besseres Leben zu haben. Somit verstärkte sich das Gefühl, dass dies nicht ein Dauerzustand sein werde, und führte zu einem Leben „nebeneinander“, ohne viel Interesse für die Lebensweise der anderen zu zeigen. Die Deutschen nahmen zur Kenntnis, dass diese Menschen besondere Essensgewohnheiten hatten, dass sie fünfmal am Tag beteten und einen Monat im Jahr fasteten. Die muslimischen „Gastarbeiter“ bemühten sich, ihre Traditionen und Religion vor den Außeneinflüssen zu bewahren, der Kontakt zur Mehrheitsbevölkerung hielt sich in den Grenzen des Arbeitsplatzes. Später waren sie bemüht, Wege zu finden, die mitgebrachten Werte und Religiosität an die Kinder weiterzugeben. So entstanden die ersten bescheidenen Gebetsräume in den hintersten Ecken der Hinterhöfe Deutschlands, in denen die Muslime ein Stück Heimat in dem ihnen fremden Land aufgebaut haben. Da sie wenig oder gar keinen Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft hatten, blieben diese Gebetsräume und die nach und nach aufgebauten Lebensmittelgeschäfte lange Zeit für die deutsche Gesellschaft nahezu unbekannt.
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Es gab wenige Dialogveranstaltungen und Arbeitsgruppen zwischen Christen und Muslimen, die dann auch ausschließlich den Theologen und Wissenschaftlern vorbehalten blieben und kaum Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Leben im Alltag hatten. Sie waren aber Ansätze für ein besseres Verständnis füreinander und bildeten im Nachhinein eine wichtige Basis für weitere Annäherungen. Die Lebensweise der Muslime, die durch ihre ansteigende Anzahl sichtbarer wurde, zog immer mehr Aufmerksamkeit auf sich, und ab Ende der 70er Jahre kamen immer mehr Fragen auf, die das gegenseitige Kennenlernen und mehr Dialog unentbehrlich machten.
Der politische Islam Die Revolution im Iran Ende der 70er Jahre und die Bilder in den Medien, die meistens einen furchterregenden und fanatischen Islam darstellten, vermittelten ein neues Bild des Islam und der Muslime, ein politisches. Die Berichterstattungen und der daraus entstandene Eindruck, dass der Islam die Weltherrschaft anstrebe und eine Staatsform wie im Iran fördere, schürte Bedenken und Angst. Man wurde aufmerksam und skeptisch gegenüber hier lebenden Muslimen und ihren Organisationen, die durch den Anstieg ihrer Anzahl sichtbarer geworden waren. Es fanden öffentliche Diskussionsveranstaltungen statt, die sich mehr auf die aktuellen politischen Ereignisse bezogen und den Versuch unternahmen, diese religiös zu erklären. Nicht selten waren die Muslime in der defensiven Haltung und versuchten aus dem Glauben eine Antwort auf die gestellten Fragen zu finden. Die sprachlichen und fachlichen Unkenntnisse sowie die für die Mehrheit der Muslime unbegreiflichen neuen Dimensionen erschwerten einen konstruktiven Austausch. Die kirchlichen Organisationen engagierten sich für Gespräche und interreligiöse Veranstaltungen, die mehr die Glaubensfragen in den Mittelpunkt stellten. Dennoch waren auch diese Veranstaltungen von den Vorurteilen belastet, die die christliche und islamische Geschichte prägen. Es wurden neue Arbeits- und Gesprächskreise gebildet, die sich um das bessere gegenseitige Verständnis bemühten, gleichzeitig wurde und wird immer wieder die Frage gestellt, ob der Islam mit den westlichen Werten überhaupt zu vereinbaren sei. Anscheinend nahm die Gesellschaft die Anwesenheit des Islam und der Muslime als einen Teil der Gesellschaft, der sich hier für immer etablierte, wahr. Obwohl die Politiker nicht bereit waren und es bis heute teilweise nicht sind, zu akzeptieren, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, bezeugen längst die Realität und das gesellschaftliche Bild diese Tatsache. Bei der Anwerbung der Arbeitskräfte wurde versäumt, diese Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, eine Politik, die bis heute nicht einsieht, eine systematische Integrationspolitik zu betreiben. Eine Politik, die es ermöglichen sollte, nicht nach 40 Jahren Aufenthalt in Deutschland immer noch als „Ausländer“ bezeichnet zu werden. Eine Politik, die akzeptieren sollte, dass das Bild der Gesellschaft nicht mehr homogen ist und sich
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bemüht, diese Vielfalt als eine Bereicherung zu verstehen und die Voraussetzungen schafft, dass alle Einwohner sich als gleichwertige Bürger des Landes fühlen.
Die Muslime in Deutschland heute Den Muslimen wird vorgeworfen, dass sie nicht integrationswillig sind und nicht sein können, weil der Islam nicht mit den freiheitlich-demokratischen Werten kompatibel sei. Die Mehrheit der Muslime zeigt jedoch mit ihrer Lebensweise, dass sie zuerst Bürger dieses Landes und dann Muslime sind. Dennoch gibt es Probleme, die das Zusammenleben in Deutschland erschweren. Es gibt Muslime, die mit ihren Gedanken noch in ihren Heimatländern leben, obwohl sie seit über 30 Jahren hier leben. So sind auch heute noch Muslime in Deutschland anzutreffen, die trotz jahrelangen Aufenthalts die deutsche Sprache nicht beherrschen. Hier muss von beiden Seiten noch viel Entwicklungsarbeit geleistet werden: Es ist erforderlich, dass auch die Muslime selbst in solchen Fällen Überzeugungsarbeit leisten. Die derzeitigen Sprachkursangebote, besonders für Frauen, in den Moscheen sind ein erfreulicher Anfang in Eigeninitiative, einen wichtigen Aspekt der Integration voranzutreiben. Die Politiker haben zwar schon festgestellt, dass das Beherrschen der deutschen Sprache an oberster Stelle einer vernünftigen Integrationspolitik stehen sollte, es wird jedoch immer noch nicht konzentriert und gezielt eine entsprechende Förderung vorgenommen. Die hier lebenden Muslime sind Individuen, die aufgrund ihrer Erziehung, Bildung und Herkunftsländer unterschiedliche Lebensformen haben. Der Einfluss der Traditionen der Herkunftsländer ist auch heute noch durch die starken familiären Bindungen vorhanden. Die junge Generation fühlt sich zwar nicht mehr zugehörig zu den Heimatländern ihrer Eltern und Großeltern; die Verbundenheit mit der Tradition ist aber vorhanden, und es gelingt nicht immer, eine konstruktive Brücke zwischen beiden Welten zu bauen. Der Islam ist keine institutionelle Religion, daher kann es auch keine zentrale Institution geben, die alle hier lebenden Muslime vertritt. Die Formel vom „fehlenden kompetenten Ansprechpartner“, die seit Jahrzehnten wiederholt wird, um die Sprachlosigkeit zwischen Gesellschaft, Politik und Muslimen zu rechtfertigen, betont diese Problematik. Es erweist sich immer wieder als schwierig, alternative Lösungen zu finden. Die Aufforderung, sich erst zu einigen, um als Ansprechpartner für Behörden gelten zu können, bedeutet für die Muslime, dass sie bereit sein müssen, die theologischen und ethnischen Unterschiede in den Hintergrund zu stellen. Dies ist entsprechend der Erfahrung der anderen Religionen kein einfacher Vorgang. Die Loslösung von den religiösen Strukturen der Heimatländer bzw. deren differenzierte Betrachtung ist eine wichtige Voraussetzung, in dieser Gesellschaft nach möglichen Wegen zu suchen, um als Bürger mit dem islamischen Glauben mehr Partizipation in der Gesellschaft und Politik zu erlangen. Bei den Muslimen wächst immer mehr das Bewusstsein, dass sie dauerhaft hier leben werden, und sie betrachten Deutschland zunehmend als ihre Heimat, besonders die junge Generation. Die Beteiligung an den gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten wird immer plausibler. Es bedarf einer geistigen Auseinandersetzung mit den eigenen
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Werten und dem Selbstbild, um den eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die bedingungslose Akzeptanz der hiesigen Gesetze und die Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Werte ist die Prämisse und wird von der Mehrheit der Muslime bereits in natürlichem Selbstverständnis erfüllt. Die Dialogveranstaltungen auf der Gesprächsebene sind nicht mehr ausreichend, es bedarf einer praktischen Ergänzung, die es Menschen möglich macht, nicht nur stets ihre unterschiedlichen Lebensformen zu thematisieren, sondern ihre Gemeinsamkeiten zu erkennen und für gemeinsame Interessen als Mensch und Bürger dieses Landes einzutreten. Die Dialogveranstaltungen und Gespräche gehen in den letzten Jahren mehr auf die gemeinsamen religiösen Feiern und Gebete über, gegenseitige Einladungen, die dann ein Gespräch über die alltäglichen Angelegenheiten ermöglichen. Man muss es wahrnehmen, dass nicht alle praktizierenden Muslime Theologen/Theologinnen sind, die stets Fragen über ihre Religion authentisch beantworten können. Religiosität kann auch traditionell weitergegeben werden; sie kann sich durch praktische Erziehung zu einer Lebensweise entwickeln, an der man sich orientiert, sich aber nicht immer wissenschaftlich und intellektuell mit ihr auseinander setzt. Die verheerenden Ereignisse vom 11. September und die darauf folgende weltpolitische Lage führten uns vor, wie auf einmal der vertraute Nachbar zu einem Verdächtigen werden kann. Die veränderte Situation der Muslime in Deutschland und allgemein im Westen zeigt, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben. Dies kann sowohl negativ als auch positiv gesehen werden: Positiv ist es, dass in dieser Zeit die Zahl der Veranstaltungen sprunghaft gestiegen ist, die sich mit dem Islam beschäftigen. Diese Veranstaltungen mit der Beteiligung der Muslime sind ein notwendiger Weg, sich gegenseitig kennen zu lernen und mehr voneinander zu erfahren. Die Muslime haben erkannt, dass die Initiative auch mehr von ihnen ausgehen muss, und es gibt mittlerweile das fachliche und sprachliche Potenzial unter den Muslimen, das sich in der Öffentlichkeit bemerkbar machen und zeigen sollte. Negativ an dieser Entwicklung ist, dass die Berichte über die verächtlichen und diffamierenden Äußerungen gegenüber den Muslimen bis heute anhalten. Die Muslime spüren und erfahren, dass sie mit anderen Augen gesehen werden. Ihre Organisationen stehen unter Beobachtung, sicherlich eine legitime Maßnahme für die Sicherheit, die aber belastend sein kann, wenn Angst und Generalverdächtigungen Oberhand gewinnen und allein die Praktizierung des Glaubens ausreicht, um als potenzieller Verdächtiger bezeichnet und behandelt zu werden. Die zahlreichen Medien in unserer Zeit spielen eine entscheidende Rolle in der Bildung der Meinungen. Die negativen Darstellungen haben die Oberhand und vermitteln ein Bild vom Islam und von den Muslimen, das die Ängste und Vorurteile begründet und verschärft. In Verbindung mit den Ereignissen vom 11. September werden die Wörter „islamisch“ und „muslimisch“ so oft benutzt, dass das Wort „Terrorismus“ und „Terroristen“ ohne dieses Adjektiv unvorstellbar scheint. Das Wort „Islamismus“ wird für die politisch-ideologische Bewegung verwendet, die den Islam als ihre Grundlage deklariert. Es gab und gibt in allen Religionen diese Erscheinungsform, die eher als extremistisch oder fanatisch zu bezeichnen ist. Mit dem Wort „Islamismus“ wird erstmalig in dieser Form der Name
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der Religion mit einer extremistischen Ausrichtung zusammengebracht. Es ist dann schwierig, eine Unterscheidung zwischen einem Muslim und einem „Islamisten“ zu machen. Es kommt oft vor, dass auch ein praktizierender Muslim als „Islamist“ bezeichnet wird, was ihn automatisch zu einem verdächtigen Menschen macht. Für die Muslime bedeutet dies, dass sie sich ständig erklären müssen, dass sie ja loyale Mitbürger dieses Landes sind. Auch diejenigen, die seit langer Zeit in Deutschland leben und ihre Loyalität mit ihrer Lebensweise längst erwiesen haben, werden auf einmal als potenzielle „Verdächtige“ gebrandmarkt. Die Minderheiten sind in allen Ländern und Gesellschaften eine Herausforderung für sich selbst und für die Mehrheitsgesellschaft. Die Mehrheitsgesellschaft muss sich den neuen Bevölkerungsgruppen positiv annehmen und ihnen die Möglichkeiten anbieten, sich in der neuen Heimat einheimisch zu fühlen. Die Minderheiten müssen wahrnehmen und akzeptieren, dass sie nicht alle Lebensgewohnheiten identisch wie in ihren Heimatländern weiterleben können, da die neue Umgebung und die Gesellschaftsstruktur anders sind. Das bedeutet eine bewusste und gegenseitige Wahrnehmung und ein Aufeinanderzugehen. Es ist ein wichtiger Bestandteil der Politik, besonders in den Einwanderungsländern, sich dieser Aufgabe anzunehmen und konstruktive Maßnahmen zu entwickeln, um deren Erfüllung voranzutreiben. Die vorhandene Religionsfreiheit und die Ausübung der Religiosität in der Öffentlichkeit sind ein wertvolles Rechtsgut in den Verfassungen der demokratischen Staaten, in Deutschland fest verankert in Art. 3, Absatz 3, und Art. 4 des GG. Somit verpflichtet sich der Staat zur Gewährung dieses Grundrechtes. Das bedeutet, dass er sich nicht zu einem Glauben bekennen darf und dass er dafür sorgt, dass alle Religionen gleich behandelt werden. Es ist den Glaubensgemeinschaften zu überlassen, die Inhalte des Glaubens selbst zu definieren; der Staat darf nicht diese Aufgabe übernehmen. Das bedeutet, dass die Minderheiten, in diesem Fall die Muslime, sich den gesellschaftlichen Normen anpassen müssen. Anpassung bedeutet nicht die Selbstaufgabe und Assimilation, sondern ein „Zusammenleben“ und „Zusammenwirken“, trotz unterschiedlicher Lebensformen. Diese Bedeutung müssen beide Seiten erfassen und verinnerlichen. Dafür müssen gegenseitige Anerkennung und Akzeptanz vorhanden sein. Anpassung bedeutet, dass man die Religiosität gemäß der Zeit und Gesellschaft ausübt, ohne den Grundwerten der Religion untreu zu werden. Dies ist möglich, und der Islam lässt es zu und fordert dies regelrecht von den Muslimen. Den praktizierenden Muslimen wird vorgeworfen, dass sie sich nicht anpassen können oder wollen. Wenn ein Muslim/eine Muslima die deutsche Sprache beherrscht, sich an alle Gesetze hält, im alltäglichen Leben wie jeder andere Mensch zur Schule geht, studiert oder arbeitet, aber davon überzeugt ist, dass er/sie sich an bestimmte Empfehlungen des Glaubens halten muss, die auch öffentlich sichtbar sind, ist es fraglich, ob er/sie als nicht anpassungsfähig bezeichnet werden kann. Die Erfahrung zeigt, dass dies getan wird, sogar bei deutschen Muslimen, die keine andere Kultur kennen als die „deutsche“. Sie haben dennoch durch ihren Glauben eine Lebensform, die immer in Verbindung mit einer fremden Kultur steht. Wenn von einer deutschen kopftuchtragenden muslimischen Frau erwartet wird, dass sie sich endlich anpasst, ist die Frage erlaubt, an was sie sich anpassen soll?
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Für die Muslime in Deutschland ist es wichtig, eine Organisationsform zu finden, in der sie sich offiziell vertreten lassen können. Dafür ist ein Zusammenschluss notwendig, der über die theologischen Unterschiede hinausgeht und die gesellschaftlichen Interessen der Bürger mit islamischem Glauben vertritt. Als ein positiver Schritt auf diesem Weg sind die Schura-Räte in Hamburg und Niedersachsen zu betrachten, die sich teilweise bereits bewährt haben. Auch die Aktivitäten in Verbindung mit den „Runden Tischen“ sind weitere Alternativen, mit Muslimen aus unterschiedlichen Richtungen jeweils projektgebunden ins Gespräch zu kommen und Verantwortung zu übertragen, wie z.B. der „Runde Tisch“ in Niedersachsen für den islamischen Religionsunterricht. Das Leben der Muslime in der westlichen Welt ist mitentscheidend für die Entwicklung der Beziehung des Westens zur muslimischen Welt. Die Begegnung, die zwischen Religionen in der westlichen Welt möglich ist, kann eine große Rolle für das Verständnis zwischen Ost und West spielen und die Situation der in muslimisch geprägten Ländern lebenden Andersgläubigen positiv beeinflussen. Für uns alle ist das Ziel, so hoffe ich, dass wir friedlich miteinander leben können. Dafür ist der ehrliche und gewollte Einsatz aller Beteiligten notwendig. Aktuell bedeutet dies, dass wir uns nicht von den Weltgeschehnissen so weit treiben lassen, dass kein Vertrauen mehr möglich ist. Die Beseitigung des Extremismus und Fanatismus ist keine Angelegenheit, die ohne Muslime geführt wird; die Mehrheit der Muslime steht auf der Seite derer, die diesen Kampf unterstützen wollen. Auch hier ist eine Zusammenarbeit notwendig, hierfür müssen aber die Muslime nicht immer wieder in Frage gestellt, sondern ihre Ernsthaftigkeit und Kompetenz auch wahrgenommen und akzeptiert werden. Es gibt Probleme in unserer Gesellschaft wie die Erziehung der Kinder, die Situation der Jugendlichen und die Bildung, ökonomische und ökologische Probleme. Wir können gemeinsam für deren Lösung eintreten, anstatt durch gegenseitige Vorwürfe neue Probleme zu schaffen.
Gregor Paul
Die Zukunft der Kulturen – Kulturelle Identität in einer globalisierten Welt Ein Krieg der Kulturen? Die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 ließen eine Diskussion wieder aufkommen, die mehr oder weniger abgeschlossen schien. Führen die Unterschiede, die zwischen einzelnen Kulturen bestehen, womöglich gar in einen „Krieg der Kulturen“? Diese Frage ist im Lauf der 90er Jahre durch Veröffentlichungen des amerikanischen Politologen Samuel Huntington aufgeworfen worden und war eine Zeit lang Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Selbst der damalige Bundespräsident Roman Herzog beteiligte sich. Unter dem Titel Preventing a Clash of Civilizations ließ er eine Sammlung einschlägiger eigener Stellungnahmen erscheinen. Mit dem Begriff „Kulturen“ waren und sind im gegebenen Zusammenhang solch riesige Komplexe wie „der Westen“, „der Osten“, „das Christentum“, „der Islam“, „der Hinduismus“ und „der Konfuzianismus“ gemeint. Jedenfalls lässt sich nicht bestreiten, dass die Anschläge auf das World Trade Center einige von Huntingtons Thesen bestätigen oder zu bestätigen scheinen. Zeigen sie nicht, dass „der Islam“ Werte vertritt, die „der Westen“ oder „das Christentum“ ablehnen? Und zeigen sie nicht, dass der Unterschied in den Wertauffassungen schließlich in gewaltsame Auseinandersetzungen münden muss? Amerikanische wie europäische Politiker betonen zwar immer wieder, dass die Terroristen, die die Anschläge durchführten, Außenseiter seien. Sie repräsentierten nicht „den Islam“. Aber haben diese Außenseiter nicht erstaunlich viele „Sympathisanten“? Wird man nicht einräumen müssen, dass eine kleine Zahl fundamentalistischer Terroristen leicht die Solidarität großer Gruppen ihrer Kultur – im zur Sprache stehenden Fall also „des Islam“ – gewinnen kann, so dass es schließlich doch zu einem „Krieg der Kulturen“ kommt oder gar kommen muss? Und haben der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus und insbesondere der Afghanistan- und Irak-Krieg nicht die endgültige Bestätigung für Huntingtons Hypothese geliefert? Worin aber lägen dann die letzten Ursachen, Gründe, Motive, Anlässe für solch eine Entwicklung? Sind die sie mitbedingenden unterschiedlichen Wertvorstellungen unüberbrückbar? Gibt es gar ein Menschenrecht auf kulturelle Identität? Wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, lautet die Antwort Nein.
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Grundlegende Argumente gegen den Kulturalismus und die Wertschätzung kultureller Identität um ihrer selbst willen 1. Das bloße Bestehen einer Kultur kann ihr Weiterbestehen oder ihre Pflege – die Wahrung kultureller Identität – nicht rechtfertigen. Man beginge dann einen naturalistischen Fehlschluss. Allgemein gesagt kann man nicht vom Sein aufs Sollen schließen. 2. Geltung ist unabhängig von Genesis. Die Wahrheit, Trefflichkeit, Stichhaltigkeit oder Gültigkeit einer These oder Theorie ist unabhängig von Zeit, Ort und Autorschaft ihres Entstehens. Etwas ist nicht deshalb fragwürdig, weil es „deutsch“ oder „nicht deutsch“ ist. Der Satz des Pythagoras gilt auch für Schwaben, und er gilt ungeachtet der Tatsache, dass er gar nicht von Pythagoras sein dürfte. Man kann „Fremdes“ nicht einfach deshalb zurückweisen, weil es „fremd“ ist. 3. Radikaler Traditionalismus ist selbstwidersprüchlich. Er schließt einen performativen oder pragmatischen Selbstwiderspruch ein; denn jeder Traditionalist weicht selbst von Früherem ab. Sonst müsste er noch leben wie die ersten Menschen. Eine Kultur mag also noch so sehr auf ihre „kulturelle Identität“ pochen: Sie hat sich im Zuge ihrer Geschichte im Allgemeinen so oft und so deutlich geändert, dass sich solch ein Anspruch, wörtlich genommen, selbst ad absurdum führte. 4. Das Argument, dass man nur Menschen seiner eigenen Kultur verstehen könne, ist selbstwidersprüchlich. Ein Japaner, der einem Europäer gegenüber behauptet, dass nur ein Japaner die Japaner verstehen könne, begeht einen performativen Widerspruch. Da seine Behauptung symmetrisch ist, besagt sie auch, dass er als Japaner gar nicht wissen kann, ob ein Europäer einen Japaner begreifen könne. Undifferenzierte Vorwürfe derart, dass man sich als Europäer „nicht anmaßen“ dürfe, über „den Islam“ zu urteilen, sind also von vornherein haltlos. 5. Transkulturelle Kritik braucht nicht ethno- oder kulturzentrisch zu sein. Kritisiert man Züge einer fremden Kultur, so braucht man nur (1) ähnliche Züge der eigenen Kultur anzuprangern und (2) Mitglieder aus der fremden Kultur zu zitieren, die vergleichbar urteilen wie man selbst. Und schließlich wäre, wie unter 4. angesprochen, (3) jede transkulturelle Kritik unhaltbar, wenn dies zum Beispiel für „europäische“ Kritik an Nichteuropäischem gelten würde. 6. Transkulturelle Kommunikation und Verständigung sind auch keinesfalls prinzipiell unmöglich. Sie folgen ja allgemein gültigen Regeln der Logik und allgemein menschlicher Erfahrung, einem (allgemein gültigen) pragmatischen Kausalitätsprinzip, sind Funktion anthropologischer Konstanten wie insbesondere der Abneigung gegen Leid und Schmerz, allgemeiner ethischer Normen, etc. 7. Kulturen sind keine in sich einheitlichen Phänomene; sie sind vielmehr in sich heterogen. Das gilt insbesondere auch für die in ihnen vertretenen Philosophien und oft sogar für die in ihnen vertretenen Religionen. In einem bewertenden Vergleich verschiedener Merkmale einer Kultur ist deshalb das Argument, dass ein Merkmal wichtig oder erhaltenswert sei, weil es zu dieser Kultur gehöre, unbrauchbar. Kein Charakteristikum einer Kultur kann damit verteidigt werden, dass es eben Charakteristik dieser Kultur sei.
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8. Kulturen sind keine reinen, in sich geschlossenen Entitäten. Jede Kultur ist auch Ergebnis „fremder“ kultureller Einflüsse. „Autochthone“ Kulturen gibt es nicht. So gibt es zum Beispiel keine reine oder „wahrhaft“ deutsche Kultur. „Fremde“ Einflüsse aber lassen sich, wie gesagt, nicht einfach mit einem Hinweis auf ihre „Fremdheit“ abweisen. 9. Verschiedene Kulturen haben notwendigerweise auch gemeinsame Merkmale; denn alle Kulturen sind Menschenwerk. Dazu kommen prägende Gemeinsamkeiten in den jeweiligen Umwelten. Dass unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen Pyramiden gebaut wurden, ist zum Beispiel durch Gemeinsamkeiten auch des Baumaterials mitbedingt. An wichtige Gemeinsamkeiten kann bei transkulturellen Diskursen angeknüpft werden. 10. Kulturen sind keine statischen Phänomene. Sie sind veränderliche, dynamische Erscheinungen. Jeder Versuch, den Ist-Zustand einer Kultur zu erhalten, scheitert notwendigerweise. Es ist deshalb argumentativ fragwürdig und einfach fruchtlos, sich ganz allgemein und unspezifisch gegen Veränderungen zu wehren. 11. Sprachen sind distinktive Merkmale von Kulturen. Aber sie bedingen keine unterschiedlichen Wertauffassungen. Die Norm „Du sollst nicht töten“ ist nie ein Resultat spezifischer Sprachmerkmale. Sie ist keine Funktion des Hebräischen oder Deutschen. 12. Die den Alltag bestimmenden distinktiven Kulturmerkmale sind relativ spezifischer Art. Sie liegen nicht auf der Ebene fundamentaler ethischer oder moralischer Normen. Oft sind sie sogar extrem spezifischer Art. Es geht dann um Höflichkeitsformen, Essgewohnheiten, Bekleidungskonventionen oder Frisuren. Afghanische Männer, die keinen Bart trugen, liefen unter den Taliban Gefahr, bestraft zu werden. Das letzte Beispiel ist besonders wichtig. Es kommt immer wieder vor, dass der fragwürdige Versuch, die eigene Kultur in Form einer Auszeichnung radikal gegen andere Kulturen abzugrenzen, zu einer mehr oder weniger willkürlichen Betonung eines hochspezifischen Merkmals führt. 13. Rein logisch gesehen ist es stets möglich, ein spezifisches Merkmal zu finden, das radikale Abgrenzung erlaubt, mag es objektiv betrachtet noch so unbedeutend sein. Deshalb ist jede Angabe (angeblich relevanter) kultureller Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erläutern und zu begründen. Warum hält man einen Unterschied oder eine Gemeinsamkeit für wichtig? In welcher Hinsicht? Und ist die Einschätzung gut begründet? Darf man Menschen einer Kultur gering schätzen, weil sie Nudelsuppe schlürfen oder weil die Männer keinen Bart tragen?
Die notorische Ohnmacht der Argumente Diese Argumente sind gewiss gültig, aber ihre Wirkung ist dennoch schwach. Warum? Wir sind wenig geneigt, Fehler einzugestehen, und vor allem nicht vor anderen. Wir befürchten, an Macht und Einfluss zu verlieren. Die „Versuchung der Macht“ ist eines der größten Probleme, mit denen Menschen konfrontiert sind. Selbst wenn es sich nur um relativ belanglose Positionen der Macht handelt, neigen wir dazu, sie zu verteidigen. Wer häufig Fehler begeht, läuft Gefahr, dass seine Behauptungen nicht mehr hinreichend ernst genommen werden. Daher befürchten wir, durch Eingeständnisse von Feh-
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lern an Autorität und Glaubwürdigkeit einzubüßen. Manche Menschen empfinden die Gültigkeit von Argumenten geradezu als Zwang, dem sie sich zu entziehen suchen. Manche Kulturwissenschaftler behaupten gar, „im Osten“ denke man anders und zwar freier und kompromissbereiter, weil man die beiden logischen Prinzipien nicht akzeptiere. Wie wiederholt nachgewiesen wurde, sind solche Auffassungen freilich barer Unsinn. Einem Argument zu folgen beziehungsweise „nachzugeben“ – ein bezeichnender Ausdruck –, kann bedeuten, etwas zu tun, das man nicht möchte; anders gesagt, etwas zu tun, das den eigenen Interessen, Wünschen und Hoffnungen zuwiderläuft. Viele sogenannte Pflicht-Neigungs-Konflikte folgen diesem Muster. Vorurteile und Befangenheit und manchmal auch mangelnde Intelligenz verhindern die Einsicht. Gewohnheit(en) und Bequemlichkeit erschweren die Zustimmung zu Korrekturen der eigenen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Erziehung oder gar Indoktrination können Gewohnheiten zu schier unveränderlichen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen werden lassen: Extreme Beispiele sind Hitlerjungen und Palästinenserjungen, die von klein auf stets nur ethisch und politisch einseitig „erzogen“ und informiert wurden. Eltern, Lehrer und Medien vermittelten ihnen kontinuierlich bestimmte Feindbilder. Alternativen, die diese Mitteilung hätten in Frage stellen können, fehlten völlig. Die frühe Gewöhnung an Waffen, Kriegsspielereien, Zeltlager, „Abenteuer“, schöne Uniformen etc. verstärkten die Indoktrination. Selbst wenn man erwachsen wird, ist es dann fast unmöglich, sich solch systematischer, umfassender und alternativloser Indoktrination zu entziehen. Gerade diese Erfahrungen begründen die Forderung, zur Selbstkritik und Kritik zu erziehen, stets auch Alternativen zur Kenntnis zu bringen und deshalb Meinungsfreiheit zu gewährleisten. Die Unklarheit ethischer – vor allem metaphysischer und religiöser – Doktrinen, die Missbrauch nicht nur erlaubt, sondern – logisch gesehen – oft geradezu impliziert, kann argumentativ begründete Entscheidungen sogar unmöglich machen. So mag sich jemand auf spezifische Glaubensinhalte berufen, die für Andersgläubige von vornherein inakzeptabel sind. Der Mangel an rechtsstaatlichen und quasi rechtlichen Institutionen, die die Menschenrechte unbeschadet aller Hindernisse zur Geltung bringen können, lässt insbesondere der „Versuchung der Macht“ zu viel Raum.
