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German Pages [285] Year 2022
Wissenschaft und Lehrerbildung
Band 7
Herausgegeben von Peter Geiss und Roland Ißler
Peter Geiss / Peter Arnold Heuser / Michael Rohrschneider (Hg.)
Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit Ein Schlüsselthema des Geschichtsunterrichts im transepochalen Fokus
Mit einer Abbildung
V&R unipress Bonn University Press
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Inhalt
Peter Geiss / Peter Arnold Heuser / Michael Rohrschneider Einleitung: Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit – Herausforderungen und Bedeutung des Themenfeldes im historischen Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Christen und Muslime: Einführende und konzeptionelle Überlegungen Stephan Conermann Islam und Christentum – ein schwieriges Verhältnis . . . . . . . . . . . .
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Peter Geiss Das Thema Religion im Geschichtsunterricht – fachspezifische Fragen und Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Florian Helfer / Sandra Müller-Tietz Begegnungen zwischen Islam und Christentum im Schulbuch. Konzeptsensibilität, Interkulturalität und Normativität im Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Peter Arnold Heuser Religion und Konfession als Dimensionen einer historischen Friedensund Konfliktforschung – Anmerkungen zu einem ambivalenten Aspekt islamisch-christlicher Kulturbegegnung in Geschichte und Gegenwart . . 103
Teil II: Kulturbegegnung, Kulturtransfer und Gewaltdynamiken im Mittelalter Katharina Gahbler Feindbilder verstehen – Präsenz und Funktion von sogenannten Sarazenen in mittelalterlichen Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
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Inhalt
Alheydis Plassmann Gewalteskalationen im Kontext des Ersten Kreuzzuges . . . . . . . . . . . 149 Daniel G. König Convivencia als hierarchisierter Religionspluralismus: Regulierung und Rezeption des Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel (7.–17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . 171
Teil III: Christen und Muslime: Kontakte und Konflikte in der Frühen Neuzeit Arne Karsten Feindbild oder Vorbild? Die Führungselite des Osmanischen Reichs und ihre Wahrnehmung durch die venezianischen Botschafter im Konstantinopel des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Maria-Elisabeth Brunert Vertragspartner, »Erbfeind«, Akteur im Hintergrund? Zur Bedeutung der Osmanen für den Westfälischen Friedenskongress . . . . . . . . . . . . . 203 Dorothée Goetze De la Motrayes Reisen in die Morgenländer. Interreligiöses und interkonfessionelles Zusammenleben im frühneuzeitlichen Osmanischen Reich im Reisebericht Aubry de la Motrayes . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Michael Rohrschneider Das diplomatische Zeremoniell am osmanischen Hof als Gegenstand der Zeremonialwissenschaft des frühen 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 253 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Peter Geiss / Peter Arnold Heuser / Michael Rohrschneider
Einleitung: Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit – Herausforderungen und Bedeutung des Themenfeldes im historischen Lernen
Die Begegnung von Christen und Muslimen in der Vormoderne gehört zu den klassischen Themenfeldern des deutschen Geschichtsunterrichts. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die für eine fachwissenschaftlich und geschichtsdidaktisch adäquate Bearbeitung dieses weiten thematischen Spektrums erforderlichen Kenntnisse auf Seiten der Lehrkräfte in hinreichendem Maße vorhanden wären. Eine besondere Herausforderung für Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer liegt in der ausgeprägten Asymmetrie der Vorbereitung auf ein nur schwer überschaubares Sachgebiet, das so unterschiedliche Aspekte wie die Entstehung und Ausbreitung des Islam, das Zusammenleben zwischen Christen, Juden und Muslimen in Al-Andalus, die Kreuzzüge, die Expansion des Osmanischen Reiches in Spätmittelalter und Früher Neuzeit oder die Geschichte seiner neuzeitlichen Nachfolgestaaten behandeln soll. Während die lateinische Christenheit im Lehramtsstudium in Deutschland thematisch noch vergleichsweise präsent und über die vielerorts auch noch geforderten Lateinkenntnisse auch quellensprachlich zugänglich sein dürfte, gilt dies für die Geschichte islamischer Gesellschaften weltweit in der Regel nicht. Zu einem ähnlichen Befund gelangt man auf universitärer Ebene: Ein mediävistisches Hauptseminar, in dem arabische Quellen zum Ersten Kreuzzug gelesen werden sollen, dürfte kläglich scheitern – und zwar nicht, weil es auf Seiten der Studierenden oder Lehrenden an Interesse daran fehlen würde, sondern weil die erforderliche Sprachkompetenz und Sachexpertise einfach noch viel weniger vorausgesetzt werden kann, als dies bei Themen aus dem durch lateinische ebenso wie durch volkssprachliche Quellen zugänglichen okzidentalen Mittelalter der Fall ist. Engagierte Lehrkräfte, die offen ihre Überforderung zugeben, wenn sie – wie im nordrhein-westfälischen Geschichtslehrplan (Sek. II) vorgesehen – das Inhaltsfeld »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit«1 unterrichten sollen, weisen sich damit keines1 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Ge-
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wegs als fachlich inkompetent aus. Im Gegenteil dürfte dieses Eingeständnis auf eine hohe fachliche Sensibilität für die inhaltlichen und vermittlungsbezogenen Schwierigkeiten dieses Feldes hindeuten, auf ein Wissen um die Grenzen des eigenen Wissens, wie es seit Sokrates eine wichtige Grundlage der Erkenntnis und – so möchten wir im Rekurs auf eine Überlegung von Andreas Gelhard hinzufügen – der ertragreichen Gestaltung von Lernprozessen ist.2 Nicht wenige dürften sich fragen, wie sie einen Unterricht realisieren sollen, der so umfassende und zugleich hochgradig klärungs- und problematisierungsbedürftige Konzepte wie ›Welt‹, ›Religion‹ und ›Kultur‹ zueinander in ein Verhältnis setzt – und dies dann auch gleich noch in transepochaler Perspektive zu leisten hat. Wie sollen Lehrkräfte hoch anspruchsvolle Themen wie die Frühgeschichte des Islam kompetent unterrichten, von denen sie in ihrem wissenschaftlichen Studium allenfalls marginal gehört haben dürften und aus deren Quellenbasis sie keine einzige Zeile originalsprachlich rezipieren können?3 Wir enthalten uns einer Beantwortung der Frage, was für die auf Europa zentrierte Ausrichtung des historischen und sprachlichen Bildungskanons verantwortlich zu machen sein könnte – ob es nun an der zunächst einmal nachvollziehbaren Neigung von Menschen liegt, das von ihnen als geographisch nah Empfundene vor allem in den Blick zu nehmen und stärker zu fokussieren als das tatsächlich oder vermeintlich Ferne – oder ob jene Mischung aus Arroganz, Mitleid und Missionarismus dahinterstand, die Edward Said in seinem kritischen Konzept des »Orientalism« ausgedrückt hat: Er sah darin »a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient.«4 Das mangelnde Wissen über die Geschichte muslimischer Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wächst sich im 21. Jahrhundert insofern zu einem Problem aus, als Muslime – mitunter schon seit mehreren Generationen, im südöstlichen Europa sogar seit Jahrhunderten – fest zur Bevölkerung europäischer Gemeinwesen schichte, Düsseldorf 2014, S. 18 und 24f., zit. nach URL: http://www.schulentwicklung.nrw.de /lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf [21. 01. 2021]. 2 Vgl. Andreas Gelhard, Lernen auf Distanz, Vortrag im Rahmen der 7. Tagung der Bonner Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften und des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung Bonn, 21. Januar 2021 [unveröffentlicht]; zugrundeliegende Äußerung des Sokrates in: Platon, Apologie des Sokrates, 21d, zit. in der Übers. von Ernst Heitsch, Göttingen 2014 (UTB 4152 e-only), S. 9, zit. als E-Book. 3 Das Problem stellt sich auch auf anderen Themenfeldern, so etwa bei der Behandlung der altägyptischen Zivilisation, die ebenfalls niemals Teil des geschichtswissenschaftlichen Studienkanons war und Gegenstand einer eigenen Disziplin ist. Vgl. Nadja Braun / Stephanie Kuschnarëw, Projektskizze »Ägypten in der Schule«, Ägyptologisches Institut der Universität Leipzig, zit. nach URL: https://www2.gko.uni-leipzig.de/aegyptologisches-institut/forschung /projekte/aegypten-in-der-schule.html [08. 01. 2020]. 4 Edward Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 2019 (Penguin Modern Classics), S. 3. Vgl. zu Saids Orientalismus-Diagnose ausführlicher den Beitrag von Stephan Conermann im vorliegenden Band.
Einleitung: Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit
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gehören und Migrationsbewegungen und Flucht neue Herausforderungen für die Verständigung auf Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders von Muslimen und Nichtmuslimen mit sich bringen. Die Folgen des ›Nichtwissens‹ werden durch Phänomene der Polarisierung verschärft: Wie der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel festgestellt hat, liegt wahrscheinlich ein zentrales Anliegen des gewaltorientiert-dschihadistischen Islamismus darin, Feindschaft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen zu säen, ja eine Bürgerkriegssituation herbeizuführen – und in diesem Projekt sieht Kepel ein sich wechselseitig radikalisierendes Zusammenwirken des islamistischen Terrorismus mit jenen rechtsextremistischen Kräften und Akteuren, die antimuslimische Feindbilder verbreiten und ebenfalls vor terroristischen Gewalttaten nicht zurückschrecken.5 Dass dieser antimuslimische Hass ähnliche Verbrechen zeitigen kann wie der dschihadistische Islamismus, zeigt der Massenmord eines Rechtsextremen an Muslimen im neuseeländischen Christchurch vom 15. März 2019 mit erschreckender Deutlichkeit.6 Auch wenn es den Extremisten derzeit (noch?) nicht gelingt, in der Breite der europäischen Gesellschaften ein Klima offener Feindschaft und Gewalt zu etablieren, geht von ihren Handlungen und ihrer Propaganda doch eine weit über den Kreis der Terroropfer hinausreichende Schadenswirkung aus, da die durch Gewalt, Provokation und Diffamierung geförderten Polarisierungseffekte auch in die nichtextremistischen Teile der Gesellschaft ausstrahlen.7 Demokratischer Geschichtsunterricht kann der von den Extremisten betriebenen Etablierung von Feindbildern und Polarisierung insofern entgegenwirken, als er in der für ihn konstitutiven Auseinandersetzung mit Phänomenen des Wandels sowie der Vielstimmigkeit und Vielfalt menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns die Essentialisierung von Gruppen und Religionen8 verweigert: Neigen christlich oder säkular geprägte Schülerinnen und Schüler in einem ersten Reflex vielleicht dazu, religiös motivierte Terrorakte in erster Linie mit muslimischen Gewalttätern zu assoziieren und vielleicht sogar als ›charakteristisch‹ für deren Religion 5 Gilles Kepel (avec Antoine Jardin), Terreur dans l’Hexagone: Genèse du djihad français, Paris 2015, S. 18f., 30 und 93. 6 Vgl. die Begründung des Urteils gegen den rechtsextremistischen Massenmörder von Christchurch in Neuseeland, der zum Gottesdienst in der Moschee versammelte Muslime getötet hat (insgesamt 51 Morde und 40 versuchte Morde): In the High Court of New Zealand Christchurch Registry […]. CRI-2019–009–2468 [2020] NZHC 2192 The Queen v Brenton Harrison Tarrant, Urteil vom 27. 08. 2020, zit. nach URL: https://forms.justice.govt.nz/search /Documents/pdf/jdo/c2/alfresco/service/api/node/content/workspace/SpacesStore/f830d2777629-4981-b673-30f96134afdf/f830d277-7629-4981-b673-30f96134afdf.pdf [08. 01. 2020]. 7 Gilles Kepel, Il faut repenser la problématique de la rupture djihadiste à partir de son point de départ culturel, in: Le Monde, 28. 10. 2019. 8 Vgl. Bernd Grewe, Geschichtsdidaktik postkolonial – eine Herausforderung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 5–30.
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zu betrachten, so führt sie z. B. eine Auseinandersetzung mit dem von christlichen Kreuzfahrern im Jahre 1099 an Muslimen und Juden verübten Massaker in Jerusalem dazu, diese Zuschreibung in einer Perspektive der longue durée aufzugeben.9 Religiös motivierte Gewalt wird dann nicht mehr nur als ein Problem der ›Anderen‹ betrachtet, sondern als ein universales Mutationsrisiko von Glaubensüberzeugungen10 – und hierzu gehört wahrscheinlich auch der vielfältig mit Verschwörungstheorien verschiedenen Typs verwobene Bereich der »politischen Religionen«, wie sie sich in totalitären Systemen und extremistischen Strömungen manifestieren und teilweise mörderische Wirkungen entfalten.11 Die Einordnung religiöser Gewalt in chronologisch und geographisch ausgeweitete Kontexte menschlicher Anfälligkeit für Fanatismus und Gewalt impliziert in keiner Weise eine Verharmlosung dschihadistischer Terrorakte in der Gegenwart oder Spannungen zwischen konservativen Spektren islamischer Religiosität einerseits und den Normensystemen säkularer Demokratien andererseits. Es kann ganz sicher nicht darum gehen, mit dem relativierenden Slogan ›Die Christen waren und sind teilweise doch auch nicht besser‹ Empathie für islamistische Täter zu erzeugen, die den Hass auf Israel, Andersgläubige oder Nicht-Gläubige, Homosexuelle und andere Gruppen sowie die Ablehnung von Gleichstellung oder säkularen Lebensformen nicht nur propagieren, sondern in ganz konkrete Verbrechen übersetzen. Dies wäre eine Selbsttäuschung, die das friedliche und gewinnbringende Miteinander von Muslimen und Nichtmuslimen nicht fördern, sondern nur den auf die Zerstörung ebendieses Miteinanders hinarbeitenden Kräften Entwicklungsmöglichkeiten bieten würde.12 Die Be9 Diesen Blick regt an Philippe Buc, Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums, aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Darmstadt 2015; vgl. hierzu den Beitrag von Peter Geiss im vorliegenden Band. 10 Vgl. hierzu die Beiträge von Peter Arnold Heuser und Peter Geiss im vorliegenden Band (mit weiterer Literatur). 11 Zum Konzept der »politischen Religion« und zur Kritik daran: Detlef Schmiechen-Ackermann, Diktaturen im Vergleich, 3. Aufl., Darmstadt 2010 (Kontroversen um die Geschichte), S. 49–55. 12 Vgl. bezogen auf den tödlichen Angriff eines Islamisten auf ein homosexuelles Paar in Dresden: Jörg Litwinschuh-Barthel (Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld), Wir müssen uns mit dem radikalen Islamismus beschäftigen, Interview, zit. nach URL: https://www.queer. de/detail.php?article_id=37484 [21. 01. 2021]. In diesem Interview räumt Litwinschuh-Barthel selbstkritisch ein, das Thema des islamistischen Hasses auf Homosexuelle nicht früher angesprochen zu haben, weil er gefürchtet habe, des Rassismus oder der Islamfeindlichkeit bezichtigt zu werden. Am 21. Mai 2021 verurteilte das Oberlandesgericht Dresden einem Bericht des Deutschlandfunks zufolge den Attentäter von Dresden zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Im Urteil sei konstatiert worden, er habe den Mord »aus einer radikal-islamischen und homophoben Gesinnung heraus« begangen. Quelle hier: [Deutschlandfunk], Kurzbericht »Angriff auf homosexuelles Paar. Lebenslange Haft im Prozess um Messerattacke in Dresden«, zit. nach URL: 21. Mai 2021: https://www.deutschland funk.de/angriff-auf-homosexuelles-paar-lebenslange-haft-im-prozess.1939.de.html?drn:ne
Einleitung: Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit
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wusstmachung von Gewalt und Entrechtung, die von Christen ausging und teilweise ja immer noch ausgeht, entlastet islamistische Täter nicht, sie kann vielmehr etwas ganz anderes leisten: Sie befähigt Schülerinnen und Schüler dazu, Positionen kultureller bzw. religionsbezogener Selbstgerechtigkeit zu räumen, das heißt, das Problem der religiösen Intoleranz und Gewalt als Teil der Menschheitsgeschichte zu sehen und nicht reduktionistisch mit vermeintlichen ›Wesensmerkmalen‹ von Muslimen oder ihrem Glauben zu erklären.13 Dies eröffnet neue Gesprächsräume, weil es so möglich wird, ohne Lagerzuweisungen und die damit verbundenen Anklage- und Verteidigungsreflexe (in Reaktion auf pauschale Unterstellungen von religiösem Extremismus auf der einen und Islamophobie14 auf der anderen Seite) nach Ursachen von Verbrechen zu fragen, die im Namen von Religion begangen wurden und werden. Diese Frage ist die Voraussetzung dafür, dass ein mit Jugendlichen dringend zu führendes Gespräch über Möglichkeiten der Prävention von extremistischen Radikalisierungen, seien sie religiös oder politisch geprägt, überhaupt in Gang kommen kann. Ein solcher Austausch könnte wohl kaum ertragreich gelingen, wenn ein Teil der Lerngruppe von vornherein den Eindruck hätte, ihre Religion würde durch das thematische Framing des Geschichtsunterrichts gleichsam in einer diachronen Langzeitperspektive auf der ›Anklagebank‹ platziert, wofür es nicht nur aus pädagogischer Sicht und aus Gründen diskursiver Fairness, sondern auch in historischer Perspektive keine sachliche Grundlage gibt. Doch warum thematisiert diese Einleitung nun schon auf mehr als einer Seite das Problem religiöser Gewalt, wenn es um Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit gehen soll? Warum eröffnen Schulbücher Kapitel über dieses Thema mit Fotos von den Anschlägen des 11. September 2001?15 Ist dies möglicherweise schon Resultat eines erfolgreichen ›Agenda Settings‹ durch Extremisten, die es durch Provokation, Diffamierung und Gewalt bis hin zum Masws_id=1261405 [21. 05. 2021, zum Zeitpunkt des Drucks nicht mehr verfügbar]; vgl. auch [OLG Dresden], Pressemitteilung »Urteil gegen Abdullah A. wegen des Messerangriffs in Dresden«, 21. Mai 2021, zit. nach URL: https://www.medienservice.sachsen.de/medien/ news/251838 [25. 05. 2021]. 13 Zum Problem der Essentialisierung des Islam vgl. Lutz Berger, Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen, München 2016, S. 11 und – daran anknüpfend – den Beitrag von Peter Geiss im vorliegenden Band. 14 Zum – gesellschaftlich in Frankreich aus seiner Sicht beklagenswert erfolgreichen – Missbrauch des Islamophobie-Vorwurfs als diskursivem Schutzschild von Islamisten vgl. Kepel, Terreur, S. 41f. Aus dem Missbrauch dieses Vorwurfs durch Islamisten lässt sich natürlich nicht ableiten, dass Islamfeindlichkeit kein sehr reales und gefährliches Phänomen wäre. Vgl. zu rechtspopulistischer und rechtsextremer Islamfeindlichkeit exemplarisch Bundesministerium des Inneren für Bau und Heimat, Verfassungsschutzbericht 2019, S. 67, 88 und 91, zit. nach URL: https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2019.pdf [21. 01. 2021]. 15 Vgl. den Beitrag von Florian Helfer und Sandra Müller-Tietz im vorliegenden Band mit einem konkreten Beispiel.
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senmord vermögen, den Blickwinkel der Konfliktualität bei diesem Thema wenn nicht zu diktieren, so doch als plausibel erscheinen zu lassen? Dass Extremisten darum bemüht sind, die Dimension des Konflikts auch beim Blick in die Vergangenheit als die einzig relevante erscheinen zu lassen, passt zu ihrer feindbildorientierten Strategie.16 Dies bedeutet aber nicht, dass sie damit Erfolg haben müssen. Gerade eine (selbst-)kritische Reflexion konfliktbezogener Schwerpunktsetzungen ermöglicht es, neben den Kreuzzügen und anderen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen in diesen Epochenzusammenhängen immer auch Phänomene des Austauschs, der friedlichen Begegnung, der Verflechtung und Verschmelzung in den Blick zu nehmen, ohne dabei in die Falle einer historisch unangemessenen Idealisierung zu tappen, wie sie etwa mit Bezug auf die Konstruktion einer Bilderbuch-Idylle der Convivencia im mittelalterlichen Al-Andalus zu Recht kritisiert wurde.17 Ein Blick, der die gemeinsame Geschichte von Christen und Muslimen nicht auf eine Konfliktgeschichte reduziert, könnte zu geschichtsdidaktisch nutzbaren Überraschungen führen: Dazu gehören etwa Bündnisverträge, die muslimische und christliche Herrscher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit untereinander schlossen – und zwar auch gegen Angehörige ihrer jeweils eigenen Religion.18 Ein besonders spektakuläres Beispiel ist der unter Austausch von Höflichkeiten und Geschenken zwischen dem ›Kreuzfahrer‹ und Stauferkaiser Friedrich II. und dem ägyptischen Sultan Al-Kamil 1229 geschlossene Vertrag, der dem christlichen Monarchen die Herrschaft über Jerusalem sicherte und zugleich ein geheim gehaltenes Bündnis mit seinem muslimischen Partner begründete.19 Wie konnte es ausgerechnet im Zeitalter der Kreuzzüge zu so etwas kommen? Welche Motive hatten beide Herrscher, sich in dieser Weise über die vermeintlich alles trennende Religionsgrenze hinweg miteinander zu verbünden? In welchen Formen vollzog sich die politische Kommunikation zwischen ihnen?20 Wie nahm ihr jeweiliges religiöses Umfeld diesen Schulterschluss wahr? Solchen Fragen im Geschichts16 Vgl. hierzu die oben zitierten Überlegungen Gilles Kepels. 17 Vgl. Ludolf Pelizaeus, Austausch und Konflikt zwischen Muslimen und Christen auf der iberischen Halbinsel, in: Gisbert Gemein (Hg.), Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen. Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart, Bonn 2011 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1062), S. 330–361 sowie die Beiträge von Daniel G. König und Peter Geiss im vorliegenden Band. 18 Giovanni Distefano, Les traités d’alliance avec les infidèles: l’›infâme‹ précédent du traité de Jaffa du 18 février 1229 entre Frédéric II et le Sultan d’Egypte Al-Kamil, in: Pierre-Marie Dupuy / Vincent Chetail (Hg.), The Roots of International Law / Les fondements du droit international, Liber Amicorum Peter Haggenmacher, Leiden / Boston 2014 (Legal History Library, 11; Studies in the History of International Law Series, 5), S. 711–724, hier S. 713f. 19 Zu Kontext und Vertragsinhalt vgl. ebd., S. 715–722. 20 Zur Bedeutung von Form und Zeremoniell für die politische Kommunikation zwischen Christen und Muslimen in der Frühen Neuzeit vgl. den Beitrag von Michael Rohrschneider im vorliegenden Band.
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unterricht nachzugehen, könnte sich als motivierender und ertragreicher erweisen, als die – zweifellos zeitgleich vorhandenen und wirkmächtigen – religiösen Feindbilder in allen Schattierungen aus den Quellen herauszupräparieren. Zugleich besteht auch bei einer Figur wie Friedrich II. keinerlei Anlass zur Verklärung. Er verfügte zwar über eine – im Norden als exotisch wahrgenommene – muslimische Leibgarde und tauschte sich vielfältig mit Wissenschaftlern und Herrschern des islamisch geprägten Mittelmeerraums aus – dies hinderte ihn aber nicht daran, nach Niederschlagung eines Aufstandes große Teile der muslimischen Bevölkerung aus Sizilien zu verbannen und im apulischen Lucera zwangsweise neu anzusiedeln.21 Der vorliegende Band kann die eingangs skizzierte Asymmetrie in den Wissensbeständen und fachwissenschaftlichen wie geschichtsdidaktischen Kompetenzen, die für eine erfolgreiche Gestaltung des Geschichtsunterrichts im hier angesprochenen Themenfeld wichtig wären, nicht vollständig überwinden, da seine Verfasserinnen und Verfasser ja selbst überwiegend durch schulische und wissenschaftliche Sozialisationen geprägt sind, die aus eben dieser Asymmetrie resultieren. Es besteht aber doch die Hoffnung, dass es durch die Einbeziehung islamwissenschaftlicher Perspektiven und die quellenbezogene Analyse und Problematisierung okzidentaler Wahrnehmungen muslimischer Lebenswelten wie auch der Interaktion zwischen Christen und Muslimen gelingen wird, Lehrkräften Anregungen für Fragestellungen und ›Suchrichtungen‹ zu bieten, die das Ziel einer ausgewogeneren, weniger an okzidentalen Maßstäben ausgerichteten Unterrichtsgestaltung zumindest als erreichbarer erscheinen lassen.22 Viele der in den Beiträgen herangezogenen Quellen können z. B. dank ihrer digitalen Verfügbarkeit unmittelbar für die schulische Praxis nutzbar gemacht werden, auch wenn in der erforderlichen Auswahl und Didaktisierung des Materials mit Blick auf die jeweilige Lerngruppe sicher noch erhebliche Konzeptionsarbeit zu leisten ist. ***
21 Vgl. Richard Engl, Safran, Schach und Sondersteuern. Arabisch-muslimische Lebensformen im Königreich Sizilien, in: Alfred Wieczorek / Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter (Hg.), Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Reiss-Engelhorn-Museums Mannheim], Darmstadt 2010 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen, 37), Bd. 1: Essays, S. 333–339, hier S. 337–339. 22 Gleiches gilt selbstverständlich auch im Hinblick auf das (trilaterale) Verhältnis Christen– Muslime–Juden, das im vorliegenden Band im Beitrag von Daniel G. König thematisiert wird, obwohl dieser Themenbereich nicht integraler Bestandteil des Inhaltsfelds »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit« des Kernlehrplans für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in NRW ist.
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Der Sammelband »Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit. Ein Schlüsselthema des Geschichtsunterrichts im transepochalen Fokus« intendiert eine Handreichung insbesondere für alle Lehrkräfte und alle Studierenden, die sich auf eine lehrpraktische Gestaltung des Inhaltsfeldes 2 des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Geschichte für die Sekundarstufe II vorbereiten. Der Band gliedert sich in drei Themenblöcke: »Christen und Muslime: Einführende und konzeptionelle Überlegungen« (Teil I), »Kulturbegegnung, Kulturtransfer und Gewaltdynamiken im Mittelalter« (Teil II) sowie »Christen und Muslime: Kontakte und Konflikte in der Frühen Neuzeit« (Teil III). Die Beiträge umfassen disziplinäre Perspektiven der Geschichtswissenschaft und der Didaktik der Geschichte sowie der Islamwissenschaft. Konzeptionelle Überlegungen zur christlich-muslimischen Kulturbegegnung in der Vormoderne sowie zur lehrpraktischen Gestaltung des Themenfeldes in der Sekundarstufe II stehen im Fokus der vier Beiträge, die im einführenden Themenblock (Teil I) des Bandes zusammengestellt sind. Der Eröffnungsbeitrag des Bonner Islamwissenschaftlers Stephan Conermann »Islam und Christentum – ein schwieriges Verhältnis« gilt der Ambivalenz europäischer Islamrezeption in Geschichte und Gegenwart. Er führt von der Genese und Expansion des Islam im 7. Jahrhundert über das Zeitalter der Kreuzzüge, den Mongolensturm, die Entstehung und Expansion des Osmanischen Reiches bis zu den Auswirkungen, die das Zeitalter der Entdeckungen, insbesondere die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien, die Aufklärung, der Imperialismus und die Globalisierung auf das Bild hatten, das sich das lateinisch geprägte Europa vom Islam und von islamischen Gesellschaften inner- und außerhalb Europas machte und macht. In seinem Beitrag »Das Thema Religion im Geschichtsunterricht – fachspezifische Fragen und Zugänge« richtet Peter Geiss (Bonn) den Blick auf spezifische Potenziale, die der Geschichtsunterricht, in Abgrenzung und Ergänzung insbesondere zum Religionsunterricht, in die Bearbeitung des Großthemas Religion in der Schule einbringt, und reflektiert Aufgaben, die sich aus dieser Potenzialanalyse für den Geschichtsunterricht ergeben. Aus einer Position religiöser und konfessioneller Neutralität, das heißt ohne jede vorgegebene Orientierung an einem religiösen Bekenntnis, wie sie für den Religionsunterricht konstitutiv ist, bietet das Fach Geschichte einen geeigneten Rahmen, um Religion als in der Geschichte wirksame Kraft zu historisieren und ein historisch fundiertes »Religionswissen« zu vermitteln, das einen integralen Bestandteil des kulturellen Wissens der Menschheit ausmacht. Florian Helfer und Sandra Müller-Tietz (Bonn) tragen anhand einer Schulbuchanalyse konzeptionelle Überlegungen bei. Unter Heranziehung der drei Analysekategorien Konzeptsensibilität, Interkulturalität und Normativität vergleichen sie die Darstellung, die das Inhaltsfeld 2 des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Geschichte in fünf Schulbüchern für die Sekundarstufe II in
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Nordrhein-Westfalen findet: in den Lehrwerken Geschichte Oberstufe (Buchner), Geschichte und Geschehen (Klett), Horizonte (Westermann), Kursbuch Geschichte (Cornelsen) sowie Zeiten und Menschen (Schöningh). Der friedenspolitischen Ambivalenz des Religiösen in Geschichte und Gegenwart spürt Peter Arnold Heuser (Bonn) nach. Seine Studie arbeitet heraus, dass Friedens- und Gewaltpotenziale Religionen weltweit inhärent sind, mithin kein Proprium der »abrahamitisch«-monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam darstellen. Heuser beschreibt Verfahren und Instrumente, die Europa in den Konflikten des konfessionellen Zeitalters entwickelte, um die konfliktive Kraft konkurrierender religiöser Wahrheitsbehauptungen lebensweltlich, rechtlich und institutionell einzuhegen, und er schärft im Verweis auf die Konflikttheorie der Politikwissenschaftler Volker Rittberger und Andreas Hasenclever den Blick für Phänomene einer Überlagerung von gesellschaftlichen und religiös-konfessionellen Konfliktfeldern, deren Wechselwirkung in Geschichte und Gegenwart den gewaltsamen Austrag politisch-gesellschaftlicher Konflikte über das Medium religiöser Identitäten begünstigt. Die Mittelalter-Sektion des Bandes (Teil II) wird von Katharina Gahbler (Bonn) eröffnet. Sie stellt in ihrem Beitrag »Feindbilder verstehen – Präsenz und Funktion von sogenannten Sarazenen in mittelalterlichen Quellen« Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt »Saraceni, Mauri, Agareni, … in lateinisch-christlichen Quellen des 7. bis 11. Jahrhunderts« vor, das von 2013 bis 2017, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn durchgeführt wurde und das »Repertorium Saracenorum« erarbeitete: eine Datenbank, die alle Berichte des 7.– 11. Jahrhunderts in lateinisch-christlichen Quellen, die über die sogenannten Sarazenen vorliegen, digital zur Verfügung stellt.23 Ausgehend von zwei Textbeispielen aus dem 10. Jahrhundert, der Verserzählung »Pelagius« der Kanonisse Hrotsvit von Gandersheim und der Vita des Johannes von Gorze aus der Feder des Johannes von St. Arnulf, spürt Gahbler der Genese von Bildern der »Anderen« als Feindbildern nach, die ihren Platz in der Heilsgeschichte hatten, indem sie Christen Gelegenheit gaben, ihren Glauben standhaft zu beweisen, bis hin zum Martyrium. Alheydis Plassmann (Bonn) berichtet am Beispiel der Eroberung der Stadt Jerusalem 1099 quellennah über »Gewalteskalationen im Kontext des Ersten Kreuzzuges«, insbesondere über die historische Aussagekraft, die literarische Stilisierung und die Zielsetzung der Gewaltschilderungen, und stellt Berichte über die Eroberung Jerusalems in einem Quellenanhang zur Verfügung. Indem sie die Befunde vom Ersten Kreuzzug durch einen Vergleich mit Beschreibungen 23 Matthias Becher / Katharina Gahbler (Hg.), Repertorium Saracenorum, zit. nach URL: http://sa raceni.uni-koeln.de/ [26. 06.2018].
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anderer Kriegshandlungen der Zeit kontextualisiert, etwa in den keltischen Nachbarländern zu England, weist sie die Annahme zurück, dass kriegerische Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Religionen, etwa die Eroberung der Stadt Jerusalem durch das Belagerungsheer der Kreuzfahrer, im Mittelalter generell mit größerer Brutalität geführt wurden als militärische Auseinandersetzungen zwischen Christen. Überdies betont sie die Notwendigkeit, bei der Deutung von Gewaltdarstellungen aus der Zeit der Kreuzzüge jeweils die Textintention und die gewählten Erzählmuster zu berücksichtigen, etwa die Wahl einer Heldenerzählung, die durch eine Stilisierung der Kreuzfahrer als Helden darauf zielte, in der Heimat neue Kämpfer zu rekrutieren. Daniel G. König (Konstanz) nimmt über die Anforderungen des Inhaltsfeldes 2 des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Geschichte für die Sekundarstufe II hinaus auch das trilaterale Verhältnis von Juden, Christen und Muslimen in den Blick. Sein Beitrag »Convivencia als hierarchisierter Religionspluralismus: Regulierung und Rezeption des Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel (7.–17. Jahrhundert)« fokussiert einen historischen Fall, der immer wieder als ein Musterbeispiel für ein fruchtbares Zusammenleben und Zusammenwirken der drei Religionsgemeinschaften in der europäischen Geschichte herangezogen wird. König skizziert die ideen- und zeitgeschichtlichen Wurzeln des Konzepts der Convivencia in Spanien sowie seine Rezeptionsgeschichte und erarbeitet eine kritische Neubewertung der Convivencia als eines »hierarchisierten Religionspluralismus«, der zwischen dem 7. und dem 17. Jahrhundert mehrere Phasen durchlief und schließlich scheiterte. Die Sektion zur Frühen Neuzeit (Teil III des Bandes) eröffnet Arne Karsten (Wuppertal) mit einem Beitrag zur Republik Venedig, die angesichts ihrer mittelmeerischen Handels- und Territorialinteressen besonders früh und intensiv diplomatische Beziehungen zum Osmanischen Reich pflegte. Seine Studie »Feindbild oder Vorbild? Die Führungselite des Osmanischen Reichs und ihre Wahrnehmung durch die venezianischen Botschafter im Konstantinopel des 16. Jahrhunderts« gründet auf den Depeschen der venezianischen Botschafter in Konstantinopel, die, wie Karsten resümiert, zu den »aussagekräftigsten Dokumenten« zählen, »die wir aus der Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts über die Wahrnehmung der osmanischen Politik, Gesellschaft und Kultur aus der Perspektive christlicher Zeitgenossen besitzen«. Sein Aufsatz analysiert das Bild, das sich die Botschafter Venedigs von den Wesiren machten, die den Sultan berieten und maßgeblichen Einfluss auf die Politik des Osmanischen Reiches hatten. Maria-Elisabeth Brunert (Bonn) widmet ihren Beitrag »Vertragspartner, ›Erbfeind‹, Akteur im Hintergrund? Zur Bedeutung der Osmanen für den Westfälischen Friedenskongress« einem Akteur im Umfeld des Dreißigjährigen Krieges, der selbst nicht direkt an den europäischen Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück zwischen 1643 und 1649 beteiligt war. Im Rahmen einer
Einleitung: Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit
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Analyse des Feindbildes »Türke« und seiner religiösen Dimension erörtert Brunert, warum und in welchen Kontexten die Kongressteilnehmer dem Osmanischen Reich Beachtung schenkten und die Hohe Pforte inner- und außerhalb der Friedensverhandlungen berücksichtigten. Dorothée Goetze (Sundsvall) empfiehlt in ihrem Beitrag »De la Motrayes Reisen in die Morgenländer. Interreligiöses und interkonfessionelles Zusammenleben im frühneuzeitlichen Osmanischen Reich im Reisebericht Aubry de la Motrayes« einen Reisebericht als Zugang zur christlich-islamischen Kulturbegegnung, den Anselme Aubry de la Motraye (1674–1743) über seinen Aufenthalt im Mittelmeerraum und im Osmanischen Reich zwischen 1696 und 1714 verfasste. Sie entwickelt in diesem Zusammenhang konkrete Vorschläge zur Nutzung dieser Quelle im Unterricht, die unter anderem das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Religionen im Osmanischen Reich, Fragen der Toleranz sowie religiöse und konfessionelle Konflikte thematisieren. Abschließend stellt Michael Rohrschneider (Bonn) die Werke zur Zeremonialwissenschaft, die während des frühen 18. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation publiziert wurden, als ein wertvolles wahrnehmungsgeschichtliches Quellenkorpus zur Kulturbegegnung zwischen den europäischen Mächten und dem Osmanischen Reich vor, und verortet diese Thematik auf der Schnittstelle von zwei Inhaltsfeldern des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Geschichte (Sekundarstufe II, Inhaltsfelder 1 »Erfahrung mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive« und 2 »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit«). In diesem Kontext skizziert er neuere Tendenzen der Forschung zu den europäisch-osmanischen Beziehungen sowie zum diplomatischen Zeremoniell als einem wichtigen Faktor der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen. *** Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die die Abteilung für Didaktik der Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft, das Zentrum für Historische Friedensforschung und das Institut für Orient- und Asienwissenschaften (Islamwissenschaft) der Universität Bonn am 16./17. November 2017 im Haus der Geschichte Bonn durchgeführt haben.24 Dankbar erinnern wir uns an die Vorträge »Zur gegenseitigen Durchdringung von Religion und Herrschaft vom frühen Kalifat bis zum Sultanat der Mamluken« (Mohammad Gharaibeh), 24 Vgl. Sandra Müller, Tagungsbericht: Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit. Ein Schlüsselthema des Geschichtsunterrichts im interdisziplinären Fokus, 16. 11. 2017– 17. 11. 2017 Bonn, in: H-Soz-Kult, 07. 02. 2018, zit. nach URL: www.hsozkult.de/conferencere port/id/tagungsberichte-7543 [22. 01. 2021].
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»Osmanische Reisetexte über den Westen (15. Jahrhundert – 1921)« (Caspar Hillebrand) und »Das Osmanische Reich: Feindbild – Vorbild – Exot – Partner« (Arno Strohmeyer), die aufgrund zeitlicher Rahmenbedingungen leider nicht im vorliegenden Band publiziert werden können. Zusätzlich aufgenommen wurden dagegen zwei Aufsätze, die frühneuzeitliche Facetten des Themas beleuchten (Maria-Elisabeth Brunert und Michael Rohrschneider) sowie eine Schulbuchanalyse (Florian Helfer / Sandra Müller-Tietz). Es ist den Herausgebern ein wichtiges Anliegen, sehr herzlich denjenigen zu danken, die uns bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung sowie bei der Drucklegung der Beiträge unterstützt haben. Dem Haus der Geschichte Bonn, namentlich seinem damaligen Direktor Prof. Dr. Hans Walter Hütter und Prof. Dr. Harald Biermann, der die Veranstaltung stellvertretend mit einem Grußwort eröffnet hat, sowie Dr. Simone Mergen – als Bildungsreferentin mit einem museumsdidaktischen Beitrag zu Ausstellungen des Hauses im Programm präsent –, möchten wir für die Möglichkeit danken, die Tagung in den Räumlichkeiten des Museums abhalten zu dürfen, und nicht zuletzt auch für das begleitende Engagement. Besonderer Dank gebührt zudem unserem Bonner Kollegen Stephan Conermann, der die Tagung trotz umfangreicher Verpflichtungen als Prorektor für Internationales an der Universität Bonn gemeinsam mit uns ausgerichtet hat. Großen Dank schulden wir auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung Didaktik der Geschichte sowie der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft, die mit Verve die Tagungsorganisation unterstützt und teilweise auch Vortragsmanuskripte vorab gegengelesen haben, insbesondere Susanne Koch und Anja Haas M.A. Außerordentliche Verdienste hat sich Magdalena Kämmerling (StR’) bei der Konzeption und Durchführung der Tagung erworben; ihr gilt unser besonderer Dank. Bei der Vorbereitung der Publikation wurden wir von vielen helfenden Händen unterstützt, bei denen wir uns ebenfalls herzlich bedanken möchten: Jonas Bechtold M.A., Lennart Katzenbach B.A., James Krull M.A., Clara Mowitz, Sandra Müller-Tietz M.A., Merlin Schiffers und Janna Schulz. In unseren Dank einschließen möchten wir auch den Verlag, namentlich Oliver Kätsch und Madlen Engelke, für die gute und konstruktive Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Außerordentlicher Dank gebührt schließlich allen Autorinnen und Autoren – nicht nur für ihre Beiträge, sondern insbesondere auch für ihre Geduld!
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Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Quellen
Bundesministerium des Inneren für Bau und Heimat, Verfassungsschutzbericht 2019, zit. nach URL: https://www.verfassungsschutz.de/embed/vsbericht-2019.pdf [21. 01. 2021]. In the High Court of New Zealand Christchurch Registry […]. CRI-2019-009-2468 [2020] NZHC 2192 The Queen v Brenton Harrison Tarrant, Urteil vom 27. 08. 2020, zit. nach URL: https://forms.justice.govt.nz/search/Documents/pdf/jdo/c2/alfresco/service/api/ node/content/workspace/SpacesStore/f830d277-7629-4981-b673-30f96134afdf/f830d2 77-7629-4981-b673-30 f96134afdf.pdf [08. 01. 2020]. [Deutschlandfunk], Kurzbericht »Angriff auf homosexuelles Paar. Lebenslange Haft im Prozess um Messerattacke in Dresden«, zit. nach URL: 21. Mai 2021: https://www. deutschlandfunk.de/angriff-auf-homosexuelles-paar-lebenslange-haft-im-prozess.1939. de.html?drn:news_id=1261405 [21. 05. 2021 – zum Zeitpunkt des Drucks nicht mehr verfügbar]. [OLG Dresden], Pressemitteilung »Urteil gegen Abdullah A. wegen des Messerangriffs in Dresden«), 21. Mai 2021, zit. nach URL: https://www.medienservice.sachsen.de/medien /news/251838 [25. 05. 2021]. Platon, Apologie des Sokrates, übers. von Ernst Heitsch, Göttingen 2014 (UTB 4152 e-only).
2.
Lehrplan
Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2014, zit. nach URL: http://www.schulentwicklung.nrw.de /lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf [21. 01. 2021].
3.
Literatur
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du droit international, Liber Amicorum Peter Haggenmacher, Leiden / Boston 2014 (Legal History Library, 11; Studies in the History of International Law Series, 5), S. 711– 724. Engl, Richard, Safran, Schach und Sondersteuern. Arabisch-muslimische Lebensformen im Königreich Sizilien, in: Alfred Wieczorek / Bernd Schneidmüller / Stefan Weinfurter (Hg.), Die Staufer und Italien. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Reiss-Engelhorn-Museums Mannheim], Darmstadt 2010 (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen, 37), Bd. 1: Essays, S. 333– 339. Gelhard, Andreas, Lernen auf Distanz, Vortrag im Rahmen der 7. Tagung der Bonner Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften und des Zentrums für schulpraktische Lehrerausbildung Bonn, 21. Januar 2021 [unveröffentlicht]. Grewe, Bernd, Geschichtsdidaktik postkolonial – eine Herausforderung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 5–30. Kepel, Gilles (avec Jardin, Antoine), Terreur dans l’Hexagone: Genèse du djihad français, Paris 2015. Kepel, Gilles, Il faut repenser la problématique de la rupture djihadiste à partir de son point de départ culturel, in: Le Monde, 28. 10. 2019. Kuhlemann, Frank-Michael, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 12. 2015, S. 7. Litwinschuh-Barthel, Jörg (Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld), Wir müssen uns mit dem radikalen Islamismus beschäftigen, Interview, zit. nach URL: https://www. queer.de/detail.php?article_id=37484 [21. 01. 2021]. Müller, Sandra, Tagungsbericht: Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit. Ein Schlüsselthema des Geschichtsunterrichts im interdisziplinären Fokus, 16. 11. 2017–17. 11. 2017 Bonn, in: H-Soz-Kult, 07. 02. 2018, zit. nach URL: www.hsozkult.de/conference report/id/tagungsberichte-7543 [22. 01. 2021]. Pandel, Hans-Jürgen, Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/Ts. 2013 (Forum Historisches Lernen). Pelizaeus, Ludolf, Austausch und Konflikt zwischen Muslimen und Christen auf der iberischen Halbinsel, in: Gisbert Gemein (Hg.), Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen. Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart, Bonn 2011 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1062), S. 330–361. Said, Edward, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 2019 (Penguin Modern Classics). Schmiechen-Ackermann, Detlef, Diktaturen im Vergleich, 3. Aufl., Darmstadt 2010 (Kontroversen um die Geschichte).
Teil I: Christen und Muslime: Einführende und konzeptionelle Überlegungen
Stephan Conermann
Islam und Christentum – ein schwieriges Verhältnis1
Das Verhältnis von Christen und Muslimen wird in den Schulbüchern für den Geschichtsunterricht im Zeithorizont der Moderne allenfalls gestreift und ansonsten vorwiegend in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kontexten thematisiert, wobei ›christliche‹ und ›islamische Sphäre‹ überwiegend als getrennt erscheinen.2 Das mag angesichts der Fülle an zu vermittelnden Inhalten und Kompetenzen erklärbar sein, doch wird es der Wichtigkeit des Themas natürlich nicht gerecht. Europa hat ein sehr langes, durchaus vielschichtiges und wechselhaftes Verhältnis zum Islam. Der Islam hat sich fest in das kollektive Bewusstsein der Europäer eingeschrieben und trägt heute wie früher ganz entscheidend zur Identitätsbildung und der damit verbundenen Ausgrenzung von als fremd empfundenen Elementen bei. Es mag sogar gerechtfertigt sein, vom »Islam« als einem europäischen Erinnerungsort zu sprechen, zumal die Kategorie »Erinnerungsort« trotz zahlreicher Bemühungen, sie analytisch zu schärfen, letzten Endes notorisch unscharf geblieben ist. Man kann darunter »alle kulturellen Phänomene (ob material oder mental), die auf kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst in Zusammenhang mit Vergangenheit oder nationaler Identität gebracht werden«,3 verstehen. Da es bei der Darstellung von Erinne1 Dies ist eine leicht veränderte, um einen Anmerkungsapparat erweiterte Fassung meines Artikels »Islam«, in: Pim den Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte. 1. Bd.: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, München 2011, S. 121–134. Ich danke dem Oldenbourg Verlag ganz herzlich für die Genehmigung des Wiederabdrucks. 2 Siehe dazu etwa Susanne Kröhnert-Othman / Melanie Kamp / Constantin Wagner, Keine Chance auf Zugehörigkeit? − Schulbücher europäischer Länder halten Islam und modernes Europa getrennt. Ergebnisse einer Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung zu aktuellen Darstellungen von Islam und Muslimen in Schulbüchern europäischer Länder, Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Wolfenbüttel 2011, zit. nach URL: http://repository.gei.de/handle/11428/172 [06. 10. 2020] sowie Gerdien Jonker, Im Spiegelkabinett. Europäische Wahrnehmungen von Muslimen, Heiden und Juden (1700–2010), Würzburg 2013 (Ex oriente lux, 13); vgl. zur Analyse neuerer Schulbücher den Beitrag von Florian Helfer und Sandra Müller-Tietz im vorliegenden Band. 3 Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart / Weimar 2005, S. 25.
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rungsorten um die Herausbildung und Tradierung von Vergangenheitsversionen geht, erscheint es sinnvoll, in historischer Tiefe die Ambivalenz der europäischen Islamrezeption bis zur Gegenwart auszuloten. Viele Klischees, Topoi, Vorurteile und Ressentiments, die heute in den europäischen Gesellschaften gegenüber muslimischen Minderheiten spürbar sind, sind nur durch einen Blick in die Geschichte wirklich nachzuvollziehen. Insofern ziehen sich die folgenden Ausführungen vom Aufkommen des Islam im 7. Jahrhundert, den Kreuzzügen, dem Mongolensturm und den Belagerungen Wiens über die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien hin bis zu Aufklärung, Imperialismus und Globalisierung. Dabei folgen die ersten Abschnitte der Argumentation, die der Oxforder Historiker Sir Richard William Southern bereits vor über 50 Jahren in einem hellsichtigen und äußerst empfehlenswerten Buch vorgebracht hat.4
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Vom 7. bis zum 12. Jahrhundert
Vor 1100 wussten europäische Autoren nichts, aber auch gar nichts über den Islam als Religion. Für sie stellte sich der Islam nur als eine große Zahl von Feinden dar, die das Christentum aus jeder erdenklichen Richtung bedrohten. Sie hatten keinerlei Interesse, die primitiven »Götzenanbeter« der Nordmänner, Slawen oder Magyaren von den monotheistischen Muslimen zu unterscheiden, wie ihnen auch eine Trennung der Anhänger von Mani (gest. 276/6)5 von denjenigen Mohammeds gleich war. Ohnehin gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass in Nordeuropa irgendjemand zu dieser Zeit den Namen des Propheten gehört hatte.6 Nach der unerwartet raschen und erfolgreichen Etablierung des Islam im 7. und 8. Jahrhundert fühlte man sich in Europa überaus unwohl. Die Gefahr, der man sich ausgesetzt sah, war nur schwer einzuschätzen und darüber hinaus in ihrer Größe nicht klar umrissen. Diese nicht zu kalkulierende Bedrohung wurde dadurch noch verstärkt, dass man die Sache selbst überhaupt nicht richtig verstand. Die Vergangenheit lieferte keine passenden Erklärungsmuster. Für eine Zeit, die ihr Anschauungsmaterial zur Deutung gegenwärtiger Prozesse früheren Epochen zu entnehmen pflegte, war dieser Umstand zutiefst unbefriedigend. Den intellektuellen Positionen der Muslime entsprachen am ehesten 4 Vgl. Richard W. Southern, Western Views of Islam in the Middle Ages, Cambridge, Mass. 1962. Ergänzend sollte man auch folgende Studien zu Rate ziehen: Johannes Fück, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955; Norman Daniels, Islam and the West: The Making of an Image, Edinburgh 1960 (Edinburgh University Publications. Language and Literature, 12). 5 Einführend: Manfred Hutter, Mani und die Sasaniden. Der iranisch-gnostische Synkretismus einer Weltreligion, Innsbruck 1988 (Scientia, 12). 6 Vgl. Southern, Western Views, S. 14f.
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diejenigen der Juden.7 Die Juden teilten jedenfalls eine Reihe der von den Anhängern Mohammeds gegen das Christentum vorgebrachten Einwände. Allerdings verfügten die christlichen Denker den Juden gegenüber über eine Masse an Texten, die sehr gute Antworten boten. Darüber hinaus konnte die wirtschaftliche und soziale Unterlegenheit der Juden dazu verleiten, ihnen mit einer gewissen Verachtung zu begegnen. Nichts ist einfacher, als Argumente von gesellschaftlich Benachteiligten beiseite zu fegen. Der Islam entzog sich aber durch seinen ungeheuren Erfolg einer solchen Behandlung. Jedem kleineren Schwächeln folgte eine Ära erstaunlichen Aufschwungs und für die Europäer bedrohlichen Wachstums. Der Islam widerstand jedem Eroberungsversuch, ließ sich nicht missionieren und zog sich auch nicht aus einmal besetzten Gebieten zurück. Um die Sache noch unerträglicher für die Christen zu machen, nahm er auch noch eine sehr verwirrende intellektuelle Position ein. Gleichzeitig einen Gott als den allmächtigen Gott anzuerkennen und die Trinitätslehre, die Inkarnationslehre und Jesu Göttlichkeit abzulehnen, war eine philosophische Haltung, die man aus der Antike kannte. Was aber sollte man mit einer Religion anfangen, die die Göttlichkeit Jesu nicht akzeptierte und die zwar das Alte und Neue Testament als (etwas verfälschte) Offenbarungen ansah, aber letzte Autorität nur einem merkwürdigen Buch zuschrieb, das ganz offensichtlich ein Gemisch verschiedener christlicher Lehren und fremder Zusätze enthielt? Eine Schrift, die einerseits die philosophisch vertretbare Doktrin einer jenseitigen Bestrafung und Belohnung vorsah, andererseits jedoch die Philosophen durch ihre Vorstellung vor den Kopf stieß, dass sexuelle Freuden den Kern des paradiesischen Lebens ausmachten. Natürlich formten sich diese Erkenntnisse in den Köpfen Europas nur im Lauf einiger Generationen, doch danach blieben sie im kollektiven Bewusstsein fest verankert. Immer wieder gab es Leute, die den Islam einfach als absurdes Produkt einer teuflischen Einbildung abtun wollten. Sicher hätte dies auch weithin Anerkennung gefunden, wenn diese Religion sich nicht als so unglaublich standhaft und politisch erfolgreich gezeigt hätte. Keine Spur eines Niedergangs war zu sehen, kein Anzeichen von Schwäche. Hinzu kam sogar noch die Tatsache, dass die Muslime es geschafft hatten, das gesamte griechische Schrifttum ins Arabische zu übersetzen und die Ideen und Vorstellungen der Antike weiterzuentwickeln. Das islamische natur- und geisteswissenschaftliche wie auch das theologische Gedankengebäude baute auf Werken von Männern wie Alfarabi (gest. 950)8, Avicenna (gest. 1037)9 und Averroes (gest. 1198)10 auf,
7 Der folgende Absatz ist eine Paraphrase von ebd., 5–9. 8 Arab.: al-Fa¯ra¯bı¯. Siehe zu ihm Dimitri Gutas u. a., Artikel »Fa¯ra¯bı¯«, in: Ehsan Yarshater (Hg.), Encyclopaedia Iranica, Bd. 9, New York 1999, S. 208–229. 9 Arab: Ibn Sı¯na¯. Siehe einführend zu ihm Gotthard Strohmaier, Avicenna, München 1999 (Beck’sche Reihe, 546: Denker).
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die man in Europa alsbald zutiefst verehrte. Innerhalb von 400 Jahren durchlief der Islam eine bemerkenswerte Phase intellektueller Reife – ein Prozess, für den die Europäer sehr viel länger brauchten. Als die antike Welt auseinanderbrach, wurde der Islam zum Haupterben der griechischen Wissenschaften und Philosophie, wohingegen das barbarische Europa auf der römischen Literatur, einschließlich der Kirchenväter, sitzen blieb. Die ersten zaghaften Versuche, den Islam zu interpretieren, haben jedoch großen Einfluss auf die späteren Deutungen gehabt. Zusammenfassend kann man mit Southern sagen, dass die neue Religion in drei große Traditionszusammenhänge eingebettet wurde: (1) Ins Alte Testament.11 Trotz ihrer allgemeinen Ignoranz verfügten die lateinischen Autoren immerhin über gewisse Hinweise, wo und wie sie die von ihnen als »Sarazenen« bezeichneten Muslime im allgemeinen Weltenlauf verorten sollten. Andeutungen fanden sich nämlich in der Bibel. Die Rolle der Genesis beschränkte sich allerdings darauf, die fernen Ursprünge der Sarazenen im Alten Testament auszumachen. (2) In die Apokalypse, d. h. das abschließende Buch des Neuen Testaments.12 Die Vorstellung, dass die Herrschaft des Islam die in der Bibel erwähnte Vorbereitung für das endzeitliche Auftauchen des Antichristen sein könnte, erfreute sich ebenfalls einer gewisse Popularität. (3) In Legenden wie der vom ritterlichen Saladin, die vor allem nur zur Zeit der Kreuzzüge entstanden.13 Das Verhältnis zwischen Christentum und Islam änderte sich abrupt mit dem Ersten Kreuzzug (1096–1099).14 Dieses Ereignis brachte erstaunlicherweise keine Vermehrung des Wissens, sondern verengte sogar in gewisser Hinsicht die Sicht auf den Islam. Die Kreuzfahrer, die 1096 in das Heilige Land aufgebrochen waren, verstanden – wie auch ihre Nachfolger – bemerkenswert wenig von den östlichen Kulturen und Gesellschaften. Die großen Anfangserfolge sorgten dafür, dass sich die prägenden Reaktionen auf die Situation und die Menschen vor Ort allein aus einem Triumphgefühl und abgrundtiefer Verachtung zusammensetzen. Allerdings erfuhr man nun zum ersten Mal Konkreteres über den Propheten und die Religion der Muslime, wobei das Bild, das sich in den ersten 40 Jahren des 12. Jahrhunderts in Europa formte, in Umkehr der Verhältnisse aus einem Gefühl 10 Arab.: Ibn Rusˇd. Siehe zu ihm: Hans Daiber, Artikel »Ibn Rushd, Abu¯ Muhammad«, in: ˙ Encyclopaedia of Islam, THREE, hg. von Kate Fleet u. a., erste Online-Veröffentlichung 2009, zit. nach URL: http://dx.doi.org/10.1163/1573-3912_ei3_COM_22729 [06. 10. 2020]. 11 Vgl. Southern, Western Views, S. 15–19. 12 Vgl. ebd., S. 19–25. 13 Siehe dazu Stephan Conermann, Muslimische Ritter – gibt es das? Die Saladin-Rezeption in europäischen Werken des Mittelalters, in: Stefan Zimmer (Hg.), König Artus lebt! Eine Ringvorlesung des Mittelalterzentrums der Universität Bonn, Heidelberg 2005 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 221–272. 14 Dieser Absatz folgt Southern, Western Views, S. 27f. Vgl. ferner den Beitrag von Alheydis Plassmann in diesem Band.
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der Überlegenheit und des Sieges heraus entstand. Das Ergebnis waren allgemein verbreitete legendenhafte Vorstellungen von Mohammed und von den religiösen Praktiken der Muslime, die sich mit großer Hartnäckigkeit in den Köpfen der Europäer halten sollten.
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Das 13. Jahrhundert15
Mit Gelehrten wie beispielsweise Petrus Alfonsi (gest. nach 1130)16 und Otto von Freising (gest. 1158)17 entstand zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Europa so etwas wie eine unabhängige Beschäftigung mit dem Islam, wobei diese Männer sogar eine scheue Anerkennung der Religion ihrer Feinde durchblicken ließen. Ein wirklich großer Schritt für eine substantiellere Auseinandersetzung war dann die von Petrus Venerabilis (gest. 1156), dem Abt von Cluny, in Auftrag gegebene Übersetzung des Korans.18 Im Juli 1143 legte der englische Gelehrte Robert von Ketton (gest. nach 1160) seine Übertragung des Werks ins Lateinische vor.19 In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts überflutete Europa eine Welle von Häresien.20 Gleichzeitig verschlechterte sich die Lage der Kreuzzügler im Heiligen Land. Insofern ist es kein Wunder, dass selbst Petrus Venerabilis den Islam als eine christliche Häresie ansah. Das Ereignis, das die Wahrnehmung des Islam und der islamischen Welt nachhaltig erschüttern sollte, kam aus einer ganz unerwarteten Richtung: Zu Beginn des 13. Jahrhunderts tauchten aus den zentralasiatischen Weiten die Mongolen auf, überfielen die halbe Welt und stießen schließlich bis zur Adria vor.21 Das Erscheinen der mongolischen Reiter erweiterte fundamental den geografischen Horizont der Europäer. Vor allem durch die Berichte der Franziskaner Johannes de Plano Carpini (gest. 1252) und Wilhelm von Rubruk (gest. um 1270) erfuhr man viel Neues über Gegenden, in die
15 Zu diesem Kapitel vgl. Southern, Western Views, S. 34–66. 16 Siehe zu ihm John Tolan, Artikel »Petrus Alfonsi«, in: Encyclopaedia of Islam, 2. Aufl., hg. von Peri J. Bearman u. a., erste Online-Veröffentlichung 2012, zit. nach URL: http://dx.doi.org /10.1163/1573-3912_islam_SIM_6120 [06. 10. 2020]. 17 Siehe zu ihm Joachim Ehlers, Otto von Freising. Ein Intellektueller im Mittelalter. Eine Biographie, München 2013. 18 James Kritzeck, Peter the Venerable and Islam, Princeton 1964 (Princeton Oriental Studies, 23). 19 Siehe Thomas E. Burman, Tafsir and Translation: Traditional Arabic Quran Exegesis and the Latin Qurans of Robert of Ketton and Mark of Toledo, in: Speculum 73 (1998), S. 703–732. 20 Siehe dazu Christoph Auffarth, Die Ketzer. Katharer, Waldenser und andere religiöse Bewegungen, München 2005 (C.H. Beck Wissen, 2383). 21 Siehe Peter Jackson, The Mongols and the West, 1221–1410, Harlow / New York 2005 (The Medieval World).
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bis dahin noch nie jemand aus Europa vorgedrungen war.22 Bis dahin hatte eigentlich niemand vermutet, dass hinter den islamischen Ländern noch etwas oder jemand existierte. Obgleich es die Europäer sehr erschreckte, dass die Horden nicht den rechten Glauben hatten, fand man eine gewisse Beruhigung in dem Umstand, dass es zumindest keine Muslime waren. Und so erfolgreich sie auch militärisch sein mochten, intellektuell hatten sie, so die Meinung der Christen, nichts zu bieten. Letztlich brachte dieser erste Kontakt zwischen Europa und Asien zwei Resultate: Zum einen stellte man plötzlich fest, dass es zwischen Muslimen und Christen doch im Verhältnis zu den Mongolen eine Reihe grundlegender Übereinstimmungen im Glauben gab. Zum anderen erfuhr man von der Existenz einer großen Zahl orientalischer Christen, von denen man bis dahin nichts gehört hatte. Schnell kam die Vorstellung und Hoffnung auf, man würde dereinst mit Hilfe und im Bündnis mit einer großen christlichen Armee aus dem Osten, angeführt von dem Priesterkönig Johannes, den Islam besiegen können.23 Eine wichtige Persönlichkeit stellt in diesem Zusammenhang der englische Philosoph Roger Bacon (gest. nach 1292) dar.24 Es gibt vor allem einen großen Unterschied zwischen Bacon und den anderen Autoren, der erwähnenswert ist: Die meisten christlichen Gelehrten haben dem Islam eine ausschließlich negative Funktion in der Geschichte zugebilligt. Seine Anhänger, die von der wahren Religion abgefallen waren, stellten Vorboten des Endzeitalters vor dem Auftauchen des Antichristen dar. Bacon hingegen sah im Islam eine positive Er22 Siehe Gian Andri Bezzola, Die Mongolen in abendländischer Sicht (1220–1270). Ein Beitrag zur Frage der Völkerbegegnungen, Bern / München 1974; Wilhelm von Rubruk, The Mission of Friar William of Rubruck: His Journey to the Court of the Great Khan Möngke, 1253–1255, translated by Peter Jackson, introduction, notes and appendices by Peter Jackson with David Morgan, London 1990; Axel Klopprogge, Ursprung und Ausprägung des abendländischen Mongolenbildes im 13. Jahrhundert. Ein Versuch zur Ideengeschichte des Mittelalters, Wiesbaden 1993 (Asiatische Forschungen, 122); Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert, Sigmaringen 1994 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 16); Johannes Gießauf, Die Mongolengeschichte des Johannes von Piano Carpine: Einführung, Text, Übersetzung, Kommentar, Graz 1995; Johannes von Plano Carpini, Kunde von den Mongolen (1245–1247), eingeleitet, übersetzt und erläutert von Felicitas Schmieder, überarbeitete Aufl., Wiesbaden 2015 (zuerst Sigmaringen 1997); Marina Münkler, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000. 23 Siehe Ulrich Knefelkamp, Die Suche nach dem Reich des Priesterkönigs Johannes. Dargestellt anhand von Reiseberichten und anderen ethnographischen Quellen des 12.–17. Jahrhunderts, Gelsenkirchen 1986; Wilhelm Baum, Die Verwandlungen des Mythos vom Reich des Priesterkönigs Johannes – Rom, Byzanz und die Christen des Orients im Mittelalter, Klagenfurt 1999. 24 Siehe zu ihm Amanda Power, Roger Bacon and the Defence of Christendom, New York / Cambridge 2013 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, 4th series, 84).
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scheinung, die bei der Entwicklung hin zu einer philosophischen Einheit zwischen den Religionen eine zentrale Rolle spielen werde. Er verzichtete vollkommen auf die Bibel zur Erklärung der Rolle, die der Islam auf der Welt einnahm. Vielmehr stützte er sich ausschließlich auf muslimische Philosophen und auf die Aussagen europäischer Reisender. Natürlich waren sie sehr viel unzuverlässigere Führer, als er glaubte. Auch wusste Bacon alles in allem nicht allzu viel und auch nicht immer die richtigen Dinge, doch versuchte er zu Erkenntnissen zu gelangen und diese zu ordnen und zu kategorisieren. Sein Optimismus deckte sich mit dem der franziskanischen Missionare. Der Islam schien schwach und insgesamt doch nicht so weit verbreitet wie gedacht. Sein historisches Werk war vollbracht, er erwartete in Demut sein Ende. Was die Mongolen anbelangt, so hatten sie ein halbes Jahrhundert hindurch Europa Angst und Schrecken eingejagt. Jetzt schien ihr Platz klar zu sein: sie waren diejenigen, die die Christenheit vom Islam erlösen sollten. Aus dieser Perspektive waren die 30 Jahre zwischen 1260 und 1290 für Europa sicher die hoffnungsvollste Zeit des Mittelalters. Niemand hat dies klarer gesehen als der katalanische Philosoph und Theologe Raimundus Lullus (gest. 1316) und der Florentiner Reisende Ricoldo da Monte di Croce (gest. 1320).25
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Vom 14. bis zum 16. Jahrhundert26
Diese Hoffnungen erwiesen sich jedoch alsbald als trügerisch. Mit dem Fall von Akko 1291 und der Islamisierung der mongolischen Teilreiche im 14. Jahrhundert wurde deutlich, dass der Islam nicht zugrunde gehen würde.27 Spürbar änderte sich daraufhin die Haltung zum und das Interesse am Islam. Man beschloss während des Konzils von Vienne (1311/12), bei dem es vornehmlich um Templer, Mendikanten und Beginen ging, die Einrichtung von Lehrstühlen für Arabisch, Hebräisch und Syrisch in Paris, Oxford, Bologna, Avignon und Sala-
25 Siehe zu ihm Erhard-Wolfram Platzeck, Raimund Lull. Sein Leben – seine Werke – die Grundlagen seines Denkens, 2 Bde., Düsseldorf 1962–1964 und Ricoldus de Montecrucis, Tractatus seu disputatio contra Saracenos et Alchoranum. Edition, Übersetzung, Kommentar von Daniel Pachurka, Wiesbaden 2016 (Corpus Islamo-Christianum. Series Latina, 9). 26 Vgl. zu den ersten drei Abschnitten Southern, Western Views, 67–109. 27 Siehe Roger Crowley, Accursed Tower: The Crusaders’ Last Battle for the Holy Land, New Haven 2019; Reuven Amitai / Stephan Conermann, The Mamluk Sultanate from the Perspective of Regional and World History: Economic, Social and Cultural Development in an Era of Increasing International Interaction and Competition, Göttingen 2019 (Mamluk Studies, 17).
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manca.28 Zur Mitte des 14. Jahrhunderts sehen wir zum ersten Mal einen wirklichen Bruch zwischen Tradition und Innovation. Die kurz aufeinander erfolgten Verurteilungen der Ansichten von Marsilius von Padua (gest. 1342/43)29, Wilhelm von Ockham (gest. 1347)30, Meister Eckhart (gest. 1328)31 und von Dante Alighieris (gest. 1321) De Monarchia Libri Tres32 sind deutliche Anzeichen einer Neuformung des europäischen Denkens in dieser Zeit. In der folgenden Epoche der Irrungen und Wirrungen war nur wenig Raum für eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Islam und die Bestimmung seiner Rolle in der Heilsgeschichte. Noch geringer war das Bedürfnis, etwas von ihm zu lernen. Auf die positive und freundschaftliche Aufnahme der Schwesterreligion im 13. Jahrhundert folgte eine Phase des Misstrauens und der Feindseligkeit. Der Indifferenz und Fantasie waren wieder Tor und Tür geöffnet. Die elaborierte Verdammung der Muslime und ihres Glaubens ging einher mit einer massiven realen Bedrohung: Am Ende des 14. Jahrhunderts beherrschten die Osmanen mit Ausnahme von Bosnien und Albanien den gesamten Balkan.33 1453 wurde Konstantinopel erobert – ein Schock für ganz Europa! Die Türken erreichten kurz darauf die Adria und standen vor der Einnahme Ungarns. 1460 gelangten sie zum ersten Außenposten der lateinischen Christenheit. Die Reaktion war eine Mischung aus Angst und Hoffnung. Man griff auf den alten Kreuzzugsgeist zurück. Gleichzeitig setzte sich nun eine Reihe bedeutender Gelehrter erneut mit dem Glauben des Feindes visionär, aber auch widersprüchlich auseinander. John von Segovia (gest. 1458), Nikolaus von Kues (gest. 1464) oder Enea Silvio Piccolomini (gest. 1464), der spätere Papst Pius II., verfassten wegweisende Schriften über den Islam.34 Ihre Visionen waren unter28 Siehe Malcolm C. Barber, Artikel »Vienne, Konzil von«, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35: Vernunft III – Wiederbringung aller, Berlin / New York 2003, S. 76–79. 29 Siehe zu ihm Francisco Bertelloni, Marsilius of Padua, in: Jorge J. E. Gracia / Timothy B. Noone (Hg.), A Companion to Philosophy in the Middle Ages, Malden, Mass. 2003 (Blackwell Companions to Philosophy, 24), S. 413–420. 30 Siehe zu ihm Jan P. Beckmann, Wilhelm von Ockham, München 1995 (Beck’sche Reihe, 533: Denker). 31 Siehe zu ihm Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, 2., überarb. Aufl., München 1989. 32 Siehe zu ihm Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt, München 2014. 33 Siehe Suraiya Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, 6. Aufl., München 2015 (C.H. Beck Wissen, 2021). 34 Siehe zu ihnen Ana Echevarría, The Fortress of Faith. The Attitudes towards Muslims in Fifteenth Century Spain, Leiden / Boston 1999 (Medieval Iberian Peninsula, 12); Marco Brösch u. a. (Hg.), Handbuch Nikolaus von Kues. Leben und Werk, Darmstadt 2014; HansGerhard Senger, Nikolaus von Kues. Leben – Lehre – Wirkungsgeschichte, Heidelberg 2017 (Cusanus-Studien, 12) und Volker Reinhardt, Pius II. Piccolomini. Der Papst, mit dem die Renaissance begann. Eine Biographie, München 2013.
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schiedlich und in mancherlei Hinsicht auch irreführend, doch auch umfassender, deutlicher und konstruktiver als alle vorangegangenen Deutungen und in vielem auch besser als die Erklärungen der beiden kommenden Jahrhunderte. Diese Männer brachten großartige Konzepte hervor, dem Islam innerhalb der Weltgeschichte einen von der Vorsehung bestimmten Platz zuzuweisen. Dabei appellierten sie eher an die praktische Vernunft und den gemeinen Menschenverstand als an wenig fundierte und haltlose Vermutungen. Das Vordringen der Osmanen zog sich über das gesamte 16. Jahrhundert hin. Auf den Fall von Belgrad 1521 und die Einnahme von Rhodos ein Jahr später folgten 1526 die Schlacht von Mohács, die den Verlust der ungarischen Eigenständigkeit nach sich zog, und 1529 die erste Belagerung Wiens. Eine sehr typische Reaktion auf die allgemeine Situation findet sich bei Martin Luther (gest. 1546).35 Der Reformator griff in die Debatte um den muslimischen Glauben ein, indem er der Öffentlichkeit eine Übersetzung des anti-islamischen Traktats »Confutatio Alcorani« aus der Feder des bereits erwähnten Ricoldo da Monte di Croce aus dem 13. Jahrhunderts vorlegte und mit einem Vor- und einem Nachwort versah.36 Luthers Polemik steht letzten Endes für die damalige Verzweiflung, weder eine intellektuelle noch eine politische Lösung für das Problem »Islam« gefunden zu haben. Sind wir bis hierhin der Darstellung von Southern gefolgt, so hat sich mit der Wahrnehmung des Islam zur Lutherzeit anhand von zeitgenössischen Predigten, Traktaten, »neuen Zeitungen«, Liedern, Gesandtschafts- und Reiseberichten sowie polemischen und historiografischen Texten sehr kompetent der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann befasst.37 Kaufmann kommt letztlich zu dem Schluss, dass eine eindeutige und einhellig negative Beurteilung der »türkischen Religion« vorherrschte, wobei die sprachlichen Mittel, die konzeptionellen Muster und die argumentativen Operationen eine große Bandbreite aufweisen. Generell nahm man den Islam wahr (1) in der Tradition der Häresienkataloge, also als christliche Ketzerei; (2) wie das Judentum als eigene, vom 35 Siehe Johannes Ehmann, Luther, Türken und Islam: Eine Untersuchung zum Türken- und Islambild Martin Luthers (1515–1546), Gütersloh 2008 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 80) und auch Almut Höfert, Den Feind beschreiben. »Türkengefahr« und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600, Frankfurt a.M. / New York 2003 (Campus historische Studien, 35). 36 Siehe dazu Johannes Ehmann (Hg.), Ricoldus de Montecrucis, Confutatio Alcorani (1300). Martin Luther, Verlegung des Alcoran (1542), Würzburg / Altenberge 1999 (Corpus IslamoChristianum. Series Latina, 6). 37 Vgl. zum Folgenden Thomas Kaufmann, »Türckenbüchlein«. Zur christlichen Wahrnehmung »türkischer Religion« in Spätmittealter und Reformation, Göttingen 2008 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 97); Ders., Aspekte der Wahrnehmung der »türkischen Religion« bei christlichen Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Dietrich Klein / Birte Platow (Hg.), Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung, Paderborn / München 2008, S. 9–25.
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Christentum unterschiedliche Religion; oder man ließ es (3) offen, ob man es mit einer Häresie oder einem heidnischen Ritus zu tun hatte.38 Als ein vom Teufel entstellter Abkömmling der eigenen Religion konnte, so Kaufmann, der Islam nach den Vorgaben der europäischen christlichen Tradition eingeordnet und kritisiert werden:39 Die Türken kennten weder Beichte und Absolution noch Ermahnung und Besserung. Da sie nichts von der Erbsünde wüssten, fehle auch dem Beschneidungsritus jede sakramentale Qualität als Heilmittel. Die härtesten Urteile über die türkische Religion hingen natürlich damit zusammen, dass die Muslime Mohammed als Siegel aller vorangegangenen Propheten ansahen und die von ihm verkündete Offenbarung alle anderen aufhob bzw. in letzter Instanz korrigierte. Darin mussten die Christen eine radikale und unerträgliche Abwertung ihres eigenen Glaubens sehen. Angesichts der realen Bedrohung herrschte bei den christlichen Autoren die Tendenz vor, den Islam als monolithische Einheit zu beschreiben, »die ihre Mitglieder durch verbindliche doktrinale Merkmale, zeremoniale Praktiken und repressive Gehorsamsstrukturen zu einer Kult- und Glaubensgemeinschaft zusammenschweißte. […] Die Unbekehrbarkeit hänge auch mit der Rohheit, ja Bestialität der Türken zusammen; statt mit Vernunftgründen und Argumenten verteidigten sie ihre secta nur mit Schwert und Waffengewalt.«40 Dieses »Wissen« über den Glauben der Osmanen verbreitete sich mittels einer Massenpublizistik rasch und in Form von Predigten auch weit über das gebildete Publikum hinaus.41 Mithilfe der vermeintlichen Kenntnisse über die türkische Religion konnte man sich sehr gut gegen den Feind abgrenzen und vor allem eine eigene Gruppenidentität formen, die dazu diente, mentale und auch militärische Kräfte für den Kampf gegen die Türken zu mobilisieren. Neben der wichtigen »Integrationsfunktion der antitürkischen Selbstentwürfe Europas lieferte das auf den Türken bezogene kulturelle ›Wissen‹ Motive, um die innerchristlichen Antagonismen zu bearbeiten und polemisch zuzuspitzen.«42 Und weiter: »Im Zuge der ideologischen Generalmobilmachung für die Türkenkriege des 16. Jahrhunderts zeichnete sich eine Tendenz zur Totalisierung des Konfliktes ab; in jeder Hinsicht, in Bezug auf die politische Kultur, das Ethos, die Religion, in Bezug also auf alles, was Europa wert und wichtig war, sah es sich in eine unausweichliche, nurmehr militärisch zu lösende Fundamentalkonfrontation mit dem Erbfeind, dem Türken, gestellt. Nach dem Untergang von Byzanz war ›der
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Vgl. Kaufmann, Aspekte, S. 10f. Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 11f. Ebd., S. 16. Vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 21.
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Türke‹ der wichtigste Faktor zur Bildung einer europäischen Abgrenzungsmentalität«.43 Eine Wende in der Wahrnehmung des Islam brachte schließlich aber nicht die geistige Auseinandersetzung mit der Religion des Feindes, sondern die Entdeckung Amerikas und des Seewegs nach Indien am Ende des 15. Jahrhunderts. Die beiden genannten Ereignisse erweiterten noch einmal das europäische Weltbild in bis dahin unvorstellbarem Maß. Die islamische Welt wurde im Lauf des 17. Jahrhunderts in ihrer Größe und Stärke erheblich relativiert; andere Völker und Welten schoben sich vor die Wahrnehmung des einstigen alleinigen außereuropäischen Feindes. Der Islam stellte plötzlich nicht mehr eine existenzielle Bedrohung dar, zumal man sich gerade in diesem Säkulum innerhalb der eigenen Grenzen in entsetzlichen Religionskriegen zerfleischte.44
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Das Zeitalter der Aufklärung45
Die Aufklärung brachte neben vielen anderen Dingen eine Veränderung des Blicks auf den Islam mit sich. Ihr lag unter anderem der Impetus zugrunde, Wissen anzuhäufen, um es dann im eigenen Sinn zu interpretieren. Das damit angestrebte Deutungsmonopol führte dann zur intellektuellen und später zur politischen Vereinnahmung der nicht-europäischen Gesellschaften. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die außereuropäische Welt für die aufklärerischen Gelehrten noch weitgehend ›unlesbar‹.46 Gerade deshalb galt es, diesen – wie Jörg Fisch es bezeichnet hat – »märchenhaft« scheinenden Orient mit Hilfe weitergehender Kenntnisse zu ›entzaubern‹.47 Auf der Grundlage dieses neuen Wissens wurden dann die nichteuropäischen Kulturen den Kategorien okzidentaler Weltdeutung untergeordnet. Zu dieser Zeit entzog sich aber die außereuropäische Welt noch einer vollkommenen intellektuellen Beherrschung. Denn erst die Dekodierung der kulturellen Zeichen des Fremden machte dieses machtpolitisch 43 Ebd,, S. 25. 44 Siehe Luise Schorn-Schütte, Konfessionskriege und europäische Expansion. Europa 1500– 1648, München 2010 (Beck’sche Reihe, 1983). 45 Viele Gedanken des Kapitels finden sich bereits in Stephan Conermann, Carsten Niebuhr und das orientalistische Potential des Aufklärungsdiskurses – oder: Ist das Sammeln von Daten unverdächtig?, in: Josef Wiesehöfer / Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr (1733– 1815) und seine Zeit. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums vom 7.–10. Oktober 1999 in Eutin, Stuttgart 2002 (Oriens et occidens, 5), S. 403–432. 46 Vgl. zum Folgenden Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung, Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: Hans-Joachim König / Wolfgang Reinhardt / Reinhardt Wendt (Hg.), Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, Berlin 1989, S. 9–42. 47 Vgl. Jörg Fisch, Der märchenhafte Orient. Die Umwertung einer Tradition von Marco Polo bis Macauley, in: Saeculum 35 (1984), S. 246–266.
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verfügbar und lieferte die Voraussetzung zu seiner vollständigen Vereinnahmung und Eroberung im Zeitalter des Imperialismus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat man dann die Idee von Europas kultureller Überlegenheit so häufig wiederholt, dass diese Vorstellung zu einem Gemeinplatz wurde. Das 18. Jahrhundert ist uns, wie Jürgen Osterhammel es formuliert hat, in mancher Hinsicht fremd.48 »Zwischen ihm und uns liegt«, so Osterhammel, »kein stetiger Fortschritt im angemessenen Begreifen oder Repräsentieren außereuropäischer Zivilisationen, sondern eine lange Phase der Verdunkelung des nichtokzidentalen Rests der Welt.«49 Eurozentrismus, Nationalismus, Rassismus, Imperialismus und Orientalismus vernebelten die Sicht auf die islamischen Länder und auf den Islam selbst. Die sogenannten Wilden und Barbaren der außereuropäischen Regionen wurden besucht, beschrieben und kommentiert, weil die »›Wissenschaft vom Menschen‹, die den Aufklärern in Frankreich, Schottland, England, Deutschland und Italien vorschwebte, über Europa hinausdrängte. Asien war keine exotische Zutat, sondern ein selbstverständliches und zentrales Feld von Welterfahrung.«50 Man reiste viel, allerdings nicht mehr, um am Wegesrand Kuriositäten aufsammeln zu können, sondern man folgte einem wissenschaftlichen Impetus. Das gleiche Interesse, das vorher der Antike entgegengebracht worden war, richtet sich nun vornehmlich auf den Orient. Es kam zu einer wahren »renaissance orientale«, einer (Wieder-)Entdeckung Asiens, insbesondere des alten Iran und Indiens.51 Andererseits gab es genug aufklärerische Gelehrte, die den ›Wilden‹ als eine Folie ihrer eigenen Begierden und Wünsche benutzten.52 Diesem weithin bekannten ›edlen Wilden‹ stand allerdings stets der ›barbarische Wilde‹ gegenüber, der als unzivilisiert galt und kulturell noch im Vorfeld der Geschichte verhaftet war. Keiner hat die Zeit vor der Besetzung Ägyptens (1798–1801) durch Napoleon besser analysiert als Jürgen Osterhammel in seiner 1998 publizierten Studie Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. Das Zeitalter der Aufklärung stellt für ihn die Zeit des »diskursiven Übergangs« dar, der den »Aufstieg und Triumph eines europäischen Sonderbewußtseins« markierte. Er fasst die Epoche folgendermaßen zusammen: »Für eine kurze Zeit wurden Araber, Inder, Perser oder Chinesen zu entfernten Nachbarn, mit denen 48 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, 2. Aufl., München 2010 (Beck’sche Reihe, 1823), S. 11. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 11f. 51 Raymond Schwab, The Oriental Renaissance: Europe’s Rediscovery of India and the East 1680–1880, translated by Gene Patterson-Black and Victor Reinking, foreword by Edward W. Said, New York 1984. 52 Vgl. Urs Bitterli, Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnungen, München 1976; 2., durchgesehene und um einen bibliographischen Nachtrag erweiterte Aufl., München 1991, S. 367–410.
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sich trotz offensichtlicher Kommunikationsschwierigkeiten ein durch ethnologische Rücksichten kaum verzerrter Dialog führen ließ. Spätestens der im 19. Jahrhundert aufkommende Rassismus, gleichsam der finstere Zwilling einfühlsamer Romantik, machte diese Chancen zunichte«.53 Interessanterweise trat die Beschäftigung mit dem Islam als Religion während der Aufklärung in den Hintergrund.
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Das 19. Jahrhundert: Ent-Islamisierung und Orientalisierung
Der Orient war bereits im 18. Jahrhundert in der europäischen Elitenkultur angesagt. Denken wir nur an die Chinoiserien des Rokoko,54 an die Architektur, Malerei und Musik alla turca (Stichwort: Mozarts »Entführung aus dem Serail« oder Händels »Tamerlano«),55 an Schauautomaten, türkische Gärten, persische Kostüme oder an die Tulipomania und die weit verbreitete Turquerie.56 Hinzu kam der romantische Poesie-Orient.57 »Der Orient wurde für viele Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem imaginären Ort, an dem all das möglich war, was es in Europa nicht (mehr) gab.«58 In der Malerei dominierten als Motive das türkische Bad, der Harem, der Sklavenmarkt und überhaupt der sonnendurchflutete, farbenprächtige Orient.59 Repräsentativ für die populäre Literatur war Karl May (gest. 1912) mit seiner besserwisserisch-herablassenden Haltung.60 Diese Romantisierung daheim ging mit der Eroberung des realen Orients vor Ort einher: 1830 Algier, 1857 Afghanistan, 1858 Indien, 1860 Ma-
53 Osterhammel, Entzauberung, S. 12f. 54 Siehe Alain C. Gruber, Chinoiserie: der Einfluss Chinas auf die europäische Kunst, 17.– 19. Jahrhundert, Ausstellung Riggisberg, 6. Mai – 28. Oktober 1984, Bern 1984; Francesco Morena, Chinoiserie: The Evolution of the Oriental Style in Italy from the 14th to the 19th Century, translated by Eve Leckey, Florenz 2009. 55 Siehe Edward H. Powley, Turkish Music: An Historical Study of Turkish Percussion Instruments and Their Influence on European Music, MA thesis, Univ. of Rochester 1968; Eve R. Meyer, Turquerie and Eighteenth-Century Music, in: Eighteenth-Century Studies 7, 4 (1974), S. 474–488. 56 Wilfrid Blunt, Tulips and Tulipomania, London 1977; Maria E. Pape, Die Turquerie in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts, Diss. Köln 1987; Haydn Williams, Turquerie: an eighteenth-century European fantasy, New York 2014. 57 Siehe Michael Hofmann, Humanitäts-Diskurs und Orient-Diskurs um 1780: Herder, Lessing, Wieland, in: Charis Goer / Michael Hofmann (Hg.), Der Deutschen Morgenland. Bilder des Orients in der deutschen Literatur und Kultur von 1770 bis 1850, München 2008, S. 37–56. 58 Andreas Pflitsch, Mythos Orient. Eine Entdeckungsreise, Freiburg im Breisgau / Wien / Basel 2003 (Herder-Spektrum, 5408), S. 47. 59 Vgl. ebd., S. 48. 60 Siehe zu ihm Thomas Kramer, Karl May. Ein biografisches Porträt, Freiburg im Breisgau / Wien / Basel 2011 (Herder-Spektrum, 6237).
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rokko, 1881 Tunesien und 1882 Ägypten. Das einst gefürchtete Osmanische Reich degradierte man zum »kranken Mann am Bosporus«.61 In der kollektiven Erinnerung Europas stellte sich im 19. Jahrhundert der Islam gerne so dar, als ob ihm genau diejenigen Qualitäten abgingen, die Europa nach vorne getrieben hatten: wenn Europa nun für Freiheit, Rationalität, Fortschritt und Unternehmertum stand, so wurden die Muslime mit Begriffen wie Unterwürfigkeit, Aberglaube, Stagnation, Irrationalität und Trägheit in Verbindung gebracht.62 Man glaubte, eben diese Charakterzüge in den muslimischen Gesellschaften und insbesondere im Osmanischen Reich erkennen zu können. Während Europa sich in einem furiosen Aufstieg auf dem Weg zur Weltbeherrschung befinde, könne die Geschichte der Türken seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert als eine Geschichte des fortschreitenden Niedergangs verstanden werden. Seit den glorreichen Tagen eines Süleyman des Prächtigen im 16. Jahrhundert sei es mit den Osmanen und ihrer Religion stetig bergab gegangen. Heute befänden sich der türkische Staat und seine Gesellschaft im Zustand eines politischen, militärischen, kulturellen und moralischen Verfalls. Hinter diesem konkreten Beispiel stand die allgemeine Vorstellung von der islamischen Welt als einer im Abstieg befindlichen Zivilisation, die sich fundamental von Europa und seiner Kultur unterscheide.63 Dieses Narrativ wurde im 19. Jahrhundert zur europäischen Metaerzählung. Wenn die Europäer formulieren wollten, wer sie waren, woher sie kamen und wie sie seit dem 16. Jahrhundert zu solch einem Ansehen und zu so einer Machtposition kommen konnten, griffen sie in der Regel auf diese Geschichte zurück. Diese Geschichtskonstruktion deckte sich zum Teil mit den Ideen der Aufklärung, welche die Historie der Menschheit als eine Entwicklung von dunklen mittelalterlichen Zeiten, in denen Ignoranz und Unterdrückung herrschten, hin zu einem strahlenden modernen Zeitalter der Vernunft und der Freiheit festschrieb. Diese negative Sichtweise auf die Osmanen ging mit zwei anderen Strömungen einher. Zum einen wurde die islamische Welt zum exotischen Orient, der als das gänzlich »Andere« jenseits seines degenerierten Zustands eine starke Faszinationskraft auf die Europäer ausübte. Eine nicht unbeträchtliche Zahl an Übersetzungen orientalischer Werke stand dem gebildeten Leser zur Verfügung. 61 Siehe Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871–1914, 3. Aufl., München 2000. 62 Vgl. zum Folgenden Zachary Lockman, Contending Visions of the Middle East. The History and Politics of Orientalism, 2. Aufl., Cambridge / New York 2010 (The Contemporary Middle East, 3), S. 62. 63 Siehe zu diesen Begrifflichkeiten auch Thomas Philipp, Der aufhaltsame Abstieg des Osmanischen Reiches, in: Helmut Altrichter / Helmut Neuhaus (Hg.), Das Ende von Großreichen, Erlangen 1996 (Erlanger Studien zur Geschichte, 1), S. 211–223; Maurus Reinkowski, Das Osmanische Reich – ein antikoloniales Imperium?, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 34–54.