Die Fragwürdigkeit der üblichen Menschenrechtspolitik Vielfach sind doppelte Moral, zweierlei Maß, doppelte Standards und Heuchelei im Spiel. Ob Individuen oder ganze Regierungen und Staaten: Viele Menschen und Organisationen, die gültige Argumente und wohlbegründete Forderungen vorbringen, handeln eben diesen Argumenten und Forderungen zuwider. Sie erscheinen verlogen und unglaubwürdig. Dies gilt insbesondere für die interkulturellen und interstaatlichen Auseinandersetzungen um die Menschenrechte. Während europäische Institutionen südostasiatische und muslimische Politiker rügen, die Konzepte „kultureller Identität“ als Vorwand für inakzeptable Einschränkungen per-
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sönlicher Freiheit nutzen, besitzt die neue europäische Charta der Grundrechte selbst kulturalistische Züge. Während die VR China immer wieder scharf kritisiert wird, weil sie die Todesstrafe vollstreckt, ist vergleichbare Kritik an den USA erst in den letzten Jahren laut geworden. Während Miloševi´c vor ein internationales Tribunal gestellt wird, wird Dostum zum stellvertretenden Verteidigungsminister erhoben. Während die VR China als undemokratisch angeprangert wird, weigerte sich das Vereinigte Königreich fast 100 Jahre lang, in Hongkong eine Demokratie einzurichten. Während die VR China angeblich die Religionsfreiheit in nicht akzeptabler Weise einschränkt, weil sie die Falun Gong verboten hat, gilt es als unproblematisch, dass in der Bundesrepublik keine muslimische Lehrerin unterrichten darf, die im Klassenzimmer ein Kopftuch tragen will, während doch Hunderte katholischer Lehrerinnen eine Halskette mit Kruzifix tragen. So blauäugig oder moralisierend es anmuten mag: Ohne eine signifikante Verbesserung der Glaubwürdigkeit individueller, öffentlicher und insbesondere staatlicher Menschenrechtspolitik wird eine Verständigung über die Kulturen hinweg schwierig bleiben. Es müssten Institutionen eingerichtet werden, die zweifelsfrei feststellbare Anwendungen von Doppelmoral in interstaatlicher Menschenrechtspolitik verbieten. Prinzipiell könnte jeder Staat einschlägige Gesetze erlassen, um wenigstens die eigene Politik entsprechend zu regeln. Spekuliert man über eine friedliche Zukunft der Kulturen, so verdient die Frage der Religionsfreiheit besondere, eigene Berücksichtigung. Wer für den säkularen Staat eintritt, spricht sich faktisch gegen uneingeschränkte Religionsfreiheit aus. Staatliche Säkularität aber ist de facto notwendige Bedingung des Friedens. Hier sollte man nicht nach Ausreden und Ausflüchten suchen. Wer etwa behauptet, dass alle „akzeptablen“ oder „wirklichen“ Religionen – im Gegensatz zu Sekten – oder dass alle „großen Religionen“ von sich aus, sozusagen von selbst, menschenrechtskonform seien oder in Übereinstimmung mit universal gültigen ethischen Prinzipien stünden, begeht einen logischen Fehler. Denn woher weiß er, was menschenrechtskonform und ethisch allgemein gültig ist? Vergleichende Analysen und Abstraktionen vermögen eine solche Erkenntnis nur dann zu liefern, wenn in sie ein logisch unabhängig von ihnen gewonnenes Kriterium universaler Moralität eingeht. Pointiert gesagt müssen nicht nur staatliche Verfassungen und staatliches positives Recht, sondern auch religiöse Überzeugungen am Richtmaß universaler Ethik gemessen und entsprechend eingeschränkt werden. Solange Religiosität über Säkularität dominiert, kann eine argumentative Auseinandersetzung über fundamentale ethische Prinzipien sogar unmöglich sein.
Kulturelle Identität ist kein Menschenrecht Ob eine Auffassung gültig ist, hängt also nicht von deren Traditionalität als Traditionalität ab. Prinzipiell können sich alle Menschen argumentativ miteinander verständigen, wenn sie es nur wollen. Traditionen, Umstände, Erziehung – kurz, die so genannten Umweltfaktoren – besitzen jedoch großen, prägenden und nachhaltigen Einfluss. Sie gehören zur
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„Macht der Fakten“. Deshalb ist es oft unangebracht, auf Menschen, die in inhumanen Kulturen aufwuchsen und entsprechend denken und handeln, mit moralischem Dünkel herabzuschauen. Der Versuch, von außen ändernd in eine Kultur einzugreifen, muss deshalb möglichst vorsichtig, behutsam und Schritt für Schritt unternommen werden. Insbesondere darf ein solcher Versuch nicht noch größeres Leid zeitigen, als die Situation kennzeichnet, die er ändern soll. Dessen ungeachtet kann der Anspruch auf kulturelle Identität – als solche – kein Menschenrecht sein. Dies gilt auch aus folgenden Gründen. Missionarisch ausgerichtete Kulturen haben diesen Anspruch ad absurdum geführt. Und erst recht träfe dies auf Kulturen zu, die es sich zur Aufgabe machten, andere Kulturen anzugreifen. Jeder Anspruch auf kulturelle Identität findet seine Grenzen an Einschränkungen durch allgemein gültige ethische Normen, globale ethische Prinzipien und insbesondere grundlegende Menschenrechte. Ein friedliches Miteinander der Kulturen erfordert die Anerkennung dieser Normen. So schwierig und langwierig sich solch eine Anerkennung gestalten mag: Sie ist prinzipiell auf argumentativem Weg erreichbar. Ja, die Vorstellung, dass kulturelle Identität eine Art Wert an sich sei, an dem jedes Fremdverstehen seine Grenze finde oder finden müsse, dürfte fast zwangsläufig in einen inhumanen Obskurantismus münden, der sich dann auch kaum noch von rassistischen Haltungen unterscheiden würde. In seinem Gedicht „Die Wahlesel“ bringt Heinrich Heine (1797–1856) dies in brillanter, unübertrefflicher Form zum Ausdruck. Ist von kultureller Identität die Rede, so verdient es stets, aufs Neue zitiert zu werden: „[…] Du bist ein Verräter, es fließt in dir Kein Tropfen vom Eselsblute; Du bist kein Esel, ich glaube schier, Dich warf eine welsche Stute. Du stammst vom Zebra vielleicht, die Haut, Sie ist gestreift zebräisch; Auch deiner Stimme näselnder Laut Klingt ziemlich ägyptisch-hebräisch. Und wärst du kein Fremdling, so bist du doch nur Verstandesesel, ein kalter; Du kennst nicht die Tiefen der Eselsnatur, Dir klingt nicht ihr mystischer Psalter. Ich aber versenkte die Seele ganz In jenes süße Gedösel; Ich bin ein Esel, in meinem Schwanz Ist jedes Haar ein Esel. […]
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O Welche Wonne, ein Esel zu sein! Ein Enkel von solchen Langohren! Ich möcht es von allen Dächern schreien: Ich bin als ein Esel geboren. Der große Esel, der mich erzeugt, Er war von deutschem Stamme; Mit deutscher Eselsmilch gesäugt Hat mich die Mutter, die Mamme. Ich bin ein Esel, und will getreu, Wie meine Väter, die Alten, An der alten, lieben Eselei, Am Eseltume halten.“
Dieter Ohlmeier
Psychoanalytische Reflexionen zum Terrorismus Bei der Gewinnung einer „inneren Einstellung“ zu meinem Thema überfiel mich die Furcht, oder doch der Zweifel, ob Sie an diesem Thema, Terrorismus, überhaupt noch interessiert sein würden, ob Sie nicht wegen der vielen, allzu vielen Kommentare und Meinungen zu diesem Themenkreis, aber auch wegen der täglichen Schreckensmeldungen in den Medien, jeder weiteren Erörterung müde geworden sein könnten. Noch hemmender wirkte sich für mich aus, dass ich auch bei mir selbst eine Müdigkeit bemerkte: Was hilft es, sich Gedanken zu machen und diese in Worte zu fassen – wo doch die tägliche Gewalt des Faktischen jede Argumentation, jede Reflexion erstickt. Angesichts der Ereignisse vom 11. September 2001 in New York und Washington hörte man vielfach den Satz: „Jetzt ist nichts mehr wie zuvor.“ Ich frage mich, ob es sich bei dieser Meinung nicht um eine Schönfärbung handelt, um das Ergebnis einer Verdrängung. Denn wir hätten Ereignisse, Katastrophen dieses Ausmaßes durchaus voraussehen können, hätten wir sie nicht in die Traum- und Scheinwelt der Horror- und Katastrophenfilme verbannt und damit entrealisiert, auf Kino- und Fernsehformat verfremdet; hätten wir nicht eine omnipotente Überzeugung von Unverletzlichkeit und Unbesiegbarkeit gehabt, als deren Symbol die Zwillingstürme des World Trade Centers ja gelten konnten und tatsächlich galten; hätten nicht unsere Wahrnehmungsinstrumente versagt – die Entdeckung terroristischer Gruppen und Planungen im Vorfeld der Anschläge, eine Aufdeckung bereits im Vorbereitungsstadium wäre möglich gewesen. „Schläfer“ werden nicht nur die für einen terroristischen Einsatz ausgebildeten und vorbereiteten Kräfte genannt, sondern „Schläfer“ könnten auch Politiker und Sicherheitskräfte gewesen sein, ja der Großteil der doch sonst so nachdenklichen und jede technische Neuerung feiernden und vergötternden Menschheit, und zwar nicht nur der westlichen Länder. Der Verstand, die Wahrnehmungs- und Vorstellungskraft schliefen, waren von der Vorstellung der eigenen, nahezu unbegrenzten Macht der Möglichkeiten wie betäubt. Die Zeit nach dem 11. September können wir als das Erwachen aus einem von Allmachts- und schließlich Alpträumen heimgesuchten Schlaf bezeichnen. Ich erlaube mir, meine Tagebuchnotizen direkt nach dem Anschlag vom 11. September auf die USA mit heranzuziehen: „12. September 2001. Gestern Terroranschlag auf die USA. Die Lokalisierung kommt mir zweitrangig vor: Dieser Anschlag, diese Kriegserklärung gilt der gesamten (westlichen) Zivilisation, ihren politischen und kulturellen Strukturen. Natürlich werden islamische Terroristen verdächtigt. Die im Fernsehen gezeigte unverblümte Begeisterung von Palästinensern über die „Demütigung“ Amerikas spricht ja dafür – und lässt jede Sympathie für ihre Sache erlöschen. – Ich bin tief erschrocken,
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wurde zuerst durch einen besorgten Anruf meiner Frau auf das Geschehene aufmerksam gemacht. Es ist, neben dem Schreck und der Aufgestörtheit, eher ein finsteres, ein düsteres Gefühl, das mich beherrscht: Wie hatte man diese Kehrseite der menschlichen Medaille auch vergessen können. Die Kehrseite der Zivilisation mit ihrer „progressiven“ Umtriebigkeit, ihrem verdrängenden „Blick nach vorn“, bleibt die Destruktivität. Denken, Planen und Orientierung, Sprachfähigkeit und Logik brechen zusammen, ebenso wie „Werte“ und Moral, und ungebremst toben sich die destruktiven Triebkräfte aus. Ich weiß es seit Kindertagen. Die zusammenbrechenden Türme des World Trade Centers, im Fernsehen wieder und wieder, wie in einer Endlosschleife gezeigt, durchmischten sich bei mir mit den Bildern, Erinnerungsbildern der brennenden und zusammenstürzenden Häuser und Straßen Hamburgs im Sommer 1943. Auch damals, wie jetzt in New York, das besinnungslose Vernichten ‚unbeteiligter‘ Zivilpersonen.“ Hier ein erster Einschub: „Halt!“, ruft eine Stimme in uns Deutschen, ist ein solcher Gedanke, eine solche Verknüpfung statthaft? Stoßen wir hier, durch solche Erinnerungen und Assoziationen, an alte Ressentiments, unsere eigenen schmerzhaften Ressentiments, wegen des im Bombenkrieg von uns selbst, als „Zivilbevölkerung“, Erlittenen? Sollte das gar eine Aufrechnung sein, so etwas zu denken: Was ihr uns angetan habt, wird nun auch euch angetan? Und das unter Verdrängung und Unterdrückung der Tatsache, dass die durch Flächenbombardements in den deutschen Städten entfachten Feuerstürme mit Hunderttausenden Toten bereits eine „Antwort“ gewesen waren: Eine Vergeltung für die Bombardierung Londons und Coventrys durch deutsche Luftüberfälle, für einen Dammbruch, der diese Tötung und Vernichtung der Zivilbevölkerung zum Ziel hatte und bei dem die Zerstörung nicht länger auf die Militärs beschränkt blieb. Dieses Thema blieb lange Zeit ein Tabuthema und ist es im Grunde bis heute. Die Macht des Vergessens kommt mittlerweile zur Tabuierung hinzu: Jüngere Menschen haben allenfalls vom Hörensagen von sogenannten „Feuerstürmen“ gehört, und sie wissen oft nicht, dass ihre Großeltern, Eltern und Lehrer in einer Verdrängungsmentalität gelebt haben. Alexander und Margarete Mitscherlich haben 1967 in ihrer Untersuchung über die „Unfähigkeit (der Deutschen) zu trauern“ die Humor- und Freudlosigkeit, die arbeitsbesessene psychische Erstarrung der Deutschen nach 1945 beschrieben; sie haben die verleugnete und verweigerte Trauerarbeit als Ursache dafür ausgemacht. Es war kein Betrauern der begangenen Verbrechen, der Beteiligung am begangenen Unrecht eines kriminellen Systems, in dem die meisten doch wenigstens Mitläufer gewesen waren, möglich, kein Betrauern der selbst erlittenen Opfer, der Toten und psychisch Verstümmelten, sondern lediglich eine Vorwärtsmentalität, die im Wiederaufbau und in der wirtschaftlichen Prosperität, in einem manisch anmutenden Vergessenstaumel das Heil sah, während im psychischen Untergrund eine abgespaltene depressive Morosität und Erinnerungslosigkeit zu verzeichnen waren. „Kein Haus überstand das Inferno“, heißt es in einer bebilderten Geschichte der Stadt Worms, „aber schöner und breiter entstanden sie wieder“, die Straßen der Stadt. Die wichtigste Veröffentlichung des Jahres 1999 war für mich das Buch Luftkrieg und Literatur von W. G. Sebald, dem jüngst viel zu früh durch einen Unfall verstorbenen Schriftsteller. Von einem frühen, bis 1992 unveröffentlicht gebliebenen Roman Heinrich
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Bölls, Der Engel schwieg, abgesehen, fand sich keine literarische Stimme für diesen Teil unserer Vergangenheit. Sie blieb tabuiert, verdrängt und unbetrauert. Sebald führt aus: „Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden. Die finstersten Aspekte des von der weitaus überwiegenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung miterlebten Schlussakts der Zerstörung blieben so ein schandbares, mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis, das man vielleicht nicht einmal sich selber eingestehen konnte“ (S. 18). Trotz der angestrengten Bemühungen um die sogenannte Bewältigung der Vergangenheit, zu der auch das Buch der Mitscherlichs und seine Auswirkungen vor allem in den Diskussionen und psychisch-gesellschaftlichen Erneuerungsprogrammen der Studentenbewegung von 1968 gehörten, scheint es, mit W. G. Sebald zu sprechen, „als seien wir Deutschen heute ein auffallend geschichtsblindes und traditionsloses Volk“. Sebald spricht über die Unfähigkeit einer ganzen Generation deutscher Autoren- und Wissenschaftler, das, was sie gesehen hatten, aufzuzeichnen und „einzubringen in unser Gedächtnis“. Aber genau diese „Einbringung in das Gedächtnis“, diese Erinnerungs- und Benennungsarbeit, ja Gestaltungsarbeit wäre der Weg einer Konflikt- und Traumabewältigung. Leider ist diese auch anlässlich des schockartigen Mit- und Wiedererlebens anlässlich des Anschlags auf die USA vermutlich nicht wirklich in Gang gekommen. Statt Erinnerung und Gedächtnis, Einordnung und Integration in das Selbstgefühl, die Identität der Deutschen, kam es in erster Linie zu Spaltungs- und Projektionsvorgängen sowie zu einer diffusen Versicherung der „uneingeschränkten Solidarität“ mit den USA. Das Wesen des modernen Terrorismus besteht darin, Zerstörung auszusäen ohne Ansehen der Person, also nicht Auge in Auge, als Person zu einer Person. Die Destruktion ist entpersonalisiert, ist entfesselt aus Strukturen, die zusammengebrochen sind. Im ersten Bewältigungsversuch des Tagebuchs: „Deswegen fühle ich keine Überraschung, kann nichts Neues, keine ‚Wende‘ der Politik oder Mentalität feststellen. Nicht jetzt ist der Punkt, nach dem ‚nichts mehr so sein wird wie vorher‘. Zerstörung und Auslöschung haben Menschen immer schon praktiziert – ihre psychischen Strukturbildungen, bei Individuum und im Kollektiv, waren immer mehr als labil. Ich bin auch kein ‚Kulturpessimist‘ (wie mir gelegentlich vorgeworfen), sondern bloßer Realist. Meine Wissenschaft, die Psychoanalyse, lehrt nichts anderes, und ihre praktische Anwendung bestärkt darin: das Triebpotenzial überrennt die hemmenden, die zivilisatorischen Strukturbildungen.“ Krieg und Zerstörung erscheinen nicht als bedauerliche Entgleisungen und Ausnahmezustände, während der „Frieden“ gleichsam der Normalzustand wäre. Eher umgekehrt: Zeiten des Friedens und des Aufbaus sind wie Inseln, passagere und mühsam errungene und zu behütende Territorien, die dem destruktiven Chaos von Zeit zu Zeit abgerungen werden, ständig gefährdet vom anfallsartigen Aufleben destruktiver Energie. Menschen leben auf vulkanischem Untergrund. Das gefährliche Potenzial existiert in ihnen selbst (die „Natur“, die äußere Natur z. B. dient als Projektionsfläche); „kultivierte Menschen“ sind ein ideales, jedenfalls aber selten vorkommendes Bild, eigentlich nicht realistisch. Insofern sind die aktuellen Ereignisse eine „Flammenschrift an der Wand“, eine Mahnung, nicht zu schlafen und sich einem Traum der „Wellness“, als ob uns etwa Sicherheit und
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Geborgenheit umgäben, zu überlassen. Nichts ist sicher, nichts kontrollierbar. Im Inneren des Körpers und der Person liegen Triebkräfte auf der Lauer, die im individuellen und unspektakulären Fall zerstörende Krankheiten, körperliche und psychische, produzieren, im kollektiven Fall katastrophale Vernichtungsschläge so wie im aktuellen politischen Feld. Die Wurzeln sind die gleichen. Die Priorität vor der Libido nimmt der Destruktions-, der Todestrieb ein. Wie kann man, auch von psychoanalytischer Seite, daran zweifeln und diese Einsicht einem depressiven alten Sigmund Freud zuschreiben, als eine Art bedauernswerter, persönlich bedingter Marotte? – Und doch ist auf die Kraft der Vernunft zu hoffen, immer neu. Dass jetzt z. B. nicht paranoide Ängste zu entfesselten „Gegenschlägen“ führen, insbesondere wenn die Gegner nicht genau auszumachen sind. Die Vergiftung des internationalen Klimas, die gespannte Gereiztheit, die erniedrigte Schwelle der Gewalt und Gegengewalt könnten unerträglich werden. Einige von uns muss es geben, die sind Sisyphos. Sie wälzen immer wieder den Stein. Solange sie ihn wälzen und nicht aufgeben, sich nicht resigniert in den Schlaf fallen lassen, gibt es „Kultur“ und Hoffnung. Auch mit dem bitteren Wissen, angesichts des Nichtvergessens, wie einbruchsgefährdet diese Kultur- und Erziehungserzeugnisse sind. Solch nüchterne Einsicht täte gut; „Pessimismus“ will ich sie nicht nennen. „Wir alle wussten, dass dies geschehen könnte. Jahrelang haben wir davon gesprochen. Aber nun, da die Tragödie eingetreten ist, ist es viel schlimmer, als sich irgend jemand hätte vorstellen können … Jetzt erst hat das 21. Jahrhundert begonnen.“ So schreibt der New Yorker Autor Paul Auster. – Die Verdrängung und andere Abwehrmechanismen entsprechen einem psychischen Immunsystem, das ein Leben überhaupt möglich macht. Denn „im Grunde“ wissen wir natürlich Bescheid. Dass „Realität“ immer schlimmer und härter ist als alle Horrorszenarien, einschließlich innerer Ängste, bis hin zur Psychose. Psychotische Ängste ebenso wie der Angstabwehr dienende Horrorfantasien („Katastrophenfilme“) haben nicht die Funktion, etwas ins Gedächtnis, in die Präsenz der Aufmerksamkeit für die Realität zurückzurufen. Im Gegenteil: Dabei handelt es sich um eine Exotisierung der Realität, um eine Distanzierung im Wege der Verharmlosung. Die Erfindung der Psychose – die Etikettierung psychischer „Ausnahmezustände“, die nichts anderes sind als ein Niederbrechen der Abwehrmechanismen, also eine unverstellte Erkenntnis der realen Gegebenheiten und Möglichkeiten – verhilft uns zu „normalem Leben“, das damit als ein Leben in der Verdrängung gekennzeichnet ist. Die Kultur dient der Regelung des Zusammenlebens der Menschen und nötigt ihnen eine ständige psychische und soziale Arbeit ab. Religionen, soziale und politische Systeme, Literatur und Kunst sind Ergebnisse eines Kulturprozesses. Aber sie sind nicht selbstverständlich, nicht ein für alle Mal fest gegründet – als Menschen leben wir vielmehr mit dem ständigen Gefühl eines Unbehagens an und in der Kultur. Verzichtleistungen sind notwendige Denkvorgänge, um die Kultur aufrechtzuerhalten. Insbesondere gelten diese Verzichtleistungen der unmittelbaren Befriedigung von Triebimpulsen, d. h. sexuellen und, noch wichtiger, aggressiv-destruktiven Triebbedürfnissen. Kulturelle Leistungen, aber dazu gehört auch die „einfache“ zivile Persönlichkeit, sind ohne solche Verzichtleistungen nicht zu haben. Eine Spannung entsteht zwischen der Notwendigkeit, ja dem Zwang zu einer Kultur im Dienste eines friedlichen und produktiven Miteinanders
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der Menschen und andererseits den möglichen Durchbrüchen ungebremster Triebimpulse. Der Anschlag vom 11. September auf die Türme des World Trade Centers in New York hat uns wieder bewusst gemacht, dass eine friedliche Kulturentwicklung jederzeit unterbrochen, in Frage gestellt werden kann. Ich meine nicht die Schrecken erregende Tat der Terroristen allein, die auf einen Schlag Tausende Menschen das Leben kostete. Ich meine auch die psychische, soziale und politische Klimaveränderung, die seitdem eingetreten ist. Das Bewusstsein der Menschen erscheint plötzlich erschüttert, aus dem Takt geraten – nicht nur Gebäude stürzten zusammen, sondern ein Grundsicherheitsgefühl ist erschüttert. Die Terroranschläge auf die USA haben eine massenhafte Regression des Denkens und der öffentlichen wie privaten Wahrnehmung nach sich gezogen. Psychische Mechanismen wie Spaltung und Projektion sind allenthalben aktuell – Mechanismen, ja geradezu Symptome sind zu erkennen, wie wir sie gewöhnlich bei Borderline-Persönlichkeiten feststellen: Ein „Lagerdenken“ in Gut und Böse. Eine Entdifferenzierung des Denkens ist zu beobachten. Diese Aufspaltung in Gut und Böse, Unschuldig und Schuldig, Opfer und Täter; diese Projektionen und Verdächtigungen, die nicht nur außen-, sondern innenpolitische Sicherheitsvorkehrungen erzwingen, sind geeignet, uns den traurigen, aber gleichzeitig nüchternen Blick auf die Realitäten zu trüben und uns der Chance zu berauben, nach dem Verfall immer wieder den Wiederaufbau der Kultur (A. Schweitzer) im Blick zu behalten – wie jener Sisyphos, der den Felsbrocken den Abhang heraufschiebt und erleben muss, wie der Fels ins Rutschen kommt, alle Arbeit vergebens zu sein scheint, und trotzdem wieder beginnt, den Brocken nach oben zu schieben. Dieses mythologische Bild hat der französische Autor Albert Camus aufgegriffen: Es ist das Bild des Kulturmenschen, der sich der Hinfälligkeit und Brüchigkeit der kulturellen Errungenschaften jederzeit bewusst ist und trotzdem, und gerade wegen seiner Einsicht in die brüchige Verfasstheit der Kultur, nicht aufhört, sich als Kulturarbeiter zu verstehen – und damit als humanes Wesen. Camus geht es in seinem 1942, also während des 2. Weltkrieges und der deutschen Besetzung Frankreichs verfassten Essay um die existenzielle Grunderfahrung des Absurden. Die Welt wird erfahren als unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Intention und Ergebnis. Nichts ist berechenbar, nichts wirklich planbar: Es besteht ein Missverhältnis zwischen denkendem und reflektierendem Verstand, zwischen einem funktionierenden Ich einerseits und einer von Ich und Verstand nicht zu bewältigenden, nicht plan- und voraussehbaren chaotischen Gewalt andererseits: eine mindestens latent wirksame Gewalttendenz, die sich aus dem Triebleben des Menschen herleitet und die dem Menschen ebenso aus der „Außenwelt“, etwa von Seiten entfesselter Naturkräfte, entgegentritt; oder aber vonseiten einer jederzeit möglichen Regression einer Organisation oder Institution, d. h. einer zivilisierten Strukturierung des Zusammenlebens von Menschen zum Zwecke der Erreichung von Arbeitszielen, zur Bewahrung kultureller und moralischer Werte, von sozialer und politischer Ordnung, zu einer triebgesteuerten Masse, die vor allem von aggressiven und destruktiven Aktionspotenzialen erfüllt ist, die zur schnellen und umstandslosen Befriedigung drängen. Sisyphos sieht sich nicht nur dieser Außenwelt gegenüber, sondern müsste auch die Destabilisierung, ja den Zerfall seiner eigenen Persönlichkeitsorganisation, seiner Denk- und Planungsfähigkeit befürchten
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– so wie eine schwere traumatische Erfahrung die Ich-Struktur der von ihr betroffenen Menschen zerschlagen und oft für immer zerstören kann. Das ist uns aus der therapeutischen Arbeit mit Schwertraumatisierten bekannt. Angesichts dieses Missverhältnisses zwischen den kultivierten und zivilisierten Strukturen des Ichs – im Individuum oder im Kollektiv – zu dieser „undurchdringlichen Faktizität der gegebenen Welt“ (Camus) erhebt sich die Frage, ob das Leben überhaupt wert sei, gelebt zu werden, und ob nicht der Selbstmord die einzige mögliche Konsequenz darstelle. Camus verneint diesen Weg – er revoltiert gegen diese Art einer Aufhebung des Absurden, da sie seine wirkliche Überwindung verhindern würde. Die Würde des Menschen, die für Camus das Entscheidende, das in allen Gefahren zu wahrende ist, besteht darin, gegen diese Absurdität zu revoltieren, sich der Triebhaftigkeit und Dinghaftigkeit nicht zu unterwerfen. Nicht nur der uns umgebenden sozialen und politischen Welt, sondern ebenso der persönlichen Triebwelt in uns selbst. Die Revolte äußert sich in der entschlossenen Tat und in der größtmöglichen Lebensintensität, an deren Nutzlosigkeit in Bezug auf die Unveränderbarkeit der Welt zwar kein Zweifel bestehen kann, in der der Mensch aber eine besondere Art der Selbstverwirklichung findet. Es handelt sich bei Camus sozusagen um einen Salto mortale unter Tränen und Trauer, wenn er Sisyphos am Ende als einen „glücklichen Menschen“ bezeichnet. Er meint damit nichts anderes, als dass Kulturentwicklung – nicht nur im Sinne einer kollektiven Kultur, sondern auch einer persönlichen, individuellen Kulturfähigkeit als Einzelnen – immer wieder neu errichtet und begründet werden muss und dass es Menschen geben müsse, so wie sein Sisyphos als eine mythologische Metapher, die die zerstörungsbedrohte Kultur über die Gräben ihres Niedergangs hinaustragen. Ungleich nüchterner als Camus hatte Sigmund Freud bereits 1930 in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur über die Gefährdungen der menschlichen Kulturleistung geurteilt. Er verneint die Möglichkeit des Glücks für die Menschen, nach dem von vielen Philosophien und Religionen gesucht worden ist, und weist auf „die Quellen (hin), aus denen unser Leiden kommt: die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln“ (S. 444). Diese dritte Leidensquelle, die soziale, betrachtet er näher, denn „diese wollen wir überhaupt nicht gelten lassen, können nicht einsehen, warum die von uns selbst geschaffenen Einrichtungen nicht viel mehr Schutz und Wohltat für uns alle sein sollten. Allerdings, wenn wir bedenken, wie schlecht uns gerade dieses Stück Leidverhütung gelungen ist, erwacht der Verdacht, es könnte auch hier ein Stück der unbesiegbaren Natur dahinter stecken, diesmal unserer eigenen psychischen Beschaffenheit“ (S. 445). Ich möchte Freud vor der häufig gehörten Kritik in Schutz nehmen, er sei ein „Kulturpessimist“ – hat doch gerade dieser Wissenschaftler, der Begründer der Psychoanalyse, uns die Kulturentwicklung, die „Entwicklungsräume“ des Einzelnen und der Gemeinschaft verständlich gemacht und versteht seine Wissenschaft nicht in erster Linie als eine Therapie, „denn dann wäre sie eine Dienstmagd der Medizin und fände ihre Ablagerung in den Lehrbüchern der Psychiatrie“, wie er sarkastisch vermerkte, sondern als eine Kulturtheorie. Er wendet sich gegen die „befremdliche Kulturfeindlichkeit“ vieler Menschen
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(S. 445) und vermutet, dass „eine tiefe, lang bestehende Unzufriedenheit mit dem jeweiligen Kulturzustande“ den Boden herstelle, auf dem sich dann bei bestimmten historischen Anlässen eine Verurteilung erhob. So sieht er im Sieg des Christentums über die sogenannten heidnischen Religionen einen solchen kulturfeindlichen Faktor am Werke. Und setzt bitter hinzu: „Der durch die christliche Lehre vollzogenen Entwertung des irdischen Lebens stand er – der kulturfeindliche Faktor – ja sehr nahe.“ Kultur besteht darin, dass „sich eine Mehrheit zusammenfindet, die stärker ist als jeder Einzelne und gegen jeden Einzelnen zusammenhält. Die Macht dieser Gemeinschaft stellt sich uns als ‚Recht‘ der Macht des Einzelnen, die als ‚rohe Gewalt‘ verurteilt wird, entgegen. Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt“ (S. 455). Aber der Skeptiker und Empiriker Freud verschließt sich nicht der Erkenntnis, dass „das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, dass der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf (…). „Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen weggefallen sind,“ – also bei einer Betäubung oder Verführung des Über-Ichs, einer unter Druck erzeugten Veränderung der inneren und äußeren Werte und zivilisatorischen Grundsätze – „äußert sie sich spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist“ (S. 470/471). Infolge dieser in seinem Triebleben verankerten Aggressionsneigung des Menschen, infolge dieser „primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander“, sei die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. Triebhafte Leidenschaften seien im Grunde stärker als vernünftige Interessen. Deswegen muss die Kultur alles aufbieten, um den Aggressions- und Destruktionstrieb der Menschen Schranken zu setzen – ohne dieses Ziel bisher vollständig und dauerhaft erreicht zu haben. Und Freud folgert daraus, was er als „Unbehagen in der Kultur“ bezeichnet: „Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, dass es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden“ (S. 474), und er gibt zu: „Ich erinnere mich meiner eigenen Abwehr, als die Idee des Destruktionstriebs zuerst in der psychoanalytischen Literatur auftauchte, und wie lange es dauerte, bis ich für sie empfänglich wurde. Dass andere diese Ablehnung zeigten und noch zeigen, verwundert mich weniger. Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ‚Bösen‘, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird“ (S. 479). Im Gegensatz etwa zu den terroristischen Aktivitäten der Rote-Armee-Fraktion (RAF) im Deutschland der 70er Jahre, die sich auf Symbole und „repräsentative“, namentlich wohl bekannte Symbolfiguren eines verhassten und in seiner scheinbaren Akzeptanz durch breite Bevölkerungsschichten für die Täter enttäuschenden „Kapitalismus“ bezog, liegt bei den jetzigen Terrortaten ein Objektverlust vor. Die Opfer sind wahllos betroffene Opfer, sie sind „namenlos“, sind keine Symbolfiguren – und ebenso verbleiben die Täter im Dunkel der Anonymität. Der Name Osama Bin Laden erscheint eher als eine Sammeladresse, ein Firmenname, nicht als der Name eines Individuums.
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Dieser Objektverlust, diese damit einhergehende Anonymisierung des Terrors erinnert durchaus an psychotische Situationen. Die schizophrene Psychose beginnt, in ihrem ersten und entscheidenden Schritt, als ein Objektverlust, als Verlust und Abkopplung der menschlichen Beziehungswelt. Sie wird, wie es auch aus der klinischen Erfahrung mit schizophrenen Patienten bekannt ist, von den Betroffenen als ein „Weltuntergang“ erlebt und bezeichnet, als ein Untergang der Beziehungswelten (vgl. S. Freud, 1930). Darin drückt sich das verzweifelte und absurde Moment des heutigen Terrorismus aus; ihm müssen eine psychotische Desorganisation, eine Chaotisierung und ein schließlicher Verlust des Vorstellungs- und Objektbeziehungsvermögens attestiert werden. Seine Gefährlichkeit und Unberechenbarkeit erscheinen dadurch entscheidend verstärkt. In der „Öffentlichkeit“ lässt sich angesichts der Unberechenbarkeit des aktuellen Terrorismus eine Tendenz zur schizoid-paranoiden Regression (M. Klein, 1962) beobachten. Auf Seiten der gewählten Politiker zeigt sie sich in einer Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen, der polizeilichen und militärischen Überwachung, der Benennung von Hassobjekten („Achse des Bösen“). Auf Seiten der Bevölkerung lässt sich ein Anwachsen von Fremdenhass und –angst (einschließlich Antisemitismus) verzeichnen (welches wiederum im Dienste des Wahlkampfes und des Machterhalts „instrumentalisiert“ werden kann), gleichzeitig aber auch eine verstärkte Neigung zum Vergessen, Nicht-wissen-Wollen, zur „Wellness“. Die Problematik der Übertragung individuell-psychologischer Konzepte auf kollektive gesellschaftliche und politische Bewegungen muss uns bewusst bleiben. Trotzdem erscheint es nicht als abwegig, psychische Vorgänge wie Projektion und Spaltung in der durch den Terrorismus aufgeschreckten und verängstigten Öffentlichkeit festzustellen. Zu vermissen ist dagegen eine Fähigkeit zum Trauern, das heißt zur Wahrnehmungsfähigkeit für die destruktiven Potenziale der menschlichen Natur, ohne sich deswegen in chaotische Hoffnungslosigkeit und Strukturverlust treiben zu lassen. Trauerarbeit, integrative psychische Prozesse werden durch Erinnerung, Reflexion und Sprache möglich. Sie zu zerstören, kann ebenso als das eigentliche Ziel des aktuellen Terrorismus wie vieler „politischer Gegenmaßnahmen“ verstanden werden.
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Radikalisierung in der Fremde? Muslime in Deutschland Inwieweit geht von Muslimen in Deutschland eine terroristische Gefahr aus? Diese Frage, die die Beobachter seit Jahren beschäftigt, ist nach den Ereignissen von New York und Madrid in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt. Das Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen, das bereits vor den Anschlägen nicht unproblematisch war, wurde dadurch noch stärker belastet. Die Deutschen mussten mit Bestürzung feststellen, dass drei der mutmaßlichen Attentäter von New York und Washington jahrelang unbehelligt und unauffällig unter ihnen gelebt und von Deutschland aus ihre Tat geplant hatten. Fassungslos fragten sich die Menschen, wie es dazu kommen konnte, dass ein junger Akademiker, wie Mohamed Atta, der in Deutschland acht Jahre lang studiert hatte, ein Flugzeug mit dem Ziel entführen konnte, in ein Hochhaus zu rasen und Tausende Unschuldige mit in den Tod zu reißen. In einer Welle der Hysterie und des Misstrauens wurde hektisch eine Antwort auf diese Frage gesucht und auch schnell gefunden: Es soll sich bei den Tätern um sogenannte „Schläfer“ gehandelt haben, die schon mit einem Mordauftrag ins Land gekommen waren und sich über einen längeren Zeitraum unauffällig hier aufhielten, bis sie aktiviert wurden. In diesem Zusammenhang stellen sich folgende Fragen: Kamen die mutmaßlichen Täter schon als Schläfer ins Land oder radikalisierten sie sich womöglich langsam in der Fremde? Welche Faktoren begünstigen die Radikalisierung, und welche Rolle spielt dabei die Diasporasituation der Betroffenen? Welche Rolle spielt die Religion? Welche Rolle spielt das Ursprungsland, und inwieweit ist das Gastland für den Radikalisierungsprozess verantwortlich? Ziel des vorliegenden Beitrags ist die Prüfung der gängigen, in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Annahme, dass religiöse Muslime anfälliger für Radikalisierung und militante Ideologien als „verweltlichte“ oder „westlich orientierte“ sind.
Die Rolle der Religion in der Fremde Es gibt nicht „den einen Islam“, wie es auch keine einheitliche islamische Ideologie, weder in den islamischen Ländern noch in der Diaspora, gibt. Das Gleiche gilt auch für die Muslime selbst. Je nach Herkunftsland, Grund des Aufenthalts in der Zielgesellschaft, persönlicher Geschichte, Bildungsniveau und Sozialstatus variiert das Islamverständnis der Muslime in der Fremde. Allgemein lässt sich aber feststellen, dass die muslimische Diaspora
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tendenziell eher wertkonservativ ist. Zu beachten ist auch, dass die in der Fremde Lebenden emotional verletzbarer als die Daheimgebliebenen sind, wie schon ein arabisches Sprichwort sagt: „In einem fremden Land kann sogar der Hase dein Kind beleidigen.“ Der Islam in der Fremde unterscheidet sich deutlich vom Islam in der Ursprungsgesellschaft. Damit ist nicht der Islam als Glaube, sondern als Lebensform gemeint. In der Ursprungsgesellschaft mit muslimischer Mehrheit gestaltet Islam als Glaube und Praxis den Alltag, der von einer gewissen Gelassenheit, Selbstverständlichkeit und einem Automatismus gekennzeichnet ist. Ein explizites Bekenntnis zum Islam ist in der Regel keine Notwendigkeit. Religiosität in der muslimisch geprägten Heimat führt zur Anerkennung und Entlastung des Individuums in seiner Gemeinde. Die muslimische Diaspora sieht sich demgegenüber mit der Herausforderung konfrontiert, als Minderheit in einer nichtmuslimischen und zudem säkularisierten Gesellschaft leben zu müssen. Deswegen erhöht sich für Immigranten die Bedeutung der Religion. In der Fremde bietet sie auch Identitätssicherheit, Geborgenheit und Trost. Deshalb sind Religion, Heimatverbundenheit, ethnische und kulturelle Identität in der Diaspora kaum voneinander zu trennen. Religion wird in der Fremde zum Ersatz für die Heimat und in manchen Fällen auch für die Familie. Das Festhalten an der Religion bringt einem Respekt und Ansehen innerhalb der konservativen Kreise in der Diaspora und bietet gleichzeitig eine Möglichkeit zur „symbolischen Rückkehr“ zu Sippe und Heimat. „An Beispielen für das zähe Festhalten an der überkommenen Religion in der Diaspora mangelt es nicht: erwähnt seien etwa die deutschen Protestanten, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Südchile auswanderten und dort inmitten des Araukanergebietes ländliche Siedlungskolonien errichteten; die Rolle des Katholizismus bei den Iren in den USA oder jene des Talmud bei den über die gesamte westliche und teilweise auch östliche Welt verstreuten jüdischen Gemeinden bis zur Gründung des Staates Israel“ (Waldmann: Vortrag vom 28. 1. 2003). Nun stellt sich die Frage nach der Rolle der Religion bei der Radikalisierung. Die gängige Annahme im Westen lautet: Der Islam birgt in sich ein großes Potenzial für Gewalt, und gläubige Muslime sind anfälliger für Intoleranz und Radikalismus als westlich orientierte. Die Muslime dagegen beteuern, der Islam bedeute wortwörtlich „Frieden“ und habe mit Gewalt und Terror nichts zu tun.1 Wenn man die Biographien der mutmaßlichen Attentäter vom 11. September daraufhin untersucht, welche Rolle die Religion im Radikalisierungsprozess gespielt hat, stellt man fest, dass es sich häufig nicht um Menschen handelt, die ihre Kindheit und Jugend in Koranschulen verbracht haben, sondern um Menschen, die mit dem Westen sehr vertraut waren. „Sie haben durchwegs moderne Lebensläufe aus säkularen, dem westlichen Lebensstil zugeneigten Mittel- und Oberschichten, die durch Bekehrungserlebnisse gekennzeichnet sind“ (Kermani 2002: 27). Die Tante von Ziad Jarrah, einem der mutmaßlichen Attentäter des 11. September, der aus dem Libanon stammt, wollte nicht glauben, dass ihr Neffe radikal geworden sei und so eine abscheuliche Tat begangen habe: „Wie konnte das passieren, unserem Ziad, der so westlich war und so neugierig, verliebt in seine Freundin und versorgt vom Vater? Unser Ziad war kein Fanatiker und nicht ziellos, er war doch nicht einmal religiös.“ Ziad wurde
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nicht religiös erzogen, er wurde sogar auf christliche Schulen geschickt. Er durfte Alkohol trinken, ausgehen und sich mit Mädchen amüsieren (Der Spiegel 38/2002). Zacaria Mousaoui, ein Franzose marokkanischer Abstammung, befindet sich seit August 2001 in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, der zwanzigste Mann der Terrorgruppe des 11. September gewesen zu sein. Er war auch kein gläubiger Muslim, bis er Frankreich verließ, um in London zu studieren. „Geld hat ihn immer interessiert. Sein Motor war sozialer Aufstieg“, erinnert sich sein großer Bruder (SZ 28. 10. 2002). Er war über zwanzig Jahre alt, als er zum ersten Mal eine Moschee in London betrat. Er wurde auch nicht religiös erzogen. „Seine marokkanische Mutter hatte stets Wert darauf gelegt, dass er und seine drei Geschwister keinen Umgang mit Arabern haben sollten. Sie wollte aus ihnen echte Franzosen machen“ (SZ 28. 10. 2002: 3). Sein Bruder meint: „Für Zacaria, der aufgrund seiner Herkunft Muslim ist, hatte diese religiöse Ungewissheit enorme Auswirkungen. Und ich denke, dass dies auch für all jene zutrifft, die in den Ausbildungslagern von Al-Qaida in Pakistan waren“ (Mousaoui 2002: 64). Mousaoui fehlte in der fremden Londoner Gesellschaft ausreichendes eigenes Wissen über den Islam. Er war – wie sein Bruder bemerkte – einer Gruppe ausgeliefert, die seine isolierte Lage erkannte. „Die Anwerbung meines Bruders war aufgrund seiner völligen Unkenntnis in Glaubensfragen umso einfacher. Er war unbedarft und hatte weder entsprechende Grundkenntnisse noch die nötige geistige Standhaftigkeit, um sich dagegen zu verteidigen“ (Mousaoui 2002: 143). Mohammed Atta ist fast der einzige, der über Jahre hinweg streng religiös war und seine Religion ernst nahm, trotzdem scheint er kurz vor dem Anschlag aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Es gibt Berichte, nach denen der junge Ägypter wenige Tage vor dem Anschlag in New York in einem Striplokal mehrere Wodka getrunken hat (Die Zeit 66/ 2001). Als gläubiger Muslim, der nicht in einer ethnisch-religiösen Gemeinde in der Diaspora eingebettet war, wurde Atta seine Religiosität nicht zur Entlastung, sondern zur Belastung in seiner westlich säkularen Umgebung in Deutschland. Der jetzige islamische Fundamentalistenführer in Großbritannien, Abu Hamza, war noch vor ein paar Jahren Türsteher in einem Londoner Bordell. Und Ayman Al-Zawahiri, der zweite Mann im Netzwerk Al-Qaida, ist ein Arzt aus bester ägyptischer Familie. Sein Großvater war der erste Generalsekretär der Arabischen Liga (Kermani 2002: 27). Tamim Adnani war die rechte Hand von Abdallah Azzam und ein Freund Bin Ladens. In den 80er Jahren war er oft in Amerika, um Spenden für die Mudjahidin in Afghanistan, die damals gegen die Sowjets kämpften, zu sammeln. Er hielt Vorträge über die Bedeutung des Djihad und die zu erwartende Belohnung für die Märtyrer. Er selbst starb 1990 nicht den Märtyrertod, sondern erlag in Orlando einem Herzschlag, ausgerechnet beim Besuch von Disney World (Kermani 2002: 26). All diese Biographien schildern nicht arme, zurückgebliebene, ungebildete, unerfahrene und naive Menschen, die ihr Leben in religiöser Abgeschiedenheit verbrachten. Es sind eher Menschen, die vieles erlebt haben, Wanderer zwischen den Welten waren und sich wohl hauptsächlich wegen ihrer Verunsicherung und Isolierung radikalen Organisationen anschlossen. Sie hatten verschiedene Ziele und Perspektiven vor Augen, ehe sie sich zu einer terroristischen Karriere entschlossen. Die Religion war nicht Motivationsfaktor
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ihres terroristischen Handelns, sie wurde vielmehr zur Legitimierung dieses Handelns eingesetzt. Es handelt sich bei diesen Personen häufig um Konvertiten, die die Religion erstmals oder nach Abschweifungen als Rekonvertiten neu entdeckten. Sie wuchsen nicht in die religiösen Strukturen hinein, sondern suchten Zuflucht in der Religion nach Enttäuschungen oder Überforderungen. Konvertiten bzw. Re-Konvertiten scheinen besonders anfällig für übertriebene Religiosität und moralischen Purismus zu sein. (Es ist allgemein bekannt, dass ehemalige Raucher intoleranter sind gegenüber dem Rauchen in ihrer Gegenwart als Nichtraucher, die noch nie geraucht haben.)2 In langen Leitfadengesprächen3 mit arabischen Studenten und Migrantenkindern der zweiten Generation fiel mir auf, dass diejenigen, die in Familie und religiöser Tradition eingebettet sind, viel selbstsicherer und bestimmter auftreten als jene, welche sich selbst gern als „liberal“ oder „nicht besonders religiös“ bezeichnen. Personen, die in religiösen Familien aufgewachsen sind und selbst ebenfalls religiös geworden sind, zeigen sich zwar der hiesigen Gesellschaft gegenüber skeptisch und distanziert, sind aber zufriedener mit ihr, den hiesigen Strukturen und mit ihrem Leben im Allgemeinen als jene, die keinen oder nur wenig religiösen Hintergrund haben. „Die Deutschen sind zum Teil Muslime, aber sie wissen es nicht. Islam ist Disziplin, und die Deutschen sind diszipliniert. Islam ist Freiheit, Sauberkeit und Menschenrechte, und all das gibt es hier in Deutschland. Moral und Familie ist eine andere Geschichte. Wir sind ,Moralmuslime‘ und die Deutschen sind ,praktische Muslime‘“, sagte ein Befragter. Eine derart positive Einstellung ist typisch für viele, die sich gläubige und praktizierende Muslime nennen. Auffällig war, dass Beschwerden über Diskriminierung und Fremdenhass in Deutschland insbesondere von Migranten kamen, die sich als nicht religiös bezeichneten. „Als Muslim hast du keine Chance in dieser Gesellschaft“, meinte ein Befragter, der fast stolz darauf verwies, noch nie in einer Moschee gewesen zu sein. Bei manchen „nicht religiösen“ Muslimen war eine Art regelrechter „Affinität“ zu Diskriminierung zu beobachten. Sie scheinen sich nicht ungern in der Rolle des „Diskriminierten“ zu sehen, weil sie hiermit ihre eigenen Versäumnisse und schwachen Leistungen im Gastland entschuldigen und rechtfertigen können. Demgegenüber sagte ein anderer Befragter, der sich als religiös sieht: „Als Muslim musst du sehr fleißig sein, um dich hier zu beweisen.“ Während die Gläubigen betonen, dass jeder für seine Taten selbst verantwortlich ist, neigen Nichtreligiöse dazu, den „Druck der Straße“ und die zahlreichen Verführungen in Deutschland für ihr „Abirren“ verantwortlich zu machen. Bei den Befragungen fiel zudem auf, dass die meisten, die sich als fromm bezeichnen und regelmäßig ihren Glauben praktizieren, sowohl von negativen als auch von positiven Seiten der deutschen Gesellschaft und deren Einflüssen auf sich selbst berichten, während ein nicht praktizierender, nach außen westlich orientierter Muslim dazu neigt, die Gesellschaft hier teilweise negativistisch zu dämonisieren. Typisch für einen frommen Muslim dürfte folgende Meinungsäußerung sein, die ich als Antwort auf meine Frage erhielt, ob ein Muslim Gewalt anwenden darf, um das Gute zu gebieten und das Böse zu verbieten: „Gott hat gute und schlechte Sachen geschaffen. Ich glaube nicht, dass er will, dass wir die schlechten Sachen selber kaputt machen, er hat uns Verstand gegeben, um gute Sachen auszusuchen und schlechte Sachen beiseite zu lassen“.
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Gläubige Muslime befürworten generell „Gehorsam“ gegenüber der jeweiligen „Obrigkeit“. Sie sind sich in der Regel darin einig, dass die jeweiligen ulil-amr, also die Befehlshaber und Führungspersonen in den politischen Institutionen, für Ordnung, Sicherheit und Gerechtigkeit verantwortlich sind. Auch wenn die ulil-amr nicht moralisch und nicht sonderlich gerecht sind, folgt man ihren Befehlen, schon um Spaltungen und Unruhen zu vermeiden. Die Geschichte der diktatorialen Regime in der arabischen und islamischen Welt beweist, dass diese Haltung dem Herrschenden gegenüber eher die Regel und nicht die Ausnahme darstellt. Der Schluss liegt nahe, dass ein religiöser und praktizierender Muslim, der die Religion nicht nur als letzten Anker gegen Frustration oder als Schutzschild gegen schlechte Einflüsse benutzt, viel toleranter sein kann als einer, der sich mit den Grundlagen seiner Religion nicht identifiziert. Ein mittelalterlicher islamischer Geistlicher (Al-Imam Al-Schafi’i) schrieb einmal: „Ich liebe die Gläubigen, auch wenn ich mit ihnen nichts am Hut habe, und ich hasse die Sünder, selbst wenn ich mit ihnen die Sünden teile.“ Zu den Themen Geld, Sexualität und Alkohol äußerten sich die religiösen Befragten viel gelassener als Nichtpraktizierende. Sie finden es nicht in Ordnung, wie mit diesen drei Dingen in Deutschland umgegangen wird, aber sie brechen bei ihrer Kritik nicht in schiere Wut aus, wie dies bei einigen „Liberalen“ zu beobachten ist. Vor allem junge Religiöse zeigten eher eine individuelle, nicht aber eine kollektive Interpretation moralischer Gefahren: „Es schadet uns nicht, wenn andere sündigen. Nur wenn wir selbst sündigen, ist es schlimm.“ Oder: „Sie haben Geld, aber wir haben Zufriedenheit.“ Und: „Sie genießen jetzt und wir genießen im Jenseits.“ Das moralische Überlegenheitsgefühl und die Gewissheit, dass die Gläubigen von Gott belohnt werden, relativieren für viele die materielle Überlegenheit der Deutschen und mindern die Auswirkungen der Diskriminierung. Diejenigen, die ihren Gott schon gefunden und keinen Zweifel daran haben, werden nicht so sehr provoziert. Aber diejenigen, die nicht genau wissen, wie sie zu diesem Gott stehen, oder Angst haben, ihn wieder aus den Augen zu verlieren, können es kaum ertragen, wenn irgend jemand etwas Abfälliges über diesen „Gott“ sagt. Es soll trotzdem nicht der Eindruck entstehen, dass westlich orientierte Muslime generell anfälliger sind für Radikalismus als andere. Viele nichtreligiöse Muslime sind sicherlich gut integriert und leben friedlich in Deutschland. Aber für Menschen, die sich von ihrer Religion und Tradition lossagten, ohne danach als „Insider“ in der Gastgesellschaft angenommen zu werden, besteht die Möglichkeit, dass sie zur Religion zurückkehren, nun allerdings mit mehr Verbitterung und Ressentiment gegenüber dem Gastland. Sicherlich steckt auch im Islam, wie in jeder anderen Religion, sowohl ein Potenzial für Frieden und Nächstenliebe als auch für Kriege und Ausgrenzung. Dabei sind die historischen Begebenheiten und die geopolitische Lage viel wichtigere Faktoren als die Natur der Religion. Der nordamerikanische Fundamentalismus-Forscher Scott Appleby begründet die Hinwendung mancher religiösen Bewegungen zur Gewalt damit, dass für diese ein Ausnahmezustand eingetreten ist, in welchem die in jeder Religion verankerten Werte von Frieden und Toleranz auf den Kopf gestellt, in ihr Gegenteil verkehrt werden. Während im Westen die Vorstellung vorherrscht, der Islam sei auf dem Vormarsch und sich die Muslime verstärkt zum Glauben hinwendeten, empfinden sich die Muslime eher als in der Defensive und beklagen abnehmende Religiosität. Selbstverständlich spielt
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die Religion als wichtigste Identitäts- und Legitimationsquelle für Muslime eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung von Kämpfern und Legitimierung von Gewalt. Dennoch kann nicht von einem direkten Zusammenhang zwischen Religiosität und Radikalität ausgegangen werden. Ein Radikalisierungsprozess in der Fremde ist auch von anderen Faktoren und Determinanten abhängig.
Überprüfung von Attentäter-Biographien im Hinblick auf Faktoren, die möglicherweise zur Radikalisierung beitrugen Persönlichkeitsstrukturen Die Analyse der Biographien belegt, dass Terroristen unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen haben und die Annahme unzutreffend ist, sie zeichneten sich durch besondere psychopathologische Charaktermerkmale aus.4 In einem Interview mit der in London erscheinenden arabischen Zeitung Al-Hayat betonte der Vater von Mohamed Atta, dass sein Sohn eher sanft und weich und sogar apolitisch gewesen sei.5 Ein Psychologe vermutet, dass es sich bei Atta um eine zwanghafte puritanische Persönlichkeit6 gehandelt habe, die durch eine Ambivalenz von Gehorsamkeit und Hingabe einerseits und Ressentiment und Herausforderung andererseits geprägt gewesen sei. Diese Mischung erkläre nicht nur seine Dualität im Handeln, sondern auch seine Bereitschaft, sein Leben für die „gerechte Sache“ zu opfern. Wenn man diese Interpretation weiterspinnt, könnte man ein vereinfachtes Denken, das die Welt schwarz-weiß sieht und nach dem Freund-Feind-Schema teilt, mitverantwortlich für die „aggressive Opferbereitschaft“ machen, die am Ende dazu führte, nicht nur sich selbst, sondern auch Tausende Unschuldige in den Tod zu reißen. Der junge Tunesier, Nizar Trabelsi, kann als eine Art Gegenbeispiel zu Atta gelten. Er kam 1989 nach Deutschland, um Fußballprofi zu werden. Gegenwärtig sitzt er als mutmaßlicher Terrorist im Gefängnis. Sein Leben ist von ständigem Wechsel und kontinuierlichem Abstieg gekennzeichnet.7 Im Gegensatz zu Atta war er leichtsinnig und unzuverlässig. Seine deutsche Exfrau spricht vom schizophrenen Nizar: „Er war wie zwei Menschen, es gab den anständigen Nizar, und es gab den (sic) ‚Arschloch‘ Nizar, von der einen auf die andere Minute. Er war wie ein Chamäleon.“ Besonders religiös war Nizar nicht. Sein Leben als Nachtmensch war ausschweifend. Er hatte auch regelmäßige und intensive Erfahrungen mit harten Drogen. Obwohl sich Trabelsi und Atta in vieler Hinsicht deutlich unterscheiden, lässt sich doch eine Gemeinsamkeit ausmachen. Beide scheinen die Fähigkeit besessen zu haben, ihr Bewusstsein, ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten zu spalten. Dies geschah nicht immer nur zum Zwecke der Tarnung. Vielmehr könnten wir das als Ausdruck des Dualismus und der inneren Zerrissenheit deuten, unter der beide litten – und mutmaßlich viele andere Terroristen leiden.
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Doppelte Entfremdung und Marginalisierung, emotionale und soziale Isolierung Marginalität ist „gekennzeichnet durch enge Beziehungen von Personen zu unterschiedlichen Gruppen bei ungeklärter Zugehörigkeit“8. Nach einem langen Aufenthalt im Ausland ändert sich die Beziehung des Immigranten zu seiner Heimat. Beim ersten Heimatbesuch nach der Immigration fühlen sich viele von der eigenen Familie verkannt. Die Familie lernt im Laufe der Zeit, ohne den Sohn zurechtzukommen. Der Sohn stellt fest, dass er sich nicht mehr nahtlos in die heimatlichen Strukturen einfügen kann. Deswegen kehren viele nach der ersten Zwischenheimreise in die Heimat enttäuscht zurück. Sie stellen fest, dass weder ihre Heimat noch das Gastland sie brauchen. Diese „Heimat-Problematik“ ist wohl bei Studenten am gravierendsten. Die neuen Eindrücke und Einsichten stehen im Gegensatz zu dem ursprünglichen romantischen und idealistischen Bild der Heimat, wo das Wetter schöner und die Menschen glücklicher und freundlicher sind. Als Beispiel für einen derart doppelt entfremdeten Marginalen kann Zacaria Mousaoui gelten. Nicht nur als Araber, sondern auch als schwarzer Araber war Mousaoui doppelt diskriminiert. Auch innerhalb der maghrebinischen Gemeinde in Frankreich war er nicht akzeptiert, da er weder Arabisch konnte noch sich im Islam auskannte. Zacaria wusste also nicht, ob er Franzose, Araber oder Schwarzer war. 1991 flüchtete er vor dem französischen Rassismus nach England, um dort seinem Studium nachzugehen. Seine Verlorenheit hat sicher dazu beigetragen, sein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe zu fördern, die ihn bei sich aufgenommen hat.9 Es ist interessant, dass Zacaria sich nicht in Frankreich, sondern erst später in England radikalisierte. Ohne Familienangehörige oder Bekannte scheinen sich hier seine Isolierung und sein Zugehörigkeitsbedürfnis bis zu einem Grad gesteigert zu haben, der seine Anwerbung durch Al-Qaida entscheidend erleichterte. Einiges spricht für die Hypothese, dass emotionale und soziale Isolierung den Anschluss an radikale Gruppen erheblich begünstigen. Als die wichtigsten Formen der Isolierung können demnach unterschieden werden: Selbstisolierung, Isolierung durch Diskriminierung und Marginalisierung, Gruppenisolation. Die Nähe zu einer radikalen Gruppe oder einem charismatischen Führer In der Biographie von Osama Bin Laden lesen wir, dass er erst durch den charismatischen Scheich Abdullah Azzam, einen früheren palästinensischen Djihadführer in Afghanistan, richtig in den afghanischen Djihad hineingezogen wurde.10 Scheich Abdullah Azzam spielte eine wichtige Rolle bei der Auslegung und Ausprägung der Begriffe Djihad und Märtyrertum für Osama Bin Laden. Nach dem Märtyrertod seines Lehrers hatte Bin Laden die besten Voraussetzungen, selbst der neue charismatische Führer zu werden. Immerhin ließ der Multimillionär den Luxus und das abgesicherte Leben hinter sich, um seine Glaubensbrüder in Afghanistan bei ihrem Kampf gegen die sowjetische Invasion zu unterstützen. Sein gesamtes Vermögen stellte er in den Dienst des Djihad. Die Tatsache, dass die größte Macht der Welt Bin Laden zum Staatsfeind Nummer eins erklärte, hat ihn in den islamischen Ländern sehr populär gemacht, wo er früher außerhalb der islamistischen Kreise
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kaum bekannt war. Fast alle strukturellen politischen Veränderungen in der islamischen Welt waren im Laufe der Geschichte mit einem charismatischen Führer verbunden. Anwerbung, Rekrutierung und Trainingslager Der Bruder von Zacaria Mousaoui erzählt über die Umstände, welche die Anwerbung von jungen Muslimen durch radikale Organisationen begünstigen: „Die Anwerber gehen nach dem gleichen Muster vor. Zuerst machen sie junge Opfer aus, die gewollt oder gezwungenermaßen aus ihrer Familie entwurzelt sind. Diesen jungen Leuten ohne erwachsene Bezugspersonen fehlt die moralische Stütze, die in einer Familie vom Vater, von der Mutter, den Geschwistern oder auch von den Freunden verkörpert wird.“11 Zuerst fangen sie mit emotionalen Diskussionen über die dramatische Lage in Palästina, Tschetschenien oder dem Irak an, dann wird an den Stolz appelliert. Der Islam brauche Männer, die sich vor dem Tod nicht fürchten. Folgende Aussage des Propheten Mohammed scheint in einem besonderen Maße die Muslime in der Diaspora zu motivieren: „Der Islam ist als Fremder geboren und wird als Fremder zurückkehren.“ Das Trainingslager ist der Ort, wo die Auszubildenden endgültig von ihrer persönlichen Geschichte, Familie und sozialen Umgebung getrennt und der Sinn für Realität und Rationalität beseitigt werden sollen. Es scheinen vor allem Minderwertigkeits- und Machtlosigkeitsgefühle zu sein, die Jugendliche in die Arme extremistischer Organisationen treiben. Diese geben den Jugendlichen ihr Selbstwertgefühl und ihre Handlungsfähigkeit zunächst zurück, um ihnen dann später wieder alles abzuverlangen. Anfangs bieten sie ihnen eine Möglichkeit, endlich die Verantwortung an sich zu reißen und alle Zügel ihres Schicksals in die Hand zu nehmen. Später aber lassen sie sie glauben, dass sie nichts wert sind, damit sie zur Selbstaufopferung bereit werden. Am Anfang zählt der Einzelne als Mann und als Avantgardist, dann zählen nur Gott und der Glaube, schließlich ist nur noch die Gruppe wichtig, und ganz am Ende steht einzig und allein das „Projekt“ im Vordergrund.