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»1001 Nacht« war nur eines davon.64 Zum anderen begann eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem muslimischen Kulturerbe.65 Am Ende des 18. Jahrhunderts fingen vor allem britische und französische Gelehrte an, Sanskrit zu lernen, wobei die aktive Kenntnis dieser Sprache heiliger Texte in Indien noch über eine lebendige Tradition verfügte. Hinzu kamen Übertragungen aus der klassischen persischen Literatur und in den 1820er Jahren dann die Entzifferung der Hieroglyphen durch Jean-François Champollion (gest. 1832).66 1795 wurde Silvestre de Sacy (gest. 1838) an die École spéciale des Langues orientales nach Paris berufen, und 1821 gründete man die Société Asiatique de Paris.67 Wie sich schon am Ende der Aufklärungszeit abzeichnete, stand bei der Beschäftigung mit dem Orient allerdings immer weniger der Islam als Gegenstand auf der Tagesordnung. Die muslimische Welt wurde geradezu »entislamisiert« und im Gegenzug »orientalisiert«. Dabei versteht man unter einem »orientalischen Diskurs« im Sinn von Edward Said: »ein interessengestütztes Konstrukt, das in monologisierender Form die essentielle Andersartigkeit, oft sogar die Minderwertigkeit des Fremdkulturellen bekräftigt und daraus häufig politische Herrschaftsansprüche, mindestens aber die kulturelle Hegemonie des Westens ableitet.«68 Der orientalische Diskurs macht sich – Edward Said zufolge – die geordnete Welt zum Untertan und somit verfügbar. Er hält sich allein an Regeln, die er sich selbst aufgestellt und gegebenenfalls auch selbst modifiziert hat. Auch wenn dies nicht immer so direkt wie im Imperialismus erkennbar ist, zielt der orientalische Diskurs in letzter Konsequenz auf Herrschaftsausübung und Machtetablierung ab. Er ist, so Said weiter, letzten Endes eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Hatte die Auseinandersetzung mit dem Orient im 17. und 18. Jahrhundert hin und wieder noch dialogischen Charakter, mündete sie schließlich in einen Monolog Europas über einen von ihm selbst konstruierten Gegenstand.69 64 Siehe Robert Irwin, Die Welt von Tausendundeiner Nacht, 2. Aufl., Frankfurt a.M. / Leipzig 2004 (Insel-Taschenbuch, 3044). 65 Siehe Sabine Mangold, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004 (Pallas Athene, 11); Ursula Wokoeck, German Orientalism: The Study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945, London / New York 2009 (Culture and Civilization in the Middle East, 16). 66 Siehe zu ihm Markus Messling, Champollions Hieroglyphen, Philologie und Weltaneignung, Berlin 2012. 67 Siehe Robert Irwin, Oriental Discourses in Orientalism, in: Middle Eastern Lectures 3 (1999), S. 87–110. 68 Jürgen Osterhammel, Wissen als Macht: Deutungen interkulturellen Mißverstehens bei Tzvetan Todorov und Edward Said, in: Eva-Maria Auch / Stig Förster (Hg.), »Barbaren« und »Weiße Teufel«: Kulturkonflikte und Imperialismus in Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1997, S. 145–169, hier: S. 159f. 69 Vgl. ebd.
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Im 19. Jahrhundert stand das europäische Orientbild hauptsächlich auf drei Säulen:70 Zunächst war da die utilitaristische und imperialistische Haltung Europas, die von der Verachtung für andere Kulturen geprägt war; dann existierte ein romantischer Exotismus, beherrscht von der Verzauberung durch einen magischen Orient, der durch seine wachsende Armut noch an Charme gewann; und schließlich die spezialisierte Gelehrsamkeit, die sich vor allem in Form einer historisch-kritischen Philologie manifestierte. Trotz des äußeren Scheins ergänzten sich diese drei Tendenzen eher, als dass sie sich widersprachen. Gemeinsam war allen Strömungen der Gedanke, es gebe verschiedene Kulturen, die sich alle in einem eigenen Gebiet entwickelten und ein ureigenes Wesen besitzen. Die Verwandtschaft der Sprachen legte die Verwandtschaft der Seelen der Völker (»Volksgeist«), ihres tiefsten Wesens nahe, von dem man wiederum annahm, es erkläre alle gesellschaftlichen Phänomene, die in der Geschichte eines Volkes zu erkennen sind.71 Im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelte man in Europa auch ein neues, nunmehr modernes, abstraktes und universal aufgefasstes Verständnis von »Religion«. Jürgen Osterhammel hat in seinem grundlegenden Werk zur Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert72 auf die Entstehung der Vorstellung von »Weltreligionen« in Europa hingewiesen: »Eine große Vielzahl religiöser Orientierungen wurde im neuen Diskurs der Religionswissenschaft zu Makro-Kategorien wie ›Buddhismus‹ oder ›Hinduismus‹ verdichtet. Diese ›Weltreligionen‹, zu denen auch Christentum, Islam, Judentum und nicht selten der Konfuzianismus gezählt wurden, ermöglichten eine übersichtliche Kartographie des Religiösen, seine Zurechnung zu ›Zivilisationen‹ und deren Abbildung auf Weltkarten der ›Großen Religionen‹. Unklare Verhältnisse wurden bis vor kurzem oft mit dem Etikett ›Naturreligionen‹ versehen. Die Fachleute nahmen das Grobraster der Weltreligionen zur Grundlage fein ausgearbeiteter Klassifikationen, sei es von konfessionellen Richtungen, sei es von soziologischen Religionstypen. Hinter dem Konzept der ›Weltreligionen‹ verbarg sich eine fundamentale Annahme, wie sie bis heute das europäische Bild vor allem des Islam bestimmt: Alle Nichteuropäer befänden sich fest im Griff der Religion, ›orientalische‹ und ›primitive‹ Gesellschaften ließen sich am besten über Religion definieren und verstehen. Nur den aufgeklärten Europäern sei es
70 Ich folge hier Maxime Rodinson, Die Faszination des Islam, Deutsch von Irene Riesen, 2. Aufl., München 1991 (Beck’sche Reihe, 290), S. 71–92. 71 Diese Vorstellung führt sich auf Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831) zurück. Siehe Andreas Großmann, Volksgeist – Grund einer praktischen Welt oder metaphysische Spukgestalt? Anmerkungen zur Problemgeschichte eines nicht nur Hegelschen Theorems, in: Andreas Großmann / Christoph Jamme (Hg.), Metaphysik der praktischen Welt. Perspektiven im Anschluß an Hegel und Heidegger, Festgabe für Otto Pöggeler, Amsterdam / Atlanta 2000 (Philosophy and Representation, 7), S. 60–77. 72 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
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gelungen, den Denkzwang des Religiösen zu durchbrechen und sogar ihre eigene Religion, das Christentum, relativierend ›von außen‹ zu betrachten.«73
Die These hat, so Osterhammel weiter, zu einer nachhaltigen Entmaterialisierung, Enthistorisierung und Entpolitisierung des Blicks auch auf die islamischen Gesellschaften beigetragen.74 Klischeehafte Gleichsetzungen suggerieren bis heute eine Beschränkung religiöser Modernisierung auf den Westen, der in der Eigenwahrnehmung als einzige Zivilisation der Erde Religion zur Privatsache erklärt habe und sein Selbstbild auf eine säkulare »Modernität« gründe. Der Orientale, der im Mittelalter zwar ein furchtbarer Feind gewesen war, aber auf derselben Stufe gestanden hatte, der für das 18. Jahrhundert und die aus ihm hervorgegangene Ideologie der Französischen Revolution unter seiner Verkleidung vor allem ein Mensch gewesen war, wurde nun zu einem besonderen Wesen, eingemauert in seine Besonderheit, zu deren Lob man sich gerne herabließ. So entstand die Vorstellung vom homo islamicus, die auch heute noch weit davon entfernt ist, erschüttert zu werden.75 Dieser homo islamicus war, so der europäische Diskurs, ein von dem Europäer vollkommen verschiedenes Wesen.76 Die Europäer nahmen sich selbst in zunehmender Weise als Angehörige einer eigenen und einzigartigen Zivilisation wahr, die sich essenziell von allen anderen Kulturen unterschied. Diese Position untermauerte man mit der Meinung, dass als Schlüsselkategorien der Menschheit letzten Endes nicht Staaten oder Nationen dienten, sondern Zivilisationen, die alle ihr ganz bestimmtes Wesen mit ganz eigenen Wertvorstellungen besaßen.77 Das Individuum hatte keine Chance, sich der Prägung durch die übergeordnete Einheit zu entziehen. Die Geschichte der Menschen stellte sich als Geschichte des Aufstiegs und des Niedergangs von Zivilisationen dar. Die islamische Zivilisation sei jung und voller Elan im 7. Jahrhundert emporgestiegen und habe während der Abbasidenzeit vom 8. bis zum 10. Jahrhundert ihre Blüte und ihr »Goldenes Zeitalter« erlebt, bevor sie dann ihre Dynamik, 73 Ebd., S. 1243. 74 Vgl. ebd., S. 1244. 75 Maxime Rodinson, Europe and the Mystique of Islam, translated by Roger Veinus, Seattle 1987 (Near Eastern Studies, University of Washington, 4), S. 8, zit. nach Lockman, Contending Visions, S. 74; siehe aber auch Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter, Frankfurt a.M. / New York 2015 (Reihe »Globalgeschichte«, 21), S. 63; siehe zum Folgenden ebenfalls Dies., Europa und der Nahe Osten: Der transkulturelle Vergleich in der Vormoderne und die Meistererzählungen über den Islam, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 561–597. 76 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lockman, Contending Visions, S. 74f. 77 Siehe hierzu auch Almut Höfert, Anmerkungen zum Konzept einer »transkulturellen« Geschichte in der deutschsprachigen Forschung, in: Wolfram Drews / Jenny Rahel Oesterle (Hg.), Transkulturelle Komparatistik. Beiträge zu einer Globalgeschichte der Vormoderne (= Comparativ 18, 3–4 [2008]), Leipzig 2008, S. 15–26.
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ihre kulturelle Kreativität und ihre Fähigkeit, sich neue Dinge gewinnbringend anzueignen, verloren habe.78 Die Osmanen stellten dann so etwas wie einen letzten Seufzer vor dem Ende dar, verbunden mit einer letzten territorialen Anstrengung vor dem dann rasch einsetzenden Verfall. Auch der Islam als Religion wurde – dieser Sichtweise zufolge – zunehmend starr, inflexibel, tyrannisch, intolerant und gegenüber äußeren Einflüssen hermetisch abgeschlossen. Er erwies sich aus diesem Grund auch als unfähig, neue Ideen und technisches Wissen aus Europa zu übernehmen. Als Europa nach vorne preschte, verharrte die muslimische Welt in sozialer und kultureller Erstarrung und stagnierte in Form eines grausamen Despotismus.79 Den Islam als eine kohärente und ganz eigene Zivilisation mit einer einheitlichen Kultur anzusehen, führte auch bei vielen Orientalisten zu der Meinung, dass die vorherrschenden Ideen und Institutionen aller muslimischer Gesellschaften, ebenso wie die Interaktionen und Handlungsweisen aller Muslime an allen Orten und zu allen Zeiten, letztlich ein Ausdruck der unveränderbaren Essenz des Islam seien, eine Artikulation seiner ureigensten Werte und Konzepte. Um die islamischen Gesellschaften verstehen zu können, müsse man nur die normativen Texte der klassischen Zeit lesen und studieren. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam noch ein Moment hinzu:80 Im Zuge einer Deutung bzw. Missdeutung der von Charles Darwin (gest. 1882) formulierten Evolutionstheorie entwickelten einige Männer bei gleichzeitigem imperialistischen Hochgefühl die Theorie, dass die kulturelle und politische Überlegenheit Europas nicht allein auf höhere Werte und Institutionen zurückzuführen sei, sondern auf angeborene biologische Eigenschaften der weißen Rasse.81 Die europäische Herrschaft über die islamischen Länder sei daher notwendig, um diesen Zivilisation und Fortschritt zu bringen (mission civilisatrice und The White Man’s Burden). Dabei stellte man den muslimischen Staaten ein idealisiertes Modell der europäischen Geschichte und Gesellschaft gegenüber: Europäische Freiheit versus orientalische Unterwürfigkeit, europäische Rechtsstaatlichkeit versus orientalische Willkür, europäische Moderne versus orientalische Tradition, europäische Eigentumsvorstellungen versus orientalische Gesetzlosigkeit. Angesichts der mentalen und sozialen Mängel der Muslime, die zudem 78 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lockman, Contending Visions, S. 76f. Zur These eines »Goldenes Zeitalters« siehe nun Thomas Bauer, Warum es kein islamisches Mittelalter gab. Das Erbe der Antike und der Orient, München 2018 (C.H. Beck Paperback, 6407). 79 Siehe Rolando Minuti, Oriental Despotism, in: European History Online (EGO), hg. vom Leibniz Institute of European History (IEG), Mainz 03. 05. 2012, zit. nach URL: http://www.ieg -ego.eu/minutir-2012-en, URN: urn:nbn:de:0159–2012050313 [24. 04. 2019]. 80 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lockman, Contending Visions, S. 77f. 81 Siehe Boris Barth, Rassismus, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 03. 12. 2012, zit. nach URL: http://www.ieg -ego.eu/barthb-2010-de, URN: urn:nbn:de:0159–2010092160 [06. 10. 2020].
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noch durch ihre verkrustete und repressive Religion zu leiden hätten, sei es für die Orientalen ein wahrer Segen, dass sie in Form indirekter oder direkter kolonialer Herrschaft unter die Vormundschaft der Europäer gekommen seien.
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Das kurze 20. Jahrhundert (1914–1989)
Der Erste Weltkrieg erschütterte in manchen Bereichen das Selbstvertrauen der europäischen Zivilisation und ihren Glauben an einen unbegrenzten Fortschritt.82 Der europäische Ethnozentrismus wurde zunehmend hinterfragt. Der arabische Aufstand im Osten, die kemalistische Machtübernahme in der Türkei, die Bewegung, welche die allochthonen Nationen des alten Russischen Reiches erfasste, die Aufstände in Indien, Indonesien und anderswo, die persische Revolution 1905–1911 machten deutlich, dass die europäische Hegemonie in Frage gestellt werden konnte. Gleichzeitig blieben im kollektiven Bewusstsein Europas Topoi und Bilder des Orients wie etwa die Vorstellungen einer latenten und schlecht kaschierten Wildheit oder des nationalistisch entfesselten Fanatismus, der sich der zivilisatorischen Energie Europas entgegenstemmte. Nationalistische muslimische Intellektuelle, ob sie nun Reformisten oder Revolutionäre sozialistischer oder nichtsozialistischer Prägung waren, wurden verunglimpft als Nachahmer Europas, die infolge abstrakter und schlecht verstandener Ideen dabei seien, das eigene Erbe zu vernichten. Die islamische Modernisierung galt als ein unechtes Element, als ein Verrat an der Eigenart. Angesichts der Konflikte zwischen kommunistischen, faschistischen und liberalen Systemen, zweier Weltkriege und einer intensiven und blutigen Phase der unter nationalen Vorzeichen geführten Entkolonialisierung, die sich bis in die 1970er Jahre hinzog, rückte die europäische Auseinandersetzung mit dem Islam als Religion in weite Ferne. Erst im Zuge des Sechs-Tage-Krieges (1967), der iranischen Revolution und des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan (beide 1979) kam es in vielen muslimisch geprägten Ländern zu einer massiven Re-Islamisierung. Auch der erste wirkliche Versuch eines gleichberechtigten Religionsgesprächs begann erst nach 1945 im Zuge des Kalten Krieges.83 Im gemeinsamen Kampf gegen den atheistischen Kommunismus suchte man bis in die 1990er Jahre nach Gemeinsamkeiten beider Religionen. Allerdings muss die Grundlage für ein ernsthaftes interreligiöses Gespräch die Anerkennung und Respektierung grundlegender theologischer Unterschiede sein. Obgleich den Muslimen lange 82 Siehe Ian Kershaw, To Hell and Back. Europe 1914–1949, New York 2015 (The Penguin History of Europe, 8). 83 Siehe zum Folgenden Stephan Conermann, Islam, in: Orientierung Weltreligionen. Eine Handreichung, hg. im Auftrage des Bundesministeriums der Verteidigung von Klaus Ebeling, Strausberg / Stuttgart 2010, S. 98–132.
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Zeit durchaus nicht dialogisch zumute war, da sie sich letzten Endes der abschließenden und lange Zeit politisch siegreichen Form des Monotheismus zugehörig wussten, ist es in letzter Zeit zu bedeutsamen Annäherungen von muslimischer Seite gekommen. Ein wirklicher Dialog auf Augenhöhe hat freilich erst im Zuge der Auseinandersetzung um die Anschläge vom 11. September begonnen. Allerdings sind damit auch zahlreiche Probleme in den Mittelpunkt gerückt, die vorher eher am Rande betrachtet wurden. Es geht nämlich nun nicht mehr ausschließlich um dogmatische Fragen, sondern hauptsächlich um das überaus komplexe und nicht triviale Zusammenleben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in europäischen Gesellschaften. Vor dem Hintergrund der Einwanderung bzw. des Zuzugs einer großen Anzahl von Muslimen nach Europa im Zuge von Arbeitsmigration, Entkolonialisierung und verheerenden Kriegen scheint vor allem der Terroranschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Center Abgrenzungsstrategien der europäischen Gesellschaften gegenüber ihren muslimischen Minderheiten und damit auch gegenüber dem Islam als Religion intensiviert zu haben.84 Plötzlich stellten sich Fragen nach einer erfolgreichen Integration der Andersgläubigen, den Möglichkeiten eines multikulturellen Miteinanders und dem Kern der eigenen kulturellen Identität von Neuem. Angesichts des europäischen Einigungsprozesses machten sich viele daran, auch eine europäische Identität entlang einer vermeintlich jüdisch-christlich-antiken Leitkultur zu konstruieren, die die 15– 20 Millionen Angehörigen des muslimischen Glaubens in der Europäischen Union letzten Endes ausschloss.85 Der Islam stellte schnell einen negativ besetzten europäischen Erinnerungsort dar. Dabei griff und greift man auf sehr viele Argumentationsmuster zurück, die, wie zu zeigen war, seit der ersten Begegnung mit der monotheistischen Schwesterreligion durch die Geschichte geistern. Leider sind solche Diskurse bisweilen sehr wirkmächtig und führten nicht selten zu fatalen Ausgrenzungsprozessen.
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84 Siehe Bernd Greiner, 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011. 85 Siehe den Artikel »›Multikulturalismus‹ oder deutsche ›Leitkultur‹ als Maximen der ›Integration‹ von Ausländern« in: Egbert Jahn, Politische Streitfragen, Bd. 2: Deutsche Innen- und Außenpolitik, Wiesbaden 2012, S. 58–75.
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Peter Geiss
Das Thema Religion im Geschichtsunterricht – fachspezifische Fragen und Zugänge
Einführung1 »Es war aber der sechste Tag und die neunte Stunde und schien göttlicher Vorsehung zu entsprechen, dass zu dem Tag und der Stunde, da der Herr in derselben Stadt für das Heil der Welt gelitten hatte, nun auch das für den Ruhm des Erlösers kämpfende Volk die glückliche Erfüllung seines Sehnens erreichte: am selben Tag nämlich wurde der [Heiligen] Schrift zufolge sowohl der erste Mensch geschaffen als auch der zweite für das Heil des ersten dem Tod überantwortet, weswegen es sich ziemte, dass seine Glieder und Nachahmer in seinem Namen über seine Feinde triumphierten. […] Weiterhin durchstreiften der Herzog und seine Begleiter die Gassen und Straßen der Stadt, gedeckt durch Schilde und Helme, in geschlossener Kolonne, und streckten mit dem Schwert so viele Feinde nieder, als sie nur finden konnten, dabei unterschiedslos weder Alter noch Stand schonend. […] […] So groß war aber das Gemetzel unter den Feinden und das Blutvergießen, dass es sogar den Siegern Ekel und Schrecken einflößen könnte. […] Nachdem die Verhältnisse in der Stadt so geordnet [Sicherungsmaßnahmen, u. a. Besetzung der Türme durch christliche Wachen, Anm. P. Geiss] und die Waffen niedergelegt worden waren, begannen sie im Geist der Demut und reuigen Gemüts mit gewaschenen Händen, reineren Gewändern und bloßen Füßen die ehrwürdigen Orte, die der Erlöser durch seine eigene Gegenwart verherrlichen und heiligen wollte, mit ganzer Frömmigkeit und mit innersten Seufzern zu küssen, insbesondere aber die Kirche der Passion und Auferstehung des Herrn, wo der Klerus und das Volk der Gläubigen, das all die Jahre das Joch einer allzu harten und unverdienten Knechtschaft getragen hatte, die
1 Der vorliegende Aufsatz ist aus einem Vortrag hervorgegangen, den ich am 16. 11. 2017 im Rahmen folgender Tagung und Lehrerfortbildung gehalten habe: »Christen und Muslime in Mittelalter und Frühneuzeit – ein Schlüsselthema des Geschichtsunterrichts im interdisziplinären Fokus« (Haus der Geschichte, Bonn). Für die kritische Durchsicht des diesem Aufsatz zugrundeliegenden Vortragsmanuskripts danke ich Frau Magdalena Kämmerling, für die redaktionelle Bearbeitung des vorliegenden Beitrags Jonas Bechtold und Merlin Schiffers, für Unterstützung bei der Literaturbeschaffung auch Janna Schulz, James Krull und wiederum Merlin Schiffers, der auch die Erstellung des Quellen- und Literaturverzeichnisses übernommen hat. Für letzte Korrekturen unmittelbar vor dem Druck gilt mein Dank Roland Ißler.
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Fürsten mit Hymnen und Gesängen hineingeleitete. Dabei sagten sie Dank und gingen diesen mit den Reliquien der Heiligen entgegen.«2
Diese Auszüge aus der Chronik des Wilhelm von Tyrus, Kanzler des christlichen Königreiches von Jerusalem, schildern den Massenmord an der nichtchristlichen Bevölkerung der Heiligen Stadt unmittelbar nach deren Eroberung durch die Kreuzfahrer im Jahr 1099. Auch heute, im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts, ist dieser Text noch immer eine belastende Lektüre. Dies dürfte jedenfalls für die allermeisten Leser3 gelten, und zwar ganz unabhängig von ihrem religiösen, kulturellen oder politischen Hintergrund. Für jene Christen unter ihnen, die in der Bergpredigt Jesu4 den Kern ihres Glaubens sehen, muss es besonders schmerzlich sein, dass bei Wilhelm von Tyrus ausgerechnet die Leidensgeschichte des zur Feindesliebe aufrufenden Erlösers herangezogen wird, um ein grausames Massaker zu rechtfertigen, ja zu verherrlichen.5 Eine schrecklichere Pervertierung des Christentums ist – von den Evangelien her gedacht – kaum vorstellbar. Gerade weil der christliche Glaube, in dessen Namen hier gemordet wurde, genau wie der Islam und das Judentum heute noch zu den lebendigen Weltreligionen gehört, sind das Geschehen von 1099 und auch der Blick des Wilhelm von Tyrus darauf immer noch von schmerzlicher und potenziell auch gefährlicher Relevanz.6
2 [Wilhelm von Tyrus] Guillaume de Tyr, Chronique, édition critique par R.B.C Huygens, Turnhout 1986, Bd. 1 (Corpus Christianorum: Continuatio Mediaevalis, 63), 8,18–19 (S. 410f.), deutsche Übersetzung von Peter Geiss unter Heranziehung der französischen Übertragung in Guillaume de Tyr, Histoire des croisades, hg. von François Guizot, Paris 1824 (Collection des mémoires relatifs à l’histoire de France), S. 451–457, zit. online (URL hier und bei allen weiteren auch gedruckt vorliegenden Digitalisaten zur Entlastung des Fußnotenapparats ausschließlich im Quellen- bzw. Literaturverzeichnis angegeben); lateinische Textauszüge und weitere Quellen verfügbar in Peter Geiss / Daniel G. König, Religion und Gewalt: die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer (1099). Unterrichtskonzept für eine Doppelstunde in der Sekundarstufe II, zit. nach URL: https://www.digitale-quellen.uni-bonn.de/didaktische-bei spiele/unterrichtskonzept-sek-ii-inhaltsfeld-2-1/view [04. 09. 2020]; angeregt durch Bibliothèque nationale de France (Hg.), Les Croisades, Quellendossier, zit. online. 3 Bei Personen steht die grammatisch männliche Form – sofern durch den Kontext nicht eindeutig anders bestimmt – für alle Geschlechter. 4 V. a. folgende Aussage Jesu: »Ich aber sage euch, liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.« Matthäus 5,44–45, hier zit. nach Luther-Bibel, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1984, S. 8. 5 Auf eine für heutige Christen »schockierende Fremdartigkeit« von Gewalt im mittelalterlichen Christentum verwies mit Blick auf das Reformpapsttum bereits Gerd Althoff, »Selig sind, die Verfolgung ausüben«. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Stuttgart 2013, S. 12; Zusammenfassung zentraler Thesen zudem in Ders., Selig sind, die Verfolgung ausüben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08. 12. 2010 (Nr. 286), S. N4. 6 Vgl. mit Blick auf die muslimische Erinnerung bis heute Althoff, »Selig sind«, S. 124 (dort einschlägige Literatur).
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Besonders verstört, dass der Autor des Berichts nicht einmal zu den größten Fanatikern und Scharfmachern der Kreuzzugsgeschichte gehörte: Gemessen an den Maßstäben seiner Zeit war Wilhelm von Tyrus wohl Muslimen gegenüber relativ ›tolerant‹, sofern der Begriff für das Mittelalter überhaupt geeignet ist.7 Er blickt hier auf die Einnahme der Heiligen Stadt durch die Kreuzfahrer im Jahr 1099 zurück und orientiert sich in seiner Darstellung möglicherweise an der Vorlage des antiken Historikers Flavius Iosephus, der die Einnahme Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. geschildert hatte.8 In jedem Fall kann der Text des Wilhelm von Tyrus nicht als Zeitzeugenbericht gelten, da er mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ereignis entstand.9 Dennoch verweist die Quelle auf einen Zusammenhang, der für die Thematisierung von Religion im historischen Lernen wichtig ist: Religion wurde und wird herangezogen, um massive Formen von Gewalt zu rechtfertigen. Gerd Althoff ging sogar so weit, die Kreuzzugspredigt des Reformpapstes Urban II. unmittelbar für das Gemetzel verantwortlich zu machen, das die bewaffneten Christen 1099 in der Heiligen Stadt verübten.10 Kreuzzugsbeteiligte haben Althoff zufolge in einem Brief an Urban II. selbst bestätigt, dass »die Unsrigen im Blute der Sarazenen ritten bis zu den Knien der Pferde«.11 7 Zur auf der Vertrautheit mit dem Islam basierenden ›Toleranz‹ des Wilhelm von Tyrus: Rainer Christoph Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz. Studien zu Wilhelm von Tyrus, Stuttgart 1977 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 15), S. 15. Daniel G. König schlägt in seinem Beitrag im vorliegenden Band vor, den Toleranzbegriff nicht auf mittelalterliche Kontexte anzuwenden und stattdessen von »hierarchisiertem Religionspluralismus« zu sprechen. 8 Den Hinweis auf Iosephus als Vorlage mittelalterlicher Schilderungen der Ereignisse von 1099 verdanke ich Matthias Becher. Vgl. zur Diskussion über die Anlehnung an Flavius Iosephus Philippe Buc, Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums, aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Darmstadt 2015, S. 276. Buc warnt allerdings davor, den Einfluss des Iosephus auf Wilhelm zu überschätzen und den Realitätsgehalt der Massakerdarstellung zu relativieren. Vgl. ebd.; ähnlich auch Althoff, »Selig sind«, S. 128; anders akzentuiert dagegen Nikolas Jaspert, Die Kreuzzüge, 4. Aufl., Darmstadt 2008 (Geschichte kompakt), S. 42. Zu Darstellungen des Massakers in den Quellen ferner: Thomas F. Madden, Rivers of Blood. An Analysis of One Aspect of the Crusader Conquest of Jerusalem, in: Revista Chilena de Estudios Medievales 1 (2012), S. 25–37, zit. online. 9 1173 bis 1184. Vgl. Schwinges, Kreuzzugsideologie und Toleranz, S. 39. 10 Vgl. Althoff, »Selig sind«, S. 123 (Althoff geht allerdings nicht von einer päpstlichen Planung des Massakers aus). 11 »[…] nostri equitabant in sanguine Saracenorum usque ad genua equorum.« Deutsch und lateinisch hier zit. nach Althoff, »Selig sind«, S. 139. Allerdings gab es auch christliche Kreuzzugskritik: Klaus Schreiner, Einführung, in: Ders. (Hg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 78), S. VII–XXIII, hier S. XVII und Ludwig Schnugge, »Deus lo vult?« – Zu den Wandlungen der Kreuzzugsidee im Mittelalter, in: ebd., S. 94–108, hier S. 97– 100.
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Der französische Mediävist Philippe Buc sprach in diesem Zusammenhang von »eschatologischer Gewalt« – es geht also um eine Form der Gewalt, welche die Welt aus Sicht ihrer Akteure an ihr gottgewolltes Ende führt.12 Gewalt ist natürlich nicht die einzige Wirkungsweise von Religion auf das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. Religiöse Motive fördern nicht nur Mord und Totschlag, sondern auch sozialen Zusammenhalt, Hilfe für Bedürftige und politische Stabilität – in diesem Punkt ist dem Geschichtsdidaktiker und Neuzeit-Historiker Frank-Michael Kuhlemann zuzustimmen, der die Ambivalenz des Religiösen in der Geschichte betont.13 Diese Ambivalenz dürfte ihre Ursache in den Absolutheitsansprüchen haben, die zumindest den monotheistischen Religionen immanent sind, wobei auch die These vertreten wurde, dass der von anfänglichen polytheistischen Prägungen befreite »reflektierte Monotheismus« (Erich Zenger) des alten Israel Gewalt abgelehnt und sogar universalistische Friedensideale hervorgebracht habe.14 Unzweifelhaft dürfte sein, dass religiöse Faktoren die Geschichte wesentlich geprägt haben und prägen – und zwar nicht nur im Sinne ideologischer Vorwände zur Kaschierung anderer, z. B. materieller Interessen, sondern als echte Glaubensüberzeugungen.15 Vor diesem Hintergrund ist es unverzichtbar, Religion im Geschichtsunterricht als historischen Faktor ersten Ranges zu thematisieren. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie 12 Vgl. Buc, Heiliger Krieg, S. 24, 36 und 290; zit. in Peter Geiss, Unterwegs zum »Ende der Geschichte«? Internationale Politik und Narrativität 1789–2016, in: Ders. / Dominik Geppert / Julia Reuschenbach (Hg.), Eine Werteordnung für die Welt? Universalismus in Geschichte und Gegenwart, Baden-Baden 2019, S. 331–363, hier S. 337. 13 Vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 12. 2015, S. 7. In der Perspektive der historischen Friedens- und Konfliktforschung diskutiert die Ambivalenz des Religiösen ausführlich der Beitrag von Peter Arnold Heuser im vorliegenden Band. 14 Zu den beiden hier sehr verkürzt referierten Interpretationsrichtungen: Jan Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, in: Peter Walter (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott, Freiburg / Basel / Wien 2005 (Quaestiones disputatae, 216), S. 18–38 sowie dagegen argumentierend Erich Zenger, Der Mosaische Monotheismus im Spannungsfeld von Gewalttätigkeit und Gewaltverzicht. Eine Replik auf Jan Assmann, in: ebd., S. 39–73, insbes. S. 67. Ausführlicher behandelt dieses Problemfeld der Beitrag von Peter Arnold Heuser, dem ich die Kenntnis dieser Debatte verdanke, im vorliegenden Band (im Rekurs auf Jan Assmann, Andreas Hasenclever und Volker Rittberger). Zur Überwindung dieser Absolutheitsansprüche in den Religionsfrieden der Neuzeit ferner bereits Peter Arnold Heuser, Vom Augsburger Religionsfrieden (1555) zur konfessionellen Friedensordnung des Westfälischen Friedens (1648), in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2017 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 2), S. 47– 68. 15 Vgl. in Bezug auf Ideen Buc, Heiliger Krieg, S. 17. Jacob Burckhardt betrachtete die Religion neben Kultur und Staat als eine der »drei Potenzen« der Weltgeschichte: Ders., Weltgeschichtliche Betrachtungen, erw. Ausg., hg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1978 (Kröners Taschenausgabe, 55), S. 29.
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dies fachspezifisch im historischen Lernen geschehen kann. Dies wird unter Berücksichtigung von vier Hauptgesichtspunkten geschehen: 1. Abgrenzung von Religions- und Geschichtsunterricht 2. Religionswissen als Teil allgemeiner kulturgeschichtlicher Bildung 3. Ein Schlüsselproblem: Die Frage nach der Trennung zwischen säkularer und religiöser Sphäre 4. Zwischen Menschlichkeit und Massaker: Religion als ambivalenter Faktor in der Geschichte
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Abgrenzung von Religions- und Geschichtsunterricht
Die Abgrenzung von Religions- und Geschichtsunterricht ist auf den ersten Blick sehr einfach: Religionsunterricht, sei er katholisch, evangelisch, jüdisch oder islamisch, kann Religion nur aus einer Innenperspektive betrachten. So ist die »Perspektive« des evangelischen Religionsunterrichts dem nordrhein-westfälischen Kernlehrplan zufolge »durch ein Verständnis des Menschen und seiner Wirklichkeit geprägt, das in der biblisch bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen gründet.«16 Es geht hier ganz klar nicht nur um irgendwelche Vorstellungen von Gott, sondern um das, was die Bibel von realen Erlebnissen mit ihm offenbart. Entsprechend weist auch der islamische Religionsunterricht eine klare Bekenntnisfundierung auf, die der Kernlehrplan zum Ausdruck bringt.17 Davon kann im Geschichtsunterricht keine Rede sein. Hier wird Religion als ein – wenn auch zentraler – historischer Faktor neben anderen betrachtet. Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt religiöser Offenbarungen spielt dabei keine Rolle.18 Allerdings müssen Lehrkräfte im Fach Geschichte damit rechnen, dass religiöse Überzeugungen der Schüler die Wahrnehmung historischer Prozesse beeinflussen. Ein gläubiger Christ wird die Geschichte der Christenverfolgungen im Römischen Reich vielleicht mit anderen Gefühlen betrachten als ein Kind 16 Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Evangelische Religionslehre, Düsseldorf 2011, S. 9, zit. online. 17 Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Islamischer Religionsunterricht, Düsseldorf 2014, S. 10, zit. online. 18 Isabelle Saint-Martin brachte diese Herangehensweise mit Blick auf das laizistische Schulsystem Frankreichs treffend auf den Punkt: »Il s’agit de prendre acte de la présence de faits religieux sous l’angle de la connaissance et de non de la croyance«. Isabelle Saint-Martin, Enseigner les faits religieux, quelques réflexions à l’issue d’un colloque, in: Histoire, monde et cultures religieuses 32, 4 (2014), S. 135–141, hier S. 136, zit. online; vgl. ähnlich auch FrankMichael Kuhlemann, Glaube und Religion im Geschichtsunterricht. Von der Notwendigkeit einer perspektivischen Erweiterung des historischen Lernens, in: Lernen aus der Geschichte, 7. 9. 2016, zit. online.
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oder Jugendlicher ohne religiösen Hintergrund. Nichtreligiöse Lernende werden kaum nachvollziehen können, wieso Menschen in der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. ihr Leben riskierten oder im Martyrium verloren, ›nur‹ um ein rein formales Opfer für die römischen Staatsgötter zu vermeiden.19 Christliche und muslimische Schüler werden die religiöse Motivation hinter diesem lebensgefährlichen Verhalten eher begreifen. Religiöse Überzeugungen sind also nicht notwendigerweise immer hinderlich für das historische Verstehen, sondern können diese sogar unterstützen. Eigene religiöse Überzeugungen erleichtern es, die Motivationskraft von Religion in der Geschichte nachzuvollziehen. Zudem bieten sie über religionsbezogenes Wissen auch Dekodierungsvoraussetzungen im Umgang mit religiös aufgeladenen Quellen. Auch wenn Geschichtsunterricht bei der Behandlung religiöser Thematiken streng neutral sein muss, wäre es deshalb verfehlt, religiöse Lernvoraussetzungen bei den Lernenden ungenutzt zu lassen.20 So könnten etwa muslimische Schüler im Unterricht Gelegenheit erhalten, die Funktion von Räumen und Ausstattungselementen der großen Freitagsmoschee von Córdoba zu erläutern.21 Vielleicht gelänge es Einzelnen mit Arabischkenntnissen sogar, kalligraphische Koraninschriften an den Wänden der Moschee zu entziffern. Ähnliches gilt für die Behandlung einer mittelalterlichen Kathedrale, wie wir sie in Teilen des Kölner Doms vor uns haben. Wenn katholische Schüler bei einem Besuch dieser Kirche vor dem Dreikönigsschrein stehen, können sie aus ihrem religiösen Wissen heraus andersgläubigen oder nichtreligiösen Mitschülern deutlich machen, was es mit der biblischen Erzählung von den Weisen aus dem Morgenland auf sich hat. Dies ist ohne Zweifel ein kultur19 Vgl. Joachim Molthagen, Der römische Staat und die Christen im zweiten und dritten Jahrhundert, Göttingen 1970 (Hypomnemata, 28), S. 64f.; Bruno Bleckmann, Zu den Motiven der Christenverfolgung des Decius, in: Klaus Peter Johne / Thomas Gerhardt / Udo Hartmann (Hg.), Deleto paene imperio Romano. Transformationsprozesse des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 57–71; weitere Literatur dazu in: Peter Geiss, »Wozu brauche ich das alles im Unterricht?« – Geschichtswissenschaft in der Lehrerbildung, in: Ders. / Roland Ißler / Rainer Kaenders (Hg.), Fachkulturen in der Lehrerbildung, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2016 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 1), S. 61–94, hier S. 83. Anders als die monotheistischen Religionen interessierte sich der pagane römische Staat vorrangig für politische Loyalität, nicht aber für Glaubenswahrheiten. Vgl. Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diokletian bis Justinian 284–565 n. Chr., München 1989 (Handbuch der Altertumswissenschaft, III, 6), S. 415; vgl. demgegenüber zu den Intoleranzrisiken der Monotheismen (im Anschluss an Jan Assmann) Lutz Berger, Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen, München 2016, S. 25. 20 Die im Folgenden exemplarisch ausgeführte Anregung, das Expertenwissen religiös sozialisierter Schüler für den Unterricht nutzbar zu machen, verdanke ich dem Gedankenaustausch mit einer Religionslehrkraft, die an dieser Stelle nicht namentlich genannt werden möchte. 21 Ausführlich vorgestellt in Marianne Barrucand / Achim Bednorz, Maurische Architektur in Andalusien, Köln 1992, S. 70–86.
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geschichtlich bedeutsamer Bildungsbeitrag. Die herausragende Rolle Kölns im Mittelalter war ja nicht unwesentlich von der Strahlkraft der Reliquien dieser Weisen geprägt, nachdem Erzbischof Rainald von Dassel sie 1166 erworben hatte.22 Kurz: Geschichtsunterricht muss bei der Behandlung religiöser Strukturen und Kräfte des Geschichtlichen23 im Gegensatz zum Religionsunterricht streng neutral sein. Zugleich sollte er sich aber mit Blick auf seine Erkenntniswege nicht als ›religionsblind‹ erweisen, sondern religiöse Hintergründe seiner Adressaten wertschätzend ins Unterrichtsgeschehen einbeziehen, sofern dies in deren Sinne ist und so sensibel geschieht, dass sie sich nicht auf die Rolle des ›Gläubigen vom Dienst‹ reduziert fühlen.
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Religionskundliches Wissen als Teil allgemeiner kulturgeschichtlicher Bildung
Im laizistischen Frankreich gibt es seit einigen Jahren eine Debatte über den richtigen Umgang mit Religion im Geschichtsunterricht. Um die Neutralität staatlicher Unterrichtsinstitutionen auch begrifflich deutlich zu machen, spricht man dort in didaktischen Zusammenhängen häufig nicht von Religion, sondern von der »religiösen Tatsache« (»fait religieux«).24 Die Distanz des Bildungssystems gegenüber der Sphäre des Religiösen drückt sich darin aus, dass Religion eben ein gesellschaftliches Phänomen neben anderen ist – nicht mehr und nicht weniger.25 Schon vor Jahren wurde in Frankreich diskutiert, wie mit dem Problem umgegangen werden soll, dass eine wachsende Zahl von Schülern über kein religiöses Grundwissen mehr verfügt.26 Dies gilt deshalb als Herausforderung für die historische Bildung, weil mit dem fehlenden religiösen Wissen ein großer Teil des französischen Kulturerbes (patrimoine) nicht mehr erschlossen werden kann.27 Es geht also letztlich um die kulturgeschichtliche Bildungsfunktion dieses Wissens.28 Wer keinerlei Wissen über das Christentum besitzt, wird z. B. die 22 Vgl. Wilhelm Janssen, Kleine Rheinische Geschichte, Düsseldorf 1997 (Veröffentlichungen des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn), S. 95. 23 Dazu Bärbel Kuhn / Astrid Windus (Hg.), Religiöse Dimensionen im Geschichtsunterricht, St. Ingbert 2012 (Historica et Didactica). 24 Vgl. Saint-Martin, Enseigner les faits religieux. 25 Mireille Estivalèzes, L’enseignement du fait religieux. Un nécessaire débat, in: Philippe Barlet (Hg.), L’Histoire et la religion. Réflexions et ressources pour la recherche et l’enseignement en histoire du fait religieux, unter Mitarbeit von Jean-Marie Génard, Orléans 2005, S. 17–20; Bärbel Kuhn / Astrid Windus, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Religiöse Dimensionen im Geschichtsunterricht, S. 7. 26 Vgl. ebd. und Estivalèzes, L’enseignement du fait religieux. 27 Vgl. ebd., S. 18. 28 Vgl. ebd.
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Architektur, Ausstattung und Ikonographie einer Kathedrale überhaupt nicht verstehen können; große Teile der europäischen Literatur werden ihm verschlossen bleiben, soweit sie auf christlich-jüdische Traditionen rekurrieren. Ohne religionsbezogenes Wissen halten Schüler Beichtstühle in katholischen Kirchen eventuell für merkwürdig überdimensionierte Kleiderschränke und werden auch nicht verstehen, was es mit Minaretten von Moscheen auf sich hat. Auch welthistorische Schlüsselereignisse bleiben ohne Minimalkenntnis religiöser Hintergründe unverständlich.29 Der eingangs zitierte Bericht über das Massaker bei der Einnahme Jerusalems mag zudem verdeutlichen, dass religionsbezogenes Wissen eine wichtige Grundlage für die Interpretation von Textquellen darstellt. Welthistorisch bedeutsame Ereigniszusammenhänge wie der Erste Kreuzzug oder die Reformation sind quellenbezogen und auch sonst nur verständlich, wenn der Geschichtsunterricht selbst solches Wissen bereitstellt.30 Die eingangs zitierten Passagen aus der Chronik des Wilhelm von Tyrus machen dies deutlich: Schüler, die nichts von der Passion Christi oder der Erschaffung des Menschen am sechsten Schöpfungstag (1. Mose 1,26–31) wissen, werden die eschatologische Ausdeutung des Ereignisses von 1099 nicht einmal im Ansatz als solche erkennen können. Es geht aber nicht nur um schulische Quelleninterpretationen. Religionsbezogene Unwissenheit kann leicht zu einer Partizipationshürde werden, verhindert sie doch die informierte Teilhabe an wesentlichen Formen gesellschaftlicher Erinnerungsund Debattenkultur. Für einen Geschichtsunterricht mit gymnasialem Bildungsanspruch kann es nicht akzeptabel sein, diese Herausforderung zu ignorieren. Deshalb muss der Geschichtsunterricht noch lange nicht zu einem religionskundlichen Ersatzfach werden. Dies kann er gar nicht leisten, da er ja durchaus eine Fülle weiterer Felder des menschlichen Zusammenlebens in der Zeit zu bearbeiten hat. Um das Christentum als weltgeschichtlichen Faktor zu verstehen, ist es aber auch gar nicht notwendig, seine hochkomplexe Dogmatik und Dogmengeschichte nachvollziehen zu können. Auch Menschen des Mittelalters und 29 Dass die Vermittlung solcher Kenntnisse in einem Schulgeschichtsbuch prinzipiell möglich ist, zeigen Florian Helfer und Sandra Müller-Tietz im vorliegenden Band am Beispiel des für die Sekundarstufe II bestimmten Lehrwerks Horizonte, in dem sich umfangreiche Erläuterungen nicht nur zur Entstehungsgeschichte des Islam, sondern auch zu zentralen theologischen Begriffen, zum Aufbau des Koran und zu grundlegenden religiösen Praktiken (»Säulen des Islam«) finden: Ulrich Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte. Geschichte Einführungsphase. Sekundarstufe II. Nordrhein-Westfalen, Braunschweig (Westermann) 2014, Kapitel »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und Neuzeit«, Unterkapitel »Die islamische Welt im Mittelalter – Religion und Herrschaft«, S. 92–103 (Gesamtautorschaft nicht ermittelbar; es werden in den Materialien Wissenschaftler wie Rudi Paret, Heinz Halm, Jenny Oesterle, Adel Khoury und Kay Peter Jankrift zitiert). Eine eingehende, über Stichproben hinausgehende Analyse der Darstellung von Islam und Christentum in aktuellen Schulgeschichtsbüchern ist nicht das Ziel des vorliegenden Beitrags. 30 So treffend Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, S. 7.
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der Frühen Neuzeit, die sich in einer von Gott gewollten ständischen Ordnung sahen, verfügten mehrheitlich sicher nicht über theologische Detailkenntnisse. Die Rechtfertigungslehre ist für die Theologie Martin Luthers bekanntermaßen zentral31 – aber bis zu welchem Grad muss man sie nachvollziehen können, um die Bedeutung des Religiösen für die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts zu verstehen? Es würde im Geschichtsunterricht vielleicht zu weit führen, Luthers Reflexionen über das richtige Verhältnis von Glaube und »Werken« in der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen zu behandeln.32 Für das historische Lernen entscheidend ist im theologischen Denken des Reformators vermutlich etwas Anderes und für Kinder und Jugendliche sicherlich auch leichter Verständliches: die Aussage, dass jeder Mensch eine individuelle, nicht auf kirchliche Vermittlung angewiesene Beziehung zu Gott aufbauen kann – in den Worten Luthers: »Überdies sind wir Priester, das ist noch viel mehr, als König zu sein; darum daß das Priestertum uns würdig macht, vor Gott zu treten und für andere zu bitten.«33 Elementarer als die Kenntnis der Rechtfertigungslehre ist überdies auch das elementare Wissen darum, was es bedeutet, wenn die Gesellschaftsordnung und das Leben des Einzelnen von einer transzendenten Macht her strukturiert wird.34 Die politischen und gesellschaftlichen Implikationen dieses Ansatzes waren schon innerhalb des protestantischen Lagers hoch kontrovers, und Luthers Verurteilung der aufständischen Bauern zeigt, dass er alles andere als ein religiöser Sozialrevolutionär war, sich also weigerte, die Freiheit des »Christenmenschen« vor Gott in eine weltliche Freiheit, etwa von Leibeigenschaft, zu übersetzen.35 Die in seiner Lehre angelegte politisch-gesellschaftliche Explosionskraft manifestierte sich aber trotzdem: Man denke an den stark theologisch grundierten Bauernkrieg von 1525, die Nutzung der Reformation durch Reichsfürsten und Städte, nicht zuletzt auch an die blutigen Konfessionskonflikte des 16. und 17. Jahrhunderts.36 31 Vgl. Christiane Tietz, Teilartikel »Rechtfertigung, dogmengeschichtlich, 3. Reformation und altprotestantische Orthodoxie«, in: Hans Dieter Betz u. a. (Hg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. völlig neu bearb. Aufl., ungekürzte Studienausgabe, Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 105–107. 32 Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation – Von der Freiheit eines Christenmenschen – Sendbrief vom Dolmetschen, hg. von Ernst Kähler, Stuttgart 1995, oben zit. Schrift dort S. 110–150, hier S. 128–130. 33 Ebd., S. 135. 34 Vgl. Peter Blickle, Religion und Freiheit: Reformation, in: Kuhn / Windus (Hg.), Religiöse Dimensionen im Geschichtsunterricht, S. 61–73 sowie den Unterrichtsentwurf Peter Geiss, Kreatives Schreiben und historisches Verstehen in der gymnasialen Oberstufe. Ein produktionsorientiertes Konzept zum deutschen Bauernkrieg 1525, in: ebd., S. 135–145. 35 Vgl. Blickle, Religion und Freiheit, S. 63. 36 Vgl. zu einigen dieser Wirkungen und Nutzungen Peter Blickle, Die Reformation im Reich, 2., überarb. Auflage, Stuttgart 1992 (UTB, 1181), insbes. S. 173–179.
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Denn Glaubensvorstellungen sind nicht nur Vorwände für politisch-gesellschaftliche Veränderungen, die Ausübung von Herrschaft und Gewalt – sie weisen dem interessengeleiteten Handeln der Menschen oft genug die Richtung.37 Dies könnte ein oberflächlich ideologiekritisch ausgerichteter Unterricht nicht deutlich machen, der vorrangig nach materiellen Hintergründen menschlichen Handelns fragen und Glaubensüberzeugungen als bloße Drapierungen einer »eigentlichen«, vom Streben nach Macht und Besitz beherrschten Agenda verstehen würde.38 Es geht in den Kriegen dieser Erde aber nicht immer nur um Landerwerb, Öl oder andere Ressourcen – es geht oft genug (auch) um die Umsetzung dessen, was die Akteure als den Willen Gottes wahrnehmen.39
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Ein Schlüsselproblem: Die Frage nach der Trennung zwischen säkularer und religiöser Sphäre
Der Oberstufenlehrplan des an Schülern mit Abstand bevölkerungsreichsten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen40 widmet der Interaktion zwischen Christen und Muslimen im Mittelalter eines von insgesamt sieben Inhaltsfeldern: »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit«.41 Unter den Schwerpunkten dieses Inhaltsfeldes findet sich das Thema »Religion und Staat«.42 Dass der Staatsbegriff für das Mittelalter zumin-
37 So Buc, Heiliger Krieg, S. 17 (im Rekurs auf Max Webers »Weichensteller«-Metapher). 38 Kuhlemann bemängelt vor diesem Hintergrund, dass Religion »als Appendix des Politischen« unterschätzt werde; Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, S. 7. Das Ernstnehmen von Religion als historischer Handlungsmacht bedeutet natürlich nicht, dass Ideologiekritik im historischen Lernen obsolet würde. Vgl. mit zahlreichen Anregungen Klaus Bergmann, Ideologiekritik, in: Ulrich Mayer / Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider (Hg.), Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, 2. überarb. Aufl., Schwabach/Ts. 2007 (Forum Historisches Lernen), S. 137–151. 39 Bucs Monographie ist im Ganzen nichts anderes als der Versuch, diese These durch Beispiele aus dem christlichen Spektrum unter Einschluss seiner säkularen Fortentwicklungen zu belegen. Vgl. zu diesem Ansatz auch das klassische Werk von Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart / Weimar 2004 (dt. EA 1952). 40 Im Schuljahr 2018/19 belief sich die Schülerzahl hier auf gut 2,5 Millionen, während an zweiter Stelle Bayern mit nur knapp 1,7 Millionen Schülern folgte. Genaue Zahlen in: Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 090 vom 12. 03. 2019, zit. nach URL: https://www.destatis.de /DE/Presse/Pressemitteilungen/2019/03/PD19_090_211.html [19. 04. 2019]. 41 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2014, S. 24, zit. online. 42 Ebd.
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dest problematisierungsbedürftig ist, bedarf hier keiner weiteren Erörterung.43 Vielleicht sollte man ihn lieber vermeiden, weil er zu viele neuzeitliche Vorstellungen transportiert. Übersetzt man die Formulierung »Religion und Staat« damit, dass es hier um die Frage nach der Trennung zwischen einer religiösen und einer möglicherweise säkularen Sphäre gehen soll, dann wird damit ein überaus gegenwartsrelevantes Problem angesprochen. Eine bekannte Visualisierung dieser beiden Sphären ist in dem berühmten Sachsenspiegel des 14. Jahrhunderts erhalten.44 In einer bildlichen Darstellung thront Christus, der zwei Schwerter in seinen beiden Händen hält. Zu seiner Rechten empfängt der Kaiser von ihm das weltliche, zu seiner Linken der Papst das geistliche Schwert. Die hier angedeutete Gegenüberstellung geistlicher und weltlicher Bereiche ist sehr aktuell. Denn die Staaten der Europäischen Union definieren sich heute ganz überwiegend als säkular, auch wenn es z. B. bekanntermaßen im bundesdeutschen Grundgesetz einen Gottesbezug45 gibt und Religionsgemeinschaften natürlich auch in säkularen Staaten politisch einflussreich sein können. Der französische Laizismus ist nur eine besonders scharfe und kämpferische Ausprägung eines Standards, der sich in den Friedensordnungen nach den blutigen Konfessionskonflikten der Frühen Neuzeit46 herauszubilden begann: Europäische Verfassungsstaaten verordnen ihren Bürgern keine Glaubensüberzeugungen mehr und sie hindern sie auch nicht an ihrer Religionsausübung; zugleich dulden diese Staaten keine allzu weitgehende Einflussnahme religiöser Gemeinschaften auf das politische Leben.47 Der Historiker Heinrich-August Winkler sieht in der – tendenziellen, nicht absoluten – Trennung zwischen religiöser Sphäre und Staat ein langfristiges Merkmal des Okzidents. Er leitet diese Besonderheit aus dem Jesuswort »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist« ab und sieht sie durch den Investiturstreit
43 Zur Problematik des Begriffs vgl. Marie Th. Fögen, Art. »Staat«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München 1995, Sp. 2151–2156, hier Sp. 2152–2154. 44 Sachsenspiegel, fol. 49, Volldigitalisat nach Wolfenbütteler Digitale Bibliothek, URL: http://dig lib.hab.de/mss/3-1-aug-2f/start.htm?image=00049 [12. 04. 2019]; vgl. dazu die Bildinterpretation in Regina von Eicken, Zwei-Schwerter-Lehre. Eine Illumination des Sachsenspiegels zwischen 1350 und 1375. Proseminar Kirchengeschichte, Essen 2004, zit. online. 45 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Präambel: »Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, […], hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.« Zit. online. 46 Vgl. hierzu den Beitrag von Peter Arnold Heuser im vorliegenden Band. 47 Vgl. hierzu das besonders klare Beispiel des Gesetzes über die Trennung von Kirchen und Staat und in Frankreich (Gesetz vom 9. Dezember 1905) in der aktuell geltenden Fassung: Loi du 9 décembre 1905 concernant la séparation des Eglises et de l’Etat, zit. online; dazu im deutsch-französischen Vergleich: Janine Ziegler, Le principe de séparation de l’Église et de l’État en Allemagne et en France – Histoire et actualité, in: Observatoire de la société britannique 13 (2012), zit. online.
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gestärkt – und zwar in dezidierter Gegenüberstellung zur byzantinischen Welt und zum Islam. Ich zitiere aus dem letzten Band seiner Geschichte des Westens: »Die christliche Unterscheidung von göttlichem und irdischem Gesetz, zu der es keine Entsprechung im gleichfalls monotheistischen Islam gibt, ermöglichte letztlich die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen – eine weltgeschichtliche Wirkung, die freilich erst nach schweren Kämpfen, beginnend mit innerkirchlichen Auseinandersetzungen, eintreten konnte. […] Ohne die Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher Gewalt, wie sie etwa im Wormser Konkordat von 1122 Gestalt annahm, hätte sich schwerlich der innerweltliche Dualismus entwickeln können, der den Kern korporativer und individueller Freiheit in sich barg […].«48
Winkler geht schließlich so weit, den von ihm im Rekurs auf Otto Hintze betonten »Dualismus, wie er sich im hohen Mittelalter herausformte« als die »Gründungskonstellation und die Grundstruktur des Westens« zu betrachten.49 In der Geschichte des Westens wird also eine ganz lange Linie vom Investiturstreit des Mittelalters – potenziell sogar noch weiter zurückgreifend von dem oben zitierten Jesuswort – bis in die Moderne durchgezogen. Aber liegen die Dinge so einfach? Trennen sich vermeintlich »säkularer« Okzident und »theokratischer« Orient schon so früh? Ohne sich explizit auf Winkler zu beziehen, hat die Züricher Mediävistin Almut Höfert diese Auffassung in Frage gestellt. In einer Kaisertum – und zwar sowohl spätrömisch-byzantinisches als auch Westkaisertum – und Kalifat vergleichenden Studie kommt sie zu dem Ergebnis, dass dieses Bild ein Mythos sei. Sie vergleicht diese – wie sie es nennt – »selbstreferentielle Europageschichte« mit teleologischen Nationalgeschichten des 19. Jahrhunderts, die darauf abzielten, die vermeintliche eigene Überlegenheit schon in einer weit entfernten Vergangenheit zu verankern.50 Ein geschichtsdidaktischer Beitrag wie der vorliegende kann es nicht leisten, sich zu diesem mediävistischen Urteil sachkundig zu positionieren. Der disziplinäre Zugriff der Geschichtsdidaktik impliziert aber – zumindest in der Wahrnehmung des Verfassers dieser Zeilen – immer eine kritische Grundhaltung gegenüber allzu »stimmigen« Erzählungen, wie sie Winklers Teleologie impliziert.51 Stark teleologisch ausgerichtete Langzeiterklärungen verlangen struktu48 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, Bd. 4: Die Zeit der Gegenwart, München 2015, S. 582. 49 Ebd., S. 583. Otto Hintze hatte 1931 Folgendes konstatiert: »Auch der Feudalismus der Islamstaaten entbehrte des dualistischen Geistes, der im Abendlande die ständische Verfassungen hervorgebracht hat.« Ders., Weltgeschichtliche Bedingungen der Repräsentativverfassung, in: Historische Zeitschrift 143 (1931), S. 1–47, hier S. 30, zit. online. 50 Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter, Frankfurt / New York 2015 (Reihe »Globalgeschichte«, 21), S. 513. 51 Vgl. hierzu Peter Geiss, Unterwegs zum »Ende der Geschichte«? Zur Kritik an Jörn Rüsens Überbetonung »sinnstiftender« Funktionen des historischen Erzählens mit weiterer Literatur
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rierende Schemata, die auf Enthistorisierung und Essentialisierung hinauslaufen können.52 Dazu kommt es immer dann, wenn nicht nur dem Glauben selbst, der für die Gläubigen als göttliche Offenbarung natürlich niemals ein rein historisches Phänomen sein kann, sondern auch den von ihm abgeleiteten gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen unwandelbare Wesensmerkmale zugeschrieben werden – eine Haltung, die der Islamwissenschaftler Lutz Berger sowohl auf Seiten von »Islamkritikern« als auch im konservativen islamischen Spektrum wahrnimmt.53 Wenn man dem Okzident seit dem Mittelalter die Fähigkeit der Trennung geistlicher und weltlicher Bereiche zutraut, sie vorwiegend muslimisch geprägten Weltregionen aber abspricht, schafft man die Vorstellung einer invarianten Religions- und Gesellschaftsformation.54 Dieses Problem scheint schon in der Bezeichnung des nordrhein-westfälischen Lehrplan-Inhaltsfeldes auf, das bezogen auf christliche und muslimische »Welt« von »zwei Kulturen« spricht, was angesichts der starken Ausdifferenzierung beider Sphären und der fragwürdigen Vermengung kultureller und religiöser Aspekte sicherlich ein verständnishemmender Schematismus ist.55 Positiv hervorzuheben ist vor diesem Hintergrund, dass die etwa von Winkler kultivierte Schablone eines »dualistischen«, die säkularen Gemeinwesen des ›Westens‹ teleologisch vorprägenden Okzidents im Gegensatz zu einem vermeintlich Staat und Religion gleichsetzenden Islam bereits gegenwärtig in Schulbüchern problematisiert wird: So enthält das Lehrwerk Zeiten und Menschen (Einführungsphase der Sekundarstufe II) ein Themendossier, das die Annahme einer grundsätzlichen und überzeitlichen Unmöglichkeit der Tren-
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ferner: Peter Geiss, Objektivität als Zumutung. Überlegungen zu einer postnarrativistischen Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 27–41, zit. online. Zum Problemkreis des Essentialisierens: Bernd Grewe, Geschichtsdidaktik postkolonial – eine Herausforderung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 5–30. Bezogen auf den Islam in europäischen Schulbuchdarstellungen wurden Probleme der Essentialisierung und Enthistorisierung (Religion als vermeintlich unveränderliches Phänomen), der Ausgrenzung aus europäischen Kontexten sowie die Vermengung von Kultur und Religion und der stereotypisiert-vereinfachenden Darstellung (auch idealisierend, z. B. Al-Andalus) bereits in folgender Studie thematisiert, deren Kenntnis der Verfasser dem Beitrag von Stephan Conermann im vorliegenden Band verdankt und die kurz vor Drucklegung nur noch punktuell berücksichtigt werden konnte: Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung (Hg.), Keine Chance auf Zugehörigkeit? Schulbücher europäischer Länder halten Islam und modernes Europa getrennt. Ergebnisse einer Studie des Georg-EckertInstituts für internationale Schulbuchforschung zu aktuellen Darstellungen von Islam und Muslimen in Schulbüchern europäischer Länder, Braunschweig 2011, insbes. S. 8–11, 12f., zit. nach URL: http://repository.gei.de/bitstream/handle/11428/172/Islamstudie_2011.pdf ?se quence=1&isAllowed=y S. 19 [06. 10. 2020]. Vgl. Berger, Die Entstehung des Islam, S. 11. Kritisch dazu ebd. und Nimet Seker / Ali Ghandour, Der Islam braucht keinen Luther, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 10. 2017, S. N3 (zu Abdel-Hakim Ourghi). Vgl. hierzu die Kritik von Florian Helfer und Sandra Müller-Tietz im vorliegenden Band.
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nung von Staat und Religion im Islam problematisiert.56 Darin kommt u. a. der Islamwissenschaftler Heinz Halm zu Wort, der einerseits die Inexistenz einer »scharfen begrifflichen Trennung der beiden Sphären« im Islam betont und den Verhältnissen in der »christlichen Welt« gegenüberstellt, andererseits aber »schon in der formalen Delegation der Regierungsgeschäfte vom Kalifen an den Sultan« faktisch einen Bereich nicht durch und durch religiös geprägter Politik ausmacht.57 Ein Gegenwartsbezug wird im Schulbuch dadurch hergestellt, dass ein unmittelbar vorangehender Textauszug, ebenfalls aus der Feder Halms, die Auffassung bezweifelt, dass Religion und Staat im Islam »unauflöslich« miteinander verknüpft seien und dies ein Problem für die Akzeptanz des säkularen demokratischen Staates unter Muslimen mit sich bringe.58 Auch ein weiteres Unterkapitel dieses Lehrwerkes, das Beziehungen zwischen Religion und Herrschaft im christlichen Mittelalter thematisiert, trägt zur Hinterfragung einer schematischen Gegenüberstellung von Christentum und Islam bei, indem es die sakrale Durchdringung der weltlichen Herrschaft am Beispiel von Quellen zu den mittelalterlichen Kaisern Friedrich I. (Barbarossa) und Heinrich II. betont.59 Dass sich das Christentum bis zur Christianisierung des römischen Kaisertums unter einer zunächst andersgläubigen Herrschaft ausbreitete und in dieser Phase weder die Veranlassung noch die Option hatte, militärische Machtmittel einzusetzen oder politische Ambitionen zu hegen,60 dürfte ebenso eine historische Tatsache sein wie die Bedeutung von kriegerischen Auseinandersetzungen für die Ausbreitung des Islam, der überdies schon zur Zeit seiner Genese herr56 Hans-Jürgen Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen. Geschichte. Einführungsphase Oberstufe Nordrhein-Westfalen, Braunschweig (Schöningh / Westermann) 2014, Dossier »Das Verhältnis von Religion und Staat in der mittelalterlichen islamischen Welt aus zeitgenössischer und gegenwärtiger Perspektive«, S. 112–115 (Autorschaft für zitierte Seiten hier und bei den meisten im Folgenden genannten Schulbüchern anhand der verfügbaren bibliographischen Angaben nicht ermittelbar); zur Kritik anderer Aspekte des Islam-Bildes in diesem Lehrwerk (insbesondere Herstellung starker Bezüge zum islamistischen Terrorismus) vgl. den Beitrag von Florian Helfer und Sandra Müller-Tietz im vorliegenden Band. 57 Zit. nach Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 115 (dort als Quelle angegeben: Heinz Halm, Der Islam. Geschichte und Gegenwart, 8. Aufl. München 2011 [C.H.Beck Wissen, hier Abgleich mit dem E-Book], S. 52. Die Diskussion über einen teilweise »weltlichen« Charakter des Sultanats soll auch in folgendem Dossier angeregt werden: Christine Dzubiel u. a., Geschichte und Geschehen. Oberstufe Nordrhein-Westfalen, Stuttgart (Klett) 2014, Unterkapitel »4.2. Geistliche und weltliche Macht im Islam – Einheit, Spaltung, Anspruch«, S. 106–113, hier Arbeitsauftrag 12, S. 113, zu Quelle und Forschungszitat ebd., S. 111). 58 Heinz Halms Onlinepublikation »Islam und Staatsgewalt«, hier zit. nach Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 115, war leider zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Beitrags nicht mehr unter der angegebenen URL auffindbar. 59 Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, Unterkapitel »Das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht: Positionen im Vergleich«, S. 136–141 (erwähnte Quellen ebd. S. 140f.). 60 Zum vielfach thematisierten Verhältnis zwischen Imperium Romanum und Christen knapp Werner Dahlheim, Die Welt zur Zeit Jesu, 2. Aufl., München 2014, S. 386f.
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schaftsbildend wirkte.61 Der Islamwissenschaftler Lutz Berger hat die – von ihm als zeittypisch eingeordnete – kriegerische Seite in seiner Darstellung des frühen Islam hervorgehoben,62 zugleich aber auch die relative Attraktivität und Integrationskraft muslimischer Herrschaft für die Unterworfenen betont: Im Wettbewerb mit anderen spätantiken Imperien – dem sassanidischen und dem oströmisch-byzantinischen – habe sich die muslimische Ordnung deshalb durchgesetzt, weil sie ohne weitreichende bürokratische Eingriffe in die vorgefundenen Lebensverhältnisse ausgekommen sei, welche die Herrschaftspraxis ihrer imperialen Konkurrenten so geprägt habe.63 Bevor man damit beginnt, aus der teilweise durchaus kriegerischen Entstehungsgeschichte des Islam weitreichende essentialisierende Gegenüberstellungen abzuleiten,64 sollte man sich eine Tatsache vor Augen halten: Die konsequente Gewaltfreiheit und Herrschaftsferne der Bergpredigt hat es nicht vermocht, die massive Ausübung von Gewalt und Herrschaft im Namen des christlichen Glaubens zu verhindern.65 In der bis auf den heutigen Tag von Christen als Heilige Schrift gelesenen Bibel finden wir neben Texten der Liebe und Friedfertigkeit auch Psalmen, in denen von der Zermalmung der Gottlosen die Rede ist. Doch wer würde es für angemessen halten, Judentum und Christentum auf Zeilen wie die folgenden aus dem zweiten Psalm des Psalters »festzulegen«? »Kundtun will ich den Ratschluss des Herrn. Er hat zu mir gesagt Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. Bitte mich, so will ich dir Völker zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum. Du sollst sie mit einem eisernen Zepter zerschlagen, wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen.«66 61 Vgl. Tilman Nagel, Kämpfen bis zum endgültigen Triumph. Religion und Gewalt im islamischen Gottesstaat, in: Klaus Schreiner (Hg.), Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 2008 (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 78), S. 43–54. Den bezogen auf Staatlichkeit fundamentalen Unterschied zwischen einem »mit einem Staat« entstandenen Islam und einem Christentum, das sich »gegen den Staat« (d. h. das Imperium Romanum) behaupten musste, betont auch Halm, Der Islam, S. 59. 62 Vgl. Berger, Die Entstehung des Islam, S. 130–132 (Übersiedlung Mohammeds von Mekka nach Medina als Zäsur im Verhältnis zur Gewalt). 63 Vgl. ebd., S. 279. 64 Vgl. kritisch dazu ebd., S. 11. 65 Interessanterweise gab es Althoff zufolge auch zur Zeit des gewaltorientierten Reformpapsttums theologische Stimmen, die auf die christliche Tradition der Feindesliebe hinwiesen, aber sich kein Gehör zu verschaffen vermocht hätten. Vgl. Althoff, »Selig sind«, S. 224. 66 Zit. nach Luther-Bibel 1984, S. 597 (dort auch die Kursivierung der häufig zitierten Stelle). Weitere drastische Bibelstellen in Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt; dagegen aber das von Erich Zenger in Bezug auf Jesaja 11,1–10 betonte Bild des »›messia-
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Auch die jüdisch-christliche Tradition kennt Gewaltbejahung – im zitierten Beispiel sogar in nächster Nähe zu einer im christlichen Kontext rückblickend mit Jesus Christus verbundenen Aussage.67 Die Lektüre solcher blutrünstiger Passagen aus der – bezogen auf Juden und Christen – eigenen religiösen Überlieferung warnt davor, andere Religionen wie den Islam vorschnell auf die radikalsten und menschenfeindlichsten Aussagen und Praktiken zu reduzieren, die sich in ihrem Spektrum finden. Gerade der durch Philippe Buc angeregte Blick in die Tiefen der okzidentalen, christlich geprägten Gewaltgeschichte europäischer und anderer in christlicher Tradition stehender Gesellschaften kann davor bewahren, Gefühle moralischer Überlegenheit und Selbstgerechtigkeit zu kultivieren. Dies ist wichtig, weil Selbstgerechtigkeit ihrerseits leicht Verfolgung und Gewalt hervorbringt – die menschenrechtlichen Schattenreiche des »War on Terror« seit 2001 bieten hierfür Anschauungsmaterial.68 Überdies kann von diesem Blick in die Abgründe der Christentumsgeschichte die befreiende Einsicht ausgehen, dass Religionen nicht unentrinnbar das Schicksal erleiden müssen, dauerhaft von Extremisten, Sklavenhaltern, Vergewaltigern und Mördern instrumentalisiert zu werden. Sie können dieser Gefahr entgehen, wenn sie – in den Worten Erich Zengers – »das ihnen inhärente Gewaltpotential erkennen sowie alles tun, um dessen Aktualisierung zu verhindern.«69 Hier hat der Geschichtsunterricht durch die Analyse religiöser Gewaltphänomene zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Bewusstmachung des Problems zu leisten.
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Zwischen Menschlichkeit und Massaker: Religion als ambivalenter Faktor in der Geschichte
Religion befähigt Menschen in ihrem Absolutheitsanspruch zum Besten wie zum Schlimmsten.70 Sie bringt Mutter Teresa ebenso hervor wie den Blutrausch der Kreuzfahrer 1099, die überwältigende Schönheit der Großen Freitagsmoschee von Córdoba – jedoch auch den mörderischen Furor des gewaltbereiten Dschihadismus im 21. Jahrhundert.71 Diese Ambivalenz bedarf im Geschichtsunter-
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nischen‹ Friedensfürsten«; Zenger, Der mosaische Monotheismus, S. 54f.; vgl. auch die Übersetzung der Jesaja-Passage in der Luther-Bibel 1984, S. 765f. Ein Beispiel für die christliche Verwendung gewaltbezogener Bibelpassagen ist Psalm 79, der Althoff zufolge im Vorfeld des Massakers von 1099 durch Papst Urban auf den bevorstehenden Kreuzzug bezogen wurde. Vgl. Althoff, »Selig sind«, S. 131; zur Idee einer nur durch Gewalt zu überwindenden »Verunreinigung« (»pollutio«) der Heiligen Stätten ebd., S. 135. Philipp Buc konstatiert hier in den eschatologischen Denkmustern Ähnlichkeiten zu seinen mediävistischen Forschungsgegenständen. Vgl. Buc, Heiliger Krieg, S. 7 und 54–75. Zenger, Der mosaische Monotheismus, S. 73. Vgl. Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, S. 7. Vgl. ebd.
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richt einer besonderen, diachronen Aufmerksamkeit. Dazu bietet der nordrheinwestfälische Kernlehrplan in unterschiedlichen Themenkontexten Anknüpfungspunkte – bei der Thematisierung mittelalterlicher Lebenswelten kann z. B. auf die in Islam, Judentum und Christentum gleichermaßen zu findende Unterstützung sozial Benachteiligter eingegangen werden.72 Für einen geschichtswissenschaftlich und geschichtsdidaktisch adäquaten Geschichtsunterricht ist es unabdingbar, die monotheistischen Religionen weder zu idealisieren noch zu diabolisieren. Diese Religionen sind vielmehr als historisch veränderliche und vielfältig wirkende Zentralkräfte der Geschichte in den Blick zu nehmen. Das »Christentum als solches« im Sinne einer historisch invarianten Größe ist im Fach Geschichte eine genauso problematische Vorstellung wie die Idee eines ein für alle Mal auf bestimmte Merkmale festgelegten Islam,73 so legitim und unverzichtbar für den individuellen Gläubigen und seine religiöse Gemeinschaft die Stabilität der theologischen Grundlagen seiner Religion ist. Geschichtsunterricht historisiert, macht Veränderung, Relativität und Pluralität erkennbar und ist genau deshalb immer ein Fach, das gegen fundamentalistische und extremistische Verhärtungen arbeitet.74 Dies zeigt der nordrhein-westfälische Kernlehrplan in einer gelungenen Formulierung in Bezug auf ein anderes Großthema, nämlich das der Nation: »Das Inhaltsfeld konfrontiert die Schülerinnen und Schüler mit der vermeintlichen Selbstverständlichkeit »Nation«, d. h., es relativiert deren historische Bedeutsamkeit durch Historisierung, dekonstruiert ihren quasi-natürlichen Charakter […].«75
Indem Geschichtsunterricht Religion als politisch-gesellschaftlichen Faktor historisiert und historisieren muss,76 macht er doch keinerlei Aussagen über den religiösen Wahrheitsgehalt ihrer jeweiligen Offenbarung. Eine Historisierung der gesellschaftlich-politischen Ausdrucksseite von Religion ist in dieser Perspektive möglich, ohne religiöse Gefühle von Schülern zu verletzen. Diese Historisierung kann einen substanziellen Beitrag zur Toleranzerziehung leisten: Der Blick in die von Buc betonte Gewaltgeschichte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen
72 Vgl. Berger, Die Entstehung des Islam, S. 25 (zur Unterstützung Bedürftiger); möglicher Lehrplanbezug: Inhaltsfeld 3 b: Lebenswelten im Mittelalter, in Ministerium für Schule und Weiterbildung Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Geschichte. Düsseldorf 2019 (für G8), zit. online, S. 27f. 73 Vgl. Berger, Die Entstehung des Islam, S. 11, sowie Helfer und Müller-Tietz im vorliegenden Band. 74 Vgl. ähnlich Berger, Die Entstehung des Islam, S. 11. 75 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II, S. 19. 76 Die Historisierungsforderung vertrat Assmann insbesondere mit Blick auf die religiöse »Sprache der Gewalt« mit dem Ziel, so ihren »Geltungsanspruch einzuschränken«; Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt, S. 38.
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Christentums bewahrt davor, einen in essentialisierender Weise als gewaltorientiert verzerrten Islam einem vermeintlich friedlichen Christentum gegenüberzustellen, ohne dass deswegen gewaltgeprägte Phasen islamischer Geschichte aus falscher, unehrlicher Rücksichtnahme aus dem Horizont des historischen Lernens zu verbannen wären. Die zum Teil eben durchaus von Gewalt geprägte Expansionsgeschichte des frühen Islam gehört ebenso in den Unterricht wie Phasen des friedlichen Zusammenlebens der drei monotheistischen Religionen im muslimisch beherrschten Spanien. Die Gefahr der pädagogisch motivierten Idealisierung besteht z. B., wenn das mittelalterliche Spanien unter muslimischer Herrschaft zum zeitlosen Modell interreligiöser Toleranz verklärt wird, wie dies Ludolf Pelizaeus 2011 kritisch angemerkt hat: »Die heutige Sicht der spanischen Geschichte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wurde vielfach im 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Ein Topos ist dabei die Verherrlichung von Al-Andalus: […]. Al-Andalus wird heute vielfach als Sinnbild der Integration oder doch zumindest des friedlichen Zusammenlebens (Convivencia) herangezogen […].«77
Fachlich seriöser Geschichtsunterricht sollte zweifellos beim Blick in die Geschichte von Al-Andalus nicht nur das pädagogisch ›Gewollte‹ in den Blick nehmen, also ein zwecks Vorbildgewinnung möglicherweise bis hart an die Grenze zum ahistorischen Idyll stilisiertes Miteinander, sondern auch Phasen der religiösen Spannung, Unterdrückung und Aggression. Diese ging etwa von den almohadischen Herrschern des 12. Jahrhunderts aus, aber später natürlich auch von der christlichen Reconquista und der langfristig wirksamen Inquisition.78 Ahistorische Negativstereotype lassen sich nicht durch in der Vereinseitigung ebenfalls ahistorische Positivstereotyope und Idealisierungen überwinden, sondern einzig und allein durch gewissenhafte Historisierung.79
77 Vgl. Ludolf Pelizaeus, Austausch und Konflikt zwischen Muslimen und Christen auf der iberischen Halbinsel, in: Gisbert Gemein (Hg.), Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen. Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart, Bonn 2011 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1062), S. 330–361; mit ähnlicher Kritik an einer Idealisierung von Al-Andalus auch Wolfgang Geiger, »Ob Gott es wirklich wollte?« Der Islam im Geschichtslehrbuch, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), S. 117–135, hier S. 125; zu späteren Vorstellungen vom Zusammenleben der Religionsgemeinschaften in AlAndalus vgl. detailliert den Beitrag von Daniel G. König im vorliegenden Band. 78 Vgl. Pelizaeus, Austausch und Konflikt, S. 338. Brian A. Catlos betont jüngst einerseits den repressiven Charakter der almohadischen Religionspolitik, hält aber anderseits auch fest, dass diese nicht ausschließlich gegen Christen und Juden gerichtet gewesen sei, sondern auch mit dem almohadischen Glaubensverständnis nicht konforme Muslime getroffen habe. Vgl. Brian A. Catlos, Al-Andalus. Geschichte des islamischen Spanien, aus dem Englischen von Rita Seuß, München 2019 (hier zit. als E-Book-Fassung), S. 292f. 79 Vgl. hierzu den Quellenanhang zu Pelizaeus, Austausch und Konflikt, S. 354–361.
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Mit Blick auf die 2011 von Ludolf Pelizaeus formulierte Kritik an einer Verklärung der Verhältnisse in Al-Andalus wäre allerdings zu prüfen, inwieweit sie dem aktuellen Diskussionsstand (2020) noch entspricht. Für den hier interessierenden Bereich der Schulbuchentwicklung ergeben Stichproben ein gemischtes Bild: So lässt sich einerseits das für die Sekundarstufe I konzipierte Lehrwerk Geschichte und Geschehen anführen, das auf einer Doppelseite über Spanien und Sizilien ein idealisierendes Bild von der Convivencia entwirft und diese Vorstellung auch durch einen Arbeitsauftrag tendenziell einseitig fokussiert: »Nenne und beschreibe Beispiele toleranten Miteinanders in Spanien und auf Sizilien.«80 Auch das Lehrwerk Zeiten und Menschen 2, ebenfalls für die Sekundarstufe I verfasst, präsentiert in einem fiktiven Interview mit einem »Experten« eher ein Idealbild des blühenden Zusammenlebens in Al-Andalus,81 auch wenn in der Einleitung festgestellt wird, dass die »Zeit des kulturellen Nebeneinanders […] durchaus unterschiedlich beurteilt« werde.82 Diesen Werken für Kinder im zweiten Lernjahr des Geschichtsunterrichts lässt sich aber als Gegenbeispiel das für die Sekundarstufe II konzipierte Lehrwerk Kursbuch Geschichte (Einführungsphase) gegenüberstellen, das sich deutlich um Historisierung und Differenzierung bemüht, was bei der Betrachtung der Herrschaft der Almoraviden und Almohaden deutlich wird: »Die Almoraviden wiesen 1128 die Mozaraber aus, bald danach die Juden. Sie verfolgten den Theologen al-Ghazali und die Sufis. Im Jahre 1147 wurden die Almoraviden in Afrika durch eine weitere Berber-Dynastie, die Almohaden, gestürzt. Gleichzeitig büßten sie ihre Macht in al-Andalus ein. Die christlichen Fürsten nutzten die Schwäche der islamischen Gegner und dehnten ihre Herrschaft weiter aus. Die Almohaden, ebenfalls organisiert als militärisch-religiöse Bruderschaft, erkämpften sich die Herrschaft in al-Andalus, nahmen 1171 Sevilla als neue Hauptstadt ein und konnten ihre Macht stabilisieren. Ihr Ziel war es, dem Islam in al-Andalus in seiner ›ursprünglichen Form‹ wieder Geltung zu verschaffen und die strikte Einhaltung von Geboten und Verboten unter Berufung auf den Koran und die Sunna durchzusetzen. Im Unterschied zu den Almoraviden förderten sie unter dem Kalifen Yusuf I. Dichtung und Wissen-
80 Michael Sauer (Hg.), Geschichte und Geschehen, Stuttgart / Leipzig (Klett) 2017, Kap. 1 »Kulturbegegnungen im Mittelalter – was Menschen voneinander wussten«, darin Doppelseite »Blütezeit islamischer Kultur – am Rande des Abendlandes«, S. 20f., der zitierte Arbeitsauftrag ebd., S. 21 (nach Impressum verfasst von Peter Offergeld). 81 Al-Andalus hier und im Folgenden als Eigenname mit dem arabischen Artikel groß geschrieben, Kleinschreibung beibehalten, sofern in Zitaten so gehandhabt. 82 Jürgen Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen 2, Braunschweig (Schöningh / Westermann) 2017, Kapitel »Nebeneinander und Gegeneinander – Christen, Juden und Muslime«, Unterkapitel »Muslime, Christen, Juden –nebeneinander in Al-Andalus«, S. 25–27 (Zitat ebd., S. 25).
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schaft, u. a. den größten Philosophen jener Zeit, Ibn Rushd. Gleichzeitig führten sie den Dschihad gegen die christlichen Staaten fort.«83
Dem hier erkennbaren Bemühen, weder Christen noch Muslime oder ihr Zusammenleben zu idealisieren, zugleich aber durchaus Begegnungs- und Vernetzungsphänomene zwischen ihnen – und den in Spanien lebenden Juden – anzuerkennen, entspricht auch ein im selben Schulbuchkapitel als Arbeitsmaterial zitierter Text von Georg Bossong, der neben der aus seiner Sicht einzigartigen christlich-jüdisch-islamischen »Symbiose« in Al-Andalus auch den schließlich triumphierenden »gnadenlosen Kampf zwischen einem europäisch radikalisierten Christentum und einem afrikanisch radikalisierten Islam« hervorhebt.84 Zeichnet sich hier eine Progression vom idealisierten Bild der harmonischen Convivencia in einem sehr stark der Werteerziehung verpflichteten Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I für die ›Kleinen‹ hin zu einer differenzierteren fachlichen Urteilsbildung für die ›Großen‹ in der Sekundarstufe II ab? Die Anzahl der im Rahmen des vorliegenden Beitrags betrachteten Schulbücher reicht nicht aus, um diese Frage zu beantworten.
Schlussbetrachtung Abschließend sei noch einmal zusammenfassend auf den fachspezifischen Beitrag des Geschichtsunterrichts im Umgang mit dem Großthema Religion eingegangen. Erstens: Geschichtsunterricht ist in der Behandlung politischer, religiöser und weltanschaulicher Themen neutral, abgesehen von seiner selbstverständlichen Bindung an die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Er hat daher im Gegensatz zum Religionsunterricht niemals einen Bekenntnisstandpunkt zu vertreten, sondern muss Religion als zentralen Faktor der Weltgeschichte so konsequent wie möglich historisieren. Zweitens: Religionswissen ist ein zentraler Teil allgemeiner kulturgeschichtlicher Bildung. Wer nichts über das Christentum, das Judentum oder den Islam 83 Karin Laschewski-Müller / Robert Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte. Einführungsphase. Nordrhein-Westfalen, Berlin 2014, Kap. 2: »Die islamische Welt und Europa«, 2.4 »Al-Andalus. Vom Zusammenleben der Kulturen«, S. 88–92. Einer Beurteilung der fachlichen Korrektheit der Einzelaussagen im voranstehenden Zitat muss sich der Verfasser des vorliegenden Beitrags mangels Expertise enthalten. 84 Zit. nach ebd., S. 92 (Titelangabe dort: Georg Bossong, Das maurische Spanien, München 2007, hier Abgleich mit der E-Book-Fassung d. 2. Aufl. 2010 / 2015, S. 121). Vgl. zudem auch im vorliegenden Band die Analyse von Florian Helfer und Sandra Müller-Tietz zur Thematisierung von Al-Andalus in Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen (S. 182–185), die sie zu Recht als multiperspektivisch und damit nicht einseitig idealisierend charakterisieren.
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weiß, dem bleibt der zeichenhafte Reichtum von Kathedralen, Synagogen oder Moscheen ebenso unzugänglich wie große Teile der Weltliteratur, die auf das religiöse Erbe der Monotheismen verweisen. Mit dem Wegbrechen genuin religiöser Bildung fällt dem Geschichtsunterricht hier zweifellos eine neue Aufgabe zu, die in der (Wieder-)Herstellung kultureller Diskurs- und Interpretationsfähigkeit auf der Basis religionskundlicher Bildung besteht.85 Die für den vorliegenden Beitrag vorgenommenen Stichproben scheinen darauf hinzudeuten, dass diese Aufgabe zumindest auf der Ebene der Lehrwerksentwicklung teilweise wahrgenommen wird. Inwieweit dies auch für die Unterrichtsrealität gilt, müsste empirisch überprüft werden. Drittens: Die im Kernlehrplan aufgeworfene Frage nach der Trennung zwischen säkularer und religiöser Sphäre bleibt auch dann relevant, wenn man für das Mittelalter nicht ohne Weiteres von Staat sprechen kann. Es geht letztlich darum, inwieweit Herrschaft religiös durchdrungen und legitimiert ist – bzw. wo es religionsarme Räume von Herrschaft gab. Das ist eine sehr moderne Fragestellung, die man aber durchaus auf die Vergangenheit beziehen darf.86 Selbst wenn ›geistlich‹ und ›weltlich‹ im Mittelalter begrifflich unterschieden werden, sollte man dabei nicht auf den Gedanken kommen, in Herrschern des Mittelalters säkulare Figuren zu sehen. So galt – um nur ein Beispiel zu nennen – der französische König selbstverständlich als »rex a deo coronatus«.87 Nach Salbung, Krönung und Inthronisierung in der Kathedrale von Reims nahmen französische Monarchen traditionell Krankenheilungen vor, was sich mit der Idee eines ›säkularen‹ Königtums ebenso schlecht verträgt wie die Gepflogenheit, dass sie aus diesem Anlass wie Priester das Abendmahl in beiderlei Gestalt einnehmen durften.88 Mit Hans-Jürgen Pandel ist festzustellen, dass im Herausarbeiten von Alterität schon ein wesentlicher Erkenntniswert des historischen Lernens liegt89 – und das Fragen nach säkularen Räumen im 11. Jahrhundert dürfte doch eher zum Entdecken von Alterität führen als zum Durchzeichnen teleologischer 85 Vgl. Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, S. 7. 86 Das gilt zumindest, solange man sich klar macht, dass sich zu unserem nachaufklärerischen Begriff des Säkularen in unserem Wortsinn für die Vormoderne kaum eine Entsprechung finden dürfte. Vgl. Höfert, Kaisertum und Kalifat, S. 22 und 75. Die Zulässigkeit, ja Unabdingbarkeit gegenwartsgebundener Fragen im historischen Lernen dürfte Konsens sein. Vgl. Klaus Bergmann, Geschichte als Steinbruch? – Anmerkungen zum Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 138–150, hier S. 140. 87 Zit. nach Jacques Le Goff, Saint Louis, Paris 1996 (Bibliothèque des histoires), S. 828. 88 Hierzu und zu den Bestandteilen des Sacre ebd., S. 828–832. 89 Vgl. Hans-Jürgen Pandel, Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis, Schwalbach/ Ts. 2013 (Forum Historisches Lernen), S. 219 (dort bezogen auf normative Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart); zum Erkenntniswert der Bewusstmachung von Alterität auch Konrad Vössing, Völkerwanderung überall? Die spätantiken gentes und die Spezifika einer Umbruchszeit, in: Peter Geiss / Konrad Vössing (Hg.), Die Völkerwanderung. Mythos – Forschung – Vermittlung, Göttingen 2021 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 5), S. 109–150.
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Entwicklungslinien, die Heinrich IV. als einen frühen Vorkämpfer des säkularen Verfassungsstaates erscheinen lassen.90 Viertens: Im Geschichtsunterricht kommt es darauf an, Religion als Faktor der Weltgeschichte in ihrer hochgradigen Ambivalenz erkennbar zu machen, wie dies Frank-Michael Kuhlemann betont hat: Religion war und ist eine der Menschenrechtsquellen und bietet zugleich Vorwände für die massivste Verletzung von Menschenrechten.91 Wenn der Geschichtsunterricht beide Seiten im Blick hat, kann er im Sinne eines nüchternen Aufzeigens von Chancen und Risiken einen Beitrag zur Zivilisierung des Umgangs mit religiösem Erbe leisten. Theologische Gehalte und Fragen sind im Geschichtsunterricht nicht normativ zu beurteilen. Anders sieht es in einem freiheitlich-demokratischen Schulsystem mit den politisch-sozialen Folgen religiöser Überzeugungen aus: Für verfassungsfeindliche, fanatisch-intolerante, gewaltorientierte, geschlechtsbezogen diskriminierende, antisemitische oder anderweitig menschenfeindliche Positionen und Verhaltensweisen kann es keinen ›Religionsbonus‹ geben. Hier sollte Geschichtsunterricht normativ einem Ziel verpflichtet bleiben, das den Aufklärer Voltaire 1763 zu folgendem fiktiven Gebet veranlasst hat: »Mögen sich alle Menschen daran erinnern, dass sie Brüder sind! Mögen sie die über ihre Seelen ausgeübte Tyrannei genauso verabscheuen wie die Räubereien, die ihnen die Früchte der Arbeit und des friedlichen Gewerbes gewaltsam rauben. Wenn die Kriege unvermeidlich sind, so sollen wir uns doch nicht hassen und uns nicht mitten im Frieden zerfleischen, sondern den flüchtigen Moment unseres Daseins immerfort dazu nutzen, zugleich in tausend Sprachen von Siam bis Kalifornien deine Güte zu preisen, die uns diesen Augenblick geschenkt hat.«92
90 Dies ist eine starke Zuspitzung, die Heinrich August Winkler selbst so nicht formuliert hat, auf die man aber bei konsequentem Weiterdenken seiner oben thematisierten Dualismusthese (s. o., S. 59f.) vielleicht kommen kann. 91 Vgl. Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, S. 7; zu Religion als Menschenrechtsquelle vgl. u. a. Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, Köln 2015, S. 15f.; Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1987 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 256; Studien zur Geschichte und Politik), S. 46. 92 Voltaire, Traité sur la tolérance [Traktat über die Toleranz], 1763, übers. nach dem franz. Auszug in: André Lagarde / Laurent Michard, XVIIIe siècle. Les grands auteurs français du programme. Anthologie et histoire littéraire, Paris 1985, S. 172.