Ergebnisse der Interviews: Migrationsspezifische Identitätsprobleme und Radikalisierungsprozesse Kulturschock und Entfremdungsprobleme muslimischer Emigranten in Deutschland Der Begriff „Kulturschock“ ist an sich zu simpel, um die komplexen Prozesse, die ein junger Muslim in einer fremden Gesellschaft durchläuft, zu beschreiben. Denn es geht um mehr als um die Auseinandersetzung mit zwei sehr unterschiedlichen Kulturen. Verortung, Integration, Heimat, kulturelle Herkunft und kulturelle wie persönliche Identität sind Fragen, die sich in aller Schärfe erst stellen, wenn jemand sich zum Leben in der Fremde entscheidet. Die Normen einer „Konsum-, Spaß- und Leistungsgesellschaft“ sind vielen Muslimen
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fremd. Viele junge Muslime, vor allem die männlichen, empfinden die Orientierung von Deutschen an diesen Gesellschaftsnormen als eine Art „kulturelle Gewalt“ der westlichen Gesellschaft und fühlen sich dagegen machtlos. In der Heimat gibt es viele Möglichkeiten, Tradition und Moderne miteinander zu kombinieren und zu „versöhnen“, indem man gewissermaßen den Islam modernisiert oder die Moderne islamisiert. In der Fremde aber sieht sich der Zuwanderer sowohl von der muslimischen Diaspora als auch von der Gastgesellschaft mittelbar oder unmittelbar ständig gedrängt, „Farbe zu bekennen“, sich für eine Richtung, für Tradition oder Moderne zu entscheiden. Die realen kulturellen Widersprüche und Spannungen, denen die meisten Muslime (zumal die jungen) ausgesetzt sind, werden in der Fremde deutlicher und kommen intensiver zum Ausbruch. In dieser Situation bietet sich Religion an als Schutz vor oder Alternative zu einem westlichen Zivilisationsmuster, das den Werten von Spaß und Konsum und der Lebenseinstellung von „Gott ist tot“, huldigt. Religion lässt sich aber nur in der Gemeinde praktizieren. Für viele Muslime erweist sich die Freiheit in der Fremde als Fata Morgana, die entweder unerreichbar oder bedrohlich ist. Unter Freiheit verstehen viele Muslime das Recht auf Selbstbestimmung und politische Partizipation. Selbst wenn sich dem Neuzugewanderten eine Tür der Freiheit öffnet, bleiben ihm doch öfter mehrere andere Türen verschlossen. Nichtbetroffene vermögen die seelischen Qualen nicht zu ermessen, die beim ambitionierten Newcomer aus Enttäuschung und Zurückweisung entstehen können, gerade nachdem dieser eventuell das Streben nach Freiheit und Anerkennung in der Fremde mit der Demontage seiner Werte und der Verdrängung seiner kulturellen Identität bezahlt hat. Anders als die Menschen in der Heimat, die einen Konflikt auch rational und praxisbezogen interpretieren können, neigt die Diasporagemeinschaft häufig dazu, zu Konflikten in den Herkunfts- bzw. Heimatregionen mit einem praxisfernen dogmatischen Purismus Stellung zu beziehen. Nehmen wir den Nahostkonflikt als Beispiel, so können wir beobachten, dass besonders unversöhnliche Töne und besonders kompromisslose Haltungen vor allem in Kreisen der muslimischen und jüdischen Gemeinden in den USA und Europa zu beobachten sind. Während die Menschen vor Ort miteinander ringen und verhandeln, um praktikable Lösungen zu finden, glauben in der Diaspora die wenigsten an Dialog und die Möglichkeit vernünftiger Kompromisse. Während in Israel regelmäßig Tausende mit der Forderung an die eigene Regierung auf die Straße gehen, die besetzten palästinensischen Gebiete zu verlassen und die jüdischen Siedlungen zu räumen, hört man so gut wie keine Kritik an der israelischen Politik seitens der jüdischen Diaspora, obwohl mehr Juden im Ausland leben als in Israel selbst. „Die Diaspora hat ein schlechtes Gewissen. Die Leute sagen: Uns geht’s hier gut. Es steht uns nicht zu, den Menschen in Israel zu sagen, was sie tun und lassen sollen. Wir sollen sie einfach unterstützen, meinen sie“, antwortete Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter auf meine Frage, warum die Diaspora emotionaler und kompromissloser als die Menschen zu Hause scheint. Es gibt Tausende von Palästinensern, die täglich nach Israel fahren, um dort zu arbeiten. Ein Palästinenser, den ich in Deutschland dazu befragte, nannte diese Menschen Kollaborateure und Verräter. „Solche Leute sind daran schuld, dass wir bis heute keinen eigenen Staat haben.“
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In der Fremde gönnen sich nicht wenige den Luxus, Konflikte in der fernen Heimat in wirklichkeitsfremden, emotionalen Kategorien zu bewerten und eine unflexible Haltung einzunehmen. Eine derart starre Haltung wird oft von einer übertriebenen Religiosität begleitet, die sich als eine Art „symbolische Rückkehr“ interpretieren lässt. Diese soll als eine Art Wiedergutmachung oder Entschädigung gegenüber der Heimat und der Familie dienen, denen man den Rücken gekehrt hat. Ein Emigrant kommt in der Regel mit einem bestimmten „Lebensprojekt“ in die Fremde und interessiert sich wenig für die Umstände im Gastland. Genauso wenig interessiert sich das Gastland für das „Lebensprojekt“ des Neuzugewanderten. Von ihm werden lediglich Loyalität und die Erfüllung der Aufgabe, für die er einwandern durfte, erwartet. Viele der Hoffnungen, die Menschen in die Emigration treiben, bleiben für die meisten – auch nach einem langen Aufenthalt in der Fremde – unerfüllt. Die Wünsche nach Reichtum, Freiheit, Unabhängigkeit und Mitsprache gehen nur für sehr wenige in Erfüllung. Für arme Neuzuwanderer bleibt auch in der Fremde das Verhältnis von Armut und Reichtum unverändert. Auch wenn man in der Fremde finanziell besser gestellt ist als zu Hause, ist man hier doch wiederum meistens der Ärmere. In der Fremde gehört man zu einer unterprivilegierten Minderheit. Vielfältige Abhängigkeiten vom Gastland – von der Aufenthaltsverlängerung, vom Asylverfahren, vom Arbeitgeber, von der Sozialhilfe oder auch von der deutschen Ehefrau – bestimmen den Aufenthalt eines Ausländers in Deutschland. Diese Abhängigkeiten verletzen den Stolz eines Mannes aus dem Orient. Man könnte statt „Stolz“ auch „Männlichkeit“ sagen, denn die Worte „Mann“ und „Stolz“ sind in vielen arabischen Begriffen miteinander verflochten. Fremd ist vielen Muslimen auch der deutsche Umgang mit Konflikten und Aggressionen. Menschen, die aus Kulturen kommen, die es erlauben, Konflikte auch mit lauten Worten und bisweilen gar handgreiflich auszutragen, können ihre Aggressionen nicht ausleben, wenn sie es mit Deutschen zu tun haben. Sobald man lauter wird oder eine aufgeregte Geste macht, gilt man als unzivilisiert und gewaltbereit. Drei Befragte erzählten, dass Angestellte in einer Behörde, mit der sie es zu tun hatten, sofort die Polizei gerufen hätten, nur weil sie sich lautstark geäußert hätten. „Bei uns kommt die Polizei – wenn überhaupt – erst, wenn Blut geflossen ist“, meinte einer von ihnen. Die Offenheit der Deutschen im Hinblick auf den Umgang mit Alkohol und Sexualität schockiert oft männliche Muslime, die damit vorher keine Erfahrungen gemacht haben. Sexuelle Enthaltsamkeit in einer Gesellschaft zu üben, die freizügig mit Sexualität umgeht, ist für einen jungen Muslim äußerst belastend. Viele Befragte machen den freien Umgang der Deutschen mit Sexualität und Alkohol für die „schwachen sozialen Bindungen in den deutschen Familien“ verantwortlich. Oft provoziert der offene Umgang der Deutschen mit Sexualität junge Muslime, die entweder noch keine sexuellen Erlebnisse gehabt haben oder, nachdem sie die „verbotenen Früchte“ gekostet haben, von Schuldgefühlen und Gewissensbissen geplagt werden. Diejenigen, die nicht aus religiösen Gründen, sondern aus Mangel an Möglichkeiten keinen Zugang zu Sexualität haben, projizieren oft ihre Frustration auf das sexuelle Verhalten im Gastland. Menschen, die bereits Heiratspläne oder aber eine Familie haben, kritisieren zwar auch die deutsche Sexualmoral, fühlen sich aber dadurch nicht allzu sehr provoziert oder bedroht.
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Die offene Ausübung der Religion sowie die Beachtung der moralischen Vorstellungen der Kollektivgesellschaft dienen in der Heimat als eine Art Entlastung. In einer westlichen Gesellschaft aber können sie zu einer Belastung werden. Denn wenn man nicht in eine Gemeinde eingebettet ist, die eine strikte Religionspraxis würdigt, isoliert man sich durch seinen religiösen Eifer. Manchmal führt dies zu übertriebenem Festhalten an der Religion, oft aber zu Werte-Desorientierung und moralischer Verwirrung. Auch die eher marginale Stellung der Religion in der Gesellschaft sowie der in Deutschland übliche „aufgeklärte“ Umgang mit heiligen Symbolen verunsichern Menschen, für die das Heilige unantastbar ist. Ein arabischer Student, den ich interviewt habe, berichtete mir, dass er entsetzt gewesen sei, als sein deutscher Studienkollege einen Witz erzählte, in dem er Jesus und Maria und die unbefleckte Empfängnis verspottete. „Wie kann eine Gesellschaft, die ihre eigene Religion nicht versteht und gar nicht respektiert, unsere verstehen oder respektieren?“, kommentierte der arabische Student, der Jesus und Maria, wie sie im Koran dargestellt sind, als ihm heilige Figuren betrachtet. Die Relativierung des Heiligen bzw. die Relativierung der Sünde verunsichern einen Muslim in der Diaspora. Im emanzipierten Deutschland hat der Begriff „Sünde“ kaum noch einen Platz. Nur im Zusammenhang mit Steuerhinterziehung oder Nichtberücksichtigung der Verkehrsregelungen wird der Begriff „Sünde“ gebraucht. Oder wenn eine Frau, die auf Diät ist, eine große Tafel Schokolade verspeist, wird sie vielleicht sagen: „Heute habe ich gesündigt!“ Für einen Muslim dagegen sind Begriffe wie „Sünde“, „Teufel“ und „die Strafe Gottes“ allgegenwärtig. Zitate aus den Heiligen Schriften und sinnstiftende Meta-Erzählungen, als Mittel der Kommunikation und Konfliktbewältigung, sind in Europa nicht mehr anerkannt und auch nicht selbstverständlich. Nahezu keiner der Befragten gab zu, unter Identitätskonflikten zu leiden. Doch wenn man „zwischen den Zeilen liest“, kann man feststellen, dass das eigentliche Problem junger Neuzugewanderter, die auf eigene Faust den Weg in die Fremde suchten, in der Regel die Identitätsunsicherheit ist. Das Spannungsverhältnis zwischen den mitgebrachten starren Rollen- und Identitätsvorstellungen und westlichen Vorstellungen, die nicht selten von Ambivalenz und Relativität gekennzeichnet sind, ist noch belastender als die Auswirkungen von Diskriminierung oder sozialer Benachteiligung. Im Westen vermisst ein junger Muslim etwas Absolutes, das er als Zentrum anerkennt, das ihn im Leben leitet und begleitet. Der deutsche Konjunktiv, „das könnte sein, muss aber nicht“ und das „Sowohl-als-auch“ erschweren es jungen Muslimen, sich normativ zu orientieren und verbindliche Entscheidungen zu treffen. Die „Zentrumlosigkeit“ und das „Ende der Metaphysik“ schüren bei ihnen die Angst, dass sich alles auflöst und die Grenze zwischen dem „Heiligen“ und dem „Normalen“, zwischen dem Fremden und dem Eigenen langsam entschwindet. Ein Befragter sagte, dass diese Relativität junge Muslime „vor sich selbst nackt auszieht und ihre geschickt versteckte Doppelmoral, persönliche Dualität und die Schwachstellen ihrer Kultur vor Auge führt“, was sie dieser Gesellschaft „nie verzeihen“ könnten.
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Fazit Das Hauptziel der Interviews war es, ein umfassendes Bild der migrationsspezifischen Probleme und Problemwahrnehmungen der Befragten zu gewinnen. Die referierten Probleme und Problemwahrnehmungen der Befragten dürften typisch, wenn auch nicht im strikten Sinne repräsentativ für die große Gruppe der jungen Muslime sein, vor allem der studentischen, die sich in Deutschland aufhalten. Über die möglichen Implikationen der in den Interviews genannten Sachverhalte und Ansichten für den politischen Radikalisierungsprozess lässt sich lediglich spekulieren. Die durch den „Kulturschock“ verursachten Spannungszustände und Identitätsprobleme wurden ausführlich geschildert. Sie können aber wirksam innerhalb der MigrantenGemeinschaftsmilieus entschärft werden. Sie dürften sich nur im Ausnahmefall im politischen Radikalismus entladen. Potenziell anfällig hierfür dürften, wenn man von Einsichten ausgeht, die den Biographien der Attentäter des 11. September entnommen sind, insbesondere sozial isolierte Individuen sein. Für sie sind auch radikale Gruppen attraktiv, weil sie „Gemeinschaft“ versprechen, und radikale charismatische Führer, weil sie „Sicherheit“ verheißen. Die Ergebnisse der Studie lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: – Die Diaspora fördert nicht die Gewaltbereitschaft, sondern begünstigt politischen Quietismus und Konservativismus. In der Diaspora wird der Islam vorwiegend als Quelle der ethnischen Bestimmung und Kontinuität verstanden. Dementsprechend sind religiöse und ethnische Community miteinander identisch. – Es gibt Anlass zur Annahme, dass eine Integration in das religiös-ethnische Einwanderermilieu (Binnenintegration) zwar zur Segregation von der Gastgesellschaft beitragen kann, zugleich aber Tendenzen einer politischen Radikalisierung, die möglicherweise durch den „Kulturschock“ genährt werden, entgegenwirkt. – In ihrer religiösen Überzeugung Gefestigte neigen weniger zum Radikalismus als „Konvertierte“ oder „rekonvertierte“, ehemalige „Liberale“. Sowohl die Analyse von Biographien der Attentäter des 11. September als auch die Auswertung der Interviews berechtigen zu dieser zentralen Schlussfolgerung. Für Terrorismus potenziell anfällig sind vermutlich Personen, die weder in einer religiös-ethnischen Community noch in der Gastgesellschaft richtig integriert sind. Aus den Interviews geht eindeutig hervor, dass gläubige Muslime in der Regel nicht zum Radikalismus neigen und es ganz verfehlt wäre, sie als potenzielle Terroristen zu sehen. Bei Menschen, die im Glauben gefestigt sind, ist nicht die emotionale und soziale Isolation zu konstatieren, die eine günstige Voraussetzung für Radikalisierung zu sein scheint. Neben individuell-spiritueller Erfüllung verspricht Religiosität auch soziale Anerkennung und zwar sowohl in der Heimat als auch in den – zumeist konservativen – Kreisen der Diaspora. Die Beachtung religiöser Pflichten erfordert regelmäßige Gemeindebesuche, und hier wird man als religiöser Muslim schnell als Bruder bezeichnet.
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Anmerkungen Zur Ambivalenz, die allen Religionen – also nicht nur der islamischen – eigen ist, vgl. Appleby 2000. 2 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass auch das Leben des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten von einer religiös bestimmten biographischen Wende gekennzeichnet ist. Nach einem „sündigen“ Leben mit Alkohol usw. erlebte er eine christliche Bekehrung, die sein Leben vollständig verändert haben soll. Als Präsident scheint er nicht gewillt zu sein, das „Böse“ in der Welt zu tolerieren, und scheint die Vision zu verfolgen, die Welt von „Schurken“ zu befreien. 3 Im Rahmen des Projektes „Terrorismus und seine Organisationen. Analyse ihrer Entstehung und Entwicklung“ am Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Augsburg wurden 65 Interviews mit jungen Türken und arabischen Studenten durchgeführt. Dazu: Waldmann, Peter: Terrorismus und seine Organisationen. Analyse ihrer Entstehung und Entwicklung. Velbrück Verlag 2005. 4 Vgl. Waldmann 1998: 138ff. 5 Washington Post 22. 9. 2001: A01. 6 Immelman: www.csbsju.edu/Research/Atta.html. 7 Fichtner, Ulrich: Allahs Reservist, Der Spiegel 43/2001: S. 78ff. 8 Heckmann: S. 7. 9 Ebd. S. 143. 10 Pohly/Duran 2001: S. 24–29. 11 Mousaoui: S. 140f. 1
Kai Hafez
Islamismus und Medien – Eine unheilvolle Symbiose Der moderne Terrorismus ist eine Kommunikationsstrategie. Zu beklagen sind Opfer von Medienereignissen, die von Leuten inszeniert werden, die anders als bei der regulären Kriminalität gar nicht sie selbst meinen. Stattdessen soll eine politische Botschaft über die Medien an die nationale oder internationale Öffentlichkeit und an Regierungen vordringen. Um die Nachrichtenschwelle zu überwinden, verursachen Terroristen eine möglichst große Zahl von Opfern. Je größer der terroristische Akt, umso größer das Medienereignis, umso klarer die politische Botschaft: Das ist die perfide Logik. Wenn es primär um die Formulierung von öffentlichen Botschaften geht, ist eine kommunikationswissenschaftliche Sichtweise erhellend. Die klassische Politologie allein hilft nicht. Aber auch die Politologie bleibt wichtig, um das Phänomen des Terrorismus zu verstehen. Sie zeigt, Terroristen sind militärisch unterlegen und greifen daher zu Mitteln außerhalb des regulären Medienhandelns. Das Militär ist nicht das Ziel des Terrorismus, denn die Tötung von Soldaten ist sozusagen „normal“ und keine wirkliche Nachricht. Die Politikwissenschaft zeigt aber auch, dass sich unsere politischen Ordnungen gewandelt haben. Moderne Massendemokratien sind auch Mediendemokratien. Das heißt, die Öffentlichkeit ist politikbeeinflussend, mehr noch, Innen- und Außenpolitik rücken immer näher zusammen. So absurd es klingen mag: Dadurch, dass wir immer mehr politisch mitbestimmen, werden wir selbst zu Angriffszielen des Terrorismus. Moderne Politik ist in hohem Maße auf Stimmungen und öffentliche Emotionen, also auch auf öffentliche Angst, aufgebaut. Der unschuldige Zivilist ist heute das Ziel von Terrorismus, denn durch ihn trifft man quasi jeden Einzelnen und über den Einzelnen die ganze Gesellschaft. Terror gegen die politische Klasse ist fast schon aus der „Mode“, denkt man an die lange zurückliegenden Morde und Entführungen, etwa durch die Rote-Armee-Fraktion an HansMartin Schleyer und an anderen. Moderner Terrorismus ist nahezu zwangsläufig Terror gegen Zivilisten, gegen Unschuldige und gegen die Demokratie. Dennoch ist die Logik des Terrors nicht nur verwerflich, sondern sie ist auch falsch. Sie wird ihr Ziel nicht erreichen. Demokratische Gesellschaften, die in Panik und Angst versetzt werden, reagieren keineswegs defensiv. Im Gegenteil. Eine Öffentlichkeit, in Panik versetzt, neigt dazu, ihrer Regierung freie Hand zu lassen. Ein Klima der Nachgiebigkeit gegenüber den Terroristen wird so nicht erzeugt, sondern ganz im Gegenteil nehmen die Restriktionen gegen den Terrorismus zu. Umso größer ist allerdings auch die Gefahr, dass die Gewaltspirale sich immer schneller dreht. Die Medien- und Öffentlichkeitsstrategie der Terroristen führt zu nichts und man kann nur hoffen, dass Terroristen dies merken, bevor es zu noch größeren Katastrophen kommt.
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Terrorismus ist in aller Regel kein Gewinn für Terroristen – bis auf eine einzige Ausnahme und diese Ausnahme ist prekär; man sollte sie sehr differenziert betrachten. Terrororganisationen, die sich wie die palästinensische Befreiungsorganisation PLO später zur politischen Armee entwickelt haben und dem Terror abschwören, können politisch profitieren. Der Osloer Friedensprozess im Nahostkonflikt hat einen solchen Prozess hoffähig gemacht, und dies völlig zu Recht. In ihrem Kampf für einen palästinensischen Staat nutzte die PLO die internationale Bekanntheit, die sie durch den frühen Terrorismus erzielt hatte, als politisches Kapital. Wie anders wäre zu erklären, dass Völker, die dies nicht getan haben – Kurden und lange auch Tschetschenen –, vergessen wurden. Die Palästinenser werden in vielen Befreiungskämpfen kopiert, auch wenn der Friedensprozess in Israel und Palästina gescheitert zu sein scheint. Trotzdem weisen die Verhältnisse dort noch immer auf einen vorbildlichen Wandel vom Terrorismus zu einem politischen Prozess. Wir müssen auch in unserer westlichen politischen Kultur mit dem Problem fertig werden, dass wir Völker und politische Gruppen immer wieder zu ungewöhnlichem Verhalten (zwingen), bevor wir und unsere Medien ihnen Aufmerksamkeit schenken. Der NordSüd-Konflikt, das Informationsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und die Hegemonialpolitik insbesondere der Vereinigten Staaten müssten beseitigt werden. Wenn wir aus der Gewaltspirale herauskommen wollen, muss es möglich sein, unter der Bedingung, dass Terroristen zu politischen Prozessen bereit sind, diese Prozesse in Aussicht zu stellen. Dies wäre kein Nachgeben, sondern eine Bringschuld und Ausdruck von politischer und humanitärer Intelligenz. Es wäre kein Einknicken und kein Hoffähigmachen von Terroristen – die werden von allein immer mehr –, sondern entspräche der Einsicht, dass wir zahlreichen Völkern und politischen Belangen kein ausreichendes Gehör verschaffen und vielfach eine ignorante Weltpolitik gutheißen. Gerade die islamische Welt ist oft missbraucht worden, und auch gegenwärtig ist sie wieder Schauplatz eines westlichen Krieges um Erdöl und strategische Interessen. Auch die Kaukasusstaaten sind seit mehr als 200 Jahren von Russland besetzt. Wenn Außenminister Fischer heute sehr leise von einer „politischen Lösung“ spricht, meint er, dass wir auf Dauer mit polizeilichen und militärischen Mitteln allein gegen den Terrorismus nicht ankommen werden. Aber Fischer sagt das sehr leise, denn er gehört längst zum politischen Establishment. In einem Punkt haben Leute wie Russlands Präsident Putin ja Recht: Man kann nicht mit jedem Terroristen reden. Hier kommen wir zum Phänomen des Islamismus, und meine zentrale These lautet: Unsere Medien neigen dazu, der Logik des Terrors zu erliegen und den falschen politischen Kräften Gehör zu verschaffen. Dadurch erzeugen sie einen Artikulationsdruck bei moderaten friedlichen Kräften, erhöhen den Sympathisantenzulauf zu Terroristen und tragen zur Förderung des Terrorismus bei. Dies ist eine unheilvolle Symbiose zwischen Medien und Islamisten, die einer Korrektur bedarf. Wenn der moderne Terrorismus ohne die Medien nicht zu denken ist, dann müssen auch die Medien darüber nachdenken, wie sie zur Bekämpfung des Terrorismus beitragen können. Wie meine ich das? Beginnen wir mit den Islamisten: Wer sind sie? Typisch für alle Islamisten ist das, was Bassam Tibi die „halbe Moderne“ genannt hat. Moderne Medientaktik, Public-RelationsDenken und die Nutzung des Internets sind ihnen vertraut. Hier treffen extrem konserva-
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tive Ansichten mit modernem Technikbewusstsein zusammen. Man denke nur an Osama Bin Laden und sein Satellitentelefon, das er ständig mit sich trug. Allerdings gibt es zwischen den Islamisten gravierende Unterschiede. Bin Laden und Al-Qaida sind sogenannte Jihadisten. Sie verfügen über kein politisches Programm, sondern verfolgen den „Heiligen Krieg“ mit allen Mitteln und an allen Orten. Die Palästinenser-Organisation Hamas ist ebenfalls terroristisch aktiv, aber in ganz anderer Weise: Sie verbleibt grundsätzlich innerhalb des israelisch-palästinensischen Raumes und dehnt ihren Kampf nicht auf den gesamten Globus aus. Hamas ist ungeachtet ihres illegitimen Kampfes mit Gewaltmitteln dennoch in ihrer eigenen Bevölkerung fest verankert und verfügt über zahlreiche soziale Netzwerke. Wenn überhaupt, dann käme eine Organisation wie Hamas weitaus eher als politischer Dialogpartner in Betracht, als eine internationale Terrororganisation wie Al-Qaida. Seit Organisationen wie Hamas oder Al-Qaida Gewalt anwenden, erzielen sie mediale Aufmerksamkeit, die anderen moderaten politischen Kräften in der islamischen Welt vorenthalten bleibt. Es ist ja kein Wunder, dass ein westlicher Konsument den Eindruck bekommen muss, in der islamischen Welt gäbe es nur Terroristen. Zugegebenermaßen hat es die Zivilgesellschaft in den vielfach autoritären Systemen der islamischen Welt häufig schwer, sich zu entwickeln. Aber die Einseitigkeit in der medialen Perspektive ist vor allen Dingen die Folge der Tatsache, dass sich zwischen Terroristen und Medien eine unheilvolle Symbiose gebildet hat, wonach die einen die blutigen Events veranstalten, über die die anderen breit berichten, was wiederum von den Terroristen als Erfolg gewertet wird. Die Hauptursache für diese Entwicklung ist der Sensationalismus, der zugleich ein kommerzielles Phänomen ist, aber auch unser aller gemeinsames psychologisches Problem. Sensationalismus ist nicht nur eine Charaktereigenschaft westlicher Medien, sondern auch eine von Medien weltweit und von Konsumenten, die die Sensation abfragen. Denken wir an die „Angstlust“ nach den Ereignissen des 11. September 2001, als Konsumenten wie gebannt vor dem Fernseher saßen. Denken wir auch an die groß angelegte Berichterstattung über die Opfer der Schule in Beslan, im Herbst 2004. Der Sensationalismus ist auch ein Problem arabischer kommerzieller Medien: Der berühmte Fernsehsender Al-Jazeera hebt jede Terrorbotschaft ins Bild, derer er habhaft werden kann. Wie immer Medien den Terrorismus in den verschiedenen Mediensystemen dieser Erde auch bewerten und dabei Unterschiede deutlich werden: Eine starke und in der Regel zu starke Beachtung des Phänomens ist nahezu allen kommerziellen sowie öffentlichen Medien gemein. Sie werden vielleicht fragen, ob ich hier nicht den Botschafter für die Botschaft verantwortlich mache. Welche Wahl haben Massenmedien denn? Müssen sie nicht über den Terrorismus berichten? Meine Antwort ist: Ja, das müssen sie. Aber sicher nicht immer in dem Ausmaß und auf die Art, in der sie es allzu häufig tun. Eine überbordende Emotionalisierung, wie in diesen Tagen angesichts des Geiseldramas in Beslan, ist nicht erforderlich. Haben die ständigen Wiederholungen der Beerdigungsbilder wirklich einen Informationswert für uns? Eine ähnliche Frage gilt für die Bilder der vorgeführten Geiseln im Irak. Nein, für die Opfer macht es in der Regel keinen Unterschied, ob wir sie auf unserem Bildschirm sehen. Aber die übermäßige emotionalisierende Berichterstattung ist
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Wasser auf die Mühlen der Terroristen, sie verbreitet Panik und erreicht zumindest vordergründig genau das, was Terroristen erreichen wollen. Der Journalismus bedarf dringend einer ethischen Debatte über Grundfragen der Terrorismusberichterstattung. Inwieweit ist sie notwendig und hilfreich? Wo leistet sie einer klammheimlichen Ästhetisierung des Phänomens Vorschub? Wo beginnt ihre politische und humanitäre Verantwortung und wo endet ihr Auftrag? Wenn wir alle Teil der modernen Mediengesellschaft sind, dann müssen auch wir alle an dieser Auseinandersetzung teilhaben und sie mitgestalten.