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Florian Helfer / Sandra Müller-Tietz
Begegnungen zwischen Islam und Christentum im Schulbuch. Konzeptsensibilität, Interkulturalität und Normativität im Geschichtsunterricht
Der aktuelle Kernlehrplan (KLP) für die Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen sieht einen thematischen Längsschnitt1 über Kontakte zwischen den arabisch-islamischen Kulturen des Nahen Ostens und den christlich geprägten europäischen Räumen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vor. Als einem von insgesamt sieben Inhaltsfeldern wird dem übergeordneten Thema »Islamische Welt – christliche Welt« ein erhebliches Gewicht beigemessen. Durch den diachronen Vergleich widmet man sich nun systematisch einem historischen Gegenstandsbereich von hoher gesellschaftlicher Gegenwartsrelevanz, der zuvor meist nur punktuell und begrenzt auf das Zeitfeld Mittelalter2 Gegenstand des Geschichtsunterrichts war.3 Der aktuelle KLP zielt darauf ab, den Begegnungen zwischen »Islam« und »Christentum« in der Gegenwart eine »historische Tiefe« zu verleihen und durch die Auseinandersetzung mit ihnen zur »Reflexion von gegenwärtig wirksamen Feindbildern und Stereotypen«4 beizutragen. Ob man sich bei diesen Begegnungen perspektivisch auf die Außenpolitik heutiger Nationalstaaten, auf Migrationsbewegungen und die daraus resultierenden Begegnungen im Klassenraum, auf gänzlich andere Aspekte oder auf alles zusammen bezieht, wird hingegen nicht näher erläutert. Durch das sehr weite Verständnis von »Islam« und »Christentum« eröffnen sich zumindest viele 1 Vgl. Klaus Bergmann, Geschichte als Steinbruch? Anmerkungen zum Gegenwartsbezug im Geschichtsunterricht, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 138–150, hier S. 142. 2 Vgl. Ministerium für Schule, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 1999, S. 28f. 3 Vgl. Georg-Eckert-Institut unter Mitarbeit von Susanne Kröhnert-Othman / Melanie Kamp / Constantin Wagner, Keine Chance auf Zugehörigkeit? Schulbücher europäischer Länder halten Islam und modernes Europa getrennt. Ergebnisse einer Studie des Georg-EckertInstituts für internationale Schulbuchforschung zu aktuellen Darstellungen von Islam und Muslimen in Schulbüchern europäischer Länder, Braunschweig 2011, S. 6. 4 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2014, S. 18.
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Florian Helfer / Sandra Müller-Tietz
Anknüpfungspunkte für einen gegenwartsbezogenen Geschichtsunterricht. Außerdem bietet der KLP Schulen und Lehrpersonen die Möglichkeit, eigene Schwerpunkte zu setzen. Als einigermaßen konkrete, obligatorische Unterrichtsgegenstände sind lediglich die Kreuzzüge festgelegt. Daneben gibt es beispielsweise in den Bereichen über das Verhältnis zwischen Religion und Herrschaft (im KLP: »Staat«5) oder über Wissenschaft und Kultur einigen Gestaltungsspielraum für einen abwechslungsreichen Unterricht. Demgegenüber geht die terminologische Ambiguität einher mit einer Umdeutung bzw. Verkürzung der Bezeichnungen »Islam« und »Christentum«, die ja ursprünglich auf Glaubensrichtungen bezogen sind, hin zu einem Verständnis zweier »Kulturen« mit »verschiedenen Ausprägungen« und »unterschiedlichen Verständnissen von Religion und Staat«6. Eine solche Definition, die Islam und Christentum vor allem als unterschiedliche oder gar gegensätzliche kulturelle Einheiten begreift, kann schnell dazu führen, dass zum Beispiel die Diversität islamischer Herrschaftsformen und Gesellschaftsorganisationen in den einzelnen Epochen gleichgesetzt und auf die vereinheitlichende, überzeitliche Formel der Islam reduziert wird. Analog dazu verweist der KLP auf eine scheinbar einheitliche, abendländische christliche Kultur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Wolfgang Geiger hat vor kurzem gezeigt, dass auch in vielen Schulbüchern diese Gegenüberstellung von Islam und Christentum als zwei Kulturen den komplexen historischen Verhältnissen nicht gerecht wird.7 Die Tendenz, den Islam in Schulbüchern vereinfachend als homogenes, »(vorwiegend) religiös markierte[s] Kollektiv außereuropäischer ›Anderer‹«8 darzustellen, gibt es nicht erst seit der Bildungsreform, die zu dem aktuellen Lehrplan für die Sekundarstufe II geführt hat. Auch der kritische Blick der Schulbuchforschung auf Repräsentationen des Islam in europäischen Lehrbüchern ist nicht neu9 – ein Zeichen für die anhaltende Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen europäisch-christlichen und arabisch-islamischen Kulturen. Wie eine Studie des Georg-Eckert-Instituts festgestellt hat, gab es im Jahr 2010 in Geschichts- und Politiklehrbüchern verschiedener europäischer Länder – untersucht wurden Schulbücher aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und Spanien – die Tendenz, den Islam in einer nicht ausreichend 5 Ebd., S. 18, 24. Für eine Kritik an der Verwendung des neuzeitlichen Staatsbegriffs im KLP siehe den Beitrag von Peter Geiss in diesem Band. 6 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan, S. 18. 7 Vgl. Wolfgang Geiger, »Ob Gott es wirklich wollte?« Der Islam im Geschichtslehrbuch, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), S. 117–135, hier S. 122. 8 Georg-Eckert-Institut, Keine Chance auf Zugehörigkeit?, S. 3. 9 Einen ersten Überblick bietet das Literaturverzeichnis der Studie des Georg-Eckert-Instituts: ebd., S. 26f.
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differenzierten Art und Weise darzustellen. Der Islam erscheine 1. entzeitlicht bzw. unveränderlich, 2. als homogene Einheit, die der Vielfalt muslimisch geprägter Kulturen, aber auch der Existenz von kultureller Hybridität nicht gerecht werde, und 3. selten explizit, aber häufig implizit »anders« im essentialistischen Sinn, beispielsweise durch die thematische Rahmung oder durch mangelnde Trennung zwischen religiösen und politischen Begriffen.10 Dadurch blieben die meisten Darstellungen der untersuchten Lehrbücher ihrer eurozentrischen Perspektive verhaftet und stellten durch die dichotome Darstellung und Abgrenzung von Islam und Christentum die verbreitete Annahme mangelnder kultureller Passfähigkeit des Islam mit Europa nicht infrage.11 Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist die daran anschließende Frage, inwieweit die aktuellen Schulbücher in Nordrhein-Westfalen die oben beschriebenen Arten der Darstellung reproduzieren. Er befasst sich somit nicht primär mit der Frage nach der fachwissenschaftlichen Korrektheit der Schulbuchdarstellungen, mit der sich bereits andere auseinandergesetzt haben und die zu mancher berechtigten Kritik geführt hat.12 Wir konzentrieren uns vielmehr auf Konzeptsensibilität und Interkulturalität als Analysekategorien, deren Beachtung uns gerade beim KLP-Inhaltsfeld 2 »Islamische Welt – christliche Welt« besonders wichtig erscheint. Da die Ziele des Inhaltsfeldes vor allem durch Aspekte der Werteerziehung im Sinne einer Friedensbereitschaft und Friedensfähigkeit13 motiviert zu sein scheinen, tritt als dritter Aspekt Normativität hinzu. Diese Kategorien leiten den analytischen Blick in den folgenden Ausführungen über die Umsetzung des KLP-Inhaltsfeldes »Islamische Welt – christliche Welt« in den aktuellen fünf Schulbüchern für die Sekundarstufe II in NordrheinWestfalen. Konkret sind dies die Lehrwerke Geschichte Oberstufe (Buchner), Geschichte und Geschehen (Klett), Horizonte (Westermann), Kursbuch Geschichte (Cornelsen) sowie Zeiten und Menschen (Schöningh).
10 Vgl. ebd., S. 8–18. 11 Vgl. ebd., S. 20. 12 Vgl. Geiger, »Ob Gott es wirklich so wollte?«, S. 118. Hiermit ist lediglich gemeint, dass das Hauptinteresse des Beitrags nicht auf einer systematischen Überprüfung fachlicher Richtigkeit der Schulbuchdarstellungen liegt. Zwar spielen fachliche Fehler oder Ungenauigkeiten naturgemäß immer auch eine Rolle in einer geschichtsdidaktischen Schulbuchanalyse. Aber während eine fachwissenschaftliche Prüfung in allen Einzelheiten besser etwa von islamwissenschaftlicher Seite übernommen werden kann, legt unsere geschichtsdidaktische Perspektive den Fokus auf Prozesse des historischen Lernens und der Vermittlung. 13 Vgl. den Beitrag von Peter Arnold Heuser in diesem Band.
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Konzeptsensibilität
Gerade weil die Bezeichnung des KLP-Inhaltsfeldes nicht unproblematisch ist, sehen wir den Geschichtsunterricht umso mehr in der Verantwortung, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den das Themenfeld prägenden Begriffen und Konzepten anzuregen. Begriffe wie »Islam«, »Christentum«, »Religion«, »Staat« oder »Kultur« sind nicht voraussetzungsfrei. Die dahinter liegenden gedanklichen Konzepte sind keineswegs objektiv-beschreibend, überzeitlich und unveränderlich – auch wenn sie aus der Perspektive der Schüler/-innen möglicherweise zunächst so erscheinen. Als Leitmedium14 des Geschichtsunterrichts sollten Schulbücher solche Konzeptbegriffe zumindest nicht unreflektiert verwenden, idealerweise aber bieten sie Anlässe zur Reflexion darüber. Peter Geiss hat anhand des Selbstbestimmungsrechtes der Völker einige grundsätzliche Überlegungen zu konzeptsensiblem Geschichtsunterricht vorgestellt.15 Dieser Ansatz ist Ausdruck einer aktuellen Entwicklung in der Geschichtsdidaktik, die sich in den letzten Jahren vermehrt Fragen über die Sprachsensibilität16 von Geschichtsunterricht zugewandt hat. Wenn man Geschichte als »problemorientiertes ›Denkfach‹« versteht, was innerhalb der Geschichtsdidaktik Konsens sein dürfte, dann können die oben genannten Begriffe »nicht einfach als terminologische Setzungen angenommen werden, sondern 14 Vgl. Ursula A.J. Becher, Schulbuch, in: Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider (Hg.), Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, 6. erw. Aufl., Schwalbach/Ts. 2011 (Forum Historisches Lernen. Wochenschau Geschichte), S. 45. Eine aktuelle empirische Studie bestätigt für den österreichischen Lehrkontext, dass die Bedeutung des Schulbuchs im Geschichtsunterricht nach wie vor groß ist: Vgl. Roland Bernhard / Christoph Bramann / Christoph Kühberger, Verwendung des Geschichtsschulbuches durch Schüler/innen und Lehrer/innen. Empirische Hauptergebnisse des Mixed-Method-Projektes CAOHT (in Vorbereitung), zit. in: Roland Bernhard / Jutta Wimmler, »Dreieckshandel«, Glasperlen und Gender. Mythische Narrative zum transatlantischen Sklavenhandel in aktuellen deutschen und österreichischen Schulbüchern, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019) S. 149–164, hier S. 151. Vgl. auch Nikolaus Eigler, Tagungsbericht: Das Geschichtsschulbuch: Lernen. Lehren. Forschen, Salzburg 22. 06. 2018, in: H-Soz-Kult, 25. 02. 2019, zit. nach URL: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8126 [28. 11. 2019]. 15 Vgl. Peter Geiss, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker und seine Grenzen. Konzeptsensibler Geschichtsunterricht am Beispiel der Pariser Friedensordnung von 1919/20, in: Ders. / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2017 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 2), S. 151–174. 16 Theoretische Überlegungen z. B. bei Thomas Martin Buck, Geschichte und Sprache. Vom Sach- zum Sprachfach, in: Geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 12 (2019), S. 5–12, oder Saskia Handro, Sprache(n) und historisches Lernen. Zur Einführung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 5–24. Konkrete Vorschläge für die Unterrichtspraxis bei Kerstin Lochon-Wagner, Praxis der Geschichtslehrerausbildung als Grundlage für den sprachsensiblen Geschichtsunterricht, in: Geschichte für heute. Zeitschrift für historisch-politische Bildung 12 (2019), S. 13–30.
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müssen in ihrem konzeptuellen Gehalt problematisiert und hinterfragt werden«17. Auch in der Geschichtstheorie wurde vielfach über die »Sprachgebundenheit historischer Erkenntnisproduktion«18 nachgedacht. Neben das Problem des grundsätzlichen Konstruktcharakters von Geschichtsschreibung tritt ein weiteres: Die in der Geschichtswissenschaft entwickelten Vorstellungen von Vergangenheit können nicht einfach in objektiv-beschreibende Begriffe gegossen werden, die diese gedanklichen Konstrukte abbilden. Die Begriffe sind vielmehr mit den ihnen innewohnenden Interpretationen und kulturellen Bedeutungszusammenhängen selbst Teil der Narration.19 Angesichts dieser grundsätzlichen Voraussetzungen für jede Auseinandersetzung mit Geschichte kommt der Begriffs- bzw. Konzeptarbeit eine umso größere Bedeutung für das historische Lernen zu. Erst durch eine gezielte Auseinandersetzung mit der geschichtswissenschaftlichen Terminologie kann der Geschichtsunterricht den Idealtypus, den ein Begriff beschreibt, ansatzweise in Beziehung mit einer vergangenen Wirklichkeit setzen – so Geiss mit Rückgriff auf Max Weber.20 Darüber hinaus sind die mit einem Begriff verknüpften Konzepte nicht statisch, sondern verändern sich, während dies nicht zwangsläufig auch für den Begriff gilt. Wenn man schon bei synchroner Betrachtung nicht davon ausgehen kann, dass Begriffe wie »Volk« und »Nation« interindividuell oder sogar interkulturell auf exakt dasselbe gedankliche Konstrukt verweisen, kommt bei diachroner Betrachtung eine Veränderung des sprachlichen Minimalkonsenses über die Bedeutung dieser Begriffe hinzu. Deswegen muss in der Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen im Geschichtsunterricht stets auch die Begriffsgeschichte miteinbezogen werden. Über die Sprachgebundenheit histori17 Geiss, Selbstbestimmungsrecht, S. 161. 18 Saskia Handro, »Sprachsensibler Geschichtsunterricht«. Systematisierende Überlegungen zu einer überfälligen Debatte, in: Wolfgang Hasberg / Holger Thünemann (Hg.), Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven, Frankfurt a.M. 2016 (Geschichtsdidaktik diskursiv, 1), S. 265–296, hier S. 268. Handro verweist in diesem Zusammenhang auf die geschichtstheoretischen Überlegungen von Hans-Jürgen Goertz, Reinhart Koselleck sowie Jörn Rüsen. 19 Konzeptuelle Begriffe wie »Völkerwanderung«, »Aufklärung« oder »Wirtschaftswunder« entziehen sich der Bewertung anhand von objektiven Kategorien (wahr oder falsch); sie werden vielmehr anhand ihres Plausibilitätsgrades beurteilt. Vgl. hierzu Jouni-Matti Kuukkanen, Why we need to move from truth-functionality to performativity in historiography, in: History and Theory 54 (2015), S. 226–243, hier S. 234. Vgl. zur Geschichte des Begriffslernens im Geschichtsunterricht Wolfgang Hasberg, Begriffslernen im Geschichtsunterricht oder Dialog konkret (I), in: Geschichte – Erziehung – Politik. Magazin für den Geschichts- und Politikunterricht 6 (1995), S. 145–159, und Handro, Sprache(n) und historisches Lernen, S. 10–12. 20 Vgl. Geiss, Selbstbestimmungsrecht, S. 161; vgl. zum »Idealtypus« Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 146–214, hier S. 190–206.
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scher Erkenntnis wurde in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten im Zuge des linguistic turn vielfach reflektiert.21 Schon Wolfgang J. Mommsen sprach in diesem Zusammenhang von dem dialektischen Spannungsverhältnis zwischen der »Sprache der Quellen« und der »Sprache des interpretierenden Historikers«22. Wolfgang Hasberg und weitere haben analog dazu zwischen »Sprache(n) der Vergangenheit« und »Sprache(n) der Gegenwart«23 unterschieden. Hilke Günther-Arndt folgert aus ähnlichen Überlegungen eine »›Grammatik‹ des historischen Denkens und Kommunizierens«24, die gelernt und gelehrt werden müsse, und wieder andere sprechen inzwischen von einer historischen Literacy.25 Im Umgang mit geschichtswissenschaftlichen Konzepten weisen die untersuchten Schulbücher unterschiedliche Herangehensweisen auf. Angesichts der obigen Ausführungen erscheint es notwendig, dass Schulbuchdarstellungen die für dieses Thema zentralen Begriffe nicht voraussetzen, sondern kontextualisieren und reflektieren. Gerade die Verwendung des Staatsbegriffs in mittelalterlichen Kontexten ist nicht unproblematisch.26 Angesichts des sehr weiten Verständnisses von »Staat« im KLP ist es aber nicht verwunderlich, dass auch die Schulbücher den Begriff nicht näher hinterfragen. Dies gilt auch für Buchners Geschichte Oberstufe, allerdings verwendet dieser Band den Begriff tendenziell seltener, zugunsten von präziseren Beschreibungen: Das erste Unterkapitel lautet etwa anders als im KLP »Herrschaft und Religion«, außerdem werden »Kreuzfahrerstaaten« meist als »Outremer« oder »Kreuzfahrerherrschaften« bezeichnet.27 Darüber hinaus setzt sich der Band konzeptsensibel mit der Epochenbezeichnung »Mittelalter« und der Begriffsgeschichte vom »Kreuzzug« und den »Kreuzfahrern« auseinander und benennt explizit die Schwierigkeit, passende Definitionen zu finden. Konsequenterweise lautet auch die entsprechende Kapitelüberschrift »Kreuzzugsbewegungen« im Plural.28 21 Einer der wichtigsten Ausgangspunkte für die Geschichtswissenschaft: Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973. 22 Wolfgang J. Mommsen, Die Sprache des Historikers, in: Historische Zeitschrift 238 (1984), S. 57–81, hier S. 66. 23 Wolfgang Hasberg, Sprache(n) und Geschichte. Grundlegende Annotationen zum historischen Lernen in bilingualer Form, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 8 (2009), S. 52–72, hier S. 53, 55. 24 Hilke Günther-Arndt, Hinwendung zur Sprache in der Geschichtsdidaktik, in: Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hg.), Geschichte und Sprache, Münster 2010 (Zeitgeschichte – Zeitverständnis, 21), S. 16–46, hier S. 36. 25 Vgl. Handro, Sprache(n) und historisches Lernen, S. 18f.; vgl. auch ebd., S. 6. 26 Vgl. Anm. 5. 27 Vgl. Maximilian Lanzinner (Hg.), Buchners Geschichte Oberstufe. Ausgabe NordrheinWestfalen. Einführungsphase, Bamberg 2014, S. 106, 176. Betont wird an dieser Stelle, dass »nur ein Teil der Bewohner ›Kreuzritter‹ waren«; ebd., S. 176. 28 Vgl. ebd., S. 158–162, 164.
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Komplizierter verhält es sich mit Begriffen, die schon bei synchroner Betrachtung unterschiedlich ausgelegt werden. Dies gilt insbesondere bei fremdsprachlichen Konzepten, die bei der Übersetzung immer auch interpretiert werden und einen Teil ihrer ursprünglichen Bedeutung verlieren. So gehen die Schulbücher auf sehr verschiedene Weise mit den Begriffen »Dschihad«, »Allah« oder auch »Convivencia«29 um. Dass man die Übersetzungsproblematik als Lernanlass nutzen kann, zeigt Buchners Geschichte Oberstufe mit dem Hinweis auf die scheinbare Parallele zwischen dem Ausruf »Deus lo vult« und der auch ohne Bezug zum »Dschihad« heute noch geläufigen arabischen Redewendung »Inschallah«.30 Hier bietet sich ein guter Anknüpfungspunkt für konzeptsensiblen Geschichtsunterricht in multikulturellen Lerngruppen. Zeiten und Menschen, etwas weniger ausführlich auch Horizonte, wiederum befassen sich nicht nur mit den historischen Wurzeln des Islam, sondern auch systematisch mit der islamischen Glaubenspraxis und Übersetzungsmöglichkeiten von Begriffen wie »der einzige Gott« / »Allah«, »Islam« / »Hingebung« oder »Ergebung an Gott« oder der »Scharia« als »Grundlagen des islamischen Rechts«. Das Lehrbuch stellt solche Konzepte sehr differenziert dar und reflektiert zudem die gemeinsamen Ursprünge des Judentums, Christentums und Islam mit dem Ziel, Feindbilder zu dekonstruieren.31 Besonders bei Horizonte ist überdies die Verwendung von Anführungszeichen bei Begriffen, die eingeführt oder problematisiert werden sollen, positiv hervorzuheben. Das Lehrbuch nutzt die so geschaffenen Anlässe, um im Text, aber auch noch einmal separat in einem Unterkapitelglossar, die dahinterstehenden Konzepte zu erläutern.32 Darüber hinaus gehen die meisten Lehrbücher auf die Rolle jüdischer Minderheiten in europäischen und arabischen Reichen ein. Auch wenn der KLP dies nicht fordert, ist ein Einbezug der dritten großen Gruppe von Gläubigen im erweiterten Mittelmeerraum sinnvoll, wenn ein Schwerpunkt auf interreligiöse und kulturelle Transfers gelegt wird. Nebenbei wirkt dies zudem einer monolithischen Gegenüberstellung von Christen und Muslimen effektiv entgegen. Demgegenüber bleibt es an anderer Stelle wiederum, zum Beispiel beim »Dschihad«, bei zwar sehr ausführlichen, aber letztlich durch die Schwerpunkt29 Zum Gegenkonzept »Conveniencia« siehe Brian A. Catlos, Al-Andalus. Geschichte des islamischen Spanien, aus dem Englischen von Rita Seuß, München 2019. Vgl. ferner die Beiträge von Daniel G. König und Peter Geiss in diesem Band. 30 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 168. 31 Vgl. Hans-Jürgen Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen – Geschichte. Einführungsphase Oberstufe. Nordrhein-Westfalen, Paderborn 2014, S. 93–94; Ulrich Baumgärtner / Klaus Fieberg / Jelko Peters / Klaus Scherberich / Frank Schweppenstette (Hg.), Horizonte. Geschichte Einführungsphase. Sekundarstufe II. Nordrhein-Westfalen, Braunschweig 2014, S. 102–103. 32 Vgl. Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte, z. B. S. 92–97, 99.
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setzung auf die Anschläge vom 11. September 2001 und die dementsprechende Einrahmung der an sich gut gewählten Quellentexte stereotypisierenden Darstellungen.33 Es fällt zudem auf, dass die in der Scharia vorgesehenen Strafen im Verfassertext deutlich verurteilt werden, aber nicht mit ähnlich brutalen Darstellungen im Alten Testament kontrastiert werden.34 Die Darstellung des Islam in Zeiten und Menschen hat vom Kapiteleinstieg an durch die Fokussierung auf den islamistischen Terrorismus einen negativen Grundton. Die Konstruktion zweier sich diametral gegenüberstehend erscheinender Kulturräume erweckt zudem den Eindruck, das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen sei in erster Linie durch Probleme und Konflikte geprägt: »Deutschland im 21. Jahrhundert: Parallelgesellschaften oder nicht?«. Zwar wird vor einem »moralische[n] Zeigefinger gegen die ›bösen‹ Feindbilder« gewarnt, aber gleichzeitig werden auf diese Weise gängige Stereotype reproduziert und – immerhin mit Fragezeichen – »Ein ›Kampf der Kulturen‹?« inszeniert. Für das historische Lernen ist die in diesem Stil verfasste, 18-seitige Einleitung über das heutige Zusammenleben von Christen und Muslimen, die offenbar die gegenwärtige Relevanz des Themenfeldes zum Ausdruck bringen soll, wenig dienlich.35 Horizonte dagegen kontrastiert den »Dschihad« und den »Heiligen Krieg« auf einer Doppelseite sachlich-analytisch und kommt ohne moralischen Unterton aus.36 Buchners Geschichte Oberstufe kommt nach differenzierter Abwägung zu dem Schluss, dass »Heiliger Krieg« eine unzureichende Übersetzung darstelle; der »Heilige Krieg« selbst wird allerdings nicht kontextualisiert.37 Im Kursbuch Geschichte beschränkt sich die Begriffsdiskussion auf eine Historikerdarstellung38; in Geschichte und Geschehen spielt der »Dschihad« keine Rolle. Neben dem »Dschihad« thematisieren drei von fünf Schulbüchern auch friedliche Formen des interreligiösen Zusammenlebens am Beispiel von al-Andalus. Dabei ergibt sich ein differenziertes Bild: Buchners Geschichte Oberstufe stellt das Zusammenleben der Angehörigen verschiedener Ethnien und Religionen knapp und nüchtern dar, ohne den Begriff der »Convivencia« einzuführen.39 Zeiten und Menschen untersucht ausführlicher »Möglichkeiten und Grenzen der friedlichen Koexistenz in ›al-Andalus‹« und bietet drei unterschiedliche Historikerurteile, die es den Schüler/-innen ermöglichen, sich ein 33 Dass Schulbücher gerade bei der Übersetzung und Definition des »Dschihad« begrifflich größere Sorgfalt walten lassen sollten, hat bereits Wolfang Geiger festgestellt: Geiger, »Ob Gott es wirklich so wollte?«, S. 121f. 34 Vgl. Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 93f., 106f., 116–119. 35 Vgl. ebd., S. 88f., 94, 96, 100. 36 Vgl. Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte, S. 124f. 37 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 131. 38 Vgl. Karin Laschewski-Müller / Robert Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte. Einführungsphase. Nordrhein-Westfalen, Berlin 2014, S. 85. 39 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 132.
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differenziertes Bild zu machen.40 Das Kursbuch Geschichte bietet zur »Convivencia« die ausgewogene Einschätzung des Romanisten Georg Bossong, sie sei zeitweise historische Realität gewesen, aber schließlich zwischen christlichem und islamischem Fundamentalismus zerrieben worden.41 Eine zugegebenermaßen recht anspruchsvolle Aufgabenstellung aus dem Anforderungsbereich III stellt die rhetorische Frage Bossongs zur Diskussion, ob die »Rückbesinnung auf die Werte von al-Andalus auf dem Weg zum Frieden zwischen Christen, Juden und Muslimen« heute helfen könne.42 Die Aufgabe stellt eine gute Möglichkeit dar, die Relevanz mittelalterlicher Themen für die Gegenwart zu thematisieren und reflektieren. Eine Idealisierung von al-Andalus als »multikulturelle Utopie«43 findet zumindest in den hier untersuchten Schulbüchern der Sekundarstufe II für Nordrhein-Westfalen kaum statt, vielmehr bemühen sich die Lehrwerke an dieser Stelle um eine differenzierte Darstellung.44 Dennoch führt die terminologische Unschärfe des KLP im Umgang mit »Islam« und »Christentum« dazu, dass häufig auch bei den Schulbuchdarstellungen unklar ist, ob sie sich gerade auf einer religiösen, kulturellen, ethnischen oder politischen Ebene bewegen. Verschiedene Formen arabisch-islamischer Herrschaft werden dadurch implizit, zuweilen aber auch explizit mit dem Islam gleichgesetzt. Wenn der KLP von einer »kulturellen Leistung« bzw. »Weiterentwicklung«45 spricht, die es für die islamische bzw. christliche »Welt« zu analysieren gelte, legt er somit eine Interpretation nahe, die oft in einem Narrativ gebrochenen Fortschritts für den Islam mündet – ein Muster, das sich ähnlich auch in älteren Schulbüchern findet.46 Spätestens wenn die osmanische Expansion in der Frühen Neuzeit behandelt wird, zeigt sich der Konstruktcharakter des Inhaltsfeldes: Alle untersuchten Lehrbücher haben Schwierigkeiten, die osmanische Expansion unter die Klammer »Islamische Welt – christliche Welt« zu fassen. Die jeweiligen Unterkapitel erscheinen, dem chronologischen Prinzip nach sortiert meist zuletzt, weitgehend unverbunden mit den vorigen Kapiteln, die stärker untereinander verknüpft 40 Vgl. Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 182–185. 41 Vgl. Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 92, dort Zitat nach: Georg Bossong, Das maurische Spanien. Geschichte und Kultur, 2. Aufl., München 2010 (C.H. Beck Wissen), S. 121. Vgl. außerdem die Überlegungen zu Schulbuchdarstellungen über al-Andalus in der Sekundarstufe I und II von Peter Geiss in diesem Band. 42 Vgl. Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 92. 43 So äußert sich Wolfgang Geiger zu Schulbuchdarstellungen in Hessen für die Sekundarstufe I: Geiger, »Ob Gott es wirklich so wollte?«, S. 125. Vgl. außerdem den Beitrag von Daniel G. König in diesem Band. 44 Vgl. den Beitrag von Peter Geiss in diesem Band. 45 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan, S. 18. 46 Vgl. Georg-Eckert-Institut, Keine Chance auf Zugehörigkeit?, S. 3.
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sind. Die Schwierigkeit besteht darin, dass mit der Geschichte des Osmanischen Reiches ein sehr spezielles Fallbeispiel unter der ganz allgemeinen Frage nach Formen islamischer Herrschaft und religiös-kultureller Transfers in der Frühen Neuzeit beleuchtet werden soll. Die Trennung zwischen diesen beiden Ebenen wird nicht ausreichend deutlich gemacht, sodass die Gefahr besteht, dass Schüler/-innen das Osmanische Reich als Repräsentant des Islam in der Frühen Neuzeit schlechthin wahrnehmen. Vielleicht wird es deswegen eher abgekoppelt von den übrigen Unterkapiteln thematisiert. Die meisten Lehrbücher trennen zudem begrifflich nicht klar zwischen den Zuschreibungen »arabisch«, »islamisch« und »arabisch-islamisch« oder dem »christlichen«, »abendländischen«, »europäischen« oder »christlich-europäischen« Raum. Diese Begriffe werden weitgehend synonym zur Bezeichnung des islamischen und christlichen Einflussgebietes und der dort lebenden Menschen verwendet – unabhängig von der Existenz religiöser Minderheiten.47 Grundsätzlich sollten darüber hinaus alle Lehrbücher die direkten Artikel mit Bedacht einsetzen und im Zweifel auf unbestimmte Artikel oder den Plural zurückgreifen, um pauschalisierende Beschreibungen der Christen oder der Muslime zu vermeiden. Ähnlich erscheint auch in vielen Kartendarstellungen vor allem das arabisch-islamische Einflussgebiet nach der islamischen Expansion als monolithischer, in sich geschlossener Raum. Farblich ist er meist in grün gehalten, manchmal in verschiedenen hell- oder dunkelgrünen Abstufungen, während der zentraleuropäische Raum völlig unterschiedliche Farben für römisch-katholisch und griechisch-orthodox geprägte Gebiete aufweist oder nicht entlang religiöser ›Grenzen‹, sondern direkt entlang der Herrschaftsgrenzen eingeteilt ist.48 Grundsätzlich wären hier Karten wünschenswert, die so klar wie möglich trennen zwischen der Ebene politischer Herrschaft und der Ebene der religiösen Majorität. Wenn aus fachwissenschaftlicher Sicht ein enger Zusammenhang zwischen beiden besteht, wie etwa im Kontext des Imperiums der frühen Kalifen im 7. Jahrhundert, und damit die zusammenhängende Einfärbung gerechtfertigt ist, dann sollte gleichwohl die große kulturelle und religiöse Diversität innerhalb des Reiches thematisiert werden. Bei einer Gegenüberstellung eines europäisch-christlichen Raumes und eines arabisch-islamischen Raumes, in der dies aus Gründen der didaktischen Reduktion ausbleibt, sollte zumindest darauf geachtet werden, die innere Komplexität beider Räume in 47 Vgl. exemplarisch: Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 170f.; Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 88; Sophie Drescher / Peter Johannes Droste / Christine Dzubiel (Hg.), Geschichte und Geschehen. Einführungsphase Oberstufe. Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 2014, S. 106. 48 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 107; Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 63, 66, 73; Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte, S. 76.
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gleichem Maße reduziert darzustellen. Gut gelingt dies bei zwei Karten in Buchners Geschichte Oberstufe.49 Komplizierter wird es im Zuge des Streits um die rechtmäßige Nachfolge des Propheten Mohammed, der insbesondere in den Jahren vor und während des Kalifats von ʿAlı¯ ibn Abı¯ Ta¯lib (656–661) wiederaufflammte und letztlich zur Entstehung der Schia führte.50 Angesichts dieser religiösen Aufspaltung sowie der darauffolgenden inneren Konflikte und der mit ihnen einhergehenden Zersplitterung des arabisch-islamischen Machtbereichs werden manche Karten, die hier noch eine religiöse und politische Einheit suggerieren, den komplexen historischen Verhältnissen nicht gerecht. Sie konstruieren einen religiös und politisch vermeintlich einheitlichen Raum, während eigentlich gerade die (Glaubens-)Spaltungen und die Zersplitterung der Kalifate als wichtige Voraussetzungen für die Eroberungen der Kreuzfahrer berücksichtigt werden müssten.51 Kartendarstellungen, die zwangsläufig hochkomplexe Inhalte didaktisch reduziert in übersichtlicher Form präsentieren, sind bei diesem Thema also mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert. Dies gilt insbesondere für das nicht immer eindeutig darstellbare Verhältnis von politischen und religiösen Grenzen. Geschichte und Geschehen geht transparent mit dieser Herausforderung um und nutzt sie wiederum als Lernanlass: »Erörtern Sie anhand der Karte (S. 93) und des darstellenden Textes dieses Kapitels, ob es sinnvoll ist, die grün unterlegten Gebiete auf Geschichtskarten als ›islamische Gebiete‹ zu kennzeichnen«.52 Auf diese Weise bietet das Buch die Möglichkeit, Konzeptsensibilität und Methodenkompetenz zugleich zu schulen. Vielleicht wäre darüber hinaus an mancher Stelle in Geschichtsschulbüchern die Kartographierung religiöser Vielfalt unter islamischer Herrschaft, sofern darstellbar, im Sinne des interkulturellen Lernens interessanter als eine rein politische Einfärbung. Insgesamt sind also unter dem Gesichtspunkt der Konzeptsensibilität einige gute Ansätze erkennbar, auch wenn die Umsetzung des diachronen Längsschnittes sich im engen Rahmen der KLP-Vorgaben bewegen muss und dadurch konzeptionell begrenzt ist. Besonders vielversprechend für das Lernen zentraler geschichtswissenschaftlicher Konzepte sind solche Vorschläge der Lehrbücher, die den Konstruktcharakter der thematischen Vorannahmen, kartographischen Darstellungen oder auch Übersetzungen hinterfragen und zum Lerngegenstand machen. Es würde sich lohnen, diese Ansätze weiterzuentwickeln, denn nach wie 49 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 163, 171. 50 Für einen fachwissenschaftlichen Überblick vgl. Lutz Berger, Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen, München 2016. 51 Vgl. Geiger, »Ob Gott es wirklich so wollte?«, S. 127–129, 131. Eine Karte, die differenziert auf die Lage der arabischen Reiche ab dem 11. Jahrhundert eingeht, bieten Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 82. 52 Drescher u. a. (Hg.), Geschichte und Geschehen, S. 121.
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vor bleibt die Darstellung des Islam weitgehend stereotyp und wird seiner religiösen, kulturellen und politischen Diversität auch in seiner zeitlichen Veränderung nicht gerecht. Eine Analyse des Verhältnisses zwischen Christen und Muslimen sollte sich nicht auf Konflikte und Probleme des Zusammenlebens beschränken, sondern diverse Berührungsfelder aufzeigen. Dass dies auf sachlich-analytischer Ebene gut gelingen kann, auch ohne relevante Themen wie den islamistischen Terrorismus zu verschweigen, zeigt der Themeneinstieg aus Buchners Geschichte Oberstufe.53 Gerade auch der inhaltliche Schwerpunkt des KLP »Die Entwicklung von Wissenschaft und Kultur«54 bietet hierfür viele Anknüpfungspunkte, die zum Beispiel das Buchner-Lehrbuch in sinnvoller Weise nutzt.55
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Interkulturalität
Eines sei den Betrachtungen zu Interkulturalität in den Schulbuchkapiteln zunächst als Grundsatzproblem vorangestellt: der Begriff der »Kultur«. Bereits der Kernlehrplan verkürzt die zwei Religionen Islam und Christentum zu zwei Kulturen.56 Ob dieser Kurzschluss zulässig ist, sei an dieser Stelle angezweifelt. Dabei ist aber nicht nur die begriffliche Reduktion problematisch, sondern auch der Kulturbegriff als solcher wird in der Forschung immer wieder in Frage gestellt. Wenn Kulturen in der Herder᾽schen Tradition essentialistisch als gegebene, voneinander abgegrenzte Strukturen verstanden werden,57 steht dies dem interkulturellen Lernen diametral gegenüber. Andreas Körber formuliert als Herausforderung für den Umgang mit »Kulturen« im interkulturellen Lernen: »Solange die betrachteten ethnischen bzw. kulturellen Gruppen aber als vorgegeben und eigentlich grundsätzlich voneinander getrennt unterstellt werden, bleibt [die] ›Nutzanwendung‹ für die Gegenwart gering.«58 In den Schulbüchern wird der Kulturbegriff als solcher nicht verhandelt. Vielmehr vermischen die Schulbücher teilweise unterschiedliche Auffassungen miteinander, so beispielsweise in Zeiten und Menschen, wo in einzelnen Unterkapiteln zunächst der Islam 53 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 104f. 54 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan, S. 24. 55 So etwa anhand des Fallbeispiels Medizin und der Entwicklung von Universitäten und weiteren Orten der Bildung und Wissenschaft als kultureller Bindeglieder. Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 144–161. 56 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan, S. 18. 57 Vgl. Andreas Körber, Geschichte und interkulturelles Lernen. Begriffe und Zugänge, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001), S. 292–304, hier S. 294. 58 Ebd., S. 300.
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und dann das Christentum behandelt werden, also eine dem Kernlehrplan entsprechende Gleichsetzung von Religion und Kultur stattfindet, während in einem späteren Unterkapitel »Kulturkontakt und Kulturaustausch zwischen arabischer und europäischer Kultur im Mittelalter«59 Kultur eher im Sinne von Wissenschaft, Kunst und Architektur verstanden wird. Weiterhin werden christliche und islamische Religion bzw. Kultur in den Schulbüchern häufig als zwei voneinander getrennte Entitäten dargestellt, die sich nur in einigen wenigen Punkten, wie al-Andalus und Outremer, berühren. Besonders programmatisch zeigt sich dies in Geschichte und Geschehen, wo der Auftaktdoppelseite eine Doppelseite zur zeitlichen Orientierung nachgestellt ist, bevor das erste Unterkapitel beginnt. Diese Doppelseite zeigt drei voneinander abgesetzte Zeitstrahle, einen für die »Christliche Welt«, einen für die »Muslimische Welt« und einen für »Technik, Kultur und Wissenschaft«.60 Dadurch wird nicht nur die diffuse Auffassung des Kulturbegriffs erneut deutlich, sondern auch die Tatsache, dass die Betrachtungsweise im Fokus zweier Religionen als Ausgangspunkt genommen wird, um zwei voneinander getrennte Kulturen zu postulieren. Auf dieser Grundlage gilt es zu klären, was Interkulturalität bzw. interkulturelles Lernen im Schulbuch bedeutet und wie es in den hier betrachteten Kapiteln umgesetzt wird. Interkulturelles Lernen meint nicht bloß das Lernen über andere, fremde Kulturen, sondern immer auch Lernen über die eigene Kultur. Es bedeutet auch, über die eigene Identität zu reflektieren.61 Historisches Lernen kann dazu in erheblichem Maße beitragen, denn »Geschichte ist per se Fremdverstehen«62 und Geschichtslernen beinhaltet »sowohl eine diachrone als auch eine synchrone Fremderfahrung«63. Folgt man Elisabeth Gentners Begriffsabgrenzung,64 so beschäftigen sich die Schulbuchkapitel sowohl mit interkulturellen als auch mit multikulturellen Perspektiven, welche den einzelnen Unterkapiteln jeweils klar zugeordnet, gleichwohl von den Schulbüchern aber nicht so benannt werden. Die Unterkapitel, die den Themenkomplex al-Andalus, den Status der dhimmis oder religiöses Zusammenleben in Outremer behandeln, wählen in der Regel einen multikulturellen Zugriff, indem sie den Blick auf das 59 Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 170. 60 Drescher u. a. (Hg.), Geschichte und Geschehen, S. 94. 61 Vgl. Elisabeth Gentner, Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht, Frankfurt a.M. 2019 (Methoden historischen Lernens. Wochenschau Geschichte), S. 19; Bettina Alavi, Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. Eine fachdidaktische Studie zur Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen, Frankfurt a.M. 1998 (Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Migration, Ethnizität und gesellschaftlicher Multikulturalität, 9), S. 47–59. 62 Bodo von Borries, Interkulturalität beim historisch-politischen Lernen – Ja sicher, aber wie?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 52 (2001), S. 305–324, hier S. 315. 63 Gentner, Interkulturelles Lernen, S. 22. 64 Vgl. ebd., S. 26f.
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Zusammenleben verschiedener Kulturen / Religionen innerhalb einer Gesellschaft richten.65 In den Unterkapiteln zum Wissenstransfer und Kulturkontakt im Mittelalter geht es dagegen um eine interkulturelle Perspektive durch die Ausrichtung auf Verschränkungs- und Transferprozesse zwischen zwei – vermeintlich voneinander getrennten – Kulturen. Gentner sieht es als Vorteil, »dass die zu behandelnden Themenfelder eine entsprechende zeitliche Distanz aufweisen. Damit gehen eine geringere emotionale Involviertheit und eine geringere direkte Betroffenheit einher.«66 Eben diese Distanz kann gleichzeitig aber auch zum Problem für das interkulturelle Lernen werden. Den Schüler/-innen kann es mitunter schwerfallen, einen Bezug zum Thema aufzubauen, sodass interkulturelles Lernen und Verständnis durch diachrone wie synchrone Fremderfahrung bei zu weit von der Lebenswirklichkeit der Schüler/-innen entfernten Themen eher verhindert als gefördert werden kann.67 Auch falsche Vorstellungen von der kulturellen Prägung der Schüler/innen können diese Distanz verstärken, etwa bei der Thematisierung von alAndalus, das als Musterbeispiel für (vermeintlich) friedliches Zusammenleben dreier Religionen in drei von fünf Schulbüchern zu finden ist. Nicht alle Schüler/innen, die in formaler Hinsicht christlichen oder muslimischen Glaubens sind, leben diesen Glauben auch aus und können religiöse Erfahrungen in den Geschichtsunterricht einbringen.68 Diese »Fallstricke« des interkulturellen Lernens, wie Bodo von Borries sie beschrieben hat, können nicht nur in der Unterrichtspraxis auftreten, sondern auch im Schulbuch offenkundig werden. Dies erstreckt sich nicht nur auf die Themen aus der Vergangenheit, die für das Schulbuch ausgewählt wurden, sondern auch auf die gewählten Gegenwartsbezüge. Diese sind dabei in den Vorgaben des Kernlehrplans explizit angelegt, denn dort ist als Ziel des Inhaltsfeldes festgehalten: »Das Inhaltsfeld gibt einer Gegenwartsthematik die historische Tiefe und trägt zur Reflexion von gegenwärtig wirksamen Feindbildern und Stereotypen bei.«69 Zwei von fünf Schulbüchern thematisieren die Frage eines potenziellen Beitritts der Türkei zur Europäischen
65 Vgl. Drescher u. a. (Hg.), Geschichte und Geschehen, S. 114–121; Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 76f., 88–95; Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte, S. 134f.; Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 175–179. 66 Gentner, Interkulturelles Lernen, S. 22. 67 Vgl. Bodo von Borries, Fallstricke interkulturellen Geschichtslernens. Opas Schulbuchunterricht ist tot, in: Viola B. Georgi / Rainer Ohliger (Hg.), Crossover Geschichte. Historisches Bewusstsein Jugendlicher in der Einwanderungsgesellschaft, Bonn 2009 (Bundeszentrale für Politische Bildung. Schriftenreihe, 1018), S. 25–45. 68 Vgl. den Beitrag von Peter Geiss in diesem Band. 69 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan, S. 18.
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Union als gegenwartsbezogene Problemfrage.70 Durch die Zuordnung dieses Themas zum Kapitel »Islamische Welt – christliche Welt« wird eine Kontinuitätslinie von der islamischen Welt im Mittelalter über das Osmanische Reich bis zur heutigen Türkei gezogen. Dabei zeigt sich jedoch die rasche Wandelbarkeit politischer Situationen und damit die Problematik der Gegenwartsbezüge im Schulbuch. Die Abschnitte zur Beitrittsfrage basieren in den meisten Schulbüchern auf Meinungen von Historiker/-innen bzw. Wissenschaftler/-innen aus den frühen 2000er Jahren, als die Frage des EU-Beitritts der Türkei ernsthaft verhandelt wurde. Im Lichte der aktuellen innenpolitischen Situation in der Türkei wird diese Frage aber unter ganz anderen Gesichtspunkten diskutiert als noch vor über 15 Jahren. Weiterhin muss hier die Frage nach der Relevanz dieses Themas für die Lebenswelt der Schüler/-innen gestellt werden, denn im Hinblick auf interkulturelles Lernen in multikulturellen Gesellschaften fordert Elisabeth Gentner, dass »der jeweils hergestellte Gegenwarts- und Zukunftsbezug für die Schüler/-innen bedeutsam sein [muss] – unabhängig von ihrer jeweiligen kulturellen Herkunft.«71 Offen bleibt nicht zuletzt auch, ob anhand der Kapitel zu Islam und Christentum wirklich interkulturell oder nicht bloß über vergangene und fremd anmutende Kulturen gelernt und damit die Wahrnehmung von Fremdheit in der Gegenwart nur noch verstärkt wird. Wird interkulturelles Lernen verstanden als das Lernen über das Eigene durch das Lernen über das Fremde mit dem Ziel, die »Fähigkeit, mit unterschiedlichen Interessen, Normen, Werthaltungen und Deutungsmustern umzugehen«72, zu entwickeln, so muss hinterfragt werden, inwiefern Reflexionsprozesse über Perspektivität und über die eigene Standortgebundenheit sowie der tatsächliche Umgang mit den Perspektiven und Standpunkten anderer durch das Schulbuch wirklich angeregt werden. Eine wichtige Rolle spielen hierbei das geschichtsdidaktische Prinzip der Multiperspektivität73 sowie Aufgabenstellungen, die zur Reflexion, also unter anderem zur Urteilsbildung, anregen. Im Hinblick auf Multiperspektivität spielt dabei nicht nur eine Rolle, dass Quellen unterschiedlicher Provenienz einbezogen werden sollen, sondern dass in diesen Quellen Meinungen und Perspektiven deutlich werden und durch das Schulbuch ein kontroverser Austausch über diese unterschiedlichen Perspektiven angeregt wird, damit Schüler/-innen Fremdverstehen und Perspektiverweiterung einüben und letztlich interkulturell histo70 Vgl. Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 107–113; Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 201f. 71 Gentner, Interkulturelles Lernen, S. 24. 72 Körber, Geschichte und interkulturelles Lernen, S. 298, Hervorhebung im Original. 73 Vgl. grundlegend Klaus Bergmann, Multiperspektivität, in: Ulrich Mayer / Hans-Jürgen Pandel / Gerhard Schneider (Hg.), Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, 5. Aufl. Schwalbach/Ts. 2016 (Forum Historisches Lernen), S. 408–424.
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risch lernen können.74 Nimmt man Materialien in den Schulbüchern näher in den Blick, zeigt sich ein interessanter Befund: In vier von fünf Schulbüchern ist die Verteilung zwischen Quellen christlicher und muslimischer Provenienz fast ausgeglichen, eine Abweichung zugunsten der christlichen Perspektive stellt lediglich der Band Geschichte Oberstufe dar.75 In diesen vier von fünf Schulbüchern sind es aber nicht die zeitgenössischen Quellen, die den Großteil der Materialien ausmachen, sondern vielmehr die Wissenschaftlermeinungen. Diese umfassen etwa die Hälfte der Materialien. In den Schulbuchkapiteln scheint also weniger die Quellenarbeit als vielmehr der Umgang mit Rekonstruktionen von Vergangenheit in Form von wissenschaftlichen Darstellungen sowie der Umgang mit Urteilen am Beispiel von Wissenschaftlermeinungen im Vordergrund zu stehen. Letzteres wird vor allem daran deutlich, dass häufig kontroverse Positionen oder wissenschaftliche Thesen und Gegenrede zu diesen einander gegenübergestellt werden, beispielsweise Samuel P. Huntingtons These vom »Clash of Civilizations«76 oder Heinrich August Winklers These vom »langen Weg nach Westen«77. Einen von den anderen Schulbüchern abweichenden Ansatz, der auf den ersten Blick als wenig auf Interkulturalität ausgerichtet anmutet, verfolgt Buchners Geschichte Oberstufe. Hier werden auf den ersten 23 Seiten des Kapitels zunächst verschiedene Aspekte des zentraleuropäischen Mittelalters unter der Leitfrage des Verhältnisses von »Herrschaft und Religion«78 abgehandelt. Danach folgt ein Unterkapitel über die islamische Welt im Mittelalter unter der Leitfrage »Wer sind diese Sarazenen?«79 sowie ein Unterkapitel über »Juden im Reich«80. Erst nach diesen drei anhand der religiösen Grenzen getrennten Betrachtungen folgen Unterkapitel, die kulturelle Verschränkungen und Vergleiche thematisieren, Multiperspektivität in der Quellenauswahl umsetzen und interkulturelles Lernen ermöglichen. Obwohl die Verwendung des Begriffes »Sarazenen« im Sinne eines sprach- und konzeptsensiblen Unterrichts ebenso zu problematisieren ist wie das quantitative Ungleichgewicht in der Kapitelaufteilung,81 kann dieser Ansatz möglicherweise einige »Fallstricke« des interkulturellen Lernens umgehen. Dadurch, dass die Kapitel die Religionen / Kulturen zunächst einzeln 74 Vgl. ebd., S. 302. 75 In diesem Fall 38 christlich-westliche zu 11 islamischen Quellen. 76 Vgl. Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 102f.; Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, London 1996. 77 Vgl. Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte, S. 136f.; Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009. 78 Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 106. 79 Ebd., S. 128. 80 Ebd., S. 135. 81 In diesen drei nach Religionen getrennten Kapiteln entfallen 23 Seiten auf das christliche Mittelalter, sieben Seiten auf die sogenannten »Sarazenen« und neun Seiten auf jüdisches Leben im Mittelalter; vgl. ebd., S. 108–143.
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behandeln, werden die Gefahren von »Identitätskonkretheit«82 und »Kulturalisierung«83 abgemildert. Alle Schüler-/innen werden unabhängig von ihrer eigenen religiösen und kulturellen Zugehörigkeit zunächst auf einen einheitlichen Kenntnisstand gebracht. Der Gesamtbefund hinsichtlich der Förderung interkulturellen Lernens durch die Schulbücher bleibt ernüchternd. Die Gesamtschau zeigt, dass trotz vermeintlicher Ausgeglichenheit in der Quellenauswahl die »christlich-westliche« Perspektive im Vordergrund steht und die Schulbücher von der Prämisse ausgehen, dass Schüler/-innen das Christentum als Religion kennen, während man versucht, ihnen den Islam zu erklären. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass in zwei von fünf Schulbüchern der Islam als Religion erklärt wird, entweder anhand von zentralen Begriffen oder anhand eines Schaubildes zu den fünf Säulen.84 Wie oben bereits erläutert, ist positiv hervorzuheben, dass der Islam hier als Religion, nicht als Kultur oder Herrschaftsform begriffen wird. Dennoch bleibt zu kritisieren, dass eine solche Erläuterung für das Christentum fehlt. Letztlich bleibt ein Eindruck doppelter Alterität zurück, den die Schulbücher nicht einzuordnen vermögen – Andersartigkeit des Mittelalters und vor allem der islamischen Welt als die »andere«. Diese Alteritätserfahrung ist wichtig für historisches Lernen, da sie Schüler/-innen hilft zu erkennen, dass ihre Maßstäbe nicht die einzig gültigen sind und die Welt in anderen Zeiten und an anderen Orten nach anderen Maßstäben geordnet wurde oder wird. Doch um diese Erkenntnis generieren zu können, müssen solche Andersartigkeiten von Zeiten und Kulturen explizit zum Thema gemacht werden – dies geschieht zumindest auf Grundlage der Schulbücher nicht vollständig und wird so den Lehrer/-innen für die Praxis überlassen.
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Normativität
Interkulturelles Lernen hat immer auch eine normative Komponente, denn »Gesellschaften bedürfen gemeinsamer Werte und normativen Zusammenhalts«85 – insbesondere in kulturell heterogenen Gesellschaften. Doch welche Normen und Werte werden in den Schulbuchkapiteln zu Islam und Christentum vermittelt? Im Hinblick auf Normativität in den Schulbuchkapiteln ist dabei zwischen wirklich normativen und lediglich in Ansätzen wertenden Aussagen zu unterscheiden. So werden beispielsweise im Schulbuch Geschichte Oberstufe 82 83 84 85
Borries, Fallstricke, S. 30. Ebd., S. 27. Vgl. Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 107; Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte, S. 99. Borries, Interkulturalität, S. 309.
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Materialien folgendermaßen eingeleitet: »Der renommierte Mittelalterhistoriker Johannes Fried schreibt in seinem Buch ›Das Mittelalter‹ von 2008 über Bildung«86. Während andere Wissenschaftler/-innen in den einleitenden Paratexten zu den Materialien nicht als ›renommiert‹ charakterisiert werden und dieses Attribut inhärent wertend ist, hat es nicht direkt eine normative Komponente. Tatsächlich normative Komponenten finden sich an anderer Stelle. Ein erster Indikator können (wert-)urteilsbezogene Aufgabenstellungen sein, wenn man davon ausgeht, dass Normen als Rahmen von Urteilen immer dann deutlich werden, wenn etwas aktiv beurteilt oder bewertet wird. In werturteilsbezogenen Aufgabenstellungen werden Normen performativ. Im Rahmen dieser dem Anforderungsbereich III87 zugeordneten Arbeitsaufträge werden die Schüler/-innen dazu aufgefordert, Sachverhalte oder Quellen zu bewerten und zu beurteilen. Die Trennung in Sach- und Werturteil wird dabei in der Regel durch die Operatoren »beurteilen« für Sachurteile und »bewerten« für Werturteile deutlich gemacht. Grundsätzlich divergiert die Gesamtanzahl der Arbeitsaufträge in den Kapiteln stark – von 98 in Horizonte bis hin zu 213 in Buchners Geschichte Oberstufe. Diese mengenmäßigen Unterschiede machen deutlich, dass Arbeitsaufträge in Schulbüchern vor allem als Angebot zu verstehen sind. Tatsächlich machen urteils- und speziell werturteilsbezogene Arbeitsaufträge nur einen kleinen Teil der Arbeitsaufträge in den Schulbuchkapiteln zum Inhaltsfeld 2 aus. Im Durchschnitt sind etwa 18 % der Arbeitsaufträge dem Anforderungsbereich III zuzuordnen. Davon wiederum sind zwischen 2,4 % und 7,1 % auf Werturteile bezogen. Alle Schulbücher beinhalten urteilsbezogene Aufgabenstellungen, Zeiten und Menschen kommt aber ganz ohne werturteilsbezogene Aufgaben aus. Trotz der geringen Anzahl in den anderen Schulbüchern im Verhältnis zur Gesamtanzahl der Arbeitsaufträge können werturteilsbezogene Aufgabenstellungen einen ersten Anhaltspunkt für die normative Komponente der Schulbuchkapitel bieten. Im Rahmen dieser Arbeitsaufträge sind die Schüler/-innen angehalten, sich mit eigenen Normen und Werten auseinanderzusetzen. Meist sind sie dabei jedoch nicht völlig frei, sondern sollen in eine vorgegebene Richtung, im Sinne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, argumentieren.88 Dies wird in den Aufgabenstellungen auch explizit verlangt. So finden sich beispielsweise im Kursbuch Geschichte die folgenden beiden Arbeitsaufträge: »3. Beurteilen Sie das 86 Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 161. 87 Vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan, S. 49f. 88 Vgl. Peter Geiss, Nützliche Nachfragen aus Frankreich. Urteilsbezogene Arbeitsaufträge für den Geschichtsunterricht im deutsch-französischen Dialog, in: Rainer Bendick u. a. (Hg.), Deutschland und Frankreich – Geschichtsunterricht für Europa. Die deutsch-französischen Schulbuchgespräche im europäischen Kontext, Frankfurt a.M. 2018 (Geschichte für heute in Wissenschaft und Unterricht), S. 154–170, hier S. 161–164.
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Verhalten der Kreuzfahrer. 4. Bewerten Sie dieses aus heutiger Sicht.«89 Als Quellengrundlage für diese Aufgabe dienen der Aufruf zum Kreuzzug von Papst Urban II. aus dem Jahr 1095 und der häufig zitierte Abschnitt von Wilhelm von Tyrus über die Einnahme Jerusalems 1099, der aus dem Jahr 1169 stammt.90 Hier werden also heutige, postaufklärerische und humanistische Normen und Werte an das 11. Jahrhundert herangetragen. Das Urteil der Schüler/-innen kann in diesem Fall, auch bedingt durch die Auswahl der Quellen, nicht auf einer rein sachlichen, sondern nur auf einer normativen Ebene ausfallen – als Reproduktion sozial erwünschter, moderner Werte. Offener gehalten sind dagegen beispielsweise die urteilsbezogenen Aufgabenstellungen in »Horizonte«: »a) Erläutern Sie die Vorstellungen von ›Toleranz im Mittelalter‹. b) Setzen Sie sich mit diesen Vorstellungen auseinander.«91 Insbesondere der zweite Aufgabenteil lässt eine gegenwartsbezogene oder sachbezogene Auseinandersetzung auf Basis eigener Einschätzungen der Schüler/-innen zu, ohne den Werterahmen direkt vorzugeben. Eine grundlegende normative Komponente wohnt allgemein schon der Auswahl der Themen und Fragestellungen inne.92 Für die Themenauswahl in den hier betrachteten Schulbuchkapiteln ist diese Feststellung besonders relevant, da der Lehrplan für das Inhaltsfeld wenig konkrete Themenvorgaben macht. Durch die Auswahl der Themen von wissenschaftlichem Fortschritt und Austausch, des interreligiösen Zusammenlebens und der Rechtfertigungen von Krieg werden der Wert des wissenschaftlichen Fortschritts, der (religiösen) Toleranz und der Friedfertigkeit als Normen deutlich. Die Leitfrage, die auch Wolfgang Geiger als Titelzitat für seinen Aufsatz zum Islam im Geschichtsschulbuch wählte, – »Ob Gott es wirklich wollte?«93 – und die damit zusammenhängenden Kapitel zur Rechtfertigung von Krieg im religiösen Sinne haben eine inhärent normative Komponente, die bereits in der Fragestellung deutlich wird. Der normative Rahmen wird dabei durch den Bezug auf religiöse Vorstellungen vorgegeben. Gleichzeitig ist darin eine religionskritische Perspektive enthalten, die ein Verständnis von Religion als Ursache von Krieg zulässt. Wenn so bereits die Themenauswahl normativ konnotiert ist, so zeigt dies auch problematische Stellen im Schulbuch auf. Werden die Terroranschläge vom 11. September 2001 im 89 Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 85. 90 Vgl. ebd., S. 84f. Vgl. auch den Beitrag von Alheydis Plassmann in diesem Band. 91 Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte, S. 135. Vgl. zum anachronistischen Toleranzkonzept auch den Beitrag von Daniel G. König in diesem Band. 92 So mit Bezug auf die Wissenschaft bereits Max Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Ders., Gesammelte Schriften zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 489–540, hier S. 499f., 512. 93 Geiger, »Ob Gott es wirklich wollte?«, S. 117.
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Schulbuchkapitel zum Thema »Islamische Welt – christliche Welt« als Einstieg gewählt,94 dann muss hinterfragt werden, welche normativen Vorstellungen mit dieser Auswahl verbunden sind. Eine Anordnung mittelalterlicher Darstellungen von Kreuzfahrern und interreligiösen Begegnungen neben einem Text, der mit den Attentaten des 11. September beginnt,95 oder eine ausführliche Beschreibung des zeitlichen Ablaufs an diesem Tag als Kapiteleinstieg96 suggerieren eine Kontinuitätslinie vom Islam des Mittelalters bis zu islamistischem Terrorismus heute. Sie rufen gleich zu Beginn des Kapitels eine hochgradig emotional aufgeladene Alteritätserfahrung hervor, die den Islam als »das Andere« und »das Böse« erscheinen lässt. Die Tatsache, dass allen Religionen ein destruktives Potenzial innewohnen kann, tritt dabei aufgrund der dominanten Stellung des islamistischen Terrorismus im öffentlichen Diskurs über religiösen Extremismus in den Hintergrund. Normativität spielt neben der Themenauswahl und den werturteilsbezogenen Aufgaben auch in den Autorentexten eine Rolle – als normative Triftigkeit von Narrationen. Diese definiert Jörn Rüsen folgendermaßen: »Maßgeblich für die in die Zukunft weisenden Absichten sind Normen, die darüber bestimmen, was sein soll. Solche Normen formen die Intentionalität des menschlichen Handelns zu handlungsbestimmenden Absichten. Normativ triftig sind also die Geschichten, die die Bedeutung der vergegenwärtigten Vergangenheit mit den Normen begründen, die den handlungsbestimmenden Absichten ihrer Adressaten zugrundeliegen«97. In Bezug auf das Inhaltsfeld 2 bedeutet dies, dass die Vergegenwärtigung früherer Feindbilder in dekonstruierender Art und Weise handlungsleitend sein sollte für ein friedliches interkulturelles und interreligiöses Zusammenleben in der heutigen Zeit.
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Fazit
Wie pauschal oder differenziert behandeln die fünf untersuchten Schulbücher also Islam, Christentum und ihr Verhältnis zueinander? In der Umsetzung des KLP weichen die Lehrwerke stark voneinander ab, was sich schon in ihrer Kapitelstruktur zeigt. Allgemein gesehen behandeln die meisten Schulbücher die zentraleuropäische und arabische Geschichte zunächst getrennt, bevor sie sie 94 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 104; Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 88–103. 95 Vgl. Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe, S. 104f. 96 Vgl. Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen, S. 88f. 97 Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1489), S. 98f.
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punktuell vergleichend gegenüberstellen und Kulturbegegnungen und -transfers thematisieren.98 Einzig Cornelsens Kursbuch Geschichte verfolgt von Anfang an ein Prinzip der integrierten Betrachtung und unterstreicht damit die einführende These, dass »[i]slamische und europäische Welt […] über eine lange und relativ enge gemeinsame Geschichte«99 verfügen. Durch das vom KLP vorgegebene Prinzip des historischen Längsschnittes soll insgesamt der Eindruck vermieden werden, die Geschichte der arabisch-islamischen Welt ende mit dem 15. Jahrhundert – ein Eindruck, den ältere Schulbücher noch so vermittelten.100 Insgesamt behalten dennoch das durch das KLP-Inhaltsfeld 2 nahegelegte »Gegeneinander« von Islam und Christentum und das Narrativ kultureller Weiterentwicklung maßgeblichen Einfluss. Dieses Narrativ wird von den Schulbüchern in unterschiedlicher Ausprägung aufgenommen und lässt sich in überspitzter Form wie folgt ausbuchstabieren: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart lasse sich eine Linie ungebrochener Kontinuität in der Entwicklung des Islam und des Christentums ziehen. Im Mittelalter sei die arabisch-islamische Zivilisation der europäisch-christlichen Kultur insgesamt überlegen gewesen. Dadurch, dass Gegenwartsbezüge in den Schulbüchern häufig über heutige Probleme der Integration oder des islamistischen Terrorismus hergestellt werden, wird ferner suggeriert, dass sich dieses Verhältnis inzwischen umgekehrt habe. Da Säkularisierungsprozesse in islamisch geprägten Gesellschaften in den meisten Lehrbüchern keine Rolle spielen,101 bleibt die Vorstellung von einer »rückständigen« Verbindung von Religion und Politik, beziehungsweise im drastischsten Fall von religiös-fundamentalistisch motivierter Gewalt, die das christliche Abendland in der Gegenwart im Gegensatz zum muslimisch geprägten Orient hinter sich gelassen habe. Die Lehrwerke, das muss an dieser Stelle betont werden, äußern sich selten explizit in einer derart stereotypen Form. Dieses Narrativ durchdringt auch nicht die kompletten Kapitel. Die Schulbücher ähneln sich etwa darin, dass sie das Osmanische Reich nicht wirklich in eine kohärente Gesamterzählung über die Entwicklung des islamisch-christlichen Verhältnisses einbetten – vermutlich gerade um den Eindruck ungebrochener Kontinuität zu vermeiden. Dennoch legen sie, in unterschiedlichem Maß, immer wieder eine Interpretation in Richtung des obigen Narrativs implizit nahe. Die Gefahr, die eine generalisierte Darstellung der einen oder der anderen Seite mit sich bringt, ist offenkundig: »So 98 Lanzinner (Hg.), Geschichte Oberstufe; Drescher u. a. (Hg.), Geschichte und Geschehen; Baumgärtner u. a. (Hg.), Horizonte; abgesehen vom Kapiteleinstieg auch Lendzian (Hg.), Zeiten und Menschen. 99 Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 59. 100 Vgl. Georg-Eckert-Institut, Keine Chance auf Zugehörigkeit?, S. 6. 101 Ausnahme: Entstehung der modernen Türkei im 20. Jahrhundert in Laschewski-Müller / Rauh (Hg.), Kursbuch Geschichte, S. 107–113.
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steht zu vermuten, dass Pauschalisierungen über ›den Islam‹ negativ auf die Chancen von Schüler/-innen muslimischer Zugehörigkeit wirken, sich europäisch zu identifizieren und von anderen als europäisch wahrgenommen zu werden.«102 Interkulturelles Lernen findet dadurch kaum statt; vielmehr stellen die Schulbücher eine doppelte Fremderfahrung durch die zeitliche Differenz einerseits und die kulturelle Andersartigkeit andererseits her. Würde man dies bereits als interkulturelles Lernen auffassen, dann würde man historische christlich und islamisch geprägte Kulturen fälschlicherweise mit heutigen Gesellschaften gleichsetzen. Ziel muss es vielmehr sein, Islam und Christentum nicht als vorgegebene Entitäten mit bestimmten unveränderlichen Eigenschaften zu verstehen, sondern zu versuchen, sie als Religionen mit diversen Ausprägungen zu begreifen, die mit der kulturellen, politischen, ethnischen und weiteren Ebenen interagieren – aber diese eben nicht umfassen. Ähnliches gilt für urteilsbezogene Aufgabenstellungen. Diese funktionieren dann besonders gut, wenn sie nicht bloß verlangen, einen vorgegebenen gegenwärtigen Werterahmen in verkürzter Weise auf historische Zusammenhänge anzuwenden. Die Aufgaben in den Schulbüchern, die unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten bieten und für begründete Antworten eine differenzierte Auseinandersetzung mit historischen Quellen erfordern, sind letztlich zielführender für das historische Lernen. Auch hinsichtlich konzeptsensibler Lernarrangements sind durchaus produktive Ansätze vorhanden, die ohne stark vereinfachende Stereotypisierungen auskommen sowie interkulturelles Lernen und die Dekonstruktion von Feindbildern ermöglichen. Ein besonders hohes Potenzial dafür bietet der KLP-Themenbereich »Wissenschaft und Kultur«. Hier eröffnen die Schulbücher Möglichkeiten, friedliche Transferprozesse und kulturellen Austausch besser nachvollziehen zu können. Gerade wenn sich Lehrwerke selbstreflexiv mit dem Konstruktcharakter der eigenen thematischen Vorannahmen auseinandersetzen, die Terminologie und die Kartendarstellungen hinterfragen und die Reflexion darüber zum Lerngegenstand machen, besteht die Möglichkeit, sich von stereotypen Wahrnehmungsmustern zu lösen und zu einem differenzierten Verständnis der verschiedenen Begegnungen christlicher und muslimischer Gruppen zu gelangen.
102 Georg-Eckert-Institut, Keine Chance auf Zugehörigkeit?, S. 22.
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Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Schulbücher
Aus Gründen der eindeutigen Zuordnung wird zusätzlich die ISBN angegeben. Baumgärtner, Ulrich / Fieberg, Klaus / Peters, Jelko / Scherberich, Klaus / Schweppenstette, Frank (Hg.), Horizonte. Geschichte Einführungsphase. Sekundarstufe II. NordrheinWestfalen, Braunschweig 2014, ISBN: 978-3-14-111341-9. Drescher, Sophie / Droste, Peter Johannes / Dzubiel, Christine (Hg.), Geschichte und Geschehen. Einführungsphase Oberstufe. Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 2014, ISBN: 978-3-12-430103-1. Lanzinner, Maximilian (Hg.), Buchners Geschichte Oberstufe. Ausgabe Nordrhein-Westfalen. Einführungsphase, Bamberg 2014, ISBN: 978-3-7661-4675-5. Laschewski-Müller, Karin / Rauh, Robert (Hg.), Kursbuch Geschichte. Einführungsphase. Nordrhein-Westfalen, Berlin 2014, ISBN: 978-3-06-064443-8. Lendzian, Hans-Jürgen (Hg.), Zeiten und Menschen – Geschichte. Einführungsphase Oberstufe. Nordrhein-Westfalen, Paderborn 2014, ISBN: 978-3-14-024946-1.
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Begegnungen zwischen Islam und Christentum im Schulbuch
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Religion und Konfession als Dimensionen einer historischen Friedens- und Konfliktforschung – Anmerkungen zu einem ambivalenten Aspekt islamisch-christlicher Kulturbegegnung in Geschichte und Gegenwart
Einleitung Der Einfluss, den Religionen auf die Formung wie auch auf die Persistenz kultureller Lebenswelten haben, ist bis heute groß, trotz aller säkularisatorischen, auf eine Rationalisierung aller Lebensbereiche gerichteten Tendenzen der neuzeitlichen Geschichte.1 Eine Kulturbegegnung, wie sie das Inhaltsfeld 2 des aktuellen Kernlehrplans Geschichte für die Sekundarstufe II (Gymnasium/Gesamtschule) in Nordrhein-Westfalen unter dem Titel »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit« adressiert,2 war und ist deshalb, globalgeschichtlich betrachtet, immer auch ein Aufeinandertreffen von religiös basierten kulturellen Mustern, Mentalitäten und Wertesystemen, Normsetzungen, Lehrmeinungen und Überzeugungen, Wahrheitsansprüchen und Wahrheitsbehauptungen, Grenzziehungen und Feindbildern. Deren Träger waren und sind religiöse Denominationen im historischen Wandel: die christlichen Konfessionsgemeinschaften der Neuzeit ebenso wie jene Schulen, Traditions- und Glaubensrichtungen, die sich in anderen Weltreligionen3 ausgeprägt haben. Kulturkontakt erschöpfte und erschöpft sich nicht in 1 Zu den Konjunkturen des Religiösen in Geschichte und Gegenwart vgl. die instruktive Studie von Helmut Stubbe da Luz, Sakralisierung und Säkularisierung: Konjunkturen der Religiosität und das Staat-Kirche(n)-Verhältnis, in: Isa Lübbers / Martin Rößler / Joachim Stüben (Hg.), Säkularisierung – ein weltgeschichtlicher Prozess in Hamburg: Staat und Kirchen von Napoleon bis zum Reformationsjubiläum (2017), Frankfurt am Main / Bern / Wien 2017 (Hamburg, Europa und die Welt, 4), S. 17–49. 2 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2014, S. 18 und S. 24f., zit. nach URL: https://www.schulentwicklung. nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/ge/KLP_GOSt_Geschichte.pdf [24. 01. 2019]. 3 Der Terminus »Weltreligionen« wird im Folgenden pragmatisch im Sinne der »Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen vom 4. September 1993, Chicago« (s. Anm. 34) benutzt. Zur Problematik, zur Zeitgebundenheit und zu den Gefahren, die dem pauschalisierenden Konzept der »Weltreligionen« inhärent sind, das im 19. Jahrhundert in Europa entstand und beim heutigen Nutzer nicht den Blick auf die Vielfalt von Glaubensrichtungen
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der neutralen Wahrnehmung von Alterität, sondern er gab und gibt Anlass zu Bewertungen, zu Reaktionen und damit zu Folgewirkungen, die ihre Begründungen nicht zuletzt aus dem Fundus der religiös-kulturellen Muster und Werte aller Beteiligten schöpfen, sei es in der Abgrenzung gegenüber dem »Anderen«,4 dem Fremden, sei es in transkultureller Zuwendung, was Austausch und Akkulturationsprozesse ermöglicht und fördert. Der neutestamentliche Missionsbefehl etwa, den Jesus Christus, dem biblischen Bericht zufolge,5 nach seiner Auferstehung den Jüngern gab, beeinflusste den Verlauf der europäischen Expansion, der Entdeckung und Kolonisierung der Welt durch europäische Mächte. Die Missionsgeschichte des Christentums6 gestaltete Globalisierungsprozesse der Neuzeit mit, in der Ausübung und Rechtfertigung von Zwang und Gewalt ebenso wie mit Blick auf Akkulturationsprozesse weltweit, im Anstoß und in der Vermittlung eines kulturellen Austauschs, der im Einzelfall sowohl freiwillig als auch vermittelst Zwang und Gewalt erfolgen konnte.7 Als Bestandteil kultureller und gruppenbezogener Identitäten sind Religionen und die Denominationen, die sie in Raum und Zeit auspräg(t)en, Arbeitsfelder einer interdisziplinären Gewalt- und Konfliktforschung. Im Zentrum des Interesses steht dabei die Frage, inwiefern und unter welchen Rahmenbedingungen Religionen innergesellschaftlich oder zwischenstaatlich Gewalt und Konflikte fördern und inwiefern sie Argumente liefern, um Konflikte sowie gruppenbezogene Ausgrenzung zu rechtfertigen.8
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und Denominationen verstellen darf, die sich unter dem Grobraster der großen Religionsgruppen verbergen, s. oben den Beitrag von Stephan Conermann (dort insbesondere Text bei Anm. 73). Zum Zuschreibungsprozess des »Othering« vgl. Lajos Brons, Othering, an Analysis, in: Transcience. A Journal of Global Studies 6/1 (2011), S. 69–90; Derek Silva, The Othering of Muslims. Discourses of Radicalization in the New York Times, 1969–2014, in: Sociological forum 32, 1 (2017), S. 138–161; Jan Niklas Meier, Das Monströse als Instrument einer OtheringStrategie in anti-osmanischer Propaganda des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 19. 7. 2017, https://mittelalter.hypotheses. org/10776 [24. 01. 2019]. Matthäus 28,18–20; dazu Markus 16,15–16; Lukas 24,47–49; Johannes 20,21; Apostelgeschichte 1,4–8. Michael Sievernich, Die christliche Mission. Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2009. Die Forschung studiert Missionsgeschichte deshalb heute als »Verflechtungsgeschichte«, um »weitreichende Fragen der Global-, Kolonial-, Kultur-, Wissens-, Religions- und Materialitätsgeschichte zu beantworten«, so Linda Ratschiller / Karolin Wetjen, Verflochtene Mission. Ansätze, Methoden und Fragestellungen einer neuen Missionsgeschichte, in: Dies. (Hg.), Verflochtene Mission. Perspektiven auf eine neue Missionsgeschichte, Köln / Weimar / Wien 2018, S. 9–24, hier S. 12. Ina Wunn / Beate Schneider (Hg.), Das Gewaltpotenzial der Religionen, Stuttgart 2015 (Religionsforum, 11). Vgl. etwa den Forschungsschwerpunkt »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«, den der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer (*1945) am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld begründete: https://www.uni-bielefeld.de/ikg [24. 01. 2019]. Zur Einführung vgl. Kurt Möller, Entwicklung
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Zugleich sind es die spezifischen Friedenspotenziale religiöser Denominationen, welche die Religionen zu einem Arbeitsfeld der Friedensforschung machen. Der Terminus »Friedensforschung«, den das 2013 begründete »Zentrum für Historische Friedensforschung« der Universität Bonn9 im Namen trägt, bezeichnet jenen Teilbereich einer Friedens- und Konfliktforschung,10 der nicht die Konflikte, sondern die Friedensfähigkeit11 von Staaten und Staatenverbünden, gesellschaftlichen Gruppen und Individuen in den Fokus der Betrachtung rückt und nach den Konditionen fragt, welche die Friedensbereitschaft von Akteuren in konkreten Konflikten beeinfluss(t)en. Friedensforscher*innen verstehen unter Frieden mithin keine statische Kategorie, keinen Zustand einer mehr oder weniger dauerhaften Abwesenheit von Krieg oder Konflikten, sondern sie nutzen den Friedensbegriff in systemischer Betrachtung als eine relationale Kategorie, die ihre inhaltliche Füllung im Diskurs konkreter Akteure findet.12 Zugleich nutzen sie den Terminus »Frieden« als einen Prozessbegriff, der in Geschichte und Gegenwart das »permanente Bemühen« darum beschreibt, »Konflikte ge-
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und Ausmaß gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, in: Albert Scherr / Aladin El-Mafaalani / Gökçen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden 2017, S. 425–447. https://www.zhf.uni-bonn.de [24. 05. 2019]. Peter Imbusch / Ralf Zoll (Hg.), Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung mit Quellen, 1. Aufl., Opladen 1996 (Friedens- und Konfliktforschung, 1); 5. Aufl., Wiesbaden 2010; Wilfried Graf / Werner Wintersteiner, Friedensforschung. Grundlagen und Perspektiven, in: Gertraud Diendorfer / Blanka Bellak / Anton Pelinka / Werner Wintersteiner (Hg.), Friedensforschung, Konfliktforschung, Demokratieforschung. Ein Handbuch, Wien / Köln / Weimar 2016 (Böhlau-Studienbücher: Grundlagen des Studiums), S. 35–86; Nigel Young (Hg.), The Oxford International Encyclopedia of Peace, 4 Bde., Oxford / New York 2010. Zu Dimensionen des Terminus »Friedensfähigkeit« vgl. Mariano Delgado / Adrian Holderegger / Guido Vergauwen (Hg.), Friedensfähigkeit und Friedensvisionen in Religionen und Kulturen, Stuttgart 2012 (Religionsforum, 9), S. 15–118. Einen systemischen Ansatz verfolgt der UNESCO-Lehrstuhl für Friedensforschung an der Universität Innsbruck unter seinem Leiter Wolfgang Dietrich (*1956), der die Aufarbeitung von Konflikten aus der Beziehung der streitenden Parteien herleitet. Methodisch basiert er auf dem Ansatz einer »elicitiven Konfliktbearbeitung«, den der amerikanische Friedensforscher John Paul Lederach (*1955) entwickelt hat. Lederach betont, dass jeder Konflikt durch kontextspezifische, also einzigartige historische, gesellschaftliche und kulturelle Gegebenheiten geprägt ist, weshalb eine Transformation von Konflikten allein durch ein Eingreifen von außen nicht erfolgversprechend sei, sondern immer von innen heraus erfolgen müsse, unter Berücksichtigung der lokalen Strukturen und unter Beteiligung der lokalen Akteure. Zum Weiterlesen vgl. Wolfgang Dietrich / Josefina Echavarría Alvarez / Gustavo Esteva / Daniela Ingruber / Norbert Koppensteiner (Hg.), The Palgrave International Handbook of Peace Studies. A Cultural Perspective, Basingstoke / New York 2011. Zum Forschungszentrum Friedens- und Konfliktforschung der Universität Innsbruck und seinem Ansatz transrationaler Friedensforschung vgl. https://www.uibk.ac.at/forschung/profilbildung/fz_ friedens_und_konfliktforschung.html.de [24. 01. 2019].
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waltfrei zu bewältigen«13 und durch Gewaltreflexion in einem umfassenden Sinne – man denke an den Terminus »strukturelle Gewalt«, mit dem der norwegische Friedensforscher Johan Galtung (*1930) 1971 einem weiten Gewaltbegriff den Weg ebnete14 – zu einer Reduzierung von Gewalt beizutragen und eine gewaltlose Konfliktbewältigung möglich zu machen.15 Im Fokus der Friedensforschung steht der komplexe Bezugsrahmen, innerhalb dessen Akteure den Frieden thematisier(t)en und zu erreichen such(t)en. Friedensforscher*innen studieren die politischen und weltanschaulichen Haltungen der Akteure, ihr Wertesystem und ihre normative Orientierung, die im jeweiligen Konfliktkontext grundlegende Bedeutung für die Bereitschaft und die Fähigkeit der Akteure erlangen konnten und können, Frieden zu schließen oder zu wahren. Und sie fragen nach dem Einfluss religiöser Traditionen, religionsbasierter Auffassungen und Werthaltungen auf die Friedensfähigkeit und die Friedensbereitschaft der jeweiligen Akteure. Die Arbeit der Friedensforschung schließt mithin Grundfragen einer Friedensethik und Friedenserziehung im historischen Wandel ein. Friedensforscher*innen studieren das Spektrum der Verfahren und Institutionen, die zur Friedenswahrung und zur Herstellung von Frieden genutzt wurden: die Formen direkter und indirekter Verhandlungen, welche die großen Gesandtenkongresse der Neuzeit entwickelten und nach und nach verfeinerten, Mediation und Schiedsspruch (Arbitrage), die Entstehung und Funktionsweise diplomatischer Apparate, die Intentionen und die Arbeit internationaler Organisationen sowie die institutionellen und administrativen Rahmenbedingungen, die Einfluss auf die Fähigkeit haben und hatten, Konflikte zwischenstaatlich wie auch im Inneren von Staaten einzuhegen, Frieden zu schließen und Frieden zu wahren. Friedensforscher*innen untersuchen anhand konkreter Fallbeispiele aus Geschichte und Gegenwart die Wechselwirkung zwischen militärischer Gewalt und Diplomatie im Friedensprozess sowie die Verfahren und Institutionen einer Konfliktregelung und Konflikteinhegung, derer sich die Akteure bedienen, insbesondere die Aushandlungsprozesse, die in einer konkreten historischen Konfliktsituation (zwischenstaatlich oder innergesellschaftlich) der Etablierung wie auch der Stabilisierung und Sicherung einer Friedensordnung förderlich waren oder sind. 13 Wolfram Wette, Geschichte und Frieden. Aufgaben historischer Friedensforschung, in: Reiner Steinweg (Hg.), Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung, Frankfurt am Main 1990 (edition suhrkamp, NF 355; Friedensanalysen, 23), S. 14–60, hier S. 46. 14 Michael Riekenberg, Auf dem Holzweg? Über Johan Galtungs Begriff der »strukturellen Gewalt«, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 172– 177. 15 Christoph Weller / Stefan Böschen, Friedensforschung und Gewalt. Zwischen entgrenzter Gewaltanalyse und epistemischer Gewaltblindheit, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 15 (2018), S. 358–368.
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Organisatorisch ist die Friedensforschung in Deutschland teils universitär,16 teils staatsnah aufgestellt,17 zum Teil ist sie auch im Umfeld internationaler Organisationen,18 politischer Bewegungen und weltanschaulicher Interessengruppen19 angesiedelt. Sie arbeitet überwiegend synchron, gegenwartsbezogen, mit einem prognostischen Interesse und in einem ständigen Bezug auf Problem- und Konfliktlagen der jeweiligen Gegenwart. Dasselbe gilt auch für das Studium der Konflikt-, Gewalt- und Friedenspotenziale in den Weltreligionen beziehungsweise in den Konfessionen, Strömungen oder Synkretismen, welche diese im Laufe ihrer Geschichte ausgebildet haben. Um einleitend Denkräume zu erschließen, stellt der folgende Beitrag in Kapitel 1 ausgewählte Thesen, Theorien und Forschungsprojekte zu den Gewalt-, Konflikt- und Friedenspotenzialen von Religionen vor, die aktuell im deutschsprachigen publizistischen Diskurs eine Rolle spielen. In Kapitel 2 folgt – exemplarisch und in thesenhafter Zuspitzung – eine Anwendung auf das Inhaltsfeld 2 des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Geschichte für die Sekundarstufe II »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit«, die aus der Perspektive einer historisch arbeitenden Friedens- und Konfliktforschung argumentiert. Bewusst greift die Studie in der Auswahl der Fallbeispiele auf eine Periode der europäischen Geschichte zurück, die vor der europäischen Aufklärung liegt: auf die Hochphase jener konfessionellen Auseinandersetzungen, die im 16. und 17. Jahrhundert aus Reformation und Glaubensspaltung resultierten. Damit soll das Bewusstsein dafür geschärft werden, dass das »alte Europa« bereits vor dem Zeitalter der Aufklärung beachtliche Instrumente entwickelte, um die konfliktive Kraft konkurrierender, sich wechselseitig ausschließender religiöser Wahrheitsansprüche und 16 Beispiele: das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (vgl. Anm. 8); das Zentrum für Historische Friedensforschung der Universität Bonn (ZHF) (vgl. Anm. 9); das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) (https://ifsh.de [24. 01. 2019]); das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), eine Forschungseinrichtung des Fachbereiches Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen in Kooperation mit der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) in Bonn (https://inef.uni-due.de/?article_id=8 [24. 01. 2019]). 17 Beispiel: die Deutsche Stiftung Friedensforschung in Osnabrück (https://bundesstiftungfriedensforschung.de [24. 01. 2019]); das Bonn International Center for Conversion GmbH (BICC) in Bonn (https://www.bicc.de [24. 01. 2019]); das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main (https://www.hsfk.de [24. 01. 2019]); das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) in Solna (https://www. sipri.org [24. 01. 2019]). 18 Beispiel: der UNESCO-Lehrstuhl für Friedensforschung der Universität Innsbruck (vgl. Anm. 12). 19 Beispiel: die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (abgekürzt: FEST), Institut für interdisziplinäre Forschung in Heidelberg (http://www.fest-heidelberg.de/ [24. 01. 2019]).
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Wahrheitsbehauptungen lebensweltlich wie auch rechtlich und institutionell einzuhegen. Die Schriftfassung des Tagungsbeitrags bleibt dem thesengeleiteten, bewusst kursorisch und plakativ formulierenden Text der Vortragsfassung vom 16. November 2017 im Bonner Haus der Geschichte verpflichtet. Die Sachanmerkungen sind auf das Nötigste beschränkt, ebenso die Literaturhinweise, die über Einzelnachweise hinaus allein eine erste Orientierungshilfe zum Weiterlesen geben.
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Gewalt-, Konflikt- und Friedenspotenziale der Weltreligionen: Konturen eines Diskurses
Im veröffentlichten Diskurs mitteleuropäischer Medien sind es aktuell vor allem die Gewalt- und Konfliktpotenziale von Religionen, weniger die ihnen innewohnenden Friedenspotenziale, die publizistische Aufmerksamkeit finden und gesellschaftliches Erregungspotenzial entfalten. Insbesondere lenken Formen eines islamischen Fundamentalismus und eines politischen Islam, für den Sozialwissenschaftler*innen in den 1970er Jahren den Terminus »Islamismus« prägten20 und der im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert Milizen wie die Taliban in Pakistan und Afghanistan, das Terrornetzwerk Al-Qaida, die somalische Al-Shabaab-Miliz oder das Terrorregime des IS, des »Islamischen Staates« in Syrien, im Irak und im Maghreb, hervorbrachte und -bringt, die Aufmerksamkeit im Westen seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York auf Gewaltpotenziale im Islam und in islamisch geprägten Kulturen.21 Friedenspotenziale im Koran geraten demgegenüber tendenziell aus dem Blick und treten auch medial in den Hintergrund, ebenso Friedenspotenziale, die sich in den Hadithen – der Sammlung der Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed, dessen Handlungsweisen (Sunna) im Islam normative Bedeutung besitzen und neben dem Koran die zweite Quelle sind, aus der sich die islamische Normenlehre oder Rechtswissenschaft (Fiqh) speist – sowie in der islamischen
20 Sibylle Wentker, Fundamentalismus und Islamismus – Definition und Abgrenzung, in: Walter Feichtinger / Sibylle Wentker (Hg.), Islam, Islamismus und islamischer Extremismus. Eine Einführung, Wien / Köln / Weimar 2008 (Internationale Sicherheit und Konfliktmanagement, 1), S. 33–44; Tilman Seidensticker, Islamismus: Geschichte, Vordenker, Organisationen, München 2014 (C. H. Beck Wissen, 2827); dito, Bonn 2015 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1551). 21 Friedmann Eißler, »…tötet nicht, außer aus einem rechtmäßigen Grund!« (Koran). Gehört die Gewalt zum Islam?, in: Jochen Flebbe / Görge K. Hasselhoff (Hg.), »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.« Aspekte des Verhältnisses von Religion und Gewalt, Göttingen 2017 (Kirche – Konfession – Religion, 68), S. 49–68.