Paul Nolte
Die religiöse Grundierung der Kulturen in Europa 1. In jüngster Zeit ist „Religion“ in vielfacher Weise in den öffentlichen Raum der westlichen Gesellschaften zurückgekehrt. Verursacht die kulturelle Gegenwart von Religion Konflikte wie den „Kopftuchstreit“ oder die Debatte über die Präambel der Europäischen Verfassung – oder ist Religion ein Medium, um kulturelle Konflikte überhaupt thematisieren und diskursiv bearbeiten zu können? Wir stehen vor einem Dilemma: Sollen wir versuchen, Religion aus der öffentlichen Kultur zu entfernen, oder zeigen die erwähnten Konflikte, dass es vielmehr nötig ist, der Religion (wieder) einen prominenteren Platz im Selbstverständnis unserer Gesellschaft einzuräumen, aus dem sie zu lange verdrängt worden ist? 2. Historisch gesehen ist die religiöse Grundierung der europäischen Kultur seit dem Mittelalter nie ein eindimensionaler, geradliniger oder homogener Prozess gewesen. Europa entwickelte sich als Überlappungsraum christlicher und jüdischer, in wichtigen Randzonen auch muslimischer, schließlich auch „heidnischer“ und säkularer Religionskulturen. Der Blick darf sich nicht zu sehr auf das Christentum verengen; wir müssen zumindest den gesamten Komplex der rationalen, monotheistischen Erlösungsreligionen ins Auge fassen. Wir stehen auf dem Boden eines Jahrtausends pluralistischer und konfliktreicher Geschichte, nicht auf den Trümmern einer einstmals „vollständigen“ und „homogenen“ religiösen Kultur, deren Verlust und Pluralisierung wir jetzt beklagen müssten. 3. In diesem Sinne ist auch die Säkularisierung, die politische und kulturelle Emanzipation von Religion, keine „zweite Phase“ der europäischen Geschichte, die seit dem Beginn der Neuzeit oder seit der Aufklärung auf den Aufstieg, auf die Durchsetzung von Religion gefolgt wäre. Die Emanzipation von Religion, die Ausdifferenzierung säkularer Sphären, hat die europäische Kultur seit ihren Anfängen begleitet, ebenso wie es zu allen Zeiten Schübe der religiösen Aufladung von Kultur, der Konfessionalisierung, der vermehrten Frömmigkeit usw. gab. Religiöse Grundierung von Kultur und Säkularisierung sind gerade auch in der Geschichte der Neuzeit auf vielfache Weise ineinander verschränkt gewesen. Beispiele dafür sind die „Zivilreligionen“ und die religiöse Qualität moderner politischer Ideologien mit ihrer Verknüpfung von „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“. 4. Eine solche Verschränkung kennzeichnet auch die europäische Gegenwart, in der Entkirchlichung und Glaubensverlust einerseits, die Wiederkehr von Religion in den öffentlichen Raum andererseits keinen Widerspruch bilden. Zumal in globaler Perspektive erscheint die (vermeintliche) Säuberung des öffentlichen Raumes von Religion im Namen von säkularer Staatlichkeit und Kultur fast wie ein europäischer Sonderweg, während in den meisten anderen Regionen der Welt die Religion einen öffentlichen Platz be-
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haupten konnte oder wiedergewonnen hat – mit durchaus ambivalenten Folgen. Die Wiederkehr von Religion auch in der europäischen Kultur hat vielfache Ursachen und Facetten. Zu ihr gehören: – ein allgemeines Transzendenzbedürfnis; die Heimatsuche der „vagierenden Religiosität“ (Nipperdey); – die politische Rolle von Religion in den Reform- und Demokratiebewegungen in Mittel- und Osteuropa, besonders in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts; also: der Nexus von Religion und Zivilgesellschaft; – die Grenzverschiebungen des naturwissenschaftlichen Fortschritts im Hinblick auf die Machbarkeit des Menschen (Stammzellforschung, Gentechnologie, „Klonen“) und der dadurch ausgelöste ethische Reflexionsbedarf; – die Konfrontation mit dem Islam in den westlichen Gesellschaften – „von außen“ ebenso wie „von innen“, als Rückwirkung lange verdrängter Migrations- und kultureller Diffusionsprozesse; – davon zu unterscheiden: der Aufstieg religiöser Fundamentalismen, nicht nur im Islam, sondern auch im Christentum, z.B. im amerikanischen Protestantismus; als Herausforderung an den Säkularitätsanspruch von Staat und Kultur; – dDie Frage nach der kulturellen Einheit Europas im politischen Integrations- und Erweiterungsprozess der Europäischen Union: Ist das Christentum die eigentliche oder einzige kulturelle Legitimation für die Einheit Europas? 5. Ein Zurück zu herkömmlichen, traditionellen Formen der religiösen Prädominanz in der europäischen Kultur kann es nicht geben. Aber auch der Bedarf an neuen Formen der (Ersatz-)Religiosität, wie sie in den letzten Jahrzehnten häufig propagiert worden ist, ist nicht so groß. Wir brauchen vielmehr neue gesellschaftliche und kulturelle Wirkungsformen der Religion in einer veränderten Welt. Religion muss eine selbstbewusste Rolle spielen. Zugleich folgt aus der schon beschriebenen Situation, dass unsere Kultur mehr und weniger Religion zugleich benötigt. Das gilt im Sinne eines Ausgleichs zwischen Atheismen und Fundamentalismen, aber auch in binnenreligiöser Hinsicht. 6. In der europäischen Tradition haben Theologie und Kirche für die Einbettung der Religion in die allgemeine Kultur eine besonders wichtige Funktion gehabt, die sich auch heute noch nicht überlebt hat. Theologie und Kirche haben Religion zugespitzt und sichtbar gemacht; sie sind mächtige Agenten einer religiösen Durchdringung der Gesellschaft gewesen. Aber sie haben zugleich die Religion gebändigt und eingehegt, die Theologie durch intellektuelle Rationalisierung, die Kirche durch institutionelle Grenzziehung. Für diese doppelte Sicherungsfunktion, die auch einen Schutz der Gesellschaft vor der unkontrollierten Wucherung von Religion bedeutet, sind Theologie und Kirche weiterhin unverzichtbar. 7. In der globalisierten, pluralistischen, multikulturellen Gesellschaft wird Religion zum Auslöser von Konflikten, zum kulturellen und politischen Kampffeld. Aber dem stehen andere, friedensstiftende und konfliktlösende Potenziale von Religion gegenüber. Religiöse Kultur schafft per se Zonen des Dialogs und der diskursiven Auseinandersetzung, die in einer multikulturellen Gesellschaft unverzichtbar sind, die ihre verschiedenen kulturellen Überzeugungen nicht scharf voneinander segmentieren will.
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8. Im Anschluss an Jürgen Habermas kann man die europäischen Gesellschaften als „postsäkulare Gesellschaften“ beschreiben. Sie bewegen sich nicht unbedingt jenseits der Realität der Säkularisierung, aber jenseits eines Mythos der Säkularisierung, der es religiös überzeugten Bürgern unmöglich macht, religiöse Gründe in die öffentliche Debatte der zivilen Gesellschaft einzuführen. Die postsäkulare Gesellschaft lässt sich auf solche religiösen Argumente in der öffentlichen Kultur ein; sie verlangt allen ihren Bürgern ab, solche Argumente ernst zu nehmen. Wenn die westlichen Gesellschaften unter einer zunehmenden Auszehrung des Normativen leiden, ist Religion sogar besonders notwendig, um normative und ethische Gesichtspunkte in der Öffentlichkeit, aber auch im Vorfeld politischer Entscheidungen verfügbar zu halten. 9. In einer solchen Situation müssen wir auch über ein neues Verhältnis von Staat und Kirche, von öffentlich-säkularer und religiöser Kultur nachdenken. Die Laizität des Staates war eine klassische institutionelle Lösung für diesen Konflikt in einer bestimmten historischen Situation. Möglicherweise stehen wir vor der Aufgabe, „Laizität“ in einem postklassischen Sinne, jenseits der Jakobiner und Atatürks, zu bestimmen. Der Staat kann sich gegenüber religiöser Kultur nicht mehr vollständig immunisieren, aber er muss sich und seine Bürger vor einer unangemessenen Inanspruchnahme durch religiöse Kultur (gleich welcher Herkunft, gleich welcher Ausprägung) schützen können. 10. Die tiefe Krise der westlichen Gesellschaften, die durch Stichworte wie globale Konkurrenz und wirtschaftliche Stagnation, demographische Veränderung und Umbau des Sozialstaats, mediale Revolution und kulturelle Segmentierung beschrieben ist, lässt sich nicht mehr mit den Antworten der Klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts lösen. Wir müssen neue Wege der Verbindung von Innovation und Bewahrung, Dynamik und Eingrenzung finden. In diesem Prozess einer reflektierten Modernisierung kann Religion eine wichtige Rolle spielen, nicht nur als Mittel der individuellen Vergewisserung oder Kompensation gegen „Modernisierungsschäden“, sondern auch als aktiver und öffentlich sichtbarer Partner in der politischen Kultur Europas.
Walter Schöpsdau
Identität und Verständigung – Die Toleranz von Konfessionen und Religionen heute „Es gehört zu den großen Wohltaten Gottes, dass kein Mensch sich so sieht, wie er ist; auch wenn er sich im Spiegel erblickt, sieht er sich spiegelverkehrt.“1 In der Spiegelung durch den anderen wird Eigenes sich fremd, um sich neu näher zu kommen. Schon der nur fingierte Blick des anderen verhilft zu selbstkritischer Reflexion des Eigenen, wofür etwa Montesquieus Persische Briefe ein literarisches Beispiel sind. Wenn es der wirkliche Blick eines Fremden ist und wenn es Religionen sind, die einander wahrnehmen, entsteht eine komplexe Beziehung. Denn in jeder Religion haben selbst solche Phänomene, die auch in anderen Religionen vorkommen, einen „Eigen-Sinn“, so dass „aus der Perspektive der christlichen Theologie […] sachgerecht nur dann über die einzelnen Religionen geurteilt werden [kann], wenn deren Selbstauffassung als Grenze und Kritik der eigenen theologischen Auffassung einer Religion respektiert wird. Theologisch zureichend wird eine andere Religion demnach nur verstanden, wenn in dieses Verständnis eingeht, dass sie sich selbst anders versteht. Aber auch dann bleibt die christlich-theologische Betrachtungsweise anderer Religionen dadurch charakterisiert, dass sie diese im Licht des christlichen Glaubens thematisiert.“2 Die Wandlungen, welche die Wahrnehmung des Islam durch die Christen durchlaufen hat, folgen den Wandlungen ihres Glaubensverständnisses und der Situation der Begegnung. Auf die Präsenz des Islam in ihrer Mitte reagieren westliche Gesellschaften oft gerade mit innerer Abwehr. Fremdes bedroht die eigene Identität, die zugleich wiederum seiner bedarf. „Ohne wahren Feinde keine wahren Freunde! Wenn wir nicht hassen, was wir nicht sind, können wir nicht lieben, was wir sind.“3 Manchmal löst schon das Näherrücken einer möglichen Verständigung Identitätsängste aus. Die christliche Ökumene kennt das Phänomen der Rekonfessionalisierung, sobald Dialogergebnisse auf Konsequenzen drängen. In politischen Spannungsgebieten sind es die Repräsentanten friedlicher Annäherung, die zu Opfern von Anschlägen werden. Andererseits verlieren Verständigungsversuche zwischen Partnern ohne greifbare Identität ihren Sinn. Im Iran wollten Mullahs den interreligiösen Dialog gerade nicht mit christlichen Pluralisten führen, die in allen Religionen Wege zum Heil entdecken, sondern nur mit Theologen, die ihren eigenen Glauben bis zur Absolutheit ernst nehmen.4 Aber dürfen wir das in einem multikulturellen Europa? Müssen wir es, wenn ein postmoderner Umgang mit Traditionen angesagt ist? Die Zahl der Christinnen und Christen wächst, die durch transkonfessionelle Identitäten als Frauen, in Friedensgruppen oder spiritueller Suche miteinander verbunden sind. Ähnlich relativieren sich Konfessionsdifferenzen in
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der Begegnung mit dem Islam. Auf den ersten Blick scheint es nur die Regel zu bestätigen, nach der ein gemeinsamer „Gegner“ zu engerem Zusammenschluss führt. Es verweist aber auf eine Grundstruktur alles Verstehens: Kommunikation findet statt, indem wir uns auf ein Drittes beziehen. Echt ist nur der Dialog, bei dem wir nicht über uns selbst oder übereinander, sondern über etwas Drittes reden. Die Frage nach der Toleranz von Konfessionen und Religionen lautet dann: Gibt es in ihnen Elemente, die zu solcher Selbstüberschreitung nötigen? Schließen Identität und Verständigung einander aus oder bilden sie einen Zusammenhang, weil Identität und Offenheit ein und dieselbe Wurzel haben?
Religionsfreiheit – Lernprozesse in den Kirchen Die Geschichte neuzeitlicher Toleranz5 beginnt mit der Erfahrung, dass es Konflikte gibt, die nur unter Einklammerung der Wahrheitsfrage entscheidbar sind. Die Neutralität der politischen Ordnung gegenüber den „Religionsparteien“, die den Westfälischen Frieden 1648 kennzeichnet, ermöglichte es den Kirchen, an ihren Wahrheitsansprüchen festzuhalten, weil der Friede als Rechtsfriede anderweitig gewährleistet wurde. Unter dem Schutz staatlicher Ordnung und aufgrund der Regionalisierung der konfessionellen Spaltungen konnten sie ihren Streit aufrechterhalten ohne direkte friedensgefährdende Folgen. Ökumene als friedensfähiger Umgang mit Pluralismus wurde zuerst von der politischen Ordnung, von Recht und Verfassung ermöglicht und praktiziert. „In dieser Hinsicht sind die christlichen Kirchen im Lande der Reformation und der Kirchenspaltung Schuldner der säkularen Neuzeit.“6 Das Ende der Entwicklung sind der weltanschaulich neutrale Staat und die plurale Gesellschaft. Im religionsneutralen Staat wird Religion zur Privatsache, in der pluralistischen Gesellschaft zur Ware auf dem Markt der Sinnanbieter. Universale Wahrheitsansprüche gelten als obsolet, monotheistischen Religionen wird eine mit der „mosaischen Unterscheidung“ zwischen Wahr und Falsch gegebene Tendenz zu Intoleranz und Gewalt unterstellt.7 Ein neuer Polytheismus relativiert die Rechenschaftspflicht für religiöse Überzeugungen, womit auch der Toleranzgedanke überflüssig würde. Die These eines Zusammenhangs von Monotheismus und Intoleranz lässt sich für das Judentum durch den Hinweis auf Moses Mendelssohn entkräften, der schöpfungstheologisch das Menschenrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit begründete. Im Islam zeigen sich heute Ansätze von Toleranz nach innen, die ein „Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben“, anerkennen.8 Auch die Stellung der Kirchen zur Religionsfreiheit hat eine Entwicklung durchlaufen: 1. Im protestantischen Bereich haben sich die Kirchen dem Toleranzgedanken lange widersetzt.9 Zur protestantischen Idee (Rudolf Sohm) wird er auf dem Umweg über den außerkirchlichen Nonkonformismus und die neuzeitliche Umformung des reformatorischen Offenbarungs- und Gewissensverständnisses.10 Calvins Stellung zur Häresie ist mittelalterlich, nur dass er die Bestrafung durch die politische Gewalt auf Gottes- und Trinitätsleugnung beschränkt. Melanchthon vertritt den erasmischen Gedanken des christlichen Staates in der Gestalt des patriarchalischen Obrigkeitsstaates mit „cura reli-
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gionis“ des Landesherrn und religiöser Einheit des Territoriums. Er hat von allen Reformatoren am schärfsten die Verfolgung der Täufer gefordert. Luther machte die Obrigkeit nur für die äußere Ordnung verantwortlich.11 Gegen Ketzerei sollte sie einschreiten, wenn diese den öffentlichen Frieden gefährde, indem sie Elemente der von Gott gesetzten Ordnung wie obrigkeitliche Ämter oder das Predigtamt verwarf. Das Motiv ist also nicht Bewahrung der Seelen vor ewigem Verderben wie im mittelalterlichen Ketzerrecht. Der Staat kann nur Garant von Recht und Ordnung, nicht aber Agent kultureller Sinnstiftung, sozialer Integration und der Beförderung rechten Glaubens sein. Luther konnte aber die Meinung vertreten, dass um des Friedens willen an einem Ort nur einerlei Predigt gelten solle, die päpstliche oder die evangelische.12 Die reformatorische Bewegung ist dogmatisch intoleranter als die katholische Position. Sie verlangt Freiheit für das Evangelium, schließt aber aufgrund des exklusiven Verhältnisses von Wort und Glaube eine Vermittlung von Vernunft und Offenbarung aus. Politisch ist sie toleranter durch die Absage an die Idee der übernatürlichen Zielverbundenheit aller irdischen Gemeinschaft in der „Civitas Dei“, nach der Natürliches nur im Maß seiner Anteilhabe am Übernatürlichen Bestand hat. 2. Die katholische Kirche hat die innere Freiheit der Glaubens- und Gewissensentscheidung respektiert, daraus aber kein Recht auf äußere Religionsfreiheit abgeleitet, sondern dem Gemeinwesen die wahre katholische Religion zur Pflicht gemacht. Toleranz war nur aus Zweckmäßigkeitserwägungen denkbar, sofern der Staat um des öffentlichen Friedens willen ausnahmsweise den Irrtum dulden durfte.13 In der bahnbrechenden Konzilserklärung über die Religionsfreiheit (1965) geht es nicht mehr um „Toleranz, die ein Nichtsein-Sollendes duldet“, sondern um ein „Sein-Sollendes, das in der Würde der Person begründet ist“.14 Religionsfreiheit ist ein in der Personwürde wie im Wesen des religiösen Aktes begründetes Recht, das auch dem irrenden Gewissen und den Nichtglaubenden zukommt. Die moralische Pflicht der Wahrheit gegenüber ist dadurch nicht aufgehoben. Gewissensfreiheit bedeutet „keine absolute Freiheit des Gewissens, sondern konkrete Freiheit der Gewissen“.15 Dem Staat schreibt das Konzil lediglich die Sorge um das menschliche Gemeinwohl zu. Der Grundwert der Religion wird vom Staat anerkannt, indem er sich nicht einmischt und positiv die Voraussetzungen für das religiöse Leben seiner Bürger fördert. Der traditionellen Unterscheidung zwischen einem natürlichen Recht nichtkatholischer Gemeinschaften auf Religionsfreiheit und dem übernatürlichen Recht der katholischen Kirche kommt die Erklärung dadurch entgegen, dass sie das Recht auf religiöse Betätigung überhaupt „in der Sozialnatur des Menschen wie auch der Religion selbst“ begründet sieht, für die katholische Kirche aber ein Mandat Gottes anführt, als „geistliche, von Christus dem Herrn gestiftete Autorität“ allen Geschöpfen das Evangelium zu verkündigen.16 3. Die orthodoxen Ostkirchen haben eine andere Entwicklung durchlaufen. Aus der altkirchlichen Patriarchatsverfassung stammt die Idee des konfessionell einheitlichen kanonischen Territoriums; in der Religionsverfassung des Osmanischen Reiches fielen Ethnos und Konfession zusammen. Die orthodoxen Kirchen wurden zu autokephalen Kirchen mit einer ausgeprägten nationalen Identität. In Russland konnte sich das Verhältnis von Staat und Kirche nach der Idee der Symphonie entwickeln, wonach Kirche und Staat zu-
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sammen einen organischen, beseelten Leib bilden. Im Idealfall ist der christliche Staat „gehorsames, vollkommenes Werkzeug der Kirche“, die allein das Ziel kennt.17 Religionsfreiheit gab es bis 1905 nur für ausländische Angehörige anderer Konfessionen. Im demokratischen Russland weiß sich die orthodoxe Kirche vom Staat getrennt, aber nicht vom Leben der Nation. Sie verwirklicht die Symphonie durch geistlichen Einfluss. Das „Gesetz über die Gewissensfreiheit und die religiösen Vereinigungen“ von 1997 würdigt den speziellen Beitrag der russisch-orthodoxen Kirche zur politischen und geistigen Geschichte Russlands und anerkennt darüber hinaus „Christentum, Islam, Buddhismus, Judentum und andere Religionen“ als Teil des historischen Erbes. Die Idee des kanonischen Territoriums begünstigt aber ein kirchliches Monopoldenken, das den Aufbau einer Zivilgesellschaft erschwert.
Multireligiöses Europa als neue Herausforderung Mit der europäischen Einigung kommt die räumliche Distanzierung, die einst den Religionskonflikt entschärfte, definitiv an ihr Ende. Das lässt nur eine Lösung nach den Grundsätzen von 1648 zu: Einklammerung der Absolutheitsansprüche zugunsten der Frage, wie man zusammenleben könne. Welche Grundorientierungen können aber in der multireligiösen Gesellschaft die frühere Funktion der christlichen Tradition übernehmen und die Verbindlichkeit des Rechtes für alle Gruppen begründen? Das Programm einer „Neu-Evangelisierung“ verbindet sich mit dem Gedanken, dass eine Gesellschaft ohne den „gemeinsamen Bezug auf Werte und letztlich auf Gott“ (Joseph Ratzinger) zum Untergang verurteilt sei. Doch in der offenen Gesellschaft wird das Zusammenleben nicht mehr über gemeinsame Überzeugungen geregelt, sondern durch die Unterscheidung zwischen dem, was für alle gelten soll, und dem, was jeder nur für sich selber gelten lässt. Ihr Konstruktionsprinzip lautet: Verzicht auf Herstellung innerer Homogenität durch ein religiös-weltanschauliches Wahrheitsmonopol, stattdessen Koordination des äußeren Verhaltens durch die Regeln des Rechtes.18 Dass die Religion den Staat und das Recht nichts angehen darf, nimmt ihr nicht ihre öffentliche Relevanz. Das Kruzifixurteil von 1995 scheint die negative Religionsfreiheit zu einem Grundrecht auf eine garantiert religiös keimfreie Umgebung zu erheben19, wogegen die Frage des Kopftuchs muslimischer Lehrerinnen die positive Religionsfreiheit berührt. Die Logik der Grundrechte verlangt einen Vorrang der Deutungsperspektive der Betroffenen, der keine objektive Deutungskompetenz des Staates, was für den Einzelnen als religiös zu gelten hat, gegenübersteht. Prinzipielle Unsichtbarmachung von Religion widerspricht der Verpflichtung zu religiös-weltanschaulicher Neutralität. Das Axiom der Gleichgültigkeit der Religion für den Staat und der prinzipiellen Bevorzugung der Areligiosität enthält ein inhaltliches Urteil über Religion, das dem Staat nicht zusteht. Andererseits nötigt solche Urteilsenthaltung den Staat nicht zur Äquidistanz gegenüber allen Religionen. Er darf der Erfahrung Rechnung tragen, dass die christlichen Kirchen zu seinem Bestand an Werten beigetragen haben und weiterhin beizutragen bereit sind, vorausgesetzt, dass dadurch die Offenheit gewahrt bleibt und kein Glaubenszwang ausgeübt wird.20
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In diesem Sinne ist in Art. I-51 der EU-Verfassung sowohl die staatskirchenrechtliche Tradition der Mitgliedstaaten als auch eine Dialogpflicht auf der Ebene der Union anerkannt. In den angelsächsischen Ländern und in Deutschland hat sich eine pro-religiöse Religionsneutralität des Staates mit Favorisierung der positiven Religionsfreiheit herausgebildet. In den USA befreiten sich die Kirchen aus eigener Einsicht vom Staat, nicht der Staat von der Vorherrschaft einer Kirche; die Trennung hatte deswegen keine Schwächung des Religiösen im öffentlichen Leben zur Folge. Dagegen entstand seit 1789 in Frankreich, Spanien und Italien eine areligiöse Säkularität des Staates mit Garantie der negativen Religionsfreiheit. Der Staat trennte sich von der Kirche, nicht umgekehrt. In den orthodoxen osteuropäischen Staaten streben die orthodoxen Kirchen nach dem Ende des Kommunismus wieder in ihre alte Stellung als Volksreligion. Der Konflikt zwischen freikirchlicher, protestantischer und laizistisch-katholischer Säkularität wird die europäische Kulturpolitik noch lange in Atem halten. Aber auch die Kirchen selbst müssen ein verträgliches Nebeneinander in Europa lernen. Unvereinbar mit religiöser Freiheit sind sowohl fundamentalistische Abwerbungskreuzzüge als auch territoriale Monopolansprüche. Es ist ökumenisch noch nicht gelungen, „das Verhältnis zwischen der Verpflichtung jeder einzelnen Kirche zum Zeugnis für die Wahrheit und der ökumenischen Verantwortung dieser Kirchen füreinander“ zufrieden stellend zu klären21, zumal wenn „das, was der eine als Konsequenz theologischer und ekklesiologischer Überzeugungen betrachtet, vom anderen als Proselytismus angesehen wird“22.
Toleranz aus der Vogelperspektive? Die Frage der Sozialverträglichkeit von Konfessionen geht damit in die Frage nach ihrer Dialog- und Ökumenefähigkeit über. Der säkulare Staat hat ihnen Toleranz von außen auferlegt – aber sind sie dazu auch von ihren eigenen Prämissen her fähig? Mit dem Zerbrechen der Kircheneinheit zeichnete sich im Abendland erstmals jener „Zwang zur Häresie“ (Peter Berger) ab, der aus der religiösen Zugehörigkeit die Sache einer persönlichen Wahl („hairesis“) macht, die auch Gründe angeben können muss. Unterbleibt die Auseinandersetzung über Gründe, so wird Konfessionalität gesellschaftlich irrelevant. Wenn Christen und Muslime ihre Wahrheitsansprüche nebeneinander stehen lassen, gerät Religion in den Geruch von Beliebigem, über das sich so wenig diskutieren lässt wie über Moden oder Lieblingsgerichte. In der Perspektive beschreibender Religionswissenschaft oder normativer Religionsphilosophie ist die Pluralität von religiösen Geltungsansprüchen ein Anwendungsfall der Relation von Allgemeinem und Individuellem. Die verschiedenen Denominationen erscheinen als geschichtlich legitime Zweige an dem Stamm der einen universalen Kirche, die in Frankreich eine andere Gestalt annehmen musste als in England oder in Japan. Schleiermacher, für den jede Kirche „eine eigentümliche Gestaltung des christlichen Geistes“ ist, konnte fragen, ob der Katholizismus nicht für die romanischen Völker und der Protestantismus für die germanischen Völker die „angemessene Form des Christentums“23 sei.
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Die mosaische Unterscheidung von Wahr oder Falsch (Assmann) ist in ihrer Formalität unangemessen; den biblischen Texten geht es um inhaltliche Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit, an denen sich die Erkenntnis des wahren Gottes entscheidet. Das entspricht dem Kriterium heilvoller Existenzumwandlung, nach dem die gemäßigte Form der pluralistischen Religionstheorie Religionen beurteilt, während radikaler Pluralismus die Vielfalt für unhintergehbar und jede Religion aufgrund ihres Identitätszentrums für inkommensurabel hält. Religionen sind wie die Herzensergießungen von Liebenden24, die die Existenz anderer liebenswürdiger Personen nicht ausschließen; religiöse Vielfalt wird mit einer Blumenwiese25 verglichen, deren Schönheit gerade auf ihrer Vielfalt beruht. Im amtlichen katholischen Modell sind die Religionen auf die katholische Mitte hin geordnet. Wer in schuldloser Unkenntnis des Evangeliums und der Kirche Gott ehrlich sucht und seinem Gewissen folgt, „kann das Heil erlangen“26. Der Dialog spürt in anderen Religionen einen „Strahl“ der Wahrheit und „Elemente des Guten und der Gnade“ auf, die in der katholischen Kirche vollkommen entfaltet und in Fülle präsent sind, und dient durch die Entdeckung von abgestuften Affinitäten auch der eigenen „Bereicherung“.27 Der Religionsbegriff der evangelischen Theologie ist am Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders orientiert, so dass „mit seinem Gebrauch die andauernde Differenzierung zwischen dem, was Gott tut, und dem, was Menschen tun, nötig wird“28. Zu anderen Religionen besteht nicht nur ein Unterschied, sondern auch ein Gegensatz, sofern diese Jesus Christus nicht als das Ereignis der rettenden Wahrheit anzuerkennen vermögen. Da diese Wahrheit aber niemals menschlicher Besitz wird, sondern sich nur in der Freiheit Gottes ereignen kann, sind in dieser Hinsicht „Christen in der gleichen Lage wie die Menschen mit anderen religiösen Grunderfahrungen. Sie sind selbst auf das Ereignis der Wahrheit angewiesen, das sie bezeugen.“ Und so begegnen sie anderen Religionen mit der Frage, ob deren Erfahrungen sie zur Offenheit für das Ereignis der Wahrheit, die mit Recht Gottes Wahrheit heißt, befähigen.29 Die Erkenntnis des eigenen Verfügenwollens über die Wahrheit und Präsenz Gottes erlaubt Christen nicht, im Blick auf die anderen eine Urteilsperspektive einzunehmen. Sie vertrauen der Unbedingtheit des Heilswillens Gottes, halten sich aber mit Aussagen über eine Heilsmöglichkeit außerhalb des christlichen Glaubens oder eine „teilhabende Mittlerschaft“ der Religionen30 zurück. Zu Ende gedacht würde prinzipieller Pluralismus Kommunikation überhaupt sinnlos machen, weil vor der bunten Blumenwiese die Wahrheitsfrage sich in die Ästhetik eines Farbenspiels auflöst. Aber käme es nicht darauf an, dass die Blumen, sprich die Religionen, selbst einander betrachten? Andernfalls verkommt auch die christliche Ökumene zu einer Kartellbildung, bei der die Kirchen auf Wettbewerb in der Wahrheit verzichten, um sich durch Absprachen, ökumenische Dialoge genannt, wechselseitig ihren Besitzstand zu garantieren.