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Tradition finden.22 Pauschalisierend und essentialisierend wird allzu oft von »dem« Islam gesprochen, dessen zentrales und unveränderliches Charakteristikum seine menschenverachtende Brutalität und Gewaltsamkeit seien. Die Gleichsetzung »des« Islam mit brutaler Gewalt und blutigem Terror, von Islam und Islamismus, kann im Extremfall dazu führen, dass »dem« Islam – in Teilen oder als Ganzes – der Charakter einer Religion abgesprochen wird. Der Islam, so wird vereinzelt auch in Deutschland argumentiert, sei keine Religion, sondern eine »politische Ideologie«, ja eine »Terror-Ideologie«, der man, um die eigene Gesellschaft zu schützen, die grundgesetzlich verankerte Religionsfreiheit versagen müsse und dürfe.23 Ebenfalls pauschalisierend, werfen Meinungsführer*innen eines politischen Islam »dem Westen« »Kreuzrittertum« vor: In Geschichte und Gegenwart sei es das immer gleiche Bestreben der westlichen »Kreuzritter«, Muslime zu unterdrücken, sie in missionarischer wie auch kolonialer Absicht zu manipulieren und zu unterdrücken und auf diese Weise islamische Gesellschaften weltweit zu zerstören. Die Geschichte der mittelalterlichen Kreuzzüge wird hier zu einem Steinbruch für Geschichtspolitik,24 einer aus politischen Interessen der Gegenwart heraus und in manipulativer Absicht formulierten parteiischen Geschichtsdeutung, die allein durch geschichtswissenschaftliche Expertise korrigiert und ad absurdum geführt werden kann. Wechselseitige Pauschalurteile und Essentialismen – etwa »Kreuzritter« versus »Dschihadist« – fördern ein kulturelles Schwarz-weiß-Denken, und dieses verbindet sich in »westlichen« Diskurszusammenhängen häufig mit der ebenso wirkmächtigen wie unzulänglichen These des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers und Politikberaters Samuel P. Huntington (1927–2008) von 1996, mit dem 21. Jahrhundert breche das Zeitalter eines »Kampfes der Kulturen« an, eines »Clash of Civilizations«, das die klassischen Staatenkonflikte der Ge22 Irfan Omar, Jihad und Gewalt im Koran. Zum Friedenspotenzial des Koran und in der Islamischen Tradition, in: Irene Dingel / Christiane Tietz (Hg.), Das Friedenspotenzial von Religion, Göttingen 2009 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 78), S. 71–99. 23 Beispiel: Die Bundestagsmehrheit, die sich im Oktober 2017 weigerte, den AFD-Abgeordneten Albrecht Glaser (*1942) ins Amt eines Bundestagsvizepräsidenten zu wählen, begründete die Ablehnung Glasers u. a. mit Interview-Äußerungen des Kandidaten, in denen Glaser die Religionsfreiheit für Muslime mit dem Argument in Abrede gestellt habe, der Islam sei eine politische Ideologie, keine Religion. Vgl. dazu Markus Wehner / Justus Bender, Fraktionen gegen Glaser als Parlaments-Vizepräsident, in: FAZ.net vom 1. Oktober 2017: https://www.faz. net/aktuell/politik/inland/afd-im-bundestag-fraktionen-gegen-glaser-als-parlaments-vize praesident-15227103.html [24. 01. 2019]. 24 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, 1. Aufl., München 2006, 3. Aufl., München 2018; dito, Bonn 2007 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 633); Peter Steinbach, Geschichte im politischen Kampf. Wie historische Argumente die öffentliche Meinung manipulieren, Bonn 2012.
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schichte ablöse.25 Als die zentralen Kampffelder des 21. Jahrhunderts machte Huntington dabei die Konfrontation eines westlichen Zivilisationsmodells mit einem islamischen sowie mit einem chinesischen Zivilisationsmodell aus, das buddhistische, konfuzianische und staatssozialistische Prägungen zu einer politischen Kultur vereint. Während Wissenschaftler*innen und Publizist*innen nach und nach die Unzulänglichkeiten von Huntingtons These aufzeigten und die Gefahr beschworen, sein griffiges Erklärungsmodell könne zu einer »self-fulfilling prophecy« werden, die – ganz ohne Not – einen »Kampf der Kulturen« erst heraufbeschwöre,26 stellte der Heidelberger Ägyptologe, Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann (*1938), der 2018 gemeinsam mit seiner Frau Aleida Assmann (*1947) den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, 1998 den Diskurs über einen genetischen Zusammenhang von Religion und Gewalt in seinem Buch »Moses der Ägypter« breiter auf.27 Nach seiner Auffassung ist Gewalt ein Wesens- und Strukturmerkmal des Monotheismus, also ein Proprium der drei Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam, die genetisch eng miteinander verknüpft sind.28 Der Monotheismus, dessen Entstehung Assmann im Kontext des Auszugs 25 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996. 26 Zum Weiterlesen: Harald Müller, Das Zusammenleben der Kulturen. Ein Gegenentwurf zu Huntington, Frankfurt am Main 1998; Udo M. Metzinger, Die Huntington-Debatte: die Auseinandersetzung mit Huntingtons »Clash of civilizations« in der Publizistik, Köln 2000 (Kölner Arbeiten zur internationalen Politik, 13); Gernot Lennert, Kampf der Kulturen? Clash of Civilizations? Das westlich-islamische Verhältnis vor dem Hintergrund der Thesen von Samuel P. Huntington, in: Clara und Paul Reinsdorf (Hg.), Salam oder Dschihad? Islam und Islamismus aus friedenspolitischer Perspektive, Aschaffenburg 2003, S. 124–172; Arkadius Jurewicz, »Clash of Civilizations«? Huntington im Spiegel seiner Kritiker: Die politische und politikwissenschaftliche Diskussion um die These vom Kampf der Kulturen, Saarbrücken 2008; Rémy Kauffmann (Kantonsschule Baden): Eine Welt nach westlichem Muster oder ein Kampf der Kulturen? Lehranwendung (Sek. II), https://www.swisseduc.ch/geschichte/ aktuelles/index.html [24. 01. 2019]. 27 Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München / Wien 1998; Ders., Monotheismus und die Sprache der Gewalt, Wien 2012 (Wiener Vorlesungen, 116); Ders., Exodus. Die Revolution der alten Welt, München 2015; Paperback-Ausgabe: München 2019 (C. H. Beck Paperback, 6332). 28 Zum Terminus der abrahamitischen oder abramischen Religionen, mit dem Teile der Islamwissenschaften und des interreligiösen Dialogs alle monotheistischen Religionen bezeichnen, die sich auf Abraham/Ibrahim berufen, vgl. einführend Martin Stöhr (Hg.), Abrahams Kinder. Juden – Christen – Moslems, Frankfurt am Main 1983 (Arnoldshainer Texte: Schriften aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Arnoldshain, 17). Zur Kritik, der Begriff formuliere eine theologische Konsensfiktion, vgl. Rémi Brague, Schluss mit den »Drei Monotheismen«!, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 36 (2007), S. 98–113; Edna Brocke, Aus Abrahams Schoß? Oder weshalb es keine »abrahamitischen Religionen« gibt, in: Kirche und Israel 24 (2009), S. 157–162; René Buchholz, (De-)Constructing Abraham. Zu Jon D. Levensons Kritik der ›abrahamitischen Ökumene‹, in: George Augustin / Sonja Sailer-Pfister / Klaus Vellguth (Hg.), Christentum im Dialog. Perspektiven christlicher Identität in einer pluralen
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der Israeliten aus Ägypten verortet, habe mit der Unterscheidung in wahr und falsch, in falsche Götter und den einen wahren Gott, eine spezifische Gewalt im Namen Gottes in die Welt gebracht. Das bedeute nicht, dass es ohne den monotheistisch aufgefassten »einen Gott« keine Gewalt in der Welt gäbe. Es bedeute aber, dass der »Monotheismus der Treue«,29 der für Judentum, Christentum und Islam gleichermaßen charakteristisch sei, eine brutale Kehrseite habe: die Gewaltsamkeit im Namen des einen Gottes, der durch jede Abweichung vom rechten Glauben beleidigt werde. Die intensive Debatte, die Assmann mit seiner Monotheismus-These anstieß,30 entzündete sich einerseits an der Fokussierung auf die Thora und die fünf Bücher Mose im Alten Testament, die sich aus der spezifischen Perspektive auf »Moses den Ägypter« ergab, die der Ägyptologe wählte. Diese Perspektivwahl Assmanns habe zur Folge, dass er wesentliche Friedenspotenziale im Judentum, im Christentum und im Islam unbeachtet lasse, etwa die neutestamentliche Friedenslehre Christi, die ihr Zentrum in der Bergpredigt des Matthäus-Evangeliums (Mt. 5–7) findet. Außerdem bot die Monotheismus-These Assmanns Anlass, verstärkt auch die Gewaltpotenziale nicht-monotheistischer Religionen in den Blick zu nehmen, insbesondere im Hinduismus und im Buddhismus, die dem flüchtigen Betrachter im Westen, der etwa den achtfach oskarprämierten britisch-indischen Spielfilm »Gandhi« von Richard Attenborough (1923–2014) aus dem Jahre 1982 gesehen hat31 oder die Worte und Gesten des vierzehnten Dalai Lama (*1935) rezipiert, als ein Hort friedensorientierter, rational bestimmter Religiosität und einer absoluten Gewaltlosigkeit erscheinen. Der Hindu-Nationalismus in Indien,32 dem bereits Gandhi (1869–1948) selbst zum Opfer fiel, aber auch ein buddhistisch geprägter Nationalismus in Myanmar, der sich gegen die muslimische Bevölkerungsgruppe der Rohingya richtet, sowie die Kriegs- und Gewaltge-
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Gesellschaft, Günter Riße zum 60. Geburtstag, Freiburg im Breisgau / Basel / Wien 2014 (Theologie im Dialog, 12), S. 349–362. Jan Assmann, Monotheismus der Treue. Korrekturen am Konzept der »mosaischen Unterscheidung« im Hinblick auf die Beiträge von Marcia Pally und Micha Brumlik, in: Rolf Schieder (Hg.), Die Gewalt des einen Gottes. Die Monotheismus-Debatte zwischen Jan Assmann, Micha Brumlik, Rolf Schieder, Peter Sloterdijk und anderen, Berlin 2014, S. 249–266. Ebd. Zur Gandhi-Rezeption in Europa vgl. Theodor Ebert, Gandhis Bedeutung für den Pazifismus und die neueren sozialen Bewegungen in Europa, in: Ders., Opponieren und Regieren mit gewaltfreien Mitteln. Pazifismus – Grundsätze und Erfahrungen für das 21. Jahrhundert, Bd. 1, Münster / Hamburg / Berlin / London 2001 (Studien zur Gewaltfreiheit, 5), S. 15–39. Tony Neelankavil, Roots of Religious Violence in India, in: Flebbe / Hasselhoff, S. 229–242.
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schichte Chinas oder Japans bieten ein reiches Anschauungsmaterial dafür, dass auch diese Religionen in gewaltsamen Konflikten instrumentalisierbar sind.33 Der Theologe Hans Küng (1928–2021) stellte 1990 in seiner Schrift »Projekt Weltethos«34 die These auf, allen Weltreligionen seien grundlegende Werte- und Moralvorstellungen gemein, und dieses gemeinsame Erbe gelte es als ein spezifisches Friedenspotenzial für das Zusammenleben in einer globalisierten Welt zu nutzen. Die »Goldene Regel« etwa, nach der man sich seinen Mitmenschen gegenüber stets so verhalten solle, wie man selbst behandelt werden möchte, finde sich in allen Traditionen wieder, ebenso die Forderung, dass alle Menschen menschlich zu behandeln seien, desgleichen Werte wie Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit. Die globalisierte Gesellschaft der Gegenwart müsse, so Küng, einen gemeinsamen Wertekanon mithin keineswegs erst neu entwickeln, er existiere bereits. Küng nennt diesen Wertekanon, der immer wieder bewusst gemacht, gelebt und weitergegeben werden müsse: Weltethos. Neuere Arbeiten zum Friedenspotenzial von Religionen in Gewaltkonflikten der Gegenwart, die aus der Arbeit der »Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung« in Tübingen hervorgegangen sind,35 stützen sich auf die Konflikttheorie der beiden Politikwissenschaftler Volker Rittberger (1941–2011) und Andreas Hasenclever (*1962),36 die sowohl
33 Zum Stand der Forschung vgl. Markus A. Weingardt, Religion Macht Frieden. Das Friedenspotenzial von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Bonn 2010 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1083); Janet Kursawe / Verena Brenner (Hg.), Konfliktfaktor Religion? Die Rolle von Religionen in den Konflikten Südasiens, Baden-Baden 2013 (Religion – Konflikt – Frieden, 6). Beide Bände sind aus der Arbeit der Stiftung Weltethos in Tübingen hervorgegangen (s. dazu die folgende Anmerkung). Den Versuch einer Zusammenfassung unternimmt Klaus von Stosch, Das Friedenspotenzial der östlichen Religionen, in: Dingel / Tietz, S. 21–34. 34 Zum Weiterlesen: Hans Küng, Projekt Weltethos, München / Zürich 1990; Ders., Handbuch Weltethos. Eine Vision und ihre Umsetzung, München / Zürich 2012; Günther Gebhardt, Die Friedensarbeit der Stiftung Weltethos, in: Delgado / Holderegger / Vergauwen, S. 277–294; Ders., Weltethos im Kontext des interreligiösen Dialogs, in: Helmut Reinalter (Hg.), Weltethos-Gespräche, Innsbruck 2014 (Interdisziplinäre Forschungen 24), S. 11–22; dazu die »Erklärung zum Weltethos des Parlaments der Weltreligionen vom 4. September 1993, Chicago«: http://www.weltethos.org/1-pdf/10-stiftung/declaration/declaration_german.pdf [24. 01. 2019]. Zur »Stiftung Weltethos für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung« in Tübingen, ihren Tätigkeitsfeldern, Publikationen und Arbeitsmaterialien vgl. http://www.weltethos.org [24. 01. 2019]. 35 So die in Anm. 33 genannten Arbeiten von Markus A. Weingardt, Janet Kursawe und Verena Brenner. 36 Zum Folgenden vgl. Volker Rittberger / Andreas Hasenclever, Religionen in Konflikten – Religiöser Glaube als Quelle von Gewalt und Frieden, in: Politisches Denken. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens 2000, S. 35–60; Andreas Hasenclever / Alexander De Juan, Kriegstreiber und Friedensengel – Die ambivalente Rolle von Religionen in politischen Konflikten, in: Dingel / Tietz, S. 101–118; Andreas Hasenclever,
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das konfliktverschärfende als auch das konfliktentschärfende Potenzial berücksichtigt, das Religionen innewohnt. Beide beschreiben die ambivalente Rolle von Religionen in politischen Konflikten und benennen Faktoren, die eine politische Instrumentalisierung von Religion erleichtern oder erschweren. Auf dieser Basis entwickeln sie Handlungsempfehlungen, die zu einer Stärkung der Friedenspotenziale von Glaubensgemeinschaften beitragen sollen. Ein wichtiger Faktor, der die Instrumentalisierung von Religion in Gewaltkonflikten erschwert, ist demnach religiöse Bildung. Der Instrumentalisierbarkeit von Religionen wirke außerdem entgegen, wenn Glaubensgemeinschaften einen hohen Autonomie- und Organisationsgrad haben und transnational gut vernetzt sind. Wenn sich jedoch politische, soziale, wirtschaftliche und/oder ethnische Konflikte mit religiösen oder konfessionellen Grenzen überlagern – in Europa wäre der Nordirlandkonflikt dafür ein augenfälliges Beispiel –, dann leiste das einer Instrumentalisierung von Religion und Konfession im Konflikt Vorschub. Die identitätsstiftende Rolle von Religion und Konfession werde genutzt, um politische, soziale, wirtschaftliche und/oder ethnische Konflikte zu führen.
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Die religiöse Dimension der Kulturbegegnung »Islamische Welt – christliche Welt« im Fokus der historischen Friedensund Konfliktforschung
Mit Blick auf die religiöse Dimension islamisch-christlicher Kulturbegegnung stellt das Inhaltsfeld 2 des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Geschichte für die Sekundarstufe II hohe, ja gewaltige Anforderungen an das Lehrpersonal. Da ist zunächst die Länge der Zeitachse, die es – immer mit kulturvergleichender und interreligiöser Kompetenz – diachron zu überspannen gilt. Inhaltsfeld 2 adressiert die »Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit«,37 fordert aber im Kleingedruckten darüber hinaus beständig auch eine Gegenwartskompetenz der Lehrenden. Denn vermittelst des Inhaltsfeldes 2 gelte es, »einer Gegenwartsthematik die historische Tiefe« zu geben und einen Beitrag »zur Reflexion von gegenwärtig wirksamen Feindbildern und Stereotypen«38 zu leisten. Und auch mit Blick auf die raum-zeitliche Disposition wird den Lehrenden Beachtliches abverlangt. Denn der Lehrplan fordert pauschal »die historische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ausprägungen«, die »Islam
Die Menschen führen Krieg und die Götter bleiben im Himmel. Überlegungen zur Religion als Friedenskraft, in: Delgado / Holderegger / Vergauwen, S. 17–38. 37 Kernlehrplan 2014, S. 18. 38 Ebd. Hervorhebungen des Verfassers.
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und Christentum« in der Geschichte gefunden haben.39 Da Islam und Christentum historisch gewachsene Weltreligionen sind, ist das eine Aufgabe von wahrhaft globalen Dimensionen. Die historisch-diachrone Betrachtung soll sich, so der Lehrplan, zentral »ihren verschiedenen in der Geschichte entwickelten Verständnissen von Religion und Staat«40 zuwenden. Wie weit kann und soll das Lehrpersonal da gehen? Im Angesicht einer Zielgruppe, die mehrheitlich wahrscheinlich nicht einmal ein hinreichendes Vorwissen über die christlichen Konfessionsgruppen in Deutschland mitbringt?! Wer soll überhaupt Berücksichtigung finden? Die römisch-katholische Kirche, einzelne Ordensgemeinschaften, die Mitgliedskirchen des lutherischen Weltbundes und/oder des Bundes Evangelisch-reformierter Kirchen Deutschlands, die Anglikaner, Baptisten oder Mennoniten, die Quäker, die Schwenkfelder oder die Amish People, um nur einige Konfessionsgemeinschaften innerhalb der »lateinischen Christenheit« zu nennen? Und was ist mit den orthodoxen Kirchen Griechenlands, Osteuropas und in der Russischen Föderation, die ihrerseits wieder in zahlreiche Denominationen und Gemeinschaften zerfallen? Sie alle haben – im historischen Wandel – ihre spezifischen »Verständnisse von Religion und Staat« entwickelt, deren Studium der Lehrplan fordert. Auf islamischer Seite sieht sich der Kundige – global betrachtet – einer nicht minder verwirrenden Vielfalt von Gruppierungen, Traditionslinien und Denominationen gegenüber, vom Nahen Osten bis nach Indonesien, deren spezifischen Auffassungen von Staat/Herrschaft und Religion eine simplifizierende Betrachtung der Großgruppen – Schiiten und Sunniten – nur bedingt gerecht werden kann.41 Wie tief sollen Lehrende und Lernende hier eindringen? Eine Fokussierung auf ausgewählte, exemplarische Lehr- und Lerninhalte tut Not, um das Inhaltsfeld 2 didaktisch und lehrpraktisch in den Griff zu bekommen. Gilt es doch, Lernerlebnisse zu vermitteln, die anhand gut gewählter Fallbeispiele die Bedeutung der religiösen Dimension für ein Verständnis der christlich-islamischen Kulturbegegnung in Geschichte und Gegenwart aufzeigen. Zugleich gilt es, Sensibilität für die Gefahren einer Geschichtspolitik zu vermitteln, die religiöse Identitäten instrumentalisiert, um Interessen politischer Akteure der Gegenwart zu bedienen. Der Kollektivvorwurf eines westlichen »Kreuzfahrertums« etwa, den interessierte Vertreter*innen eines politischen Islam erheben, eignet sich dazu ebenso wie die leichtfertige Gleichsetzung von Islam und Islamismus in Teilen der publizistischen Debatte in westlichen Gesellschaften. 39 Ebd. Hervorhebung des Verfassers. 40 Ebd. 41 Vgl. die instruktive Übersicht bei Günter Kettermann, Atlas zur Geschichte des Islam, 2. Aufl., Darmstadt 2008.
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Unverzichtbar ist überdies eine begriffsgeschichtliche Grundierung zentraler Termini des Inhaltsfeldes. Die begriffsgeschichtliche Analyse gibt Schüler*innen in der Sekundarstufe II Gelegenheit, Sprache am konkreten Fallbeispiel als ein Deutungsinstrument im historischen Wandel zu erfahren, das interessengeleitet eingesetzt wird. Vor allem macht es Sinn, anhand geeigneter Textbeispiele die reichen Bedeutungsnuancen herauszuarbeiten, die der Terminus »Dschihad« (gˇiha¯d, Djihad oder Jihad) im Koran, in den Hadithen und in der islamischen Tradition aufweist, insbesondere in der Hermeneutik islamischer Rechtsschulen. Der Terminus »Dschihad« wird im interessengeleiteten Diskurs von Islamisten ebenso wie von Islamfeinden semantisch auf die militärische Dimension eines »Heiligen Krieges« reduziert. Es gilt, das semantische Spektrum des Begriffs diachron zu erfassen, das von militärischem Kampf über die politische Aktion zur Verteidigung des Islam bis hin zur individuellen Anstrengung des oder der Gläubigen auf dem Weg hin zu Gott, zum Ringen um ein gottgefälliges und gerechtes Leben reicht, und in diachroner Betrachtung auf semantische Konjunkturen hinzuweisen, die der Begriff bis heute durchlief.42 Begriffsgeschichtliche Studien eignen sich zugleich, um die Sensibilität von Schüler*innen dafür zu schärfen, dass auch die Wertigkeit, die eine Gesellschaft Krieg und Frieden zuschreibt, keineswegs naturgegeben ist, sondern jeweils eine kulturelle, hier: eine religiös basierte kulturelle Übereinkunft darstellt. Die Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum) etwa, die der heilige Augustinus von Hippo (354–430) in der römischen Spätantike formulierte, definierte den Frieden (pax) unter Rückgriff auf lateinische Termini technici als das einzig zulässige Ziel (griechisch telos, lateinisch finis) des Krieges. Die Maxime finis belli pax est43 (übersetzt: das Ziel des Krieges ist der Frieden) wurde über Francisco de Vitoria (ca. 1483–1546) und Hugo Grotius (1583–1645) zu einer tragenden Säule des
42 Reiches Quellenmaterial (in englischer Sprache) macht zugänglich: Rudolph Peters, Jihad in Classical and Modern Islam: a reader, Princeton 1996 (Princeton series on the Middle East). Eine zusammenfassende Darstellung der Begriffsgeschichte bietet Omar, Jihad, bes. S. 77–86. Nützliche Handreichungen zur politischen Bildung bieten der Kölner Pädagoge Gisbert Gemein, Der Dschihad-Begriff im Wandel der Zeit, in: Ders. (Hg.), Kulturkonflikte – Kulturbegegnungen: Juden, Christen und Muslime in Geschichte und Gegenwart, Bonn 2011 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 1062), S. 221–253; außerdem der Bayreuther Islamwissenschaftler Rüdiger Seesemann, Dschihad zwischen Frieden und Gewalt, Bundeszentrale für politische Bildung (18. 8. 2015): http://www.bpb.de/politik/extremismus/ islamismus/210988/dschihad-zwischen-frieden-und-gewalt [24. 01. 2019]; Ders., Was der Islam wirklich unter »Dschihad« versteht, in: Welt, Kultur, 11. 2. 2015: https://www.welt.de/kultur/ article137318693/Was-der-Islam-wirklich-unter-Dschihad-versteht.html [24. 01. 2019]. 43 Herbert Krüger, »Finis belli pax est«, in: Festschrift für Rudolf Laun zu seinem achtzigsten Geburtstag, Göttingen 1962 (Jahrbuch für internationales Recht, 11), S. 200–212; auch in Ders., Staat, Wirtschaft, Völkergemeinschaft. Ausgewählte Schriften aus vierzig Jahren, Frankfurt am Main / Berlin 1970, S. 177–191.
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Kriegsverständnisses im klassischen Völkerrecht der Neuzeit.44 Indem Vitoria in seiner Abhandlung De iure belli den Frieden und die Sicherheit des Gemeinwesens unter Rückgriff auf Augustinus als das einzig zulässige Ziel des Krieges definierte (quia finis belli pax est et securitas republicae ut Augustinus inquit),45 stellte er den Frieden als den Normalzustand menschlicher Vergesellschaftung dem Krieg als einem Sonderfall, einem Ausnahmezustand gegenüber, der jeweils schnellstmöglich wieder in einen Zustand des Friedens zurückgeführt werden müsse. Kriegerische Handlungen waren demnach allein dann zu rechtfertigen, wenn sie auf einen Friedbruch reagierten, der auf eine andere Weise nicht zu beheben war, und wenn sie eine schnellstmögliche Wiederherstellung des Friedens intendierten. Die augustinische Lehre vom gerechten Krieg bedeutete eine kulturelle, religionsbasierte Akzentverschiebung gegenüber dem Diskurs, den die griechischrömische Antike über Krieg und Frieden führte. Denn diese hatte den Frieden neutral als die Phase zwischen zwei Kriegen definiert. Kriegsbegründungen der Neuzeit mussten dieser Akzentverschiebung Rechnung tragen.46 Einer Begründung bedurfte nicht der Frieden, der als Normalzustand galt, sondern der Krieg als eine Verletzung dieser Norm. Der Einfluss, den augustinische Theologie hier, vermittelst der Lehre vom gerechten Krieg, auf die Semantik von Krieg und Frieden hatte, verweist auf die kaum zu überschätzende Bedeutung, die theologische Auslegungstraditionen, Auslegungs- und Verknüpfungspraktiken religiöser Texte für die Friedensfähigkeit oder die Gewaltbereitschaft religiöser Denominationen in Geschichte und Gegenwart haben. Das Wissen um die Bedeutung, die theologische Exegese für die Positionierung religiöser Gruppierungen zu Frieden und Gewalt hat, ist ebenfalls ein Lernziel, das Inhaltsfeld 2 erreichen sollte. Ein eindrucksvolles 44 Thomas Michael Menk, Gewalt für den Frieden. Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert, Berlin 1992 (Schriften zum Völkerrecht, 105), dort S. 236–239 zum Grundsatz des finis belli pax est als einer tragenden Säule des Kriegsverständnisses im Völkerrecht seit Francisco de Vitoria. 45 »Weil das Ziel des Krieges der Frieden ist und die Sicherheit des staatlichen Gemeinwesens, wie Augustinus sagt«; vgl. Krüger, Finis belli pax est, S. 201. 46 Zur Kriegslegitimation in der Frühen Neuzeit vgl. Konrad Repgen, Kriegslegitimation in Alteuropa. Entwurf einer historischen Typologie, in: Historische Zeitschrift 241 (1985), S. 27– 49; auch in Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg. von Franz Bosbach und Christoph Kampmann, 3. Aufl., Paderborn 2015 (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF 117), S. 3–20; Bernd Klesmann, Bellum solemne. Formen und Funktionen europäischer Kriegserklärungen des 17. Jahrhunderts, Mainz 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte, 216); Anuschka Tischer, Offizielle Kriegsbegründungen in der Frühen Neuzeit. Herrscherkommunikation in Europa zwischen Souveränität und korporativem Selbstverständnis, Münster 2012 (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 12).
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Beispiel für die friedenspolitische Relevanz exegetischer Traditionen und Wertungen sind jene Friedenssemantiken, die humanistische Friedensdenker (Ireniker, von griechisch eirene = Frieden) wie Desiderius Erasmus von Rotterdam (um 1464/69–1536)47 und Sebastian Castellio (1515–1563)48 in Basel oder der Flame Georg Cassander (1513–1566)49 und seine Mitstreiter in Köln und am Niederrhein entwickelten. Ihre Irenik entsprach einer christozentrischen Religiosität, die sich auf die Friedenslehre Christi im Neuen Testament fokussierte, insbesondere auf die Bergpredigt. Damit wichen sie grundlegend von der Theologie jener Eiferer ab, die im Zeitalter der Kreuzzüge wie auch als Vorkämpfer jener Konfessionskulturen, die sich im 16. und 17. Jahrhundert in Europa etablierten, eine apokalyptische Weltsicht kultivierten.50 Die Auffassung, unmittelbar vor oder bereits im Endkampf zwischen Gott und Satan, den Mächten des Guten und des Bösen zu stehen, wurde aus der Johannes-Apokalypse des Neuen Testaments hergeleitet. Zugleich lieferte die alttestamentliche Landnahme- und Kriegsgeschichte des »Gottesvolkes« Israel Belege für einen kriegerischen Gott, der für sein auserwähltes Volk Partei ergriff und mit ihm in den Kampf zog. Die Friedenslehre Christi konnte in einer solchen exegetischen Tradition auf Zeit, insbesondere für die Dauer des apokalyptischen Endkampfes zwischen Gut und Böse, als außer Kraft gesetzt betrachtet werden. In westlicher Publizistik wird islamischen Gesellschaften häufig pauschal jede Friedensfähigkeit mit dem Argument abgesprochen, sie hätten nicht wie »der Westen« ein Zeitalter der Aufklärung durchlaufen. Ein Versuch, diese selbstge47 Zur erasmischen Christozentrik vgl. Friedhelm Krüger, Humanistische Evangelienauslegung. Desiderius Erasmus von Rotterdam als Ausleger der Evangelien in seinen Paraphrasen, Tübingen 1986 (Beiträge zur Historischen Theologie, 68). 48 Hans Rudolf Guggisberg, Sebastian Castellio 1515–1563. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1997. 49 Peter Arnold Heuser, Netzwerke des Humanismus im Rheinland: Georgius Cassander (1513– 1566) und der jülich-klevische Territorienverbund, in: Guido von Büren / Ralf-Peter Fuchs / Georg Mölich (Hg.), Herrschaft, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg und seine Zeit, Bielefeld 2018 (Schriftenreihe der Niederrhein-Akademie, 11), S. 501–530. Zur christozentrischen Religiosität des Zirkels vgl. Peter Arnold Heuser, Jean Matal. Humanistischer Jurist und europäischer Friedensdenker (um 1517–1597), Köln / Weimar / Wien 2003, zusammenfassend S. 340. 50 Zur »eschatologischen Gewalt« im Christentum allgemein vgl. Philippe Buc, Heiliger Krieg. Gewalt im Namen des Christentums, Darmstadt 2015; Ders.: Crusade and Eschatology. Holy War fostered and inhibited, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 125 (2017), S. 304–339. Zur Apokalyptik jener Akteure, welche im 16./17. Jahrhundert die Konfessionsbildung vorantrieben, vgl. einführend Volker Leppin, Antichrist und Jüngster Tag: das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, Gütersloh 1999 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 69). In komparatistischer Perspektive vgl. Jürgen Werbick / Muhammad Sven Kalisch / Klaus von Stosch (Hg.), Glaubensgewissheit und Gewalt. Eschatologische Erkundungen in Christentum und Islam, Paderborn / München / Wien / Zürich 2011 (Beiträge zur Komparativen Theologie, 3).
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wisse Sicht westlicher Publizisten auf islamische Gesellschaften kritisch zu hinterfragen, könnte auf die neue, thesenreiche Monographie »Die islamische Aufklärung« zurückgreifen, die der Islamwissenschaftler und Journalist Christophe de Bellaigue (*1971) 2017 in London publiziert hat; 2018 erschien eine deutschsprachige Ausgabe des umfangreichen Buches.51 Bellaigue äußert sich dort prononciert zur Auseinandersetzung islamischer Gesellschaften mit der westlichen Moderne seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Metropolen Kairo, Istanbul und Teheran seien im 19. Jahrhundert zu »Katalysatoren« einer Transformation und Modernisierung geworden, die zwar unter westlichem Einfluss stand, aber durchaus zu einer eigenständigen Form gefunden habe, die Bellaigue eine »islamische Aufklärung« nennt. Der Erste Weltkrieg und seine Folgewirkungen, insbesondere die Zerschlagung des Osmanischen Reiches und die Errichtung von Kolonialreichen, seien die entscheidenden Zäsuren gewesen, die einer antiwestlichen Gegenaufklärung den Weg gebahnt hätten. Wenngleich Bellaigue in der Parallelisierung einer »islamischen Aufklärung« mit der westlichen Aufklärung sicher zu weit geht, bietet sein Buch doch vielfältige Anregungen für einen kulturvergleichenden Diskurs in der Sekundarstufe II. Auch in Mittel- und Westeuropa bedurfte es keineswegs erst des Zeitalters der Aufklärung, um »friedensfähig« zu werden. Die historische Friedens- und Konfliktforschung hat in den letzten Jahrzehnten die Genese und Entfaltung eines Begriffs- und Methodenrepertoires zur Herstellung und Sicherung von Frieden dokumentiert, das Handlungsmuster und Handlungsempfehlungen für die praktische Aushandlung von Frieden bereitstellte, indem es direkte und indirekte Verhandlungsformen, Mediations- und Schiedspraktiken erprobte und bereits im 16. und 17. Jahrhundert in der Lage war, Leitlinien einer zu schaffenden Friedensordnung zu formulieren, etwa vermittelst jener drei Leitkategorien Generalamnestie, Restitution und Religionsfrieden, die auf dem Kölner Friedenskongress von 1579 diskutiert wurden52 und die der Westfälische Frieden von 1648 implementierte.53 51 Christophe de Bellaigue, The Islamic Enlightenment. The Modern Struggle Between Faith and Reason, London 2017; inzwischen liegt auch, übersetzt von Michael Bischoff, eine deutsche Ausgabe vor unter dem Titel: Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft 1798 bis heute, Frankfurt am Main 2018 (Lizenzausgabe der WBG: Darmstadt 2018). 52 S. dazu zusammenfassend Peter Arnold Heuser, Ideengeschichtliche Dimensionen humanistischer Politikberatung. Jean Matal, Pedro Ximénez und der Kölner Friedenskongress (»Pazifikationstag«) 1579, in: Michael Rohrschneider (Hg.), Frühneuzeitliche Friedensstiftung in landesgeschichtlicher Perspektive (Rheinisches Archiv, 160), Wien / Köln / Weimar 2020, S. 119–136. 53 Zum Folgenden vgl. zusammenfassend Peter Arnold Heuser, Vom Augsburger Religionsfrieden (1555) zur konfessionellen Friedensordnung des Westfälischen Friedens (1648), in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2017 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 2), S. 47–68.
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Die Religionsfrieden,54 mit denen Gesellschaften der europäischen Frühneuzeit nach der Glaubensspaltung Konflikte zwischen christlichen Konfessionsgruppen bändigten, die durch unterschiedliche Sichtweisen darauf entstanden waren, was weltanschaulich wahr ist, bieten Historiker*innen ein hochinteressantes Experimentierfeld, das ideen- und religionsgeschichtliche ebenso wie politisch-diplomatische Implikationen hat. Das Studium der Religionsfrieden der Frühen Neuzeit sensibilisiert dafür, dass die Herstellung von Frieden nicht notwendigerweise einer Einigung in der Hauptsache bedarf (hier: der Lösung eines weltanschaulich motivierten Dissenses christlicher Konfessionsgruppen über religiöse Wahrheiten und den rechten Glauben) und dass eine rechtliche Einhegung religiöser Konflikte, die im Kern aktuell unlösbar sind, zwar schwierig, aber nicht unmöglich ist. Um aus einer Spirale religiös begründeter Gewalt herauszukommen, konzentrierten sich Akteure im 16. und 17. Jahrhundert, weit vor der Aufklärung, auf die Festlegung rechtlicher, administrativer und politischer Rahmenbedingungen, die den Konfessionsparteien lebensweltliche Sicherheit und einklagbare Rechte gaben und damit eine friedliche Koexistenz der Parteien im Staat möglich machten, obwohl ihr Kernkonflikt über die rechte Lehre und über die religiöse Wahrheit fortbestand. Da alle Versuche scheiterten, die konkurrierenden religiösen Wahrheitsansprüche und -behauptungen durch theologische und philosophische Anstrengungen, durch Religionsgespräche oder Konzilien aus der Welt zu schaffen und die Einheit von Kirche und Glauben wiederherzustellen, verlagerten die Akteure das Feld ihrer Friedens- und Ausgleichsbemühungen, indem sie die inkompatiblen Wahrheitsansprüche der Konfessionsparteien juristisch einhegten und Frieden durch Recht sicherzustellen suchten. Die religiöse Wahrheitsfrage wurde ausgeklammert, die Sicherung einer friedlichen Koexistenz der Bekenntnisgruppen auf die Ebene des Rechts verlagert. In den Religionsfrieden des 16. Jahrhunderts ist bereits ein Sicherheitsdenken fassbar, das in seiner Ausrichtung auf dauerhafte Friedens54 Zum Weiterlesen: Axel Gotthard, Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 148); Heinz Schilling / Heribert Smolinsky (Hg.), Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Wissenschaftliches Symposion aus Anlass des 450. Jahrestages des Friedensschlusses. Augsburg 21. bis 25. September 2005, Münster 2007 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 150); Armin Kohnle, Konfliktbereinigung und Gewaltprävention: Die europäischen Religionsfrieden in der Frühen Neuzeit, in: Dingel / Tietz, S. 1–20; Heinhard Steiger, Kein politischer Frieden ohne Religionsfrieden, kein Religionsfrieden ohne Rechtsfrieden. Das Modell des Westfälischen Friedens, in: Hans-Richard Reuter (Hg.), Frieden. Einsichten für das 21. Jahrhundert, Berlin / Münster 2009 (12. DietrichBonhoeffer-Vorlesung), S. 43–83; Thomas Brockmann, Die frühneuzeitlichen Religionsfrieden – Normhorizont, Instrumentarium und Probleme in vergleichender Perspektive, in: Christoph Kampmann / Maximilian Lanzinner / Guido Braun / Michael Rohrschneider (Hg.), L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens, Münster 2011 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 34), S. 575–611.
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lösungen in den zwischenstaatlichen Profanfrieden erst ab dem 17. Jahrhundert handlungsleitend wurde. Trotz aller rechtsförmigen Starrheit, die ihnen eignet, waren die Religionsfrieden Meilensteine auf dem Weg zu den pluralen Gesellschaften der Moderne und boten einen Rechtsrahmen, in dem sich Toleranz und die Idee der Bürgerrechte entwickeln konnten. Zu den Charakteristika frühneuzeitlicher Religionsfrieden in Europa gehört, dass sie durchwegs ein Mittel zur Konfliktbereinigung und zur Gewaltprävention blieben, das exklusiv zwischen christlichen Konfessionsgruppen Anwendung fand. Schriftlich vereinbarte Religionsfrieden mit nichtchristlichen Denominationen, etwa mit Juden oder Muslimen, hat es in Mittelalter und Frühneuzeit nicht gegeben.
Schluss Es ist Aufgabe der im Folgenden präsentierten Tagungsbeiträge, anhand konkreter historischer Regionalstudien und Fallbeispiele den Konflikt-, Gewalt- und Friedenspotenzialen einer islamisch-christlichen Kulturbegegnung in Mittelalter und Neuzeit nachzuspüren. Die vorstehend skizzierten reichhaltigen Diskussionen, die seit den 1990er Jahren über Geschichtsdeutungen wie Huntingtons »Kampf der Kulturen«, Assmanns Monotheismus-These oder Küngs »Weltethos«-Projekt, aber auch über populäre Annahmen wie das Aufklärungs-Defizit islamischer Gesellschaften geführt wurden und werden, können dazu Denkräume erschließen, welche die historische Einordnung und Deutung konkreter geschichtlicher Ausprägungen eines Kulturkontakts erleichtern und möglicherweise weiterbringen. Eine Begriffsgeschichte, welche zentrale Termini religiös begründeter Konflikte wie »Dschihad«, »heiliger Krieg« oder »gerechter Krieg« semantisch und ideengeschichtlich verortet, kann ideologische Kampflinien infrage stellen. Die exemplarische Untersuchung exegetischer Traditionen, welche die Weltreligionen entwickelt haben, fördert die Sensibilität für die friedensstiftenden wie auch für die konfliktfördernden Wirkungen, die Theologie innergesellschaftlich wie im Kulturkontakt entfalten kann. Die Konflikttheorie schließlich, welche die Politikwissenschaftler Volker Rittberger und Andreas Hasenclever erarbeitet haben, schärft den historischen Blick für Phänomene einer Überlagerung gesellschaftlicher und religiös-konfessioneller Konfliktfelder, die in Geschichte und Gegenwart dazu beitragen, dass innergesellschaftliche Sozialkonflikte aller Art oder Traumata kolonialer Übermächtigung über das Medium religiöser Identitäten konfliktiv ausgetragen werden. Die Sensibilisierung für derartige Überlagerungsphänomene, die in Konflikten in Geschichte und Gegenwart auftreten, ist eine Vorbedingung für die Entwicklung zielführender Konfliktlösungsstrategien.
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Teil II: Kulturbegegnung, Kulturtransfer und Gewaltdynamiken im Mittelalter
Katharina Gahbler
Feindbilder verstehen – Präsenz und Funktion von sogenannten Sarazenen in mittelalterlichen Quellen1
»Fern im Westen, da prangte, berühmt auf der Erde, / eine bedeutende Stadt, durch Kriege kampflustig geworden, / einstmals bewohnt nur von spanischen Bewohnern; / Cordoba lautet ihr überall hoch gepriesener Name, / weithin war sie durch Schätze bekannt und durch glänzenden Reichtum, / Sitz der Gelehrsamkeit auf allen Gebieten des Wissens. / Stets triumphierte sie siegreich im Kampf mit den Gegnern. / Früher war einzig sie Christus im Glauben ergeben, / schenkte ihre durch Taufe gereinigten Söhne dem höchsten, / doch die rohe Gewalt zersetzte des heiligen Glaubens / Satzungen; gottlose Irrlehren / wurden verbreitet und zerstörten den Glauben des Volkes. / Denn das treulose Volk der unbezwungenen Sarazenen / nahm im Kampf die spanische Gründung / und bemächtigte mit Gewalt sich der Herrschaft, / auch ermordete es den guten getauften König, / der zuvor, zur Herrschaft berufen, regierte, / umsichtig und gerecht die Bewohnerschaft lenkend. / Grimmig wüteten mit dem Schwerte die Feinde. / Als sie die übrig gebliebenen Bewohner sich ganz unterworfen, / da ergriff der Führer des barbarischen Volkes, ein streitbarer Krieger, / ein ziemlich böser Mann, sein Leben und Ritus unheilig, / ohne zu zögern mit roher Gewalt die alleinige Herrschaft.«2
1 Der vorliegende Beitrag präsentiert Ergebnisse aus dem Bonner DFG-Projekt »Saraceni, Mauri, Agareni, … in lateinisch-christlichen Quellen des 7. bis 11. Jahrhunderts«. 2 Vgl. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit. Opera Omnia, hg. von Walter Berschin, München / Leipzig 2001 (Bibliotheca Scriptorvm Graecorvm et Romanorvm Tevbneriana), S. 63–77, hier S. 63f.: »Partibus occiduis fulsit clarum decus orbis, / Urbs augusta nova Martis feritate superba, / Quam satis Hispanii cultam tenuere coloni, / Corduba famoso locuples de nomine dicta, / Inclita deliciis, rebus quoque splendida cunctis, / Maxime septenis sophie˛ repleta fluentis / Necnon perpetuis semper praeclara triumphis. / Olim que Christo fuerat bene subdita iusto, / Fudit et albatos domino baptismate natos. / Bellica sed subito virtus bene condita iura / Mutavit sacrae fidei spargendo nefandi / Dogmatis errorem populum laesitque fidelem. / Perfida nam Saracenorum gens indomitorum / Urbis Marte petit duros huiusce colonos, / Eripuit regni sortem sibi vi quoque clari / Extinxitque bonum regem baptismate lotum, / Qui pridem merito gessit regalia sceptra / Et cives iustis domuit quot tempora frenis. / Hostili ferro certe quo iam superato / Ac reliquo victo tanta de cede popello / Ductor barbarice˛ gentis, structor quoque pugne, / Vir sat perversus vita rituque profanus, / Vindicat imperii sortem sibi denique tanti, / Collocat et socios populato rure nefandos / Implens maerentem non paucis hostibus urbem, / Polluit et veterem purae fidei genetricem / Barbarico ritu, quod nam miserabile dictu, / Paganos iustis intermiscendo colonis, / Quo sibi suaderent patrios dissolvere mores / Deque profanato secum sordere sacello.« Übersetzung in Anlehnung an Hrotsvit von
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Diese Beschreibung der Stadt Córdoba und ihrer Eroberung durch Muslime zu Anfang des 8. Jahrhunderts vermittelt ein eindrucksvolles Bild davon, welch erhebliche Zäsur die sogenannte Arabische Expansion auch mehr als zweihundert Jahre nach den Ereignissen noch bedeutete. Sie entstammt einer Verserzählung Hrotsvits von Gandersheim, einer Kanonisse, die in der Mitte des 10. Jahrhunderts mehrere Verserzählungen und Dramen über christliche Heldinnen und Helden sowie Märtyrerinnen und Märtyrer der Spätantike und des früheren Mittelalters verfasste.3 Im vierten Buch dieser Sammlung berichtet Hrotsvit über den galizischen Königssohn Pelagius, der als Jugendlicher oder junger Mann in die Geiselhaft des Cordobeser Herrschers, Abd ar-Rahman III., geriet, über seinen Leidensweg und sein Martyrium. Damit bietet das legendenhafte Gedicht eine sehr anschauliche und ausgeschmückte Erzählung über einen Kontakt zwischen Christen und Muslimen.
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Das Bonner DFG-Projekt »Saraceni, Mauri, Agareni, … in lateinisch-christlichen Quellen des 7. bis 11. Jahrhunderts«
Die oben genannte Quelle ist eine von zahlreichen Werken, die im Bonner DFGProjekt »Saraceni, Mauri, Agareni, … in lateinisch-christlichen Quellen des 7. bis 11. Jahrhunderts« untersucht und in einer Quellensammlung namens »Repertorium Saracenorum« aufgenommen wurden.4 Das Vorhaben ging von der Annahme aus, dass der Erste Kreuzzug als Zäsur einer Entwicklung betrachtet werden kann, in dessen Zuge das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in Europa mehr und mehr auf Konfrontation ausgerichtet war. Während der Forschungsstand zum Ersten Kreuzzug sehr gut ist, gibt es für die Zeit zwischen Gandersheim, Pelagius, übers. von Helene Homeyer, in: Hrotsvit von Gandersheim, Werke in deutscher Übertragung. Mit einem Beitrag zur frühmittelalterlichen Dichtung, hg. von Ders., München / Paderborn / Wien 1973, S. 113–125, hier S. 116. 3 Hrotsvit von Gandersheim fasste die einzelnen Werke selbst bis Ende der 950er Jahre in zwei Bücher zusammen; vgl. Hrotsvit, Liber primus: Legendae, in: Hrotsvit. Opera Omnia, S. 1–131 und Hrotsvit, Liber secundus: Dramata, in: ebd., S. 132–270. Zur sächsischen Verfasserin Hrotsvit sowie zur Datierung und Überlieferung des Pelagius vgl. Walter Berschin, Editoris Praefatio, in: ebd., S. VII–XXXIII, hier S. VIIIf. 4 Das Projekt unter Leitung von Matthias Becher, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, wurde zwischen 2013 und 2017 von der DFG gefördert. Das Repertorium Saracenorum entsteht als semantisches Wiki-System auf Basis von MediaWiki in Kooperation mit dem Cologne Center for eHumanities der Universität zu Köln, vgl. Matthias Becher / Katharina Gahbler (Hg.), Repertorium Saracenorum, zit. nach URL: http://saraceni.uni-koeln.de/ [26. 06. 2018]. Die Projektergebnisse wurden 2019 publiziert: Katharina Gahbler, Zwischen Heilsgeschichte und politischer Propaganda. Darstellungsweisen und Darstellungsmuster von Sarazenen aus der Zeit Ottos I., Husum 2019 (Historische Studien, 514).
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dem 7. und 11. Jahrhundert im Vergleich deutlich weniger Forschungsbeiträge. Daher hat das Projekt Berichte über die sogenannten Sarazenen5 fokussiert, die vor dem Ersten Kreuzzug entstanden sind. Die Untersuchungsgrundlage bildeten dabei insbesondere historiographische und hagiographische Werke, zum Teil außerdem Briefe, wie etwa jene Papst Johannes’ VIII. Im Blickpunkt des Projekts stand das gesamte lateinisch-christliche Europa des 7. bis 11. Jahrhunderts, vor allem wurde die Überlieferung aus dem westlichen und östlichen Mitteleuropa, der iberischen Halbinsel und der Apenninenhalbinsel untersucht. Ein erstes Ergebnis – durchaus erwartungsgemäß – war dabei, dass ein deutlicher Schwerpunkt der geographischen Verteilung der Berichte am Mittelmeer festgestellt werden konnte.6 Diese Gegend ist damit bereits für die zeitgenössischen Betrachter ein wichtiger Raum der Begegnung und Interaktion zwischen der christlichen und muslimischen Bevölkerung.7 Darüber hinaus scheinen sich die Gebiete, zu denen Berichte überliefert sind, gewissermaßen zu verlagern. Während es bis zum Ende des 8. Jahrhunderts zahlreiche Berichte zum Südwesten des heutigen Frankreichs gibt, betreffen die Nachrichten ab dem 9. Jahrhundert stärker die Apenninenhalbinsel. Im späteren Untersuchungszeitraum steht dann vor allem der Süden der Halbinsel im Fokus der Überlieferung.8 Sicherlich kann diese Verlagerung mit der politischen Situation erklärt 5 Die Bezeichnung ›Sarazenen‹ (Saraceni) wird synonym zu weiteren Bezeichnungen der mittelalterlichen Verfasser verwendet. In den Quellen finden sich Agarenus, Maurus, Ismaelitus, Persus oder auch Arabus. Vgl. zu den Bezeichnungen etwa Hans-Werner Goetz, Sarazenen als »Fremde«? Anmerkungen zum Islambild in der abendländischen Geschichtsschreibung des frühen Mittelalters, in: Lawrence I. Conrad / Benjamin Jokisch / Ulrich Rebstock (Hg.), Fremde, Feinde und Kurioses. Innen- und Außenansichten unseres muslimischen Nachbarn, Berlin / New York 2009 (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients NF, 24), S. 39–66. 6 In zwei Drittel der relevanten Quellen wird Frankreich thematisiert. Nur geringfügig weniger Quellen berichten über Italien. Noch in über der Hälfte der Quellen werden Berichte zu Spanien geliefert, und in immerhin noch einem Drittel Nachrichten zu Afrika. Vgl. Becher / Gahbler, Repertorium Saracenorum. 7 Vgl. dazu etwa John Victor Tolan, Saracens. Islam in the medieval European imagination, New York 2002; Andreas Obenaus, »… Diese haben die maurischen Piraten verwüstet«: Islamische Piraterie im westlichen Mittelmeerraum während des 9. und 10. Jahrhunderts, in: Ders. / Eugen Pfister / Birgit Tremml (Hg.), Schrecken der Händler und Herrscher. Piratengemeinschaften in der Geschichte, Wien 2012 (Expansion, Interaktion, Akkulturation, 21), S. 33–54; Goetz, Sarazenen als »Fremde«?; Nikolas Jaspert / Sebastian Kolditz (Hg.), Seeraub im Mittelmeerraum. Piraterie, Korsarentum und maritime Gewalt von der Antike bis zur Neuzeit, Paderborn 2013 (Mittelmeerstudien, 3); Clemens Gantner, Freunde Roms und Völker der Finsternis. Die päpstliche Konstruktion von Anderen im 8. und 9. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2014; Klaus Herbers, Europa: Christen und Muslime in Kontakt und Konfrontation. Italien und Spanien im langen 9. Jahrhundert, Mainz / Stuttgart 2016 (Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse / Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 2016/2). 8 Vgl. hier als prominente Beispiele zum 7. und 8. Jahrhundert die Geschichte der Langobarden des Paulus Diaconus, Pauli Historia Langobardorum, hg. von Georg Waitz, Hannover 1878
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werden. Denn während im 8. Jahrhundert zahlreiche Konfrontationen zwischen den Franken und den aus dem südwestlichen Europa vorrückenden Sarazenen überliefert sind, treten im 9. Jahrhundert sarazenische Gruppierungen vermehrt gewalttätig und plündernd in Italien auf, wie etwa bei dem Angriff auf Rom im Jahr 846.9 Bis zu seiner normannischen Eroberung im Jahr 1071 war auch Bari immer wieder umkämpft und wiederkehrend in sarazenischer Hand.10 Als weiteres Ergebnis des Projekts kann festgehalten werden, dass das beschriebene, wechselhafte Verhältnis zwischen Christen und Muslimen von den lateinisch-christlichen Verfasserinnen und Verfassern wahrgenommen wurde. Insbesondere Bedrohungs- und Kriegssituationen, wie etwa Invasionen, Kampfhandlungen, Plünderungen, Siege und Tode, Zerstörungen oder auch Geiselnahmen, wurden dabei in schriftlichen Berichten festgehalten. Daneben beschäftigten die Verfasser aber auch in größerem Maße Bündnisse zwischen Christen und Muslimen, wie sie etwa in Gesandtschaften ihren Ausdruck fanden. Ein ausnehmendes Beispiel ist die in der Vita des Johannes von Gorze überlieferte Schilderung.11 (MGH SS rer. Germ., [48]), sowie die sogenannte Fredegar-Chronik, vgl. Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici libri IV cum continuationibus, hg. von Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 2, Hannover 1888, S. 1–193. Die gut bekannte Historia Langobardorum Beneventanorum Erchemperts berichtet etwa zu den Kämpfen des 9. Jahrhunderts in Süditalien; vgl. Echemperto, Piccola Storia dei Longobardi di Benevento, hg. von Luigi Andrea Berto, Napoli 2013 (Nuovo Medioevo, 94). Zu dieser Zeit berichtet auch die Kurze Geschichte der Langobarden (Adbreviatio de gestis Langobardorum) bzw. kurz Historia des Andreas von Bergamo; vgl. Andreae Bergomatis Historia, hg. von Georg Waitz, in: MGH SS rer. Lang. [1], Hannover 1878, S. 220–230. Beispiele für den gesamten Untersuchungszeitraum finden sich auch in der groß angelegten Studie von Norman Bade, Die christlich-abendländische Wahrnehmung vom Islam und von den Muslimen im Spiegel historiographischer Werke des frühen Mittelalters. Eine Studie über die kontextbedingte Entstehung eines religiösen Feindbilds, Hamburg 2015 (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters, 32). Anm. der Verfasserin: Abkürzungen in Literaturtiteln werden im Literaturverzeichnis aufgelöst. 9 Vgl. für das Beispiel der sogenannten Fredegar-Chronik Stefan Esders, Herakleios, Dagobert und die »beschnittenen Völker«, in: Andreas Goltz (Hg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung, Berlin / Boston 2009 (MillenniumStudien, 25), S. 239–312, sowie Ekkehart Rotter, Abendland und Sarazenen. Das okzidentale Araberbild und seine Entstehung im Frühmittelalter, Berlin / New York 1986 (Studien zur Sprache, Geschichte und Kultur des islamischen Orients NF, 11), der lateinisch-christliche Quellen bis ins 8. Jahrhundert sehr umfassend untersucht hat. Zum Überfall auf Rom im Jahr 846 vgl. etwa Annales de Saint-Bertin a. 846, hg. von Felix Grat / Jeanne Vieilliard / Suzanne Clémencet, Paris 1964 (Société de l’Histoire de France, 470), S. 52f., oder auch die Cronicae Sancti Benedicti Casinensis II,3, hg. von Luigi Andrea Berto, Florenz 2006 (Edizione nazionale dei testi mediolatini, 15), S. 16. 10 Zu Süditalien bis zur Eroberung durch die Normannen vgl. etwa Barbara M. Kreutz, Before the Normans. Southern Italy in the ninth and tenth centuries, Philadelphia 1991 (Middle Ages series). 11 Vgl. Hystoria de vita domni Iohannis Gorzie coenobii abbatis / Die Geschichte vom Leben des Johannes, Abt des Klosters Gorze, Kap. 115–136, hg. und übersetzt von Peter Christian
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Während aus heutiger Perspektive häufig von dem Verhältnis zwischen »Christen« und »Muslimen« gesprochen wird, ist die zeitgenössische Quellenterminologie eine andere. Zwar ist durchaus die Vorstellung einer Gemeinschaft von Christen in den Quellen nachzuvollziehen,12 doch nach dem Begriff »Muslime« sucht man vergeblich. Stattdessen verwendeten die mittelalterlichen Verfasserinnen und Verfasser vor allem den Begriff Saracenus, daneben Maurus oder auch Persus und Arabus. Weiterhin finden sich in den Texten – wenngleich weniger häufig vertreten – die Termini Agarenus oder auch Ismaelitus.13 Die religiöse Konnotation, die mit der Bezeichnung »Muslime« impliziert wird, ist damit also nicht so deutlich in den mittelalterlichen Quellen zu erkennen. Hier werden die Bezeichnungen auch ethnisch-gentil verwendet.14 Dennoch heben die Begriffe Saracenus, Agarenus und Ismaelitus auf den biblischen Ursprung der verschiedenen Völker und einer Herkunft von der Magd Agar und ihrem Sohn Ismael ab und sind somit religiöser Herkunft. Sehr deutlich lässt sich eine feindliche Konnotation feststellen, die bereits biblisch grundgelegt ist.15 Das wird auch dadurch deutlich, dass in den Quellen Synonyme für die Gruppenbezeichnungen verwendet werden, wie »Feind« (hostis), daneben auch Begriffe, die auf den Unglauben des Volkes abheben, etwa »Heide« (paganus) oder »Barbar« (barbarus).16
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Jacobsen, Wiesbaden 2016 (MGH SS rer. Germ., 81). Vgl. außerdem die beispielhafte Untersuchung von Goetz, Sarazenen als »Fremde«?, S. 50f., die einen guten Überblick bietet. Hierfür ist die Antapodosis des Liudprand von Cremona ein gutes Beispiel. Liudprand stellt hier eine Partei von Christen einer Gruppe von Puniern gegenüber; vgl. Liudprand Cremonensis, Antapodosis II,52–54, in: Liudprandi Cremonensis opera omnia, hg. von Paolo Chiesa, Turnhout 1998 (Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, 156), S. 3–150, hier S. 57. Vereinzelt finden sich weitere Begriffe wie Africanus, Lybicus, Poenus oder auch Syrus, vgl. Becher / Gahbler, Repertorium Saracenorum, sowie Goetz, Sarazenen als »Fremde«?, S. 48f. Turci hingegen findet sich auch als Bezeichnung für die Ungarn, etwa bei Liudprand Cremonensis, Antapodosis II,4, hier S. 36. Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlich-abendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.–12. Jahrhundert), Berlin 2013, S. 260f., konstatiert, dass »[d]ie Begrifflichkeit […] immer noch der geographischen und ethnischen Herkunft, nicht aber der Religion verpflichtet [bleibt]. Dennoch sind mit den ethnischen Begriffen vielfach die Muslime gemeint.« Vgl. außerdem Goetz, Sarazenen als »Fremde«?, S. 50f. Vgl. zum biblisch grundgelegten Antagonismus: Gahbler, Heilsgeschichte, S. 20–33, zusammenfassend, S. 337. Die Begriffe finden sich jeweils in knapp einem Fünftel der untersuchten Quellen der Sammlung. Der Terminus »infideles« ist hingegen weniger stark verwendet worden; vgl. Becher / Gahbler, Repertorium Saracenorum. Vgl. zu den Bezeichnungen für Sarazenen auch Goetz, Sarazenen als »Fremde«?, S. 58–63.
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Sarazenen in der Pelagius-Legende der Hrotsvit von Gandersheim
Im Folgenden soll die Darstellung von Sarazenen in zwei Quellen des 10. Jahrhunderts näher untersucht werden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welche Rollenzuweisungen die Verfasserinnen und Verfasser der christlich-lateinischen Werke den Sarazenen zukommen ließen und welche Funktionen damit verknüpft wurden. Einführend war bereits von Hrotsvit von Gandersheim die Rede. Ihre Verserzählung über Pelagius17 bietet ein eindrucksvolles Beispiel zu den SarazenenVorstellungen, die im ostfränkischen Reich in der Zeit Ottos des Großen bestanden: Im Rahmen einer ganzen Reihe von Heldengeschichten erzählt Hrotsvit von Pelagius, der nach einer Kriegsniederlage seines Vaters, des christlichen, galizischen Königs, als Geisel an den Hof in Córdoba gebracht und dort zunächst in Kerkerhaft festgehalten worden sei. Da der sarazenische Herrscher Gefallen an schönen und redegewandten jungen Männern gefunden und Pelagius genau diese Eigenschaften besessen habe, sei er kurze Zeit später gewaschen und in neue Gewänder gekleidet zu ihm gebracht worden. Hrotsvit berichtet von dem folgenden Zusammentreffen zwischen Pelagius und dem sarazenischen Herrscher: »[A]uch des Herrschers Blick hing gebannt an dem Jüngling. / Rasch entbrannte sein Herz für den fürstlichen Sprossen. / Unverzüglich befahl er, Pelagius zum Throne zu bringen, / damit dessen Feuer ihm verbunden sei. / Sich zu ihm neigend bedeckt’ er mit Küssen / ihn und umschlang den Hals des Begehrten.«18
Trotz einer ablehnenden Reaktion des Pelagius lässt Hrotsvit den Herrscher unbeirrt fortfahren, Pelagius für sich zu gewinnen. Überwältigt von der Schönheit des Jungen habe er Pelagius angeboten, mit ihm gemeinsam zu herrschen: »›[D]a
17 Vgl. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit, Opera omnia, S. 63–77. Die Hinrichtung des Pelagius ist zum Jahr 925/6 überliefert; vgl. Klaus Herbers, Patriotische Heilige in Spanien vom 8.– 10. Jahrhundert, in: Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriela Signori (Hg.), Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne, Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie, 5), S. 67–85, S. 77. 18 Vgl. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit, Opera omnia, S. 71: »Aspectu primo quoque rex suspensus in illo / Ardebat formam regalis stirpis amandam. / Tandem Pelagium nimium mandavit amandum / In solio regni secum iam forte locari, / Ignis ut ipsius fieret sibi sedulo iunctus, / Fronteque summisso libaverat oscula caro / Affectus causa complectens utpote colla.« Übersetzung oben in Anlehnung an Hrotsvit von Gandersheim, Pelagius, übers. von Homeyer, S. 121. Stärker, als in der Übersetzung deutlich wird, betont Hrotsvit die Liebe (affectus – auch Zuneigung, Leidenschaft), die der sarazenische Herrscher Pelagius gegenüber empfindet.
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ich dich liebe; du sollst meine Gunst auch erfahren: / dich will ich ehren vor allen, die hier mit dir dienen, / mit mir vereint – dafür bürge ich – sollst du regieren.‹«19 Aus der Antwort des Pelagius geht hervor, dass auch Hrotsvit die Annäherungen des Herrschers als unangemessen für einen Christen deutet: »Fürwahr der Ritter Christi lässt nicht zu solche Liebe / eines paganen Königs, der durch Ausschweifungen des Körpers befleckt ist, / listig bot er sein Ohr dem Gelüste des Königs, / hielt ihn zum Narren, indem er den Mund ihm versagte / und verwies ihm sein Tun mit vortrefflichen Worten: / ›Nicht geziemt’s einem Mann, der auf Christi Namen getauft ward, / seinen keuschen Leib der Umarmung eines Barbaren zu schenken. / Nie darf ein Christ, der gesalbt mit dem Chrisam, / Küsse eines unreinen Dieners des Dämons empfangen.‹«20
Hrotsvits Protagonist Pelagius verunglimpft in der Textpassage den Glauben seines Gegenübers als Unglauben und verteidigt beständig seinen christlichen Glauben. Auf diese Weise wird der sarazenische Herrscher als gottferner Ungläubiger herabgewürdigt. Neben der verbalisierten Ablehnung wird Pelagius in der Erzählung auch handgreiflich und schlägt Abd ar-Rahman, der sogleich vor aller Augen zu bluten begonnen und seinen Bart und seine Kleidung benetzt habe.21 Daraufhin sei der sarazenische Herrscher in Wut entbrannt: »Jetzt erst geriet das Blut des Tyrannen in Wallung. / Augenblicks gab er Befehl, den Zeugen für Christus / mit der Schleudermaschine, mit der man im Kriege / Felsblöcke warf, um die Feinde zu töten, / über die Mauern zu schleudern, so daß er im Flusse, / der 19 Vgl. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit. Opera Omnia, S. 72: »Te quia corde colo necnon venerarier opto / Tanto prae cunctis aule˛ splendore ministris, / Alter ut in regno sis me prestante superbo.« Übersetzung oben in Anlehnung an Hrotsvit von Gandersheim, Pelagius, übers. von Homeyer, S. 122. 20 Vgl. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit. Opera Omnia, S. 71f.: »Non patitur talem Christi nam miles amorem / Regis pagani luxu carnis maculati, / Aurem regali ludens sed contulit ori / Magno ridiculo divertens ora negata, / Fatus et egregio dicebat talia rostro: / ›Non decet ergo virum Christi baptismate lotum / Sobria barbarico complexu subdere colla, / Sed nec christicolam sacrato crismate tinctum, / Demonis oscillum spurci captare famelli.« Übersetzung oben in Anlehnung an Hrotsvit von Gandersheim, Pelagius, übers. von Homeyer, S. 121. Durch die Anspielung auf Dämonen bringt Hrotsvit die Gottesferne Abd ar-Rahmans zum Ausdruck. Das Auftreten von Dämonen bzw. dem Teufel in verschiedenen Werken Hrotsvits hat Patricia Silber, Hrotsvit and the Devil, in: Phyllis R. Brown / Linda McMillin / Katharina M. Wilson (Hg.), Hrotsvit of Gandersheim. Contexts, identities, affinities, and performances, Toronto / Buffalo / London 2004, S. 177–192, untersucht. Zur Pelagius-Legende siehe ebd., S. 182, 189. Marianne Schütze-Pflugk, Herrscher- und Märtyrerauffassung bei Hrotsvit von Gandersheim, Wiesbaden 1972 (Frankfurter historische Abhandlungen, 1), S. 120–123, hat die idealtypische Darstellung der Diener Gottes und der Diener des Teufels in Hrotsvits Werken herausgearbeitet. 21 Vgl. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit. Opera Omnia, S. 72f.: »Callida sed testis confudit ludicra regis, / Osque petit subito pugno regale vibrato / Intulit et tantum pronis obtutibus ictum, / Sanguis ut absque mora stillans de vulnere facto / Barbam fedavit necnon vestes madefecit.«
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die Stadt in riesigem Bogen umströmte, / furchtbar verstümmelt zugrunde gehe. / Alsbald gehorchten die Diener dem rasenden Herrscher / und vollzogen die unerhört grausame Strafe, / schleuderten mit dem Geschütz den dem Tode Geweihten / über die ragenden Mauern der prächtigen Stadt in die Weite. / Doch es hielten die ringsum starrenden Felsen / den so herrlichen Körper des Märtyrers auf in dem Sturze; / unversehrt blieb der Leib des gläubigen Christen. / Rasch kam die Nachricht dem König zu Ohren, / unverletzt sei des Märtyrers Körper geblieben – / nicht, wie befohlen, zerfetzt von den spitzigen Felsen. / Heftiger noch ergrimmt, da er völlig besiegt war, / gab er sofort den Befehl, mit dem Schwerte / ihn zu enthaupten und so zu bestrafen. / Zitternd vollzogen die Henker den Auftrag / und enthaupteten ihn, den Zeugen für Christus.«22
In seinem Zorn habe der sarazenische Herrscher also die Hinrichtung des Pelagius beschlossen, die nach einem vergeblichen Versuch mit dem Schwert vollzogen worden sei. Hrotsvit fährt sodann fort, von Pelagius’ Auffahrt in den Himmel zu berichten und wie er auf Erden als Märtyrer erkannt worden sei. Schließlich berichtet sie von den Wundern, die sich an seinem Grab ereignet hätten, und davon, wie seine Verehrung als Heiliger begonnen habe.23 Während der sarazenische Herrscher zwar eine entscheidende Rolle in der Verserzählung spielt, ist der eigentliche Protagonist der Handlung der junge Christ Pelagius, als dessen Antagonist Abd ar-Rahman auftritt. In dieser Rolle hat er die Funktion inne, dem christlichen Protagonisten zu einer Prüfung seines Glaubens zu verhelfen, den dieser schließlich in seinem Märtyrertod beweist. Diese Prüfung besteht zum einen aus der Verführung: Abd ar-Rahman findet Gefallen am Aussehen und der Redekunst des Pelagius, schmeichelt ihm und bietet ihm an, mit ihm zusammen zu herrschen. Zum anderen droht er Pelagius und straft ihn schließlich mit dem Tod. Um diese Funktion des Verführers überzeugend zu gestalten, stattet Hrotsvit den sarazenischen Herrscher mit verschiedenen Eigenschaften aus, die ihn zum Ungläubigen stilisieren: Er wird als barbarisch (barbarus)24 und pagan (paganus)25 bezeichnet, ist beschmutzt
22 Vgl. ebd., S. 73: »Tunc rex non modicam tristis conversus in iram / Iussit Pelagium, ce˛lestis regis alumnum, / Trans muros proici iactum funda machinali, / Crebro bellantes saxis que˛ perfodit hostes, / Nobilis ut testis fluvii collisus harenis, / Urbem qui vasto propius circumfluit unda, / Membratim creperet raptim fractusque periret. / Talia iactanti parebant forte ministri / Mox et inauditam strucxerunt denique poenam / Funda Pelagium iacientes martirizandum / Urbis famose trans maxima menia longe. / Sed licet ingentes obstantes undique rupes / Artarent testis corpus praedulce cadentis, / Attamen illesus Christi permansit amicus. / Certe regales cicius pervenit ad aures / Martiris allisi corpus non posse secari, / Infigi scopulis ripe quod iussit acutis. / Hic magis offensus, penitus fuerat quia victus, / Mox caput exacto iussit succidere ferro / Et sentenciolam sic exercere supremam.« Übersetzung oben in Anlehnung an Hrotsvit von Gandersheim, Pelagius, übers. von Homeyer, S. 122. 23 Vgl. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit. Opera Omnia, S. 73f. 24 Ebd., S. 71. 25 Ebd.
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durch die Sünde eines Sodomiten (vitia Sodomitis)26, befleckt durch Ausschweifungen des Körpers (luxu carnis maculatus)27, ist Diener des Dämons (Demonis oscillum)28 und betet Götzenbilder an (simulacrum)29. Sein Herz werde durch die Schlange, d. h. den Teufel (serpens)30 gelenkt. Er ist böse (perversus)31 sowie gottlos (profanus)32 und schlimmer noch als seine tyrannischen Vorfahren (tyrannus)33. Es wird deutlich, dass Hrotsvit den sarazenischen Herrscher nicht nur typisiert, sondern ihn geradezu auf ein ihr zur Verfügung stehendes Stereotyp eines ›Ungläubigen‹ reduziert. Demgegenüber erscheint der junge Pelagius bereits vor seinem Tod als Märtyrer (martir)34, Freund (amicus)35, Streiter Christi (miles)36, und als dessen Zeuge (testis)37 – letztlich also als idealer, heiliger Christ. Hrotsvit ordnet das Geschehen in Córdoba also als Auseinandersetzung zwischen einem aufrechten Christen und einem vom Teufel geleiteten Ungläubigen ein, der als Verführer und Gegner des Christen fungiert. Damit deutet sie es gleichsam im Rahmen einer heilsgeschichtlichen, göttlichen Ordnung, in dessen Rahmen ein gottgefälliges und unbeflecktes Leben und Handeln sowie die Beständigkeit im Glauben als Waffe im Kampf gegen ungläubige Feinde dient und zum Sieg verhelfen kann.38
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Sarazenen in der Vita des Johannes von Gorze
Gegenüber dieser gewaltsamen Erzählung Hrotsvits von Gandersheim bezeugen Berichte zu diplomatischen Kontakten einen gewaltlosen bzw. freundschaftlichen Kontakt zwischen Christen und Muslimen. Die Schilderung einer solchen 26 27 28 29 30
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Ebd., S. 70. Ebd., S. 71. Ebd., S. 72. Ebd. Vgl. außerdem ebd., S. 65: »Marmora, que princeps comptus diademate suplex.« Ebd., S. 66. Zur Schlange und zum Drachen als Erscheinungsbildern des Teufels vgl. auch Hans-Werner Goetz, Gott und die Welt. Religiöse Vorstellungen des frühen und hohen Mittelalters I,3: IV. Die Geschöpfe, Engel, Teufel, Menschen, Göttingen 2016 (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, 16), S. 200–212, sowie S. 229–242, bes. S. 230, mit Bezug auf die biblischen Erzählungen vom Paradies und von der Apokalypse. Hrotsvit, Pelagius, in: Hrotsvit. Opera Omnia, S. 64, 67. Ebd., S. 64. Ebd. Vgl. außerdem ebd., S. 65: »Deterior patribus.« Ebd., S. 63, 71–75, 77. Ebd., S. 69, 73. Ebd., S. 63. Ebd., S. 72f. Vgl. insbesondere ebd., S. 73f. Im Anschluss an Pelagius’ Märtyrertod, mit dem er über den sarazenischen Herrscher siegt, ist Abd ar-Rahman nicht weiter Teil der Verserzählung; vgl. ebd., S. 73–77.
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Gesandtschaftsreise ist mit der Vita des lothringischen Mönchs Johannes von Gorze auch aus ottonischer Zeit überliefert.39 Johannes, der später Abt seines Klosters war, wurde in den 950er Jahren im Auftrag Ottos I. nach Córdoba geschickt, um auf eine Gesandtschaft des damaligen Kalifen, Abd ar-Rahman III., zu reagieren.40 In der Vita, die von Abt Johannes von St. Arnulf aus dem lothringischen Metz verfasst wurde,41 heißt es dazu einführend: »Eine Gesandtschaft des Königs [Abd ar-Rahman III. aus Córdoba], der […] wegen der hervorragenden Taten des damals schon großen […] Herrn Otto gegen verschiedene Völker beunruhigt war, traf gerade mit Geschenken ein, die königlicher Freigebigkeit entsprachen. […] Als von den Unsrigen geprüft wurde, wer umgekehrt nach dorthin gesandt werden könne, kam man endlich überein, nachdem etliche Vorschläge eine Weile verhandelt worden waren, dass die Gesandten – da derselbe König als ein Sarazene ein Schänder der Religion und unheilig und dem wahren Glauben gänzlich fremd war, und dazu, obwohl er die Freundschaft des christlichen Fürsten erbat, doch in dem von ihm übersandten Brief einige Blasphemien gegen Christus ausgespien hatte – zusammen mit dem kaiserlichen Schreiben, das sie überbringen sollten, auch selbst ihre Stimme erheben und seinen Unglauben bekehren sollten, wenn es ihnen irgendwie von Gott gegeben werde. […]«42
Zwei Aspekte sind hier hervorzuheben: Zum einen ist die Rede von einem Freundschaftsangebot Abd ar-Rahmans (amicitia)43 und von Geschenken (munera)44, die die königliche Freigebigkeit des Cordobeser Herrschers belegen. Zum 39 Vgl. Leben des Johannes, Kap. 115–136, S. 414–467. Ein noch prominenteres Beispiel allerdings aus Karolingerzeit stellt sicherlich die Freundschaft zwischen Karl dem Großen und Harun al-Rashid rund 150 Jahre früher dar. Der bekannte Gesandtschaftsaustausch brachte den bekannten weißen Elefanten mit Namen Abul Abaz an den Hof nach Aachen; vgl. etwa Wolfgang Dreßen / Georg Minkenberg / Adam C. Oellers (Hg.), Ex Oriente. Isaak und der weiße Elefant. Bagdad – Jerusalem – Aachen. Eine Reise durch drei Kulturen um 800 und heute. Katalogbuch in drei Bänden zur Ausstellung in Rathaus, Dom und Domschatzkammer Aachen vom 30. Juni bis 28. September 2003, Mainz 2003, 3 Bde. 40 Vgl. 953…, Coloniam, in: Regesta Imperii II. Sächsisches Haus 919–1024. 1: Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich I. und Otto I. 919–973, hg. von Johann Friedrich Böhmer / Emil von Ottenthal / Hans Heinrich Kaminsky, Innsbruck 1893 (Regesta Imperii II,1 n.231b), zit. nach URL: http://www.regesta-imperii.de/id/0953-00-00_2_0_2_1_1_431_231b [24. 09. 2019]. 41 Vgl. zum Werk die ausführliche Einleitung des Editors, in: Leben des Johannes, S. 1–119. 42 Ebd., Kap. 115, S. 414–419: »Legatio regis […] insigniumque factorum in gentes diversas tunc iam magni [..| ..] domni Ottonis perciti forte cum muneribus pro regia munificentia [… le]gati, quibus episcopus quidam preerat, dignitate solemni pro tanta magestate excepti diuque retenti; inter moras episcopus, qui legatis preerat, mortem obit. Dum a nostris, qui item eo remittantur, disquiritur, post nonnulla aliquandiu tracta consilia id demum convenit, ut quia idem rex sacrilegus et profanus, utpote Sarracenus et a vera fide prorsus esset alienus quique, quamvis amicitiam expeteret principis christiani, in litteris tamen quas miserat blasphema nonnulla in Christum evomuerat, cum scriptis imperialibus que ferrent vocem quoque suam ipsi aperire et, si quo pacto divinitus daretur, inmutare possent perfidiam.« 43 Ebd., S. 418. 44 Ebd., S. 416.
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anderen wird Abd ar-Rahman III. aber auch als Sarazene bezeichnet, der kein Gläubiger sei (a vera fide prorsus esset alienus)45 und gegen dessen Blasphemien (blasphema)46 sich Otto habe zur Wehr setzen wollen. Das hier ebenfalls schon genannte kaiserliche Schreiben Ottos, das der Gesandte Johannes später mit sich führte, enthielt der Vita zufolge als Reaktion auf die Schmähungen aus Córdoba offenbar selbst blasphemische Äußerungen gegen den Glauben des Sarazenen und wird vom Verfasser als Grund für die folgenden Unannehmlichkeiten des Gesandten herangezogen:47 Weil der Inhalt des Briefs dem Cordobeser Herrscher vorab zu Ohr gekommen sei, habe er die Gesandten über drei Jahre lang nicht empfangen, sondern in einer Art Haft (claustrum)48 festgehalten. Trotz mehrfacher Vermittlungsversuche scheiterten die Verhandlungen auch am Widerstand des Gesandten Johannes, der sich den Gegebenheiten in Córdoba insbesondere deshalb nicht habe anpassen wollen, weil sie für ihn gegen christliche Norm verstießen.49 Erst eine erneute Gesandtschaft und ein milder verfasstes Schreiben Ottos ebneten den Weg zu einem Zusammentreffen zwischen Johannes und Abd ar-Rahman.50 Nun jedoch sei der Gesandte ehrenvoll empfangen worden: Es folgt eine sehr ausführliche und detailreiche Schilderung des Prunkzugs, der die Gesandten königsgleich zum Palast des Kalifen begleitet habe, sowie der prächtigen Ausstattung des Hofes mit Teppichen und Wandbehängen und des Treffens zwischen dem thronenden Herrscher Abd ar-Rahman und dem Gesandten Johannes – der es sich nicht habe nehmen lassen, seine schwarze Mönchskutte (sacco)51 auch während dieses hochzeremoniellen Aktes zu tragen:52
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Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 418. Vgl. ebd., Kap. 131, S. 454. Als Vermittler habe Abd ar-Rahman den Juden Hasdeu sowie einen ortsansässigen Bischof, ebenfalls Johannes genannt, eingesetzt. Während der Jude dem Gesandten vor allem Verhaltensanweisungen gab, wird die Diskussion der beiden Namensvettern um ihren Glauben und dessen Ausübung in der Vita in wörtlicher Rede wiedergegeben; vgl. ebd., Kap. 121 und 122–124, S. 432f. sowie S. 434–438. 50 Der Gesandte Abd ar-Rahmans, Reccemund von Elvira, traf im Jahr 956 im ostfränkischen Reich ein und reiste mit einem neuen Schreiben Ottos zurück nach Córdoba; vgl. ebd., Kap. 128–130,, S. 446–454. Vgl. dazu auch 956 c.febr. 2, Franconofurde palatio, in: Regesta Imperii II, hg. von Böhmer / von Ottenthal / Kaminsky, zit. nach URL: http://www.regesta-im perii.de/id/0956-02-02_1_0_2_1_1_472_241a [24. 09. 2019]. 51 Vgl. Leben des Johannes, Kap. 131, S. 456. 52 Der erste Empfang beim Kalifen wird in Kapitel 133 und 134 geschildert; vgl. ebd., S. 458–462. Darüber hinaus fand ein zweites Treffen statt; vgl. ebd., Kap. 135f., S. 465. Ein drittes Treffen, das die entstehende Freundschaft festigen sollte, wurde angekündigt; vgl. ebd., Kap. 134, S. 462f.
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»Als also Johannes vortrat, streckte der König ihm die Hand mit der Innenseite zum Kuß entgegen. […] Als dann ein Sessel bereitgestellt war, nickte er mit der Hand zu, daß er sich setze. Darauf herrschte auf beiden Seiten langes Schweigen. Dann sprach der König […]: ›Ich weiß, daß dein Herz mir lange Zeit sehr feindlich gesinnt war, weil ich dich erst einmal so lange von meinem Angesicht fern gehalten habe. Aber du selbst weißt genau, daß es nicht anders geschehen konnte.‹ Auf diese Worte hin ist Johannes, der […] etwas Galle gegen den König auszuspeien gedachte […] mit einem Mal so friedfertig geworden, daß nichts in seinem Herzen jemals hätte ausgeglichener sein können. Daher habe er alles derartige gänzlich aus seinem Sinn vertrieben und beglückwünsche sich nur zu der Gunst, die er ihm so gütig und großherzig entgegen gebracht habe, und dazu, daß er darin die standhafte Stärke des königlichen Herzens wie auch seine außerordentlich mäßigende Wirkung bei der Lenkung der Dinge auf einem Mittelweg erkannt habe. Der König, der von diesen Worten bestrichen zu großer Gnade gestimmt war und sich anschickte, ihn mit viel weiterer Rede anzusprechen, verlangte zunächst die kaiserlichen Geschenke in Empfang zu nehmen. Als das geschehen war, erbat Johannes auf der Stelle die Erlaubnis zur Heimkehr. Der König wunderte sich und sagte: ›Wie? Sollte die Trennung so plötzlich geschehen? Jetzt […] hat sich auf beiden Seiten ein klein wenig Kenntnis der Gesinnungen aufgetan; bei einer erneuten Begegnung wird sie schon größer sein, beim dritten Mal wird die Bekanntschaft oder Freundschaft in ihrer ganzen Fülle befestigt werden. Dann sollst du deinem Herrn zurückgeschickt und mit den Ehren geleitet werden, die seiner und deiner würdig sind.‹ Dem stimmte Johannes zu […].«53
53 Vgl. ebd., Kap. 133f., S. 460–463: »Ut igitur Iohannes coram advenit, manum interne osculandam protendit. […] Inde sella parata manu, ut sedeat, innuit. Longa deinde utrimque [sile]ncia. Tunc rex prior ›Tuum‹, inquit, ›cor mihi plurimum diu cognosco fuisse infensum, [quia] diu te demum aspectu meo suspendi. Sed tu ipse penitus nosti, quod aliter | fieri non p[otuit …] sapientiam expertus sum […]la distulerunt, [sed quo]d non odio tui id factum sit, volo cognoscas; et n[…]cipio, verum de quibuscumque postulaveris, impetrabis.‹ Iohannes ad haec, qui, sicut nobis [sepius] referebat, aliquid fellis tam diutino angore contracti in regem evomere cogi[taverat], tam placidus repente effectus est, ut nihil animo ipsius umquam aequabilius esse [pot]uisset. Inde ad singula respondit: se quidem negare non posse, primo tot acerbita[te] nuntiorum fuisse permotum; inter ipsa tamen tacitum crebrius cogitasse simulatis potius quam veris minarum intentionibus haec erga se agitari; postremo quoque cuncta dilationum obstacula ex superioribus totius triennii actis vel dictis rescisse, nec esse quicquam reliqui, quod merito odio sui factum suspicari deberet. Unde si qua ea essent, se penitus animo depulsisse, gratiae tantum, quam tam clementi magnificentia obtulisset, gratulari, et quod regii pectoris in hoc et robur constantiae et moderationis mediae pervidisset temperamentum satis egregium. Rege his in multam gratiam delinito pluribusque eum compellare parante, munera imperatoria primum excipi postulavit. Quo facto reditus indulgentiam e vestigio obsecravit. Rex ammirans ›Quomodo‹, inquit, ›haec tam repentina fieri possit divulsio? Tanto temporis spatio alterutrum expectati, modo vix visi, ita abrumpemur ignoti? Nunc interim mutuo semel conspectu potiti: parum quiddam cognitio mentium se utrimque aperui; iterum visi iam amplius, tertio tota iam plenitudo notionis vel amititiae confirmabitur. Inde domino tuo remittendus digno eo teque deduceris honore.‹ His Iohanne assentiente […].«
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Die bereits genannte schwarze Mönchskutte (sacco)54, die Johannes auch während des Empfangs beim sarazenischen Herrscher trägt, wird in der Erzählung zum Ausdruck seiner christlichen Identität und zum Sinnbild für Johannes’ Bereitschaft, seinen christlichen Glauben auch in der Fremde zu verteidigen. Hieran wird das Thema der Vita deutlich, in deren Zusammenhang die Gesandtschaftsschilderung eingebettet ist: Während seines gesamten Aufenthaltes im Reich des ungläubigen Sarazenen habe sich Johannes laut seines Hagiographen mit Angriffen auf seinen Glauben auseinandersetzen müssen. Geradezu programmatisch wird das in Kapitel 115 der Vita ausgeführt. Dort wird Abd arRahman nicht nur als König beschrieben, der Ottos Freundschaft suche und daher eine Gesandtschaft mit reichen Geschenken gesandt habe, sondern auch als ungläubiger Sarazene, der bekehrt werden müsse.55 Auf beide Zuschreibungen greift der Verfasser im weiteren Verlauf zurück: Als Johannes nicht bereit gewesen sei, auf das Schreiben seines Herrschers zu verzichten, der sarazenische Herrscher ihn aber aufgrund der Blasphemien gegen seine Religion nicht habe empfangen können, weil er sonst selbst seinen religiösen Vorschriften nicht entsprochen hätte, sei es beinahe zur Eskalation gekommen, berichtet Johannes von St. Arnulf. Abd ar-Rahman habe Johannes in seinem Zorn verschiedene Arten der Marter angedroht, bis hin zu der Ankündigung, ihn zu zerstückeln. Doch auch diese Gewaltandrohungen, die sich schließlich gegen die ganze spanische Christenheit richteten, hätten den gläubigen Christen Johannes nicht beirren können: »[N]ach vielem, was man [Johannes] androhte, wenn er den Befehlen des Königs [Abd ar-Rahman] nicht zustimme, – […] sei am Ende dieses angefügt gewesen, daß er, wenn er ihn, Johannes, töten würde, er auch in ganz Spanien keinen einzigen Christen am Leben lassen werde; vielmehr würde er alle mit dem Schwert erschlagen. […] Deshalb möge [Abd ar-Rahman] wissen, daß er, Johannes, sich nicht von derartigen Drohungen und Schrecken bewegen lasse, weil [Gott] ihn nicht im Stich lassen werde, auf welche Weise auch immer es [Abd ar-Rahman] gefiele, weil es hier nicht um Anmaßung, sondern um den Gehorsam gehe. […]«56
54 Vgl. ebd., Kap. 131, S. 456. 55 Vgl. ebd., Kap. 115, S. 414–416. 56 Vgl. ebd., Kap. 125f., S. 440–445: »Post multa, quae ei nisi iussis regis assentiretur comminabantur, quibus tamen nullo [se mo]tum fuisse testatus est, ad hoc ultimum insertum est, quod si ipsum interimeret, nullum in tota Ispania christianum vitae relinqueret, sed omnes gladio trucidaret, […]. […] Quocirca non huiusmodi se minis vel terroribus nosset ullatenus permoveri, quia qui Mardocheum a superbia Aman constantiae tenacem miro ordine eripuerit, ipse sibi, quia non protervie˛ sed oboedientiae causa interesset, quoquo pacto sibi placitum videretur, non deesset.«
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Der Mönch und Gesandte Johannes bleibt also standhaft und verzagt nicht, sondern bleibt seinem Glauben beständig treu und hofft auf die Unterstützung seines Gottes. Zum Märtyrertod kommt es in diesem Fall nicht.57 Stattdessen wird der sarazenische Herrscher ob der Beständigkeit und Geduld des Mönches eines Besseren belehrt: Abd ar-Rahman mäßigt seinen Zorn, gesteht Johannes zu, als schlicht gekleideter Mönch vor ihn zu treten, und bringt ihm Wertschätzung entgegen. Im Zuge der Annäherung zwischen dem ottonischen Gesandten und dem Herrscher in Córdoba verändert sich in der Vita damit auch das Bild des sarazenischen Herrschers von einem Ungläubigen mit tyrannischen Züge zu einem »guten Herrscher«, mit dem ein friedlicher Austausch, vielleicht sogar eine Freundschaft möglich ist.58
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Zusammenfassung und Fazit
Die beiden Beispiele zeigen auf, wie unterschiedlich die Darstellung von Sarazenen in den Quellen ausfallen kann. Bei Hrotsvit wird der Sarazene Abd arRahman auf eine musterhafte Rolle als ungläubiger Antagonist des christlichen Protagonisten Pelagius reduziert und typisiert, ohne dass die Verfasserin eine Möglichkeit zur Abweichung von diesem Darstellungsmuster eröffnen würde. Erklärt werden kann diese Darstellungsweise Hrotsvits mit der Bedrohung, die in ottonischer Zeit durch die vom Mittelmeer her agierenden Sarazenen ausging. Diese verwüsteten die provenzalische Küste, aber auch die Alpengegend und Regionen Mittel- und Norditaliens über mehr als hundert Jahre lang massiv.59 Indes zeigt der Vergleich mit der Vita des Johannes von Gorze die Flexibilität der Verfasser im Umgang mit dem Thema. Auch Johannes von Gorze war als Zeit57 Johannes Bereitschaft dazu wird bereits ebd., Kap. 117, S. 420–422, signalisiert: »[S]imul quia videbat [Abt Einold] virum [Johannes] cupidum esse martirii, si fors ita tulisset, Christo potius transmittere quam suis optavit necessitatibus retinere.« / »Weil [Abt Einold] zugleich sah, daß der Mann [Johannes] begierig auf das Martyrium war, wenn es sich denn so ergäbe, wollte er ihn lieber Christus schicken als ihn zugunsten seiner eigenen Bedürfnisse zurückhalten.« 58 Zum Wandel in der Wertung des Kalifen durch den Gesandten Johannes vgl. ebd., Kap. 134, S. 462: »Unde si qua ea essent, se penitus animo depulsisse, gratiae tantum, quam tam clementi magnificentia obtulisset, gratulari, et quod regii pectoris in hoc et robur constantiae et moderationis mediae pervidisset temperamentum satis egregium.« 59 Zur Bedrohung, die von Sarazenen etwa aus der Niederlassung in Fraxinetum in der Provence und am mittelitalienischen Fluss Garigliano ausging, vgl. etwa Marco Di Branco / Kordula Wolf, Hindered Passages. The Failed Muslim Conquest of Southern Italy, in: Journal of Transcultural Medieval Studies 1 (2014), S. 51–73, hier S. 57f.; Goetz, Wahrnehmung anderer Religionen, S. 270–272 und 274; sowie Kees Versteegh, The Arab Presence in France and Switzerland in the 10th Century, in: Arabica 37 (1990), S. 359–388.