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Christliche Toleranz aus der tolerantia Dei Eine Vogelperspektive auf Vielfalt, die für alle gleich wäre, scheitert daran, dass wir immer auch Beteiligte sind. Die Wirklichkeit ist uns nur in einer Binnenperspektive gegeben, ohne dass wir unsere Perspektive mit der Wirklichkeit selbst vergleichen könnten. Zur Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Wirklichkeitsdeutung als Voraussetzung von Toleranz werden wir veranlasst durch die Erfahrung einer Differenz von mindestens zwei Perspektiven: sei es die Perspektive eines anderen neben mir im Raum oder meine eigene frühere Perspektive, von der ich heute durch neue Erfahrungen in der Zeit getrennt bin.31 Im Zeichen des „linguistic turn“ gehören Verständigung und Identität zusammen: Konfessionen sind vorgegebene Sprachen, die die Welt erschließen und die Selbsterfahrung formen. Sie können nicht überstiegen noch dürfen sie absolut gesetzt werden. Wir können aber in ihnen miteinander kommunizieren, indem wir nicht die Sprachen selbst thematisieren, sondern uns in unseren Sprachen auf etwas Drittes beziehen. Im Dialog der Konfessionen ist dies das dreieinige Handeln Gottes, das uns „extra nos“ versetzt und in unserer Binnenperspektive eine Außenperspektive zur Geltung bringt, die wir niemals selbstverständlich bewohnen können. Sie gründet in einem Nichtgegebenen, in dem Ereignis der Selbstvergegenwärtigung Gottes anhand des Christuszeugnisses. Christus wird dann sachgemäß geglaubt, wenn zwischen jenem Ereignis und den konkreten Gestalten von Glaube, Kirche und Theologie differenziert wird. So konnten Luther und Calvin die römische Kirche aufgrund der in ihr anzutreffenden kirchlichen Grundvollzüge als Kirche anerkennen.32 Die Christen sind ökumenisch daher erst dann bei der Sache, wenn sie nicht bloß alte Differenzen aufarbeiten, sondern sich in einen offenen Raum der Freiheit wagen und Christus folgen auf seinem Weg in andere Kontexte, um wahrzunehmen, in welcher Gestalt er sich dort Menschen schenkt, und um ihn gerade so, als diesen Fremden ihren Herrn sein zu lassen. Sich auf die Bewegung des dreieinigen Gottes einzulassen, öffnet auch einen Weg zu den nichtchristlichen Religionen. Trinitarische Theologie erlaubt, „im Blick auf Gott den Schöpfer das Gemeinsame, im Blick auf Jesus Christus das Trennende und im Blick auf den Heiligen Geist das die Trennung zwischen den Religionen Überwindende zum Ausdruck zu bringen“33. Eine christologische „Deabsolutierung“ würde auf das verzichten, wodurch christliche Toleranz sich von Gleichgültigkeit unterscheidet. Bloßes Tolerieren des Anderen erreicht nicht die Tiefe der Toleranz, mit der nach Röm. 5, 8 Gott im Kreuz Christi den Anderen bedingungslos annimmt, wie immer auch dessen Antwort ausfallen mag. Die „tolerantia Dei“ ist nicht souveräne Indifferenz, sondern Erdulden des Widerspruchs der Sünde in göttlicher Passion. Gottes Leiden um den Menschen, dieses alles umgreifende Außerhalb, verbietet die Anmaßung des Exklusivismus, der anders glaubende Menschen dem Gericht Gottes anheim fallen sieht, aber auch die inklusivistische Anmaßung, die das Anderssein des Anderen nicht erleiden, sondern in ihm nur Modifikation des Eigenen oder komplementäre Erweiterung wiederfinden will. Sie befreit zur Anerkennung des Anderen, der unserem eigenen Glauben widerspricht, als eines solchen, dem wie uns selbst die bedingungslose Anerkennung durch Gott verheißen ist. Wenn Christen sich für den Bau von Moscheen einsetzen, hat es mit dieser Toleranz Gottes und nichts mit religiöser Gleichgültigkeit zu tun.
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Die Anerkennung von Alterität erschüttert die Grundpfeiler der westlichen Kultur, die Identität und das Allgemeine. Das Andere ist das Nicht-Ich, das zum Verschwinden gebracht werden muss. Kommunikation erfolgt im Medium des Allgemeinen; Individuelles, das sich der universalen Vernunft sperrt, ist allenfalls Gegenstand der Duldung, niemals Ort von Begegnung. Im Augenblick, als der Westen sein Geschichtsbild zu revidieren bereit war, förderten Technisierung und Globalisierung eine neue Eurozentrik mit Ausschluss alles Integrierbaren. Die politischen Ereignisse seit dem 11. September 2001 haben schließlich auch die Kulturdebatte wieder eröffnet. In Christus ist die Gemeinschaft mit dem Anderen nicht Wirkung einer Bekehrung oder Ergebnis einer Übereinkunft, sondern absolute Setzung vor jedem Entgegenkommen des Anderen, und so gerade offenbart sie Gott. Sich auf eine solche Beziehung zu dem Anderen einzulassen, eröffnet eine gemeinsame Freiheitsgeschichte, die nicht vorhersehbar ist. Bei einer christlich-islamischen Begegnung meinte ein junger Türke, dass ein solches Treffen noch nicht in der Türkei, aber in Deutschland möglich sei, gehöre für ihn zu den positiven Erfahrungen in diesem Land. Christen überlassen es dem Geist Gottes, was sich aus dem Dialog und dem christlichen Zeugnis im Dialog ergeben mag. Sie beanspruchen nicht, die alles übergreifende Perspektive zu besitzen. Sie werden nicht einfach sagen, der Vater Jesu Christi, Allah, das Brahman oder das Nirwana seien nur Manifestationen des gleichen Zentrums. Damit würden sie in Gottes Geheimnis eindringen und eine universale Gottesidee an seine Stelle setzen. Solcher Pluralismus wäre Ausweichen vor der Härte wirklicher Toleranz. Die Schöpfung ist nicht nur auf Frieden, sondern auf Wahrheit angelegt. Zu ihrer Würde gehört der Streit um die Wahrheit ebenso wie die Achtung fremder Freiheit und das Wissen um die eigene Kontingenz. Dies „auszuhalten“ – „tolerare“ – in dem Wissen, dass sich Gottes Wirklichkeit erst in der Vollendung in ihrer ganzen Wahrheit erschließt, ist des Menschen Anteil an der Toleranz Gottes.
Anmerkungen Hans Urs v. Balthasar, in: Das neue Buch, Luzern 1945, Heft 3, 43–46. Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen. Ein Beitrag der Kammer für Theologie der EKD, August 2003 (EKD-Texte 77), 9. 3 Romanzitat bei Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21.Jahrhundert, München–Wien 1996, 18. 4 Jürgen Moltmann, Gott im Projekt der modernen Welt, Gütersloh 1997, 209. 5 Vgl. Hartmut Kreß, Religionsfreiheit und Toleranz als Leitbild: Kulturelle Grundlagen – sozialund rechtsethische Problemstellungen, in: ders. (Hrsg.), Religionsfreiheit als Leitbild (Ethik interdisziplinär 5), Münster 2004, 21–58. 6 Trutz Rendtorff, Über die Wahrheit der Vielheit. Theologische Perspektiven nachneuzeitlichen Christentums, in: Joachim Mehlhausen (Hrsg.), Pluralismus und Identität (Veröffentl. d. Wissensch. Ges. f. Theologie 8), Gütersloh 1995 (21–34) 28. 7 Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. 8 Zentralrat der Muslime in Deutschland: Charta des Islam vom 20. 2. 2002. 9 Zum Folgenden vgl. Heinrich Bornkamm, Das Problem der Toleranz im 16. Jahrhundert, in: 1 2
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ders., Das Jahrhundert der Reformation, Göttingen, 2., vermehrte Aufl. 1961, 262–291; Heckel, Ges. Schr. Bd. 1, 454–461; Bd. 2, 1123–1133; Gunther Wenz, Sine vi, sed verbo? Toleranz und Intoleranz im Umkreis der Wittenberger Reformation. KuD 41, 1996, 136–157. 10 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, Aalen 1963 (Neudr. der veränd. Ausgabe 1911) 62–64. Kritisch zur These eines unmittelbar christlichen Ursprungs der Menschenrechte Wolfgang Huber/Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart–Berlin 1977, 124–127; Hans Maier, Wie universal sind die Menschenrechte? (Herder Spektrum 4557), Freiburg–Basel–Wien 1997, 82–84. 11 Ermahnung zum Frieden (1525), WA 18, 298. 12 WA 31 I, 208f. 13 Ansprache vor katholischen Juristen Italiens am 6. Dez. 1953, AAS 45, 1953, 194–802. 14 Walter Kasper, Wahrheit und Freiheit: Die „Erklärung über die Religionsfreiheit“ des II. Vatikanischen Konzils (AHAW.PH 1988, 4), Heidelberg 1988, 19. 15 So bereits Papst Pius XI., vgl. Max Seckler, Religionsfreiheit und Toleranz. Die „Erklärung über die Religionsfreiheit“ des Zweiten Vatikanischen Konzils im Kontext der kirchlichen Toleranz- und Intoleranzdoktrinen. ThQ 175, 1995 (1–18) 14. 16 Dignitatis humanae, 4. 13. 17 Anton Vladimirovic Kartaschov, Die Kirche und der Staat, in: Kirche und Welt, Bd. 2: Kirche, Staat und Mensch. Russisch-Orthodoxe Studien, Genf 1937 (78–102) 81f. 18 Eilert Herms, Erfahrbare Kirche, Tübingen 1990, 241. 19 Karl-Hermann Kästner, Lernen unter dem Kreuz? Zur Zulässigkeit religiöser Symbole in staatlichen Schulen nach der Entscheidung des BverfG vom 16. Mai 1995. ZevKR 41, 1996 (241–272) 261f. 20 Christentum und politische Kultur. Eine Erklärung des Rates der EKD, 1997 (EKD-Texte 63), Nr. 41. 53. 31. 21 Zweiter Offizieller Bericht 1967 der Gemeinsamen Arbeitsgruppe zwischen der Römisch-katholischen Kirche und dem ÖRK, in: DWÜ Bd. 1, 1983 (597–613) 605. 22 Dritter Offizieller Bericht, a. a. O. 633f. 23 Bei Hans Jörg Urban/Harald Wagner (Hrsg.), Handbuch der Ökumenik, Bd. III, 1, Paderborn 1987, 206. 24 Der Ausdruck „language of lovers“ geht nach Paul F. Knitter (Horizonte der Befreiung. Auf dem Weg zu einer pluralistischen Theologie der Religionen, hrsg. von Bernd Jaspert, Frankfurt/Paderborn 1997, 152) auf Krister Stendahl zurück. 25 Kritisch zu dem von Perry Schmidt-Leukel stammenden Vergleich: Jürgen Werbick, Toleranz und Pluralismus, in: Ingo Broer/Richard Schlüter (Hrsg.), Christentum und Toleranz, Darmstadt 1996 (107–121) 115–118. 26 Lumen gentium, 16. 27 Kongregation für die Glaubenslehre: Erklärung „Dominus Iesus“, 6. 8. 2000 (VApS 148) 2. 8; vgl. 14. 21. 28 Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen, 10. 29 Ebd. 14–16. 30 Dominus Iesus, 20. 14. 31 Vgl. Dalferth, a. a. O. 177f. 181. 32 Johannes Calvin, Inst. IV 2, 12; Martin Luther, Galaterkommentar (1535), WA 40 I, 64; ders., Predigt (1538), WA 46, 6f. 33 Hans-Martin Barth, Rez. von Paul F. Knitter, Horizonte der Befreiung, in: MdKI 48, 1997 (76f.) 77.
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Positive Wechselwirkungen zwischen den Religionen Um der Frage nach positiven Wechselwirkungen zwischen den Religionen nachzugehen, ist zunächst von den Wirkungen der eigenen Religion auf die anderen auszugehen. Für die katholische Kirche markiert das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) einen Wendepunkt im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, besonders zum Judentum und zum Islam. Von herausragender Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Dogmatische Konstitution über die Kirche (Lumen gentium), die eine Positionsbestimmung der Kirche vornimmt, die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen (Nostra aetate), die den Blick auf die anderen Religionen richtet sowie die Erklärung über die Religionsfreiheit (Dignitatis humanae), die die Anerkennung der Religionsfreiheit zum Gegenstand hat.1 Diese Dokumente bilden bis auf den heutigen Tag die Grundlage eines positiven Verhältnisses der katholischen Kirche zu den anderen Religionen. So herausragend die Texte in ihrem Wortlaut zum Zeitpunkt ihrer Entstehung auch waren und noch immer sind, darf doch nicht übersehen werden, dass damit theologische Aussagen zur Sprache kommen, die in der Lehre der Kirche immer schon angelegt waren. In der Anknüpfung an den Glauben der Muslime zitiert Nostra aetate 3 beispielsweise wörtlich einen Passus aus einem Brief von Papst Gregor VII. aus dem Jahr 1076 an einen muslimischen Herrscher im heutigen Algerien.2 Der Verweis auf „den Strahl jener Wahrheit …, die alle Menschen erleuchtet“ (Nostra aetate 2), geht auf den frühchristlichen Apologeten Justin den Märtyrer zurück, der in den heidnischen Religionen seiner Zeit Samenkörner der göttlichen Wahrheit zu entdecken vermochte.3 Schließlich sind die konkreten Aussagen zu den einzelnen Religionen nicht vorstellbar gewesen ohne die Vorarbeiten, die namhafte Theologen geleistet haben und ohne die grundlegend positive Haltung, die die beiden Konzilspäpste Johannes XXIII. und Paul VI. in der Frage eingenommen haben.4 In der inhaltlichen Bewertung der Aussagen ist jedoch die Perspektive der katholischen Kirche unübersehbar, wonach die anderen religiösen Bekenntnisse in ihrer Hinordnung auf das in Jesus Christus allen Menschen geschenkte und in der katholischen Kirche verwirklichte Heil zu würdigen sind. Die wesentlichen Aussagen des Konzils im Hinblick auf das Verhältnis zum Judentum und zum Islam lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen: 1. Die Konzilstexte bringen eindeutig eine positive Würdigung der beiden Religionen zur Sprache. Im Hinblick auf das Judentum heißt es in Nostra aetate 4: „Deshalb kann die Kirche auch nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk, mit dem Gott aus unsagbarem Erbarmen den Alten Bund geschlossen hat, die Offenbarung des Alten Testamentes empfing und genährt wird von der Wurzel des guten Ölbaums, in den die Heiden als wilde Schöß-
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linge eingepfropft sind.“ Von den Muslimen spricht der vorausgehende Artikel mit folgenden Worten: „Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslim.“ Solche wohlklingenden Töne sind nicht immer zu hören gewesen. 2. Der Grund dafür liegt in der Entdeckung von Gemeinsamkeiten im Glauben von Juden, Christen und Muslimen. So erkennt die Kirche an, dass „die Anfänge ihres Glaubens und ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei Moses und den Propheten finden“ (Nostra aetate 4). Von den Muslimen heißt es in bisher unübertroffener Weise in Lumen gentium 16, dass sie „mit uns den einen Gott anbeten“. Die Betrachtung der beiden Religionen kann daher zur unerwarteten Freude führen, „sich viel näher zu erfahren, als man glaubte“5. 3. Dabei ist nicht zu verschweigen, dass dennoch eine Reihe von Unterschieden in entscheidenden Punkten bestehen bleiben. Die Kernfrage im jüdisch-christlich-muslimischen Verhältnis ist ohne jeden Zweifel die Bedeutung Jesu Christi in den jeweiligen Bekenntnissen. So stellt das Konzil fest, dass „ein großer Teil der Juden … das Evangelium nicht angenommen“ hat (Nostra aetate 4) und die Muslime Jesus zwar als Propheten verehren, „den sie allerdings nicht als Gott anerkennen“ (Nostra aetate 3). Die Unterschiede bleiben bestehen. Sie auszublenden wäre genauso unredlich wie die Gemeinsamkeiten zu vergessen. Sowohl die verbindenden Gemeinsamkeiten als auch die trennenden Unterschiede bestimmen das Verhältnis der drei Religionen zueinander. 4. Das hindert das Konzil nicht daran, mit Nachdruck eine Überwindung der bisweilen unheilvollen Beziehungen in der Vergangenheit zu fordern. Vielmehr liegt in der Forderung nach einer positiven Gestaltung von Gegenwart und Zukunft ein Schwerpunkt der Aussagen. So heißt es ausdrücklich in Nostra aetate 4: „Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche … auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.“ Dies mit aller Deutlichkeit zu sagen war dringend notwendig. Nicht weniger eindringlich sind die Worte gegenüber den Muslimen: „Da es jedoch im Lauf der Jahrhunderte zu manchen Zwistigkeiten und Feindschaften zwischen Christen und Muslim kam, ermahnt die Heilige Synode alle, das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen“ (Nostra aetate 3). 5. Das Verhältnis der katholischen Kirche zu den Angehörigen anderer Religionen soll daher von einem Geist des Dialogs und der Bereitschaft zur Kooperation geprägt sein: „Deshalb mahnt sie (die Kirche) ihre Söhne, dass sie mit Klugheit und Liebe, durch Gespräch und Zusammenarbeit mit den Bekennern anderer Religionen sowie durch ihr Zeugnis des christlichen Glaubens und Lebens jene geistlichen und sittlichen Güter und auch die sozial-kulturellen Werte, die sich bei ihnen finden, anerkennen, wahren und fördern“ (Nostra aetate 2). Aus den Aussagen des II. Vatikanischen Konzils ergeben sich damit Auftrag und Verpflichtung zum Dialog mit Juden und Muslimen wie auch mit den Angehörigen anderer Religionen. Was aber kann Zweck und Ziel des interreligiösen Dialogs sein? Eine Antwort hierauf
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findet sich in einer Äußerung von Papst Paul VI., der die Aufgaben des am 19. Mai 1964 gegründeten Sekretariats für die Nichtchristen – des heutigen Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog – mit folgenden Worten umschrieb: Das Sekretariat soll dahin wirken, „dass die Nichtchristen von den Christen richtig gekannt und gerecht eingeschätzt werden und dass die Nichtchristen ihrerseits Lehre und Leben der Christen entsprechend kennen lernen und schätzen können“6. Den anderen zu verstehen und selbst verstanden zu werden, sind demnach wichtige Ergebnisse jedes interreligiösen Dialogs. Aber sind das nicht eigentlich Selbstverständlichkeiten und kann man nicht weitaus mehr erwarten? Angesichts von Unkenntnis und Missverständnissen sowie weit verbreiteter Vorurteile voneinander ist diese Minimalforderung eine nicht zu unterschätzende Herausforderung.7 Wenn der Dialog durch den Austausch sachlicher Informationen zum gegenseitigen Verständnis beiträgt, kann er damit einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen leisten. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dieses Anliegen im deutschen Kontext in den vergangenen Jahren zu erkennbaren Erfolgen geführt hat. Um nur einige Beispiele zu nennen: 1. Beim Ökumenischen Kirchentag Berlin 2003 waren gerade die Besuche religiöser Einrichtungen im Rahmen der Kreuzberger Stadtteilexkursionen ein besonderer Anziehungspunkt. Alle Veranstaltungen, bei denen es etwas zu sehen oder zu erleben gab, waren bis auf den letzten Platz ausgebucht. Zum Freitagsgebet in einer Moschee waren fast 1000 Nichtmuslime anwesend. 2. Im ganzen Land findet seit Jahren eine Fülle von Veranstaltungen zum Dialog oder Trialog von Juden, Christen und Muslimen statt, die viel Wissenswertes über die beteiligten Religionen vermitteln. 3. Literatur und Medien zu diesen Themen sind auf nicht mehr zu überschauende Dimensionen angewachsen. Unmittelbar nach dem 11. September 2001 war zum Beispiel der Koran in deutschen Buchhandlungen zeitweise ausverkauft. Erwähnenswert ist dabei, dass viele Veranstaltungen heute in Kooperation der Angehörigen der beteiligten Religionsgemeinschaften stattfinden. Konnte man früher von einem Monolog sprechen, indem man über die anderen Religionen berichtete, ist daraus mittlerweile ein dialogischer Prozess in Planung und Durchführung von gemeinsamen Projekten geworden. An zwei Stellen ist dabei jedoch Kritik angebracht: 1. Die christliche Seite bringt sich häufig inhaltlich unzureichend in diesen Prozess ein. Das Interesse, etwas über die andere Religion zu erfahren, ist bisweilen stärker ausgeprägt als das Bedürfnis, etwas vom eigenen Glauben zu berichten. Während Juden und Muslime selbstverständlich und sehr bewusst ihre religiösen Rituale präsentieren, ist von christlicher Seite meist nur Zurückhaltung zu erleben. Es gibt durchaus Dialogsituationen, auf die die Worte des Engels am leeren Grab zutreffen: „… ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier“ (Mt 28, 5f.). 2. Die muslimische Seite ist auf der Ebene der Gemeinden in vielen Fällen nicht ausreichend präsent. Es ist zu beobachten und wird beklagt, dass in der Regel mehr Christen als Muslime an Dialogveranstaltungen teilnehmen. In manchen Fällen sind außer den Referenten keine muslimischen Teilnehmer anwesend. Die spürbar verbesserten interreligiösen Beziehungen scheinen selten bis in die muslimischen Gemeinden hineinzureichen.
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Ohne auf die vielfältigen Gründe dafür im Einzelnen eingehen zu können, bleibt auf christlicher Seite das Gefühl einer Einbahnstraße im interreligiösen Dialog zurück. Ein Beispiel kann diese Behauptungen verdeutlichen: Am 13. April 2003, dem Palmsonntag, fand in einer evangelischen Kirche in Berlin eine bemerkenswerte Veranstaltung zum Thema der Palme in Koran und Bibel statt. Die Kirche war nahezu bis auf den letzten Platz besetzt. Die Zahl der versammelten Muslime war annähernd so groß wie die der Christen. Einer botanisch-kulturgeschichtlichen Betrachtung folgten Ausführungen des Imams zur Palme im Koran. Die christlichen Teilnehmer lauschten gespannt den Worten des Imams, der sich unter anderem auf die Geschichte der Verkündigung an Maria im Koran (Sure 19) bezog. Nach einer kurzen Pause sollte die Veranstaltung mit dem christlichen Beitrag weitergehen. Zum großen Bedauern des Pfarrers hatten die Muslime zu diesem Zeitpunkt zum größten Teil den Veranstaltungsort bereits verlassen. Einem fast ausschließlich christlichen Publikum erklärte der evangelische Pfarrer dann Verlauf und Bedeutung der katholischen Palmprozession. Über das primäre Ziel des Verstehens und Verstandenwerdens hinaus kann der interreligiöse Dialog noch tiefer liegende Dimensionen erreichen. Im Hinblick auf die angestrebten Ergebnisse ist es sinnvoll, zwischen verschiedenen Formen des Dialogs zu unterscheiden. Eine hilfreiche Unterteilung in vier mögliche Arten des Dialogs findet sich in einem römischen Dokument aus dem Jahr 1991: „1. Der Dialog des Lebens, in dem Menschen in einer offenen und nachbarschaftlichen Atmosphäre zusammenleben wollen, indem sie Freud und Leid, ihre menschlichen Probleme und Beschwernisse miteinander teilen. 2. Der Dialog des Handelns, in dem Christen und Nichtchristen für eine umfassende Entwicklung und Befreiung der Menschen zusammenarbeiten. 3. Der Dialog des theologischen Austausches, in dem Spezialisten ihr Verständnis ihres jeweiligen religiösen Erbes vertiefen und die gegenseitigen Werte zu schätzen lernen. 4. Der Dialog der religiösen Erfahrung, in dem Menschen, die in ihrer eigenen religiösen Tradition verwurzelt sind, ihren spirituellen Reichtum teilen, z. B. was Gebet und Betrachtung, Glaube und Suche nach Gott oder dem Absoluten angeht.“8 In diesen vier unterschiedlichen Bereichen können denn auch Wechselwirkungen als Ergebnis des interreligiösen Dialogs einsetzen. Diese Wirkungen sind verschieden, je nachdem ob es um das zwischenmenschliche Miteinander, eine gemeinsame Anstrengung zur Verbesserung der Lebensverhältnisse, den theologischen Austausch oder das Mitteilen eines spirituellen Erlebnisses geht. Verallgemeinernd lassen sich folgende Erfahrungen festhalten: 1. Wirklicher Dialog ereignet sich nur in der lebendigen Begegnung und Beziehung von Menschen. Nur wenn Angehörige verschiedener Religionen sich als Gläubige sehen und erleben, kann sich auch ihr Verhältnis zueinander verändern. Begegnungen dieser Art können jedoch keine Massenerlebnisse sein, sie beschränken sich vielmehr auf überschaubare Personenkreise. 2. Ihre Wirkung erzielen sie nicht in einem einmaligen Erlebnis, sondern erst in einem andauernden Prozess von Begegnungen. Dialog findet nicht in einem punktuellen Ereignis statt, er bedarf vielmehr der Nachhaltigkeit und Kontinuität.
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3. Die Ergebnisse lassen sich in der Regel nicht als theologische Erkenntnisse und Einsichten in Resolutionen und Dokumentationen festhalten. Greifbar ist vielmehr eine atmosphärische Veränderung in den Beziehungen der beteiligten Personen zueinander. Auf der Grundlage eines solchen Vertrauenszuwachses lassen sich weitere Schritte gehen. Folgendes Beispiel kann diesen Prozess aufzeigen: Anlässlich ihres zwanzigjährigen Bestehens veranstaltete die Christlich-Islamische Gesellschaft e.V. (CIG) am 4. Mai 2002 in Zusammenarbeit mit sieben muslimischen und fünf christlichen Kooperationspartnern in Mülheim an der Ruhr eine Dialogkonferenz. Die Veranstaltung war das Ergebnis einer zweijährigen Vorbereitung. Diese Zeit war von einer intensiven Zusammenarbeit zur Planung und Durchführung des Ereignisses geprägt. Als eigentliches Ergebnis ließ sich feststellen, dass sich die Beziehungen der handelnden Personen zueinander wesentlich verändert hatten. Man hatte sich kennen gelernt und Vertrauen zueinander aufgebaut. Daraus ergab sich der Wunsch nach einer Fortsetzung der Zusammenarbeit. Unter dem Dach der Christlich-Islamischen Gesellschaft entstand daher Anfang des Jahres 2003 ein ChristlichIslamisches Forum in Köln. Die Vertreter der Kooperationspartner treffen sich dort mehrmals im Jahr, um im kleinen Kreis den Dialog miteinander fortzusetzen. Dabei können auch Fragen des theologischen Verhältnisses zueinander zur Sprache kommen. Dieser Prozess ist erst auf der Grundlage der gewonnenen Erfahrungen im Dialog möglich geworden. Abschließend seien einige weitere Aspekte genannt, die als Wechselwirkungen in einer verdichteten Form des Dialogs zutage treten können: 1. In der Begegnung mit dem anderen gewinnt der eigene Glaube zunehmend an Profil und Schärfe. Die Berufung des Völkerapostels Paulus in der Darstellung der Apostelgeschichte (9, 1–22) vermag dies zu verdeutlichen. Auf dem Weg nach Damaskus umstrahlt Saulus ein Licht. Er stürzt zu Boden und hört eine Stimme. Doch mit offenen Augen sieht er nichts. Erst die Begegnung mit Hananias und dessen Handauflegung machen ihn wieder sehend. Die interreligiöse Auseinandersetzung mit Juden und Muslimen kann auch Christen dazu führen, ihren eigenen Glauben besser zu verstehen. Beide Religionen, Judentum und Islam, stehen in einem historischen und theologischen Verhältnis zum Christentum. Die Botschaft des Neuen Testaments lässt sich erst auf dem Hintergrund des Alten Testaments verstehen. Das Christentum steht daher in einer untrennbaren Beziehung zum Judentum. Auch der Islam steht letztlich in einem theologischen Verhältnis zum Christentum, insofern der Koran Erfahrungen mit dem christlichen Glauben widerspiegelt. Somit kann der Christ schließlich nicht anders als in eine dialogische Beziehung mit den Angehörigen der beiden anderen Religionen einzutreten. 2. Durch die Anwesenheit bei den religiösen Ritualen der Dialogpartner kann man diese in ihrem religiösen Erleben besser verstehen und einschätzen. Das Selbstverständnis des Islam als Hingabe oder Unterwerfung unter den Willen Gottes wird zum Beispiel beim Ritus des Niederwerfens während des rituellen Gebets augenfällig. Das Abendmahl hingegen vergegenwärtigt das Mysterium der Erlösung christlichen Glaubens. Diese Rituale sind für die jeweiligen Gemeinschaften spezifische und unverwechselbare Erscheinungsformen. Der Dialog sollte die Möglichkeit offen lassen, jenseits von Synkretismus zu einem religiösen Erlebnis zu werden, indem die Teilnehmer sich als Gläubige erfahren,
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die sich auf der religiösen Ebene miteinander verbunden wissen. Die Trappisten des Klosters in Algerien haben einen lebendigen Dialog mit den Muslimen in ihrer Umgebung geführt. Einer der Teilnehmer der gemeinsamen Treffen umschrieb seine Erfahrung mit den folgenden Worten: „Wir sind wie eine Leiter, die sich zum Himmel ausstreckt: auf der einen Seite steigen die Muslime zu Gott hinauf, auf der anderen Seite die Christen. Je näher wir Gott kommen, desto näher kommen wir auch einander.“9 3. Zum interreligiösen Dialog gehört schließlich ganz wesentlich die Dimension der Vergebung hinzu, womit das Thema der Interreligiösen Sommeruniversität direkt angesprochen ist. Bereits die genannten Konzilstexte haben zu gegenseitigem Verzeihen als vorrangige Aufgabe in den Beziehungen der Religionen zueinander aufgerufen. Das Beispiel der Trappisten vom Atlas kann hierfür als Vorbild dienen. Obwohl sie die drohende Katastrophe vor Augen hatten, sind sie dennoch in ihrem Kloster geblieben. Die Treue zu ihrer Berufung und die Liebe zu ihren muslimischen Nachbarn hatten ihnen keine andere Wahl gelassen. In seinem geistlichen Testament spricht sich der Prior des Klosters, Pater Christian de Chergé, in Vorahnung der kommenden Ereignisse für die Verständigung von Christen und Muslimen aus.10 Vor allem warnt er davor, den Islam und die Muslime für den Fanatismus Einzelner verantwortlich zu machen. Ihren Einsatz für die Verständigung von Christen und Muslimen haben die Trappisten vom Atlas am 21. Mai 1996 mit dem Leben bezahlt. Drei Jahre später hat eine kleine Gruppe von Christen zum ersten Mal wieder eine Osternacht im Kloster gefeiert. Bei ihnen war eine weitaus größere Schar von Muslimen. Sie waren gekommen, um ihre Mönche zu schützen und um Vergebung zu bitten. Der neue Obere des Klosters beschreibt diese Osternacht mit folgenden Worten: „Und es leuchtete in der Nacht Algeriens, einer Nacht von Blut und Tränen, das Licht des auferstandenen Christus – und gab Kraft und Mut. Und wir sahen diese seltsame Prozession: voran die Osterkerze, die schließlich nach drei Jahren angezündet worden war, dann fünf christliche Mönche mit brennendem Herzen und dahinter 150 Muslime mit einer brennenden Kerze in der Hand und das Gewehr am Schulterriemen. Über dieses brüderliche Volk hinweg tönte der Gesang des Exultet: ‚Frohlocket, ihr Chöre der Engel …‘.“11
Anmerkungen 1 Konzilstexte werden zitiert nach: Das Zweite Vatikanische Konzil, Dokumente und Kommentare, Teil I–III, LThK Ergänzungsbände, Freiburg–Basel–Wien 1966–1968. 2 Vgl. Gregor VII., Epistolae III, 21, Ad Anzir regem Mauritaniae, in: Patrologia Latina Bd. 148, Sp. 450–452. 3 Vgl. Justin der Märtyrer, Apologia II, 8 + 13, in: Patrologia Graeca Bd. 6, Sp. 457 + 465. 4 Vgl. Oesterreicher, Johannes, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, Kommentierende Einleitung, in: Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil II, 406–478. 5 Sekretariat für die Nichtchristen/Maurice Borrmans, Wege zum christlich-islamischen Dialog, Frankfurt 1985, 59. 6 Zitiert nach: Secretariatus pro non christianis, Die Haltung der Kirche gegenüber den Anhängern anderer Religionen, Gedanken und Weisungen über Dialog und Mission, Vatikanstadt 1984, 8.
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Gängige Auffassungen von Muslimen über das Christentum finden sich in: Khoury, Adel Theodor/Hagemann, Ludwig, Christentum und Christen im Denken zeitgenössischer Muslime, Religionswissenschaftliche Studien 7, Würzburg-Altenberge 21994; Troll, Christian W., Muslime fragen, Christen antworten, Kevelaer 2003. Eine Zusammenfassung historischer Wertungen christlicher Theologen zum Islam bietet: Khoury, Adel Theodor, Der Islam in der Sicht christlicher Theologie, in: Bsteh, Andreas (Hrsg.), Christlicher Glaube in der Begegnung mit dem Islam, Zweite Religionstheologische Akademie St. Gabriel, Studien zur Religionstheologie 2, St. Gabriel 1996, 265–286. 8 Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog/Kongregation für die Evangelisierung der Völker, Dialog und Verkündigung, Überlegungen und Orientierungen zum Interreligiösen Dialog und zur Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 102, Bonn 1991, 22. 9 Zitiert nach: Olivera, Bernardo, Unsere Brüder von Atlas, Zeugen für Christus im muslimischen Algerien, Langwaden 1999, 59. 10 Vgl. ebd., 9–12. 11 Zitiert nach: Ebd., 167f. 7
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Zur Stellung des Islam in der deutschen Rechtsordnung Einführung Der Islam ist in Deutschland zur festen Größe geworden. Die Rechtsordnung wird hiervon in vielfältiger Weise berührt. Muslime sind dabei, den lange vorherrschenden psychologischen und tatsächlichen „Gastarbeiterstatus“ abzulegen und eine religiöse Infrastruktur zu errichten, die der dauerhaften Präsenz im Lande Rechnung trägt. Auch die staatliche Seite hat sich nun weitestgehend von der zunächst vorherrschenden Erwartung gelöst, dass die muslimische Präsenz in ihrer Breite nicht von Dauer sein werde. Der Rechtsordnung kommt die Aufgabe zu, diesem „Umdenken“ gerecht zu werden und dabei Umfang und Grenzen der Entfaltungsmöglichkeiten von Muslimen in Deutschland zu bestimmen und nötigenfalls auch zur Durchsetzung zu verhelfen. Gerichtsurteile zum betäubungslosen Schächten, zu Moscheebau, zum Tragen eines Kopftuchs als Verkäuferin oder als Lehrerin, zur Befreiung von Schulmädchen vom koedukativen Schwimm- oder Sportunterricht, zur Einführung eines islamischen Religionsunterrichts bis hin zur Übernahme der Kosten für eine rituelle Knabenbeschneidung im Rahmen der Sozialhilfe oder zum Verbot extremistischer muslimischer Organisationen deuten das Spektrum an, in dem die Religion des Islam auch rechtlich relevant werden kann. Bei alledem ist zu beachten, dass es „den Islam“ als gesellschaftliche Erscheinungsform so wenig gibt wie „das Christentum“. Auch unter Muslimen finden sich alle Schattierungen unterschiedlicher religiöser Prägung, Fromme und weniger Fromme, Schriftgläubige, eher mystisch Orientierte oder einem starken Volksglauben Verhaftete, Menschen unterschiedlichster Bildungsniveaus, kultureller Prägungen und individueller Überzeugungen. Dieser Vielfalt steht ein eher einförmiges Bild in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland gegenüber, das im Wesentlichen den eher traditionell ausgerichteten sunnitischen Islam vieler türkischer/türkischstämmiger oder arabischer Zuwanderer im Blick hat. Die säkulare Ausrichtung vieler Muslime, gerade solcher türkischer Herkunft und insbesondere die der Aleviten, wird vielleicht gerade wegen ihrer Unauffälligkeit im normalen täglichen Leben oft übersehen. Die Rechtsordnung gerät gelegentlich selbst zwischen die Mühlsteine entsprechender Diskussionen: Verbietet sie einer berufstätigen Muslimin im Einzelfall das Tragen eines Kopftuchs, wird sie als Instrument vorurteilsbeladener Ausgrenzung gebrandmarkt; erlaubt sie das betäubungslose Schächten von Tieren unter bestimmten Auflagen, gerät sie manchen zur Verderberin des Abendlandes. Deshalb ist vorab festzuhalten, dass die
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Rechtsordnung Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander bereithalten muss und dass sie diese notfalls auch mit staatlichen Sanktionen durchsetzt, dass sie aber nicht dazu da ist, alles zu verbieten, was Einzelnen oder vielen nicht gefällt, was sie moralisch oder gesellschaftspolitisch ablehnen. Rechtstreue muss für alle Bürger und für all diejenigen, die sich im Lande aufhalten, ein selbstverständliches Gebot sein. Hier gehen die Dinge aber gelegentlich durcheinander. Tatsächlich ist es nicht leicht, Religionsfreiheit im Einzelnen zu präzisieren. Wo endet die in Art. 9 EMRK wie auch in Art. 4 GG garantierte Religionsfreiheit? Zu einfach erscheint die Antwort, wonach die Gesetze allgemein gälten (und deshalb für religiöse Sonderbelange kein Raum sei). Die Position des deutschen Rechts ist dies nicht. Das „Staatskirchenrecht“ – besser „Religionsverfassungsrecht“ –, das nicht nur auf christliche und jüdische Organisationen beschränkt ist, und eine Vielzahl von Rechtsnormen gewähren religiösen Anliegen die Möglichkeit zu effektiver Durchsetzung. Das gilt in gewissem Umfang auch dann, wenn angeblich „allgemeine“ Auffassungen religiösen Vorstellungen und Anliegen widersprechen. Körperverletzungen werden selbstredend in aller Regel unter Strafe gestellt. Dennoch dürfen Jungen aus religiösen Gründen straffrei beschnitten werden. Das betäubungslose Schlachten von Tieren widerspricht dem Grundanliegen des Tierschutzgesetzes, Lebewesen keine vermeidbaren Schmerzen zuzufügen. § 4 a desselben Gesetzes lässt jedoch Ausnahmegenehmigungen aus zwingenden religiösen Gründen zu, wie sie für Judentum und Islam kennzeichnend sind. Freilich gibt es auch hier „absolute“ Grenzen. Kein religiöses oder kulturelles Anliegen vermag beispielsweise die abscheuliche Mädchenbeschneidung zu rechtfertigen oder auch nur zu entschuldigen, wie sie in verschiedenen Regionen Afrikas und Asiens unter Muslimen, Animisten und auch Christen praktiziert wird. Die meisten Muslime verdammen übrigens diese Praxis als unislamisch. Die allen Ernstes in einer deutschen juristischen Zeitschrift von einer Autorin vorgetragene Idee, nach Art der Abtreibungsvorschriften eine Pflichtberatung mit „Beratungsschein“ vorzusehen, auf dessen Grundlage dann straffrei die Beschneidung ausgeführt werden kann, macht fast schon sprachlos. Bezeichnenderweise wird zugleich vorgeschlagen, dass befähigte „MedizinerInnen/ReligionsführerInnen/Dorfälteste“ die Pflichtberatung durchführen sollten, „um dem Anschein eines wie auch immer gearteten ‚Kulturimperialismus‘ zu begegnen“. Korrespondierend soll als positiver Anreiz eine „Antibeschneidungsprämie“ gewährt werden. Solche Verirrungen zeigen, wie viel Unsicherheit im Umgang mit „neuen“ religiösen und kulturellen Erscheinungen noch herrscht. Im Folgenden soll der rechtliche Rahmen für muslimisches Leben in Deutschland skizziert und anhand einiger wichtiger Beispiele illustriert werden.
Einzelfragen Der verfassungsrechtliche Rahmen In Deutschland und den anderen Mitgliedstaaten der EU herrscht Religionsfreiheit. In den Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) regelt deren
Stellung des Islam in der deutschen Rechtsordnung
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Artikel 9 Näheres. Das Maß an Trennung zwischen Staat und Religion ist in Europa allerdings nicht deckungsgleich. Der sehr strikten Trennung in Frankreich einerseits und den Staatskirchenverfassungen anderer europäischer Staaten andererseits steht ein Mischsystem in Deutschland gegenüber, das als „hinkende“ Trennung zwischen Staat und Religion charakterisiert wird. Bereits der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes macht den Stellenwert der Religion auch in einem säkularen, dem Neutralitätsgebot verpflichteten Staatswesen deutlich. Das Gebot zur Neutralität wird seinerseits vor allem vor dem Hintergrund jahrhundertelanger, konfessionell begründeter Verfolgung und Kriege in Europa verständlich. Dieses Neutralitätsgebot ist eine Errungenschaft, die eine über bloße Toleranz hinausgehende Gleichberechtigung und damit erst wirkliche Religionsfreiheit ermöglicht. Nach der zutreffenden Formulierung von H. Bielefeldt ist die säkulare rechtsstaatliche Ordnung unerlässliche Voraussetzung für volle Religionsfreiheit. Da der Religionsschutz der deutschen Verfassung eher weiter reicht als derjenige der EMRK, soll diese hier nicht weiter erläutert werden. Zentrale Verfassungsnorm in Deutschland ist Art. 4 GG (Grundgesetz), dessen erste beiden Absätze hier maßgeblich sind: Abs. 1: Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Abs. 2: Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. Alle Religionen, also nicht nur die traditionell im Lande vertretenen, genießen verfassungsrechtlichen Schutz. Der Islam erfüllt dabei unstreitig den Begriff der „Religion“ im Sinne des Verfassungsrechts. Durch Art. 4 GG erhält nicht nur die innere religiöse Überzeugung, sondern auch die religiös motivierte, von anderen wahrnehmbare Betätigung verfassungsmäßigen Schutz. Glaubensfreiheit ist also – gerade auch im säkularen Rechtsstaat – mehr als bloße religiöse Toleranz. Sie beschränkt sich auch nicht auf die religiöse Praxis im Privatbereich, sondern umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch „das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“. Dies schließt auch religiöse Überzeugungen ein, die eine ausschließlich religiös motivierte Reaktion in einer konkreten Lebenssituation zwar nicht zwingend erfordern, die diese Reaktion aber für das beste Mittel zur Bewältigung dieser Situation halten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht der Schutz des Art. 4 GG unabhängig von der zahlenmäßigen Stärke oder der sozialen Relevanz einer religiösen Vereinigung. Wie die anderen verfassungsmäßigen Grundrechte ist auch die Religionsfreiheit als sogenanntes „subjektives Abwehrrecht“ gegen mögliche Eingriffe des Staates entstanden. Darüber hinaus bildet sie ein Element der objektiven Rechtsordnung und wirkt damit auch in privatrechtliche Verhältnisse wie z.B. Arbeitsverträge hinein (sog. „Drittwirkung“ der Grundrechte). Sie bindet auch den Staat im Verhältnis zu seinen Bediensteten. Davon sind auch Beamte nicht ausgenommen, denen zu Recht eine besondere Loyalitätspflicht abverlangt wird. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit weist einen unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde auf. Zumindest aus diesem Grund kann sich auch der Beamte individuell darauf berufen. Das Bundesverfassungsgericht hat zudem deutlich gemacht, dass sich die Religionsfrei-
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heit nicht in diesen Wirkungen erschöpft. Vielmehr ist der Staat verpflichtet, selbst Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung zu sichern. Solchen verfassungsrechtlichen Schutz genießen nicht nur Individuen. Er steht in weitem Umfang auch inländischen juristischen Personen (z.B. eingetragenen Vereinen) zu, welche die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündigung des Glaubens ihrer Mitglieder zum Zweck haben. Wer sich auf das Grundrecht der Religionsfreiheit beruft, muss bei rechtlichen Streitigkeiten nötigenfalls darlegen können, dass die Motive seines Begehrens auf einer ihn bindenden religiösen Verpflichtung beruhen. Der Inhalt der religiösen Verpflichtung und der hierdurch ausgelöste mögliche Gewissenskonflikt müssen hinreichend konkret und objektiv nachvollziehbar sein. Rein subjektive oder nicht in der Religion begründete Vorstellungen genießen nicht den Schutz des Art. 4 GG. Andererseits darf der Staat – auch die Gerichtsbarkeit – keine Bewertung von Glaubenshaltungen oder eine Überprüfung der theologischen „Richtigkeit“ vornehmen. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob eine religiöse Überzeugung nur von einer kleinen Zahl von Gläubigen vertreten wird oder ob sie die Mehrheitsmeinung widerspiegelt. Das wurde etwa im Falle des betäubungslosen Schlachtens relevant. Geschützt ist allerdings auch die Freiheit, nicht religiös zu sein und dies nach außen deutlich zu machen. Die Pflicht des Staates zu religiös-weltanschaulicher Neutralität bedeutet jedoch nicht den völligen Rückzug aus religiösen Angelegenheiten. Eine solche Haltung wäre eine ungerechtfertigte Privilegierung des Religionslosen. Religiös-weltanschauliche Neutralität bedeutet also keineswegs die Entfernung des Religiösen aus Öffentlichkeit und Schule. Religiöse und Areligiöse müssen sich in ihren jeweiligen Rechten respektieren, können aber nicht verlangen, dass der Staat sie von der Begegnung mit der jeweils anderen Auffassung fernhält. Wie viel guter Wille hierbei nötig ist, zeigt der unselige Streit um Kruzifix und Kreuz im Klassenzimmer. Selbstverständlich gilt das Grundrecht der Religionsfreiheit wie alle anderen Grundrechte nicht uneingeschränkt. Einschränkungen sind insbesondere dort zulässig und teils sogar geboten, wo die religiöse Betätigung auf die Umwelt einwirkt. Das Recht, ein Gebetshaus zu errichten, berechtigt nicht zur Ausführung sicherheitsgefährdender Konstruktionen; die Bekenntnisfreiheit rechtfertigt keine religiöse Indoktrination von Schülern; der (staatliche) strafrechtliche Schutz vor Religionsbeschimpfung nach § 166 StGB berechtigt nicht zur Selbstjustiz. Weitergehend wird gelegentlich die Befürchtung geäußert, der Islam sprenge die Grenzen der verfassungsmäßig geschützten Religionsfreiheit. Er beanspruche nicht nur religiöse Geltung, sondern auch Durchsetzung in allen rechtlichen und gesellschaftlichen Fragen. Dass Muslime ihre Religion als für sich verbindlich verstehen und in ihr Antworten für alle Aspekte des Lebens suchen, unterscheidet sie nicht von Angehörigen anderer Weltreligionen, wie des Christentums oder des Judentums. Allerdings stößt man immer wieder auf die weitergehende Behauptung, der Islam könne überhaupt nicht zwischen Religion und Recht trennen. Diese Aussage findet sich teilweise noch in islamwissenschaftlicher Literatur, wird aber vor allem von muslimischen Extremisten und von platt anti-islamischen Agitatoren propagiert. Soweit damit gesagt werden soll, dass sämtliche
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im Islam entwickelten religiösen und rechtlichen Vorschriften für alle Muslime an allen Orten verbindlich seien, entsteht ein Konflikt mit der deutschen Rechtsordnung. Dieser Konflikt wird etwa am Fall des selbsternannten „Kalifen“ Metin Kaplan und dem Verbotsverfahren hinsichtlich seiner Organisation „Hilafet Devleti“ („Der Kalifatsstaat“) deutlich. Diese Organisation erkennt alleine das islamische Recht an und akzeptiert das deutsche (wie auch das türkische) Recht nicht. Eine solche Sicht ist mit der deutschen Rechtsordnung keinesfalls vereinbar. Der Geltungs- und Ausschließlichkeitsanspruch des deutschen Rechts für Deutschland steht über der Selbstdefinition verbindlicher Normen durch Einzelne, und zwar auch dann, wenn solche Selbstdefinition religiös motiviert ist.
Einzelbeispiele 1. Moscheebau und Gebetsruf Moscheen (bei den Aleviten: Cem-Häuser) und Gebetsruf zählen zu den am deutlichsten wahrnehmbaren Erscheinungen des Islam. Beides fällt in den Schutzbereich der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit. Zwar kann ein Muslim die vorgeschriebenen täglichen Gebete grundsätzlich an jedem Ort verrichten; zumindest das Mittagsgebet am Freitag muss aber nach Möglichkeit in der Moschee ausgeführt werden. Zudem erfüllt die Moschee wichtige soziale Funktionen. Sie kann auch schlicht ein Ort der Ruhe und Besinnung in einer hektischen Umwelt sein. All dies macht deutlich, dass Moscheen nicht durchweg in Gewerbegebiete am Stadtrand verbannt werden dürfen, wenn sie ihre Funktion erfüllen sollen. Der zunehmende Wunsch nach der Errichtung von Gebetsstätten und Zentren religiösen Lebens ist nicht überraschend. Er dürfte in erster Linie darin begründet sein, dass man sich vom schon längst irreal gewordenen „Gaststatus“ und den damit verbundenen Provisorien auch praktisch verabschiedet. Die gelegentlich verbreitete plumpe anti-islamische Propaganda, die im Moscheebau generell eine planmäßige Unterwanderung sehen will (betrieben insbesondere im Umkreis der obskuren Vereinigung „Christliche Mitte“), verkennt die Normalität dieser Entwicklung. Aus rechtlicher Sicht ist festzustellen, dass die Muslime wie alle Angehörige anderer religiöser Richtungen einen Anspruch darauf haben, Bethäuser und religiöse Zentren einzurichten. Selbstverständlich gelten für solche Vorhaben aber auch die Vorschriften des Baurechts. Hierbei ergeben sich gewisse Auslegungsspielräume. Deren Ausfüllung hängt maßgeblich davon ab, ob das Gespräch von Konfrontation oder von Kooperationswillen bestimmt wird. Man denke nur an die Frage, inwieweit eine geplante Moschee sich in die vorhandene Umgebung einfügt (vgl. § 34 Absatz 1 Baugesetzbuch). Insgesamt wird es immer auf die Umstände des Einzelfalles ankommen. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hat in einem Urteil aus dem Jahr 2000 zum Moscheebau (mit Minarett und leicht verstärktem Gebetsruf freitags zum Mittagsgebet) prägnant festgestellt, dass es keinen (verdrängenden kulturellen) Milieuschutz gebe, der solche Bauten generell ausschließen könne. Zudem seien die oft schon seit vielen Jahren in größerer Zahl ansässigen Muslime bereits zu einer einheimischen Be-
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völkerungsgruppe geworden, deren religiöses Selbstverständnis den allgemein geltenden Schutz genieße (§ 1 Absatz 5 Satz 2 Nr. 3 Baugesetzbuch). Damit stellt sich die generellere Frage, wie die Akzeptanz der Rechtsordnung bei Einwanderern und Ansässigen gleichermaßen gewahrt werden kann. Die Akzeptanz der Rechtsordnung bei allen Betroffenen wird maßgeblich von zwei Voraussetzungen abhängen: Je mehr die Rechtsordnung gleiche bzw. von einer breiten Mehrheit der Einwanderer und der Alteingesessenen als gleich empfundene Sachverhalte auch gleich behandelt, desto eher darf eine breite Normenakzeptanz erwartet werden. Ist aber z.B. das kirchliche Glockengeläut dem jüdischen Blasen des Schofar-Horns oder dem muslimischen, in neuerer Zeit meist lautstärkerverstärkten Gebetsruf gleichzusetzen? Die Antwort hängt mit davon ab, ob es einen (geschriebenen oder ungeschriebenen) rechtlich beachtlichen „Kulturvorbehalt“ der Mehrheitsgesellschaft gibt. Verneint man das Bestehen eines Kulturvorbehalts, wie es der wohl ganz herrschenden Meinung zum deutschen Verfassungsrecht entspricht, so kommt immer noch die Funktion der Rechtsordnung als Friedensordnung ins Spiel: Gibt es einen gewissen kulturellen Milieuschutz, und welche Grenzen findet er gegebenenfalls? Diese Frage sei anhand der Rechtsstreitigkeiten um den lautstärkerverstärkten islamischen Gebetsruf illustriert. Manche setzen recht pauschal Kirchengeläut und Gebetsruf unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG gleich. Dies ist meines Erachtens jedoch nicht geboten. Allerdings ergibt sich kein wesentlicher Unterschied daraus, dass der Gebetsruf im Gegensatz zum Glockengeläut auch eine (in arabischer Sprache vorgetragene!) religiöse Botschaft beinhaltet. Auch die Verkündung wird ja von der Religionsfreiheit umfasst. Die gelegentlich aufgestellte Behauptung, der Gebetsruf sei als politische Propaganda zu qualifizieren und könne deshalb keinen Schutz genießen, ist sehr weit hergeholt. Maßgeblich erscheint mir eine andere Überlegung. Die Bereitschaft zur Integration des Neuen setzt die Mitwirkung der Eingesessenen notwendig voraus. Die Rechtsordnung nimmt solche Erwägungen in gewissem Umfang durchaus auf. Konkret ist zu untersuchen, ob die Geräuschimmissionen den Grad erheblicher Nachteile oder Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft erreichen. Hierbei ist die Zumutbarkeit in einer wertenden Betrachtung zu prüfen. Mit dem Bundesverwaltungsgericht ist insoweit auf Herkömmlichkeit, soziale Adäquanz und allgemeine Akzeptanz abzustellen, diese Kategorien, die mit der – wandelbaren – Einschätzung der bereits ortsansässigen Bevölkerung in Verbindung stehen. Dabei muss in Erinnerung bleiben, dass die Verhältnisse sich wandeln können: Bestehendes hat keinen Anspruch darauf, ohne Überprüfung auf alle Zeiten konserviert zu werden. Es muss sich vielmehr ständig neu bewähren und Änderungen in den Lebensverhältnissen Rechnung tragen. Nur eine solch dynamische Betrachtungsweise wird dem Grundsatz der Religionsfreiheit in seiner Abwägung mit anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern gerecht. Andererseits folgt aus der Voraussetzung allgemeiner Akzeptanz, dass eine solche Dynamik nicht zu einer Überforderung der bestehenden Gemeinschaft führen darf. Mit anderen Worten: Gefordert ist ein umsichtiger und allmählicher Wandel in Abstimmung mit den jeweiligen, sicherlich sehr unterschiedlichen Verhältnissen vor Ort. Dies scheint mir den treffenden Mittelweg zwischen
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einem bollwerkartigen und im Grunde ahistorischen Kulturvorbehalt einerseits und einer multikulturellen Beliebigkeit andererseits zu beschreiben. Je mehr die Rechtsordnung kulturelle Eigenheiten der Einwanderer respektiert und sogar schützt, desto mehr werden sich die Einwanderer dieser Rechtsordnung verbunden fühlen. Ein Einwanderer wird im Regelfall keine Mühe haben, die territorial geltende Rechtsordnung als die „seine“ zu übernehmen, wenn sie ihm seine persönlichkeitsbildenden Eigenheiten im Grundsatz belässt. An dieser Stelle zeigt sich auch, wie unangemessen das populäre Vergeltungsargument (keine Moschee in Rom, solange keine Kirche in Mekka steht) ist: Rechtsstaaten sollten sich nicht an Staaten messen, in denen die Religionsfreiheit mit Füßen getreten wird. 2. Betäubungsloses Schächten Exemplarisch für einschlägige Rechtsfragen mit gesellschaftlicher Breitenwirkung ist der Streit über das betäubungslose Schlachten von Tieren nach islamischem Ritus. Das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15. 1. 2002 hat in Deutschland außergewöhnlich heftige Diskussionen ausgelöst. Ein Kommentator hat es in einem für die seriöse Presse unüblich scharfen Ton als Beitrag zur Desintegration apostrophiert und kommt zu dem Schluss: „Das Bundesverfassungsgericht ist offenbar nicht geeignet, in Deutschland jene Merkmale zu erhalten und jenen zivilisatorischen Fortschritt zu sichern, die das Land, die Bevölkerung und den Staat bislang gekennzeichnet haben.“ Was löst solche Empörung aus? Inhaltlich ging es um nicht mehr als die Auslegung des § 4 a Absatz 2 Tierschutzgesetz (TierSchG) im Lichte der Verfassung. Das Schlachten ohne vorherige Betäubung wird gemäß § 4 a Absatz 1 TierSchG grundsätzlich verboten. Allerdings lässt das Gesetz selbst in § 4 a Absatz 2 Ausnahmegenehmigungen zu. Diese müssen Angehörigen von Religionsgemeinschaften erteilt werden, wenn zwingende Vorschriften (kursive Hervorhebungen vom Verf.) der Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen. Das Gericht stellt mit seinem einstimmig ergangenen Urteil im Ergebnis Juden und Muslime gleich, deren beider Religionen ein Schächtgebot kennen. Juden in Deutschland dürfen (wieder) seit Ende der nationalsozialistischen Herrschaft schächten; Muslime dürfen dies nun unter bestimmten Bedingungen auch, wobei nun durchaus nicht jeder nach Belieben und ohne Eignung zum Schlachtmesser greifen darf. Im Kern waren zwei Rechtsfragen zu entscheiden. Zum einen war zu prüfen, ob der Antragsteller Angehöriger einer Religionsgemeinschaft im Sinne von § 4 a Abs. 2 TierSchG ist. Das Bundesverwaltungsgericht hatte bislang eine sehr enge Interpretation vertreten. So hatte es das „spezifische religiöse Profil“ bei einer Gemeinschaft von Muslimen auf breiter Basis von Sunniten und Schiiten unterschiedlicher Schulzugehörigkeit vermisst und ihr deshalb die Eigenschaft einer Religionsgemeinschaft abgesprochen. Zum einen aber deutet gerade der breite Zusammenschluss auf das Vorliegen einer Religionsgemeinschaft und nicht nur einer religiösen Splittergruppe hin. Zum anderen hat der Binnenpluralismus einer solchen Gemeinschaft keine Aussagekraft für die Frage, ob
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nicht im Hinblick auf die Notwendigkeit des Schächtens doch ein breiter Konsens unter den Mitgliedern besteht. Es entspricht alter islamischer Tradition, Gutachten (Fatwas) solcher Personen oder Institutionen einzuholen, die wegen besonderer Vorbildung hierfür vom Fragenden als Autorität anerkannt werden. Eben diesen Weg hatte die betreffende Religionsgemeinschaft gewählt. Wäre eine rechtlich relevante Verbindlichkeit nur in dem vom Bundesverwaltungsgericht erwähnten „gesamtislamischen Konsens“ zu finden, so wäre außerhalb der römisch-katholischen Kirche kaum eine andere Religionsgemeinschaft zur Formulierung solcher Sätze in der Lage. Demgegenüber war eine verfassungskonforme Auslegung der Ausnahmebestimmung notwendig, wie sie nun das BVerfG im vorliegenden Fall vorgenommen hat. Es genügt also die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen, die eine gemeinsame Glaubensüberzeugung verbindet. Zum anderen war der Maßstab für die Untersuchung zu bilden, ob zwingende Vorschriften der Religionsgemeinschaft vorliegen, welche eine Ausnahme vom Betäubungsgebot rechtfertigen. Maßgeblicher Ausgangspunkt, den das BVerwG nicht hinreichend berücksichtigt hat, ist das Verfassungsgebot weltanschaulicher Neutralität des Staates. Im Hinblick auf religiös begründete Überzeugungen steht es jedoch staatlichen Instanzen nicht zu, den Streit zwischen unterschiedlichen religiösen Lehrmeinungen im Sinne der einen oder anderen Partei zu entscheiden. Deshalb war es verfehlt, das Vorliegen zwingender Vorschriften schon deshalb abzulehnen, weil nach gewichtigen Stellungnahmen von Gelehrten aus der islamischen Welt die in Deutschland und Europa üblicherweise praktizierten Schlachtmethoden als religiös akzeptabel eingestuft wurden. Die auch hier erforderliche verfassungskonforme Auslegung kommt zu einem anderen Ergebnis: Soweit Muslime substanziiert und nachvollziehbar einschlägige Glaubensvorschriften darlegen, an die sie sich gebunden fühlen, darf der Staat sich nicht mehr in innerreligiöse Auseinandersetzungen um Verbindlichkeit und Auslegung solcher Vorschriften einmischen. Dies ist eminent wichtig gerade für Muslime in der Diaspora: Nun kann man ihnen nicht mehr ohne weiteres orientalische „Autoritäten“ entgegenhalten, sondern muss sich mit dem auseinander setzen, was Muslime hier und heute über ihren Glauben sagen. Zugleich wird verhindert, dass Muslime, für die nach den Vorschriften des Islam in einer Minderheitensituation besondere situationsbedingte Erleichterungen in der Glaubenspraxis gelten, von Rechts wegen auf Dauer in einer solchen strukturellen Minderheitenposition gefangen bleiben. Hierin liegt vermutlich die wichtigste – und integrationsförderliche – Auswirkung der Entscheidung. Dabei ist durchaus zu erwarten, dass sich die Diskussion unter Muslimen über die Akzeptanz des Betäubens vor der Schlachtung fortsetzen wird. Falls die Neuregelung in der Verfassung zum abermaligen Verbot des Schächtens für Muslime genutzt werden sollte, wird das Verfahren auch im Hinblick auf die im Wesentlichen identische Schächtpraxis der Juden in Deutschland mit Interesse zu beobachten sein. Ist der eingangs genannte „zivilisatorische Fortschritt“ wirklich ins Wanken geraten? Soll damit gesagt werden, dass Juden und Muslime in Deutschland dem zivilisatorischen Mindeststandard nicht entsprechen? Nur am Rande sei erwähnt, dass die Betriebshalle des Metzgers, der das Verfahren zum BVerfG betrieben hat, vor kurzem einem Brand zum Opfer gefallen ist.