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genosse Hrotsvits von den Bedrohungen durch sarazenische Gruppierungen in Oberitalien und im Süden Frankreichs, die bis in die 970er anhielten, betroffen; der Verfasser der Vita, Johannes von St. Arnulf, wiederum erlebte die Niederlage Ottos II. gegen Sarazenen im Süden Italiens. Mehr noch als Hrotsvit war Johannes von Gorze als Gesandter Ottos I. in die Auseinandersetzung involviert worden. In der Vita des Gorzer Mönches stellt der Verfasser Abd ar-Rahman durchaus über weite Teile der Erzählung als ungläubigen Sarazenen und tyrannischen Herrscher dar – und entspricht damit dem Muster Hrotsvits. Im Gegensatz zu Hrotsvit rückt er allerdings zum Ende der Schilderungen von diesem Bild ab: Die Rolle des Abd ar-Rahman erfährt eine Wandlung und wird fortan deutlich zugewandter und aufgeschlossener gezeichnet. Zudem fällt auf, dass er nicht mehr als Sarazene bezeichnet wird. So zeigt sich, dass je nach Erzählzusammenhang auch die Darstellung als guter Herrscher möglich ist. Die Verfasser und Verfasserinnen konnten also erkennbar auf ein bestehendes und kulturell verankertes Deutungsmuster von »Sarazenen« zurückgreifen. Die darin zum Vorschein tretenden Vorstellungen, die die Verfasser und Verfasserinnen auf ihre Erzählungen übertrugen, waren damit auch Denkmodelle, die ihre Zeitgenossen überzeugen konnten. Ihnen zufolge waren die Sarazenen des 10. Jahrhunderts »Ungläubige«, die von den gläubigen Christen abzugrenzen waren, auch um eine Erzählung im Sinne einer christlich-göttlichen Ordnung zu verwirklichen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass das in den Werken überlieferte Wissen und die tradierten Vorstellungen über Sarazenen stets kontextgebunden und als Auswahl eines Verfassers oder einer Verfasserin zu verstehen sind, der bzw. die eine bestimmte Intention und Darstellungsabsicht mit seinem bzw. ihrem Werk verband. Die Einbindung von Muslimen – um wiederum vom heutigen Standpunkt auszugehen – und ihre Funktion als Gegenspieler in eine Erzählung können in den vorgestellten Beispielen dazu gedient haben, den christlichen Protagonisten zu einer erfolgreichen Prüfung ihres Glaubens zu verhelfen. Die Spannweite der Darstellungsweisen von Sarazenen erstreckte sich damit gleichsam von einem Extrem zum anderen: Einerseits waren die Sarazenen ungläubige, d. h. religiöse Feinde, andererseits konnten sie (etwa nach einer Bekehrung) als gute Herrscher und Freunde der Christen auftreten. Während die Christen mit einem guten Herrscher freundschaftliche Verbindungen eingehen durften, wie die Vita des Johannes von Gorze nahelegt, wurde mit der Zuschreibung eines sarazenischen Herrschers als eines religiösen Feindes schärfste Kritik geübt. Durch die beispielhafte Untersuchung von Rollen und Funktionen, die den sog. Sarazenen in der Überlieferung des 10. Jahrhunderts zugeschrieben wurden, wird so also auch die Entstehung von epochenübergreifenden Bildern der ›Anderen‹ als Feindbilder besser verständlich. Diese Bilder wurden von den christ-
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Katharina Gahbler
lichen Verfasserinnen und Verfassern im Rahmen einer gedachten göttlichen Ordnung, die als universales Erklärungsmodell fungierte, nicht zuletzt deshalb gebraucht, weil sie den in ihr Umfeld tretenden Sarazenen so einen Platz in der Heilsgeschichte zuweisen konnten. In ihren Werken interpretierten sie das Auftreten der Sarazenen auch als ›Gelegenheit Gottes‹, die den christgläubigen Protagonisten der Erzählungen die Prüfung ihres Glaubens ermöglichte. Erst in der Konfrontation mit dem Ungläubigen konnten die Christen ihren unumschränkten Glauben beweisen und einen unmittelbaren Weg zu Gott finden, dessen Extremform das Martyrium war. Diese Bilder der ,Anderen‹ wurden nun durch die Rezeption mittels einer schriftlichen Fixierung, wie sie sowohl mit der Pelagius-Legende als auch mit der Vita des Johannes von Gorze vorliegt, weitergetragen, wiederholt und dadurch verfestigt. Mit Hilfe einer historisch-kritischen Analyse können die kulturell bedingten Denkstrukturen, im Rahmen derer sich die Verfasserinnen und Verfasser der überlieferten Texte bewegten und durch die erlebte Wirklichkeiten erfahrbar, gedeutet und dargestellt wurden, vom heutigen Standpunkt aus vergegenwärtigt werden. Stärker noch als hier geschehen, sollten die Darstellungen aber auch kontextgebunden bewertet sowie (politische) Darstellungsabsichten der Verfasser kritisch hinterfragt werden.60 Methodisch betrachtet lassen sich anhand eines Vergleichs der Darstellungsweisen also Aussagen über gesellschaftlich geprägte Vorstellungen von Sarazenen zur ottonischen Zeit treffen, ebenso aber auch über die zielgerichtete Verwendung von Begrifflichkeiten (wie etwa Saracenus) und damit verbundenen Konzepten. Damit verbunden ist die Erkenntnis, dass mit der Perspektive, aus der die Verfasserinnen und Verfasser berichten, eine Deutungshoheit, d. h. ein Anspruch auf Interpretation über das von ihnen berichtete Geschehen verbunden ist, den es gleichermaßen zu reflektieren gilt. Die Verfasserinnen und Verfasser treffen daher mit ihren Berichten in viel stärkerem Maße eine Aussage über sich selbst als über die ›Anderen‹, von denen sie berichten.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Quellen
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60 Siehe Gahbler, Heilsgeschichte.
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Katharina Gahbler
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Alheydis Plassmann
Gewalteskalationen im Kontext des Ersten Kreuzzuges
Die Quellen zum Ersten Kreuzzug sprechen von außergewöhnlichen Gewalttaten bei der Eroberung Jerusalems im Jahr 1099 und scheinen damit die Überlegung zu stützen, dass es in Kriegen, bei denen es einen Religionsunterschied gab, eher zur Eskalation von Gewalt und einer Missachtung von Gepflogenheiten im Krieg kam als in anderen Konflikten. Daher soll in diesem Beitrag untersucht werden, a) unter welchen Bedingungen im zeitlichen Kontext des Ersten Kreuzzuges auch andernorts Gewalt eskalierte, b) inwieweit wir bei anderen Auseinandersetzungen, bei denen Religion eine Rolle spielte, eine auffallende Steigerung von Gewalt beobachten können, und c) soll abschließend geklärt werden, in welchen Kontexten außergewöhnliche Gewalt überhaupt thematisiert wird. Die Schilderungen zum Ersten Kreuzzug sollen also sowohl im Hinblick auf die Frage nach der Rolle von Gewalt im Krieg analysiert als auch in Bezug auf die Instrumentalisierung der Darstellung von Gewalt in den Horizont der Zeit eingeordnet werden. Die ungewöhnliche Brutalität, mit der die Kreuzfahrer bei der Eroberung Jerusalems 1099 vorgingen, wie sie in der zeitnächsten Quelle, den Gesta Francorum, bezeugt ist, hat von jeher und wohl auch schon unter Zeitgenossen Aufmerksamkeit auf sich gezogen und gilt als erklärungsbedürftig.1 Die Kreuzfahrer kamen zu großen Teilen aus einer Welt, in der das höfische Ritterideal gerade seinen Anfang genommen hatte und ein Diskurs über das rechte Verhalten im Krieg – zumindest innerhalb des Adels – an der Tagesordnung war.2
1 Vgl. Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum. The deeds of the Franks and the other pilgrims to Jerusalem, hg. und übers. von Rosalind Hill, London 1967 (Oxford Medieval Texts), lib. X, cap. 37–38, S. 89–91 (vgl. Anhang 1). Zur Gewalt im Ersten Kreuzzug vgl. Nikolas Jaspert, Die Kreuzzüge, 4. Aufl., Darmstadt 2008 (Geschichte kompakt), S. 64–67; Hans-Henning Kortüm, Kriege und Krieger: 500–1500, Stuttgart 2010 (Kohlhammer-UrbanAkademie), S. 106–111. 2 Vgl. grundsätzlich dazu Matthew Strickland, War and Chivalry: The Conduct and Perception of War in England and Normandy, 1066–1217, Cambridge / New York / Melbourne 1996; John Gillingham, Crusading Warfare, Chivalry and the Enslavement of Women and Children, in: Gregory I. Halfond (Hg.), The Medieval Way of War: Studies in Medieval Military History in
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Alheydis Plassmann
Zudem ist immer wieder hervorgehoben worden, dass sich im 12. Jahrhundert, während die Kreuzfahrerstaaten existierten, ein Modus Vivendi etablierte, der den Austausch von Gefangenen oder die Auslöse gegen Geldzahlungen vorsah.3 Für einen gewissen geregelten Umgang miteinander trotz zahlreicher Kriegshandlungen gibt es durchaus Belege. Für die Eskalation der Gewalt, die sich hier im Moment der Eroberung der Stadt Bahn brach, sind zunächst zwei Erklärungen denkbar. Die eine Erklärung geht davon aus, dass ein Ausrichten von kriegerischen Handlungen an ritterlichen Idealen, an Vorstellungen von einem indes sehr rudimentären ius in bello, also von einem im Krieg geltenden Recht, sich noch gar nicht so weit verbreitet hatte, dass dies auf das Verhalten der Kreuzfahrer hätte Einfluss nehmen können. Die Entwicklung von ritterlichen Vorstellungen sei also schlichtweg noch nicht weit genug fortgeschritten gewesen, um auf das Verhalten beim Ersten Kreuzzug schon Einfluss zu haben. Die zunehmende Rücksichtnahme auf ungeschriebene Regeln, die sich dann im 12. Jahrhundert in den Kreuzfahrerstaaten nachweisen lässt, wäre also auf den Einfluss zurückzuführen, dem die Kreuzfahrer im Orient ausgesetzt waren. Die Verritterlichung des Krieges sei also erst aus dem Osten durch den Kontakt mit den Muslimen gekommen, die im Umgang mit den anderen Buchreligionen geübter waren als die westlichen Kreuzfahrer. Für diese Interpretation, gerade was die Einführung von Lösegeldern angeht, hat sich Yvonne Friedman stark gemacht.4 Auf diesen Gedanken sind die Zeitgenossen nicht gekommen, weil bei aller pragmatischen Offenheit für die muslimische Lebensweise in den Kreuzfahrerstaaten das Überlegenheitsgefühl so ausgeprägt war, dass ein Kulturtransfer von den Muslimen zu den Christen im Denken der Kreuzfahrer keinen Platz hatte. Die andere Erklärung, und diese ist auch schon den Zeitgenossen in den Sinn gekommen, besagt, dass die Eskalation der Gewalt ursächlich mit der Religionsdifferenz zu erklären sei. Bereits Wilhelm von Tyrus war im 12. Jahrhundert dieser Meinung.5 Indes ist diese Interpretation nicht notwendigerweise richtig, Honor of Bernard S. Bachrach, Farnham / Surrey 2015, S. 133–151; zur Ritterlichkeit allgemein vgl. Richard Kaeuper, Medieval Chivalry, Cambridge 2016 (Cambridge Medieval Textbooks). 3 Vgl. Matthew Strickland, Killing or Clemency? Ransom, Chivalry and Changing Attitudes to Defeated Opponents in Britain and Northern France, 7–12th centuries, in: Hans-Henning Kortüm (Hg.), Krieg im Mittelalter, Berlin 2001, S. 93–122. 4 Vgl. Yvonne Friedman, Did Laws of War Exist in the Crusader Kingdom of Jerusalem?, in: Yitzhak Hen (Hg.), De Sion exibit lex et verbum domini de Hierusalem: Essays on Medieval Law, Liturgy and Literature in Honour of Amnon Linder, Turnhout 2001 (Cultural Encounters in the Late Antiquity and the Middle Ages, 1), S. 81–103; Dies., Encounter Between Enemies: Captivity and Ransom in the Latin Kingdom of Jerusalem, Leiden / Boston / Köln 2002 (Cultures, Beliefs and Traditions, 10). 5 Vgl. Wilhelm von Tyrus, Chronicon, hg. von Robert B. C. Huygens, Turnhout 1986 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, 63a), lib. XIII, cap. 16, S. 49 (vgl. Anhang 2).
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nur weil sie ein Zeitgenosse geäußert hat. Das Diktum Wilhelms von Tyrus ist bereits von Matthew Strickland einer kritischen Durchleuchtung unterzogen worden,6 an dessen Forschungen und Überlegungen im Folgenden angeknüpft wird, auch wenn die Beispiele zum Teil aus anderen Bereichen stammen. Das Problem soll hier von der Seite der Kreuzfahrer angegangen werden, die aus Gebieten Europas stammten, in denen die kriegerische Auseinandersetzung mit Muslimen eine neue Erfahrung bedeutete. Ehe nun der Zusammenhang von Religion und Gewalt in den westlichen Quellen beleuchtet wird, soll kurz daran erinnert werden, dass das prinzipielle theologische Problem, das aus den pazifistischen Aussagen des Neuen Testamentes resultierte, auch Ende des 11. Jahrhunderts nicht wirklich gelöst war: Ein Christ darf der Heiligen Schrift zufolge eigentlich keinen Krieg führen. Die Vorstellung vom bellum iustum, vom gerechten Krieg, war dennoch weit verbreitet, aber man erkannte durchaus, dass der durch Augustinus gesteckte Rahmen sehr eng war. Ein gerechter Krieg war schließlich nur ein Krieg, bei dem man der Angegriffene war, und eines der interessanteren Phänomene der höfischen Kultur ist die Art und Weise, wie die gerechtfertigte Ausübung von Gewalt im Grunde eine Ausweitung erfuhr, auch und gerade im Kampf mit Ungläubigen.7 Der Aufruf zum Kreuzzug durch Papst Urban im Jahr 1095 bedeutete für die Vorstellung vom bellum iustum einen entscheidenden Wendepunkt.8 Um dieses prinzipielle Problem zu verdeutlichen, mag es genügen, auf die Schlacht von Hastings im Jahre 1066 zu verweisen. Hier schlugen sich Wilhelm der Eroberer und seine Gefolgsleute mit den ebenfalls christlichen Angelsachsen, und obwohl Wilhelm alles getan hatte, um diesen Krieg gegen den schlechten und angeblich meineidigen König Harold zu rechtfertigen und sogar durch die Übersendung des päpstlichen Banners legitimiert war, war man sich dennoch bewusst, dass sich die Teilnehmer der Schlacht schuldig gemacht hatten. Für sie wurde ein Bußkatalog ausgearbeitet, der im Einzelnen aufführte, welche Bußleistungen für welche Taten in der Schlacht zu vollziehen seien.9 Dies ist nicht nur 6 Vgl. Matthew Strickland, Rules of War or War Without Rules? Some Reflections on Conduct and the Treatment of Non-Combatants in Medieval Transcultural Wars, in: Hans-Henning Kortüm (Hg.), Transcultural Wars from the Middle Ages to the 21st Century, Berlin 2006, S. 107–140. 7 Vgl. Kortüm, Kriege und Krieger, S. 103–115. 8 Vgl. Michael Mitterauer, Der Krieg des Papstes, in: Philipp A. Sutner / Stephan Köhler / Andreas Obenaus (Hg.), Gott will es: Der Erste Kreuzzug – Akteure und Aspekte, Wien 2016 (Expansion, Interaktion, Akkulturation, 29), S. 11–22; Jaspert, Kreuzzüge, S. 22–26. Insgesamt zur Entstehung der Vorstellung vom ›Heiligen Krieg‹ jetzt auch: Boris Gübele, Deus vult, Deus vult. Der christliche heilige Krieg im Früh- und Hochmittelalter, Ostfildern 2018 (MittelalterForschungen, 54). 9 Vgl. hierzu den Bußkatalog des Konzils von Winchester, der sich auf die Schlacht von Hastings bezieht: Conciliae Magnae Britanniae et Hiberniae, hg. von David Wilkins, Bd. 1. 446–1265, London 1837, S. 366 (vgl. Anhang 3).
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ein Zeugnis dafür, dass man sich des Problems bewusst war, sondern durchaus auch ein Hinweis auf Realitäten des Krieges. Dieses Zeugnis vom Bewusstsein der Unrechtmäßigkeit eines gegen Christen gerichteten Krieges – selbst wenn der Lehnsherr diesen befohlen hatte – scheint zunächst die oberflächliche Erklärung zu bestätigen, dass ein gegen Andersgläubige gerichteter Krieg einer anderen Kategorie zugeordnet wurde. Schließlich haben wir keinerlei Bußkataloge für Kreuzfahrer, im Gegenteil galt ja die Zusicherung, dass auf einen gefallenen Kreuzritter ewiger Ruhm im Himmel warte.10 Um dies nun einer Prüfung zu unterziehen, soll in vier Schritten vorgegangen werden. Zunächst sollen Beispiele exzessiver Gewaltausübung in den Blick genommen werden, bei denen Christen auf Christen trafen, dann sollen Kriege am Rande der Christenheit betrachtet werden, bei denen Christen auf Muslime trafen, und es soll die Frage gestellt werden, ob dort eine besonders brutale Art der Kriegführung zu beobachten ist. In einem dritten Schritt wollen wir nach weiteren Ursachen fahnden, die zu einer Eskalation von Gewalt führen konnten, ehe wir uns abschließend in einem vierten Schritt wieder den Gesta Francorum zuwenden, über die Frage nach der Gewalt als solcher hinausgehen und dem Zweck der Darstellung von Gewalt in der Erzählung der Gesta Francorum nachspüren.
1
Gewalt andernorts: Das Beispiel des ›Celtic Fringe‹
Matthew Strickland und John Gillingham haben gerade in Hinblick auf die Ritterschaft, die an den Kreuzzügen teilnahm, darauf hingewiesen, dass rudimentäre Regeln im Kampf genau in dem Umfeld zu beobachten sind, in dem die ritterliche Kultur zunächst ihren Ausgang nahm, also im Norden Frankreichs sowie im Westen des Reiches und damit auch zugleich der Region, aus der die meisten Kreuzfahrer kamen.11 Dabei ist zu betonen, dass die ritterlichen Regeln selbstverständlich nur für die Angehörigen des Adels galten. Das trifft etwa auf die Lösegeldforderung zu, aber auch auf eine Bestattung nach der Schlacht. Tatsächlich können wir an der bereits erwähnten Schlacht von Hastings fest-
10 Vgl. Mitterauer, Der Krieg des Papstes; Kortüm, Kriege und Krieger, S. 106–111; Jaspert, Kreuzzüge, S. 29–32. 11 Vgl. Strickland, Killing or Clemency; John Gillingham, »Holding to the Rules of War (Bellica Iura Tenentes)«: Right Conduct Before, During, and After Battle in North-Western Europe in the Eleventh Century (R. Allen Brown Memorial Lecture), in: Christopher P. Lewis (Hg.), Proceedings of the Battle Conference 2006, Woodbridge 2007 (Anglo-Norman Studies, 29), S. 1–16.
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machen, wie sich am Ende des 11. Jahrhunderts die Regeln für die ritterliche Behandlung von Gefallenen änderten.12 Indes ist diese Entwicklung nicht plötzlich überall in Europa eingetreten, sondern fand erst langsam Verbreitung. Und die besten Beispiele für Eskalationen von Gewalt und regelwidriges Verhalten (sofern man es überhaupt so bezeichnen kann) lassen sich für die Gebiete nennen, in denen die neue Mode der ritterlichen Kriegführung noch nicht angekommen war. Dies ist etwa in den keltischen Nachbarländern zu England der Fall. Die Kriegführung dort war noch archaischer, Plünderungszüge, Versklavungen, Überfälle waren an der Tagesordnung und dies führte durchaus dazu, dass die Anglo-Normannen, die auf dem Kontinent nach gewissen Regeln Krieg führten, dies im Umgang mit dem sogenannten Celtic Fringe nicht taten.13 Die Schlacht von Brémule im Jahr 1119 zwischen Heinrich I. von England und Ludwig VI. von Frankreich gilt beispielsweise als eine Schlacht, in der es bereits vollkommen üblich war, Gefangene zu machen und Lösegeld zu fordern.14 Bei der sogenannten Standartenschlacht gegen die Schotten im Jahr 1138 hingegen wurde kein Pardon gegeben. Ein wenig hatte das auch mit der Erwartungshaltung zu tun. In der Rede vor der Standartenschlacht wies die englische Seite auf die Barbarei der Gegenseite hin, der man sogar Kannibalismus vorwarf.15 Bezeichnend ist, dass die Empörung über die Gewalteskalation im Fall der keltischen Gegner groß war, dass aber die eigenen Gewalttaten gerechtfertigt wurden. Zu diesem Zweck sei auf eine aufschlussreiche Passage aus »Die Eroberung Irlands« von Giraldus Cambrensis hingewiesen: Die Eroberer Irlands diskutieren über die Behandlung von Gefangenen und beschließen diese zu töten. Begründet wird dies damit, dass dies auch eine Sitte
12 Vgl. Gillingham, Holding to the Rules. 13 Vgl. John Gillingham, Christian Warriors and the Enslavement of Fellow Christians, in: Martin Aurell / Catalina Girbea (Hg.), Chevalerie et christianisme aux XIIe et XIIIe siècles, Rennes 2011 (Histoire), S. 237–256; Ders., Conquering the Barbarians: War and Chivalry in Twelfth-Century Britain, in: The Haskins Society Journal 4 (1993), S. 67–84; Alheydis Plassmann, Die englischen Könige im Krieg mit den keltischen Nachbarn, in: Martin Clauss / Andrea Stieldorf / Tobias Weller (Hg.), Der König als Krieger: Zum Verhältnis von Königtum und Krieg im Mittelalter. Beiträge der Tagung des Zentrums für Mittelalterstudien der OttoFriedrich-Universität Bamberg (13.–15. März 2013), Bamberg 2015 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien, Vorlesungen und Vorträge, 5), S. 89–115. 14 Vgl. Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica, The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, hg. und übers. von Marjorie M. Chibnall, 6 Bde., Oxford 1969–1980 (Oxford Medieval Texts), lib. XII, cap. 18, S. 240 (vgl. Anhang 4). Vgl. Matthew Strickland, Henry I and the Battle of the Two Kings: Brémule, 1119, in: David Crouch / Kathleen Thompson (Hg.), Normandy and its Neighbours. Essays for David Bates, Turnhout 2011 (Medieval texts and cultures of Northern Europe, 14), S. 77–116. 15 Aelred von Rievaulx, Relatio de Standardo, hg. von Richard Howlett, in: Chronicles of the reigns of Stephen, Henry II. and Richard I., London 1964 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, 82), S. 179–199, hier S. 187 (vgl. Anhang 5).
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der feindlichen Iren sei.16 Dem widerspricht, dass Giraldus selbst keinen einzigen Fall nennt, in dem Iren tatsächlich Gefangene getötet haben – wenn dies auch für die Zeit vor 1100 durchaus belegt ist17 –, sondern dass die einzigen Beispiele, die Giraldus dann explizit macht, tatsächlich eine Gewalteskalation von Seiten der Eroberer sind.18 Obwohl die Gegner am sogenannten Celtic Fringe ebenso Christen waren wie die Anglo-Normannen, kann man nicht davon sprechen, dass die Zugehörigkeit zur gleichen Religion mäßigend gewirkt hätte. Das soll nicht heißen, dass es darüber keinen Diskurs gegeben hat. Es sind durchaus kritische Stimmen nachweisbar, die die Kriege mit den als inferior empfundenen ›Barbaren‹ trotzdem nicht guthießen.19 Es ist interessant, dass erst in dem Moment, in dem die ständig wiederkehrenden Grenzauseinandersetzungen zu Kriegen und dann zu richtigen Eroberungskriegen wurden, religiöse Differenzen zur Rechtfertigung herangezogen wurden. Dies begann mit der Eroberung Irlands20 und wurde als Rechtfertigungsmuster in den Kriegen um Wales und Schottland in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wiederaufgegriffen.21 Den Iren und später den Walisern und Schotten wurde natürlich kein Heidentum vorgeworfen, sehr wohl aber Abweichungen von dem, was man als übliche christliche Praktiken empfand. Bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts indes war zwar die Barbarei der Kelten, nicht aber die Differenz von einigen christlichen Gepflogenheiten Thema.
16 Gerald von Wales, Expugnatio Hibernica, hg. von A. Brian Scott / Francis X. Martin, Dublin 1978, lib. I, cap. 14–15, S. 58–65 (vgl. Anhang 6). 17 Vgl. Alheydis Plassmann, Normannen und Anglo-Normannen im Umgang mit gegnerischen Toten, in: Martin Clauss / Ansgar Reiß / Stefanie Rüther (Hg.), Vom Umgang mit den Toten. Sterben im Krieg von der Antike bis zur Gegenwart, München 2019 (Krieg in der Geschichte, 94), S. 365–381. 18 Gerald von Wales, Expugnatio, lib. I, cap. 4, S. 36f.: Die Anglo-Normannen schlugen 200 Leuten den Kopf ab. Grundsätzlich zu den Problemen der parteiischen Berichterstattung vgl. Plassmann, Umgang mit Toten. 19 Zu der negativen Darstellung der Eroberung Irlands in Heiligenviten vgl. Marcus Bull, Criticism of Henry II’s Expedition to Ireland in William of Canterbury’s Miracles of St Thomas Becket, in: Journal of Medieval History 33, 2 (2007), S. 107–129. 20 Zur negativen Einstellung des Gerald zur irischen Kirche siehe Gerald von Wales, Expugnatio, lib. II, cap. 5, S. 142: In Irland sei man »in fidei rudimentis incultissimum«. 21 Vgl. grundsätzlich dazu Rees R. Davies, Domination and Conquest: The Experience of Ireland, Scotland and Wales 1100–1300, Cambridge 1990 (The Wiles lectures given at the Queen’s University Belfast); John Gillingham, Conquests, Catastrophe and Recovery: Britain and Ireland 1066–1485, London 2014.
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Religionskriege ohne Gewalteskalation: Die Eroberung Siziliens
Als nächstes soll betrachtet werden, inwiefern in Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen in Europa die Gewalteskalation oder eben umgekehrt das Einhalten von rudimentären Regeln eine Rolle spielte. Matthew Strickland hat darauf hingewiesen, dass sich im Spanien des 11. Jahrhunderts durchaus Regeln durchsetzten und dass dort etwa Gefangenenauslöse bereits etabliert war.22 Nun war im spanischen Fall die Auseinandersetzung zwischen Christen und Muslimen geradezu an der Tagesordnung, weil hier die Religionsgrenze schon seit dem 8. Jahrhundert bestand. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass sich dort ein Modus Vivendi ergeben hatte, wie man ihn nach der Etablierung der Kreuzfahrerstaaten und mehreren Jahrzehnten des Nebeneinanders am Ende des 12. Jahrhunderts auch im Orient beobachten kann. Daher soll ein Beispiel aus dem Kontext der Eroberung Siziliens herangezogen werden. Hier wurden die normannischen Brüder Robert Guiscard und Roger vom Papst beauftragt, das von Muslimen beherrschte Sizilien für die Christenheit zurückzuerobern, ein Prozess, der sich von 1060 bis 1072 über mehrere Jahre hinzog.23 Dieser Krieg war also nicht nur ein muslimisch-christlicher Krieg, sondern zusätzlich noch ein Krieg, für den die Religion als Rechtfertigung herangezogen wurde.24 Eine religiöse Fanatisierung ist indes trotzdem nicht zu beobachten. Das folgende Quellenbeispiel mag verdeutlichen, dass die Brüder durchaus pragmatisch vorgingen: »Die verstörten Einwohner von Palermo, die erkennen mussten, dass der Feind innerhalb der Mauern in ihrem Rücken war, zogen sich in die innerste Stadt zurück. Die Nacht verhinderte weiteren Aufruhr, und am nächsten Morgen, nachdem Waffenruhe vereinbart worden war, baten die Vornehmsten [Bürger/Anführer] die beiden Brüder [Robert Guiscard und Roger] um Verhandlungen. Sie sagten, dass sie ihre Gesetze weder verletzen noch aufgeben, noch etwa ungerechte und neue Gesetze annehmen wollten, und fragten, ob sie sicher sein könnten, dass sie nicht dazu gezwungen würden. Unter den gegebenen Umständen bliebe ihnen nichts anderes übrig, als die Stadt zu
22 Vgl. Strickland, Rules of War, S. 128–137. 23 Vgl. dazu Richard Bünemann, Robert Guiskard 1015–1085: Ein Normanne erobert Sizilien, Köln / Weimar / Wien 1997, S. 82–198; Plassmann, Normannen und Anglo-Normannen, S. 112–118; Alexander Metcalfe, Transkultureller und sozioreligiöser Wandel im muslimischen und frühen normannischen Sizilien, in: Wolfgang Gruber / Stephan Köhler (Hg.), Siziliens Geschichte: Insel zwischen den Welten, Wien 2013 (Expansion, Interaktion, Akkulturation, 24), S. 68–98. 24 Vgl. Plassmann, Normannen und Anglo-Normannen, S. 118f.
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Alheydis Plassmann
übergeben, und sie versprachen treue Ergebenheit und Abgaben. Dies beschworen sie mit einem Eid gemäß ihrem eigenen Gesetz.«25
Die muslimischen Einwohner von Palermo fürchteten um ihr Leben, wurden von den Eroberern aber verschont und ein Glaubenswechsel wurde nicht verlangt. Da sich die Eroberung Siziliens hinzog, ist eine solche Vorgehensweise als zielführend zu bezeichnen. Brutales Vorgehen hätte den Widerstand nur vergrößert.26 Die Aussicht auf Begnadigung und die Weiterführung des bisherigen Lebens mussten die Entscheidung erleichtern, zu den neuen Machthabern überzuwechseln. Das zweite Beispiel zeigt, dass im Falle eines Überläufers das Erzählmuster der Vasallität sogar stärker sein konnte als das der Bekehrung. Wir erfahren, dass ein Müller, der den Normannen geholfen hatte, für frei erklärt und ein Gefolgsmann Rogers wurde. Ob er Christ wurde, bleibt offen.27 Die Kriegführung bei der Eroberung Siziliens und die Behandlung der Andersgläubigen richteten sich also an dem Ziel einer langfristigen und friedlichen Konsolidierung der normannischen Herrschaft aus. Dementsprechend wurde Sizilien, als es erst einmal erobert war, im Laufe der normannischen Zeit langsam den westlichen Standards angepasst. Muslimische Glaubensgruppen gab es dort bis ins 13. Jahrhundert.28
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Faktoren der Gewalteskalation
Kommen wir nun zu der Frage, in welchen Kontexten Gewalteskalationen vorkamen und warum sie überhaupt thematisiert wurden. Es dürfte nun klar sein, dass Religionsdifferenzen nicht notwendigerweise zu besonders gewalttätigen Konflikten führten. Lässt sich umgekehrt benennen, wann Auseinandersetzungen ein übliches Maß an Gewalt überschritten? Das ist schon deshalb schwierig, weil man dazu festlegen müsste, was denn ein übliches Maß an Gewalt ist. Als Maßstab bietet es sich unter Umständen an, nach Ereignissen Ausschau zu halten, bei denen Gewalt überhaupt als außergewöhnlich thematisiert wurde. Dies muss dann über eine bloße Aufzählung, wie wir sie etwa bei der oben erwähnten Schlacht von Brémule finden, hinausgehen. Schlüsselmomente wären dann etwa eine direkt ausgesprochene Rechtfertigung, eine Äußerung von Abscheu oder auch eine besonders bildhafte Sprache, die die Gewalt hervorhebt 25 Vgl. Gaufred Malaterra, Ruggero I e Roberto il Guiscardo, hg. von Vito Lo Curto, Cassino 2002 (Collana di Studi Storici Medioevali, 8), lib. II, cap. 45, S. 178 (vgl. Anhang 7). 26 Zur Eroberung Siziliens vgl. Bünemann, Robert Guiskard, S. 41–78. 27 Vgl. Gaufred Malaterra, Ruggero I e Roberto il Guiscardo, lib. III, cap. 12, S. 206 (vgl. Anhang 8). 28 Vgl. Ferdinando Maurici, Das Sizilien der Staufer. Eine (noch) multiethnische und multikulturelle Region, in: Gruber / Köhler, Siziliens Geschichte, S. 127–143.
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(und natürlich auch ästhetisiert). Als Beispiel für Abscheu kann erneut auf die Beschreibung der sogenannten Standartenschlacht von Engländern gegen Schotten verwiesen werden, bei der die Gewalt des Gegners verunglimpft wurde;29 was die Rechtfertigung angeht, verweise ich auf die ebenfalls bereits genannte Stelle aus der Eroberung Irlands, in der das eigene fragwürdige Verhalten mit dem Verhalten der Gegner gerechtfertigt wird.30 In Bezug auf bildhafte Sprache ist das Beispiel aus den Gesta Francorum zu nennen.31 Legt man diese Kriterien an, kann man feststellen, welche Faktoren eine Eskalation von Gewalt begünstigen konnten. Ohne für alle Einzelfälle Quellen nennen zu wollen, sollen diese Faktoren im Folgenden genannt werden. Zum einen konnte Religion natürlich ein Eskalationsfaktor sein, wie man etwa an den Auseinandersetzungen von Christen mit Heiden an der Peripherie Europas beobachten kann. Ein weiterer Aspekt konnte die Unvertrautheit mit dem Gegner sein, dem man Gräueltaten zutraute, weil man sich für überlegen hielt und dies in vorauseilender Abwehr mit eigenen Gräueln beantwortete. Das Beispiel dafür wäre die Eroberung Irlands, bei der Gegner aufeinandertrafen, die vorher keine Grenze teilten. Es ist bezeichnend, dass bei langandauernden Grenzkonflikten, wie denen in Spanien oder an der Grenze zu Wales, die Kriegführung im Alltag innerhalb fest etablierter Muster verblieb, während alle vierzig bis fünfzig Jahre ausbrechende Kriege, wie die zwischen England und Schottland, offenbar leichter ausarteten. Sicherlich spielte Eskalation von Gewalt auch als Strategie im Krieg eine Rolle, etwa wenn kurzfristig zu drastischen Maßnahmen gegriffen wurde, um eine Belagerung mittels Terror schnell zu einem Ende zu führen oder bestimmte Bevölkerungsgruppen schlichtweg vollständig einzuschüchtern. Gelegentlich konnten gewalttätige Maßnahmen auch kriegstaktische Maßnahmen sein, die nichts mit der Verbreitung von Terror zu tun hatten. Als Beispiel sei auf die Gefangenen in Jerusalem 1099 hingewiesen, die sich Tankred ergaben und von anderen getötet wurden. Die Gesta Francorum vermerken nur, dass Tankred über diese Missachtung seines Versprechens, das er mit seinem Banner gegeben hatte, ärgerlich war,32 während die spätere Quelle, Albert von Aachen, deutlich macht, dass sich die Kreuzfahrer in einer Notlage befanden, die die Tötung von Gefangenen als potentiellen Gegnern kurz vor einer möglichen Belagerung notwendig machte.33 Daneben wird man immer damit rechnen müssen, dass es bei kriegerischen Aktionen schon aufgrund von Kleinigkeiten sozusagen unprovoziert und unabsichtlich jederzeit zu einem Ausufern militärischer Aktionen 29 30 31 32 33
Vgl. ebd. Expugnatio Hibernica (vgl. Anhang 5). Gesta Francorum (vgl. Anhang 1). Vgl. o. V., Gesta Francorum, lib. X, cap. 37–38, S. 89–91. Vgl. Albert von Aachen, Historia Hierosolymitanae expeditionis, hg. von Susan B. Edgington, Oxford 2007 (Oxford Medieval Texts), lib. VI, cap. 29, S. 305f. (vgl. Anhang 9).
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kommen konnte. Schließlich wird kaum ein Anführer sein gesamtes Heer vollkommen im Griff gehabt haben. Religion konnte also einer der Faktoren sein, die zur Eskalation von Gewalt führten, musste dies aber nicht notwendigerweise sein. Dasselbe gilt für andere Faktoren, wie zum Beispiel die Unvertrautheit mit dem Gegner, die Plötzlichkeit einer Kriegshandlung, die Gewalt als Kriegsstrategie und als drastische Lösung in einer Zwangslage sowie die nicht intendierte Affekthandlung. Bei der Eroberung Jerusalems spielten wohl alle diese Faktoren eine Rolle. Die religiöse Differenz war vorhanden, ebenso die Unvertrautheit mit dem Gegner. Ein Überlegenheitsgefühl der Kreuzfahrer, das sich zum Teil aus der Religionsdifferenz speiste, spielte ebenfalls eine Rolle. Zudem war die Einmaligkeit der Kriegshandlungen ebenso gegeben wie die Zwangslage der Kreuzfahrer, die eine schnelle Lösung der Belagerungssituation nötig machte und damit die Anwendung von größerer Brutalität forcierte. Wir können natürlich nicht sagen, was geschehen wäre, wenn nur einer dieser Faktoren ein anderer gewesen wäre, aber es lässt sich mit einiger Sicherheit konstatieren, dass die Eroberung Jerusalems eine Ausnahmesituation war, bei der die Religionsdifferenz sich bei näherem Hinschauen nur als ein Faktor von vielen erweist.
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Instrumentalisierung von Gewaltdarstellungen: Zweck der Gesta Francorum
Als Letztes ist noch auf den speziellen Zweck der Gewaltdarstellung in den Gesta Francorum einzugehen. Bisher sind wir – wie insbesondere Hans-Henning Kortüm argumentiert hat34 – davon ausgegangen, dass die von uns untersuchte Gewalt tatsächlich stattgefunden hat, wenn auch vielleicht nicht immer genau so, wie sie dargestellt wurde. Es bleibt uns noch, die Gewaltdarstellung in den Gesta Francorum als Narrativ zu thematisieren. Denn es ist offensichtlich, dass es in den Gesta nicht darum geht, die Kreuzfahrer zu denunzieren, dass sie gegen das ius in bello verstoßen hätten, oder sie als Kriegsverbrecher anzuklagen, die sie in der späteren Perspektive des modernen Völkerstrafrechts ganz sicher waren. Für diesen Blick auf die Quelle müssen wir uns ansehen, für welches Publikum die Gesta geschrieben wurden und in welchen zeithistorischen Kontext das zu stellen ist. Die Gesta Francorum entstammen der Feder eines wohl säkularen Klerikers, der ursprünglich im Gefolge von Bohemund von Tarent zu verorten ist, wohl im 34 Hans-Henning Kortüm, Das Massaker von Ma’arrat al-Nu’man (11.–12. Dezember 1098): Sprache der Gewalt – Gewalt der Sprache, in: Sutner / Köhler / Obenaus (Hg.), Gott will es, S. 167–187.
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Verlauf des Ersten Kreuzzuges die Gefolgschaft Bohemunds verließ und Parteigänger Raimunds von Toulouse wurde.35 Als Augenzeuge der Ereignisse bietet er uns Informationen aus erster Hand, seine Erzählung ist aber über große Partien hinweg eindeutig von seiner Voreingenommenheit für Bohemund gefärbt, der oftmals Held der erzählten Episoden ist. Hierfür mag eine ausgearbeitete Erzählung von der Belagerung Antiochias als Beispiel dienen. Die Rolle Bohemunds bei der Eroberung Antiochias wird in vielen Kreuzzugsquellen berichtet und ist unstrittig. Bohemund war es gelungen, einen Kontakt zu einem Bewohner Antiochias herzustellen, einem gewissen Firuz, der sich auf Bohemunds Anweisung hin bereit erklärte, den Kreuzfahrern Zutritt zur Stadt zu verschaffen. Bohemund gelang es, den Zeitpunkt des Verrates so zu bestimmen, dass die übrigen Kreuzfahrer, die die Ankunft eines Entsatzheeres für Antiochia erwarteten und fürchteten, zwischen der Stadt und dem Entsatzheer aufgerieben zu werden, in ihrer Verzweiflung dem Normannen die Zusage auf ein Fürstentum Antiochia machten. Mit Hilfe Firuz’ gelangten die Kreuzfahrer in die Stadt und konnten das Entsatzheer in der Schlacht schlagen.36 Zur inhaltlichen Vorbereitung dieser Schlacht nutzt der Autor der Gesta eine Methode, die dem Leser den Wert seines Helden zweifelsfrei beweisen kann. Er legt das Lob des Helden den Feinden in den Mund: Die Mutter des Kerboga, des Anführers des Entsatzheeres, warnt ihren Sohn vor den christlichen Anführern, insbesondere Bohemund, und kann aus der Sicht des Feindes, der widerwillig die Größe des Helden anerkennt, den Protagonisten der Gesta über den grünen Klee loben: Kerboga sagte zu ihr: »Liebste Mutter, erzähl mir alles, was mir in meinem Herzen unglaublich erscheint.« Sie sagte: »Das will ich gerne tun, Liebster, wenn ich weiß, was dir unbekannt ist.« Er sprach zu ihr: »Sind nicht Bohemund und Tankred die Götter der Franken und befreien sie sie nicht von ihren Feinden? Und verzehren sie nicht bei einem einzigen Mahl 2000 Kühe und 4000 Schweine?« Die Mutter antwortete: »Liebster Sohn, Bohemund und Tankred sind sterblich wie alle anderen, aber ihr Gott liebt sie vor allen anderen und gibt ihnen vor den anderen die Kraft zum Kampf. Denn es ist ihr Gott, Allmächtiger ist sein Name, der Himmel und Erde geschaffen hat und die Meere und alles, was in ihnen ist, begründet hat; sein Thron im Himmel ist in Ewigkeit bereitet, seine Macht muss überall gefürchtet werden.« 35 Zu den Gesta als Quelle vgl. John France, The Anonymous Gesta Francorum and the Historia Francorum qui ceperunt Iherusalem of Raymond of Aguilers and the Historia de Hierosolymitano itinere of Peter Tudebode: An Analysis of the Textual Relationship between Primary Sources of the First Crusade, in: John France / William G. Zajac (Hg.): The Crusades and their Sources: Essays presented to Bernard Hamilton, Aldershot 1998, S. 39–69; Gübele, Deus vult, S. 341–345. 36 Zu Bohemund bei der Belagerung Antiochias’ vgl. Alheydis Plassmann, Normannen auf dem Ersten Kreuzzug: Bohemund von Tarent und Robert Kurzhose von der Normandie, in: Sutner / Köhler / Obenaus (Hg.), Gott will es, S. 43–60, hier S. 47–51.
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Der Sohn sagte: »Mag dies auch der Fall sein, will ich nicht davon abstehen, mit ihnen zu kämpfen.« Als seine Mutter hörte, dass er unter keinen Umständen ihren Ratschlägen folgen wollte, zog sie sich sehr betrübt wieder nach Aleppo zurück und trug so viel Güter fort, wie sie mit sich führen konnte.37
Das gibt uns einen wichtigen Hinweis darauf, dass wir die Gesta Francorum auch als eine Heldenerzählung lesen müssen. Auch wenn hier Ereignisse beschrieben werden, werden sie rigoros einem Muster untergeordnet, und das zugrundeliegende Muster ist das der Helden, die gegen alle Widrigkeiten bestehen und sich bewähren. Übermäßiges Mitgefühl mit den Feinden – jenseits ihres Nutzens als Bestätigung für das Heldenbild der Kreuzfahrer – ist nicht zu erwarten. Gleichfalls ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass die Taten der Protagonisten in einen politischen Kontext gestellt werden, der sie für ein modernes Publikum verständlicher macht. Dass Albert von Aachen im Gegensatz zu den Gesta Francorum die Notlage der Kreuzfahrer deutlicher macht, liegt vor allem daran, dass für ihn die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Die Eroberung Jerusalems steht am Ende der triumphalen Erzählung der Gesta Francorum, aber in der Mitte des Werkes von Albert von Aachen. Bei Albert muss die Erzählung von den bedrängten Helden weiter fortgeführt werden, in den Gesta nicht. Die Darstellung der Kreuzfahrer als Helden ist nicht nur beabsichtigt, sondern auch von den Zeitgenossen schon so empfunden und entsprechend genutzt worden. Nach dem Ersten Kreuzzug geriet Bohemund von Tarent in Gefangenschaft38 und zog, als er freigekommen war, nach Westen, um für neue Kriegszüge Kreuzfahrer zu rekrutieren. Ordericus Vitalis berichtet anschaulich, welche Wirkung der charismatische Krieger auf sein Publikum hatte.39 Die Stilisierung seiner Person als erfolgreicher Kreuzfahrer, der im Osten gesiegt und Ländereien erworben hatte, erwies sich als so anziehend, dass er neue Kreuzfahrer problemlos gewinnen konnte. Wir wissen, dass er zu diesem Zweck auch weit verbreitete Erzählungen über die Kreuzfahrer benutzte, sicher auch die Gesta Francorum, die sich in Windeseile verbreiteten.40 Wir können dies auch in den Kontext stellen, dass die literarische Überhöhung der Taten der Kreuzfahrer sich gerade an der Gestalt des Bohemund sehr gut festmachen lässt. In den Nacherzählungen der Belagerung von Antiochia wurde 37 Gesta Francorum, lib. IX, cap. 22, S. 77–79 (vgl. Anhang 10). 38 Philippe Goridis, Gefangen im Heiligen Land. Verarbeitung und Bewältigung christlicher Gefangenschaft zur Zeit der Kreuzzüge, Ostfildern 2015 (Vorträge und Forschungen, Sonderband 57), S. 252–257. 39 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica, lib. XI, cap. 12, S. 70 (vgl. Anhang 11). 40 Zum Mythos des Ersten Kreuzzuges vgl. Jaspert, Kreuzzüge, S. 161; John France, The Use of the Anonymous Gesta Francorum in the Early Twelth-Century Sources for the First Crusade, in: Alan V. Murray (Hg.), From Clermont to Jerusalem: The Crusades and Crusader Societies 1095–1500. Selected Proceedings of the International Medieval Congress University of Leeds 10–13 July 1995, Turnhout 1998 (International Medieval Research, 3), S. 29–42.
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Firuz mal zu einem Christen, dem Bohemund aus der Klemme half, mal zu einem bekehrungswilligen Muslim, den nur Bohemund retten konnte. Bohemunds Gefangennahme und seine Wiederfreilassung wurden ebenfalls höfisch überhöht, mal half ihm eine bekehrungswillige Sultanstochter, mal wurde sein Gefängniswärter zum Freund, dessen Herrschaft durch die Tapferkeit Bohemunds gerettet wurde.41 Die Inkorporierung von Kreuzfahreranekdoten in den Kanon höfischer Erzählungen begann schon unmittelbar nach dem Ersten Kreuzzug und die Stilisierung der Widrigkeiten des Ersten Kreuzzuges, der Kreuzfahrer als Helden, die gegen alle Fährnisse bestehen, ist in den Gesta Francorum angelegt. Im Kontext dieses Musters sind auch die Gewaltschilderungen zu lesen, die somit Teil eines Narrativs sind, das wiederum im Westen eingesetzt wurde.
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Zusammenfassung
Die Eroberung Jerusalems und die dabei ausgeübte Gewalt müssen gerade in Bezug auf die Frage, ob die Religionsdifferenz eine Rolle spielte, in den zeitgenössischen Kontext gestellt werden. Dabei ist festzuhalten, dass die These, Auseinandersetzungen zwischen den Religionen liefen generell brutaler ab, von zwei Seiten aus angegriffen werden kann. Zum einen können wir außerhalb der Region, in der die ritterliche Kriegführung als Ideal entstand, brutale Kriegführung zwischen Christen beobachten, zum anderen können wir Beispiele für Kriege zwischen Christen und Muslimen nennen, die nach den regulären Mustern von ritterlicher Kriegführung oder entsprechenden Vorformen stattgefunden haben. Allein an der Religionsdifferenz kann es also nicht gelegen haben. In einem weiteren Schritt wurden andere Faktoren identifiziert, die zu einer exzessiven Gewaltausübung führen konnten, so dass die Gewaltausübung bei der Eroberung Jerusalems als eine Eskalation zu verstehen ist, die von zahlreichen Faktoren bedingt war, von denen die Religionsdifferenz nur einer und wohl nicht der wichtigste war. Schließlich muss der Bericht in den Gesta Francorum noch im Kontext des intendierten Publikums und der Instrumentalisierung der Ereignisse des Ersten Kreuzzuges gelesen werden. Die Stilisierung der Kreuzfahrer als Helden, die in allen Widrigkeiten bestehen, erweist sich als ein wirkmächtiges Erzählmuster, das zum einen in die Instrumentalisierung von Kreuzfahreranekdoten bei der Rekrutierung neuer Kreuzfahrer passt und zum anderen dem Trend zur Verritterlichung zumindest der Idealvorstellung vom Krieg gegen die 41 Zur Heldenrolle des Bohemund in diversen Kreuzfahrererzählungen vgl. Plassmann, Normannen auf dem Ersten Kreuzzug, S. 51f.; Nicholas L. Paul, A Warlord’s Wisdom. Literacy and Propaganda at the Time of the First Crusade, in: Speculum 85, 3 (2010), S. 534–566; Goridis, Gefangen im Heiligen Land, S. 105–116.
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Ungläubigen geschuldet ist. Dass die Muslime in den christlichen Quellen zum Teil als ehrenwerte Gegner dargestellt werden, für die dieselben Regeln galten wie für christliche Adlige, zum Teil aber auch als unbelehrbare Ungläubige, die man erschlagen durfte, spiegelt letztlich die Ambivalenz des Prozesses wider, den man als Verhöflichung und Verritterlichung der Kriegführung bezeichnet hat. Auf der einen Seite war es durchaus von Nutzen, wenn die Regeln in bello sich verbreiteten – schon allein deshalb, weil es für den Adel selbst ein geringeres Risiko bei der Kriegführung bedeutete. Auf der anderen Seite war auch damit das grundsätzliche Dilemma, dass der Daseinszweck eines Ritters die Kriegführung war, nicht zu lösen. Wenn unsere Quellen also die Gewalt zum Teil zu verherrlichen scheinen und zum anderen aber auch Beispiele der Mäßigung nennen, liegt das daran, dass die zugrundeliegende ritterliche Kultur im Innersten zutiefst von diesen Spannungen geprägt war. Eine einfache Antwort auf die Frage nach Gewalt zwischen Christen und Muslimen ist daher nicht zu geben und wurde auch von den Zeitgenossen möglicherweise ebenfalls nicht gesucht. Es kam eben immer auf die Situation an, und wie das Beispiel der Gefangenen des Tankred zeigt, konnten in der Hitze des Augenblicks Regeln nicht forciert werden.42
Anhänge43 1. Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum. The deeds of the Franks and the other pilgrims to Jerusalem, hg. und übers. von Rosalind Hill, London 1967 [ND 2002] (Oxford Medieval Texts), Liber X, C. 37–38, S. 89–91. »Bei dieser Belagerung waren wir durch so großen Durst bedrängt, dass wir die Rinder- und Büffelhäute zusammennähten, um in ihnen Wasser über eine Entfernung von beinahe sechs Meilen zu transportieren. Aus diesen Gefäßen tranken wir übel riechendes Wasser und wegen des stinkenden Wassers und des Gerstenbrotes waren wir täglich in großer Not und Bedrängnis. Die Sarazenen verbargen sich nämlich an allen Quellen und Gewässern, lauerten auf unsere Männer und töteten und zerfetzten sie dort und führten auch die Tiere in ihre Grotten und Höhlen mit sich fort. 38. Da überlegten unsere Anführer, wie sie sich der Stadt bemächtigen konnten, damit die Unsrigen eintreten könnten, um das Grab unseres Erlösers anzubeten. Sie erbauten zwei Belagerungstürme aus Holz und mehrere andere Vorrichtungen. Herzog Gottfried erbaute seinen Turm mit Maschinen und Graf 42 Nach Abschluss des Manuskripts erschien folgende Studie, die nicht mehr eingearbeitet werden konnte: Tim Weitzel, Kreuzzug als »Heiliger Krieg«? Der Erste Kreuzzug im Spannungsfeld zwischen Gewalt und Frieden, in: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 321–350. 43 Die Übersetzungen ins Deutsche stammen, bis auf Anhang 9, von der Verfasserin.
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Raimund ebenso; dafür brachten sie Holz aus weit entfernten Gebieten her. Als die Sarazenen die Unsrigen diese Maschinen bauen sahen, befestigten sie wunderbarerweise die Stadt und die Türme und wurden über Nacht stärker. Als aber unsere Großen sahen, auf welcher Seite die Stadt schwächer war, brachten sie eines Samstagnachts unsere Maschinen und den hölzernen Turm zum östlichen Teil der Stadt. Bei Tagesanbruch richteten sie den Turm auf und rüsteten und bemannten ihn am Sonntag, Montag und Dienstag. Der Graf von St. Gilles richtete seine Maschine an der Südseite auf. Währenddessen waren wir durch den Durst in so großer Bedrängnis, dass ein Mann für einen Denar kein Wasser zur Genüge haben oder seinen Durst löschen konnte. Mittwoch und Donnerstag griffen wir die Stadt Tag und Nacht von allen Seiten an; aber bevor wir sie angriffen, ordneten unsere Bischöfe und Priester mit Predigten und Ermahnungen an, dass alle für Gott um Jerusalem herum eine Prozession machten, beteten, Almosen gaben und fasteten. Freitags aber griffen wir am Morgen die Stadt von allen Seiten an und konnten ihr doch nicht schaden. Und wir waren alle wie betäubt und in großer Furcht. Als sich aber die Stunde näherte, in der unser Herr Jesus Christus es für würdig hielt, für uns die Marter des Kreuzes zu ertragen, kämpften unsere Ritter tapfer im Turm, nämlich Herzog Gottfried und sein Bruder, Graf Eustachius. Da stieg einer unserer Ritter namens Lethold auf die Stadtmauer. So wie er sie aber bestieg, wandten sich alle Verteidiger der Stadt zur Flucht über die Mauern und durch die Stadt, und die Unsrigen folgten ihnen nach und verfolgten sie bis zum Tempel des Salomon und töteten und enthaupteten sie. Das Morden war dort so groß, dass die Unsrigen bis zu den Knöcheln im Blut der Anderen wateten. Graf Raimund führte von Süden her sein Heer und seinen Belagerungsturm bis an die Mauer heran, aber zwischen Turm und Mauer befand sich eine sehr tiefe Grube. Da berieten sich die Unsrigen, wie sie die Grube auffüllen könnten, und ließen ausrufen, dass, wenn jemand drei Steine in die Grube getragen habe, solle er einen Denar erhalten. Dieses Auffüllen dauerte drei Tage und Nächte. Als die Grube voll war, führten sie den Turm an die Mauer heran. Die aber, die sich drinnen befanden, kämpften heftig mit Feuer und Steinen gegen die Unsrigen. Als der Graf hörte, dass Franken in der Stadt waren, sagte er zu seinen Männern: »Warum zögert ihr? Seht, alle Franken sind schon in der Stadt.« Der Emir, der auf dem Davidsturm war, übergab sich dem Grafen und öffnete ihm das Tor, wo die Pilger gewöhnlich ihre Abgaben zahlten. Unsere Pilger betraten die Stadt und verfolgten und töteten die Sarazenen bis zum Tempel des Salomon. Dort zusammengeschart, lieferten sie den Unsrigen einen ganzen Tag lang einen gewaltigen Kampf, so dass ihr Blut durch den ganzen Tempel floss. Nachdem die Heiden schließlich überwunden worden waren, ergriffen die Unsrigen recht viele Männer und Frauen im Tempel und töteten, wen sie wollten, und ließen am Leben, wen sie wollten. Oberhalb des Tempels des Salomon aber befand sich eine
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große Ansammlung von Heiden beiderlei Geschlechts, denen Tankred und Gaston de Bearn ihre Banner gaben. Bald darauf rannten sie durch die ganze Stadt, rafften Gold und Silber an sich, Pferde und Maultiere und mit allen Gütern gefüllte Häuser. Alle die Unsrigen kamen aber freudig und wegen der übergroßen Freude weinend zum Grab unseres Erlösers Jesus, um es anzubeten, und taten ihre hervorragende Pflicht. Nachdem der Morgen angebrochen war, stiegen die Unsrigen vorsichtig auf das Dach des Tempels, griffen die Sarazenen, Männer und Frauen, an und enthaupteten sie mit ihren entblößten Schwertern. Andere aber stürzten sich kopfüber vom Tempel. Als Tankred dies sah, wurde er sehr zornig.« 2. Wilhelm von Tyrus, Chronicon, hg. von Robert B. C. Huygens, Turnhout 1986 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis, 63a), lib. XIII, cap. 16, S. 49. »[…] denn bei Kämpfen dieser Art entzündet der Unwille über die Entweihung des Heiligen und über die Verachtung des wahren Gesetzes den Hass und die Feindschaft aufs äußerste. Anders nämlich und weniger erbittert ist der Kampf zwischen solchen, die ein Gesetz und einen Glauben haben, anders zwischen solchen, die verschiedenen Lehren und Glaubensvorschriften anhängen, denn hier gibt, wenn kein anderer Grund zum Hass vorhanden ist, schon das, dass beide verschiedene Glaubensartikel haben, zu ewigem Streit und Hader Anlass.« 3. Conciliae Magnae Britanniae et Hiberniae, hg. von David Wilkins, Bd. 1. 946– 1265, London 1837, S. 366. »Dies ist die Einrichtung einer Buße gemäß den Dekreten der Bischöfe der Normannen, bestätigt durch die Autorität des Papstes durch den Legaten Ermenfried, Bischof von Sitten. Sie ist auf die Männer anzuwenden, die Wilhelm, Herzog der Normannen befehligt hat und die ihm Kriegsdienst nach ihrer Pflicht geleistet haben. Jeder, der weiß, dass er in der großen Schlacht einen Mann getötet hat, muss für ein Jahr Buße tun, für jeden einzelnen, den er getötet hat. Jeder, der einen Mann verwundet hat und nicht weiß, ob er ihn getötet hat oder nicht, muss für jeden Mann, den er derart getroffen hat, 40 Tage Buße leisten, wenn er sich an die Zahl erinnern kann, entweder am Stück oder von Zeit zu Zeit.«
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4. Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica, hg. und übers. von Marjorie M. Chibnall, Oxford 1969–1980, lib. XII, cap. 18, S. 240. »Mir wurde berichtet, dass in dieser Schlacht der zwei Könige etwa 900 Ritter beteiligt waren, dass aber nur drei getötet wurden. Sie waren alle mit Kettenhemden gerüstet und verschonten sich auf beiden Seiten, aus Furcht vor Gott und wegen der Anerkennung ihrer Waffenbrüderschaft; sie waren mehr darauf aus, die Flüchtenden zu fangen als sie zu töten. Als christliche Soldaten dürsteten sie nicht nach Blut, sondern freuten sich wegen des ihnen von Gott überlassenen Sieges, über den Nutzen für die Kirche und den Frieden der Gläubigen. Jeder, der die Anzahl derjenigen, die er getötet oder verwundet hat, nicht weiß, muss auf die Anweisung des Bischofs hin, sein Leben lang jede Woche einen Tag Buße tun, oder wenn ihm das möglich ist, soll er durch immerwährende Almosen Sühne leisten, oder durch das Errichten oder Beschenken einer Kirche.« 5. Aelred von Rievaulx, Relatio de Standardo, hg. von Richard Howlett, in: Chronicles of the reigns of Stephen, Henry II. and Richard I., London 1964 (Rerum Britannicarum medii aevi scriptores, 82), S. 179–199, hier S. 187: Die ›Standartenschlacht‹, Schlachtrede des Walter Espec. »Kein Alter, keinen Stand, kein Geschlecht verschonen sie; die Adligen, Jungen wie Mädchen, führen sie in die Gefangenschaft, züchtige Mütter werden in unvorstellbarer Lust befleckt; kleine Kinder in die Luft geworfen und mit der Spitze der Lanzen aufgefangen, was den Leuten von Galloway als ein spaßiges Spektakel gilt; Schwangere werden in der Mitte aufgeschnitten, der zarte Foetus aus dem Mutterleib gerissen und mit unfrommer Hand dem Dolch überantwortet. Sie schlachten Unschuldige hin und reißen ihnen die Eingeweide heraus, das Fleisch schneiden sie ab und verschlingen es; menschliches Blut mischen sie mit Wasser und sättigen so ihren grauenhaften Durst […].« 6. Gerald von Wales, Expugnatio Hibernica, hg. von A. Brian Scott / Francis X. Martin, Dublin 1978, lib. I, cap. 14–15, S. 58–65. »›Mitstreiter […], wir müssen sehen, was wir mit unseren Gefangenen machen […]. Denn dies sind keine Feinde, sondern Menschen, keine Rebellen, sondern Geschlagene und Besiegte, die durch Schicksalsschläge bei der Verteidigung ihres Vaterlandes besiegt wurden‹ […] (cap. 14). ›Wir haben aber mehr Feinde hier als Verbündete, wir sind von allen Seiten umschlossen […] Wenn sie uns besiegt hätten, würden Sie doch sicherlich kein Mitleid mit uns haben, niemals würden sie erlauben, dass die Besiegten ihr Leben
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kaufen oder um irgendein Lösegeld frei kommen. Also lasst uns unseren Sieg vollziehen‹ […] (cap. 15).« 7. Gaufred Malaterra, Ruggero I e Roberto il Guiscardo, hg. von Vito Lo Curto (Collana di Studi Storici Medioevali, 8), Cassino 2002, lib. II, cap. 45, S. 178. »Die verstörten Einwohner von Palermo, die erkennen mussten, dass der Feind innerhalb der Mauern in ihrem Rücken war, zogen sich in die innerste Stadt zurück. Die Nacht verhinderte weiteren Aufruhr, und am nächsten Morgen, nachdem Waffenruhe vereinbart worden war, gingen die Vornehmsten [Bürger/ Anführer] die beiden Brüder [Robert Guiscard und Robert] um Verhandlungen an. Sie sagten, dass sie ihre Gesetze weder verletzen noch aufgeben, noch etwa ungerechte und neue Gesetze annehmen wollten, und fragten, ob sie sicher sein könnten, dass sie nicht dazu gezwungen würden. Unter den gegebenen Umständen bliebe ihnen nichts übrig, als die Stadt zu übergeben, sie und versprachen treue Ergebenheit und Abgaben. Dies beschworen sie mit einem Eid gemäß ihrem eigenen Gesetz.« 8. Gaufred Malaterra, Ruggero I e Roberto il Guiscardo (wie Anhang 7), lib. III, cap. 12, S. 206. »Um diese Zeit war dort ein gewisser Sarazene namens Bechus […]. Er war ein hochmütiger Mann, der sogar die Treue seiner eigenen Vasallen auf die Probe stellte und sie immer wieder beleidigte. Eines Tages war er zornig auf einen Müller […]. Der Müller gab vor, seine Strafe anzunehmen, aber war in Wahrheit auf Rache aus […]. Eines Abends […] nahm er einen Fels ein, der über die Burg von Castronuovo ragte. Dann sandte er einen Boten an den Grafen [Roger] und ließ ihn wissen, dass er jetzt sein Vasall sei, und bat ihn herbeizueilen und ihm zu helfen […]. Als der Graf ankam, näherte er sich dem Felsen und sicherte sich die Treue des Müllers mit großzügigen Versprechungen [….]. Bechus verlor alle Hoffnung und floh […]. Die Bürger schlossen Frieden mit dem Grafen und ließen ihn in die Burg.«
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9. Albert von Aachen, Historia Hierosolymitanae expeditionis, hg. von Susan B. Edgington, Bd. 1. The First Crusade, Farnham 2013, Buch 6, cap. 29 [Übersetzung ins Deutsche nach Hermann Hefele: Albert von Aachen, Die Geschichte des ersten Kreuzzuges, Bd. 1, Jena 1923, S. 305f.]. »Tankred aber, der treffliche Ritter, entbrannte in heftigem Zorn über das ihm angetane Unrecht. Und nicht ohne Zwist und große Rache hätte seine Wut sich gelegt, wenn nicht der weise Rat und das kluge Zureden der Fürsten mit folgenden Worten seine Seele besänftigt hätte: ›Heute ist, wie ihr alle wißt, Jerusalem, die Stadt des höchsten Gottes, mit großer Schwierigkeit und nicht ohne Schaden der Unsrigen wiedergewonnen, heute ist die alte Stadt ihren eigenen Kindern wiedergegeben und aus der Hand des Königs von Babylon und vom Joch der Heiden befreit worden. Nun aber hüten wir uns wohl, dass wir sie nicht durch Habsucht und Trägheit oder Mitleid mit den Feinden wieder verlieren, indem wir die gefangenen und noch in der Stadt verbliebenen Heiden verschonen. Denn wenn wir etwa vom König von Babylon in schwerem Angriff belagert werden sollen, so würden wir gar bald von innen wie von außen bekämpft und besiegt und in ewige Verbannung und Knechtschaft weggeschleppt werden. Darum scheint es uns der erste und der beste Rat, alle Sarazenen und Heiden, die jetzt noch gefangen gehalten sind, um vielleicht gegen Lösegeld freigelassen zu werden, unverzüglich mit dem Schwerte zu töten, damit wir nicht durch Betrug und List von ihnen Schaden nehmen.‹« 10. Gesta Francorum (wie Anhang 1), lib. IX, cap. 22, S. 77–79. »Kerboga sagte zu ihr: ›Liebste Mutter, erzähl mir alles, was mir in meinem Herzen unglaublich erscheint.‹ Sie sagte: ›Das will ich gerne tun, Liebster, wenn ich weiß, was dir unbekannt ist.‹ Er sprach zu ihr: ›Sind nicht Bohemund und Tankred die Götter der Franken und befreien sie sie nicht von ihren Feinden? Und verzehren sie nicht bei einem einzigen Mahl 2000 Kühe und 4000 Schweine?‹ Die Mutter antwortete: ›Liebster Sohn, Bohemund und Tankred sind sterblich wie alle anderen, aber ihr Gott liebt sie vor allen anderen und gibt ihnen vor den anderen die Kraft zum Kampf. Denn es ist ihr Gott, Allmächtiger ist sein Name, der Himmel und Erde geschaffen hat und die Meere und alles, was in ihnen ist, begründet hat; sein Thron im Himmel ist in Ewigkeit bereitet, seine Macht muss überall gefürchtet werden.‹ Der Sohn sagte: ›Mag dies auch der Fall sein, will ich nicht davon abstehen, mit ihnen zu kämpfen.‹ Als seine Mutter hörte, dass er unter keinen Umständen ihren Ratschlägen folgen wollte, zog sie sich sehr betrübt wieder nach Aleppo zurück und trug so viel Güter fort, wie sie mit sich führen konnte.«
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11. Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica (wie Anhang 4) lib. XI, cap. 12, S. 70. »Dann ging der Herzog, der selbst unter den Vornehmsten eine gute Figur machte, nach vorne und stieg auf die Kanzel vor dem Altar der seligen Jungfrau und Mutter und berichtete dort der großen Menge, die sich versammelt hatte, von seinen Taten und Abenteuern, forderte alle, die Waffen trugen, auf, mit ihm zusammen den [byzantinischen] Kaiser anzugreifen und versprach besonders Ausgewählten reiche Städte und Burgen. Viele wurden von seinen Worten entflammt und nahmen das Kreuz, verließen all ihr Hab und Gut und machten sich auf den Weg nach Jerusalem, wie Männer, die zu einem Fest eilen.«
Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Quellen
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2.
Literatur
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Convivencia als hierarchisierter Religionspluralismus: Regulierung und Rezeption des Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel (7.–17. Jahrhundert)
Bei dem Begriff Convivencia handelt es sich um ein umstrittenes Konzept, das in der westlichen Forschung seit mindestens zwei Jahrzehnten immer dann auftaucht, wenn es darum geht, das mittelalterliche Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen, insbesondere auf der Iberischen Halbinsel, zu beschreiben. In Publikationen für eine weitere Öffentlichkeit wird der Begriff häufig mit Bildern verbunden, die dieses Zusammenleben und die fruchtbaren Dimensionen christlich-muslimischen Austausches illustrieren sollen. Dazu zählen etwa eine Miniatur auf dem zwischen den 1250ern und 1282 vom kastilischen König Alfons X. in Auftrag gegebenen Libro de los juegos (»Buch der Spiele«). Ein Christ links und ein Muslim rechts spielen das aus dem indo-persischen Raum nach Westen gebrachte Spiel Schach.1 Im vorliegenden Beitrag geht es nun darum, das mit dem Begriff Convivencia umschriebene Zusammenleben verschiedener Religionsgruppen auf der Iberischen Halbinsel zu beleuchten und dabei auch einen Einblick in die damit verbundenen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Debatten zu geben. Der erste Teil geht zunächst auf die spanischen Ursprünge des Begriffes ein. Der zweite Teil zeigt, wie der Begriff in außerspanischen Kontexten der letzten Jahrzehnte rezipiert wurde. Der dritte Teil soll anhand ausgewählter Quellenbeispiele darlegen, welche großen Phasen die Regulierung des Zusammenlebens verschiedener Religionsgruppen auf der Iberischen Halbinsel des 7. bis 17. Jahrhunderts durchlief.
1 Alfonso X, Libro de los juegos (ca. 1253–82), Biblioteca de El Escorial, MS T.I.6, fol. 64r., verfügbar als Facsimile-Edition: Alfonso X el Sabio, Libros del Ajedrez, dados y tablas, Valencia 1987. Zur Einführung des Schachspiels nach Europa siehe Hans Holländer, Ein Spiel aus dem Osten, in: Odilo Engels / Peter Schreiner (Hg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4. Symposiums des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000. Todesjahres der Kaiserin Theophanu, Sigmaringen 1993, S. 389–416.
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Convivencia: Ursprünge eines Konzeptes
Das spanische Wort Convivencia bedeutet zunächst ganz neutral »Zusammenleben«. Zu einem für die gesellschaftswissenschaftliche Forschung relevanten Konzept wurde es erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Konzeptualisierung des Begriffes erfolgte in einer Atmosphäre, in der mehrere spanische Historiker große Anstrengungen unternahmen, das »Wesen Spaniens« (»el Ser de España«) und seine historische Genese zu erklären. Hintergrund dieser stark nationalistischen Versuche war das Krisenempfinden im Spanien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach einer großen Kolonialgeschichte hatte Spanien 1898 seine letzten beiden überseeischen Stützpunkte – die Philippinen und Kuba – verloren und war zu einem europäischen Nationalstaat geworden. Zunehmende innere Spannungen entluden sich im spanischen Bürgerkrieg von 1936–1939, der mit einer Niederlage der republikanischen Fraktion endete und zur Errichtung einer fast vierzigjährigen Diktatur unter General Francisco Franco führte (1936–1975). In dieser Periode standen sich also sehr unterschiedliche, stark politisierte und durch historische Argumente untermauerte Vorstellungen dessen gegenüber, wie Spanien als Gesellschaft und politisches System auszusehen habe. Solche Vorstellungen wurden sowohl in Spanien als auch von Exilspaniern formuliert, u. a. von den Historikern Américo Castro (1885–1972) und Claudio Sánchez-Albornoz (1893–1984). Beide hatten ihre Ausbildung in Spanien absolviert und waren dort zunächst als Wissenschaftler tätig geworden, bevor sie in der kurzlebigen zweiten Republik politische Posten übernahmen. Nach dem Sieg Francos gingen beide ins amerikanische Exil, Castro in die USA, Sánchez-Albornoz nach Argentinien.2 Castro veröffentlichte 1948 in den USA ein Buch unter dem Titel España en su historia (»Spanien in seiner Geschichte«), in dem er die Andersartigkeit des Landes im Vergleich zu Resteuropa hervorhob. Eine spanische Identität, die sich von früheren Formen keltiberischer, römischer oder westgotischer Identität unterscheide, sei überhaupt erst in der mittelalterlichen Periode entstanden. Nach Castro wurde sie entscheidend durch die muslimische Invasion von 711 und das resultierende Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen geformt. Die Periode islamischer Herrschaft war für Castro grundsätzlich von religiöser Toleranz und von einem fruchtbaren Austausch geprägt, der u. a. die spanische Sprache und Literatur der frühen Neuzeit entscheidend beeinflusste. Die Ausweisung der Juden 1492 und der Moriscos 1609 betrachtete er demnach als enormen kulturgeschichtlichen Verlust.3 2 Vgl. hierzu José L. Gómez Martínez, Américo Castro y Sánchez Albornoz: Dos posiciones ante el origen de los Españoles, in: Nueva Revista de Filología Hispánica 21, 2 (1972), S. 301–319. 3 Vgl. Américo Castro, España en su historia. Cristianos, moros y judíos, Buenos Aires 1948.
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Die 1948 veröffentlichte Monographie Castros wurde zu einem Stein des Anstoßes für Claudio Sánchez-Albornoz. Dieser hatte zunächst in einem 1929 veröffentlichten Essay España y el Islam (»Spanien und der Islam«) gegen Stimmen argumentiert, die der achthundertjährigen islamischen Präsenz auf der Iberischen Halbinsel jeglichen Einfluss auf die Kultur Spaniens abgesprochen hatten. Dabei hatte er Positionen eingenommen, die denen Castros durchaus nicht unähnlich waren,4 versuchte dann aber nach 1948 systematisch und sehr polemisch dessen Positionen zu dekonstruieren.5 In mehreren Veröffentlichungen, darunter seinem bekanntesten Werk España: un enigma histórico (»Spanien: ein historisches Rätsel«), betonte Sánchez-Albornoz, dass eine explizit spanische Identität schon vor dem Mittelalter entstanden und über die Jahrhunderte gereift sei, auch wenn er sich gegen den Vorwurf wehrte, das Bild eines ahistorischen homo hispanus geschaffen zu haben.6 Gegen Castro betonte er außerdem, dass die islamische Herrschaft das Wesen Spaniens kulturell kaum geprägt, dennoch aber große, hauptsächlich negative Folgen gezeitigt habe. Als Effekte der islamischen Herrschaft betrachtete er eine für Kastilien spezifische anti-islamische Abwehrhaltung sowie eine Militarisierung der Gesellschaft. Letztere habe verhindert, dass sich in Spanien nach 1492 eine florierende Wirtschaft entwickelt habe, die sich etwa mit Flandern oder Italien messen konnte.7 Obwohl weder Castro noch Sánchez-Albornoz das im Folgenden zitierte Gedicht kommentierten, lassen sich ihre Positionen daran doch gut illustrieren. Es handelt sich um einen im 12. Jahrhundert verfassten Vers des muslimischen Dichters Ibn Baqı¯ (gest. ca. 540 islamischer Zeitrechnung / 1145 christlicher Zeitrechnung), der gänzlich in arabischen Buchstaben geschrieben ist, sich aber aus einem arabischen und einem romanischen Teilvers zusammensetzt. Im arabischen Teilvers wird ein Mädchen erwähnt, das unter der Zurückweisung und unter der Ferne ihres Geliebten leidet. Im romanischen Teilvers singt das Mädchen selbst: »Ostern ist gekommen, ach, aber ohne ihn ist mein Herz durch ihn zerissen.« ﻭﺭﺏ ﺧﻮﺩ ﺟ َﻔﺎﻫﺎ ﺍﻟﻮﺟﺪ | ﻭﺷ َّﻔﻬﺎ ﺍﻟﺒﻴ ُﻦ ﺛ ّﻢ ﺍﻟﺒُﻌﺪ | ﻓﺎﻋﻠﻨﺖ ﺑﺎﻟﻔ َﺮﺍﻕ ﺗَﺸ ُﺪ | ﺑﻨﺬ ﻟﺒﺸﻘﻪ ﺍﻳﻮﻥ ﺷﻨﻞ | ﺣﺼﺮﻱ ﻣﻮ ﻗﺮﺟﻮﻥ ﺑُﺮ ِﻝ »[HIER ARABISCH] wa-rubba hawdin gˇafa¯ha¯ l-wagˇdu // wa-sˇaffaha¯ l-baynu tumma l¯ ˘ buʿdu // fa-ʿalanat bi-l-fira¯qi tasˇdu // [AB HIER ROMANISCH] Banid, la basˇqa, ayu¯n ¯ sˇin alli // hsrı¯ [hasrandu/lasrandu?] mu¯ quragˇu¯n bur alli.« (Venid, la Pasca, aun sin él // ˙˙ ˙ ˙ ˙ lacerando [?] mi corazón por él)
4 Vgl. Claudio Sánchez-Albornoz, España y el Islam, in: Revista de Occidente 70 (1929), S. 1–36. 5 Zum Beispiel Ders., Ante »España en su historia«, in: Cuadernos de la Historia de España 19 (1953), S. 129–145. 6 Ders., España: un enigma histórico, 2 Bde., Buenos Aires 1956, Bd. 1, S. 5f. 7 Sánchez-Albornoz, España y el Islam; Sánchez-Albornoz, España, un enigma histórico.
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»[HIER ARABISCH] So manches verliebte Mädchen litt unter Zurückweisung // war dünn geworden, weil ihr Geliebter weggegangen und nun ferne war // gab ihrer Trennung singend Ausdruck: // [AB HIER ROMANISCH] Ostern ist gekommen, aber ohne ihn // ist mein Herz durch ihn zerrissen.«8
Nähme man die Position Castros ein, so sähe man in diesem Vers ein Beispiel für die fruchtbare Verschmelzung andalusisch-arabischer und hispanoromanischer Kulturen und Literaturen. Ein muslimischer Dichter erwähnt hier ohne Polemik das wichtigste Fest des christlichen Jahreszyklus und demonstriert sowohl Arabisch- als auch Romanischkenntnisse. Der Vers impliziert eine Liebesbeziehung und damit friedliche Beziehungen zwischen einem Muslim und einer Christin. Aus der Perspektive von Sánchez-Albornoz sähe man in diesem Vers dagegen einen Ausdruck männlich-muslimischer Dominanz gegenüber einer christlichromanischen Frau, aber auch einen Beweis dafür, dass sich eine romanische Sprachkultur und Literatur trotz »aufgepfropfter« arabisch-islamischer Kultur halten konnte, um dann nach dem Ende muslimischer Herrschaft wirklich zur Blüte zu kommen.9
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»Export« und Transformation des Konzeptes Convivencia
Nach diesen kurzen Ausführungen zum Ursprungskontext des Konzepts Convivencia geht es nun darum aufzeigen, wie Castros grundsätzlich positive Bewertung der muslimischen Periode iberischer Geschichte außerhalb Spaniens aufgenommen wurde. Castros Vorstellung eines prinzipiell friedlichen und kulturell produktiven Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen unter islamischer Herrschaft wurde sowohl weiterverarbeitetet als auch abgelehnt. Diese Rezeptions8 Es ist darauf hinzuweisen, dass weder die arabische Buchstabenfolge, noch die Transkription in lateinischen Buchstaben dieser hargˇa unumstritten sind. Folglich gilt dies auch für die ˘ ist dabei Alan Jones, Romance Kharjas in Andalusian moderne Übersetzung. Am präzisesten Arabic Muwasˇsˇah Poetry. A Palaeographical Analysis, London 1988 (Oxford Oriental Institute Monographs, 9), ˙S. 102–05, der dem Leser auch ein Faksimile des MS, aber keine Übersetzung zur Hand gibt. Emilio García Gómez, Las jarchas romances de la serie árabe en su marco, Madrid 1990 (Alianza universidad, 652), S. 167; sowie Arie Schippers, Style and Register in Arabic, Hebrew and Romance Strophic Poetry, in: Federico Corriente / Angel Sáenz-Badillos (Hg.), Poesía estrófica: actas del Primer Congreso Internacional sobre Poesía Estrófica Árabe y sus Paralelos Romances (Madrid, diciembre de 1989), Madrid 1991, S. 311–324, hier S. 319f., auf deren Übersetzungen die hier gebrachte fußt, entscheiden sich risikobereit für eine Variante. 9 Zu den verschiedenen Interpretationen dieses Gedichtes siehe Netzwerk Transkulturelle Verflechtungen im Mittelalterlichen Euromediterraneum (500–1500) (Hg.), Transkulturelle Verflechtungen. Mediävistische Perspektiven, Göttingen 2016, S. 177–180, mit weiterer Literatur.
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kontexte unterscheiden sich deutlich von der Ausgangsdebatte, in der es ja um das »Wesen Spaniens«, den historischen Einfluss des Islam sowie die Folgen der Vertreibung von Juden und Muslimen für Spanien ging. Im europäisch-transatlantischen Kontext begann der Begriff Convivencia ab den späten 1970er Jahren,10 v. a. aber seit den 1990er Jahren eine Rolle zu spielen. Entsprechende Debatten wurden in einem gesellschaftlichen Umfeld geführt, in dem man sich mit den Folgen von Migration und befürwortend oder ablehnend mit der Idee einer multikulturellen Gesellschaftsordnung auseinandersetzte, v. a. in Bezug auf die Integration muslimischer Gruppen. In diesen Debatten ging es auch um die noch heute politisierte Frage, ob es sich bei »dem Islam« um eine prinzipiell »tolerante« oder »intolerante« Religion handelt. Das wohl markanteste Beispiel für die multikulturalistische Weiterentwicklung der Ausgangsidee Castros findet sich in einem 2006 veröffentlichten Buch der amerikanischen Historikerin María Rosa Menocal unter dem Titel The Ornament of the World. How Muslims, Jews, and Christians Created a Culture of Tolerance in Medieval Spain.11 Bald regte sich allerdings enormer Widerstand. In den letzten zehn Jahren häufen sich die spanischen, französischen wie auch deutschen und amerikanischen Veröffentlichungen, in denen vom »Mythos der Convivencia« gesprochen wird.12 Von ihrer Tendenz her stehen Convivencia-Vertreter und Convivencia-Kritiker für unterschiedliche Täter-Opfer-Diskurse. Ihre Vertreter schreiben Convivencia v. a. der Periode muslimischer Herrschaft unter Umayyaden und Taifafürsten zu und machen religiöse Fanatiker, darunter Almoraviden, Almohaden und schließlich die Reconquista für ihre Zerstörung verantwortlich. ConvivenciaKritiker bringen Gegenbeweise für ein spannungsgeladenes Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen unter muslimischer Herrschaft, für das sie eine grundlegende Intoleranz »des Islam« verantwortlich machen. In der Gegen10 Zu den frühesten nichtspanischen Veröffentlichungen mit diesem Leitbegriff zählt Roger Highfield, Christians, Jews and Muslims in the Same Society: the Fall of Convivencia in Medieval Spain, in: Studies in Church History 15 (1978), S. 121–146. 11 María Rosa Menocal, The Ornament of the World. How Muslims, Jews, and Christians Created a Culture of Tolerance in Medieval Spain, New York 2002. Vgl. auch Bruna Soravia, Al-Andalus au miroir du multiculturalisme. Le mythe de la convivencia dans quelques essais nord-américains récents, in: Manuela Marín (Hg.), Al-Andalus / España. Historiografías en contraste, siglos XVII–XXI, Madrid 2009 (Collection de la Casa de Velázquez, 109), S. 351– 366. 12 Siehe z. B. Eduardo Manzano Moreno, Qurtuba. Algunas reflexiones críticas sobre el Califato de Córdoba y el mito de la convivencia, in: Awraq: Estudios sobre el mundo árabe e islámico contemporáneo 7 (2013), S. 225–246; Christophe Cailleaux, Chrétiens, juifs et musulmans dans l’Espagne médiévale. La convivencia et autres mythes historiographiques, in: Cahiers de la Méditerranée 86 (2013), S. 257–271; Darío Fernández-Morera, The Myth of the Andalusian Paradise: Muslims, Christians, and Jews under Islamic Rule in Medieval Spain, Wilmington/ DE 2016.
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überstellung zeigt sich, dass die Convivencia-Debatte v. a. auf die Periode muslimischer Herrschaft fixiert ist. Convivencia-Vertreter sehen in der späteren Periode christlicher Herrschaft vor allem zunehmende religiöse Intoleranz und ignorieren religiöse Ambiguitäten. Convivencia-Kritiker dagegen rechtfertigen, relativieren oder ignorieren einfach die von Christen betriebene Durchsetzung religiöser Konformität.13 In der arabischen Welt dagegen spielten und spielen Debatten um das Konzept Convivencia keine Rolle. Auch wenn vor allzu großen Verallgemeinerungen zu warnen ist, wird hier die muslimische Geschichte Spaniens grundsätzlich als positiv, kulturell fruchtbar und tolerant dargestellt, das Konzept Convivencia aber nicht explizit rezipiert.14 Weitere wissenschaftliche und gesellschaftliche Rezeption erlangte nicht das fruchtbare Zusammenleben verschiedener Religionsgruppen, sondern der Kontrast zwischen einem religiös-pluralistischen islamischen Gesellschaftssystem und den christlichen Vertreibungsmaßnahmen seit 1492.15 Hierzu existieren ausführliche, auch qualitative Studien,16 ebenso Übersetzungen wichtiger europäischer Werke zum Thema.17 Im Vordergrund steht jedoch die muslimische Opferrolle, wie etwa in einem 1983 von ʿAdil Saʿı¯d Bisˇta¯wı¯ veröffentlichten Buch deutlich wird: 13 Siehe die in den zwei vorangegangenen Fußnoten zitierte Literatur. 14 Vgl. z. B. Husayn Muʾnis, Fagˇr al-Andalus. Dira¯sa fı¯ ta¯rı¯h al-Andalus min al-fath al-isla¯mı¯ ila¯ ˙ ˙ Studie zur ˘ qiya¯m ad-dawla al-umawiyya (711–756) [Morgendämmerung von al-Andalus. Geschichte von al-Andalus von der islamischen Eroberung bis zur Errichtung des umayyadischen Staates (711–756)], Kairo 2005, S. 333–412; Hadı¯gˇa Quru¯ʿı¯, Zawa¯hir igˇtima¯ʿiyya ması¯hiyya wa-isla¯miyya fı¯ l-Andalus min al-fath al-isla¯˘mı¯ ila¯ niha¯yat ˙ʿasr al-ima¯ra (92h/ ˙ ˙ ˙ in al-Andalus 711m-316h/929m) [Christliche und islamische gesellschaftliche Phänomene von der islamischen Eroberung bis zum Ende der Epoche des Emirats (92–316 islamische / 711–929 christliche Zeitrechnung], Damaskus 2012. 15 Vgl. Alejandro García Sanjuán, La conquista islámica de la península Ibérica y la tergiversación del pasado. Del catastrofismo al negacionismo, Madrid 2013, S. 62–70. 16 Muhammad ʿAbd Alla¯h ʿIna¯n, Niha¯yat al-Andalus wa-ta¯rı¯h al-ʿArab al-muntassirı¯n [Das ˙ von al-Andalus und die besiegten Araber], 3. Aufl., Kairo ˙ ˙ ʿAbduh ˘ Ende 1966; Muhammad ˙ ˙ Hata¯mila, Mihnat muslimı¯ al-Andalus: ʿasˇiyyat suqu¯t Garna¯ta wa-baʿdiha¯ [Die Katastrophe ˙ Muslime ˙von al-Andalus: Der Vorabend des Falls ˙ von ˙Granada und sein Nachspiel], der Amman 1977; ʿAbd Alla¯h Hama¯dı¯, Al-Mu¯riskiyyu¯n wa-maha¯kim al-taftı¯ˇs fı¯ l-Andalus 1492– ˙ 1616 [Die Moriscos und die˙ Inquisition in al-Andalus, 1492–1616], Tunis 1989; Husayn Yu¯suf al-Duwayda¯r, Al-Muslimu¯n al-mudagˇgˇanu¯n fı¯ l-Andalus [Die Mudéjares in ˙ al-Andalus], ˇ ama¯l ʿAbd al-Karı¯m, Al-Mu¯rı¯skiyyu¯n: ta¯rı¯huhum wa-adabuhum [Die Moriscos: Kairo 1993; G ˘ Ihre Geschichte und Literatur], Kairo 1997. 17 [Louis Cardaillac] Lu¯wı¯ Karda¯ya¯k, Al-Mu¯rı¯skiyyu¯n al-andalusiyyu¯n wa-l-ması¯hiyyu¯n, übers. ˙ ˇ alı¯l al-Tamı¯mı¯, Tunis 1983. Aus dem Französischen: Louis Cardaillac, von ʿAbd al-G Morisques et chrétiens. Un affrontement polémique, Paris 1977 (Témoins de l’Espagne. Série historique, 6). [Mercedes García-Arenal] Mart¯ıdı¯s G˙artiyya¯ Arı¯na¯l, Al-Mu¯rı¯skiyyu¯n al-an¯ ¯ ˇ ama¯l ʿAbd al-Rahma¯n, dalusiyyu¯n, übers. von G Kairo 2003. Aus dem Spanischen: Mercedes García-Arenal, Los Moriscos, Madrid 1975˙ (Biblioteca de visionarios, heterodoxos y marginados, 5).