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3. Religiös motivierte Kleidung Die Religionsfreiheit erfasst auch das äußerlich sichtbare Bekenntnis zu religiös begründeten Bekleidungsvorschriften. Aussagen zur Bekleidung beider Geschlechter finden sich etwa im Koran in Sure 24, Vers 30 f. Danach sollen sich sowohl Männer als auch Frauen sittsam kleiden und verhalten. Diese Vorschrift ist beispielsweise bei der Nutzung von Waschgelegenheiten im Rahmen des Sportunterrichts oder beim Militär oder auch im Strafvollzug zu beachten, wenn zu entscheiden ist, ob eine vollständige Entkleidung zu Untersuchungszwecken verlangt werden darf. Sicherheitsgründe können dies gebieten. Das religiöse Gebot ist aber bei der Abwägung zu berücksichtigen, ob die Sicherheitsmaßnahme im konkreten Fall in der geplanten Form erforderlich ist. Übrigens lässt sich der immer wieder sichtbare scharfe Kontrast zwischen leicht bekleideten Männern und schwer verhüllten Frauen angesichts der koranischen Regelung für beide Geschlechter nicht leicht erklären. Für die Frauenbekleidung enthält Sure 24, Vers 31 noch konkretere Ausführungen. Danach sollen Frauen im außerfamiliären Bereich die Scham bedeckt halten, den üblicherweise nicht sichtbar getragenen Körperschmuck (auch tatsächlich) nicht zeigen und etwas von ihren „khumur“ über ihre „ˇguyub“ decken; beide im Einzelnen unklaren Begriffe bezeichnen Kleidungsteile. Zudem ist Sure 33, Vers 59 maßgeblich, wonach Frauen etwas von ihren „ˇgalabib“ herunterziehen sollen. Das Kopftuch als Begriff wird nicht genannt. Deutsche oder andere Koran-„Übersetzungen“, die den Begriff des Kopftuchs oder Schleiers wählen, sind in Wirklichkeit bereits Interpretationen. So lässt sich aus dem Koran nicht unmittelbar eine bestimmte „Kleiderordnung“ ablesen. Manche zeitgenössischen muslimischen Islamwissenschaftler verstehen diese koranischen Aussagen als nichts anderes als eine moralische Empfehlung, die im ständigen Wandel von Zeit und Lebensumständen zu sehen sei. Allerdings hat sich über viele Jahrhunderte eine verbreitete Meinung herausgebildet, wonach die Frau jedenfalls ihr Haupthaar bedecken solle. Reichlich zwanghaft wirken weitergehende, auch von vielen Muslimen abgelehnte Ansichten, Frauen und Mädchen müssten sich vollständig verhüllen und dürften sich nur eines schmalen Sehschlitzes bedienen. Andererseits verstehen manche Musliminnen Kopftuch oder Schleier auch als Schutz und als Instrument zur Befreiung. Es wandle die Trägerin von einem Beobachtungsobjekt zur Beobachterin. Zudem müsse die Trägerin dann nicht mehr teure Kleidung anschaffen und dem gängigen Schönheitsideal folgen, um in ihrer Umgebung anerkannt zu werden. Viele Frauen tragen jedoch kein Kopftuch, verstehen sich aber durchaus als Musliminnen. In der Tat kann die häufig genannte Begründung für die Notwendigkeit von Kopftuch oder Schleier – Übergriffe von Männern zu verhindern – die Frage provozieren, ob dann nicht eher die Männer zu Scheuklappen zu verpflichten wären. So führen nicht wenige muslimische Autorinnen und Autoren die traditionellen Auffassungen zur Verschleierung auf verbreitete patriarchalische Vorstellungen und nicht auf Gebote des Islam zurück. Der kürzlich verstorbene prominente muslimische Religions- und Kulturwissenschaftler Smail Balic´ kommt in einem Buch (Islam für Europa, Köln 2001) im Kapitel „Vom Kopftuch
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steht nichts im Qur’an“ zu dem Schluss, dass „das Kopftuch-Tragen nicht im göttlichen Recht, sondern in alten Traditionen und orientalischen Mentalstrukturen begründet“ sei. Der ägyptische Verfassungsgerichtshof hat in einem Urteil aus dem Jahre 1996 zur Verschleierung ausgeführt: Die Zielrichtung der Bekleidungsvorschriften sei es, den Stellenwert der Frau zu heben, aber nicht, sie am Lernen, am Ausgang und an der Kommunikation mit der Außenwelt zu hindern. Frauen könne nicht befohlen werden, als „schwarzverhüllte Gespenster“ einherzugehen, während das Leben sich um sie herum abspielt. Diese Diskussionen machen deutlich, dass auch unter den Muslimen in der Bekleidungsfrage keine einhellige Meinung besteht. Auch in islamischen Ländern finden sich starke Kontraste. Der deutsche Staat ist allerdings zur religiösen Neutralität verpflichtet. Es ist ihm deshalb verwehrt, inhaltliche Position zu beziehen, indem er eine der vertretenen Auffassungen für „richtig“ erklärt. Generell verdient die freiwillig getroffene Entscheidung einer Frau über ihre Kleidung Respekt. Selbstverständlich genießen Frauen oder Mädchen den vollen Schutz unserer Rechtsordnung gegen leider auch zu beobachtenden Zwang. Für Muslime in Europa kommen noch weitere, aus der Minderheitensituation zu erklärende Motive hinzu. Die Furcht vor dem Verlust der eigenen Identität in der Mehrheitsgesellschaft führt häufig zu einer besonders intensiven Hinwendung zu tatsächlichen oder vermeintlichen Traditionen. Hierzu kann auch die Wahl einer besonders „orthodoxen“ Kleidung gehören – Selbstgewissheit in Äußerlichkeiten, wo innere Zweifel stark werden. Deshalb ist der Versuch, die Assimilation an die Sitten der Mehrheitsgesellschaft zu erzwingen, besonders problematisch. Insbesondere das Recht erscheint hierbei überfordert. Es hat allerdings, wie erwähnt, dort seinen Platz, wo Mädchen oder Frauen seines Schutzes bedürfen, wenn sie unter rechtlich unzulässigen Druck gesetzt werden, sich gegen ihren Willen in bestimmter Weise zu kleiden. Der Kern der rechtlichen Auseinandersetzungen um weibliche Bekleidungsvorschriften liegt darin, dass im Tragen von Kopftüchern eine Provokation bzw. eine politische Demonstration und eine bewusste Selbstausgrenzung gesehen wird. Rechtlich relevant wurde vor allem die Frage, ob Lehrerinnen in der Schule ein Kopftuch tragen dürfen. Dabei sind die möglicherweise divergierenden Interessen der Kopftuchträgerinnen, die Interessen derer, die dem Anblick des Kopftuchs ausgesetzt sind, sowie anderer für sie verantwortliche Personen und das Gebot der Wahrung staatlicher Neutralität gegeneinander abzuwägen. Auch beamtete Lehrerinnen genießen das Recht auf Religionsfreiheit, wenngleich es durch die beamtenrechtliche Sonderstellung und das staatliche Neutralitätsgebot begrenzt sein kann. Zudem darf bei der Zulassung zu öffentlichen Ämtern niemandem ein Nachteil aus seiner Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis erwachsen (Art. 33 Abs. 3 GG). Das z.T. in den Vordergrund gerückte Argument, religiös motivierte Kleidung verstoße gegen das staatliche Neutralitätsgebot, überzeugt nicht. Überzeugend wäre es nur, wenn eine Verwechslungsgefahr entstünde in dem Sinne, dass sich der Staat das von dem individuellen Lehrer gesetzte „Zeichen“ zu Eigen macht, dass also das religiöse „Symbol“ gleichzeitig zum „Staatssymbol“ wird. Da der Staat selbst aber keine Religion hat, kann eine solche Verwechslung doch offensichtlich nicht entstehen. Andererseits kann man einige der vorgebrachten Bedenken nicht einfach als Ausdruck kultureller Intoleranz abtun. Dies gilt
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vor allem für die Befürchtung, besondere Bekleidungsvorschriften für Frauen minderten deren Stellenwert in der Öffentlichkeit. Die Besorgnisse werden besonders verständlich, wenn man bedenkt, dass die Gleichberechtigung der Geschlechter auch in Deutschland ein eher neues Anliegen ist, das sich durchaus noch nicht in allen Bereichen durchgesetzt hat. Gerade deshalb erscheint es besonders schutzbedürftig. Wer also Bedenken gegen das Tragen eines Kopftuchs in offizieller Funktion äußert, tut dies nicht notwendig aus einer – abzulehnenden – Überlegenheitshaltung des Westens gegenüber dem Orient heraus. Der tatsächliche Umgang nicht weniger Männer orientalischer Herkunft mit Frauen und die Situation der Frauen in einigen islamischen Ländern lässt ja Befürchtungen nicht eben grundlos erscheinen. Deutlich erschwert wird die Verteidigung der „Freiheit für das Kopftuch“ auch durch die erwähnten teilweise höchst brutalen Zwangsmethoden in manchen islamischen Staaten. Dass man sich nicht zum Komplizen solch vormoderner Tyrannen machen möchte, liegt auf der Hand. Ob allerdings die in jüngster Zeit in einigen Bundesländern eingeführten Gesetze den verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen, ist durchaus zweifelhaft. Meines Erachtens hat man sich häufig allzu pauschal und ohne hinreichende empirische Absicherung für Deutungen des Kopftuchtragens entschieden, die seiner vielgestaltigen Bedeutung nicht gerecht werden. Erst auf der Grundlage gesicherter Erkenntnisse sind meines Erachtens tragfähige spezialgesetzliche Regelungen zu treffen, wobei bereits das geltende Schul- und Beamtenrecht für konkrete Störungen des Schulbetriebs ausreichende Möglichkeiten der Abhilfe bereithält. Meines Erachtens sollte die Bekleidungsfrage nicht zur – doch vergleichsweise unwichtigen – Grundsatzfrage im Zusammenleben erhoben werden. Auch verweisen Muslime nicht von ungefähr darauf, dass die kopftuchtragende Putzfrau zu keiner Zeit Gegenstand der Erörterung war, während die sozial „aufgestiegene“ kopftuchtragende Lehrerin Anstoß erregt. Im Übrigen ist auch unter Muslimen eine breite Diskussion über die Notwendigkeit des Kopftuchs oder des Schleiers im Gange. Nach meinen Beobachtungen haben viele Muslime gerade in Europa den Weg gefunden, die Entscheidung hierüber jedenfalls den Frauen selbst zu überlassen. Durch belehrendes Auftreten oder gar Verbote wird oft das Gegenteil des Erstrebten erreicht. Eine prominente französische Muslimin hat formuliert, dass bei dem erbitterten Streit um den Schulbesuch kopftuchtragender Mädchen die Muslime sich schon „aus Trotz“ für das Kopftuch ausgesprochen hätten. Andererseits ist auch die Entscheidung von Frauen und Mädchen, kein Kopftuch zu tragen oder sich nach Belieben zu kleiden, von jedermann in vollem Umfang zu respektieren. Ausübung von Zwang oder beleidigendes Verhalten gegen solche Frauen und Mädchen kann keinesfalls mit der Religionsfreiheit gerechtfertigt werden und verstößt gegen das geltende Recht, das auch an dieser Stelle wirkungsvoll sein muss. Insgesamt hat sich der Streit um das Kopftuch gelegentlich zu einem regelrechten Stellvertreterkrieg entwickelt. Fruchtbarer wäre es, die Diskussionen auf wirklich drängende Fragen zu konzentrieren, wie etwa religionsunabhängige Probleme aus der Migration wie die der sprachlichen Integration oder solche des gesellschaftlichen Umgangs, beispielsweise im Hinblick auf die Teilnahme muslimischer Mädchen an Schulfreizeitveranstaltungen und im Hinblick auf Koedukation in Schulen, Teilnahme an Klassenfahrten etc. Wenn auch ein rechtlicher Streit um das Kopftuch als eher unfruchtbar erscheint, so ist
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eine gesellschaftliche Diskussion über das Frauen- und Männerbild und den Umgang zwischen den Geschlechtern umso notwendiger. 4. Selbstorganisation Der verfassungsrechtliche Rahmen religiös ausgerichteter Organisationen („Religionsgesellschaften“ bzw. „Religionsgemeinschaften“, die Begriffe sind heute synonym) werden in Art. 140 GG festgelegt, welcher unter anderem Art. 137 Weimarer Reichsverfassung als fortgeltend erklärt. Dort werden den Religionsgemeinschaften weitgehende Rechte eingeräumt. Diese Norm lautet wie folgt: Eine Religionsgemeinschaft liegt nach der üblichen Definition vor, wenn Angehörige desselben Glaubensbekenntnisses oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse mit übereinstimmenden Auffassungen in religiöser Hinsicht sich zusammenschließen, um ihr gemeinsames Bekenntnis nach außen kundzutun und ihre durch das religiöse Bekenntnis gestellten Aufgaben gemeinsam zu erfüllen. Verfassungsrechtlicher Schutz ergibt sich dazu aus Art. 4 GG (Religionsfreiheit) und aus Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit). Auch Muslime müssen sich nicht zu einer einheitlichen „islamischen“ Organisation zusammenschließen, um die Rechte geltend machen zu können, die das Gesetz für Religionsgemeinschaften vorsieht. Das ergibt sich schon aus dem Vergleich mit der Organisation von Christen in Deutschland. Weder gibt es eine einzige christliche Kirche noch auch schlechthin „christlichen“ Religionsunterricht in staatlichen Schulen. Konkret zeichnet sich ab, dass sich sunnitische, schiitische und alevitische Muslime sowie die Ahmadis zu eigenständigen Organisationen herausbilden; Sunniten und Schiiten kooperieren jedoch auch häufig. Allerdings sind in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Aktivitäten auch ohne feste Organisation möglich. Die Entscheidung zur Organisation wird in der Regel (nur) dann erforderlich, wenn Handlungsmöglichkeiten und Privilegien angestrebt werden, die dem Einzelnen nicht zur Verfügung stehen. Beispielsweise kann ein gemeinnütziger Verein steuerwirksam Spenden sammeln; religiöse Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie die christlichen Großkirchen, haben sogar die Möglichkeit, in bestimmtem Umfang hoheitliche Rechte auszuüben. Regelmäßig verlangt die Rechtsordnung in solchen Fällen, dass der Handelnde neben selbstverständlicher Rechtstreue auch eine hinreichende organisatorische Stabilität aufweist. Einschlägige rechtliche Regelungen finden sich je nach Handlungsform nicht nur in der Verfassung, sondern auch in einfachen Gesetzen wie dem BGB, dem Parteiengesetz, der Abgabenordnung usw. Der Staat schließlich darf wegen des Neutralitätsgebots nicht selbst (islamische) Religionsgemeinschaften bilden, die als vielleicht erwünschter Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Dies bedeutet aber nicht, dass es ihm untersagt wäre, in gewissem Umfang z. B. technischorganisatorische Hilfestellung zu gewähren. Zudem muss der Staat meines Erachtens so viel Rechtssicherheit herstellen, dass Muslime die Voraussetzungen für die jeweils angestrebte Organisationsform einschätzen und sich dementsprechend einrichten können. Hierbei gibt es erhebliche Unterschiede in der vorhandenen Regelungsdichte. Die Voraussetzung für den eingetragenen Verein sind vergleichsweise sehr klar und entsprechend einschätzbar. Jene für die Religionsgemeinschaft
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im Sinne des Ansprechpartners bei der Einrichtung des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen nach Art. 7 Abs. 3 GG sind hingegen in einigen Grundsatzfragen und vielen Einzelheiten umstritten und unsicher. Gerade bei der aufwändigen Etablierung solcher Organisationen trifft den Staat meines Erachtens eine gewisse Pflicht zur Kooperation. Es kann nicht erwartet werden, dass Muslime mit großem und über Jahre zu entfaltendem Aufwand Organisationen bilden, wenn nicht grundsätzliche Hinweise gegeben werden, welche Voraussetzungen aus rechtlicher Sicht zu erfüllen sind, um die angestrebten Funktionen übernehmen zu können. Andernfalls würde die Verwirklichung der verfassungsmäßigen Rechte praktisch vereitelt. Im Einzelnen ist hier aus rechtlicher Sicht noch vieles ungeklärt. Es bleibt zu hoffen, dass eine hinreichende Kooperation auf Verwaltungsebene langwierige Gerichtsverfahren unnötig macht. Erfolgversprechende Ansätze hierfür sind in mehreren Bundesländern zu erkennen.
Schluss Die dauerhafte Präsenz einer signifikanten Zahl von Muslimen in Deutschland wirft eine Fülle von Rechtsfragen auf, die allerdings im Wesentlichen mit dem vorhandenen Instrumentarium gut gelöst werden können. Der verfassungsrechtlich verankerte Schutz der Religionsfreiheit wie auch dessen Begrenzung durch gleichberechtigte oder überwiegend konkurrierende Interessen und Schutzbedürfnisse schaffen einen insgesamt verlässlichen Rahmen für eine friedvolle und insoweit geschützte Entfaltung islamischen Lebens in Deutschland. Wie häufig steckt der Teufel im Detail. Die heterogene Struktur des Islam und muslimischer Gemeinschaften entspricht nicht dem vergleichsweise straffen und hierarchisch ausgeformten Modell religiöser Gemeinschaften, auf dem das herkömmliche Staatskirchenrecht aufbaut. Auch ist in erheblichen Teilen der Bevölkerung die Dimension der Religionsfreiheit als ein auch verfassungsmäßig gewährleistetes Menschenrecht nicht wirklich verwurzelt. Auf der anderen Seite ist ein nicht unerheblicher Teil der ansässigen Muslime noch nicht in der deutschen Rechts- und Gesellschaftsordnung „angekommen“. Häufig werden Probleme, die auf der Zuwanderung von Menschen mit geringem Bildungshintergrund und bis heute häufig mangelnder Beherrschung der deutschen Sprache beruhen, mit Religionsfragen vermengt. Die einfache Gleichung Ausländerprobleme = Türken = Islam ist so falsch wie verbreitet. Insbesondere seit den Verbrechen des 11.9.2001 treten noch diffuse Ängste vor „dem Islam“ schlechthin hinzu. Gegenwärtig haben die Krisengewinnler aller extremen Lager eine gewisse Konjunktur. Die einen werfen unserer freiheitlichen, säkularen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft pauschal ein Abgleiten in einen amoralischen Materialismus und in Wertlosigkeit vor und wollen das Gegenbild einer „gesunden“, ehrbaren und moralischen islamischen Idealgesellschaft dagegenstellen, in der freilich von Achtung anderer, auch anders denkender Menschen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wenig zu erkennen ist. Die anderen verteufeln den Islam als den Antichristen schlechthin, unterstellen ihm strukturelle Gewalttätigkeit und konstruieren angebliche, wissenschaftlich nicht haltbare Theorien genereller Unaufrichtigkeit von Muslimen gegenüber ihrer Umwelt (sogenannte „taqiya-Theorie“). Muslimische, christliche, nationa-
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listische, feministische und andere Extremisten genießen gegenwärtig eine deutlich überzeichnete Aufmerksamkeit in der öffentlichen Diskussion. Gewiss ist es notwendig, gefährliche Extremisten (aller Lager) mit allen rechtsstaatlich gebotenen Mitteln in die Schranken zu weisen und nötigenfalls auch die entsprechenden rechtlichen Instrumente zu reformieren. Andererseits darf die friedliche Mehrheit in allen gesellschaftlichen Richtungen nicht unter generellen Verdacht gestellt werden. Muslime können übrigens auch Opfer von Gewalttaten sein, was nicht nur das Massaker von Srebrenica, sondern auch die Brandanschläge auf zum Teil bewohnte Moscheegebäude in Deutschland in jüngster Zeit zeigen. Andererseits bestehen tatsächlich vielfältige Probleme, die meist auf mangelnder Ausbildung, vergleichsweise hoher Arbeitslosigkeit mit Folgeproblemen im strafrechtlichen Bereich, Diskriminierungserfahrungen und schließlich Gettoisierung/Selbstgettoisierung beruhen. Auch sind erhebliche Spannungen zwischen Modellen von Lebensformen erkennbar, die zumindest auch eine religiöse Komponente aufweisen können. Insbesondere betrifft dies das Geschlechterverhältnis, das häufig von fest gefügten kulturellen Vorverständnissen erfasst wird, die allerdings je nach Auslegung auch religiös legitimiert werden. Während die deutsche Rechtsordnung sich – noch nicht sehr lange – der Gleichberechtigung der Geschlechter, einem sehr hohen Maß individueller Lebensgestaltung und seit kurzer Zeit auch dem rechtsförmigen Schutz gleichgeschlechtlicher Beziehungen verschrieben hat, dominiert bei vielen Muslimen – durchaus nicht bei allen – noch ein Vorverständnis, das auf einer holzschnittartigen Verteilung der Lebensaufgaben beruht: Männer sind für den „Außenbereich“ der Familie zuständig, Frauen – insoweit anerkannt – für den „Innenbereich“, der Ehemann/Vater oder andere männliche Verwandte haben das Letztentscheidungsrecht auch über die Frauen und Kinder. Außereheliche oder gar gleichgeschlechtliche Beziehungen gibt es zwar, sie werden aber verpönt, verschwiegen und zum Teil mit drastischen Methoden unterdrückt. Die Einflussmöglichkeiten der Rechtsordnung sind insoweit begrenzt. Neben unerlässlichem strafrechtlichem Schutz beschränken sich ihre Möglichkeiten im Wesentlichen darauf, einerseits der Religionsfreiheit im Streitfall zur Durchsetzung zu verhelfen und andererseits einzelne Menschen sowie ihre eigenen Grundlagen gegen rechtsfeindlichen, religiös begründeten Extremismus zu schützen. Freilich ist die rechtsförmige Durchsetzung berechtigter Anliegen meist nur eine Notlösung. Der gerichtlich erstrittene Moscheebau etwa wird selten auf ein friedvolles Umfeld stoßen, was in einigen Fällen Muslime davon abgehalten hat, ihre Rechte auch tatsächlich gerichtlich durchzusetzen. Andererseits hat sich öfter gezeigt, dass allseitige Gesprächsbereitschaft und Transparenz schon im Vorfeld mögliche Konflikte zur Sprache bringen und oft auch ausräumen kann. Die deutsche Gesellschaft und die Muslime in Deutschland müssen lernen, dass der Islam in Deutschland zu einer stabilen Größe geworden ist und dass Muslime dieselben Pflichten tragen und Rechte haben wie alle anderen Mitglieder dieser Gesellschaft. Loyalität gegenüber den rechtlichen Grundlagen gesellschaftlichen Zusammenlebens kann ebenso gefordert werden wie die Bereitschaft, diejenigen als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anzunehmen, die solche Loyalität üben. Innerhalb dieses Rahmens darf, ja soll auch über menschliche Grundhaltungen, Lebensmodelle und moralische Werte offen, aber auch respektvoll gestritten werden, zum Besten einer gemeinsamen Zukunft.
Alphabetisches Autorenverzeichnis Alle Autoren haben sich an dem interreligiösen Dialog, der in wichtigen Tagungen der Evangelischen Akademien in Deutschland geführt wird, beteiligt. Hamed Abdel-Samad, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Islamwissenschaft, Universität Erfurt Dr. Martin Affolderbach, Oberkirchenrat, Referent für Islam/Weltreligionen und Länder des Nahen und Mittleren Ostens im Kirchenamt der EKD Imam Bekir Alboga M.A. Islamwissenschaftler, Institut für Deutsch-Türkische Integrationsstudien und interreligiöse Arbeit, Mannheim Dr. Fritz Erich Anhelm, Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD) e.V. und Direktor der Evangelischen Akademie Loccum Dr. Ludwig Ammann, Islam- und Literaturwissenschaftler; Forschungen zum frühen und zeitgenössischen Islam, Filmverleiher und freier Publizist Wolf-Dieter Achmed Aries, Erwachsenenbildner, VHS-Direktor i.R. Dr. Martin Bauschke, Religionswissenschaftler und Theologe, Leiter des Berliner Büros der Stiftung Weltethos Prof. Dr. Zekeriya Beyaz, Dekan Theologische Fakultät der Marmara-Universität Istanbul Dr. Nadeem Elyas, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland Prof. Dr. Kai Hafez, Fachbereich Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Vergleichende Analyse von Mediensystemen/Kommunikationskulturen, Universität Erfurt Prof. Dr. Karl Otto Hondrich, Fachbereich Soziologie, Universität Frankfurt Dr. Erhard Kamphausen, Fachbereich evangelische Theologie der Universität Hamburg Prof. Dr. Hans G. Kippenberg, Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt Prof. Dr. Dietrich Korsch, Dekan der Fakultät Evangelische Theologie, Fachgebiet Systematische Theologie, Philipps-Universität Marburg Prof. Dr. Martin Leiner, Theologische Fakulät, Fachbereich Systematische Theologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Thomas Lemmen, Theologe, Geschäftsführer der Christlich-Islamischen Gesellschaft e.V. (CIG) in Köln Dr. Annette Mehlhorn, Theologin und Theaterpädagogin, Pfarrerin und Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Arnoldshain Hamideh Mohagheghi, freiberufliche Referentin für den interreligiösen Dialog, Hannover Prof. Dr. Paul Nolte, Fachbereich Neuere Geschichte an der International University Bremen Prof. Dr. med. Dieter Ohlmeier, Fachbereich Sozialwesen, Universität Kassel Prof. Dr. phil. Gregor Paul, Institut für Philosophie, Universität Karlsruhe
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Alphabetisches Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Mathias Rohe, Dekan der Juristischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, Richter am OLG Dr. theol. Walter Schöpsdau, Referent für katholische Fundamentaltheologie, Moral- und Pastoraltheologie am Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim Prof. Dr. phil. Udo Steinbach, Islam- und Politikwissenschaftler, Direktor des Deutschen Orient-Instituts, Hamburg (DOI) Dr. Levent Tezcan, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, Universität Bielefeld
Redaktion Dr. Hermann Düringer, Direktor der Evangelischen Akademie Arnoldshain Volker Hörner, Direktor der Evangelischen Akademie der Pfalz Grit Giebelhausen, Bereichsleiterin für Projektmanagement und Öffentlichkeitsarbeit der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD) Dr. Erika Godel, Theologin, Studienleiterin, Evangelische Akademie zu Berlin
Adressen der Evangelischen Akademien in Deutschland Auguststraße 80 · 10117 Berlin · T.: 030/283 95-403 · Fax: 030/283 95-470 [email protected] · www.evangelische-akademien.de Evangelische Akademie Arnoldshain Im Eichwaldsfeld 3 · 61389 Schmitten (Taunus) · T.: 06084/944-0 · Fax: 06084/944-138 [email protected] · www.ev-akademie-arnoldshain.de Evangelische Akademie Bad Boll Akademieweg 11 · 73087 Bad Boll · T.: 07164/79-0 · Fax: 07164/79-440 [email protected] · www.ev-akademie-boll.de Evangelische Akademie Baden Blumenstr. 1–7 · 76133 Karlsruhe · T.: 0721/9175-382 · Fax: 0721/9175-350 [email protected] · www.ev-akademie-baden.de Evangelische Akademie zu Berlin Charlottenstr. 53/54 · 10117 Berlin · T.: 030/203 55-500 · Fax: 030/20355-550 [email protected] · www.eaberlin.de Evangelische Akademie Görlitz Am Kreuzberg 25 · 02829 Markersdorf/OT Jauernick · T.: 035829/638-60 · Fax: 035829/638-88 [email protected] Evangelische Akademie Hofgeismar Schlösschen Schönburg · Gesundbrunnen 11 · 34369 Hofgeismar · T.: 05671/881-0 · Fax: 05671/881-154 [email protected] · www.ekkw.de/akademie.hofgeismar Evangelische Akademie Iserlohn Berliner Platz 12 · 58638 Iserlohn · T.: 02371/352-141 · Fax: 02371/352-130 [email protected] · www.ev-akademie-iserlohn.de Evangelische Akademie Loccum Münchehäger Straße 6 · 31547 Rehburg-Loccum · T.: 05766/81-0 · Fax: 05766/81-900 [email protected] · www.loccum.de Evangelische Akademie Mecklenburg-Vorpommern Am Ziegenmarkt 4 · 18055 Rostock · T.: 0381/252 24-30 · Fax: 0381/252 24-59 [email protected]· www.ev-akademie-mv.de Evangelische Akademie Meißen Freiheit 16 · 01662 Meißen · T.: 03521/47 06-0 · Fax: 03521/47 06-99 [email protected] · www.ev-akademie-meissen.de
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Akademie in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg Haareneschstr. 60 · 26121 Oldenburg · T.: 0441/7701-431 · Fax: 0441/7701-419 [email protected] · www.akademie-oldenburg.de Evangelische Akademie der Pfalz Domplatz 5 · 67346 Speyer · T.: 06232/60 20-0 · Fax 06232/6020-22 [email protected] · www.evangelische-akademie-pfalz.de Evangelische Akademie im Rheinland Mandelbaumweg 2 · 53177 Bonn/Bad Godesberg · T.: 0228/9523-201 · Fax: 0228/9523-250 [email protected] · www.ev-akademie-rheinland.de Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e.V. Schlossplatz 1d · 06886 Lutherstadt Wittenberg · T.: 03491/49 88-0 · Fax: 03491/400706 [email protected] · www.akademie-wittenberg.de Evangelische Akademie Thüringen Zinzendorfhaus · 99192 Neudietendorf · T.: 036202/984-0 · Fax: 036202/984-22 [email protected] · www.ev-akademie-thueringen.de Evangelische Akademie Tutzing Schlossstr. 2+4 · 82327 Tutzing · T.: 08158/251-0 · Fax: 08158/996-444 [email protected] · www.ev-akademie-tutzing.de Evangelische Landjugendakademie Altenkirchen Dieperzbergweg 13–17 · 57610 Altenkirchen · T.: 02681/95 16-0 · Fax: 02681/702-06 [email protected] · www.lja.de Evangelische Sozialakademie Friedewald Schlossstr. 2 · 57520 Friedewald · T.: 02743/92 36-0 · Fax: 02743/9236-11 [email protected] · www.ev-sozialakademie.de