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Es trägt den Titel »Die andalusischen Moriscos. Studie zur Geschichte der Andalusier nach dem Fall Granadas« und zeigt auf dem Umschlagbild den zerbrochenen, blutenden Kopf eines Mannes mit Turban.18 Eine vom tuˇ alı¯l al-Tamı¯mı¯ herausgegebene, dutzende Bände nesischen Historiker ʿAbd al-G umfassende Bibliographie zur Geschichte der Moriscos ist gar dem Ziel gewidmet, das Bewusstsein für deren Tragödie zu vertiefen und von Spanien eine offizielle Entschuldigung zu erhalten.19 Vor diesem Hintergrund spielt die muslimische Geschichte Spaniens in der arabischen Welt eine deutlich andere Rolle als in Spanien, Europa oder den USA. Einen interessanten Einblick in die potenzielle gesellschaftspolitische Nutzung der Geschichte von al-Andalus gibt die seit etwa zehn Jahren laufende Internetkampagne »Wiederbelebung von al-Andalus« (»ihya¯ʾ al-Andalus«). ˙ Initiatorin ist eine im Sudan aufgewachsene Palästinenserin namens Muna¯ Hawwa¯, die zum 521. Jahrestag des Falls von Granada 2013 ein Interview auf al˙ Jazeera gab. Dort kritisierte sie, dass dieser Tag noch heute in Spanien offiziell gefeiert werde.20 Zwei Artikel der Online-Zeitungen alkhaleej-online und felasteen.web erwähnen Muna¯ Hawwa¯s Beschwerde, dass sich die spanische Regie˙ rung zwar bei den Juden für die Vertreibung von 1492, niemals aber bei den Muslimen für die Vertreibung der Moriscos entschuldigt habe. Sie machen außerdem deutlich, dass hinter der Kampagne ein weiterer politischer Assoziationsrahmen steht. Man erfährt, dass Muna¯ Hawwa¯ während ihres Studiums an ˙ der Universität von Khartoum einen Preis erhielt unter dem Titel »Dass Palästina kein zweites al-Andalus werden möge« (»hatta¯ la¯ yaku¯n Filast¯ın Andalus ˙ ˙ uhra¯«).21 Dieser wurde von einem gewissen Dr. Ra¯g˙ib Sirgˇa¯nı¯ verliehen, der unter ˘
18 ʿAdil Saʿı¯d Bisˇta¯wı¯, Al-Andalusiyyu¯n al-mawa¯rika. Dira¯sa fı¯ ta¯rı¯h al-Andalusiyyı¯n baʿda ˘ Andalusier nach dem suqu¯t G˙arna¯ta [Die andalusischen Moriscos. Studie zur Geschichte der ˙ Fall Granadas], Kairo 1983. ˇ alı¯l al-Tamı¯mı¯, Tra¯gˇ¯ıdı¯ya¯ tard al-mu¯rı¯skiyyu¯n min al-Andalus wa-mawa¯qif al-is19 ʿAbd al-G ba¯niyya wa-l-ʿarabiyya al-isla¯miyya ˙minha¯ [Tragödie der Vertreibung der Moriscos aus alAndalus und die spanischen und arabisch-islamischen Standpunkte dazu], Tunis 2011, S. 11– 42. 20 Das 02. 01. 2013 auf al-Jazeera ausgestrahlte Interview ist auf Youtube zu finden unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=2BcWbilmdHA [23. 08. 2021]. 21 Fa¯tima Abu¯ Hayya, Tatmah ila¯ manaʿ al-ihtifa¯la¯t al-isba¯niyya bi-suqu¯tiha¯: Muna¯ Hawwa¯ wa-l˙ ˙ Verbot der˙ spanischen Festlichkeiten zu seinem˙ Fall: Muna¯ ˙ Andalus [Strebt nach˙ einem Hawwa¯ und al-Andalus], in: Filast¯ın u¯nla¯yn, 08. Oktober 2013, zit. nach URL: http://felesteen. ˙ ˙ zum Zeitpunkt der Drucklegung nicht mehr verfügbar]; ps/details/news/84415 [06. 09. 2017, Yu¯suf Husnı¯, Muna¯ Hawwa¯ … sˇa¯ba filast¯ıniyya tahlum bi-istiʿa¯da al-Andalus min hila¯l ˙¯ … eine junge Palästinenserin ˙ träumt von einer Rückgewinnung˘von ˙ Faysbu¯k˙ [Muna¯ Hawwa ˙ al-Andalus mit Hilfe von Facebook], in: al-Halı¯gˇ u¯nla¯yn, 3 December 2016, zit. nach URL: ˘ http://alkhaleejonline.net/articles/1478618361961941900/ [23. 08. 2021].
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demselben Motto Youtube-Predigten veröffentlicht.22 Hier steht die Geschichte des muslimischen Spanien also für die Angst vor der erneuten Auslöschung einer muslimisch geprägten Gesellschaft.
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Convivencia in den Quellen: Von einem religiös hierarchisierten Gesellschaftsmodell zur Idealisierung und Implementierung totaler religiöser Konformität
Es sollte deutlich geworden sein, dass das Konzept Convivencia als Bestandteil von Debatten zu sehen ist, die im innerspanischen, europäisch-transatlantischen und arabischen Kontext eine jeweils anders geartete Ideologisierung aufweisen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich das historische Zusammenleben von Juden, Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel des Mittelalters geschichtswissenschaftlich bewerten lässt. Eine seriöse Geschichtswissenschaft muss sich von Vertretern politisierter Geschichtsbilder absetzen, die in der mittelalterlichen Geschichte Spaniens nach Vorbildern oder Gegenbildern für heutige Gesellschaftskonzepte suchen oder diese Periode gar nutzen, um vermeintlich »ewige« Charakteristika der spanischen Nation, des Islam oder des Christentums zu definieren. Man wird der mittelalterlichen Geschichte Spaniens nicht gerecht, wenn man akribisch entweder alle Hinweise auf islamische oder christliche Gewaltexzesse und Zwangsmaßnahmen zusammenträgt, um dann vermeintlich allgemeingültige Aussagen zu Toleranz oder Intoleranz der einen oder anderen Religion zu machen und auf heutige Problemfelder zu übertragen. Mittelalterliche Gesellschaften, ob unter christlicher oder islamischer Herrschaft, kannten weder Religionsfreiheit noch ein gleichberechtigtes Miteinander verschiedener Religionen. Sie lassen sich daher nur schwer an solchen Idealen messen. Die folgenden Quellenbeispiele zeigen aber ganz deutlich, dass sich Führungseliten des Mittelalters darin unterschieden, ob sie auf eine religiös konforme Gesellschaft hinarbeiteten oder aber bereit waren, einen hierarchisierten religiösen Pluralismus zuzulassen. Um dies zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, in der vorislamischen Geschichte der Iberischen Halbinsel zu beginnen. In der späten Periode westgotischer Herrschaft, etwa seit der Konversion westgotischer Eliten zum Katholizismus im Jahre 589, wurden regelmäßig Maßnahmen ergriffen, die die Religionsausübung von Juden entweder erschwerten oder sogar verboten. Solche Maßnahmen sind sowohl in den Akten der west22 Vgl. etwa Video 1 der Serie: Ra¯g˙ib Sirgˇa¯nı¯, Hatta¯ la¯ yaku¯n Filast¯ın Andalus uhra¯ [Damit ˙ ˘ Palästina kein weiteres al-Andalus werde], zit.˙ nach URL: https://www.youtube.com/watch? v=qm6_DXSqTG4 [14. 02. 2018].
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gotischen Reichskonzilien in Toledo wie auch in der von den westgotischen Königen erlassenen Gesetzgebung dokumentiert.23 Ein Beispiel liefert ein vom westgotischen König Ervigius ca. 681 erlassenes Gesetz mit dem folgenden Titel: »Dass die Juden weder sich noch ihre Kinder und Diener der Gnade der Taufe entziehen« (»Ne Iudei aut se aut suos filios aut famulos a baptismi gratia subtrahant«).24 In der Forschung ist schon viel Tinte zu der Frage geflossen, inwieweit es im spanischen Westgotenreich wirklich zur Umsetzung solcher antijüdischen Maßnahmen gekommen ist, und ob wir es nicht trotz allem mit einer durchaus florierenden jüdischen Gemeinschaft zu tun haben, die intensiv mit ihrer christlichen Umwelt interagierte und sogar Konvertiten gewann.25 Für die hier gewählte Fragestellung ist diese Debatte jedoch sekundär. Aus der hier zitierten Quelle geht deutlich hervor, dass das westgotische Königtum – zumindest periodisch – die totale Christianisierung des Reiches gegenüber einer Form des religiösen Pluralismus bevorzugte. Betrachten wir nun einen islamischen Rechtstext, der im 9. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel produziert wurde, so haben wir hier ein Musterbeispiel für eine Form des hierarchisierten religiösen Pluralismus vor uns. Es handelt sich um ein Kompendium ma¯likitischen Rechts, der ab dem 9. Jahrhundert in alAndalus vorherrschenden islamischen Rechtsschule.26 Der Text unterscheidet die unter muslimischer Herrschaft lebenden Menschen nach ihrer Religion, ihrem Geschlecht und ihrem sozialen Status. ﻀ ُﻌﻮﺍ ﺍﻟْ ِﺠ ْﺰ َﻳ َﺔ َﻋ َّﻤ ْﻦ ﺃَ ْﺳﻠَ َﻢ ِﻣ ْﻦ ﺃَ ْﻫ ِﻞ ﺍﻟْ ِﺠ ْﺰ َﻳ ِﺔ ِﺣﻴ َﻦ َ ﺃَ ْﻥ َﻳ: ﺃَﻧَّ ُﻪ َﺑﻠَ َﻐ ُﻪ ﺃَ َّﻥ ُﻋ َﻤ َﺮ ْﺑ َﻦ َﻋ ْﺒ ِﺪ ﺍﻟْ َﻌ ِﺰﻳ ِﺰ َﻛ َﺘ َﺐ ﺇِﻟَﻰ ُﻋ َّﻤﺎﻟِ ِﻪ،َﻭ َﺣ َّﺪﺛَ ِﻨﻲ َﻋ ْﻦ َﻣﺎﻟِ ٍﻚ َ َ ْ ُ َ ّ َ َ ُ َ ْ َ ّ ْ َ َﻣ: َﻗﺎ َﻝ َﻣﺎﻟِ ٌﻚ. ُﻳ ْﺴﻠِ ُﻤﻮ َﻥ َﻭﺃﻥ ﺍﻟ ِﺠﺰ َﻳﺔ ﻻ ﺗﺆﺧﺬ ﺇِﻻ ِﻣ َﻦ،ﺻ ْﺒ َﻴﺎﻧِ ِﻬ ْﻢ ِ َﻭ َﻻ َﻋﻠﻰ،ﻀ ِﺖ ﺍﻟ ُّﺴﻨَّ ُﺔ ﺃَ ْﻧﻪ َﻻ ِﺟ ْﺰ َﻳ َﺔ َﻋ ِﻠَﻰ ﻧِ َﺴﺎ ِﺀ ﺃَ ْﻫ ِﻞ ﺍﻟْ ِﻜﺘَﺎ ِﺏ ّ ﻭﻟَ ْﻴﺲ ﻋﻠَﻰ ﺃَ ْﻫﻞ ﺍﻟ.ﺍﻟ ِّﺮﺟﺎﻝ ﺍﻟَّ ِﺬﻳ َﻦ َﻗ ْﺪ ﺑﻠَ ُﻐﻮﺍ ﺍﻟْﺤﻠُﻢ ْ َ َ َ َﻭ َﻻ، َﻭ َﻻ ُﺯ ُﺭﻭ ِﻋ ِﻬ ْﻢ، َﻭ َﻻ ُﻛ ُﺮﻭ ِﻣ ِﻬ ْﻢ،ﺱ ِﻓﻲ ﻧَ ِﺨﻴﻠِ ِﻬ ْﻢ ﻮ ﺠ ﻤ ﻟ ﺍ ﻰ ﻠ ﻋ ﻻ ﻭ ، ﺔ ﻣ ﺬ ِ َ َ ّ ِ َ َ َ َ ُ َ ِ َ ِ ُ َ ﺿ َﻌ ِﺖ ﺍ ْﻟ ِﺠ ْﺰ َﻳ ُﺔ َﻋﻠَﻰ ﺃَ ْﻫ ِﻞ ِ َﻭ ُﻭ، َﻭ َﺭ ّﺩﺍً َﻋﻠَﻰ ُﻓ َﻘ َﺮﺍﺋِ ِﻬ ْﻢ،ﺿ َﻌ ْﺖ َﻋﻠَﻰ ﺍﻟْ ُﻤ ْﺴﻠِ ِﻤﻴ َﻦ َﺗ ْﻄ ِﻬﻴﺮﺍً ﻟَ ُﻬ ْﻢ ِ ﺼ َﺪ َﻗ َﺔ ﺇِ َّﻧ َﻤﺎ ُﻭ َّ َﻷ َّﻥ ﺍﻟ،ﺻ َﺪ َﻗ ٌﺔ َ َﻣ َﻮﺍ ِﺷﻴ ِﻬ ْﻢ َ ﺇِ َّﻻ ﺃَ ْﻥ،ﺲ َﻋﻠَ ْﻴ ِﻬ ْﻢ َﺷ ْﻰٌء ِﺳ َﻮﻯ ﺍﻟْ ِﺠ ْﺰ َﻳ ِﺔ ِﻓﻲ َﺷ ْﻰٍء ِﻣ ْﻦ ﺃَ ْﻣ َﻮﺍﻟِ ِﻬ ْﻢ َ ﺻﺎﻟَ ُﺤﻮﺍ َﻋﻠَ ْﻴ ِﻪ ﻟَ ْﻴ َ ﺍ ْﻟ ِﻜ َﺘﺎ ِﺏ َ َﻓ ُﻬ ْﻢ َﻣﺎ َﻛﺎﻧُﻮﺍ ﺑِ َﺒﻠَ ِﺪ ِﻫ ُﻢ ﺍﻟّ ِﺬﻳ َﻦ،ﺻ َﻐﺎ ًﺭﺍ ﻟَ ُﻬ ْﻢ ِّ َ َ َ ْ ْ ُ َ َ ْ ُ َ ﺿ َﻌ ْﺖ َﻋﻠ ْﻴ ِﻬ ُﻢ ِ َﻭﺫﻟِﻚ ﺃ ّﻧ ُﻬ ْﻢ ﺇِ ّﻧ َﻤﺎ ُﻭ، َﻓ ُﻴ ْﺆ َﺧﺬ ِﻣ ْﻨ ُﻬ ُﻢ ﺍﻟ ُﻌﺸ ُﺮ ِﻓﻴ َﻤﺎ ﻳُ ِﺪﻳ ُﺮﻭ َﻥ ِﻣ َﻦ ﺍﻟﺘ َﺠﺎ َﺭﺍ ِﺕ، َﻭ َﻳ ْﺨ َﺘﻠِﻔﻮﺍ ِﻓﻴ َﻬﺎ،َﻳ ّﺘَ ِﺠ ُﺮﻭﺍ ِﻓﻲ ﺑِ َﻼ ِﺩ ﺍﻟ ُﻤ ْﺴﻠِ ِﻤﻴ َﻦ َ ّ ، َﻓ َﻤ ْﻦ َﺧ َﺮ َﺝ ِﻣ ْﻨ ُﻬ ْﻢ ِﻣ ْﻦ ِﺑ َﻼ ِﺩ ِﻩ ﺇِﻟَﻰ َﻏ ْﻴ ِﺮ َﻫﺎ ﻳَﺘ ِﺠ ُﺮ ِﻓﻴ َﻬﺎ، َﻭ ُﻳ َﻘﺎﺗَ َﻞ َﻋ ْﻨ ُﻬ ْﻢ َﻋ ُﺪ ُّﻭ ُﻫ ْﻢ،ﺻﺎﻟَ ُﺤﻮﺍ َﻋﻠَ ْﻴ َﻬﺎ َﻋﻠَﻰ ﺃَ ْﻥ ُﻳ َﻘ ُّﺮﻭﺍ ﺑِ ِﺒ َﻼ ِﺩ ِﻫ ْﻢ َ َﻭ،ﺍ ْﻟ ِﺠ ْﺰ َﻳ ُﺔ َ.َﻓ َﻌﻠَ ْﻴ ِﻪ ﺍﻟْ ُﻌ ْﺸ ُﺮ ]…[ َﻭ َﻫ َﺬﺍ ﺍﻟَّ ِﺬﻱ ﺃَ ْﺩ َﺭ ْﻛ ُﺖ َﻋﻠَ ْﻴ ِﻪ ِﻣﻦ ﺃَ ْﻫ َﻞ ﺍﻟْ ِﻌﻠْ ِﻢ ِﺑ َﺒﻠَ ِﺪﻧﺎ
23 Vgl. Daniel König, Bekehrungsmotive. Untersuchungen zum Christianisierungsprozess im römischen Westreich und seinen romanisch-germanischen Nachfolgern (4.–8. Jahrhundert), Husum 2008 (Historische Studien, 493), S. 405–413. 24 Lex Visigothorum XII,3,3, Flavius Ervigius rex, in: Liber iudiciorum sive Lex Visigothorum, hg. von Karl Zeumer (Monumenta Germaniae Historica Leges I, Leges nationum germanicum I: Leges visigothorum), Hannover 1902, S. 432. 25 Vgl. ebd., S. 405–413. 26 Zur Einführung ma¯likitischen Rechts vgl. Maribel Fierro, The Introduction of hadı¯th in al˙ Andalus, in: Der Islam 66 (1989), S. 68–93, hier S. 73f.; Eduardo Manzano Moreno, Conquistadores, emires y califas: Los omeyas y la formación de al-Andalus, Barcelona 2011 (Serie Mayor), S. 371.
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»[Yahya¯] überlieferte mir von Ma¯lik, dass ihn die Nachricht erreichte, dass ʿUmar bin ˙ ʿAbd al-ʿAzı¯z [Kalif, regn. 717–20] an seine Gouverneure schrieb, dass sie die gˇizyazahlende Bevölkerung von der gˇizya [Kopfsteuer für Nichtmuslime] befreien sollten, wenn sie Muslime würden. Ma¯lik sagte: Die Tradition (sunna) besagt, dass die Kopfsteuer (gˇizya) nicht von Frauen oder Kindern der Buchbesitzer [= Christen, Juden, Zoroastrier] und nur von Männern genommen wird, die die Pubertät erreicht haben. Weder die Schutzbefohlenen (ahl ad-dimma) noch die Magˇu¯s (Zoroastrier) müssen ¯ ¯ eine Abgabe (sadaqa) auf ihre Palmen, Rebstöcke, Getreide oder Vieh zahlen, weil diese ˙ nämlich den Muslimen zur Reinigung und zur Versorgung der Armen abgenommen wird, während die gˇizya den Buchbesitzern auferlegt wird, um sie klein zu halten. Solange sie sich in dem Landstrich (balad) aufhalten, wo sie auch den Unterwerfungsvertrag abgeschlossen haben, zahlen sie von ihren Besitztümern nichts außer der gˇizya. Wenn sie aber in anderen Gebieten Handel treiben und umherziehen – und hier gibt es Unstimmigkeiten [unter den Rechtsgelehrten], dann wird von den Waren, die sie mitführen, der Zehnte genommen. Dies deswegen, weil die gˇizya ihnen unter bestimmten, von ihnen ratifizierten Bedingungen auferlegt wurde, nämlich, dass sie in ihren Ländern bleiben und dass man gegen ihre Feinde Krieg führt. Wer also zu Handelszwecken aus seinem Land in ein anderes geht, muss daher den Zehnten zahlen […]. Das ist, was ich unter den Gelehrten unserer Heimat gesehen habe.«27
Den hier formulierten Normen zufolge haben also nichtmuslimische Männer eine Kopfsteuer namens gˇizya zu bezahlen, von der Frauen und Kinder befreit sind. Muslimen ist dagegen eine Vermögenssteuer namens sadaqa auferlegt. ˙ Diese ist von Nichtmuslimen nicht zu zahlen. Treiben sie allerdings außerhalb ihrer Heimatregion Handel, so schulden sie zusätzlich den Zehnten. Zwischen Muslimen und Nichtmuslimen besteht dabei eine Hierarchie: Die Kopfsteuer wird Nichtmuslimen auch abgenommen, »um sie klein zu halten.« Nichtmuslime genießen zwar den militärischen Schutz der Muslime, befinden sich aber infolge eines Unterwerfungsvertrages als Schutzbefohlene in einer Situation der Abhängigkeit. Ein Statuswechsel ist durch Konversion zum Islam möglich, der dann eine Art »Steuerklassenwechsel« von der gˇizya zur sadaqa bewirkt. ˙ Das hier beschriebene System reflektiert sicher kein gleichberechtigtes Nebenund Miteinander der verschiedenen religiösen Gruppen. Allerdings toleriert es einen hierarchisierten religiösen Pluralismus, der den Religionsgruppen unterschiedliche Rechte und Pflichten auferlegt. Nun lassen sich zahlreiche Beispiele anführen, in denen der Primat des Islam Opfer forderte oder der Rechtsstatus von Nichtmuslimen nicht respektiert wurde. Gerne angeführt werden etwa die
27 Ma¯lik b. Anas (gest. 179/795), al-Muwatta¯ʾ bi-riwa¯yatihi Yahya¯ al-Layt¯ı [Das den Weg eb¯ ˙˙ ya¯ al-Layt¯ı], hg. von˙ Abu¯ Usa¯ma nende Buch in der Nacherzählung von Yah Salı¯m bin ʿAbd al¯ ˙ Hada¯lı¯ as-Salafı¯, Alexandria 2003, Bd. 2, Buch 17 (kita¯b az-zaka¯t), hadı¯t 673 (45), S. 293–294, ˙ ¯ hier übers. von D. König.
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sogenannten »Märtyrer von Córdoba«28 oder das 1066 unter ziridischer Herrschaft an den Juden von Granada verübte Massaker.29 Gerade den nordafrikanischen Dynastien der Almoraviden und Almohaden, die zwischen 1086 und 1269 über Teile der Iberischen Halbinsel herrschten, wird zugeschrieben, dass sie die Rechte von Juden und Christen mit Füßen traten und so etwa für das Exil des jüdischen Philosophen Maimonides verantwortlich zeichneten, dessen Familie sich in den 1160ern allerdings auch wieder unter muslimische Herrschaft, nämlich nach Ägypten begab.30 Die folgende Quelle zeigt aber, dass es selbst unter diesen Bedingungen islamische Rechtsgelehrte gab, die bereit waren, die Rechte schutzbefohlener Religionsgruppen zu verteidigen. Dies zeigt eine etwa 1125 erlassene fatwa¯ eines gewissen Ibn al-Hagˇgˇ aus Córdoba, der sich in anderen Texten nicht unbedingt ˙ als Christenfreund gerierte. Sein Rechtsgutachten beschäftigt sich mit der Deportation christlicher Gruppen von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika, nachdem diesen Kollaboration mit den christlichen Mächten Spaniens vorgeworfen worden war. Der Rechtsgelehrte reagiert hier auf die Forderung der Deportierten, an den Orten des Exils eine Kirche bauen zu dürfen. Er befürwortet diese Forderung mit dem Hinweis darauf, dass ihnen das Recht auf Kultausübung aufgrund ihres Unterwerfungsvertrages und ihres Status als Schutzbefohlene zustehe. Bezüglich der Frage, ob sie Kirchenglocken erklingen lassen dürfen, verweist er auf einen innerislamischen Meinungsstreit, befindet ein Verbot unter den gegebenen Bedingungen aber gerechtfertigt: ﻫﺆﻻﺀ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﻭﺻﻔﻮﺍ: ﻓﺄﺟﺎﺏ،ﻣﺎ ﻃﻠﺒﻪ ﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺍﻟﺪﺍﺧﻠﻮﻥ ﻣﻦ ﺍﻟﻌﺪﻭﺓ ﻣﻦ ﺑﻨﺎﺀ ﺑﻴﻊ ﻭﻛﻨﺎﺋﺲ ﻓﻲ ﻣﻮﺿﻊ ﺍﺳﺘﻘﺮﺍﺭﻫﻢ ﻣﺒﺎﺡ ﻟﻜﻞ ﻃﺎﺋﻔﺔ ﻣﻨﻬﻢ، ﻭﺍﻟﻮﻓﺎﺀ ﻟﻬﻢ ﻭﺍﺟﺐ، ﻭﺫﻟﻚ ﻳﻘﺘﻀﻲ ﺛﺒﻮﺗﻬﻢ ﻋﻠﻰ ﻣﺎ ﺳﻠﻒ ﻟﻬﻢ ﻣﻦ ﺍﻟﻌﻬﺪ ﻭﺍﻟﻌﻘﺪ ﻣﻦ ﺍﻟﺬﻣﺔ،ﺑﺎﻟﻤﻌﺎﻫﺪﻳﻦ ﻷﻥ ﺃﻣﻴﺮ ﺍﻟﻤﺆﻣﻨﻴﻦ ﺃﻣﺮ ﺑﻨﻘﻠﻬﻢ ﻣﻦ ﺟﺰﻳﺮﺓ ﺍﻷﻧﺪﻟﺲ ﻟﻠﺨﻮﻑ، ﻭﻳﻤﻨﻌﻮﻥ ﻣﻦ ﺿﺮﺏ ﺍﻟﻨﺎﻗﻮﺱ،ﺑﻨﺎﺀ ﺑﻴﻌﺔ ﻭﺍﺣﺪﺓ ﻻﻗﺎﻣﺔ ﺷﺮﻳﻌﺘﻬﻢ ﻭﺗﻤﻴﺰﺕ ﻫﺬﻩ ﺍﻟﻤﺴﺄﻟﺔ ﻋﻤﺎ ﺍﺧﺘﻠﻒ ﺍﻟﻌﻠﻤﺎﺀ ﻓﻴﻬﺎ، ﻭﻫﻮ ﺍﻟﺼﺤﻴﺢ ﻋﻨﺪﻱ، ﻭﺭﺃﻳﺖ ﻟﺒﻌﺾ ﺍﻟﻤﺎﻟﻜﻴﻴﻦ ﻧﺤﻮﻩ.ﻣﻨﻬﻢ ﻭﺍﻟﺤﺬﺭ ﻟﻠﻤﺴﻠﻤﻴﻦ .ﻗﺪﻳﻤﺎً ﻭﺣﺪﻳﺜﺎً ﻣﻦ ﺍﻟﻤﺎﻟﻜﻴﻴﻦ ﻭﻏﻴﺮﻫﻢ ﻓﻠﻢ ﺃﺭ ﻟﺬﻟﻚ ﻻﺧﺘﻼﻓﻬﻢ ﻫﻨﺎ ﻭﺟﻬﺎً ﺍﻧﺘﻬﻰ »Was nun die Forderung der Christen vom [andalusischen] Ufer im Hinblick auf die Erbauung von Kirchen an ihren [nordafrikanischen] Ansiedlungsplätzen angeht, so antwortete er [Ibn al-Hagˇgˇ]: Diese Christen sind als Bevölkerungsgruppe mit Ver˙ tragsstatus (bi-l-muʿa¯hidı¯n) klassifiziert. Dies berechtigt sie permanent zum Genuss der Rechte, die ihnen vormals im Rahmen des Friedensvertrages und des Paktes der dimma ¯ zugestanden wurden. Damit ist die Einhaltung dieser Abmachungen ihnen gegenüber 28 Vgl. etwa Kenneth Baxter Wolf, Christian Martyrs in Muslim Spain, Cambridge 1988 (Cambridge Iberian and Latin American Studies); Jessica A. Coope, The Martyrs of Córdoba. Community and Family Conflict in an Age of Mass Conversion, Lincoln 1995. 29 Vgl. etwa Alejandro García Sanjuán, Violencia contra los judíos: el pogromo de Granada del año 459 H./1066, in: Maribel Fierro (Hg.), De muerte violenta. Política, religión y violencia en al-Andalus, Madrid 2004 (Estudios onomástico-biográficos de al-Andalus, 14), S. 167–206. 30 Vgl. Sarah Stroumsa, Maimonides in his World. Portrait of a Mediterranean Thinker, Princeton 2009 (Jews, Christians, and Muslims from the Ancient to the Modern World, 34), S. 53– 61.
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verpflichtend. Folglich ist es jeder Gruppe [deportierter Christen] erlaubt, eine Kirche zur Aufrechterhaltung ihres Kultes zu bauen. Allerdings wird ihnen verwehrt, ihre Kirchenglocken klingen zu lassen, da der [almoravidische] Beherrscher der Gläubigen ihre Deportation aus al-Andalus ja aus Angst vor ihnen und zum Schutz der Muslime befohlen hat. Ich habe mich diesbezüglich bei anderen Vertretern der ma¯likitischen Rechtsschule informiert, sodass mir das korrekt erscheint. Diese Frage ist allerdings besonders, sodass die Rechtsgelehrten unter Ma¯likiten und anderen diesbezüglich sowohl früher als auch heute Meinungsverschiedenheiten hatten. In diesem Falle sehe ich allerdings keinen Anlass zu Meinungsverschiedenheiten. Ende [des Rechtsgutachtens].«31
Die fatwa¯ macht deutlich, dass die Vorstöße nordiberischer Christen in den muslimischen Süden die Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen unter muslimischer Herrschaft nicht gerade vereinfachten. Ein weiterer Effekt dieser sogenannten Reconquista war zudem, dass nun zahlreiche Juden und Muslime unter christliche Herrschaft gerieten.32 Auch auf christlicher Seite lassen sich Gewalttaten, die Umweihung von Gotteshäusern, Vertragsbrüche usw. nachweisen. Grundsätzlich aber wurde bei der christlichen Herrschaftsübernahme das unter muslimischer Herrschaft praktizierte System der religiösen Hierarchisierung nun unter umgekehrten Vorzeichen fortgesetzt. Den muslimischen Bewohnern einer Region wurden dabei gewisse Rechte verbrieft, wie das folgende Schreiben des aragonesischen Königs Jakob I. an die Muslime der 1231 eroberten Baleareninsel Menorca zeigt: »Et nos, Jacobus, rex predictus, per nos et nostros heredes et nostros homines, promittimus vos omnes habitatores Minoricarum et singulos defendere et salvare et omnia bona vestra in terra et mari. Et per gratiam specialem et honorem quam vobis volumus facere, concedimus vobis quod nullus Christianus vel Judeus possit habitare continue in insula Minoricarum, nisi esset de voluntate vestra. Et propter hoc concedimus et confirmamus pro alfaqui super vos, in nostro loco, venerabilem et legalem alfaqui qui modo est ibi, nomine Aboabdille Abenixem, ut sit alfaqui in tota vita sua. Et post obitum ejus, liceat vobis eligere alfaqui de vobis aliis quem volueritis. Et sint semper alfaqui et alcayd et alcadi et almoxariff de vobis. Et quando elegeritis alfaqui, faciatis nobis scire per vestrum nuncium et litteras, causa ut confirmemus ipsum; et nos debemus mittere nuncium nostrum tunc, qui accipiat juramentum ab illo, ut servet vobis omnia supradicta.«
31 Al-Wansˇarı¯sı¯, Al-Miʿya¯r al-muʿrib wa-l-gˇa¯miʿ al-mug˙rib ʿan fata¯wa¯ ahl Ifrı¯qiyya wa-l-Andalus wa-l-Mag˙rib [Die klare Richtlinie und die weitreichendste Sammlung von Rechtsgutachten der Leute von Ifrı¯qiya, von al-Andalus und des Maghreb], hg. von Muhammad Hagˇgˇ¯ı ˙ u. a., 13 Bde., Rabat 1981–1983, Bd. 2, S. 215–16, hier übers. von D. König. ˙ 32 Vgl. Brian A. Catlos, Muslims of Medieval Latin Christendom ca. 1050–1614, Cambridge 2015, v. a. S. 49–89 zur Periode der von Pragmatismus gekennzeichneten Unterwerfung, dann S. 163–227, sowie S. 281–308 zu den sich verschärfenden Bedingungen für Muslime auf der Iberischen Halbinsel.
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»Und wir, Jakob, der vorhergenannte König, versprechen euch durch uns, unsere Erben und unsere Leute, dass wir euch, die Einwohner von Menorca sowohl als Gruppe wie auch als Einzelpersonen verteidigen und erretten, ebenso wie eure Besitztümer an Land und im Meer. Aufgrund der besonderen Gnade und Ehre, die wir euch erweisen wollen, gestatten wir euch, dass kein Christ oder Jude dauerhaft auf der Insel Menorca wohnen kann, es sei denn, es geschehe mit eurem Willen. Dazu ernennen und bestätigen wir einen faqı¯h [Rechtsgelehrten] an unserer Stelle über Euch, einen ehrenwerten und rechtskräftigen faqı¯h, in diesem Falle namens Abu¯ ʿAbd Alla¯h bin Hisˇa¯m, der sein gesamtes Leben euer faqı¯h sein soll. Nach seinem Tod ist es euch erlaubt, einen neuen faqı¯h aus euren Reihen zu wählen, der euch beliebt. Immer werden der faqı¯h, der qa¯ʾid [Führer], der qa¯d¯ı [Richter] und der musˇrif [Aufseher] von euch gestellt. Und wenn ihr ˙ einen faqı¯h wählt, dann lasst es uns durch euren Boten und eure Schreiben wissen, damit wir dies bestätigen können. Dann müssen wir unseren Boten schicken, der von jenem einen Schwur entgegennimmt, damit er euch in allen oben genannten Dingen dient.«33
Das Schreiben macht nicht nur deutlich, dass die interne Organisation der Muslime Menorcas nach der Eroberung zunächst unberührt blieb. Jakob I. gesteht den Muslimen der Insel sogar zu, dass »kein Christ oder Jude dauerhaft auf der Insel Menorca wohnen kann, es sei denn, dies geschehe mit Eurem Willen.« Sein Entgegenkommen war sicher auch der Tatsache geschuldet, dass sich eine Insel schlecht kontrollieren ließ. Festzuhalten ist dennoch, dass christliche Herrscher der Iberischen Halbinsel den muslimischen Bevölkerungen eroberter Gebiete einen ähnlichen Status zugestanden wie vormals die Muslime den Juden und Christen.34 Diese Phase der hierarchisierten Convivencia unter christlicher Herrschaft dauerte, je nach Region, fast vierhundert Jahre. Noch bei der Eroberung Granadas, des letzten muslimischen Herrschaftsgebietes, im Jahre 1492, wurde den dortigen Muslimen die freie Ausübung ihres Kultes zugesichert. Die gemachten Zugeständnisse wurden im Laufe der nächsten zehn Jahre aber nicht nur schrittweise zurückgenommen. Die verbliebenen Muslime wurden außerdem gezielt missionarischen Bemühungen ausgesetzt,35 wie ein 1505 von Pedro de Alcalá veröffentlichtes Lehrbuch der des granadinisch-arabischen Dialekts zeigt. Das Werk ist dem Erzbischof von Granada, Hernando de Talavera (sed. 1492–
33 Louis de Mas Latrie, Traités de paix et de commerce et documents divers concernant les relations des chrétiens avec les Arabes de l’Afrique septentrionale au moyen âge, 2 Bde., Paris 1866 / 1872, Bd. 1, S. 183, hier übers. von D. König. 34 Vgl. hierzu ausführlich Catlos, Muslims of Medieval Latin Christendom, S. 520–522, der v. a. mit dem Begriff der conveniencia, d. h. Zweckmäßigkeit, operiert. 35 Vgl. David Coleman, Creating Christian Granada. Society and Religious Culture in an OldWorld Frontier City, 1492–1600, Ithaca/NY 2003.
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1507), gewidmet und sollte kastilische Missionare sprachlich bei der Konversion der granadinischen Muslime unterstützen.36 Offiziell gab es um 1505 allerdings kaum noch Muslime in Granada. Das im Folgenden zitierte königliche Edikt von 1502 hatte nämlich entweder deren Konversion oder – im Falle einer Weigerung – deren Ausweisung angeordnet und damit die 1492 im sogenannten »Alhambra-Edikt« schon gegenüber Juden getroffenen Maßnahmen reproduziert:37 »aviendo avido sobre ello mucha deliberacion, acordamos de mandar salir à todos los dichos Moros, i Moras destos nuestros Reinos de Castilla, i Leon, i que jamás tornen, ni buelvan à ellos alguno dellos, i sobre ello mandamos dàr esta nuestra Carta, por la qual mandamos à todos los Moros de catorce años arriba, i à todas las Moras de doce años arriba, que viven, i moran, i estàn en los dichos nuestros Reinos, i Señorìos de Castilla, id e Leon, assi naturales dellos como à los no naturales, que en qualquier manera, i por qualquier causa ayan venido, i estèn en ellos, excepto los Moros captivos con tanto que traigan hierros, porque sean conoscidos, que hasta en fin del mes de Abril deste presente año de quinientos i dos, salgan de todos los dichos nuestros Reinos, i Señorìos […].« »nachdem wir diesem Thema viele Gedanken gewidmet haben, haben wir beschlossen, allen erwähnten männlichen und weiblichen Mauren zu befehlen, unsere Königreiche von Kastilien und León zu verlassen, auf dass keiner von ihnen jemals umkehre und keiner von ihnen jemals dahin zurückkehre. Zu dem Thema befehlen wir außerdem mit diesem Gesetz, dass alle männlichen Mauren über vierzehn Jahren und alle weiblichen Mauren über zwölf Jahren, die in unseren erwähnten Königreichen und Herrschaftssitzen von Kastilien und León leben und verweilen, seien sie dort geboren und aufgewachsen oder auch nicht und egal, aus welchem Grund sie gekommen sind und dort verweilen, bis zum Ende des Monats April dieses Jahres [1]502 unsere erwähnten Königreiche und Herrschaftssitze verlassen – mit Ausnahme der maurischen Gefangenen, die Eisen tragen, damit sie erkannt werden.«38
Die Edikte von 1492 und 1502 stehen damit für den Willen der Königin Isabella von Kastilien, den bisher existierenden religiösen Pluralismus zugunsten einer vollständigen Christianisierung Spaniens aufzugeben. Die Ausweisung der Muslime wird mit den Schwierigkeiten eines Neben- und Miteinanders von Muslimen und (ehemals muslimischen) Konvertiten zum Christentum begründet.39 Die im Islam verharrenden Muslime werden als Gefahr für die Neukon36 Petrus Hispanus, De lingua arabica libri duo, hg. von Paul de Lagarde, Göttingen 1883. 37 Georg Bossong, Die Sepharden. Geschichte und Kultur der spanischen Juden, 2., durchgesehene Aufl., München 2016 (Beck’sche Reihe, 2438), S. 45–57. 38 Leyes de recopilacion, hg. von Real Compañia de Impresores, y Libreros del Reino, Bd. 2, Madrid 1772, Buch 8, Titulus 2: »De los Judios, i Moros, i rescatados, Gazis, i Mudexares, i Christianos nuevos«, Gesetz IV: »Que los Moros salgan del Reino de Castilla, i de Leon, i la maneracomo ban de quedar los Moros captivos«, S. 318f., hier übers. von D. König. 39 Ebd., S. 318: »el gran escandalo, que ai assi cerca de los nuovamente convertidos […].«
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vertierten,40 alle anderen Christen,41 und gar für die öffentliche Ordnung gebrandmarkt.42 Daher halte man es für angemessen, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, selbst wenn damit auch friedliche Muslime betroffen seien, die ein ruhiges Leben führten. Es sei besser, vorausschauend zu handeln, als später mit zahlreichen Delikten konfrontiert zu sein.43 Klarer lässt sich kaum formulieren, dass man ein Zusammenleben verschiedener Religionsgruppen für nicht mehr möglich hielt. Nach etwa 800 Jahren des jüdisch-christlich-muslimischen Zusammenlebens auf der Iberischen Halbinsel wurde damit dem Gesellschaftsmodell des hierarchisierten religiösen Pluralismus eine deutliche Absage erteilt. Das Ausweisungsedikt von 1502 galt nur für Kastilien. Die Muslime der Krone Aragon wurden etwa zwanzig Jahre später ausgewiesen. Aber auch danach lebten noch Muslime auf der Iberischen Halbinsel.44 Wenn diese allerdings keine Kriegsgefangenen oder Sklaven waren, mussten sie ihren Glauben verschleiern und vorsichtig im Umgang mit der arabischen Sprache sein. Einen Einblick in diese Lebenswelt gibt der Traktat eines gewissen Ahmad b. Qa¯sim, der Ende des ˙ 16. Jahrhunderts als Kryptomuslim auf der Iberischen Halbinsel aufwuchs und dort heimlich Arabisch lernte, bevor er um 1599 nach Nordafrika floh: :ﻭﻛﻨﺖ ﺍﺣﻀﺮ ﻣﻌﻬﻤﺎ ﻭﻟﻢ ﻧﻈﻬﺮ ﻟﻠﻨﺼﺮﺍﻧﻲ ﺃﻧﻨﻲ ﻧﻘﺮﺃ ﺑﺎﻟﻌﺮﺑﻴﺔ ﻟﻤﺎ ﻛﺎﻧﻮﺍ ﻳﺤﻜﻤﻮﻥ ﻓﻴﻤﻦ ﻇﻬﺮ ﻋﻠﻴﻪ ﺫﻟﻚ ]…[ ﻗﻠﺖ ﻓﻲ ﻧﻔﺴﻲ ﻛﻴﻒ ﺍﻟﺨﻼﺹ ﻭﺍﻟﻨﺼﺎﺭﻯ ﺗﻘﺘﻞ ﻭﺗﺤﺮﻕ ﻛﻞ ﻣﻦ ﻳﺠﺪﻭﻥ ﻋﻨﺪﻩ ﻛﺘﺎﺑﺎً ﻋﺮﺑﻴﺎً ﺍﻭ ﻳﻌﺮﻓﻮﻥ ﺍﻧﻪ ﻳﻘﺮﺃ ﺑﺎﻟﻌﺮﺑﻴﺔ؟ ﻭﺍ ّﻣﺎ ﻣﺎ ﺫﻛﺮﻧﺎ ﻣﻦ .[…] ﺍﻟﻤﺘﺮﺟﻤﻴﻦ ﺍﻷﻧﺪﻟﺲ ﻓﻜﺎﻧﻮﺍ ﺷﻴﻮﺧﺎُ ﻭﻳﺴﺘﻌﺬﺭﻭﻥ ﺑﺄﻧﻬﻢ ﺗﻌﻠﻤﻮﺍ ﺍﻟﻘﺮﺍﺀﺓ ﺑﺎﻟﻌﺮﺑﻴﺔ ﻓﻲ ﺻﻐﺮﻫﻢ ﺑﻘﺮﺏ ﻋﻬﺪ ﺍﻻﺳﻼﻡ »Ich war in ihrer Gesellschaft [d. h. eines Priesters und eines offiziellen arabischen Dolmetschers], aber hatte dem Christen nicht gezeigt, dass ich Arabisch lesen konnte, wegen der Strafe, mit der sie diejenigen belegen, die dies zu können scheinen […]. Ich sagte mir selbst: Wie soll ich mich retten, wenn doch die Christen jeden töten und verbrennen, bei dem sie ein arabisches Buch finden oder von dem sie wissen, dass er Arabisch liest? Was die genannten andalusischen Dolmetscher angeht: Sie waren alte 40 Ebd.: »i que assi ai mucho peligro en la comunicacion de los dichos Moros de los nuestros Reinos con los nuovamente convertidos, i sera causa que los nuovamente convertidos sean atraìdos, è inducidos à quedexen nuestra Fè, i se tornen à los errores primeros.« 41 Ebd.: »considerando asimismo como la mayor causa de la subversion de muchos Cristianos.« 42 Ebd.: »podria seguir en daño della cosa publica […].« 43 Ebd.: »i porque es mejor prevenir con el remedio, que esperar de castigar los yerros despues de hechos, i cometidos los delitos, i porque quando algun escandalo, ò peligro ai de su estada, i necessidad de su salida, ò expulsion, aunque sean pacificos, i vivan quietaments es razon que se an expelidos de los Pueblos.« 44 Zu den verschiedenen Vertreibungen vgl. Ángel Alcalá Galve (Hg.), Judíos, Sefarditas, Conversos. La expulsión de 1492 y sus consecuencias, ponencias del congreso internacional celebrado en Nueva York en noviembre de 1992, Valladolid 1995; Serafín Fanjul (Hg.), De mudéjares a moriscos. Una conversión forzada, Actas del VIII Simposio Internacional de Mudéjarismo, Teruel, 15–17 de septiembre de 1999, 2 Bde., Teruel 2002; Mercedes GarcíaArenal / Gerard A. Wiegers (Hg.), The Expulsion of the Moriscos from Spain. A Mediterranean Diaspora, Leiden 2014 (Modern Iberian World, 56).
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Männer und hatten die Ausrede, dass sie Arabisch in ihrer Jugend, kurz nach der islamischen Periode gelernt hatten.«45
Anders als die ältere Generation von Kryptomuslimen, die das Arabische noch frei gelernt hatte, musste Ahmad b. Qa¯sim seine Arabischkenntnisse verschleiern ˙ – aus Angst vor einer Inquisition, die »jeden töten und verbrennen, bei dem sie ein arabisches Buch finden oder von dem sie wissen, dass er Arabisch liest.« Zwar kam es Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts tatsächlich zu Bücherverbrennungen.46 Inquisitionsakten des 16. Jahrhunderts aus Valencia zeigen allerdings, dass die Inquisition vor allem nach religiösem Schrifttum auf Arabisch suchte, den Besitz nichtreligiöser arabischer Dokumente wie Verträge, Notariatsakten usw. aber nicht bestrafte.47 Dennoch ist klar, dass Ahmad b. ˙ Qa¯sim in einem gesellschaftlichen Klima aufwuchs, in dem jede Verbindung mit dem Islam potenziell gefährlich war.
4
Fazit
Ziel dieses Aufsatzes war es, das Konzept Convivencia kritisch zu beleuchten. Zunächst wurde gezeigt, wie ein ursprünglich neutraler Begriff im Rahmen einer innerspanischen Debatte um das historische Wesen Spaniens zu einem Konzept aufstieg, das die friedlichen und fruchtbaren Aspekte des Zusammenlebens von Juden, Christen und Muslimen unter muslimischer Herrschaft hervorhebt. Dieses Konzept wurde dann unterschiedlich rezipiert. Im europäisch-transatlantischen Kontext wurde es Bestandteil der polemisch geführten Multikulturalismus- und Islamdebatte; im arabischen Kontext spielt es eigentlich keine Rolle, weil hier angesichts der Vertreibungen von Juden und Muslimen die größere Toleranz der islamischen Herrschaftsperiode als offensichtlich gilt. In allen Fällen wird deutlich, dass die historische Auseinandersetzung mit Convivencia eng mit der Zuweisung historischer Täter- und Opferrollen verbunden ist. Anhand der Quellenbeispiele wurde dann in groben Zügen nachgezeichnet, in welchen Phasen iberischer Religionsgeschichte welche Vorstellungen zum Zu45 Ahmad b. Qa¯sim al-Hagˇarı¯ (gest. nach 1640), Kita¯b Na¯sir al-dı¯n ʿala l-qawm al-ka¯firı¯n / The ˙ ˙ Supporter of Religion˙ Against the Infidels, hg. / übers. von. Pieter S. van Koningsveld, Qasim al-Samarrai, Gerard Wiegers, 2. Aufl., Madrid 2015 (Fuentes arábico-hispanas, 35), S. 23f. (AR), S. 87–89 (EN), hier übers. von D. König. Die grammatischen Fehler des arabischen Textes entsprechen dem Original. 46 Vgl. José Martínez Gázquez, The Attitude of the Medieval Latin Translators Towards the Arabic Sciences, Florenz 2016 (Micrologus’ Library, 75), S. 177–180. 47 Ana Labarta, Notas sobre algunos traductores de árabe en la inquisición valenciana (1565– 1609), in: Revista del Instituto Egipcio de Estudios Islámicos en Madrid 21 (1981–1982), S. 101–133.
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sammenleben verschiedener Religionsgruppen dominierten. Die letzte Periode westgotischer Herrschaft war dabei von einer starken antijüdischen Politik geprägt; die Periode muslimischer und früher christlicher Herrschaft stand dagegen im Zeichen eines hierarchisierten religiösen Pluralismus; in der Periode der Vertreibungen setzten christliche Herrscher über ganz Spanien diesem Pluralismus ein Ende. Die Gegenüberstellung dieser Phasen macht die Handlungsspielräume mittelalterlicher Religionspolitik auf der Iberischen Halbinsel deutlich. Ein hierarchisierter religiöser Pluralismus war sowohl unter christlicher als auch unter muslimischer Herrschaft möglich. Über die tatsächlichen Bedingungen jüdischchristlich-muslimischen Zusammenlebens sagt dies zunächst wenig aus, wurden diese ja von der jeweiligen gesellschaftlichen Konstellation geprägt. Schaut man aber weniger auf die variantenreichen Einzelkonstellationen oder die von beiden Seiten verübten Gewalt- und Zwangsmaßnahmen, sondern auf die systemischen Voraussetzungen, so stellt man Folgendes fest: Die Iberische Halbinsel des Mittelalters, ob unter christlicher oder islamischer Herrschaft, kannte weder Religionsfreiheit noch eine Gleichberechtigung verschiedener religiöser Gruppen, durchaus aber einen hierarchisierten religiösen Pluralismus. Dieser war auf islamischer Seite durch islamisches Recht abgesichert, sodass muslimische Herrscher zumindest in der Theorie eine hierarchisierte religiöse Vielfalt akzeptieren mussten. Christliche Herrscher scheinen normativ-rechtlich weniger stark gebunden und hatten vielleicht größere Freiheiten, sich zwischen einem hierarchisierten religiösen Pluralismus oder einem religiösen Konformitätsmodell zu entscheiden. Auch vor diesem Hintergrund sind die radikalen Entscheidungen gegen das Pluralismus- und für das Konformitätsmodell zu sehen, die nach etwa 400 Jahren der Convivencia unter christlicher Herrschaft gefällt wurden. Für den Geschichtsunterricht entbehrt das Thema Convivencia nicht der Aktualität. Seine Aufarbeitung sollte sowohl vermeiden, vermeintliche Grundcharakteristika von Christentum oder Islam zu definieren, verzerrte Schreckensoder Wunschbilder zu zeichnen, und vor allem historische Täter- und Opferrollen zu aktualisieren. Sinnvoll erscheint es vielmehr, anhand des Begriffes und seiner unterschiedlichen Rezeption herauszuarbeiten, dass jüdisch-christlichmuslimische Beziehungen immer aus verschiedenen, auch widersprüchlichen Perspektiven gesehen werden können und müssen. Last but not least, lässt sich anhand des Themas hervorragend diskutieren, auf welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen die Akzeptanz von religiösem Pluralismus aufbaut, in welchen Formen er sich organisieren lässt und welche Folgen der Versuch seiner Abschaffung zeitigen kann.
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Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Quellen
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2.
Beiträge auf Youtube
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Teil III: Christen und Muslime: Kontakte und Konflikte in der Frühen Neuzeit
Arne Karsten
Feindbild oder Vorbild? Die Führungselite des Osmanischen Reichs und ihre Wahrnehmung durch die venezianischen Botschafter im Konstantinopel des 16. Jahrhunderts
Von den christlichen Staaten Europas unterhielt keiner so früh und so intensiv diplomatische Beziehungen zum Osmanischen Reich wie die Republik Venedig. Mit der Einnahme Konstantinopels 1453 durch Sultan Mehmed II. »der Eroberer« (1432–1481) wurde die Kontaktpflege mit den neuen Herren am Bosporus für die auf ungestörte Handelsverbindungen mit dem östlichen Mittelmeerraum auf Gedeih und Verderb angewiesene Seerepublik am Nordrand der Adria zu einer Lebensfrage.1 Dementsprechend entsandten die Venezianer schon bald einen ständigen Botschafter, bailò genannt, zur Vertretung ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen an die Hohe Pforte. Diese Botschafter waren gehalten, in regelmäßigen Abständen über ihre Eindrücke in Konstantinopel zu berichten. Da es sich bei den Inhabern dieses Amtes durchgängig um angesehene und diplomatisch erfahrene Angehörige der venezianischen Aristokratie handelte, zählen ihre Depeschen vom Bosporus zu den aussagekräftigsten Dokumenten, die wir aus der Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts über die Wahrnehmung der osmanischen Politik, Gesellschaft und Kultur aus der Perspektive christlicher Zeitgenossen besitzen.2 Im Folgenden wird es darum gehen, das in einigen dieser Berichte entworfene Bild jener Wesire zu schildern, die als engste Berater des Sultans maßgeblichen Einfluss auf die Politik des Osmanischen Reiches besaßen. 1 Einen guten Überblick über das venezianisch-osmanische Verhältnis bietet Paolo Preto, Venezia e i turchi, Florenz 1975 (Pubblicazioni della Facoltà di Magistero dell’Università di Padova, 20); mit Blick besonders auf die wirtschaftlichen Austauschprozesse perspektivreich Francesca Lucchetta (Hg.), Veneziani in Levante, musulmani a Venezia, Rom 1997 (Quaderni di studi arabi, 15); zur venezianischen Präsenz in Konstantinopel grundlegend Eric R. Dursteler, Venetians in Constantinople. Nation, Identity and Coexistence in the Early Modern Mediterranean, Baltimore 2006 (The Johns Hopkins University studies in historical and political science, 124,2). 2 Zu den venezianischen Botschafterberichten aus Konstantinopel einführend Paolo Preto, Le relazioni dei bali veneziani a Costantinopoli, in: Il Veltro 23 (1979), S. 125–130. Sie sind bereits im 19. Jahrhundert ediert worden: Eugenio Albèri (Hg.), Le Relazioni degli ambasciatori veneti al senato durante il secolo decimosesto, Serie III, Bde. 1–2, Florenz 1840 / 1844; zu weiteren Editionen s. Alessandro Barbero, Lepanto. La battaglia dei tre Imperi, Bari / Rom 2010, S. 748.
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Zuvor jedoch soll in knapper Form die Erfolgsgeschichte dieses Reiches skizziert werden, ebenso wie die gesellschaftliche Herkunft der Wesire als politischer Führungselite.3 Der Name des Osmanischen Reiches geht zurück auf Osman (um 1258–1326), Chef eines nomadischen Stammesverbands, der zu Beginn des 14. Jahrhunderts von der Auflösung des Seldschukenreichs in Kleinasien profitierte. In der Folgezeit, dem späten 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts folgte das Ausgreifen der Osmanen nach Westen, im Kampf gegen die Überreste der einstigen Hegemonialmacht im östlichen Mittelmeerraum, jenes Oströmischen Reiches, dessen Hauptstadt Konstantinopel dann 1453 von Sultan Mehmed II. erobert wurde. Auch danach setzte sich die Expansion der Osmanen mit staunenerregender Geschwindigkeit fort. Allein Sultan Suleiman »der Prächtige« (1494/96–1566), von seinen Untertanen aufschlussreicherweise »der Gesetzgeber« genannt, führte in den langen 46 Jahren seiner Herrschaft zwischen 1520 und 1566 nicht weniger als dreizehn große Feldzüge. Unter ihm erfolgte 1522/23 die Eroberung der bisher dem Kreuzritterorden der Johanniter gehörenden Mittelmeerinsel Rhodos. Nur drei Jahre später schlug der Sultan dann 1526 in der Schlacht bei Mohács ein ungarisches Ritterheer unter dessen König Ludwig II. (1506–1526) so vernichtend, dass damit die politische Unabhängigkeit Ungarns für zwei Jahrhunderte endete. Ofen und Pest, später zur heutigen ungarischen Hauptstadt Budapest zusammengewachsen, wurden zu Städten unter osmanischer Hoheit, wie es zuvor schon Belgrad geworden war. 1529 stand das Heer Suleimans bereits vor den Toren Wiens, dessen Belagerung zwar erfolglos abgebrochen werden musste, jedoch mit einem Waffenstillstand endete, der die osmanische Herrschaft über den größten Teil des Balkans festschrieb. Suleiman konnte daraufhin seine Aufmerksamkeit dem Osten zuwenden. Im Kampf gegen die schiitischen Perser, mit denen die sunnitischen Osmanen in Glaubensfragen womöglich noch erbitterter verfeindet waren als mit den Christen, gelang Suleiman ein historischer Triumph durch die Eroberung Bagdads 1534. Vier Jahre später bewies das Osmanische Reich, dass es inzwischen auch als Seemacht zu fürchten war: 1538 siegten die Admirale Suleimans in der Seeschlacht bei Prevesa über die Flotte einer christlichen Liga zwischen Kaiser Karl V. (1500–1558), der Republik Venedig und Papst Paul III. (1434–1549). Der 3 Zuverlässige Einführungen in die Geschichte des Osmanischen Reichs bieten Klaus Kreiser, Der osmanische Staat 1300–1922, 2., aktualisierte Aufl., München 2008 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 30) sowie Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, 7. Aufl., Darmstadt 2012; einen auch erzählerisch glänzenden Überblick bietet Alessandro Barbero, Il divano di Istanbul, Palermo 2015 (La memoria, 997); zum Verhältnis zwischen dem Osmanischen Reich und dem christlichen Abendland in der Frühen Neuzeit Daniel Goffmann, The Ottoman Empire and Early Modern Europe, Cambridge 2002.
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vorletzte Feldzug unter Suleiman sollte 1565 zur Eroberung der Insel Malta führen, die nach dem Verlust von Rhodos als Sitz der Johanniter (nun bald auch »Malteser«-Orden genannt) diente, doch scheiterte die Invasion unter schwersten Verlusten auf beiden Seiten. Schon im Jahr darauf rückte der Sultan mit seinem gefürchteten Heer erneut ins Feld, dieses Mal wieder in Richtung Norden, wo er den letzten Rest Ungarns unterwerfen wollte, jedoch bei der Belagerung der Festung Szigetvar starb. Ein großer Mann also, Suleiman der Prächtige, groß nicht nur als Feldherr und Gesetzgeber, sondern auch als Bauherr: die von ihm in Auftrag gegebene und in der Rekordzeit von gerade einmal sieben Jahren zwischen 1550 und 1557 errichtete Suleiman-Moschee (»Süleymaniye«) zählt bis heute zu den herausragenden architektonischen Sehenswürdigkeiten Istanbuls. Doch die Quelle seines Ruhms bildeten die vielen und fast immer siegreichen Feldzüge. Damit stellt sich die Frage nach den Gründen für den so aufsehenerregenden Erfolg der osmanischen Expansion, die ja dazu führte, dass in nicht einmal zwei Jahrhunderten aus dem bescheidenen Kontrollbereich eines vorderasiatischen Nomaden-Clans ein Großreich entstand, das den gesamten östlichen Mittelmeerraum umfasste. Getragen wurde die Expansion von einer Kriegerkaste, die im Gegensatz zum Feudaladel des christlichen Abendlands, der sich ja ebenfalls als Militäraristokratie verstand, für ihre Leistungen im Felde zwar mit Einkünften aus Grundbesitz, aber nicht mit dem Grundbesitz selbst belohnt wurde.4 Mit anderen Worten: die »spahi«, berittene Krieger, wurden für ihre erfolgreichen Dienste mit den Einkünften aus den sogenannten »timar«-Lehen bezahlt, die ihnen jedoch durch den Sultan jederzeit wieder entzogen werden konnten und zudem nicht erblich waren. Die Folge dieses grundsätzlichen Unterschieds zum erblichen Feudalbesitz im christlichen Europa liegt auf der Hand: nicht nur jede neue Generation musste sich im Kriegsdienst neu bewähren, es galt auch, auf immer neuen Feldzügen die Gunst des Sultans zu bewahren und zudem dafür zu sorgen, dass neue Lehen und Tribute zur Verteilung an die siegreichen Militärs kamen. Die Inhaber der timar-Lehen waren nur an den Einkünften ihrer Pfründen interessiert, besaßen jedoch keine Gerichtshoheit über die den Boden bewirtschaftenden Bauern. Entsprechend gering war das Interesse der Spahi an der bäuerlichen Landbevölkerung, der man es denn konsequenterweise in den unterworfenen Regionen des Balkans auch gestattete, bei ihrem christlichen
4 Zur Struktur des osmanischen Militärwesens bietet einen knappen Überblick Matuz, Das Osmanische Reich, S. 98–103. Grundlegend Rhoads Murphey, Ottoman Warfare 1500–1700, London 1999.
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Glauben zu bleiben, wenn sie nur pünktlich ihre Abgaben an den Spahi zahlten.5 Die großmütige Duldung der Ungläubigen hatte zudem den Vorteil, dass man für diese Duldung eine besondere Kopfsteuer von ihnen einziehen konnte. Schließlich aber brachte sie ein Phänomen hervor, dass zu den eigenartigsten Charakteristika der osmanischen Herrschaft im 16. und 17. Jahrhundert zählte: die Knabenlese (»devsirme«). Was verbirgt sich hinter diesem Begriff ? Das Wesentliche ist schnell erklärt: Im Rhythmus von vier oder fünf Jahren zogen Abgesandte des Sultans durch die christlichen Gemeinden Griechenlands, Bosniens, Albaniens, Bulgariens und ab 1526 auch Ungarns, um unter den sieben- bis vierzehnjährigen christlichen Kindern diejenigen auszuwählen, die aufgrund von Aussehen, Verstand und Bildung besonders geeignet erschienen, dem Sultan zu dienen. Im Schnitt jeder 40. Knabe, in Kriegszeiten oft auch mehr, wurde dann nach Konstantinopel mitgenommen, wobei es die Amtsträger des Sultans aus naheliegenden Gründen vermieden, Kinder der einflussreichen Dorfbewohner und Dorfvorsteher sowie der orthodoxen Priester auszusuchen. Auch erstgeborene Söhne waren im Allgemeinen von der Knabenlese ausgenommen.6 Teilweise wurden die im Rahmen der »Knabenlese« zusammengekommenen Kinder nach der Ankunft in Konstantinopel zunächst als Sklaven zur Feldarbeit vermietet, teilweise als persönliche Sklaven des Sultans in dessen Harem erzogen. Da sie nunmehr zum persönlichen Eigentum des Sultans gehörten und also dem Sachenrecht unterlagen, konnte dieser nach Belieben über sie verfügen. Das hatte zur Folge, dass die Jungen zunächst einmal beschnitten wurden und zum Islam konvertierten. In der Folgezeit wurden sie nach den Prinzipien strengster Disziplin erzogen. Die meisten von ihnen dienten später entweder als Spahi, jene Reiter-Soldaten, die das Rückgrat des osmanischen Heeres bildeten, oder im Palastdienst. Die körperlich besonders tüchtigen hingegen wurden zu sogenannten Janitscharen. Diese Janitscharen stellten eine Elitetruppe dar, nicht einmal so sehr wegen ihrer Ausrüstung (obwohl sie relativ bald schon mit den modernen Feuerwaffen, den Arkebusen, ausgestattet wurden), sondern vor allem wegen ihres außerordentlichen Kampfgeistes. Aufgrund ihrer völligen Rücksichtslosigkeit sich selbst wie dem Feind gegenüber waren sie bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein der Schrecken der christlichen, aber auch persischen Gegner. Insgesamt umfasste das Janitscharen-Korps im 16. Jahrhundert um die 12.000 Mann. Das 5 Zur osmanischen Herrschaft über die christlichen Balkangebiete vgl. Bartolomé Bennassar / Lucile Bennassar, I cristiani di Allah. La straordinaria epopea dei convertiti all’islamismo nei sec. 16 e 17, Mailand 1991. 6 Zum System der Knabenlese bietet einen differenzierten Überblick Barbero, Il Divano, S. 90– 97; vgl. auch Colin Imber, The Ottoman Empire 1300–1650. The Structure of Power, New York 2002, S. 134–142.
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war insofern bemerkenswert, als wir es hier mit einer stehenden Truppe zu tun haben, anders als im christlichen Abendland, wo es bis zum 17. Jahrhundert dauern sollte, ehe es die ersten stehenden Heere gab, also größere Militäreinheiten, die dauerhaft im Dienst standen, statt nur bei Bedarf im Kriegsfall angeworben zu werden. Auch die Existenz einer so fortschrittlichen Einrichtung wie des Janitscharen-Korps liefert eine wichtige Erklärung für die Erfolgsgeschichte der osmanischen Expansion im 16. Jahrhundert: Denn die Janitscharen wollten ja bezahlt und unterhalten werden. Ersteres, die Besoldung, konnte angesichts der wie überall so auch in Konstantinopel knappen regulären Einnahmen des Herrschers nur dann gesichert werden, wenn regelmäßig Tribute unterworfener Nachbarn eingingen. Und da niemand freiwillig Tribute zahlte, mussten jene Nachbarn des Osmanischen Reichs, die sich, wie etwa die Republik Venedig, friedliche Nachbarschaft zeitweilig mit Tributzahlungen erkauften, gelegentlich handgreiflich daran erinnert werden, diese Zahlungen nicht zu vergessen. Aber auch wenn die Besoldung der Soldaten eintraf, blieb sie doch stets recht kümmerlich, verglichen mit den Aussichten auf die Beute, die bei einem Kriegszug gegen die Ungläubigen winkte. Die schiere Existenz des JanitscharenKorps als einer kampferprobten und jederzeit kampfbereiten Elite-Einheit übte insofern auf die Sultane des 16. Jahrhunderts einen permanenten Druck aus, Krieg zu führen. Und zwar nicht nur implizit, sondern explizit, will sagen: die Janitscharen forderten diesen Krieg sehr bald nach Regierungsantritt eines neuen Herrschers.7 Aus ihrer Perspektive lässt sich diese Forderung nach einem idealerweise permanenten Kriegszustand durchaus verstehen, da sie als ehelose Sklaven Aussicht auf Ruhm und Aufstieg nur im Kriegsdienst besaßen. Die begabtesten unter den Knabenlese-Kindern aus den christlichen Untertanengebieten dienten allerdings keineswegs dauerhaft als Soldaten, sondern wurden bald unter den Augen des Sultans erzogen und dabei auf höhere Aufgaben vorbereitet. Ihrer bedienten sich die Herren der Hohen Pforte nämlich später bei der Besetzung der höchsten Verwaltungs- und Regierungsämter. So entstammten diesem Kreis die wichtigsten Berater des Sultans, wenn man so will, sein Kabinett, nämlich jene fünf Wesire, die zusammen den Diwan bildeten. Dieser Diwan tagte vier Mal in der Woche: Samstag, Sonntag, Montag und Dienstag; an seiner Spitze stand der Groß-Wesir. An den Sitzungen des Diwans nahmen die Sultane seit der Zeit Selims II. (1524–1574) in der Regel nicht mehr persönlich teil, doch konnten sie die Beratungen des Gremiums durch ein verborgenes Fenster verfolgen.8 Die Wesire waren als persönliche Berater des Sultans für die Grundlinien der Politik zuständig; zudem verhandelten sie mit auslän7 Vgl. etwa die sich nach dem Regierungsantritt des eher kriegsunlustigen Sultans Selim II. 1566 bald einstellende Situation, anschaulich geschildert bei Barbero, Lepanto, S. 20f. 8 Ebd., S. 24f.
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dischen Gesandten, etwa dem venezianischen Botschafter, und bearbeiteten für den Sultan Bittschriften und Anfragen der Untertanen. Insofern stellte der Diwan die politische Herzkammer des Osmanischen Reiches dar. Die zentrale politische Rolle der Wesire ging einher mit geradezu märchenhaften Einkünften: Betrugen die Einnahmen, auf die ein Spahi aus seinem timar-Lehen rechnen konnte, zwischen 3.000 und 20.000 Asper, so bezogen die Wesire zwischen 1 und 1,2 Millionen, der Großwesir gar 2 Millionen Asper pro Jahr.9 Festzuhalten ist dabei, dass die höchsten Würdenträger und wichtigsten Berater der Sultane wie gesagt nicht, wie im christlichen Europa, einer adligen, durch Tradition und Herkunft legitimierten, gesellschaftlich herausgehobenen Führungsschicht entstammten, die in vielen Fällen mit dem Herrscher mehr oder weniger eng verwandt war, sondern, ganz im Gegenteil, ihrer Herkunft nach gleich doppelte Außenseiter waren: sozial entstammten sie einfachsten Verhältnissen, religiös hatten sie vor ihrer Konversion zu den Ungläubigen gehört. Das grenzenlose Erstaunen der Europäer über diese politische Führungsgruppe, die ihnen so vollkommen unverständlich vorkommen musste, spricht aus vielen zeitgenössischen Berichten, für die ich im Folgenden einige charakteristische Beispiele anführen will, um zumindest einige Grundzüge des Bildes zu zeichnen, das sich Christen von dieser Herrschaftselite machten. So schrieb etwa der Flame Ghislain de Busbecq (1522–1592), der Mitte des 16. Jahrhunderts Konstantinopel besuchte, von dem außerordentlichen Stolz der osmanischen Würdenträger darüber, dass sie ihre Karriere nicht etwa ihrer Herkunft, sondern allein ihrer Tüchtigkeit, ihrem Fleiß und ihrer Loyalität gegenüber dem Sultan verdanken, und fährt fort: »diejenigen, welche die höchsten Ämter vom Sultan übertragen bekommen, sind zum großen Teil Kinder von Hirten und weit davon entfernt, sich ihrer Herkunft zu schämen, sie sind sogar stolz darauf und glauben, sich dessen rühmen zu können, weil sie nämlich nichts dem Zufall der Geburt verdanken.«10 Dies ist die eine Sicht der Dinge, und gewiss eine plausible: Angesichts ihrer Herkunft aus dem gesellschaftlichen Nichts verdankten die höchsten Würdenträger des Osmanischen Reiches im 16. Jahrhundert nicht nur ihr Amt, sondern buchstäblich alles ihrem Herrn, dem Sultan – und wussten, dass sie ohne seine Gnade, im Falle grober Fehler oder gar des Verrats auch ins Nichts zurückfallen würden. Als persönliche Sklaven des Sultans konnte ihr Herr ja nach Belieben über ihr Leben verfügen, und die Zahl der erdrosselten Wesire ist in der Tat 9 Zum Vergleich: Ende des 15. Jahrhunderts kosteten 10 kg Mehl knapp 1 Asper, ein Schaf etwa 30 Asper. Alle Zahlenangaben nach Matuz, Das Osmanische Reich, S. 108. 10 Barbero, Lepanto, S. 26: »Quelli che ricevono i più alti uffici dal sultano sono in gran parte figli di pastori, e ben lungi dal vergognarsi della loro origine, ne vano fieri, e ritengono di potersi vantare perché non debbono nulla all’accidente della nascita.« Hier und im Folgenden stammen die deutschen Übersetzungen vom Verfasser.
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beträchtlich, ihr natürlicher Tod eher die Ausnahme als die Regel. Ohne Zweifel schuf diese vollkommene Abhängigkeit der Wesire von ihrem Herrn gute Voraussetzungen, sich den Diensteifer und die Loyalität der Berater zu bewahren. Von der Schattenseite dieser aus christlicher Perspektive so außergewöhnlichen Elitebildung berichtet unter anderem der venezianische Botschafter an der Hohen Pforte, Marcantonio Barbaro (1518–1595), in einem Bericht des Jahres 1569: Die Wesire seien nichts anderes als Emporkömmlinge, »geboren allesamt als Christen, roh, ungebildet, gewöhnlich, schmeichlerisch, ohne echtes Interesse und Verständnis für die Regierungsaufgaben, für Gerechtigkeit, für den Glauben, sie folgen nur ihren fleischlichen Gelüsten, streben nach Luxus, voller Gier, Arroganz und Hochmut.«11 Ein giftiges Urteil, aus dem der Stolz eines venezianischen Patriziers spricht, dessen Familie seit Jahrhunderten zur politischen und gesellschaftlichen Führungsschicht seiner Heimatstadt gehörte. Wir sollten dieses Urteil jedoch zusammen lesen mit der Beobachtung eines anderen venezianischen Gesandten an der Hohen Pforte namens Marino Cavalli (1500–1573), der 1560 dem venezianischen Senat, in dem die Grundlinien der venezianischen Wirtschafts- und Außenpolitik festgelegt wurden, den Rat gab, man möge doch, wenn man sich gegen die Osmanen behaupten wolle, von diesen lernen und die wichtigsten Ämter auch Leuten aus kleinen Verhältnissen übertragen, denn die seien im Dienst ungleich zuverlässiger als die Angehörigen großer Familien.12 Die Wahrheit dürfte, wie so oft, irgendwo in der Mitte liegen: ohne Zweifel waren die wichtigsten politischen Berater des Sultans und höchsten Würdenträger des Osmanischen Reiches ihrem Herren loyal ergeben, schon deswegen, weil sie in der Tat ohne ihn buchstäblich nichts waren. Ebenso außer Zweifel steht allerdings, dass diese Loyalität um einen hohen Preis erkauft war. Da die Wesire keine Rücksicht zu nehmen hatten auf den Ruf ihrer Herkunftsfamilie und auch keine Hoffnungen besaßen auf eine Verstetigung ihrer gesellschaftlichen Position durch ihre Nachkommen, war ihr Verhalten jenseits des Bemühens, dem Sultan zu seiner Zufriedenheit zu dienen, von einem ungewöhnlich kurzfristigen Denken geprägt. Die Klagen christlicher Gesandter an der Hohen Pforte, ihre Verhandlungspartner legten eine immer wieder erstaunliche Gier auf allen Gebieten an den Tag, traten viel zu häufig auf, als dass sie sich lediglich als feindselige Stereotype wegwischen ließen. Und im Bewusstsein, dass es mit der glänzenden Stellung am Hof, ja überhaupt mit dem Leben von einem Tag auf den 11 Ebd.: »[…] tutta nata nella fede di Cristo, ignobile, inesperta, abietta, servile, priva per propria natura di cognizione di governo, di giustizia, e di religione, nutrita solamente con affetti carnali ripiena di lussuria, d’avarizia e sopratutto d’arroganza e di superbia.« 12 Ebd.; dazu kommentierte der päpstliche Nuntius in Venedig dieser Jahre, Giovanni Antonio Facchinetti: Cavalli habe »wenige Verwandte und stammt aus einer sehr traditionsarmen Familie (poco parenti ed è di famiglia molto nuova).«
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anderen vorbei sein konnte, wie jeder Wesir aus dem Schicksal seiner Amtsvorgänger nur zu genau wusste, mag es keineswegs unverständlich erscheinen, wenn die Berater der Sultane danach strebten, die Gegenwart so intensiv wie möglich zu genießen.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Quellen
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Maria-Elisabeth Brunert
Vertragspartner, »Erbfeind«, Akteur im Hintergrund? Zur Bedeutung der Osmanen für den Westfälischen Friedenskongress
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Ein europäischer Friedenskongress – ohne die Osmanen?
Der in Münster und Osnabrück von 1643 bis 1648/49 tagende Westfälische Friedenskongress gilt als ein »Kongress der Superlative«.1 Einer dieser Superlative war die Vielzahl der vertretenen Mächte, denen es in hochkomplexen Verhandlungen gelang, den Dreißigjährigen Krieg im Heiligen Römischen Reich zu beenden. So heißt es in der klassischen Monographie zum Westfälischen Frieden von Fritz Dickmann, dass »außer England, Rußland und der Türkei ganz Europa vertreten« war.2 Demgegenüber wird in der jüngeren Forschung akzentuiert, welch wichtige Rolle die Hohe Pforte während des Dreißigjährigen Krieges gespielt habe.3 Das Osmanische Reich gehörte allerdings nicht zu den kriegführenden Parteien, war entsprechend nicht an den Friedensverhandlungen beteiligt und wird in den Friedensverträgen vom 24. Oktober 1648 nicht genannt. In den Verhandlungen und Beratungen während des Kongresses war es aber thematisch präsent. Wie kam es dazu? Um dies verständlich zu machen, wird der machtpolitische Hintergrund skizziert, vor dem sich der Dreißigjährige Krieg abspielte 1 Christoph Kampmann, Europa und das Reich im Dreißigjährigen Krieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, 2. Aufl., Stuttgart 2013, S. 152; Siegrid Westphal, Der Westfälische Frieden, München 2015 (C.H. Beck Wissen, 2851), S. 44; Michael Rohrschneider, 1618–1648– 2018. Zur Aktualität des Dreißigjährigen Krieges und des Westfälischen Friedens, in: Wissenschaft und Frieden 26, 3 (2018), S. 48–51, einleitend: »multilaterale[r] Kongress der Superlative«, zit. online. 2 Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 7. Aufl., hg. von Konrad Repgen, Münster 1998, S. 199. 3 Arno Strohmeyer behandelt die jüngere Fachliteratur unter dem Gesichtspunkt, ob und wie die Osmanen berücksichtigt wurden; vgl. Arno Strohmeyer, Der Dreißigjährige Krieg in der Korrespondenz des kaiserlichen Residenten in Konstantinopel Johann Rudolf Schmid zum Schwarzenhorn (1629–1643), in: Michael Rohrschneider / Anuschka Tischer (Hg.), Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts, Münster 2018 (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte NF, 1), S. 315–335, hier S. 315–319. Der Begriff »Hohe Pforte« meint die osmanische Regierung.
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Maria-Elisabeth Brunert
(Abschnitt 2). Anschließend wird durch die Analyse des Feindbilds »Türke« und dessen religiöser Dimension erläutert, unter welchen Prämissen die Kongressteilnehmer der Hohen Pforte relativ viel Aufmerksamkeit schenkten (Abschnitt 3). Schließlich wird gezeigt, in welcher Form die Osmanen in den Verhandlungen und Beratungen sowie auch außerhalb der diplomatischen Zirkel beim Friedenskongress Berücksichtigung fanden (Abschnitt 4).
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Das Osmanische Reich als Kulisse von Dreißigjährigem Krieg und Westfälischen Friedensverhandlungen
Die moderne Forschung sieht in dem ursprünglich auf zwanzig Jahre befristeten, mehrfach verlängerten Frieden von Zsitvatorok zwischen der Hohen Pforte und dem Kaiser (11. November 1606)4 eine Vorbedingung für den Dreißigjährigen Krieg. Denn ohne diesen Frieden, der den »Langen Türkenkrieg« (1593–1606) beendete, wäre es dem habsburgischen Kaiserhaus kaum möglich gewesen, gegen die böhmische Ständeopposition hart durchzugreifen, die im Prager Fenstersturz (23. Mai 1618) ihren spektakulären Ausdruck fand. Für das erfolgreiche militärische Eingreifen der österreichischen Habsburger war zwar auch die Unterstützung Spaniens und Bayerns von wesentlicher Bedeutung,5 doch der Friede von Zsitvatorok war die Voraussetzung. Tatsächlich blieb der Friede an der habsburgisch-osmanischen Grenze während des ganzen Dreißigjährigen Krieges von schwerwiegenden Störungen verschont, obwohl im Grenzbereich weiterhin ein »Kleinkrieg« »tobte«,6 der die Ängste vor einer Eskalation wachhielt. Der Hauptgrund für die militärische Inaktivität der Hohen Pforte im Westen war die anderweitige Bindung der Kräfte im Osten gegen die Perser, die unter Schah Abbas I. (1587–1629) erhebliche militärische Erfolge gegen die Osmanen erzielen konnten.7 So blieb deren Aggression gegen Zentraleuropa vorerst aus. Es 4 Vgl. István György Tóth, Zwischen Kaiser und Sultan (1604–1711), in: Ders. (Hg.), Geschichte Ungarns, Budapest 2005, S. 257–288, hier S. 263. Der Vertrag bedeutete eine völkerrechtliche Verbesserung für den Kaiser; vgl. Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660, Paderborn u. a. 2007 (Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, 2), S. 496. Doch gab es Differenzen über die Auslegung, zumal die türkische und lateinische Fassung voneinander abwichen. Vgl. Georg Wagner, Österreich und die Osmanen im Dreißigjährigen Krieg. Hermann Czernins Großbotschaft nach Konstantinopel 1644/45, in: Mitteilungen des Oberösterreichischen Landesarchivs 14 (1984), S. 325–392, hier S. 336–340. 5 Ohne die Unterstützung Spaniens und Bayerns hätten die österreichischen Habsburger nicht gegen die böhmische Ständeregierung vorgehen können; Kampmann, Europa, S. 38–40. 6 Strohmeyer, Der Dreißigjährige Krieg, S. 322. 7 Kampmann, Europa, S. 15; Strohmeyer, Der Dreißigjährige Krieg, S. 331–334; Douglas A. Howard, Das Osmanische Reich 1300–1924, Darmstadt 2018, S. 189. Zu den »Persienbeziehungen der Kurie, [Kaiser] Rudolfs II. und Spaniens« um 1600 siehe Barbara von Palombini,
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gab durchaus Anlässe, die ein Eingreifen der Osmanen in den dortigen Krieg hätten provozieren können. Dabei spielte das Fürstentum Siebenbürgen eine wichtige Rolle. Östlich von Ungarn gelegen, war Siebenbürgen ein politisch instabiler, multiethnischer und multikonfessioneller Vasallenstaat der Hohen Pforte.8 Fürst Gábor Bethlen (1580–1629) war Calvinist, 1618 ein möglicher Kandidat für die böhmische Königskrone und ließ sich im August 1620 mit Zustimmung der Osmanen vom ungarischen Landtag zum König wählen, verzichtete aber auf die Krönung. Bethlen und die aufständische antihabsburgische Konföderation von Böhmen, Mähren, Schlesien, der Lausitzen, Ober- und Niederösterreich baten mit einer gemeinsamen Gesandtschaft beim Sultan um Unterstützung. Diese wurde zwar Anfang Februar 1620 zugesagt, doch kam es weder zu einem förmlichen Vertrag, noch unterstützten osmanische Truppen die Konföderierten, die im November 1620 in der Schlacht am Weißen Berg (bei Prag) eine deutliche Niederlage gegen Kaiser Ferdinand II. (1578–1637) erlitten.9 In den frühen 1640er Jahren griff das Osmanische Reich sogar zugunsten der Habsburger ein. Erneut war von Siebenbürgen eine Gefahr für Kaiser und Reich ausgegangen: Der Fürst von Siebenbürgen ( jetzt György I. Rákóczy, 1593–164810) hatte am 16. November 1643 einen Vertrag mit Schweden geschlossen, dem am 22. April 1645 ein ähnliches Abkommen mit dessen Verbündetem Frankreich folgte;11 die beiden Alliierten befanden sich im Krieg gegen den Kaiser und waren militärisch so erfolgreich, dass sie ihn in Bedrängnis brachten. Rákóczy verpflichtete sich gegen Subsidienzahlungen zur Teilnahme an diesem Kampf. Doch bevor die siebenbürgischen Truppen im August 1645 gemeinsam mit jenen des
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Bündniswerben abendländischer Mächte um Persien 1453–1600, Wiesbaden 1968 (Freiburger Islamstudien, 1), S. 115–117. Kaiser, Kurie und Persien einte die Gegnerschaft zu den Osmanen. Mark Greengrass, Das verlorene Paradies. Europa 1517–1648, Darmstadt 2018, S. 536f. Maja Depner, Siebenbürgen im Dreißigjährigen Krieg dargestellt im Rahmen der deutschen und der europäischen Geschichte, Stuttgart 1938, S. 67–70; Sándor Papp, Friedensoptionen und Friedensstrategien des Fürsten Gábor Bethlen zwischen dem Habsburger- und Osmanenreich (1619–1621), in: Arno Strohmeyer / Norbert Spannenberger (Hg.), Frieden und Konfliktmanagement in interkulturellen Räumen. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2013 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 45), S. 109–127, hier S. 119–124. Regierend ab 1630. Zu seinem Werdegang Depner, Siebenbürgen, S. 138–140; Tóth, Zwischen Kaiser und Sultan, S. 270. Zum Vertrag von Munkacz (mit Frankreich) Derek Croxton / Anuschka Tischer, The Peace of Westphalia. A Historical Dictionary, Westport/Connecticut / London 2002, S. 198 (»Munkacz, treaty of«); zum Vertrag mit Schweden siehe die Angaben in Acta Pacis Westphalicae (künftig: APW), Serie II, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 1: 1643–1644, bearb. von Wilhelm Engels unter Mithilfe von Elfriede Merla, Münster 1969, S. 109 Anm. 2. Zur Rolle Siebenbürgens auf dem Friedenskongress Gábor Kárman, The Hardship of Being an Ottoman Tributary: Transylvania at the Peace Congress of Westphalia, in: Strohmeyer / Spannenberger, Frieden und Konfliktmanagement, S. 163–183.
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schwedischen Feldherrn Lennart Torstenson (1603–1651) zum Sturm auf Brünn (heute Brno/Tschechien) ansetzen und damit die Situation für den Kaiser noch einmal verschärfen konnten, wurde Rákóczy vom Sultan zurückbeordert und zog seine Truppen ab.12 Dem war eine diplomatische Initiative des Kaisers in Konstantinopel vorausgegangen – also, überspitzt gesagt, eine aus habsburgischer Sicht geglückte osmanisch-habsburgische Zusammenarbeit, die den militärisch angeschlagenen Kaiser aus bedrängter Lage rettete.13 Mit dem Vertrag zwischen dem Kaiser und Rákóczy, den Ferdinand III. am 16. Dezember 1645 in Linz ratifizierte, schied Siebenbürgen faktisch als Akteur des Friedenskongresses aus, obgleich sowohl 1646 als auch 1647 jeweils ein siebenbürgischer Gesandter kurzfristig in den Kongressstädten weilte.14 Zumindest der erste von ihnen ließ Gerüchte über eine erneute Kriegsbereitschaft Rákóczys aufkommen, die sich aber als unzutreffend erwiesen. Für den Faktor Religion ergibt sich folgender Befund: Der Fürst von Siebenbürgen war Calvinist und Vasall des Sultans, der seinen Vasallen nicht drängte oder gar zwang, den christlichen Glauben aufzugeben, denn im Islam der Vormoderne genossen Christen als Anhänger einer »Buchreligion« insofern Anerkennung, als es in der Regel keine Zwangsbekehrungsmaßnahmen gab.15 Rákóczy verband sich vertraglich mit Schweden und Frankreich. Der französische König, der den Titel Rex Christianissimus führte,16 war katholisch. Hingegen war 12 Tóth, Zwischen Kaiser und Sultan, S. 271; Lothar Höbelt, Von Nördlingen bis Jankau. Kaiserliche Strategie und Kriegführung 1634–1645, Wien 2016 (Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums, 22), S. 428. 13 Karsten Ruppert, Die kaiserliche Politik auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643– 1648), Münster 1979 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 10), S. 120. Detailliert zur Mission des kaiserlichen Diplomaten Hermann Graf Czernin, der am 15. September 1644 seinen Bestimmungsort erreichte, bis zum Frühjahr 1645 seine friedenserhaltenden Aufträge erfüllen konnte und nach Wien zurückreiste, Wagner, Österreich, S. 349f. 14 Ruppert, Die kaiserliche Politik, S. 120f.; Tóth, Zwischen Kaiser und Sultan, S. 271; Schilling, Konfessionalisierung, S. 384; Ekkehard Eickhoff (unter Mitarbeit von Rudolf Eickhoff †), Venedig, Wien und die Osmanen. Umbruch in Südosteuropa 1645–1700, 4., durchgesehene Aufl., Stuttgart 2008, S. 29. Zu den siebenbürgischen Gesandten: APW, Serie II, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 4: 1646, bearb. von Hubert Salm und Brigitte Wübbeke-Pflüger unter Benutzung der Vorarbeiten von Wilhelm Engels, Manfred Klett und Antje Oschmann, Münster 2001, S. 191f.; APW, Serie II, Abteilung B: Die französischen Korrespondenzen, Bd. 5/2: 1647, bearb. von Guido Braun unter Benutzung der Vorarbeiten von Kriemhild Goronzy und Achim Tröster, unter Mithilfe von Antje Oschmann am Register, Münster 2002, S. 1406 Z. 1–15. 15 Jørgen S. Nielsen, Artikel »Islam«, Abschnitt VI.2.: »Missionswissenschaftlich«, in: Hans Dieter Betz u. a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 4, 4., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 2001, Sp. 274f., hier Sp. 274. Nielsen schränkt ein, dass sich gelegentlich radikalere Ansichten durchsetzten. 16 Dazu schon Depner, Siebenbürgen, S. 69. Im kaiserlich-französischen Friedensvertrag vom 24. Oktober 1648 wird der französische König in der Dispositio als »heilige allerchristlichste
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in Schweden der lutherische Protestantismus die einzige sanktionierte Religion; die Konversion zum Katholizismus wurde sogar schwer bestraft.17 In der Endphase des Dreißigjährigen Kriegs spielte der Faktor Religion/Konfession, zumindest bei der Suche nach Alliierten und dem Abschluss von Bündnissen, keine entscheidende Rolle. Maßgeblich für das faktisch habsburgerfreundliche Verhalten, das die Hohe Pforte 1645 durch den Rückruf des Fürsten von Siebenbürgen an den Tag legte, war der beabsichtigte Angriff auf das von Venedig beherrschte Kreta, der die militärischen Kräfte der Osmanen weitgehend band. Die Vorgeschichte dieses sogenannten Kandiakriegs spielte im September 1644 im Mittelmeer: Die Ordensflotte der Malteser18 bekämpfte normalerweise Freibeuter der nordafrikanischen Vasallenstaaten des Osmanischen Reiches. Im Herbst 1644 griff sie aber einen türkischen Konvoi von zehn Schiffen an, der auf dem Weg nach Alexandria war, das Ausgangspunkt für eine Wallfahrt nach Mekka sein sollte. Neben Gold und Juwelen wurden teils hochrangige Persönlichkeiten ihre Beute, darunter eine der Frauen des Sultans Ibrahim (1615–1648). Auf der Rückreise liefen die Ordensritter das unter der Herrschaft Venedigs stehende Kreta an. Dies war »der erste Anlaß, wenn auch nicht die Ursache«19 des wenige Monate später beginnenden vierundzwanzigjährigen Kriegs zwischen der Hohen Pforte und Venedig. Aus Sicht der Osmanen handelte es sich um einen Angriff maltesischer Piraten auf ein osmanisches Pilgerschiff.20 Die Reaktion verzögerte sich wegen der militärischen Vorbereitungen um einige Monate. Doch schließlich lief Ende April
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Majestät« bezeichnet: »[…] inter sacram maiestatem Caesaream et sacram maiestatem Christianissimam […]«; siehe APW, Serie III, Abteilung B, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. Teil 1: Urkunden, bearb. von Antje Oschmann, Münster 1998, S. 4f. Im kaiserlich-französischen »Türkenhilfe-Artikel« (siehe dazu unten bei Anm. 23) lautet das Incipit entsprechend: »Praestabit item rex Christianissimus Caesari […]«, in: Konrad Repgen, Die kaiserlich-französischen Satisfaktionsartikel vom 13. September 1646 – ein befristetes Agreement, in: Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg. von Franz Bosbach und Christoph Kampmann, 3. überarb. Aufl., Paderborn 2015 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF 117), S. 883–920, hier S. 918. Marcus Junkelmann, Gustav Adolf (1594–1632), Schwedens Aufstieg zur Großmacht, Regensburg 1993, S. 55f.; Yvonne Maria Werner, Artikel »Schweden«, in: Walter Kasper mit Konrad Baumgartner u. a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche (im Folgenden LThK), Bd. 9, 3., völlig neu bearb. Aufl., Freiburg u. a. 2000, Sp. 330–332, hier Sp. 331. Kaiser Karl V. (1500–1558) hatte den Johanniter-Orden 1530 mit Malta belehnt, der die Insel zu einer Seefestung gegen die Osmanen ausbaute; siehe Stefan Samerski, Artikel »Malta«, in: LThK, Bd. 6, 3., völlig neu bearb. Aufl., Freiburg u. a. 1997, Sp. 1252; Ders., Artikel »Malteser«, in: ebd., Sp. 1252f., hier Sp. 1252. Eickhoff, Venedig, S. 18f., Zitat S. 19; Thomas Freller, Militärische Strategie und christliche Propaganda. Der Krieg um Kandia (1645 bis 1669) und der Padre Ottomano, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 76 (2017), S. 1–34, hier S. 4–6. Nach Freller, Militärische Strategie, S. 5, haben Gerüchte aus einer gefangenen »Haremsdame« die Favoritin des Sultans gemacht. Howard, Das Osmanische Reich, S. 217.
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1645 eine türkische Flotte aus und erreichte auf Umwegen Kreta. Am 25. Juni landete sie bei Kanea, dem Hauptort der Insel.21 Für die Diplomaten in Westfalen war das schon deshalb relevant, weil die Republik Venedig einen der beiden offiziellen Vermittler auf dem Westfälischen Friedenskongress stellte. Der Venezianer Alvise Contarini (1597–1651) blieb seiner Mediatorenfunktion treu und konnte deshalb sein Werben um Hilfe für das bedrängte Venedig nicht offen betreiben.22 Die Verhandlungen in Münster und Osnabrück fanden vor der Kulisse dieses Kandiakrieges statt. Die Osmanen waren nicht zuletzt vor diesem Hintergrund Gegenstand von Geheimverhandlungen: Die kaiserlichen und französischen Gesandten arbeiteten im Zusammenhang mit der kaiserlich-französischen Satisfaktionsvereinbarung vom 13. September 1646 einen Artikel über eine französische »Türkenhilfe« aus, die teils in finanzieller Unterstützung bestehen sollte, teils in einer Truppenhilfe für den Kaiser, falls es zum offenen Krieg käme.23 Das war nicht der Fall. Immerhin scheint bemerkenswert, dass Frankreich bei einer ernsthaften Aggression der Osmanen gegen Kaiser und Reich den Bedrohten Unterstützung gewährt hätte, denn die französischen Herrscher waren mit den Osmanen schon im 16. Jahrhundert »unter der Hand […] wenn nicht verbündet, so doch verbunden«,24 was noch 1604 vertraglich aktualisiert worden war.25 Beim Kandiakrieg rechnete Frankreich damit, dass die Osmanen Kreta einnähmen und anschließend ihre militärischen Aktivitäten »contre la chrestienté« fortsetzten, doch würde es dann Neapel und Sizilien, also die spanischen Habsburger, treffen, mit denen Frankreich im Krieg stand. Frankreich, da weiter entfernt, würde nicht das Ziel einer osmanischen Invasion werden.26 21 Eickhoff, Venedig, S. 30f. 22 Vgl. Anuschka Tischer, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongress. Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin, Münster 1999 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 29), S. 80. 23 Vgl. Repgen, Die kaiserlich-französischen Satisfaktionsartikel, hier S. 900f. und S. 918: »Geheimer Türkenhilfe-Artikel der kaiserlich-französischen Satisfaktions-Vereinbarung vom 13. September 1646« (Edition). 24 Martin Wrede, Türkenkrieger, Türkensieger. Leopold I. und Ludwig XIV. als Retter und Ritter der Christenheit, in: Christoph Kampmann u. a. (Hg.), Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700, Köln / Weimar / Wien 2008, S. 149–165, hier S. 150. 25 Der französisch-osmanische Vertrag von 1604 war gestaltet als »unilateral vom Sultan zugestandene Kapitulation«; siehe APW II, Abteilung B: Die französischen Korrespondenzen, Bd. 5/1: 1646–1647, bearb. von Guido Braun unter Benutzung der Vorarbeiten von Kriemhild Goronzy und Achim Tröster, unter Mithilfe von Antje Oschmann am Register, Münster 2002, S. 203 Anm. 14. 26 Vgl. das Memorandum Ludwigs XIV. für seine Gesandten in Münster, Paris 1646 Dezember 28, in: ebd., S. 199–203, hier S. 202 Z. 26 – S. 203 Z. 4. Im Memorandum geht es darum, den Mediatoren einen Waffenstillstand in Portugal unter Hinweis auf den Türkenkrieg genehm zu machen; vgl. ebd. , S. 202 Z. 20–25. Ein älteres Beispiel (von 1494) für den
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Insofern bestand keine Veranlassung, dem Kaiser – ebenfalls Habsburger – eine wie auch immer geartete »Türkenhilfe« zu gewähren.
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Der türkische »Erbfeind« und seine Wahrnehmung in Westfalen
Angesichts des Friedens von Zsitvatorok im Jahre 1606 und des gelungenen Vertragsabschlusses mit Siebenbürgen im Jahr 1645 scheint unverständlich, dass der Kaiser im September 1646 einen Vertrag über eine »Türkenhilfe« schließen wollte. Was veranlasste ihn zu der Annahme, dass er eine solche Hilfe benötigte? Eine Erklärung bietet die seit Jahrhunderten andauernde Expansion der Osmanen. Die Eroberung der alten oströmischen Hauptstadt Konstantinopel im Mai 1453 hatte geradezu einen Schock verursacht.27 1521 gelang den Osmanen die Eroberung Belgrads, 1522 fiel Rhodos, infolge der Schlacht bei Mohács (1526) konnten sie weite Teile Ungarns erobern, 1529 belagerten sie Wien.28 Dabei ging es aus Sicht Zentraleuropas nicht nur um den Verlust vieler Länder an eine militärisch überlegene Macht. Vielmehr wurde die religiöse Differenz als alarmierend empfunden. Bereits der Fall Konstantinopels hatte die Furcht ausgelöst, dass der Sultan im Begriff stehe, den ganzen Westen zu »unterjochen«. »Der Türke« wurde dabei mit dem Satan oder dem Antichristen identifiziert.29 Eine Reaktion des Reiches bestand in der Einberufung sogenannter Türkenreichstage, auf denen der Kaiser um finanzielle Unterstützung gegen einen (oft nur befürchteten) Angriff der Osmanen bei den Reichsständen warb.30
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Verweis auf den nötigen Kampf gegen die Osmanen zur Legitimation einer Militäraktion Frankreichs bei Michael Rohrschneider, Der gescheiterte Frieden von Münster. Spaniens Ringen mit Frankreich auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643–1649), Münster 2007 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 30), S. 21f. Vgl. Volker Reinhardt, Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus, München 2017, S. 457. Vgl. Thomas Kaufmann, Aspekte der Wahrnehmung der »türkischen Religion« bei christlichen Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts, in: Dietrich Klein / Birte Platow (Hg.), Wahrnehmung des Islam zwischen Reformation und Aufklärung, München 2008, S. 9–25, hier S. 9. Vgl. Erich Meuthen, Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 1–35, hier S. 10. Zu den biblischen Grundlagen für die Vorstellung vom Antichristen Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte, 196; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 15), S. 72f. Vgl. Winfried Schulze, Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. Studien zu den politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung, München 1978, S. 67–75; Gabriele Annas, Hoftage/Reichstage (14./15. Jahrhundert), publiziert am 16. 07.2012;
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Die religiöse Deutung der Expansion der Osmanen und die Auffassung, dass die Besiegten als Christen das Schicksal der Unterwerfung erlitten, hatte mittelalterliche Wurzeln. Schon Papst Gregor IX. bedrohte 1229 jene mit Exkommunikation, die den Sarazenen Kriegsmaterial »zum Kampf gegen Christen«31 lieferten. Diese Sentenz wurde zum Kern der im Lauf der Jahrhunderte vielfach veränderten sogenannten »Abendmahlsbulle«, die bis 1770 in den Gründonnerstags-Gottesdiensten verlesen wurde.32 Ab 1445 wurden neben den Sarazenen auch die Türken genannt, was mit einem von Polen und Ungarn angeführten, misslungenen Kriegszug gegen das Osmanische Reich zusammenhing.33 Nach verschiedenen Änderungen wurden schließlich ab 1593 all jene mit Exkommunikation bedroht, die Kriegsmaterial an Sarazenen, Türken und andere Feinde des christlichen Namens (»Christiani nominis hostes«) oder an Häretiker lieferten. Im Fortlauf des Textes werden die Türken zudem als Feinde der christlichen Religion bezeichnet. Die Abendmahlsbulle wurde ab dem 15. Jahrhundert auch außerhalb Roms und tendenziell in allen Diözesen weltweit mindestens einmal im Jahr verlesen.34 Ein im Prinzip analoges Feindbild ist bei den Protestanten nachweisbar. Luther stellte »dem Türken« mit dem Papst einen weiteren »Erzfeind«35 zur Seite. Das kam besonders wirkmächtig in seinem Kinderlied zum Ausdruck, das sich gegen »die zween Ertzfeinde Christi und seiner heiligen Kirchen, den Bapst und Türken«36 richtete. In der Zeit zwischen Ende 1541 und Frühjahr 1542 geschaffen, hat Luther die Verse für Kinder bestimmt, weil seiner Meinung nach in der
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in: Historisches Lexikon Bayerns, zit. nach URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de /Lexikon/Hoftage/Reichstage (14./15. Jahrhundert) [25. 08. 2018]. Karl Pfaff, Beiträge zur Geschichte der Abendmahlsbulle vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Römische Quartalschrift 38 (1930), S. 23–76, hier S. 24. Vgl. Peter Leisching, Artikel »Abendmahlsbulle«, in: LThK, Bd. 1, 3., völlig neu bearb. Aufl., Freiburg u. a. 1993, Sp. 35. Auf die Bulle verweist Greengrass, Das verlorene Paradies, S. 552f. Vgl. Emil Göller, Die päpstliche Pönitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V. Teil I: Darstellung, Rom 1907, S. 271; Reinhardt, Pontifex, S. 450, zur Schlacht, in der Sultan Murad II. das »Kreuzfahrerheer« bei Varva im heutigen Bulgarien im November 1444 vernichtend schlug. Vgl. Pfaff, Beiträge, S. 25f. und 38f. (Zitat S. 38). Die Vorsilbe »Erz-« dient als »steigerndes Kompositionsglied«, siehe Artikel »Erz-«, in: Wolfgang Pfeifer (Bearb.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 3. Aufl., München 1993, S. 298 (mit Beispielen für den Gebrauch bei Luther). »Erzfeind« in der Bedeutung »Todfeind« wurde auch in der Verbindung mit dem Satan gebraucht: »der teufel als der erzfeind des guten«; Artikel »Erzfeind«, in: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, München 1984 (ND der Ausgabe von 1862), Sp. 1089. In der Gegenwart wird der Begriff zumindest im Journalismus noch für die Bezeichnung außenpolitischer Gegner verwendet. Beispiel: Bartholomäus Grill, Angst vor Afrika, in: DER SPIEGEL Nr. 34/18. 8. 2018, S. 78f., hier S. 79 (über Eritrea): »Dort kommt nach dem Friedensschluss mit dem Erzfeind Äthiopien Hoffnung auf.« Kaufmann, Aspekte, S. 21. Ebd., S. 22, weitere Beispiele für negative Aussagen Luthers über das Papsttum und die Türken.
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damaligen, dramatischen Situation (Einnahme Budas durch die Osmanen) nur noch das Gebet der Kinder helfen könne.37 Es beginnt: »ERhalt uns, HErr, bey deinem Wort Und steur des Bapsts und Türcken Mord«.38 Luther hat gelegentlich auch von ihm positiv bewertete Aspekte des Islam genannt (Glaubensernst, Askese), doch wogen sie nach seiner Ansicht keinesfalls das Manko des fehlenden Christusglaubens auf. So zählten die Türken für ihn in apokalyptischer Sichtweise zu »den letzten Feinden Gottes«.39 Angesichts seiner vielen einschlägigen Schriften gehörte der Reformator als einer der »bedeutenderen Türkenkriegsautoren«40 zu jenen, die maßgeblich zum Feindbild »Türke« beigetragen haben.41 Dazu passt, dass sich auf dem Westfälischen Friedenskongress ein lutherischer Geistlicher in seiner Festpredigt zum Friedensschluss vom 24. Oktober 1648 antitürkischer Stereotype (»Ertz-Feind Christlichen Nahmens«) bediente.42 Auch die Flugblattpublizistik trug zum negativen Türkenbild bei. Einige visualisieren das Los von Christen, die in türkische Gefangenschaft gerieten. So zeigt ein Nürnberger Holzschnitt von circa 1529 einen Mann und eine schreiende Frau, die an den Händen gefesselt sind, Halseisen tragen und von einem Türken auf prachtvoll gezäumtem Pferd an einer Leine fortgeführt werden.43 Dem Bildsujet »türkische Gefangenschaft« entsprach gelegentlich ein realer Erfahrungswert in Form von hilfsbedürftigen ehemaligen Gefangenen, die um Almosen baten. Auch durch Münster kamen gelegentlich solche Remigranten. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wurden rund hundert durch städtische Aufzeichnungen über die ihnen gewährte finanzielle Hilfe aktenkundig, einige überführte Betrüger inklusive. Einer trug als »Beweis« seiner früheren Gefangenschaft ein Halseisen, wie es auch der Holzschnitt von 1529 als typisches Requisit der Versklavung zeigt. Im Frühjahr 1647 legte sogar ein Priester Zwi37 Vgl. Markus Jenny (Bearb.), Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Vollständige Neuedition in Ergänzung zu Bd. 35 der Weimarer Ausgabe, Köln / Wien 1985 (Archiv zur Weimarer Ausgabe der Werke Martin Luthers, Texte und Untersuchungen, 4), S. 118; Martin Brecht, Luther und die Türken, in: Bodo Guthmüller / Wilhelm Kühlmann (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit, 54), S. 9–27, hier S. 22–26; ebd., S. 26, die moderne Variante der 2. Zeile: »Und steure deiner Feinde Mord«. 38 Jenny, Luthers geistliche Lieder, S. 304. 39 Brecht, Luther, S. 17, 26. 40 Ebd., S. 10. 41 Vgl. Thomas Kaufmann, »Türckenbüchlein«. Zur christlichen Wahrnehmung »türkischer Religion« in Spätmittelalter und Reformation, Göttingen 2008 (Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte, 97), S. 44. 42 Näheres bei Maria-Elisabeth Brunert, Der Westfälische Frieden 1648 – eine Friedensordnung für das Reich und Europa, in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Bonn 2017 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 2), S. 69–95, hier S. 84. 43 Vgl. Kaufmann, »Türckenbüchlein«, S. 86 (Abbildung 6): Erhard Schoen, »Ein Türke mit zwei Gefangenen, Hans Goldmund, Nürnberg, ca. 1529«.
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schenaufenthalte in Münster und Osnabrück ein, der sich als Patriarch der Armenier in Konstantinopel vorstellte und angab, auf der Durchreise nach Rom zu sein. Er war zwar kein ehemaliger Gefangener, konnte aber wie die erwähnten Remigranten von den Osmanen aus eigener Erfahrung berichten. Seine Darlegungen fielen so aus, dass sich der französische Hauptgesandte Henri Herzog von Longueville (1595–1663) veranlasst sah, ihn mit der hohen Summe von hundert Talern zu unterstützen. Der päpstliche Nuntius und Mediator Fabio Chigi (1599– 1667) stellte ihm zwar zunächst Empfehlungsschreiben aus, doch kamen ihm Zweifel an der Integrität des Fremden, sodass er sich seine Schreiben zurückerstatten ließ.44 Intensiviert wurde das negative Türkenbild schließlich durch Predigten, in denen Ausdrücke wie »türkischer Bluthund« keine Seltenheit waren. Gerade in Westfalen gedachten die Geistlichen gern der siegreichen Seeschlacht von Lepanto (1571). An den jährlichen Gedenktagen am 7. Oktober, dem Tag des »Rosenkranz-Festes«, schilderten sie in triumphalen Wendungen den Sieg über die »Türken«, der nicht zuletzt der Kraft des Gebetes zugeschrieben wurde.45 Entsprechend wurde die Bevölkerung während des »Langen Türkenkriegs« durch mittägliches Geläut der sogenannten »Türkenglocken« und entsprechende Predigten zum Gebet aufgerufen. So geschah es auch in der späteren Kongressstadt Münster, wie ein Eintrag im Protokoll des Domkapitels vom 22. Januar 1594 bezeugt.46 Auch während des Friedenskongresses wurde die Bevölkerung der Domstadt zum Gebet gegen die »Türken« aufgerufen: Auf allgemeine Veranlassung des Papstes ordnete (Erz-)Bischof Ferdinand (1577–1650) am 18. September 1645 außerordentliche Bitttage an, die der Abwendung von Gottes gerechtem Zorn und weiterer verdienter Strafen dienen sollten und sich konkret »contra Turcas« richteten.47 Die Maßnahme zeigt, wie die Expansion der Os44 Vgl. Helmut Lahrkamp, Rückwirkungen der Türkenkriege auf Münster 1560–1685, in: Westfälische Zeitschrift 129 (1979), S. 89–108, hier S. 90–93 und 97f. (die erste namentliche Nennung eines Remigranten stammt aus dem Jahr 1567). 45 Vgl. Leonhard Intorp, Westfälische Barockpredigten in volkskundlicher Sicht, Münster 1964 (Schriften der Volkskundlichen Kommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, 14), S. 82. Zur Feier des Rosenkranz-Festes am 7. Oktober als Resonanz auf den Sieg bei Lepanto vgl. Andreas Heinz, Artikel »Rosenkranz«, Punkt III: »Historisch«, in: LThK, Bd. 8, 3., völlig neu bearb. Aufl., Freiburg u. a. 1999, Sp. 1303–1305, hier Sp. 1305. Zu der für beide Seiten, besonders aber für die türkische, verlustreichen Schlacht, die keine entscheidende Verschiebung der strategischen Machtverhältnisse nach sich zog, vgl. Greengrass, Das verlorene Paradies, S. 544–546. 46 Vgl. Georg Schreiber, Deutsche Türkennot und Westfalen, in: Westfälische Forschungen 7 (1953/54), S. 62–79, hier S. 69; Lahrkamp, Rückwirkungen, S. 90. 47 Schreiber, Deutsche Türkennot, S. 68. Bischof von Münster war der Kurfürst von Köln, Ferdinand von Bayern (ab 1612 Kurfürst sowie Bischof von Hildesheim, Lüttich und Münster, ab 1618 zudem Bischof von Paderborn). Vgl. Manfred Becker-Huberti / Heinz Finger, Kölns Bischöfe von Maternus bis Meisner, Köln 2013, S. 189–191. Für die Zusendung des Texts der
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manen, hier ihr damaliges Vordringen auf Kreta, in christlicher, in diesem Fall katholischer Interpretation als Sündenstrafe angesehen wurde. In Osnabrück waren derartige Bitttage angesichts der schwierigen konfessionellen Verhältnisse anscheinend nicht möglich. Fürstbischof Franz Wilhelm Graf Wartenberg (1593–1661) hatte die Stadt 1633 kurz vor der schwedischen Besetzung verlassen.48 Als Wittelsbacher war er ein Vetter der Kurfürsten von Köln und Bayern, residierte während des Kongresses als Kurkölner Primargesandter und Bevollmächtigter einer größeren Anzahl weiterer geistlicher Stifter in Münster und kam nur selten inkognito nach Osnabrück. Wartenberg versuchte zwar, trotz der widrigen Umstände Einfluss auf Stadt und Bistum zu nehmen, doch reichte dieser anscheinend nicht aus, um dort kirchliche Bitttage durchführen zu lassen; jedenfalls konnten bislang keine nachgewiesen werden.49 Auch für die Presse waren »die Türken« ein Thema, wie ein Beispiel aus der vermutlich in Leipzig publizierten »Wöchentliche[n] Zeitung« in einer Meldung aus Venedig vom 5. Januar 1646 beispielhaft zeigt: Als »Feind« erscheinen dabei die Türken, denen »die vnsrigen« gegenüberstehen.50 Die Berichterstattung wirkt sachlich, doch ist die Aufteilung in »Gut« und »Böse« eindeutig. Der Kandiakrieg wurde in dieser Zeitung regelmäßig thematisiert, desgleichen der Friedenskongress mit Meldungen aus Münster.51 Ob gerade dieses Blatt in den beiden Kongressstädten gelesen wurde, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht gesichert. Doch steht fest, dass die Diplomaten sowie deren Mitarbeiter prinzipiell Zeitungen lasen und diese informationshalber gelegentlich sogar an den hei-
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nur kopial überlieferten Anordnung Kurfürst Ferdinands danke ich Dr. Heinz Mestrup, Bistumsarchiv Münster. Die Anordnung ist durch einen Vermerk am Kopf als Maßnahme »contra Turcas« präzisiert (Bistumsarchiv Münster, GV AA, Handschrift 182, fol. 216 verso). Vgl. Gerd Steinwascher, Osnabrück und der Westfälische Frieden. Die Geschichte der Verhandlungsstadt 1641–1650, Osnabrück 2000 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, 42), S. 7f.; zu den kirchlichen Verhältnissen, die Protestanten und Katholiken öffentlichen Kultus erlaubten, ebd., S. 48. Zu Wartenberg siehe Siegrid Westphal, Fürstbischof Franz Wilhelm von Wartenberg, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und der Dreißigjährige Krieg, in: Susanne Tauss (Hg. im Auftrag des Landschaftsverbandes Osnabrücker Land e.V.), Der Rittersaal der Iburg. Zur fürstbischöflichen Residenz Franz Wilhelms von Wartenberg, Osnabrück 2007 (Kulturregion Osnabrück, 26), S. 121–136. Für Auskünfte vom 22. August 2018 danke ich Dr. Georg Wilhelm, Diözesanarchiv Osnabrück. Die Meldung ist gedruckt in: Frauke Adrians, Journalismus im 30jährigen Krieg, Kommentierung und »Parteylichkeit« in Zeitungen des 17. Jahrhunderts, Konstanz 1999 (Journalismus und Geschichte, 2), S. 177f.: »Briefe aus Candia melden/ daß der Feind in Canea sehr schwach/ […] sey/ suchen ietzo durch den Archipelago Proviant in Canea zu bringen/ welches aber zu verhindern/ die vnsrigen daselbst starck genug seynd/ vnd die Türckischen Schiffe zu rück zu segeln zwingen.« Zum wahrscheinlichen Publikationsort ebd., S. 178. Ebd., S. 179.
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mischen Hof sandten, womit sich der Kreis der Rezipienten in die größeren und kleineren Residenzstädte hinein erweiterte.52 Gegenüber den in der Regel kritischen Berichten ehemaliger Gefangener, den kirchlichen Verlautbarungen und der nüchternen, aber keineswegs neutralen Berichterstattung der Zeitungen ist zu betonen, dass es schon seit dem Mittelalter einen begrenzten beiderseitigen Wissens- und Kulturtransfer zwischen muslimischem und christlichem Machtbereich gegeben hat.53 Im 15. Jahrhundert trugen Büchsenmeister zu einem Technologietransfer aus mehreren zentral- und südeuropäischen Ländern ins Osmanische Reich bei. Der wohl bekannteste war ein gewisser Jörg von Nürnberg, der seine Erlebnisse nach seiner Rückkehr 1482/ 83 zu Papier brachte. Einige dieser bei den Osmanen gern gesehenen Spezialisten waren Renegaten, andere nicht; auch aus Spanien vertriebene Juden befanden sich darunter. Die religiöse Differenz wie auch die immer wieder ausbrechenden oder zumindest geplanten kriegerischen Auseinandersetzungen verhinderten den Kultur- und Wissenstransfer also keineswegs.54 Auch auf Regierungsebene gab es Transfers von künstlerisch und/oder wissenschaftlich exzeptionellen Erzeugnissen durch das übliche Geschenkwesen. So ließ Kardinal Richelieu (1585–1642) dem Sultan ein astronomisches Werk übergeben und nannte seinerseits eine Reihe von türkischen und arabischen Handschriften sein Eigen.55 Will man einen Gegenstand benennen, der sowohl im Osmanischen Reich als auch in Zentraleuropa beliebt und sogar Modeartikel und Spekulationsobjekt war, so ist auf die Tulpe zu verweisen, die ab dem 16. Jahrhundert hier wie dort gezüchtet wurde. Die im persischen und osmanischen Herrschaftsbereich beheimatete Pflanze wurde als »Tulipa Turcarum« wahrscheinlich von dem Humanisten und Diplomaten Ogier Ghiselin de Busbecq
52 Vgl. Ulrich Rosseaux, Friedensverhandlungen und Öffentlichkeit. Der Westfälische Friedenskongress in den zeitgenössischen gedruckten Zeitungen, in: Maria-Elisabeth Brunert / Maximilian Lanzinner (Hg.), Diplomatie, Medien, Rezeption. Aus der editorischen Arbeit an den Acta Pacis Westphalicae, Münster 2010 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 32), S. 21–54, hier S. 50f. 53 Hinsichtlich der Disziplinen Astronomie und Medizin zeigt das beispielhaft Andreas Fingernagel (Hg.), Juden, Christen und Muslime. Im Dialog der Wissenschaften 500–1500, mit Beiträgen von Andreas Fingernagel u. a. [Ausstellungskatalog], Wien 2018. 54 Vgl. Ralf C. Müller, Franken im Osten. Art, Umfang, Struktur und Dynamik der Migration aus dem lateinischen Westen in das Osmanische Reich des 15./16. Jahrhunderts auf der Grundlage von Reiseberichten, Leipzig 2005, S. 338–340; Günter Prinzing, Zu Jörg von Nürnberg, dem Geschützgießer Mehmets II., und seiner Schrift »Geschicht von der Turckey«, in: Neslihan Asutay-Effenberger / Ulrich Rehm (Hg.), Sultan Mehmet II. Eroberer Konstantinopels – Patron der Künste, Köln / Weimar / Wien 2009, S. 59–75, hier S. 67, 74. 55 Vgl. Howard, Das Osmanische Reich, S. 207f. Richelieu entwarf die Hauptinstruktionen für die französischen Gesandten zum Westfälischen Friedenskongress; vgl. Croxton / Tischer, The Peace of Westphalia, S. 254 (»Richelieu, Armand-Jean du Plessis, cardinal-duke of«).
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(1522–1592) zuerst erwähnt.56 Der reiche Kaufmann und Ratspensionär Adriaen Pauw (1585–1653), auf dem Friedenskongress Mitglied der niederländischen Gesandtschaft,57 gehörte zu den besonders kreativen Liebhabern dieser damals kostspieligen Pflanze. Attraktion seines holländischen Landsitzes Heemstede war ein Tulpenbeet mit einer Art Spiegelkabinett, das die Illusion eines Blütenmeeres erzeugte, obwohl die Zahl der Tulpen relativ klein war.58 Möglicherweise hat er einige Blumenzwiebeln mit zum Kongress gebracht, denn Tulpen dienten auch als diplomatische Gastgeschenke,59 zudem gab es zumindest in Münster botanisch Interessierte.60 Pauw muss jedenfalls zu jenen gehört haben, für die »Türkisches« nicht nur aus Krieg und Gräueln bestand, sondern eben auch die Modeblume seiner Zeit implizierte. Im Allgemeinen aber war der Begriff »Türke« überwiegend negativ besetzt. Wie ein Blick in die Kongressakten und andere Textdokumente zeigt, wurde selten in neutraler Form vom »Türken« oder »Osmanischen Reich« gesprochen. Weit häufiger geschah dies in herabsetzender Weise.
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Die »Türkengefahr« als Thema bei den Friedensverhandlungen und in den Kongressstädten
Nachdem die Malteser im Herbst 1644 einen türkischen Konvoi im Mittelmeer angegriffen hatten und ein Zurückschlagen der Osmanen zu erwarten war, wurden die »Türken« ein Thema auf dem Westfälischen Friedenskongress. So informierte Kurfürst Maximilian I. von Bayern (1573–1651) seine Gesandten in Münster am 8. März 1645 »von des Großtürggen starckhen und weitaussechenden kriegspraeparatorien wider die werte Cristenheit, in specie auch wider die Venetianische republicq«.61 Man müsse mit Eifer und Ernst den Frieden fördern, 56 Vgl. Michaela Schmölz-Häberlein, Artikel »Tulpe«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 13, Stuttgart / Weimar 2011, Sp. 820–825, hier Sp. 821f. 57 Zu Pauws herausragender Stellung innerhalb der niederländischen Gesandtschaft siehe Dickmann, Der Westfälische Frieden, S. 198. 58 Vgl. Mike Dash, Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Geschichte, 3. Aufl., München 2002 (List-Taschenbuch, 60063), S. 104–106. 59 Vgl. Schmölz-Häberlein, Tulpe, Sp. 821. 60 Zu Wartenbergs Bibliothek gehörte ein Buch über Blumenzucht und Gartenanlagen. Sein Arzt Rottendorff veranlasste 1646 eine Neuauflage. Vgl. Helmut Lahrkamp, Ein Arzt und Dichter im Barockzeitalter. Aus dem Leben des Dr. med. Bernhard Rottendorff, in: Hermann Hugenroth, Zum dichterischen Werk des münsterschen Arztes und Humanisten Bernhard Rottendorff (1594–1671). Mit Beiträgen von Helmut Lahrkamp und Bertram Haller, hg. von Franz-Josef Jakobi, Münster 1991 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster, NF 15), S. 3–55, hier S. 17. 61 Kurfürst Maximilian I. von Bayern an seine Gesandten Haslang und Krebs, München, 1645 März 8, in: Gabriele Greindl / Gerhard Immler (Bearb.), Die diplomatische Korrespondenz
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»damit alßdann disem allgemeinen feindt deß Christlichen nahmens umb sovil besser begegnet und die anscheinende gefahr beyzeiten abgewendet werden möge«.62 Falls ein Universalfriede »auf einmahl« nicht erreicht werden könne, müsse wenigstens dem Heiligen Römischen Reich ein beständiger Friede verschafft werden. Falls das nicht schnell realisiert werden könne, müsse ein Waffenstillstand geschlossen werden und die Kriegsmacht nicht länger gegen Christen, sondern mit besserem Nutzen und Ruhm »gegen dem Türggen« angewendet werden.63 Die bayerischen Gesandten bündelten daraufhin die Verhandlungspunkte »Religionspunkt« und Waffenstillstand und wurden »ohnaufhörlich aller dienlicher ortten« vorstellig, motivierten zudem Chigi, wöchentlich dem Papst und dem Nuntius in Paris die drohenden Gefahren zu schildern und »mit voraugenstellung aller Türkhen- und widriger gefahren«, auch der drohenden Strafe Gottes, energisch auf einen Waffenstillstand zu drängen.64 Den Franzosen verdeutlichten sie die Gefahr, »so der ganzen Christenheit« aus dem Vorrücken der Türken erwachse, und dass sie daher umso mehr Ursachen zur Fortsetzung der Friedensverhandlungen hätten.65 Ein Waffenstillstand sowie zügige Verhandlungen, um wenigstens den Frieden für das Reich schnell zu erreichen, waren von Anfang an die vorrangigen Verhandlungsziele Kurfürst Maximilians, wie sie bereits in der Instruktion für seine Gesandten vom 12. Dezember 1644 zum Ausdruck kamen.66 Er griff die Kriegsvorbereitungen des Sultans auf, um dieses politische Ziel voranzutreiben. Dass der bevorstehende Waffengang gegen die Republik von Venedig bzw. die Insel Kreta zielte, sah Maximilian sehr wohl (»in specie auch wider die Venetianische republicq«), dennoch sprach er von Kriegsvorbereitungen »wider die werte Cristenheit«, und seine Gesandten argumentierten gegenüber anderen Diplomaten weisungsge-
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Kurfürst Maximilians I. von Bayern mit seinen Gesandten in Münster und Osnabrück, Bd. 2, Teilbd. 1: Dezember 1644 – Juli 1645, München 2009 (Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns I: Die diplomatische Korrespondenz Kurbayerns zum Westfälischen Friedenskongress), S. 78–81, hier S. 79f. – »Großtürgge« (»Großtürke«) bezeichnet den Sultan. Ebd., S. 80. Ebd. Schreiben der kurbayerischen Gesandten an Kurfürst Maximilian, Osnabrück, 1645 April 14, ebd., S. 129–132, hier S. 130. Diarium Wartenberg zu 1645 III 27; Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Kurköln VI, Nr. 240, fol. 818; Regest: APW, Serie III, Abteilung C: Diarien, Bd. 3: Diarium Wartenberg, Teil 1: 1644–1646, bearb. von Joachim Foerster, Münster 1987, S. 125 Z. 19–22. Instruktion Kurfürst Maximilians I. von Bayern an seine Gesandten Haslang und Krebs, ohne Ort 1644 Dezember 12, in: Gerhard Immler (Bearb.), Die diplomatische Korrespondenz Kurfürst Maximilians I. von Bayern mit seinen Gesandten in Münster und Osnabrück, Bd. 1: Die Instruktionen von 1644, München 2000 (Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns I: Die diplomatische Korrespondenz Kurbayerns zum Westfälischen Friedenskongress), S. 27–63, hier S. 39–41, Punkt »[3. Vorrang des Reichsfriedens]« und »[4. Waffenstillstand]«.
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mäß in diesem Sinne.67 Die Vorstellung, dass ein Angriff der Osmanen auf ein beliebiges christliches Gemeinwesen jeweils als pars pro toto die Christenheit als Ganzes treffen solle, eignete sich ausgezeichnet als Baustein einer Argumentation, die darauf abzielte, wenigstens den europäischen Teil derselben zu mobilisieren, wenn ein Reich oder Gemeinwesen von der Hohen Pforte angegriffen wurde. Die Osmanen erscheinen damit in den Worten Kurfürst Maximilians als »allgemeine[r] feindt deß Christlichen nahmens«,68 ihre kriegerischen Unternehmungen, sofern sie sich gegen christliche Gemeinwesen richteten, eindimensional als Religionskriege. Gerade im Fall des Kandiakrieges blieben damit andere Motive unberücksichtigt: Strategische Erwägungen machten den Besitz des Archipels Kreta, der »große[n] Barriere vor dem Mund der Ägäis«,69 für die Hohe Pforte erstrebenswert, denn von dort aus konnte Venedig die Seewege der Osmanen nach Ägypten, Syrien und dem Maghreb gefährden. Kurfürst Maximilian hatte sich zwar schon in seiner Instruktion vom Dezember 1644 über die osmanische Gefahr geäußert, aber das geschah nur im Kontext von Anweisungen an seine Gesandten, wie sie während ihrer Reise nach Münster bei ihrem Aufenthalt in Würzburg den dortigen Bischof Schönborn (1605–1673) unter Hinweis auf den bedrohlichen »Erbfeind« von der Notwendigkeit eines raschen Friedensschlusses überzeugen sollten.70 Es gab keine Weisung, mit anderen Diplomaten über konkrete Hilfe für Venedig oder gar für Planungen zu einem Kriegszug gegen die Osmanen zu beraten oder irgendeine Initiative in dieser Richtung zu ergreifen. Die Türkengefahr war, so scheint es, vorrangig ein Argument, um die eigenen Verhandlungsziele zu erreichen. Entsprechend agierte der kaiserliche Hauptgesandte Graf Trauttmansdorff (1584–1650). Am 8. Februar 1646 schrieb er aus Osnabrück an seine Kollegen in Münster, welch große Vorbereitungen »der erbfeindt cristlichen nahmenß, der Turckh, zu kunfftigen veldtzug wider die christenheit mache«;71 im Frühjahr wolle er mit drei Armeen angreifen. Die beigefügte Meldung hatte mehrere Stationen durchlaufen,72 bis sie Westfalen erreichte. Trauttmansdorff gab zu67 68 69 70
Siehe Anm. 61 und 65. Wie Anm. 62. Eickhoff, Venedig, S. 20f. Vgl. die Instruktion Kurfürst Maximilians I. von Bayern bei Immler, Korrespondenz, S. 52. Die Gesandten sollten auf die unmöglich länger aufzubringenden Kriegskosten verweisen. Daher werde er zustimmen, dass man Ursache habe, eher nach dem Frieden als nach Fortsetzung des landverderblichen Kriegs zu trachten, und zwar ohne Verzug »ehe der erbfeind mit dem Römischen Reich auch rumpirt und mit in daß spil kombt […].« Der schon im 16. Jahrhundert auf den »Türken« bezogene Begriff »Erbfeind« meint den »geborenen Feind, bei dem es keines aktuellen feindseligen Akts bedurfte, um ihn zum Feind zu erklären«, so die Definition bei Schulze, Reich, S. 55. 71 APW, Serie II, Abteilung A: Die kaiserlichen Korrespondenzen, Bd. 3: 1645–1646, bearb. von Karsten Ruppert, Münster 1985, S. 228 Z. 10–13. 72 Ebd., S. 230 Z. 21–29.
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mindest vor, der Nachricht vom bevorstehenden türkischen Großangriff Glauben zu schenken, und benutzte sie, um auf einen schnellen, für den Kaiser günstigen Friedensschluss zu drängen, damit man allerseits »diesem blutdurstigem erbfeindt die allerseit auf den beinen habende cristliche waffen entgegensetze«.73 In den folgenden Wochen und Monaten kam es tatsächlich zumindest mit Frankreich zu substanziellen Verhandlungen, die in die Satisfaktionsvereinbarung vom September 1646 mündeten und den schon erwähnten Passus über eine eventuelle französische »Türkenhilfe« enthielten.74 Die Strategie war also im Prinzip dieselbe wie bei den bayerischen Gesandten: Übergeordnetes Ziel war es, eine Beschleunigung der Verhandlungen und einen baldigen Friedensschluss zu möglichst günstigen Konditionen zu erreichen. Die Taktik bestand darin, Furcht vor der Aggressivität der Osmanen zu erregen, die nicht nur Venedig, die kaiserlichen Erblande oder das Reich, sondern die gesamte Christenheit treffen werde, wenn die Verhandlungspartner ihre Forderungen nicht herabsetzten und damit einen Friedensschluss ermöglichten. Um die von den Osmanen ausgehende Gefahr dramatisch zu akzentuieren und implizit an frühere »Türkenkriege« und damit verbundene Gräuel zu erinnern, bediente sich Trauttmansdorff des Stereotyps »Erbfeind«, in seiner negativen Aussage noch gesteigert durch das Epitheton »blutdürstig«, und evozierte damit die Vorstellung, dass der Angriff der Osmanen aus prinzipiell gegebener »Erbfeindschaft« resultiere und nicht etwa einem begrenzten militärisch-politischen Ziel gelte. Die argumentative Verwendung derartiger Stereotype war teils erfolgreich, teils nicht. Der kurbrandenburgische Gesandte gab beim Thema der Demobilisierung nach Friedensschluss zu bedenken, dass der Kaiser auch nach Beendigung des Kriegs Truppen »gegen den erbfeind« benötigen werde.75 Hingegen ließen sich die schwedischen Diplomaten mit solchen Argumenten nicht beeindrucken. Im Mai 1646 erklärten sie gegenüber einer reichsständischen Deputation, mit einem in Aussicht genommenen Vertragsartikel schwerlich ein73 Ebd., S. 228 Z. 33f. Das Schreiben Trauttmansdorffs vom 8. Februar 1646 enthält Anweisungen an seine Kollegen in Münster, den Mediatoren die drohende Gefahr vor Augen zu führen und sie zu veranlassen, sich unverzüglich zu den französischen Gesandten zu begeben, um diese dazu zu bringen, von ihren »uncristlichen« Forderungen abzulassen und mit dem Kaiser Frieden zu schließen. Vgl. ebd., S. 228f. 74 Siehe Anm. 23. 75 Kurbrandenburgisches Votum im Kurfürstenrat am 21. März 1646, siehe APW, Serie III, Abteilung A, Bd. 1: Die Beratungen der kurfürstlichen Kurie, Teil 1: 1645–1647, bearb. von Winfried Becker, Münster 1975, S. 551 Z. 25f. Ähnlich äußerte sich der österreichische Gesandte im Fürstenrat Osnabrück am 17. März 1646: Der Kaiser benötige Truppen »zu verwahrung ihrer provincien, ia vielmehr für das Reich unndt die ganze christenheit, sintemahl sonst der erbfeind […] gewaltig weit einbrechen dürffte […].« APW, Serie III, Abteilung A, Bd. 3: Die Beratungen des Fürstenrates in Osnabrück, Teil 3: 1646, bearb. von Maria-Elisabeth Brunert und Klaus Rosen, Münster 2001, S. 373 Z. 2–5.
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verstanden zu sein, nicht nur wegen bestimmter Folgerungen für ihre Armee, sondern auch, weil der Kaiser unter dem »praetext« (Vorwand) eines Einfalls der Türken Garnisonstruppen behalten dürfe.76 Sie glaubten also nicht an Angriffe der Osmanen, die den Kaiser bedrohen könnten. Es gibt Hinweise, dass die Bevölkerung der Kongressstädte durch die Meldungen über türkische Kriegsvorbereitungen stärker beeindruckt war als die über viele Nachrichtenkanäle und daher besser informierten Diplomaten. Ein prominenter Vertreter der Stadtbevölkerung war der Münsteraner Ratsherr und gelehrte Humanist Dr. Bernhard Rottendorff (1594–1671), der als Stadtarzt eine Scharnierfunktion zwischen den Einheimischen und den fremden Diplomaten hatte. Seine 1646 in Latein und 1647 als Flugschrift in Deutsch publizierte Abhandlung, warum die christlichen Herrscher den »innerlichen Krieg« beenden und Frieden schließen sollten,77 richtete sich zunächst an die Diplomaten. Mit drastischen Worten bezeichnet er den »Türken« darin einmal als »blutdürstigen Christenfeind«, der ganz Europa, soweit es christlich sei, mit gänzlichem Verderben bedrohe; an anderer Stelle nennt er ihn gar einen »grawsamen Tyrannen und Bluthund«.78 Auch die Bezeichnung »Ertzfeind christlichen Namens«79 fehlt nicht, dessen wichtigste Eroberungen Rottendorff aufzählt. Deshalb sei dringlich, dass die christlichen Fürsten »den einheimischen Krieg beyseit legen und mit gesampter Macht sich dem Türcken widersetzen«.80 Zeitgenössische Bezugnahmen auf diesen Text, der mit Lahrkamp als »Friedensappell«,81 aber auch als Aufruf zum Türkenkrieg bezeichnet werden kann, sind nicht bekannt,82 obwohl Rottendorff enge Beziehungen zu verschiedenen Gesandtschaften unterhielt. Zu seinem Bekanntenkreis gehörten Chigi, der sein Patient war, und Wartenberg, dem er die Erstfassung zueignete.83 Vermutlich hat Rottendorff aus 76 APW, Serie III, Abteilung A, Bd. 6: Die Beratungen der Städtekurie Osnabrück 1645–1649, bearb. von Günter Buchstab, Münster 1981, S. 222 Z. 4–14 (Sitzungsprotokoll von 1646 V 16). 77 Schlüsselseiten online unter: VD17 23:279364K, zit. nach URL: http://www.gbv.de/vd/vd17/ 23:279364K [04. 07. 2018]. Edition der deutschen Version in: Helmut Lahrkamp, Ein vergessener Friedensappell des münsterschen Arztes Dr. Bernhard Rottendorff aus dem Jahre 1647, in: Westfälische Forschungen 27 (1975), S. 118–128, Titel: S. 118, Edition: S. 118–124, Widmung an die Gesandten: S. 119. Die ursprüngliche lateinische Fassung enthielt eine Widmung an Wartenberg und war Teil der Vorrede zu dem von Rottendorff neu publizierten botanischen Fachbuch (siehe dazu Anm. 60); die Widmung an Wartenberg datiert vom 29. April 1646. 78 Ebd., S. 119, 121. 79 Ebd., S. 123. 80 Ebd. 81 Siehe Anm. 77. 82 So Gerd Dethlefs, Friedensappelle und Friedensecho. Kunst und Literatur während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden, Phil. diss. Münster (Westf.) 1998, S. 169, zit. nach URL: https://d-nb.info/974396788/34 [07. 02. 2019]. 83 Vgl. Lahrkamp, Friedensappell, S. 124f.; zu Wartenberg siehe oben in Anm. 60.
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eigenem Antrieb zur Feder gegriffen, denn zur mutmaßlichen Entstehungszeit der ersten, lateinischen Fassung (später Winter/Frühjahr 1646) lagen in den Kongressstädten Meldungen über bedrohliche Kriegsvorbereitungen der Osmanen vor,84 die den Ratsherrn bewogen haben können, seinen mit antitürkischen Ausfällen reichlich versehenen Friedensappell zu Papier zu bringen. Die Spekulationen eines reformierten Predigers aus derselben Zeit können als weiterer Hinweis gewertet werden, dass neben den Diplomaten und ihrem Begleitpersonal auch die Bevölkerung der Kongressstädte mit dem Thema »Türkengefahr« konfrontiert wurde. Der Prediger prognostizierte im April 1646 in Münster, dass die Osmanen Österreich und Italien besetzen und den päpstlichen Stuhl zerstören würden. Erst dann werde es zum rechten Frieden und zur weltweiten Ausbreitung der reformierten Lehre kommen. Die meisten Zuhörer machten sich darüber lustig, aber ein Teil bewunderte seine Ausführungen.85 Diese Predigt wie auch die katholischen außerordentlichen Bitttage vom September 164586 und die lutherische Festpredigt vom Oktober 1648 zeigen, dass die von den Osmanen vermeintlich ausgehende, aktuelle Bedrohung ein konfessionsübergreifendes, die Friedensverhandlungen bis zum Ende begleitendes Motiv war, das die traditionellen antitürkischen Ressentiments aufgriff und unterstützte. Die von den Geistlichen genährte, von Rottendorff angestachelte und von den kaiserlichen und kurbayerischen Diplomaten in argumentativem Kontext benutzte »Türkenfurcht« wäre wirkungslos geblieben, wenn das Osmanische Reich nicht tatsächlich seit Jahrhunderten expandiert hätte und während der Friedensverhandlungen durch den Angriff auf Kreta nicht erneut als Aggressor hervorgetreten wäre. Auch die instabilen Verhältnisse im habsburgisch-osmanischen Grenzbereich werden dazu beigetragen haben, dass die antitürkischen Ressentiments bewahrt blieben oder sich sogar verhärteten. Auf etwas längere Sicht hin betrachtet waren die auf dem Friedenskongress artikulierten, wirklichen oder vorgetäuschten Besorgnisse sogar angebracht: Schon 1663 brach der nächste, der »Kurze Türkenkrieg«, aus, so bezeichnet, weil die Osmanen zurückgeschlagen werden konnten, sodass er schon 1664 endete.87 Wiederum 19 Jahre später standen »Die Türken vor Wien«88, doch rettete ein Entsatzheer 84 Wie Anm. 71. 85 Der schwedische Resident in Münster sandte Angaben über die Predigt inklusive der Reaktion des Publikums am 27. April 1646 an den Gesandten Oxenstierna in Osnabrück; Text (deutsches Regest): APW, Serie II, Abteilung C: Die schwedischen Korrespondenzen, Bd. 2: 1645–1646, bearb. von Wilhelm Kohl, Münster 1971, S. 256 Z. 8–19. 86 Zu den Bitttagen siehe Anm. 47 und zur Festpredigt vom Oktober 1648 Anm. 42. 87 Vgl. Wrede, Das Reich, S. 69–71. 88 So der Titel des Katalogs zur Wiener Gedächtnisausstellung 1983: Die Türken vor Wien. Europa und die Entscheidung an der Donau 1683, 82. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien […] 5. Mai bis 30. Oktober 1983, Wien [1983]. Zur Allianz des
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kaiserlicher, reichsfürstlicher und polnischer Truppen unter König Johann III. Sobieski (1629–1696) die österreichische Hauptstadt. Nach weiteren osmanischen Niederlagen befand sich das türkische »Feindbild im Niedergang«.89
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Fazit
Die Osmanen waren nicht am Dreißigjährigen Krieg beteiligt, da anfänglich ihre Auseinandersetzung mit Persien anderweitige militärische Engagements verhinderte und in den 1640er Jahren ihr Krieg um Kreta eine Verwicklung in den großen europäischen Konflikt inopportun erscheinen ließ. So gehörten sie auch nicht zu den Teilnehmern am Westfälischen Friedenskongress. Obwohl sie mit zwei zentralen Verhandlungsparteien, dem Kaiser und Frankreich, schon seit mehreren Jahrzehnten vertraglich verbunden waren, wurden sie in den Verhandlungen als bedrohliche Feinde hingestellt, auf deren Angriffe die in Münster und Osnabrück vertretenen Mächte vorbereitet sein müssten. Als eine Voraussetzung dafür wurde die aus dem Mittelalter tradierte Auffassung benannt, dass »die Türken« sich permanent im Kampf gegen »die Christen« befänden, sodass ein paar Jahrzehnte ohne Angriffe als Intervall in einem ständigen Krieg interpretiert werden konnten. Entsprechend verweisen die schon im 16. Jahrhundert popularisierten Bezeichnungen »des Türken« als »Erzfeind« und »Erbfeind« auf die Wahrnehmung der Osmanen als Gegner, die über einen Feldzug oder Krieg hinaus dauerhaft als aggressive Kontrahenten galten. So konnte der seit Herbst 1644 erwartete und im Sommer 1645 tatsächlich einsetzende Angriff der Osmanen auf Kreta wie ein Signal wirken, das zumindest latent vorhandene Ängste schürte. Die kaiserlichen und kurbayerischen Diplomaten nutzten die Aggression gegen die Mittelmeerinsel wie auch weitere Meldungen über umfassende Kriegsvorbereitungen der Osmanen verhandlungstaktisch als Argument, dass angesichts eines bevorstehenden allgemeinen Kriegs der »Türken« gegen die Christen umso zügiger verhandelt und ein rascher Friedensschluss erstrebt werden müsse, um die innere Einheit der Christenheit zu fördern und sie auf den großen zu erwartenden Angriff des »Erbfeinds« vorzubereiten. Die kaiserlichen Gesandten erreichten 1646 zumindest ein »befristetes Agreement« (Konrad Repgen) mit Frankreich. Der damit in Zusammenhang ausgehandelte geheime Artikel über französische Hilfeleistungen für den Fall eines offenen Kriegs der Osmanen gegen den Kaiser zeigt, dass FrankKaisers mit König Johann III. Sobieski von Polen ebd., S. 59; zum Sieg der Alliierten Wrede, Das Reich, S. 143. 89 Ebd., S. 145.
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Maria-Elisabeth Brunert
reich durch die Argumentation der Kaiserlichen bis zu einem gewissen Grad zu beeindrucken war. Hingegen hielt Schweden, das selbst durch die nördliche Lage seines Herrschaftsgebiets vor Angriffen der Osmanen geschützt war, Hinweise auf die gefährdete Lage der kaiserlichen Erblande für vorgeschoben. Mit den angeblichen oder wirklichen Gefahren, die von den Osmanen ausgingen, wurden neben den Diplomaten auch die Einwohner der Kongressstädte konfrontiert. Durch Zeitungsmeldungen wurden sie relativ sachlich, aber keineswegs neutral über den Kandiakrieg informiert. Wesentlich aufreizender müssen die kirchlichen Verlautbarungen, Gebetsaufrufe und Predigten gewirkt haben, zumal zumindest der Stadtrat von Münster, wahrscheinlich aber allgemein die Einwohnerschaft der Kongressstädte durch Remigranten über das harte Los gefangener Christen im Osmanischen Reich orientiert war. Demgegenüber kann der bereits seit dem Mittelalter nachweisbare beiderseitige Kultur- und Wissenstransfer das Bild des »Türken« in Zentraleuropa nicht wesentlich aufgehellt haben, denn es war vorwiegend eine soziale und intellektuelle Elite, die sich in diesen Bereichen auskannte. Dazu gehörte neben Wissenschaftlern, Sammlern und (Waffen-)Experten auch die Leitungsebene der Regierungen und Verwaltungen, die zum Beispiel informiert war, dass es durchaus funktionierende Verträge zwischen christlichen Mächten und den »Türken« gab, unbeschadet der Tatsache, dass diese nicht nur in Predigten und Pamphleten, sondern selbst in Kreisen der Diplomaten als »blutdürstig« oder »Bluthunde« diffamiert wurden. Die Osmanen konnten so Vertragspartner sein und andererseits – auch in den Westfälischen Friedensverhandlungen – als »Erz-« oder »Erbfeinde« bezeichnet werden. Sie wirkten darüber hinaus als Akteur im Hintergrund, gerade weil sie durch ihren Angriff auf Kreta Veranlassung gaben, ihre »Erbfeindschaft« verhandlungstaktisch als Mittel zur Beschleunigung der Verhandlungen zu nutzen.
Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
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Vertragspartner, »Erbfeind«, Akteur im Hintergrund?
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Dorothée Goetze
De la Motrayes Reisen in die Morgenländer. Interreligiöses und interkonfessionelles Zusammenleben im frühneuzeitlichen Osmanischen Reich im Reisebericht Aubry de la Motrayes
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Anselme Aubry de la Motrayes »Travels through Europe, Asia and into Part of Africa«
»In the latter End of October [1698] I resolved upon a Voyage and Settlement at Constantinople«1 – mit diesen Worten leitet Aubry de la Motraye die Beschreibung seiner Reise ins Osmanische Reich ein. Anlass dazu boten ihm nach eigener Aussage vor allem Neugier und die Vorstellung von Abenteuern, die er mit seinem Reiseziel verband.2 Der 1674 in Frankreich geborene Anselme Aubry de la Motraye (gestorben 1743 in Paris) ist heute weitgehend unbekannt. Die Forschung nimmt an, dass seine Familie in Folge des Edikts von Fontainebleau (1685) nach England emigriert ist. Allerdings ist es durchaus möglich, dass er erst Anfang 1698 den Entschluss gefasst hat, sich in England zu etablieren. In seinem Reisebericht bemerkt er, »[h]earing in the Beginning of January 1698, that Count Tallard was named to go as Ambassador to the Court of Great Britain the next Month, I took a Resolution to pass over into England at the same Time.«3 Dass Tallards Ernennung zum Botschafter am englischen Hof den Anstoß für de la Motraye gibt, nach England zu gehen, könnte als Indiz für eine Patronage1 [Aubrey de la Motraye], A. de la Motraye’s Travels through Europe, Asia and into Part of Africa […], Vol. 1, London 1723, S. 150. Orthographie und Kursivierungen der Vorlage werden auch im Folgenden beibehalten. 2 Vgl. ebd. Wörtlich: »my own Curiosity, and the advantageous Idea which I had already conceiv’d of that Place«. 3 Ebd., S. 115. Gemeint ist Camille d’Houstun, Comte de Tallard, der zwischen 1698 und 1701 als Gesandter Frankreichs am englischen Hof weilte (vgl. zu ihm Ludwig Bittner / Lothar Groß (Hg.), Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), Bd. I: 1648–1715, Oldenburg / Berlin 1936, S. 217; Listes des membres de l’Académie de sciences depuis sa création en 1666. Les membres du passé dont le nom commence par T, zit. nach URL: http://www.academie-sciences.fr/fr/Liste-des-membres-depuis-la-creationde-l-Academie-des-sciences/les-membres-du-passe-dont-le-nom-commence-par-t.html [28. 06. 2018]).
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Dorothée Goetze
Klientel-Beziehung zwischen den beiden gelesen werden und damit für de la Motrayes Rückbindung an die französische höfische Gesellschaft. Allerdings bleibt diese Vermutung spekulativ, da nichts über de la Motrayes Hintergrund oder seine Ausbildung und kaum etwas über seine Biographie bekannt ist. Sein Testament vom 19. Juni 1742 gibt zumindest Hinweise auf seine familiäre Situation. Darin werden seine Frau, Mary Leffend de la Motraye, seine Tochter, Jane Gilchrist, und seine Enkelinnen, Elizabeth Gilchrist und Ann Gilchrist Spinstors, erwähnt.4 Zwischen 1696 und 1727 bereiste dieser unbekannte Franzose für drei Jahrzehnte den Mittelmeerraum, das Osmanische Reich, Skandinavien, das Baltikum sowie England und Irland. In der Literatur finden sich Andeutungen, dass er nach der Rückkehr von seiner ersten großen Reise nach England eine Pension des Königs erhalten hat.5 Über seine Reisen fertigte Aubry de la Motraye einen insgesamt dreibändigen Reisebericht an: die ersten beiden Bände dokumentieren die Reisen im Mittelmeerraum und im Osmanischen Reich sowie durch Mitteleuropa und nach Skandinavien zwischen 1696 und 1720.6 Sie erschienen drei Jahre nach seiner Rückkehr nach England in englischer Sprache. 1727 wurde eine französische Übersetzung mit inhaltlichen Abweichungen von der englischen Erstausgabe publiziert.7 1732 kam ein dritter Band über seine Reise ins Baltikum und nach Sankt Petersburg sowie nach Litauen und Irland (1726–1727) zunächst auf Französisch heraus. Noch im gleichen Jahr wurde dieser ins Englische übersetzt. 1783 wurde eine deutsche Auszugsübersetzung seines Reiseberichts unter dem
4 Vgl. das Testament: Will of Anselme Aubry de la Motraye of Saint Gils in the Fields, Middlesex (National Archives, PROB 11/724/284). Zusammenfassend zu de la Motrayes Biographie siehe Dorothée Goetze, Sprechen über Straßen. Zur Funktion von Straßen in Aubry de la Motrayes (1674–1743) Travels through Europe, Asia and into part of Africa, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 36 (2018), S. 53–71, dort auch weiterführende Literatur. 5 Ohne Belege: Eugène Haag / Emile Haag, La France protestante, ou Vies des protestants français […], Vol. VI: Huber-Lesange, Paris 1846–1859, Nachdruck Genf 1966, S. 255. 6 Motraye, Travels, Vol. 1–2, London 1723; Vol. 3, London 1732; Digitalisate: https://archive.org /details/adelamotrayest00lamo/page/n9/mode/2up (Vol. 1); https://archive.org/details/adela motrayestra00la/page/n9/mode/2up (Vol. 2); https://archive.org/details/adelamotrayestra00l am (Vol. 3) [10. 09. 2020]. 7 [Aubry de la Motraye], Voyages dur Sr. A. de la Motraye en Europe, Asie et Afrique […], Vol. 1–2, La Haye 1727, Vol. 3, La Haye 1732. – Digitalisate der französischsprachigen Drucke finden sich bei: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1045063.r=aubry de la motraye?rk=21 459;2 (Vol. 1); https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k104507g?rk=42918;4Um (Vol. 2) [10. 09. 2020]. Der dritte Band des Reiseberichts liegt in einer zweisprachigen Ausgabe (Französisch/ Englisch) digitalisiert vor: https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1513016f/f1.image.r=aubry de la motraye [10. 09. 2020].
De la Motrayes Reisen in die Morgenländer
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Titel »Reisen des Herrn de la Motraye in die Morgenländer« auf den Markt gebracht.8 Sein kritischer Kommentar zu Voltaires Geschichte Karls XII. von Schweden, der diesem Werk ab 1734 beigefügt wurde, schloss de la Motrayes Œuvre 1732 offenbar ab.9 Dass diese Anmerkungen Voltaires Biographie über den schwedischen König beigegeben wurde, verweist ebenso wie der Eintrag zu ihm in Zedlers Universallexikon auf die Relevanz, die de la Motraye zeitgenössisch zuerkannt wurde, obwohl er uns heute weitgehend unbekannt ist.10 Entsprechend wird sein Reisebericht zwar bis heute rezipiert und es wird immer wieder unsystematisch darauf verwiesen. Eine umfassende Analyse desselben bleibt allerdings ein Desiderat.11 Auffällig ist zudem, dass das Werk de la Motrayes in der Reiseliteraturforschung kaum behandelt wird. So fehlt de la Motraye etwa in der Anthologie von Vincent Fournier zu Reisenden nach Skandinavien, aber auch in Katalin Schobers Studie zur Antikenrezeption in britischen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts oder dem von Michèle Longino verantworteten Sammelband zu französischen Reiseberichten über das Osmanische Reich.12 Explizit auf de la Motraye bezieht sich hingegen Eric Schnakenbourg in seinem Beitrag zu französischen Reisenden in Skandinavien des 17. und 18. Jahrhunderts.13
8 [Aubry de la Motraye], Reisen des Herrn de la Mottraye in die Morgenländer. Aus der Französischen Urschrift in einen Auszug gebracht, Berlin / Stettin 1783, Digitalisat: http://digi tale.bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1-496325 [10. 09. 2020]. 9 Voltaire, L’histoire de Charles XII. Roi de Suède. Avec des Remarques Historiques & Critiques, pour servir de Supplement à cet Ouvrage, par M. de La Motraye, Vol. 1–2, London 1734. 10 Art. »Motraye, Anselmus de la«, in: Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges UniversalLexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 21: Mi-Mt, Leipzig / Halle 1739, Sp. 1946, zit. nach dem im Quellenverzeichnis durch URL ausgewiesenen Digitalisat; mit falschem Publikationsdatum des Reiseberichts. 11 Eine Ausnahme stellt mit Fokus auf die Repräsentation der Reiseinfrastruktur dar: Goetze, Sprechen über Straßen; vgl. zur Rezeption des Reiseberichts in Estland Marge Rennit, Prantsuse rännumees Aubry de La Motraye ja tema 18. sajandi I poole Balti provintside kirjeldused, in: Õpetatud Eesti Seltsi Aastaraamat/Yearbook of the Learned Estonian Society, Vol. 2010 (2011), S. 85–110. 12 Vincent Fournier, Le voyage en Scandinavie. Anthologie de voyageurs 1627–1914, Paris 2001; Katalin Schober, Räume des antiken Griechenland in britischen Reiseberichten des 18. Jahrhunderts. Wahrnehmung und Imagination, Trier 2015 (ELCH, 64); Michèle Longino Farrell (Hg.), French Travel Writing in the Ottoman Empire. Marseilles to Constantinople, 1650–1700, New York 2015 (Routledge Research in Travel Writing, 11). 13 Eric Schnakenbourg, Travelling to Scandinavia: The French Visitors’ Experience of the North, 17th–18th Century, in: Silje Gaupseth / Marie-Theres Federhofer / Per Pippin Aspaas (Hg.), Travels in the North. A Multidisciplinary Approach to the Long History of Northern Travel Writing, Hannover 2013 (TROLL, 13), S. 75–96.
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»Islamische Welt – christliche Welt«: Anforderungen an die Vermittlung im Geschichtsunterricht
Insgesamt hielt sich Motraye rund vierzehn Jahre im Osmanischen Reich auf und bereiste dessen unterschiedliche Regionen.14 1697 schloss er sich in Venedig Pilgern nach Jerusalem an. Allerdings musste er seine Reise krankheitsbedingt in Rama15 abbrechen. Von dort aus kehrte er über Alexandria und Tripolis nach Frankreich als Ausgangspunkt seiner Reise zurück – und hatte somit den Süd(west)en des Osmanischen Reiches kennengelernt.16 Im November 1698 brach er zu seiner zweiten, eingangs zitierten Reise auf, die ihn direkt nach Konstantinopel führte. Bis 1714 hielt er sich mit kürzeren Unterbrechungen im Osmanischen Reich auf.17 Obwohl de la Motraye einleitend von Neugier und Abenteuer spricht und dem Osmanischen Reich damit einen Hauch von (Nah-)Exotik und Wildnis verleiht, waren Reisen dorthin Anfang des 18. Jahrhunderts keine Ausnahmen mehr, sondern konnten an eine gewisse Tradition seit dem 16. Jahrhundert anschließen. Hasan Baktir weist daher unter Bezugnahme auf die englische literarische Produktion von Aufzeichnungen, Reiseberichten und ähnlichem über das Osmanische Reich zurecht darauf hin, dass »the Ottoman world, though different and complex, was a familiar and knowable reality to the Europeans.«18 Aufgrund seines sehr langen Aufenthaltes im Osmanischen Reich und der sehr guten Überlieferungssituation in drei Sprachen bietet sich de la Motrayes Reisebericht als Grundlage für die Behandlung des Inhaltsfeldes 2 des Kernlehrplans für Geschichte für die Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen, »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit«, an. Dem Inhaltsfeld geht es um »einen Perspektivenwechsel« und die »Reflexion von gegenwärtig wirksamen Feinbildern und Stereotypen« durch die Historisierung eines gegenwärtig hochaktuellen Themas.19 Als Schwerpunkte der thematischen Auseinandersetzung werden »Religion und Staat«, »Die Entwicklung von Wissenschaft und Kultur«, »Die Kreuzzüge« und »Das Osmanische Reich und ›Europa‹ in der Frühen Neuzeit« benannt.20 14 15 16 17 18
Motraye, Travels I, S. 188 (»during almost fourteen Years that I was in Turky«). Ortsbezeichnungen werden aus der Quelle übernommen. Motraye, Travels I, S. 75–99. Ebd., S. 150–345; Motraye, Travels II, S. 1–121, 156–173. Hasan Baktir, The representation of the Ottoman Orient in Eighteenth Century English Literature. Ottoman Society and Culture in Pseudo-Oriental Letters, Oriental Tales and Travel Literature, Stuttgart 2010, S. 17. 19 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Geschichte, 1. Aufl., Düsseldorf 2014, S. 18. 20 Ebd., S. 24.
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Folgt man dem Lehrplan, so liegt der epochale Schwerpunkt des Inhaltsfeldes eindeutig im Mittelalter. Dieser Befund ergibt sich aus der Beschreibung der durch die Schüler:innen zu entwickelnden Sachkompetenz. Demnach sollen sie »das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht« in christlich-europäischen und islamischen Staaten im Zeitalter der Kreuzzüge beschreiben, ebenso wie die »Stellung von religiösen Minderheiten und die Praxis des Zusammenlebens« in christlichen und islamischen mittelalterlichen Gesellschaften. Die Frühe Neuzeit wird lediglich in dem Punkt explizit genannt, dass Schüler:innen »das Verhältnis zwischen dem Osmanischen Reich und Westeuropa in der Frühen Neuzeit« darstellen können.21 Diese Konzentration auf das Mittelalter mag den Vorteil haben, dass das vorreformatorische westliche Christentum im Sinne didaktischer Vereinfachung als Einheit gefasst werden kann. Weiterhin mag durch die stärkere zeitliche Distanz zum Mittelalter der analytische Blick auf das Verhältnis von Christen und Muslimen unverstellt sein. Andererseits können gerade aus dieser ausgeprägteren Distanz auch Schwierigkeiten entstehen, da diese bei der Vermittlung eines solch komplexen Themas für ein adäquates Verstehen überbrückt werden müssen. Daher kann die im Lehrplan geforderte Aktualisierung historischer Konstellationen am Beispiel der Frühen Neuzeit als »Musterbuch der Moderne« und der somit größeren Nähe zur Gegenwart leichter fallen.22 Vor allem aber sollte aufgrund der elementaren Veränderungen der Frühen Neuzeit, insbesondere in Hinblick auf Religion in Europa und die Umgestaltung der Beziehungen zum Osmanischen Reich durch diplomatische Kontakte, diese Epoche intensiver im Unterricht berücksichtigt werden, als es die Erläuterung des Lehrplans vorgibt. Insgesamt stellt die Vermittlung dieses Inhaltsfeldes sehr hohe Anforderungen an Lehrer:innen, sowohl auf der Wissensebene als auch in Bezug auf die Perspektivität des Unterrichts. Neben Wissen um die Entwicklungen des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit müssen Lehrer:innen auch über grundlegende Kenntnisse der Geschichte des Osmanischen Reiches, seiner Kultur und seiner Gesellschaft für diesen Zeitraum verfügen. Dabei sind Lehrkräfte mit der Tatsache konfrontiert, dass die deutsch-, englisch- und französischsprachige Forschung noch immer eurozentrisch dominiert wird. Das meint, dass die Blickrichtung von Europa ins Osmanische Reich geht bzw. die Entwicklungen dort aus einer europäischen Perspektive beschrieben werden. Die
21 Ebd. 22 Winfried Schulze, »Von den Anfängen des neuen Welttheaters.« Entwicklung, neuere Ansätze und Aufgaben der Frühneuzeitforschung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 44 (1993), S. 3–18, hier S. 9.
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Gegenperspektive bleibt daher oft verdeckt.23 Dies ist bei der Vermittlung des Themas, das auf Begegnung und Interaktion zwischen unterschiedlichen Kulturund Religionskreisen abzielt, zu beachten, da aus dieser Forschungslage die Gefahr erwächst, dass die einseitig europäische Wahrnehmung zur allgemein gültigen erhoben wird. Hier ist eine Sensibilisierung der Lehrkräfte, aber auch der Schüler:innen für diesen Umstand notwendig. Über historisches Wissen hinaus müssen Lehrer:innen für die Vermittlung des Inhaltsfeldes auch über Grundwissen zu Islam und Christentum verfügen. Dies ist zwingende Voraussetzung für die Bearbeitung des Schwerpunktes »Staat und Religion«, auf dem der Fokus dieses Beitrags liegt. Im Folgenden soll vor allem das Zusammenleben unterschiedlicher Religionen im Osmanischen Reich exemplarisch thematisiert werden. Dies ist möglich, da de la Motrayes Reisebricht eine, wenngleich europäische Innensicht auf das Osmanische Reich bietet. Hierbei wird besonders auf die Aspekte religiöser Toleranz sowie Konflikte zwischen verschiedenen Religionsgruppen und Konfessionen fokussiert. Dabei steht in Anschluss an das Oberthema des vorliegenden Sammelbandes das Verhältnis von Christen und Muslimen im Mittelpunkt. De la Motrayes Aussagen zu Juden, aber auch orthodoxen Christen werden lediglich am Rande Erwähnung finden. Bereits die hier skizzierten Schwerpunkte des vorliegenden Beitrags verweisen darauf, dass das religionswissenschaftliche Wissen der Lehrkräfte über die allgemeine Unterscheidung der Religionen hinausgehen muss, da es sich weder beim Islam noch beim Christentum um monolithische Blöcke handelt, sondern es jeweils unterschiedliche konfessionelle Ausprägungen zu differenzieren gilt. Um das Erkenntnispotenzial der hier vorgestellten Quelle für die Vermittlung des Themas aufzuzeigen, werden methodisch Textbeispiele aus dem Reisebericht jeweils mit konkreten Fragestellungen für den Unterricht verknüpft. Zunächst ist jedoch eine quellenkritische Einordnung des Reiseberichts notwendig.
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De la Motrayes Reisebericht: quellenkritische Hinweise für den Einsatz im Unterricht
De la Motrayes Reisen fallen in die Phase Ende des 17. Jahrhunderts und Anfang des 18. Jahrhunderts, in der englische Politiker und Diplomaten eine »größere Weltoffenheit« forderten und Reisen mit einem außenpolitischen Programm verbanden. Reisen wurde zur »staatsbürgerlichen Pflicht« und die reisenden 23 Für eine der wenigen Ausnahmen vgl. Joachim Östlund, Vid världens ände. Sultanens sändebud och hans berättelse, Lund 2020, zur Wahrnehmung Schwedens im Reisebericht Mehmed Said Efendis aus den 1730er Jahren.
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Engländer sollten »durch Welterfahrung ihren Nachholbedarf an staats- und außenpolitischer Bildung […] decken.«24 Dadurch wurden Reiseberichte Bestandteil der »öffentlichen Meinungsbildung und verlangte[n] die Eigenständigkeit des individuellen Urteils, das sich aber gleichzeitig durch die Verantwortung für das […] Gemeininteresse und das Wohl der Nation zu legitimieren hatte.«25 Vor diesem Hintergrund erhält die Auseinandersetzung mit Religion und Toleranz zentrale innenpolitische Bedeutung für die im Herkunftsland des Autors adressierte Leserschaft. Die Beschreibung religiöser Verhältnisse im Osmanischen Reich wird zu einer Schablone für die Bewertung der eigenen religiösen Ordnung und eröffnet sowohl die Möglichkeit, diese zu verteidigen als auch zu kritisieren. Als Quellengattung wurde Reiseliteratur aufgrund ihres narrativ-prosaischen, graduell fiktiven Charakters vor allem von der Literaturwissenschaft untersucht. Aber auch in der Geschichtswissenschaft hat sie sich inzwischen als feste Quellengattung etabliert.26 De la Motrayes Werk gehört in die Gruppe der authentischen, nicht-fiktiven Reiseberichte. Das meint, dass die beschriebenen Reisen tatsächlich stattgefunden haben im Gegensatz zu rein fiktiven Darstellungen der Reiseliteratur wie etwa Gullivers Reisen.27 Doch auch für authentische Reiseberichte sind fiktive Elemente konstitutive Merkmale.28 Das dort Beschriebene liefert somit keine Eins-zu-eins-Abbildung der Verhältnisse und Begebenheiten in den bereisten Ländern. Ereignisse und Zusammenhänge werden häufig unvollständig, verzerrt oder mitunter auch inkorrekt wiedergegeben. Im Zentrum von Reiseberichten stehen bei aller betonten Objektivität und Realitätstreue die Erfahrung und Wahrnehmung des Autors und die Erwartung seiner Leserschaft.29 Das heißt, dass frühneuzeitliche Reiseberichte nicht durchgehend einer 24 Ingrid Kuczynski, Gesellschaftlicher Auftrag und Eigenständigkeit des Individuums. Englische Reisende am Ende des 17. Jahrhunderts, in: Wolfgang Griep (Hg.), Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Heide 1991 (Eutiner Forschungen, 1), S. 44–59. 25 Ebd., S. 47. 26 Vgl. exemplarisch zur Reiseliteraturforschung über die bereits genannten Titel hinaus: Griep, Sehen und Beschreiben; Michael Harbsmeier, Wilde Völkerkunde. Andere Welten in deutschen Reiseberichten der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. / New York 1994 (Historische Studien, 12); Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999 (Aufklärung und Europa. Beiträge zum 18. Jahrhundert). 27 Vgl. Jonathan Swift, Gulliver’s Travels. Edited with an Introduction by Claude Rawson and notes by Ian Higgins, Oxford 2005. 28 Zum Verhältnis von Faktischem und Fiktion in der Reiseliteratur vgl. Maureen A. Ramsden, Crossing Borders. The Interrelation of Fact and Fiction in Historical Works, Travel Tales, Autobiography and Reportage, Bern 2016 (Modern French Identities, 123). 29 Tanja Hupfeld, Zur Wahrnehmung und Darstellung des Fremden in ausgewählten französischen Reiseberichten des 16. und 18. Jahrhunderts. »Il les faut voir et visiter en leur pays«, Göttingen 2007 (Universitätsdrucke), bes. S. 19–24.
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Überprüfung standhaltende Fakten präsentieren, aber dennoch Tatsachen abbilden in Gestalt der mentalen Realität ihrer Verfasser:innen und Leser:innen. Dies ist bei der Verwendung nicht nur im Unterricht zu beachten und entsprechend sind die in Reiseberichten getroffenen Aussagen kritisch zu kontextualisieren. Gleichwohl sind Reiseberichte aufgrund ihrer oft lebhaften Darstellung hervorragend geeignete Quellen für historisches Arbeiten und besonders den Schulunterricht. Aufgrund der Überlieferungssituation in drei Sprachen bietet sich de la Motrayes Reisebericht besonders für den bilingualen Geschichtsunterricht an. Es bedarf nur minimaler erläuternder Eingriffe in den Text, da die Quellensprache auch für Schüler:innen sehr gut zu verstehen ist. Gerade durch den Vergleich der unterschiedlichen Versionen des Berichts kann das quellenkritische Arbeiten mit den Schüler:innen eingeübt werden, da sich die Texte zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, insbesondere die deutsche Auszugsübersetzung. Für den Einsatz im Geschichtsunterricht ist zu beachten, dass de la Motrayes Reisebericht chronologisch angelegt ist. Das bedeutet, dass es keine systematische Behandlung einzelner Aspekte wie Sitten und Gebräuche, Essen und Trinken oder Religion der bereisten Länder gibt, sondern die entsprechenden Informationen in den Fließtext integriert sind und dort entsprechend entdeckt und extrahiert werden müssen.
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Das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Religionen im Osmanischen Reich
In de la Motrayes Reiseschilderung gibt es wiederholt Hinweise auf das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Religionen, so etwa in Smyrna. »There were in the City besides the Franks who are above 200, about 12 or 14000 Turks, 8000 Greeks, 400 Armenians and 1500 Jews.«30 Die muslimische Bevölkerung bildete mit 12.000 bis 14.000 Menschen die größte Bevölkerungsgruppe, gefolgt von den Griechisch-Orthodoxen (8.000). Insgesamt lebten in Smyrna ca. 9.000 Angehörige christlicher Konfessionen sowie 1.500 Juden. Diese Verteilung spiegelte sich im Stadtbild wider. Demnach gab es, laut de la Motraye, in der Stadt 17 Moscheen, zwei griechisch-orthodoxe Kirchen, eine Kirche der armenischen Gemeinde und fünf Synagogen. Die Katholiken vor Ort unterhielten zudem drei Klöster. Über protestantische Versammlungshäuser schweigt der Reisebericht. Allerdings führt de la Motraye die Organisation des konfessionellen
30 Motraye, Travels I, S. 152.
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Lebens der Mitteleuropäer in Smyrna etwas genauer aus: Bei den drei Konventen handelte es sich um ein Jesuitenkloster sowie zwei Klöster, die unterschiedlichen Franziskanerbewegungen gehörten, den Rekollekten sowie den »Fathers della Terra Sancta«31. Die englischen und niederländischen Protestanten in Smyrna »content themselves, each of them, with one Chaplain.«32 Auch für Chios beschreibt der Autor die Zusammensetzung der Bevölkerung, »most part of the Inhabitants are Greeks, and the Turks […]. There were at that Time about 50 Latin Priests, both French and Italians, with some Venetians […].«33 Ebenso für Ephesus; dort fand er »five or six miserable Houses inhabited by Greeks, and about as many by Turks«. Die Griechisch-Orthodoxen nutzten eine »poor Church« und die dort ansässigen Muslime »a Mosque tolerably handsome […], which was formerly a Church consecrated to St. John […].«34 Die umfangreichste Beschreibung des religiös-konfessionellen Zusammenlebens gibt de la Motraye für Galata, das Zentrum der fremden Kaufleute im Osmanischen Reich:35 »The Roman Catholicks have three Churches there, adjoining to as many Convents; the Principal is that of the Jesuits, the other two belong one to the Dominicans, and the other to the Cordeliers, or French Franciscans. The Italians of this Order had a very large and pretty handsome one, dedicated to their Patron St. Francis, which was, as it were, the Parish Church for the Roman Catholicks of Gallata for some Ages […].«36 Als de la Motraye nach Galata kam, waren sie bereits »settled at Pera, where they perform till this Day their Service in a private House«37 – zu den Hintergründen später mehr, wenn es um Konflikte im Zusammenleben geht. Oberhaupt der Katholiken in Galata war der Vikar des »Latin Bishop or Patriarch, whom the Pope sends to Constantinople«.38 Soweit die Bestandsaufnahme, doch wie lassen sich diese Aussagen im Schulunterricht nutzbar machen? In den Erläuterungen zum Inhaltsfeld 2 wird unter dem Punkt Sachkompetenz ausgeführt, dass die Schüler:innen die »Praxis des Zusammenlebens« beschreiben können.39 Hier kann ein auf die Wahrnehmung der Gesellschaft im Osmanischen Reich zielender Zugang ansetzen. Anhand der hier gegebenen Beispiele lässt sich die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung im Osmanischen Reich diskutieren: Welche Religionsgruppen werden unterschieden? 31 32 33 34 35 36 37 38 39
Ebd. Ebd. Ebd., S. 159. Ebd., S. 155. Ebd., S. 166. Ebd. Ebd. Ebd. Ministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, Kernlehrplan für die Sekundarstufe II, S. 24.
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Aus de la Motrayes Schilderung ergibt sich das Bild einer mindestens bi(muslimisch/griechisch-orthodox), an Orten mit einer ausgeprägten European community, also in Handelsstädten wie Galata, Smyrna oder dem Botschafterviertel Pera in Konstantinopel, sogar einer multi-religiösen und in Bezug auf das Christentum multi-konfessionellen Gesellschaft. Allerdings muss einschränkend festgehalten werden, dass diese Beobachtungen nur für den geographisch und auch in seinen Interaktionen westlich ausgerichteten Teil des Osmanischen Reiches gelten, also die Levante, Nordafrika, der griechische Archipel sowie die Westküste und Konstantinopel. Das sind die Regionen, die über Handelskontakte, Tourist:innen und Pilger:innen sowie Diplomat:innen in engem Kontakt und Austausch zu Westeuropa gestanden haben. Für de la Motrayes Reisen auf die Krim oder in das Tartarengebiet fehlen vergleichbare Beschreibungen. Dort stehen ethnologische Beobachtungen im Zentrum.40 Auf sprachlicher Ebene erfolgt die Markierung der Glaubenszugehörigkeit vordergründig über die Nennung der Bevölkerungsgruppen: Türken, Griechen, Armenier, Juden und Mitteleuropäer bzw. Engländer oder Niederländer. Hier zeigt sich deutlich, dass es im Denken de la Motrayes und seiner Zeitgenossen noch keine Trennung zwischen Ethnie und Religionszugehörigkeit gab, sondern diese quasi synonym verwendet wurden und terminologisch nicht zu unterscheiden sind.41 Dies zeigt sich besonders deutlich in Bezug auf die im Osmanischen Reich ansässigen Europäer, die unter der Bezeichnung »Franks« formieren. Die Differenzierung zwischen »French«, »English«, »Hollanders« und »Dutch« ist nur vordergründig national. Vielmehr chiffriert diese die in Folge der Reformation manifestierte konfessionelle Spaltung Europas und das Kirchenregiment als eines der vornehmsten Herrscherrechte der Frühen Neuzeit. Der Landesherr bestimmte die konfessionelle Ausrichtung seiner Untertanen. De la Motrayes Beschreibung der religiös-konfessionellen Verhältnisse im Osmanischen Reich informiert zuerst über die Religionsverhältnisse und die Zusammensetzung der Bevölkerung. Implizit gibt sie über die sprachliche Repräsentation auch Auskunft über das Verhältnis von Staat und Religion in Europa. Dementsprechend ist eine explizite konfessionelle Markierung der im Osmanischen Reich anwesenden Europäer durch den Autor nicht notwendig, sondern sie ergibt sich für seine Leser:innen aus der Nennung der Herrschaftszugehörigkeit. Diesen Zu40 Vgl. Motraye, Travels II, S. 21–85. 41 Für das Osmanische Reich geht Suraiya Faroqhi, Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 52, davon aus, dass »religiöse Zugehörigkeit […] für die Selbstdefinition der Untertanen weitaus signifikanter [war] als ethnische Zugehörigkeit, und die osmanische Verwaltung klassifizierte ihre Untertanen ebenfalls nach religiösen Kriterien.«
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sammenhang gilt es, zumindest bei Unterrichtsgruppen auf einem fortgeschrittenen Niveau, bei der Behandlung der Quelle explizit zu machen. An diesem Beispiel können Schüler:innen zudem sehr gut dafür sensibilisiert werden, dass Reiseberichte als Literatur- und Quellengattung vor allem Spiegel der eigenen Erfahrungen und Prägungen ihrer Autor:innen und der Erwartungen der Leserschaft sind. Dass de la Motraye dennoch die katholischen Orden differenziert, ist sehr wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass er vor allem für ein englisches und somit konfessionell protestantisches Publikum schrieb, dem die Details des katholischen Ordenswesens nicht allzu geläufig gewesen sein dürften. Hier zeigt sich die Zielgruppenbezogenheit des Reiseberichts. Als im Osmanischen Reich anwesende Gemeinschaften nennt de la Motraye Jesuiten, Franziskaner und Dominikaner. Das ist kein Zufall, sondern dem Umstand geschuldet, dass diese Orden stark in der Mission, gerade in Südamerika, aber auch Nah- und Fernost entlang der Handelsrouten, engagiert waren.42 Spricht de la Motraye von Muslimen, verwendet er fast durchgängig den Begriff »Turk«. Eine seltene Ausnahme bildet die Beschreibung um den Konflikt eines konvertierten Schiffsjungen. In diesem Kontext erweitert er sein Vokabular um Formulierungen wie »to turn Mahometan« oder »the Mahometan Law« und »the Mussulmans«.43 Ein weiteres wesentliches Element zur Beschreibung der religiösen Verhältnisse für de la Motraye ist der Verweis auf Kultstätten: Kirchen, Klöster und Moscheen. Diese werden nicht detailliert dargestellt, sondern eher summarisch genannt. Wertende Aussagen wie für Ephesus bilden eine Ausnahme. Bemerkenswert ist zudem, dass die Angehörigen evangelischer Konfessionen keine öffentlichen Stätten zur Religionsausübung besessen zu haben scheinen. Während für Muslime Moscheen, Juden Synagogen, Griechisch-Orthodoxe, Armenier und Katholiken Kirchen genannt werden, finden für Engländer, französische Protestanten und Niederländer als Angehörige unterschiedlicher evangelischer Spielarten jeweils nur Kapläne und private Kapellen Erwähnung. Das impliziert trotz Multi-Religiosität eine unterschiedliche öffentliche Sichtbarkeit einzelner christlicher Konfessionen. Durch die Nennung der Einwohnerzahlen und der Anzahl von Kirchen und Klöstern erhält de la Motrayes Beschreibung einen sachlichen Ton. Zudem 42 Siehe zur Missionstätigkeit der Orden in Südamerika und Asien Michael Sievernich SJ / Arnulf Camps OFM / Andreas Müller OFM / Walter Senner OP (Hg.), Conquista und Evangelisation. Fünfhundert Jahre Orden in Lateinamerika, Mainz 1992; speziell zur jesuitischen Mission siehe Johannes Meier (Hg.), Sendung – Eroberung – Begegnung. Franz Xaver, die Gesellschaft Jesu und die katholische Weltkirche im Zeitalter des Barock, Wiesbaden 2005 (Studien zur außereuropäischen Christentumsgeschichte [Asien, Afrika, Lateinamerika], 8). 43 Motraye, Travels I, S. 165.
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evozieren gerade nummerische Details und die Differenzierung der Ordensgemeinschaften den Eindruck umfangreichen Detailwissens des Autors, so dass auch diese scheinbar neutralen Informationen eine doppelte Botschaft enthalten: Neben dem vordergründigen Sachinhalt verweisen sie auf die Bildung de la Motrayes. Eine Aktualisierung des Aspekts der religiösen Struktur der Gesellschaft im Osmanischen Reich im Unterricht kann durch Fragen nach dem Wissen der Schüler:innen zu religiösen Gruppen in ihrem alltäglichen Umfeld geschehen. Welche religiösen und konfessionellen Gruppen sind bekannt? Gegebenenfalls müssen hier Ergänzungen sowie kurze durch die Lehrkraft angeleitete Erläuterungen der Unterschiede zwischen den genannten Gruppen erfolgen. Welche religiösen Minderheiten kennen die Schüler:innen? Dabei sollte der Minderheitenbegriff sowohl auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext als auch die konkrete Lebenssituation der Schüler:innen reflektiert werden, da deren konkrete Erfahrungen durchaus von der Makroperspektive abweichen können. Wie sichtbar sind diese Gruppen im Alltag und über welche Mittel werden sie wahrnehmbar?
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Religiöse Toleranz im Osmanischen Reich
Grundlage des Zusammenlebens unterschiedlicher Religionen war die im Osmanischen Reich herrschende religiöse Toleranz, die de la Motraye wiederholt betont; etwa bei seinen Ausführungen zu Galata, wo es heißt: »The Exercise of all Religions is no where more free, or less distrub’d, than in Turkey.«44 Praktisch äußerte sich diese Toleranz, laut de la Motrayes Beschreibung, im Recht der christlichen Orden zu Prozessionen, Messfeiern und Andachten, aber auch im Tragen ihres Habits in der Öffentlichkeit, »as publickly as at Rome.«45 Aufgrund dieses freiheitlichen Umgangs mit Religionen konnten die in Konstantinopel ansässigen Europäer eigene Kapellen unterhalten. So hatte sich der englische Boschafter eine hübsche Kapelle, im Stile eines Vorbildes in Windsor, in seinen Palast in Pera bauen lassen. Die französischen Protestanten hatten eine eigene Kapelle im Garten der niederländischen Botschaft errichten lassen. Aber auch der französische Botschafter hatte sich neben den bereits vorhandenen katholischen Kirchen eine eigene Kapelle in seinem Palast einrichten lassen – »for his Convenience«, wie Motraye bemerkt.46 Diese Toleranz galt auch für Sklaven: »They have their Chappels for the Slaves who are Roman 44 Ebd., S. 166. 45 Ebd. 46 Ebd.
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Catholicks, even in the Bagno’s […] (as have also the Greeks and Armenians […]) and they Confess them, and give them the Communion, even on Board the Grand Seignor’s Men of War and Gallies.«47 Auch war diese Toleranz gegenüber fremden Sitten und Bräuchen, laut de la Motraye, nicht auf den religiösen Bereich beschränkt, sondern galt auch für das säkulare Leben, solange man sich nicht in religiöse oder politische Angelegenheiten mische oder sich den Frauen im Osmanischen Reich nähere. Entsprechend war es zum Beispiel möglich, Karneval zu feiern mit Maskerade, Gesang und Alkohol trotz des im Islam geltenden Alkoholverbots.48 Dabei sollte die Erwähnung von Sklaven und Sklaverei in der Vermittlung im Unterricht nicht den Blick auf das eigentliche Thema, das Zusammenleben von Christen und Muslimen, verstellen. Es geht in diesem Kontext nicht um eine ethische Diskussion über die Legitimität von Sklavenhalterschaft. »Das ›christliche Abendland‹ […] galt – und gilt geheim bis heute – als sklavenfrei«,49 dabei waren Sklaven und Sklaverei Normalität in frühneuzeitlichen Gesellschaften, auch in Europa. Das wird, wenn auch indirekt, dadurch bestätigt, dass der Autor Sklaven nicht als ungewöhnlich oder ethisch verwerflich kommentiert.50 Vielmehr kann auch das Thema Sklaverei in die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Toleranz-Aspekt in den Unterricht einbezogen werden, indem danach gefragt wird, welche religiösen Freiheiten Unfreien und Sklaven in europäischen Gesellschaften zugestanden wurden. Zunächst bietet sich allerdings ein allgemeiner Vergleich zu den historischen Bedingungen in Europa an: Welche rechtliche Stellung und welche Möglichkeiten zur Religionsausübung besaßen religiöse oder konfessionelle Minderheiten? Dies kann exemplarisch erarbeitet werden. Mit Bezug auf den Autor des Reiseberichts bietet sich dafür etwa die Situation der französischen Protestanten zwischen den Edikten von Nantes (1598) und Fontainebleau (1685) an. Die Diskussion dieses Aspekts kann aber auch quellenimmanent geschehen am Beispiel der Beschreibung der religiösen und konfessionellen Verhältnisse in England. Hier beobachtet de la Motraye eine graduelle Toleranz, abhängig von Religion und Konfession, wobei die Katholiken »are allow’d less Liberty than any one of the other Religions.«51 Ein solcher Vergleich trägt außer zur Reflexion über die historische Stellung religiöser Minderheiten zu einer kritischen Einordnung von de la Motrayes Ein47 48 49 50
Ebd. Ebd., S. 167f. Editorial, in: WerkstattGeschichte 66/67 (2014), S. 3–6, hier S. 4. Siehe grundlegend zur Thematik der Sklaverei in Europa: Europas Sklaven (= WerkstattGeschichte 66/67 [2014]); außerdem mit explizitem Fokus auf das Alte Reich jüngst: Rebekka von Mallinckrodt / Josef Köstlbauer / Sarah Lentz (Hg.), Beyond Exceptionalism. Traces of Slavery and the Slave Trade in Early Modern Germany, 1650–1850, Berlin 2021. 51 Motraye, Travels I, S. 144f., das Zitat S. 145.
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schätzung, dass nirgendwo ein solch hoher Grad an Religionsfreiheit herrsche wie im Osmanischen Reich, bei. Obgleich es für die Thematisierung von (religiöser) Toleranz im Unterricht zunächst einmal unerheblich ist, ob das Bild, das de la Motraye hier entwirft, realen Gegebenheiten entspricht. Reiseberichte sind keine exakten Abbildungen der Wirklichkeit, sondern vermitteln in erster Linie die Weltsicht ihrer Autor:innen. Somit empfand de la Motraye das Osmanische Reich als toleranter als Frankreich oder England, wo er sich zuvor aufgehalten hatte. Das Osmanische Reich avanciert dadurch zu einem Gegenentwurf zu der in christlichen europäischen Ländern vorherrschenden Religionspraxis. De la Motrayes Darstellung ist daher mehr als Ausdruck eines Wunsches nach religiöser Toleranz zu lesen, denn als Tatsachenbericht – zumal das Zusammenleben unterschiedlicher religiöser Gruppen auch im Osmanischen Reich nicht konfliktfrei verlief, wie im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird. Der Vergleich mit den rechtlichen Rahmenbedingungen religiöser Minderheiten in Europa hilft, die Genese dieser Idealisierung des Osmanischen Reiches durch den Autor zu kontextualisieren, und schafft gleichzeitig ein Bewusstsein bei den Schüler:innen für den historischen Umgang mit Minderheiten. Von diesem Punkt aus kann eine Aktualisierung des Themas in zweifacher Perspektive geschehen: 1. Wie sehen die gesetzlichen Voraussetzungen zur Religionsausübung heute in der Bundesrepublik Deutschland aus? Wie sind die rechtlichen Rahmenbedingungen gestaltet? Wie ist die Finanzierung religiöser Gemeinschaften geregelt? Gibt es Unterschiede zwischen diesen? Wie und wo werden Geistliche ausgebildet? Welche Möglichkeiten haben religiöse Gemeinschaften, in die Gesellschaft zu wirken? Bei Klassen mit einem hohen Anteil an Schüler:innen mit Migrationshintergrund kann darüber hinaus ein Vergleich zwischen der gegenwärtigen Situation in der Bundesrepublik Deutschland mit den Herkunftsländern der Familien der Schüler:innen gezogen werden. 2. Wie kann eine Toleranzpolitik in religiösen Fragen begründet werden? Welche Vorteile ergeben sich daraus für Staat und Gesellschaft? Welche Herausforderungen? Aber auch, wie erleben die Schüler:innen religiöse Toleranz im Alltag?
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Konflikte im Zusammenleben unterschiedlicher Religionsgruppen
Trotz der großen Freiheiten, die de la Motraye beschreibt, kam es auch im Osmanischen Reich zu Konflikten zwischen den dort anwesenden Religionsgruppen. Hierfür finden sich wiederholt Beispiele im Reisebericht. Dabei lassen sich interreligiöse von interkonfessionellen Auseinandersetzungen unterscheiden. Die Frage nach der Charakterisierung der Konflikte kann leitend für den Unterricht formuliert werden. Beispiele für interreligiöse Konflikte sind der Streit um das Grundstück, auf dem die katholische Hauptkirche in Galata gestanden hat, sowie um die Konversion eines Schiffsjungen. Die Kloster- und katholische Hauptkirche St. Franziskus in Galata wurde laut de la Motraye bei einem Feuer zerstört. Im Kontext dieses Vorfalls beschuldigten die in der Stadt ansässigen Muslime die Mönche beim Sultan, im Kloster eine Taverne eingerichtet und dort Wein und Branntwein verkauft zu haben. Dies führte zur Enteignung der Mönche. Nach dem Unglück, so berichtet de la Motraye, sei auf dem Grundstück mit dem Bau einer Moschee begonnen worden. Die Mönche versuchten, so der Autor weiter, sich zu wehren und entsandten einen Übersetzer zum Sultan, um sich über diese Ungerechtigkeit (»injustice«) zu beschweren. Allerdings seien sie abgewiesen worden mit der Erklärung, »[t]hat the Fire having destroy’d and purify’d a Place of Scandal and Abomination, the Porte wou’d raise upon it a Place of Purity and Piety.«52 Nach dieser Abfuhr siedelten die Mönche, laut de la Motraye, nach Pera um, wo sie im Privaten ihre Religion ausübten und ihre Gottesdienste feierten.53 Das zweite Beispiel schildert den Streit um die Konversion eines englischen Schiffsjungen (»turn’d Turk«). Grundsätzlich waren Konversionen zum Islam akzeptiert. Allerdings mussten bestimmte Bedingungen erfüllt werden.54 In diesem Fall war dies nicht geschehen, sondern der Konvertit wurde bereits vor Abschluss des offiziellen Verfahrens als äußeres Zeichen seiner Zugehörigkeit zum Islam beschnitten. Als die bekannt wurde, forderte der englische Botschafter, so de la Motraye, die öffentliche Auslieferung des Konvertiten und die Exilierung desjenigen, der diesen Verstoß geduldet hatte. Der Pascha war bereit, der Verbannung zuzustimmen. Den Konvertiten, falls dieser seine Konversion 52 Ebd., S. 166. 53 Ebd. 54 Diese erläutert de la Motraye (ebd., S. 165) wie folgt: »The Frank, who offers to turn Mahometan, must not be receiv’d nor circumcis’d, till he has confess’d before an Interpreter of his Nation, who must be sent for, that he does it of his own Accord, without having been moved to it, either by Perswasion, Force, or any other like Means, and persists in the Resolution he has taken 24 Hours.«
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bereue, wollte er allerdings nur privat an den englischen Gesandten übergeben. Eine öffentliche Auslieferung lehnte er ab, um einen Skandal und vor allem weitere religiöse Konflikte zu vermeiden. Da der Junge, ehe sein Fall nicht nach islamischen Recht geprüft worden sei, nicht an Christen ausgeliefert werden könne. Da der englische Gesandte weiterhin auf der Überstellung beharrte, wurde die Angelegenheit an den Mufti überwiesen, der die englische Forderung ablehnte. Der Konflikt wurde bereinigt, indem der Verantwortliche für die Beschneidung verbannt wurde, der Schiffsjunge in einer Untersuchung befragt wurde, bei der er gestand, dass er nur wegen der schlechten Behandlung durch seinen Kapitän konvertiert sei, und anschließend an den englischen Gesandten überstellt wurde.55 Als Beispiel für interkonfessionelle Konflikte kann die Auseinandersetzung um die Zulassung französischer Protestanten zum Gottesdienst in der englischen Botschaft angeführt werden. In Konstantinopel hielten sich zahlreiche französische Protestanten auf. Selbst nach dem Edikt von Fontainebleau konnten sie dort, laut de la Motraye, mit Billigung des französischen Botschafters (»under the Protection of [the] Ambassador«) weiterhin ihrer Konfessionsausübung nachgehen. Dieser gestattete ihnen, zu diesem Zweck die englische Botschaft aufzusuchen.56 Nachdem der englische Gesandte dies nicht länger dulden wollte, gestattete der Botschafter der Niederlande ihnen, eine Kapelle in seinem Garten zu erbauen.57 Für dieses Verhalten »the Ambassador receiv’d […] abundance of Reprimands«, so steht es bei de la Motraye. Zudem habe er die Anordnung erhalten, alle »French Huguenots« in Konstantinopel per Schiff nach Frankreich zurückzusenden. Diesem Vorgehen wurde durch die Amtsträger im Osmanischen Reich Einhalt geboten, die sich dadurch »provok’d at the Violence exercis’d on the Account of Religion, even in the Grand Seignior’s Dominions« sahen und die ausgewiesenen französischen Protestanten als handwerkliche Fachkräfte zurückforderten. Dem wagte sich der französische Botschafter nicht zu widersetzen. Stattdessen berichtete er an den französischen Hof, wie wenige Protestanten sich überhaupt in Konstantinopel aufhielten, welche Bedeutung sie für die Amtsträger im Osmanischen Reich hatten, und verlangte neue Anweisungen. Zur Antwort erhielt er den Befehl, »that he shou’d continue his Protection to them in Temporal Affairs, without taking Notice of their Spirituals.«58 Aus dieser Reaktion spricht Pragmatismus im Umgang mit konfessionellen Fragen. Zwar war auf 55 56 57 58
Ebd., S. 165f. Ebd., S. 174. Ebd. Ebd.
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Grundlage des Edikts von Fontainebleau die protestantische Konfessionsausübung in Frankreich verboten worden, doch die große räumliche Distanz zwischen Frankreich und Konstantinopel eröffnete Spielräume, deviantes Verhalten durch Untertanen der französischen Krone zu übersehen; wohl auch, um die französisch-osmanischen Beziehungen nicht zu belasten. Dieser pragmatische Umgang mit konfessionellen Streitigkeiten erfuhr noch eine Steigerung nach Ablösung des französischen Botschafters. Der neue französische Gesandte »would have them declare themselves Subjects of Geneva. That they might be protected as such, the King of France being acknowledged as Protector of that small Republick.«59 Der Konflikt zwischen Jesuiten und Griechisch-Orthodoxen auf Chios dient als weiteres Beispiel für interkonfessionelle Auseinandersetzungen. Während des Großen Türkenkrieges (1683–1699) »the Jesuits […] had raised some Discontents« unter den griechisch-orthodoxen Priestern, die die Mönche beim Bassa beschuldigten, ihre Gläubigen zu verführen (»debauching«) und sie ihrer eigenen Kirche zuzuführen.60 Zurück zur Ausgangsfrage nach der Klassifikation der von de la Motraye beschriebenen Konflikte: Die interreligiösen Auseinandersetzungen spielten sich zwischen Muslimen und Christen ab, wohingegen die interkonfessionellen zwischen Katholiken und Protestanten sowie Jesuiten und Orthodoxen angesiedelt waren. Anhand der Beispiele kann ein Bewusstsein bei den Schüler:innen dafür geschaffen werden, dass Konflikte nicht nur zwischen unterschiedlichen Religionen entstehen und zu Ablehnung führen können. Vielmehr verdeutlichen die Beispiele, dass es auch innerhalb einer Religionsgemeinschaft, in diesem Fall dem Christentum, Differenzen und Konflikte geben kann. Die Sensibilisierung dafür ist meines Erachtens dringend notwendig, um zu einem differenzierten Verständnis von Religion und Konfession zu gelangen. Es gibt weder den einen Islam noch das eine Christentum. Dieses Bewusstsein ist umso wichtiger in Zeiten, in denen die mediale und öffentliche Debatte von eben solchen verallgemeinernden Frontstellungen dominiert wird und die gesellschaftliche und politische Diskussion maßgeblich davon beeinflusst wird: der Islam, die Muslime (in Deutschland), das christliche Abendland bzw. christliche Grundwerte. Besonders wertvoll sind diese Quellenbeispiele für den Unterricht auch deswegen, weil sich nicht nur die Form der Konflikte typisieren lässt, sondern auch deren Ursachen ermitteln lassen. Diese sollten bei einer Behandlung des Themas ebenfalls betrachtet werden, um die Konflikte aus ihrer jeweils eigenen Logik 59 Ebd. 60 Ebd., S. 159.
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heraus verstehen zu können. Damit einhergehen sollte die Frage nach der Konfliktlösung. Die interkonfessionellen Konflikte entstanden nicht genuin im Osmanischen Reich, sondern wurden von außen dort hineingetragen. Ausgangspunkt war der veränderte Rechtsstatus der Protestanten in Frankreich. Dieser sollte auch bei Subjekten der französischen Krone im Ausland durchgesetzt werden. Dies ist grundsätzlich ein Phänomen, das unserer Gegenwart nicht fremd ist. Die Lösung dieses Konfliktes im Osmanischen Reich unterscheidet sich von der im Mutterland. Aufgrund der geographischen Distanz eröffneten sich andere Spielräume bzw. waren gewisse Handlungsmöglichkeiten wie die Ausweisung der Protestanten (durch den Botschafter) von vornherein begrenzt und führten zu einer Intervention der Behörden im Osmanischen Reich, die die Religionsfreiheit als innere Angelegenheit betrachteten und keine Einmischung von außen dulden wollten. Erweiterte Handlungsoptionen ergaben sich dadurch, dass der französische Botschafter die protestantische Religionsausübung (anders als in Frankreich) zunächst weiterhin tolerierte. Das wurde möglich, indem er sie in einen Raum außerhalb seiner Zuständigkeit auslagerte, die englische und niederländische Botschaften. Aber auch durch einen rechtlichen Winkelzug: die Änderung des rechtlichen Status der französischen Protestant:innen zu Genfer:innen. Als solche konnte sie weiterhin unter dem Schutz der französischen Krone stehen, ohne mit dieser aufgrund ihrer Konfession in Konflikt zu geraten. Von welcher Bedeutung derartiger Schutz für im Ausland Lebende gerade in Kriegszeiten war, lässt sich daran ablesen, wie häufig de la Motraye, dessen Bericht über das Osmanische Reich in der Schlussphase des Großen Türkenkrieges einsetzt, die Schutzherrschaft für einzelne dort ansässige Gruppen von Europäern nennt. So unterstellten sich die Franziskaner in Smyrna der » Protection of the French or Hollanders in Time of War for their Security«,61 die katholischen Priester auf Chios »in War time were protected by the French.«62 Gleichzeitig wird in diesem Beispiel der pragmatische Umgang mit Religion deutlich: Auch die französische Krone war unter bestimmten Bedingungen bereit, die Konfessionsfrage nicht weiterzuverfolgen, sondern sie einem höheren außenpolitischen Ziel unterzuordnen. Dafür war es notwendig, Handlungsräume zu trennen in einen säkularen politischen und einen religiösen Raum. Dies entspricht im Grunde heutigen modernen Herangehensweisen und der in unserer Gesellschaft etablierten Trennung von Staat und Kirche. Zur Zeit de la Motrayes war dies allerdings nur möglich, da sich der Konflikt außerhalb Frankreichs und somit des eigenen Herrschaftsgebietes entwickelte. 61 Ebd., S. 152. 62 Ebd., S. 159.
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Bei den interreligiösen Konflikten sind die Ursachen unterschiedlich gelagert, in einem Fall waren es Vorwürfe der muslimischen Bevölkerung gegen das Kloster, die sich nicht aus der Welt schaffen ließen. Dies führte dazu, dass das Kloster enteignet wurde. Hier gibt es keine echte Lösung des Konfliktes im Sinne von Interessenausgleich, sondern eine herrschaftliche Verordnung zugunsten der Muslime, wohingegen die Lösung im Falle der Konversion im Beschreiten des Rechtsweges, nach muslimischen, also vor Ort gültigem Recht besteht. Das legt den Schluss nahe, dass Christen im Osmanischen Reich dort, wo es Vereinbarungen gab, wie zum Ablauf eines Religionswechsels, Rechtssicherheit genossen. In Fällen, wo vermeintlich gegen Sitten und Ordnung des Osmanischen Reiches verstoßen wurde, die nicht mit Religionsfreiheit begründet werden konnten, wie bei der angeblichen Taverne im Kloster, waren sie herrschaftlichen Beschlüssen unterworfen. Die Auseinandersetzung mit den Konfliktursachen schärft die Analysefähigkeit der Schüler:innen. Die Identifikation der Eigenheiten der Konflikte, ihrer Ursprünge und Akteur:innen trägt dazu bei, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Religionskonflikte um unterschiedliche Aspekte kreisen und es dementsprechend keine Pauschallösung geben kann, sondern jeweils nach problemorientierten Lösungsansätzen gesucht werden muss.
7
Fazit
Zwischen 1696 und 1714 bereiste der aus Frankreich stammende Aubry de la Motraye (1674–1743) den Mittelmeerraum und das Osmanische Reich, wo er sich ab 1698 mit wenigen Unterbrechungen für rund anderthalb Jahrzehnte aufhielt. Über diese und seine weiteren, insgesamt fast dreißig Jahre dauernden Reisen durch Europa, Asien und Afrika fertigte er einen dreibändigen Reisebericht an. Dieser eignet sich aufgrund seiner ausführlichen Darstellung und seiner Überlieferung in drei Sprachen (englisch, französisch und deutsch) hervorragend als Quellentext für die Behandlung des im nordrhein-westfälischen Kernlehrplan Geschichte für die Sekundarstufe II definierten Inhaltsfeldes 2 »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit«. Dabei adressiert der Reisebericht vor allem zwei der im Lehrplan formulierten Schwerpunkte, »Religion und Staat« und »Das Osmanische Reich und ›Europa‹ in der Frühen Neuzeit«; letzteres wird auf einer abstrakten Ebene in den kulturellen Elementen abgebildet, die der Autor erwähnenswert findet, wird konkret vor allem über de la Motrayes Ausführungen zu diplomatischen Vertretern europäischer Mächte an der Hohen Pforte greifbar. Der Autor selbst war und blieb Teil der European community in Konstantinopel, hatte selbst aber keinen direkten Zugang zu gehobenen diplomatischen
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Kreisen. Vielmehr berichtet er, was er von außen als Beobachter wahrgenommen hat. Auf diese Weise vermittelt der Reisebericht (meist ohne konkrete Quellen oder Kommunikationswege offenzulegen) einen Eindruck davon, welche Kenntnis über die Beziehungen der Hohen Pforte mit den Vertretern europäischer Mächte bzw. Verbindungen der Europäer untereinander innerhalb der Öffentlichkeit der europäischen Gemeinde in Konstantinopel anzunehmen ist. Für den Unterricht geeigneter ist die Vermittlung des Schwerpunktes »Staat und Religion« anhand des Reiseberichts. Religion bildet ein wiederkehrendes Thema des Textes. Dabei greift de la Motraye zu unterschiedlichen Vermittlungsstrategien: Neben der Zitation fiktiver (Gelehrten-)Diskurse zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen beschreibt de la Motraye die Praxis des religiösen (Zusammen-)Lebens. Auf diesen letzten Aspekt konzentriert sich der vorliegende Beitrag. De la Motraye beschreibt die Bevölkerungszusammensetzung im Osmanischen Reich als bi-religiös, in Regionen mit einer starken europäischen Gemeinde auch als multi-religiös und -konfessionell. Dabei profitierten die unterschiedlichen Religionsgruppen von der im Osmanischen Reich herrschenden Toleranz in geistlichen und weltlichen Belangen. Trotz dieser Freiheit blieben Konflikte zwischen den unterschiedlichen religiösen und konfessionellen Gruppen nicht aus. Ausgehend von der Beschreibung de la Motrayes können Fragen nach der religiösen Zusammensetzung der Gesellschaft und der rechtlichen Stellung von religiösen Minderheiten in der Erfahrungswelt der Schüler:innen aktualisiert werden, um diese dafür zu sensibilisieren, dass weder Islam noch Christentum monolithische Blöcke darstellen, sondern konfessionell zu differenzieren sind. Die Beschäftigung mit historischen Formen religiöser Toleranz hilft Schüler: innen, ein tieferes Verständnis für das Verhältnis von Staat und Religion zu erlangen. Die Auseinandersetzung mit religiösen und konfessionellen Konflikten ermöglicht es Schüler:innen nicht nur, unterschiedliche Konfliktformen zu unterscheiden, sondern auch deren Ursprünge zu differenzieren und entsprechend adäquate Lösungsstrategien zu entwerfen. Dies führt zu einem erhöhten Bewusstsein der Schüler:innen für die Komplexität religiöser und konfessioneller Auseinandersetzungen. Methodisch bietet der Reisebericht nicht nur einen Zugang für den bilingualen Geschichtsunterricht, sondern ist zudem für unterschiedliche NiveauStufen einsetzbar. So kann das Material je nach Entwicklungsstand der Schüler: innen in unterschiedlicher Tiefe bearbeitet werden. Dies wird besonders deutlich am Beispiel der sprachlichen Repräsentation von religiösen und konfessionellen Gruppen im Reisebericht. Von einer zusammenfassenden Beschreibung auf Basis der Darstellung de la Motrayes kann abstrahiert werden, um den Zusammenhang von sprachlicher Repräsentation und der dahinterstehenden Vorstellung vom Verhältnis von Staat und Religion offenzulegen.
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Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Quellen
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3.
Online-Angebote
Listes des membres de l’Académie de sciences depuis sa création en 1666. Les membres du passé dont le nom commence par T, URL: http://www.academie-sciences.fr/fr/Liste-desmembres-depuis-la-creation-de-l-Academie-des-sciences/les-membres-du-passe-dontle-nom-commence-par-t.html [28. 06. 2018].
Michael Rohrschneider
Das diplomatische Zeremoniell am osmanischen Hof als Gegenstand der Zeremonialwissenschaft des frühen 18. Jahrhunderts
Am 12. Januar 2015 empfing der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdog˘an den Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas im Präsidentschaftspalast in Ankara (»Weißer Palast«). Bilder dieses Treffens zeigen die beiden händeschüttelnden Politiker, eingerahmt von 16 historisch kostümierten Kriegern, die mit Schwertern, Lanzen und Schilden bewaffnet sind und jeweils ein vergangenes Reich (von den Hunnen bis zu den Osmanen) aus der Vorgeschichte der heutigen Türkei symbolisieren sollen (Abb. 1).
Abb. 1: Empfang des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas in Ankara, 12. 01. 2015, © picture alliance / Reuters.
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Michael Rohrschneider
Diese ungewöhnlich anmutende Inszenierung hat weltweit Verwunderung ausgelöst. Spöttische Vergleiche mit J. R. R. Tolkiens »The Lord of the Rings« und George R. R. Martins »Game of Thrones« wurden gezogen, und viele Kommentatoren – nicht nur westlicher Provenienz – äußerten sich befremdet angesichts des martialischen bzw. bizarren Eindrucks, den diese »Trachtenshow«1 auf sie machte. Über den Zweck, den der türkische Präsident mit der bemerkenswerten zeremoniellen Ausgestaltung dieses Staatsbesuchs verfolgte, herrscht weitgehende Einigkeit: Erdog˘an ziele mit seinem »osmanischen Zirkus«2 darauf ab, den von ihm erhobenen Anspruch auf einen Großmacht-Status der Türkei in historisierender Weise augenfällig in Szene zu setzen.3 Die geschilderten Reaktionen auf diesen Staatsempfang sind für die folgende Untersuchung in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen dokumentieren sie nachdrücklich die langfristige Wirksamkeit bestimmter Stereotype, die aus west- und mitteleuropäischer Perspektive traditionell mit der Herrschaftspraxis und Selbstinszenierung orientalischer Potentaten in Verbindung gebracht werden. An vorderster Stelle zu nennen ist hierbei eine als außergewöhnlich empfundene, große Prachtentfaltung – der »Weiße Palast« umfasst über 1.000 Zimmer –, die als offenkundige Differenz zum abendländischen Erfahrungshorizont wahrgenommen bzw. als solche stilisiert wird. Zum anderen wird sehr eindringlich deutlich, dass die symbolische Inszenierung vergangener Größe mittels Aufbietung historisch gewandeter Krieger als ebenso unzeitgemäß wie unangemessen empfunden wird, obgleich symbolische Kommunikation bekanntlich auch im 21. Jahrhundert zum festen Inventar der diplomatischen Praxis zählt. Das oftmals bewusst symmetrisch angesetzte Zeremoniell bei bioder multilateralen Staatsempfängen ist dafür das vielleicht augenfälligste Beispiel.4 Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, der Frage nachzugehen, wie das im Osmanischen Reich praktizierte diplomatische Zeremoniell5 zu Beginn des 1 Hasnain Kazim, Spott im Netz. Erdogans Ausflug nach Mittelerde, in: Spiegel-Online, 13. 01. 2015, zit. nach URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-netz-spottet-ueber-erdo gans-trachtenshow-a-1012794.html [23. 07. 2018]. 2 Ebd. 3 Vgl. beispielshalber Issio Ehrich, Rückkehr des Osmanischen Reiches. Erdogan erfüllt sich seine Träume, in: ntv, 22. 01. 2015, zit. nach URL: https://www.n-tv.de/politik/Erdogan-erfuelltsich-seine-Traeume-article14342751.html [23. 07. 2018]. 4 Ein illustratives Beispiel aus jüngerer Zeit ist das Gipfeltreffen zwischen den beiden koreanischen Staatschefs Kim Jong Un und Moon Jae im Grenzdorf Panmunjom am 27. April 2018, das in seiner Symbolik stark an die Tradition der auf Symmetrie bedachten und damit Gleichrangigkeit signalisierenden vormodernen Grenztreffen erinnert; vgl. Thomas Rahn, Grenz-Situationen des Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Markus Bauer / Thomas Rahn (Hg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997, S. 177–206. 5 Zum Terminus technicus »diplomatisches Zeremoniell« vgl. jüngst die begriffliche Problematisierung bei Niels F. May, Zwischen fürstlicher Repräsentation und adliger Statuspolitik.
Das diplomatische Zeremoniell am osmanischen Hof
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18. Jahrhunderts wahrgenommen und beurteilt wurde. Als Quellengrundlage dient hierbei die Gattung der zeremonialwissenschaftlichen Werke, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation publiziert wurden. Sie enthalten aufschlussreiches Material zum Zeremoniell im Osmanischen Reich und vermitteln einen guten Eindruck davon, ob und inwiefern die zeremoniellen Praktiken an der Hohen Pforte in West- und Mitteleuropa als Ausprägung einer als fremd empfundenen Kultur verstanden wurden. Mit dieser Studie wird somit ein Themenbereich berührt, der auf der Schnittstelle von zwei Inhaltsfeldern des nordrhein-westfälischen Kernlehrplans Geschichte (Sekundarstufe II) liegt: »Islamische Welt – christliche Welt: Begegnung zweier Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit« sowie »Erfahrung mit Fremdsein in weltgeschichtlicher Perspektive«.6 Der erste Teil der Untersuchung hat einführenden Charakter. Er skizziert allgemeine Tendenzen der gegenwärtigen Erforschung der europäisch-osmanischen Beziehungen in der Frühen Neuzeit, widmet sich im Anschluss daran dem diplomatischen Zeremoniell als Faktor der zeitgenössischen Außenbeziehungen und stellt die Quellengattung Zeremonialwissenschaft vor. Im zweiten Teil werden die herangezogenen zeremonialwissenschaftlichen Quellen analysiert. Hierbei rücken zwei dualistisch strukturierte Denkmuster leitend in den Vordergrund, die sich methodisch an Reinhart Kosellecks semantischen Studien zu »asymmetrischen Gegenbegriffen«7 orientieren, welche im Zuge der Erforschung von Gesandtschaften in das Osmanische Reich bereits wiederholt mit Erfolg adaptiert wurden: »Das Eigene und das Fremde« sowie »Überordnung und Unterordnung«.8 Das Kongresszeremoniell bei den westfälischen Friedensverhandlungen, Ostfildern 2016 (Beihefte der Francia, 82), S. 35–37. 6 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Geschichte, Düsseldorf 2014, S. 23–25, digital zitiert. 7 Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 8. Aufl., Frankfurt a.M. 2013 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 757), S. 211–259; vgl. hierzu auch Peter Burschel, Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Alexander Koller (Hg.), Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, Tübingen 1998 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 87), S. 260– 271; Arno Strohmeyer, Wahrnehmungen des Fremden: Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert: Forschungsstand – Erträge – Perspektiven, in: Michael Rohrschneider / Arno Strohmeyer (Hg.), Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert, Münster 2007 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 31), S. 1–50, hier S. 10. 8 Vgl. z. B. Arno Strohmeyer, Politische Leitvorstellungen in der diplomatischen Kommunikation: Kaiserliche Gesandte an der Hohen Pforte im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, in: Christoph Kampmann / Maximilian Lanzinner / Guido Braun / Michael Rohrschneider (Hg.), L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens,
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Michael Rohrschneider
Das diplomatische Zeremoniell als Faktor der Beziehungen zum Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit: Einführende Beobachtungen zum Forschungsstand
Die Erforschung der wechselvollen Beziehungen der christlich-europäischen Mächte zum frühneuzeitlichen Osmanischen Reich hat in jüngerer Zeit eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. In bewusster Abgrenzung zur älteren Historiographie, die generell dazu neigte, das Moment der Konfrontation zwischen Morgen- und Abendland zu akzentuieren, ist das Pendel in der neueren Forschung weit zur anderen Seite ausgeschlagen.9 Vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten sind zahlreiche Studien entstanden, die – jenseits einer Fokussierung auf die kulturelle Andersartigkeit des traditionellen »Erbfeindes der Christenheit«10 – eher das Mit- als das Gegeneinander in den wechselseitigen Beziehungen betonen. Im Zentrum stehen hierbei nicht mehr teleologische Diskurse über die langfristige Europäisierung bzw. Okzidentalisierung der osmanischen Diplomatie oder auch die »Pathogenese des ›Kranken Mannes am Bosporus‹«,11 die jeweils am Ende einer Entwicklung standen, welche lange Zeit Münster 2011 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 34), S. 409–439; Ders., Kategorisierungsleistungen und Denkschemata in diplomatischer Kommunikation: Johann Rudolf Schmid zum Schwarzenhorn als kaiserlicher Resident an der Hohen Pforte (1629–1643), in: Gunda Barth-Scalmani / Harriet Rudolph / Christian Steppan (Hg.), Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa, Innsbruck / Wien / Bozen 2013 (Innsbrucker Historische Studien, 29), S. 21–29; Christine Vogel, Osmanische Pracht und wahre Macht. Zur sozialen Funktion von Differenzmarkierungen in diplomatischen Selbstzeugnissen des späten 17. Jahrhunderts, in: Claudia Ulbrich / Hans Medick / Angelika Schaser (Hg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, Köln / Weimar / Wien 2012 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, 20), S. 315–333, hier S. 318 u. ö. 9 Vgl. den ausführlichen Forschungsbericht von Florian Kühnel, Westeuropa und das Osmanische Reich in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven aktueller Forschungen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015), S. 251–283. 10 Die Literaturfülle zum Thema Erbfeindschaft ist inzwischen kaum noch überschaubar; vgl. zuletzt die historiographisch angelegte Studie von Johannes Holeschofsky, Der »Erbfeind« in der Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Karin Sperl / Martin Scheutz / Arno Strohmeyer (Hg.), Die Schlacht von Mogersdorf/St. Gotthard und der Friede von Eisenburg/ Vasvár 1664. Rahmenbedingungen, Akteure, Auswirkungen und Rezeption eines europäischen Ereignisses, Eisenstadt 2016 (Burgenländische Forschungen, 108), S. 383–390; vgl. zudem den lexikalischen Überblick von Martin Wrede, Artikel »Erbfeind«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart / Weimar 2006, Sp. 396–400. 11 Holger Th. Gräf, »Erbfeind der Christenheit« oder potentieller Bündnispartner? Das Osmanenreich im europäischen Mächtesystem des 16. und 17. Jahrhunderts – gegenwartspolitisch betrachtet, in: Marlene Kurz / Martin Scheutz / Karl Vocelka / Thomas Winkelbauer (Hg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Wien, 22.– 25. September 2004, Wien / München 2005 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband, 48), S. 37–51, hier S. 40.
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primär als osmanische Niedergangsgeschichte gedeutet wurde. Vielmehr heben neuere Forschungen in dezidierter Weise gerade die Austauschbeziehungen und transkulturellen Aspekte des stärker als Miteinander in einem gemeinsamen Kommunikationsraum verstandenen Verhältnisses zwischen dem christlichen Europa und dem Osmanischen Reich hervor, wohingegen ältere Untersuchungen bevorzugt die zahlreichen Türkenkriege, mehr oder weniger ausgeprägte Differenzerfahrungen sowie die Auseinandersetzung mit traditionellen Feindbildern thematisierten.12 Dies ist vor dem Hintergrund der kontrovers geführten Diskussion über die Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches zum europäischen Staatensystem der Frühen Neuzeit nicht zuletzt von hoher gegenwartspolitischer Relevanz.13 Allerdings finden sich neuerdings auch Stimmen, die angesichts der geschilderten Tendenzen vor zu stark harmonisierenden Deutungen warnen. Denn bei aller Berechtigung der Forderung, die Erforschung der Beziehungen zum Osmanischen Reich nicht in eindimensionaler Weise auf eine Geschichte perpetuierten Konfliktes zu reduzieren, sollte nicht ausgeblendet werden, dass das dynamische Mit-, Neben- und Gegeneinander der christlich-europäischen Mächte und des Osmanischen Reiches in der Frühen Neuzeit immer wieder entscheidend durch Konfrontationen geprägt war.14 »Es trafen politische Kulturen aufeinander«, legt Arno Strohmeyer mit guten Gründen dar, »die in vielfacher Hinsicht unterschiedlich waren, tief geprägt von wechselseitigen Alteritätskonstruktionen, binären Wahrnehmungsmustern, Feindbildern und Religionen, die einander ausschließende Wahrheitsansprüche stellten.«15 Freundschaftsvorstellungen waren sehr wohl vorhanden, wurden aber oftmals von den tradierten politischen und religiösen Vorbehalten auf beiden Seiten überlagert.16 12 Zur Feindbildproblematik ist grundlegend: Martin Wrede, Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, Mainz 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte, 196; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, 15), hier insbesondere S. 66–216. 13 Vgl. Arno Strohmeyer, Das Osmanische Reich – ein Teil des europäischen Staatensystems der Frühen Neuzeit?, in: Kurz u. a., Das Osmanische Reich, S. 149–164. 14 Vgl. Arno Strohmeyer, Einleitung, in: Sperl / Scheutz / Strohmeyer, Schlacht, S. 13–32, hier S. 29–31. 15 Ebd., S. 30. 16 Grundlegend hierzu Arno Strohmeyer, Die habsburgisch-osmanische Freundschaft (16.– 18. Jahrhundert), in: Ders. / Norbert Spannenberger (Hg. unter Mitarbeit von Robert Pech), Frieden und Konfliktmanagement in interkulturellen Räumen. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2013 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 45), S. 223–238; zu den diesbezüglichen Freund-/Feind-Vorstellungen siehe auch Günes¸ Is¸ıksel, Les méandres d’une pratique peu institutionnalisée: la diplomatie ottomane, XVe-XVIIIe siècle, in: Monde(s). Histoire, espaces, relations 5 (2014), S. 43–55, hier S. 47f.; vgl. als Beispiel für die zeitgenössischen Vorbehalte Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum […], 3 Teile in 2 Bde.,
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Im Zuge dieser Fragestellungen und Erkenntnisinteressen hat sich die neuere Forschung intensiv mit den diplomatischen Gesandtschaften befasst, die europäische Länder in der Frühen Neuzeit an die Hohe Pforte abordneten. Exemplarisch verwiesen sei für die west- und mitteleuropäische Perspektive auf die instruktiven Arbeiten von Ernst D. Petritsch und Arno Strohmeyer über die habsburgisch-osmanischen Beziehungen, von Christine Vogel über französische Diplomaten in Konstantinopel sowie von Florian Kühnel und Michael Talbot zu den britisch-osmanischen Beziehungen.17 Der bisherigen Forschung ist nicht entgangen, dass die Relationen, die diese Gesandtschaften für ihre Heimathöfe verfassten, in hervorragender Weise geeignet sind, Antworten auf Fragen unterschiedlichster Themenbereiche – politischer, religiöser, gesellschaftlicher, kultureller, wirtschaftlicher oder auch ethnologischer Art – zu liefern. Dies macht sich auch die vorliegende Studie zunutze, denn die in den zeremonialwissenschaftlichen Werken verarbeiteten Berichte der zeitgenössischen Akteure sind bestens geeignet, anhand des diplomatischen Zeremoniells im Sinne einer interkulturellen Diplomatiegeschichte18 gezielt Differenz- und Fremderfahrungen zu analysieren und mit Fragen der symbolischen Kommunikation in Beziehung zu setzen. Dass es in der Frühen Neuzeit überhaupt zu intensiven diplomatischen Kontakten zwischen der Hohen Pforte und den christlich-europäischen Mächten kam, ist angesichts der Kriegsverdichtung jener Jahrhunderte keineswegs selbstverständlich. So zählt die jüngere Forschung allein je acht Kriege, welche die österreichischen Habsburger (1526–1792) und die Venezianer (1423–1718) gegen die Osmanen führten. Zudem ist auf die dem Dschihad-Gedanken zugrunde liegenden Dynamiken hinzuweisen, die zu einer expansiv-aggressiven Außen-
Leipzig 1719–1720, hier Bd. 1, S. 443: »Ein Türck kan keine rechte und aufrichtige Freundschafft mit einem Christen haben […].« 17 Vgl. die im Quellen- und Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten der genannten Autorin bzw. Autoren. Die Leitfragen und Erkenntnisinteressen dieser Untersuchungen bilden auch für die vorliegende Studie wichtige Ausgangspunkte und Orientierungsmarken. Weitgehend ausgeklammert werden aus Platzgründen im Folgenden dagegen Arbeiten, die in umgekehrter Sicht osmanische Gesandtschaften in das christliche Europa untersuchen. Auch konzentriert sich die Studie auf die west- und mitteleuropäische Perspektive, wohingegen die Beziehungen osteuropäischer Länder zum Osmanischen Reich ebenfalls aus pragmatischen Gründen nicht mit einbezogen werden. 18 Vgl. Christian Windler, Tribut und Gabe. Mediterrane Diplomatie als interkulturelle Kommunikation, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 51 (2000), S. 24–56, hier S. 26: »Interkulturelle Diplomatiegeschichte […] zeigt anhand vergleichsweise gut dokumentierter Kontaktsituationen, wie sich Identitäten in wechselnden Handlungszusammenhängen als Systeme von Unterschieden gegenüber Fremden herausbilden, wie sie Kommunikation bedingen, sich aber auch selbst wandeln.«
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politik führen konnten, aber, wie die Forschung sehr zu Recht hervorhebt, nicht zwangsläufig führen mussten.19 Der fortgesetzten Kette von gewaltsamen Konflikten zwischen dem Osmanischen Reich und dem christlichen Europa stehen in der Frühen Neuzeit allerdings allein mehr als 65 Waffenstillstandsabkommen und Friedensverträge zwischen den Habsburgern und den Osmanen bzw. 50 Vereinbarungen zwischen der Republik Venedig und der Hohen Pforte gegenüber. Dies sollte man – trotz der traditionellen Dominanz der Türkenkriege im kollektiven europäischen Bewusstsein – nicht aus dem Blick verlieren, will man zu einer angemessenen Gesamteinschätzung gelangen.20 Gleichwohl waren die diplomatischen Beziehungen zum Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit stark vorbelastet. Es bestanden bekanntlich nicht nur religiöse und kulturelle Differenzen zwischen Christen und Muslimen, die von Teilen der Forschung immer noch als »enorm und wohl auch unüberwindlich«21 angesehen werden. Auch das auf beiden Seiten vorhandene Bewusstsein, dem Gegenüber zivilisatorisch überlegen zu sein, sowie die propagandistisch stets hervorgehobenen Kriegsgräuel trugen maßgeblich dazu bei, eine dauerhafte Friedenspolitik zwischen den beiden »Konkurrenzkulturen«22 erheblich zu erschweren.23
19 Vgl. Arno Strohmeyer, Krieg und Frieden in den habsburgisch-osmanischen Beziehungen in der Frühen Neuzeit, in: Reiner Arntz (†) / Michael Gehler / Mehmet Tahir Öncü (Hg.), Die Türkei, der deutsche Sprachraum und Europa. Multidisziplinäre Annäherungen und Zugänge, Wien / Köln / Weimar 2014 (Historische Forschungen. Veröffentlichungen, 10), S. 31– 50, hier S. 36. Eine konzise Darlegung der Dschihad-Problematik findet sich bei Dennis Dierks, Übersetzungsleistungen und kommunikative Funktionen osmanisch-europäischer Friedensverträge im 17. und 18. Jahrhundert, in: Martin Espenhorst (Hg.), Frieden durch Sprache? Studien zum kommunikativen Umgang mit Konflikten und Konfliktlösungen, Göttingen 2012 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft, 91), S. 133–174, hier S. 149–151. 20 Vgl. Arno Strohmeyer / Norbert Spannenberger, Einleitung, in: Dies., Frieden, S. 11–28, hier S. 11f.; Strohmeyer, Krieg und Frieden, S. 31–39. 21 Ernst D. Petritsch, Dissimulieren in den habsburgisch-osmanischen Friedens- und Waffenstillstandsverträgen (16.–17. Jahrhundert): Differenzen und Divergenzen, in: ebd., S. 145–161, hier S. 160. 22 Strohmeyer, Kategorisierungsleistungen, S. 23. Zum wissenschaftlichen Umgang mit der in diesem inhaltlichen Kontext wichtigen These vom »clash of civilizations« vgl. Gräf, Erbfeind, S. 50: »Ohne einem seicht-romantischen Multikulturalismus zu folgen, muß hier eindeutig die Gefahr konstatiert werden, daß der ›clash of civilisations‹ (Samuel P. Huntington) förmlich herbeigeschrieben und in wissenschaftlich unhaltbarer Weise historisch unterfüttert wird.« 23 Vgl. Arno Strohmeyer, Die Theatralität interkulturellen Friedens: Damian Hugo von Virmont als kaiserlicher Großbotschafter an der Hohen Pforte (1719/20), in: Guido Braun / Arno Strohmeyer (Hg.), Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa. Festschrift für Maximilian Lanzinner zum 65. Geburtstag, Münster
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Gerade angesichts dieser problematischen Rahmenbedingungen mussten die Gesandten der christlich-europäischen Mächte sehr darauf bedacht sein, während ihrer Gesandtschaft ein adäquates Verhalten an den Tag zu legen, das einerseits den Osmanen keinen Anlass gab, Gewalt anzuwenden – im Konfliktfall drohte auswärtigen Diplomaten das berühmt-berüchtigte Gefängnis der »Sieben Türme« –, das andererseits aber der Reputation des eigenen Herrschers nicht schadete. Da die diplomatischen Akteure überdies noch ihre spezifischen Eigeninteressen zu wahren hatten (Karriere, Finanzen, Klientel- und Patronageverpflichtungen etc.), kam eine Gesandtschaft an die Hohe Pforte oftmals einer Gratwanderung gleich. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang das Thema Zeremoniell. Im Zuge der kulturalistischen Wende (»cultural turn«) hat sich die sogenannte Neue Diplomatiegeschichte24 intensiv Fragen der symbolischen Kommunikation im Allgemeinen und des diplomatischen Zeremoniells im Besonderen zugewandt.25 Vor allem die Impulse, die aus dem Münsteraner Sonderforschungsbereich 496 »Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution« hervorgegangen sind, haben maßgeblich dazu beigetragen, den Symbolgehalt frühneuzeitlicher diplomatischer Praktiken zu entschlüsseln.26 2013 (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte e.V., 36), S. 413–438, hier S. 415. 24 Einen guten ersten Zugriff auf die diesbezüglichen Forschungstendenzen ermöglichen die Beiträge in folgenden Sammelbänden: Heidrun Kugeler / Christian Sepp / Georg Wolf (Hg.), Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven, Hamburg 2006 (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit, 3); John Watkins (Hg.), Toward a New Diplomatic History, Durham / North Carolina 2008 (The Journal of Medieval and Early Modern Studies, 38/1); Hillard von Thiessen / Christian Windler (Hg.), Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, Köln / Weimar / Wien 2010 (Externa, 1); vgl. darüber hinaus die Sammelrezension von Matthias Köhler, Neue Forschungen zur Diplomatiegeschichte, in: Zeitschrift für Historische Forschung 40 (2013), S. 257–271; siehe jüngst auch Hillard von Thiessen, Außenbeziehungen und Diplomatie in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne: Ansätze der Forschung – Debatten – Periodisierungen, in: Barbara Haider-Wilson / William D. Godsey / Wolfgang Mueller (Hg.), Internationale Geschichte in Theorie und Praxis / International History in Theory and Practice, Wien 2017 (Internationale Geschichte / International History, 4), S. 143–164. 25 Verwiesen sei an dieser Stelle lediglich auf die beiden viel zitierten Aufsätze von Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389–405; Dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527. 26 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger / Tim Neu, Einleitung, in: Barbara Stollberg-Rilinger / Tim Neu / Christina Brauner (Hg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, Köln / Weimar / Wien 2013 (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), S. 11–31, hier S. 15: Der SFB »ging von der konstruktivistischen
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Wie André Krischer in einem grundlegenden Aufsatz herausgearbeitet hat, resultierte die außerordentlich große Bedeutung, die das Zeremoniell im Rahmen frühneuzeitlicher Herrschaftsrepräsentation und Diplomatie hatte, letztlich aus der Abhängigkeit des politischen Status eines diplomatischen Akteurs von seiner sozialen Ehre, die ihrerseits stets abhängig war von ihrer konkreten öffentlichen Inszenierung und Visualisierung (im Sinne von sinnlicher Wahrnehmbarkeit).27 Im Rahmen einer Face-to-Face-Kommunikation unter Anwesenden28 stellte das elaborierte diplomatische Zeremoniell die Macht- und Geltungsansprüche der Beteiligten nicht nur symbolisch dar, sondern in performativer Weise zugleich immer wieder vor Ort neu her. Dazu bedurfte es allerdings eines gemeinsamen Fundaments, das aus allgemein anerkannten zeremoniellen Codes bestand. Eine solche generelle Basis, auf welche die Diplomaten der christlich-europäischen Mächte am osmanischen Hof hätten zurückgreifen können, bestand allerdings nicht bzw. nicht in der Art und Weise, wie es an den europäischen Höfen üblich war. Dass es dadurch beinahe zwangsläufig zu Missverständnissen kommen musste, verwundert nicht, bedenkt man beispielsweise, wie nuanciert das zeremonielle Prozedere schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts in der europäischen Diplomatie gehandhabt wurde. Positiv gewendet bedeutete dies aber auch: Ambiguitäten und konträre Deutungen konnten bei Bedarf gezielt nach dem Prinzip »art of misunderstanding«29 genutzt werden, um in kontroversen Fragen zu pragmatischen Lösungen zu gelangen, die am Ende beide Seiten zufriedenstellten. Die divergierende KodieGrundannahme aus, dass Symbolisierungen die empirische Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren, das Handeln motivieren und orientieren, normative Erwartungen stabilisieren und kollektive Werte vergegenwärtigen, das heißt, dass die soziale Realität von den Akteuren laufend aufs Neue geschaffen und mit Sinn versehen wird, und zwar ganz wesentlich durch performative Akte symbolischer Kommunikation, die selbst mit bewirken, was sie sprachlich bezeichnen oder symbolisch darstellen.« 27 Vgl. André Krischer, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Ralph Kauz / Giorgio Rota / Jan Paul Niederkorn (Hg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, Wien 2009 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte, 796; Archiv für Österreichische Geschichte, 141; Veröffentlichungen zur Iranistik, 52), S. 1–32, hier insbesondere S. 6. 28 In Anlehnung an André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt a.M. 1999; vgl. darüber hinaus mit Blick auf die Frühe Neuzeit Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224. 29 Vgl. Christine Vogel, The art of misunderstanding: French ambassadors translating Ottoman court ceremonial, in: Marinos Sariyannis u. a. (Hg.), New Trends in Ottoman Studies. Papers presented at the 20th CIÉPO Symposium Rethymno, 27 June – 1 July 2012, Rethymno 2014, S. 495–504, zit. nach URL: http://anemi.lib.uoc.gr/metadata/7/8/e/metadata-1412743543-91 9456-15948.tkl [28. 07. 2018].
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rung zeremonieller Zeichen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten konnte den Akteuren in den betreffenden Aushandlungsprozessen somit punktuell sogar behilflich sein, um eine Überbrückung von Standpunkten zu ermöglichen, die ansonsten nicht kompromissgeeignet waren.30 Es überrascht angesichts der außerordentlichen Bedeutung des Zeremoniells nicht, dass die Zeitgenossen schon im 17. Jahrhundert daran gingen, zeremonielle Phänomene wissenschaftlich zu erfassen und zu systematisieren. Mit Zeremonialwissenschaft im engeren Sinne wird eine vergleichsweise kurzlebige Gattung von thematisch entsprechend ausgerichteten Werken des späten 17. und der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts bezeichnet. Sie wurden in den 1990er Jahren in den Dissertationen von Volker Bauer und Milosˇ Vec31 systematisch ausgewertet und gerade in jüngerer Zeit immer wieder als reichhaltige Quellenwerke zu Fragen des diplomatischen Zeremoniells herangezogen.32 Die Zeremonialwissenschaft war eine »auf praktische Nützlichkeit und Orientierung angelegte Disziplin, die sich von der traditionellen späthumanistisch-antiquarischen Schulgelehrsamkeit des Ius praecedentiae zunehmend (wenn auch nicht sehr konsequent) abgrenzte«.33 Den zeremonialwissenschaftlichen Werken ging es somit nicht vorrangig um das Rangrecht als Zweig der Jurisprudenz, sondern sie zielten insbesondere auf eine praktische, nutzenbezogene Handlungslehre für den höfischen Kontext ab, wobei es kaum vergleichbare Arbeiten außerhalb des Heiligen Römischen Reiches gab.34 Allerdings verliefen die Grenzen zwischen den älteren Abhandlungen zum Ius praecedentiae und der um 1700 aufkom30 Vgl. zu dieser Praxis z. B. Christine Vogel, Der Marquis, das Sofa und der Großwesir. Zur Medialität interkultureller diplomatischer Zeremonien in der Frühen Neuzeit, in: Peter Burschel / Christine Vogel (Hg.), Die Audienz. Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2014, S. 221–245, hier S. 232f. und 243. 31 Vgl. Volker Bauer, Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralismus, Wien / Köln / Weimar 1997 (Frühneuzeitstudien NF, 1); vgl. auch zusammenfassend Ders., Zeremoniell und Ökonomie. Der Diskurs über die Hofökonomie in Zeremonialwissenschaft, Kameralismus und Hausväterliteratur in Deutschland 1700–1780, in: Jörg Jochen Berns / Thomas Rahn (Hg.), Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit, 25), S. 21–56; Milosˇ Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, Frankfurt a.M. 1998 (Ius commune. Sonderhefte, 106). 32 Vgl. beispielshalber für den Bereich der frühneuzeitlichen Außenbeziehungen Michael Rohrschneider, Das französische Präzedenzstreben im Zeitalter Ludwigs XIV.: Diplomatische Praxis – zeitgenössische Publizistik – Rezeption in der frühen deutschen Zeremonialwissenschaft, in: Francia 36 (2009), S. 135–179. 33 Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, S. 401; zum Ius praecedentiae ist grundlegend Dies., Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Majestas 10 (2003), S. 125–150; ebd., S. 131 Anm. 16 der Hinweis auf die einschlägigen Autoren des Ius praecedentiae. 34 Vgl. Bauer, Zeremoniell, S. 30.
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menden Zeremonialwissenschaft mitunter fließend; eine strenge Unterscheidung fällt im Einzelfall schwer. Vier bekannte zeremonialwissenschaftliche Werke wurden für die vorliegende Untersuchung aufgrund ihrer besonderen Aussagekraft für das behandelte Thema herangezogen: Zacharias Zwantzigs Theatrum Præcedentiæ (1706), Gottfried Stieves Europäisches Hoff-Ceremoniel (1715), Johann Christian Lünigs Theatrum Ceremoniale (1719–1720) und Julius Bernhard von Rohrs Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren (1729).35
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Differenzerfahrungen christlich-europäischer Diplomaten am Osmanischen Hof im Spiegel zeremonialwissenschaftlicher Werke
Die zeremonialwissenschaftlichen Autoren betonten allesamt die große generelle Bedeutung der von ihnen behandelten »so delicaten Materie«.36 Das Zeremonialwesen sei »ein dergleichen Ding, von welchen sich die Potentaten eben so ungerne relachiren, als von ihrem Throne selbst stürtzen lassen«,37 heißt es bei Gottfried Stieve, und bei Julius Bernhard von Rohr liest man im Hinblick auf die zeitgenössische Diplomatie das viel zitierte Diktum, Zeremonien seien »ein nothwendig Stück der Ambassaden«.38 Das im Osmanischen Reich praktizierte Zeremoniell findet in allen vier herangezogenen Werken Berücksichtigung, allerdings in unterschiedlichem Umfang. Mit Abstand am ausführlichsten widmet sich Johann Christian Lünig diesem Thema, dessen Opus magnum mit über 3.600 Seiten allerdings auch das bei weitem umfangreichste ist. Allein die Schilderung der Reise des kaiserlichen Großbotschafters Damian Hugo von Virmont an die Hohe Pforte in den Jahren 1719/20 umfasst über zwanzig eng beschriebene Folio-Seiten.39 35 Zacharias Zwantzig, Theatrum Præcedentiæ […], Berlin 1706; Gottfried Stieve, Europäisches Hoff-Ceremoniel […], Leipzig 1715; Lünig, Theatrum; Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft Der großen Herren […]. Neue Aufl., Berlin 1733. 36 Lünig, Theatrum, Bd. 1, An den Leser [Vorrede], unpaginiert. 37 Stieve, Hoff-Ceremoniel, S. 704. 38 Rohr, Einleitung, S. 387; vgl. Krischer, Souveränität, S. 2. 39 Vgl. Lünig, Theatrum, Bd. 2, S. 1596–1619: »Ausführliche Beschreibung, mit was vor Ceremonien der Käyserl. Groß-Bothschaffter nach der Türckey, Tit. Hr. Damian Hugo, Graf von Virmont, am 26. April Anno 1719. am Käyserl. Hofe zu Wien seinen öffentlichen Einzug und Abschieds-Audienz, auch sodann solennen Abzug nach Belgrad gehalten; bey Parackin mit dem Türckischen Groß-Bothschaffter ausgewechselt, in der Türckey allenthalben empfangen, zu Constantinopel solenniter eingeholet, zur Ankunffts- und Abschieds-Audienz bey dem Groß-Sultan und Groß-Vezier geführet, auch von diesem und sonsten die gantze Zeit seiner Abwesenheit, biß zu seiner Anno 1720. am 23. Julii zu Wien erfolgten Rückkunfft,
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Allerdings lässt sich oftmals nicht exakt nachvollziehen, auf welchen konkreten Vorlagen die Ausführungen in den zeremonialwissenschaftlichen Schriften beruhen und woher genau die jeweiligen Informationen über das Geschehen im Osmanischen Reich stammen. Zwar werden einzelne konkrete Belegstellen angeführt, die ansatzweise einem modernen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat ähneln. Dennoch bedarf es im Einzelfall intensiven Textabgleichs mit der zeitgenössischen Publizistik, den verwendeten Reiseberichten, Akten usw., um zu eindeutigen Befunden hinsichtlich der von den zeremonialwissenschaftlichen Autoren verwendeten Quellen zu gelangen.40 Aus den geschilderten Schwierigkeiten mit der Quellenlage resultiert auch das methodische Problem, Kommentare und Wertungen – zum Beispiel die anzutreffende Qualifizierung bestimmter zeremonieller Praktiken als lächerlich oder dysfunktional41 – genau zuzuordnen. Eine pauschale Gleichsetzung derartiger Textpassagen mit der subjektiven Überzeugung des jeweiligen zeremonialwissenschaftlichen Autors ist jedenfalls quellenkritisch nicht haltbar. Vielmehr sind die Werke dieser Gattung als synthetisierende Stoffsammlungen zu verstehen, die in kompilatorischer Weise darauf abzielen, dem Leser das zeitgenössische Wissen über das Zeremoniell zu vermitteln.42 Bewertungen abzugeben oder über zeremonielle Streitfälle zu urteilen, war erklärtermaßen eigentlich nicht das Ziel der Autoren, auch wenn dies mitunter sehr wohl vorkam.43 Die Passagen über das Zeremoniell im Osmanischen Reich dürfen zudem nicht isoliert betrachtet, sondern müssen in einem größeren geographischen Zusammenhang gesehen werden, da sie mit den Schilderungen zeremonieller Gepflogenheiten in anderen – aus europäischer Perspektive – weit entfernt gelegenen Räumen korrespondieren. Typisch ist hierbei eine Betrachtungsweise, die zwischen einer Artikulierung von Distanzerfahrung gegenüber dem »Fremden« und einer erkennbaren Orientierung an dem »Eigenen« oszilliert. Bei allem
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tractiret worden.« Zu dieser Mission siehe Strohmeyer, Theatralität; Ders., The theatrical performance of peace: entries of Habsburg grand embassies in Constantinople (17th– 19th centuries), in: Sariyannis u. a., Trends, S. 486–494. Zwantzig verweist pauschal darauf, er habe seine Informationen »so wohl in Actis Publicis, als Privat-Memoiren/ Protocollis, fürnehmlich in Autenthiqven Nachrichten gelesen/ und bey grosser Herren Verschickungen gehöret/ gesehen/ und verzeichnet«; Zwantzig, Theatrum, An den Leser [Vorrede], unpaginiert; vgl. hierzu Vec, Zeremonialwissenschaft, S. 41. Vgl. Zwantzig, Theatrum, An den Leser [Vorrede], unpaginiert; Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 5. Vgl. beispielshalber die Ausführungen über Rohr bei Vec, Zeremonialwissenschaft, S. 93f.: »[…] Rohr wählte nach Belieben aus und kompilierte oder komponierte neu. Er ist weniger ein Pionier, als daß er bereits Bestehendes synthetisiert. Rohr läßt sich damit vielmehr philosophiegeschichtlich dem Eklektizismus als eigenständiger Übergangsphase zwischen Späthumanismus und Frühaufklärung zuordnen.« Siehe dazu Rohrschneider, Präzedenzstreben, S. 172f.; Ders., Zacharias Zwanzig: Theatrum Praecedentiae, Wolfenbüttel 2012 (Theatrum-Literatur der Frühen Neuzeit: Repertorium), zit. nach URL: http://diglib.hab.de/edoc/ed000068/start.htm [23. 07. 2018].
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exotischen Flair und trotz der erkennbaren Verwunderung über die zeremoniellen Sitten an außereuropäischen Höfen werden die gesammelten Beschreibungen über das Zeremoniell in fremden Kulturkreisen rückgebunden an die Ordnungsvorstellungen, Kategorien und Leitvorstellungen der eigenen Zeremonialkultur.44 Selbst die »Beschreibung, mit was vor Ceremonien der Käyser von Marocco auf dem Nacht-Stuhl gehet«,45 und der darin enthaltene Hinweis, dieser erledige seinen Stuhlgang »mit solchen Ceremonien, welche ungemein prächtig sind«,46 folgt einer als kulturell übergreifend verstandenen Logik, die letztlich stets auf eine Demonstration der großen Bedeutung, Reputation und Würdigkeit des Herrschers abzielt: »Denn gleichwie unsere gecrönte Häupter in Europa unter Trompeten- und Paucken-Schall zu der Tafel zu gehen pflegen: also lässet dieser Käyser dergleichen thun, wenn er sich seiner beschwerlichen LeibesBürde entledigen will.«47 Deutlicher können die Verflechtungen von Fremd- bzw. Differenzerfahrungen mit der Orientierung an Konstrukten des »Eigenen« (im Sinne einer Wechselwirkung von Alteritätswahrnehmung und Identitätsbildung) kaum werden. Auch die Beschreibungen des osmanischen Zeremoniells schwanken zwischen Befremden und Neugier einerseits sowie der Tendenz zur Parallelisierung mit den Gepflogenheiten und Wertvorstellungen der christlich-europäischen Kultur andererseits. Gerade die in den zeremonialwissenschaftlichen Schriften eingearbeiteten Gesandtschaftsberichte europäischer Diplomaten sind vorzüglich dazu geeignet, das Spannungsverhältnis zwischen perzipierter Fremdartigkeit und Orientierung an vertrauten Phänomenen zu illustrieren, enthalten sie doch oftmals ausführliche Beschreibungen der zeremoniellen Sitten am osmanischen Hof, die häufig in kontrastiver Weise mit der christlich-europäischen Kultur in Beziehung gesetzt werden. Gleiches gilt für die Texte, die das innerosmanische Zeremoniell behandeln, und auch für die aufgenommenen Berichte über osmanische Gesandtschaftsreisen nach Europa gelangt man zu diesem Befund.48 Zum generellen Stellenwert des Zeremoniells im Osmanischen Reich finden sich unterschiedliche Einschätzungen. Einig sind sich die zeremonialwissenschaftlichen Autoren darin, dass »der Türckische Hoff und die Ottomanische Pforte mit dem Kayserlichen so wohl/ als auch anderen Christlichen Höffen gantz diverse Ceremoniells, Ihrer unterschiedenen Regierungs forma nach haben.«49 44 45 46 47 48
Vgl. Vec, Zeremonialwissenschaft, S. 160–162. Lünig, Theatrum, Bd. 2, S. 1467. Ebd. Ebd.; vgl. Vec, Zeremonialwissenschaft, S. 161. Vgl. insbesondere Lünig, Theatrum, Bd. 2, S. 1441–1461 (innerosmanisches Zeremoniell) bzw. ebd., Bd. 1, S. 530f., 539–546, 551f., 555–558, 582–584, 607f., 641–643, 665, 782 u. ö. (auswärtige Gesandtschaften des Osmanischen Reiches). 49 Zwantzig, Theatrum, S. 6.
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Während jedoch Stieve konstatiert, die Türken hätten »noch gar ein grobes Ceremoniel«,50 vermittelt Lünig einen differenzierteren Befund: »Es haben die Türcken auch sonst bey Hofe und in dem gemeinen Leben sehr viel Ceremonien, die aber denen Europäern theils unbekannt, theils auch von den ihrigen sehr unterschieden, und also bewandt sind, daß man sowohl der Unterthanen Knechtische Ehr-Furcht vor ihre Herren, als auch dieser ungezämten und Tyrannischen Hochmuth daraus erkennen kan. Doch muß man ihnen zugestehen, daß sie in ihrem Ceremoniel so scrupuleux und eigensinnig sind, daß sie, ohne die grösten Schwürigkeiten, nicht im geringsten davon abweichen wollen.«51
Im zeremoniellen Gebaren der Türken, so jedenfalls die von Lünig vermittelte Sichtweise, spiegeln sich somit generelle Charakterzüge dieses Volkes. Allerdings bestehe ein erheblicher Unterschied zwischen dem Verhalten der Türken gegenüber ihresgleichen und ihrem Umgang mit Christen: »Es ist zwar wahr, daß die Türcken, so arm und gering sie immer seyn, mit den vornehmsten Christen grob, unhöflich und barbarisch umgehen; Allein es geschicht solches mehr aus Hochmuth und angebohrnem Haß gegen den Christen, als daß sie nicht wissen solten, wie man sich gegen rechtschaffene Leute, die man zu ehren schuldig ist, bezeugen solle. Denn man siehet würcklich, daß wenn sie mit einander umgehen, sie die Regeln der Höflichkeit so genau beobachten, als man zu Rom, oder in der aller-politesten Stadt der gantzen Welt nimmermehr thun kan.«52
Häufig anzutreffen sind in den zeremonialwissenschaftlichen Schriften ausführliche Beschreibungen der Besonderheiten und typischen zeremoniellen Implikationen einer Gesandtschaft nach Konstantinopel. Hierzu zählen insbesondere die An- und Rückreise, Audienzen beim Sultan und Großwesir, Geschenkpraktiken, Feste und Empfänge, Übersetzungsprobleme und Präzedenzstreitigkeiten. Tradierte Topoi, Feindbilder und Stereotype finden hier ihren illustrativen Niederschlag:53 Grausamkeit und Barbarei im Umgang mit Diplo-
50 51 52 53
Stieve, Hoff-Ceremoniel, S. 692. Lünig, Theatrum, Bd. 2, S. 1442. Ebd., S. 1451. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Schriftsatz »Kurtzer Unterricht, wie die Ambassadeurs und frembden Ministri mit den Türcken handeln und negotiiren sollen«; ebd., Bd. 1, hier S. 442 (mit direkter Bezugnahme auf den habsburgischen Diplomaten Ogier Ghislain de Busbecq; zu dessen Bedeutung vgl. Ernst D. Petritsch, Fremderfahrungen kaiserlicher Diplomaten im Osmanischen Reich (1500–1648), in: Rohrschneider / Strohmeyer, Wahrnehmungen, S. 345–366, hier S. 356–359); vgl. darüber hinaus auch Claudia Garnier / Christine Vogel, Einführung, in: Dies. (Hg.), Interkulturelle Ritualpraxis in der Vormoderne: Diplomatische Interaktion an den östlichen Grenzen der Fürstengesellschaft, Berlin 2016 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft, 52), S. 7–17, hier S. 10.
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maten,54 Neid und Wollust,55 »die unbeschreibliche Hoffart dieser Monarchie«,56 ungeheure Prachtentfaltung57 und nicht zuletzt die als schändlich empfundene Behandlung von Christen, die, so liest man bei Lünig, von türkischer Seite bisweilen nicht anders als Tiere (»Bestien«58) geachtet würden. Auffällig sind die zahlreichen Querverbindungen zwischen den beiden Kategorien »das Eigene und das Fremde« sowie »Überordnung und Unterordnung« in den Beschreibungen des zeremoniellen Prozederes. Das am osmanischen Hof praktizierte Zeremoniell, das auf islamische, urtürkische und teilweise auch byzantinische Traditionen zurückging,59 wurde von den Gesandten der christlich-europäischen Mächte als fremdartig empfunden. Auch in den zeremonialwissenschaftlichen Schriften schlägt sich dies dahingehend nieder, dass markanten Abweichungen zum Erfahrungshorizont des europäischen diplomatischen Zeremoniells besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Einige Beispiele für diesen Sachverhalt seien hier angeführt. So gab es in der osmanischen Diplomatie weder abgestufte Gesandtenränge,60 noch wurde die Gewährung der »rechten Hand«, der im christlichen Kontext traditionell als ehrenvoller erachteten Seite, im Zeremoniell des Osmanischen Reiches praktiziert. Im Gegenteil wurde vermerkt, dass die »lincke Hand […] bey denen Türcken die vornehmste ist«.61 Auch die den europäischen Gesandten vertraute, auf reziproken Ehrerweisungen beruhende Geschenkpraxis ihrer Heimatländer hatte in Konstantinopel allenfalls bedingt Geltung. Im »Theatrum Ceremoniale« liest man: »Der Sultan empfängt sie mit ihren Præsenten, welche er aus einer Gewohnheit sein Recht nennet, und sich nicht vor schuldig hält, andere dargegen zu geben, dieweil er
54 Vgl. z. B. Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 736 (Vorzeigen von frisch abgeschlagenen Menschenköpfen zur Einschüchterung) und S. 514f. (barbarisches Vorgehen gegen französische Diplomaten). 55 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 1446 (»Es regieret aber an keinem Hofe der Neid so arg, als am Türckischen«) und S. 1443 (»niemand der Wollust so sehr, als die Türckischen Käyser ergeben«). 56 Ebd., Bd. 1, S. 724. 57 Vgl. ebd., S. 758 (»der Groß-Sultan selbst hatte allenthalben so viel Diamanten um sich, daß man gantz blind darüber ward«). 58 Vgl. etwa ebd., S. 442. 59 So zusammenfassend Ernst D. Petritsch, Zeremoniell bei Empfängen habsburgischer Gesandtschaften in Konstantinopel, in: Kauz / Rota / Niederkorn, Diplomatisches Zeremoniell, S. 301–322, hier S. 301; vgl. generell auch Konrad Dilger, Untersuchungen zur Geschichte des osmanischen Hofzeremoniells im 15. und 16. Jahrhundert, München 1967 (Beiträge zur Kenntnis Südosteuropas und des Nahen Orients, 4). 60 Vgl. z. B. Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 516. 61 Ebd., S. 750; vgl. auch Zwantzig, Theatrum, S. 10 (»da die Türcken die lincke Hand pro honoratiori halten«).
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vorgiebt, die Tractaten, die er mit ihnen eingehe, wären ein genugsamer Vortheil vor ihre Unterthanen.«62
Zudem wusste Lünig zu berichten, die Türken hielten es »vor lächerlich, auch vor einen Affront und Schimpff, wann man in ihrer Gegenwart den Hut abzieht. Ingleichen halten sie die viele kleine Reverenzen und Bückungen, so die Christen zu machen pflegen, vor ein Zeichen des grossen Unterscheids zwischen dem Groß-Herrn, und demjenigen Potentaten, der einen abschicket.«63
Der sich hier widerspiegelnde Anspruch des Sultans auf prinzipielle Überordnung, der sich auch und gerade auf zeremoniellem Terrain manifestierte,64 verlor letztlich erst dann an Geltungskraft, als das Osmanische Reich um 1700 seine militärische Dominanz einbüßte. Bis dahin musste es aufgrund der Rangansprüche des Sultans nahezu unausweichlich zu Konflikten mit dem Kaiser kommen, der gemäß der herkömmlichen hierarchischen Ordnung des europäischen Ius praecedentiae ebenfalls beanspruchte, uneingeschränkten zeremoniellen Vorrang zu genießen. Zwantzig widmet diesem Zeremonialkonflikt ein eigenes Kapitel: »Wegen der Präcedentz wolte[n] gerne unserm Teutschen Römischen Käysern einige Quæstion machen die Türckische Käysere und Soldane; Denn wie diese sonst gewohnet seyn Ihren Namen für der Welt zu erzehlen/ und erschröcklich zu machen/ und sich unter den Mahomedanern als Statthalter GOttes ausgeben/ auch zugleich beybringen/ daß sie Successores der Constantionopolitanischen Käyser/ und Uberwindere des Constantionopolitanischen Käyserthums seyn; Also wollen sie nicht allein allen Po62 Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 513. Zum Geschenkwesen am osmanischen Hof liegen inzwischen zahlreiche Untersuchungen vor; eine Auswahl: Peter Burschel, Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive, in: Historische Anthropologie 15 (2007), S. 408–421; Hedda Reindl-Kiel, Pracht und Ehre. Zum Geschenkwesen im Osmanischen Reich, in: Klaus Kreiser / Christoph K. Neumann (Hg.), Das Osmanische Reich in seinen Archivalien und Chroniken. Nejat Göyünç zu Ehren, Stuttgart 1997 (Beiruter Texte und Studien, 65; Türkische Welten, 1), S. 161–189; Dies., Der Duft der Macht. Osmanen, islamische Tradition, muslimische Mächte und der Westen im Spiegel diplomatischer Geschenke, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 95 (2005), S. 195– 258; Dies., Symbolik, Selbstbild und Beschwichtigungsstrategien: Diplomatische Geschenke der Osmanen für den Wiener Hof (17.–18. Jahrhundert), in: Strohmeyer / Spannenberger, Frieden, S. 265–282; Christine Vogel, Geschenke als Medien interkultureller Diplomatie. Praktiken des Schenkens französischer Botschafter im Osmanischen Reich im 17. Jahrhundert, in: Peter Hoeres / Anuschka Tischer (Hg.), Medien der Außenbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart, Köln / Weimar / Wien 2017, S. 144–159. 63 Lünig, Theatrum, Bd. 2, S. 1451. 64 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang z. B. die bei Lünig ausführlich geschilderte langjährige »Sofa-Affäre« (Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 737–740), bei der sich die französischen Botschafter den osmanischen Versuchen widersetzten, während einer Audienz zeremoniell herabgesetzt zu werden. Zu den Hintergründen dieser Streitigkeiten vgl. Géraud Poumarède, La querelle du sofa. Étude sur les rapports entre gloire et diplomatie, in: Histoire, économie et société 20 (2001), S. 185–197; Vogel, Marquis.
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tentaten auf Erden/ Christen und Heyden/ sondern auch fürnemlich denen RömischTeutschen Käysern den Rang disputiren.«65
Da man auf habsburgischer Seite nicht bereit war, die kaiserlichen Vorrangansprüche aufzugeben, musste man in der diplomatisch-zeremoniellen Praxis auf das Äußerste darauf bedacht sein, jedweden Versuchen der Hohen Pforte entgegenzuwirken, dem Anspruch des Sultans auf Präzedenz und Überordnung Geltung zu verschaffen. So achteten die Kaiserlichen beispielsweise sehr darauf, den Grenzübertritt im Rahmen des Austauschs von Großbotschaften zumindest in einer strikt symmetrisch-paritätischen Art und Weise zu gestalten, die den Osmanen keinerlei Möglichkeit der Inszenierung hierarchischer Überordnung bot.66 Für die betroffenen kaiserlichen Diplomaten war die Abwehr der Versuche der Osmanen, die postulierte eigene Vormachtstellung zeremoniell in Szene zu setzen, in der Regel eine schwierige Aufgabe. Denn das Zeremoniell in Konstantinopel war als »show of imperial power«67 auf systematische Einschüchterung ausgerichtet, und die Diplomaten mussten aufgrund fehlender diplomatischer Immunität – das europäische Völkerrecht hatte im Osmanischen Reich keine juristische Geltungskraft68 – mit persönlichen Sanktionen (Demütigungen, Inhaftierung und Misshandlungen) rechnen, wenn sie sich entsprechenden Avancen ihrer osmanischen Gastgeber widersetzten.69 Zumeist versuchte man die65 Zwantzig, Theatrum, S. 4. 66 Das Problem von Über- und Unterordnung bzw. Parität und Symmetrie in den habsburgischosmanischen Beziehungen kann inzwischen als gut erforscht gelten. Verwiesen sei an dieser Stelle generell auf die entsprechenden Studien von Ernst D. Petritsch und Arno Strohmeyer (vgl. deren Arbeiten im Quellen- und Literaturverzeichnis). Für die Erforschung der Großbotschaften ist nach wie vor wichtig: Karl Teply, Die kaiserliche Großbotschaft an Sultan Murad IV. im Jahre 1628. Des Freiherrn Hans Ludwig von Kuefsteins Fahrt zur Hohen Pforte, Wien 1976. Das Ringen um Gleichrangigkeit manifestierte sich darüber hinaus ganz deutlich im Streit um die Titulatur der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches; grundlegend hierzu Markus Köhbach, Çasar oder imperator? – Zur Titulatur der römischen Kaiser durch die ˙ Osmanen nach dem Vertrag von Zsitvatorok (1606), in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 82 (1992), S. 223–234. Die Bestrebungen Frankreichs, am osmanischen Hof den Kaisertitel für den französischen König zu erwirken, finden sich ausführlich dargelegt bei Zwantzig, Theatrum, S. 15–17; ebd., S. 16 die Verspottung des französischen Monarchen als »L’Empereur de la Lune«; vgl. hierzu auch Rohrschneider, Präzedenzstreben, S. 175. 67 Michael Talbot, British-Ottoman Relations, 1661–1807. Commerce and Diplomatic Practice in Eighteenth-Century Istanbul, Woodbridge 2017, S. 155; vgl. Petritsch, Dissimulieren, S. 151. 68 Vgl. dazu jüngst Florian Kühnel, »No Ambassadour Ever Having the Like«. Die Übertretung der diplomatischen Rituale und die Stellung der Gesandten am osmanischen Hof, in: Garnier / Vogel, Ritualpraxis, S. 95–122, hier S. 104–106. 69 Vgl. Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 516: »Dieses heilige und unzerbrüchliche Recht der Völcker ist nicht besser an denen, die von des Käysers oder anderen Fürsten wegen, an dem Ottomanischen Hoffe seynd, in acht genommen worden. Denn es ist noch niemahl eine Ruptur zwischen diesen zweyen mächtigen Fürsten vorgegangen, daß des Käysers Gesandten nicht gefangen gesetzt, und starck bewachet worden […].«
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se Problematik durch pragmatische Lösungen zu entschärfen – in den Worten Christian Windlers durch einen »Pragmatismus der Interaktion«70 –, wobei beide Seiten gezielt die prinzipielle Offenheit und Flexibilität der Zeichensprache des diplomatischen Zeremoniells ausnutzten, um präjudizierliche Regelungen und Vorfälle zu vermeiden und eigene Ansprüche aufrechtzuerhalten.71 Ein berühmtes Beispiel für diesen Sachverhalt ist die in Konstantinopel gängige Praxis, auswärtige Gesandte vor einer Audienz dazu zu verpflichten, als Geschenk überreichte Kaftane überzuziehen.72 Während dies in der Sprache der symbolischen Kommunikation der Osmanen als Geste hierarchischer Überordnung galt, mit der ein vasallenähnlicher Status des Beschenkten suggeriert wurde, deklarierten die Gesandten der christlich-europäischen Mächte dies in ihren Relationen in der Regel als ehrenhaftes Geschenk.73 Beide Seiten konnten mit dieser ambivalenten Praxis, deren Voraussetzung differierende zeremonielle Codes waren, letztlich gut leben, zumal es den europäischen Gesandten in diesem Zusammenhang vor allem darum ging, unbedingt zu verhindern, dass hierbei Praktiken etabliert wurden, die präzedenzrechtliche Nachteile gegenüber anderen Gesandten nach sich zogen. Konstantinopel war insofern also nicht nur Schauplatz des Ringens um zeremoniellen Vorrang zwischen dem Sultan und
70 Windler, Tribut, S. 27; vgl. Christine Vogel, Gut ankommen. Der Amtsantritt eines französischen Botschafters im Osmanischen Reich im späten 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 21 (2013), S. 158–178, hier S. 162. 71 Vgl. Windler, Tribut, S. 53: Interkulturelle diplomatische Kommunikation beruhte im 18. Jahrhundert ganz wesentlich »auf der Fähigkeit und dem Willen der Parteien, einen Konsens Gesten betreffend aufrechtzuerhalten, die unterschiedliche Interpretationen zuliessen, die ihren divergierenden Wertsystemen entsprachen.« 72 Vgl. Rohr, Einleitung, S. 403: »Es ist auch bey den Türckischen Audienzen etwas wunderliches, daß sich einige frembde Gesandten vorher mit Türckischen Caftans überkleiden müssen.« Vgl. dazu auch Christine Vogel, The Caftan and the Sword. Dress and Diplomacy in Ottoman-French Relations Around 1700, in: Claudia Ulbrich / Richard Wittmann (Hg.), Fashioning the Self in Transcultural Settings: The Uses and Significance of Dress in SelfNarratives, Würzburg 2015 (Istanbuler Texte und Studien, 17), S. 25–44, hier S. 32. Dass in den Friedensverträgen von Karlowitz 1699 und Passarowitz 1719 ausdrücklich festgeschrieben wurde, dass die kaiserlichen Diplomaten das Recht erhalten, sich am osmanischen Hof nach eigenem Gutdünken zu kleiden, ist Lünig eine ausführliche Anmerkung wert; vgl. Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 753. 73 Ein weiteres Beispiel für diesen Sachverhalt sind die divergierenden Ausdeutungen der Tribut-Zahlungen an die Osmanen; vgl. Ernst D. Petritsch, Tribut oder Ehrengeschenk? Ein Beitrag zu den habsburgisch-osmanischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Elisabeth Springer / Leopold Kammerhofer (Hg.), Archiv und Forschung. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in seiner Bedeutung für die Geschichte Österreichs und Europas, Wien / München 1993 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, 20), S. 49–58; Christian Windler, La diplomatie comme expérience de l’Autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840), Genf 2002 (Bibliothèque des Lumières, 60), S. 485–548.
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den europäischen Mächten, sondern auch und gerade ein Ort, an dem die nahezu ubiquitären innereuropäischen Präzedenzstreitigkeiten ausgetragen wurden.74 Hinter diesem verbissenen Ringen um machtpolitische Überlegenheit und ihre Visualisierung in Form von Präzedenz und Überordnung stand der in seiner Bedeutung kaum zu überschätzende Faktor Reputation.75 Lünigs Kapitel »Kurtzer Unterricht, wie die Ambassadeurs und frembden Ministri mit den Türcken handeln und negotiiren sollen« vermittelt davon einen unmittelbaren Eindruck. Dort heißt es in programmatischer Weise: Ein Botschafter am osmanischen Hof solle »alle Gelegenheit meiden, da seine Ehr und Reputation schaden leiden, oder welche das Ansehen, so ihnen gebühret, verringern möchten. Dann sofern solches geschieht, so ist er veracht, und wird vor einen unverständigen Menschen gehalten, er verliert zugleich alle seine Treu und Glauben, wie hoch man ihn auch zuvor gehalten, da dann der Türcken Hochmuth nicht unterlässet, sich solches zu Nutz zu machen und ihn gar zu unterdrücken. Mit denen aber, die ihre Reputation unversehrt behalten, ist es weit ein anders, dann sie gar eine vortheilhaffte Handlung vor andern treffen können.«76
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Erwerb und die Behauptung von Reputation im Kalkül der europäischen Herrscher einen herausragenden Stellenwert einnahmen, überrascht diese Handlungsanweisung nicht. Der Diplomat
74 Verwiesen sei beispielshalber auf den berühmten französisch-spanischen Präzedenzstreit von 1661, bei dem es Tote und Verletzte gab; vgl. Rohrschneider, Präzedenzstreben, S. 149–152; Thomas Weller, »Très chrétien« oder »católico«? Der spanisch-französische Präzedenzstreit und die europäische Öffentlichkeit, in: Henning P. Jürgens / Thomas Weller (Hg.), Streitkultur und Öffentlichkeit im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 2013 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte. Abteilung für Universalgeschichte. Beiheft, 95), S. 85–127, hier S. 101–104. Dass die Kaftan-Problematik am osmanischen Hof von den dortigen europäischen Gesandten auch und gerade mit Blick auf mögliche Nachteile in den innereuropäischen Präzedenzstreitigkeiten beurteilt wurde, wird betont bei Vogel, Pracht, S. 332; Dies., Marquis, S. 234f. und 244f.; Kühnel, Westeuropa, S. 272; Ders., Ambassadour, S. 100–103; Ders., Ein Königreich für einen Botschafter. Die Audienzen Thomas Bendishs in Konstantinopel während des Commonwealth, in: Burschel / Vogel, Audienz, S. 125–159, hier S. 158f. Zur Polysemie der zeremoniellen Praxis vgl. zusammenfassend auch Talbot, Relations, S. 169f. 75 Vgl. allgemein Michael Rohrschneider, Reputation als Leitfaktor in den internationalen Beziehungen der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 331–352; speziell im Hinblick auf die habsburgisch-osmanischen Beziehungen siehe zudem die Ausführungen zu Reputation und Ehre bei Arno Strohmeyer, Religion – Loyalität – Ehre: »Ich-Konstruktionen« in der diplomatischen Korrespondenz des Alexander von Greiffenklau zu Vollrads, kaiserlicher Resident in Konstantinopel (1643–1648), in: Katrin Keller / Petr Mat’a / Martin Scheutz (Hg.), Adel und Religion in der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie, Wien 2017 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 68), S. 165–181, hier S. 177f. 76 Lünig, Theatrum, Bd. 1, S. 442.
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vom type ancien77 war aufgrund seiner multiplen Rollen als Alter ego seines Monarchen, interkultureller go-between78 und Interessenvertreter in eigener Sache79 in der Logik frühneuzeitlicher Diplomatie gleich in mehrfacher Hinsicht unbedingt darauf angewiesen, seine Ehre und Reputation unter allen Umständen zu verteidigen. Denn Reputationsverlust war nicht nur oftmals gleichbedeutend mit einem Ende der persönlichen Karriere, sondern aufgrund seiner Repräsentationsfunktion musste der Diplomat Reputation und Ehre seines Prinzipals bekanntlich ebenso verteidigen wie sein eigenes Leben. Nur vor diesem Hintergrund ist es erklärbar, dass Präzedenzstreitigkeiten in der Frühen Neuzeit immer wieder gewaltsam eskalierten und ein wichtiger Faktor im Rahmen der Entscheidung über Krieg und Frieden waren. Das Wirken christlich-europäischer Gesandter am osmanischen Hof stellte hierbei keine Ausnahme dar.
3
Fazit
Die Zeremonialwissenschaft entstand in einer Zeit, in der das einstige Schreckensbild des als flagellum Dei perhorreszierten »Erbfeindes der Christenheit« sukzessive an Bedrohlichkeit einbüßte. Die frühere militärische Dominanz des Osmanischen Reiches war im »Großen Türkenkrieg« (1683–1699) erkennbar verloren gegangen. Die Friedensschlüsse von Karlowitz und Passarowitz zeigten dies in aller Deutlichkeit80 – auch und gerade im zeremoniellen Bereich. Parität und Symmetrie waren nunmehr leitende Ordnungsvorstellungen, die im Rah77 Vgl. Hillard von Thiessen, Diplomatie vom type ancien. Überlegungen zu einem Idealtypus des frühneuzeitlichen Gesandtschaftswesens, in: Ders. / Windler, Akteure, S. 471–503. 78 Siehe dazu jüngst das Fallbeispiel in Arno Strohmeyer, Der Dreißigjährige Krieg in der Korrespondenz des kaiserlichen Residenten in Konstantinopel Johann Rudolf Schmid zum Schwarzenhorn (1629–1643), in: Michael Rohrschneider / Anuschka Tischer (Hg.), Dynamik durch Gewalt? Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Faktor der Wandlungsprozesse des 17. Jahrhunderts, Münster 2018 (Schriftenreihe zur Neueren Geschichte NF, 1), S. 315–335. 79 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den wichtigen Hinweis von Christine Vogel, A Sublime Illusion? French Accounts of Ottoman Ceremonies in the Late Seventeenth Century, in: Gábor Kárman / Radu G. Pa˘un (Hg.), Europe and the ›Ottoman World‹: Exchanges and Conflicts (Sixteenth to Seventeenth Centuries), Istanbul 2013, S. 239–256, hier S. 256: »Ultimately, the way in which individual agents described Ottoman political culture in the early modern period depended not only on their cultural background and on a given alterity discourse, but also on their individual position within their own social networks.« 80 Vgl. Ernst D. Petritsch, Rijswijk und Karlowitz. Wechselwirkungen europäischer Friedenspolitik, in: Heinz Duchhardt (Hg. in Verbindung mit Matthias Schnettger und Martin Vogt), Der Friede von Rijswijk 1697, Mainz 1998 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung Universalgeschichte. Beiheft, 47), S. 291–311; Mónika F. Molnár, Der Friede von Karlowitz und das Osmanische Reich, in: Strohmeyer / Spannenberger, Frieden, S. 197–220; Charles Ingrao / Nikola Samardzˇic´ / Jovan Pesˇalj (Hg.), The Peace of Passarowitz, 1718, West Lafayette / Indiana 2011 (Central European Studies).
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men der Friedensschlüsse mit den Osmanen symbolisch zum Ausdruck gebracht wurden. In dieser Umbruchzeit der machtpolitischen Beziehungen zwischen Orient und Okzident publizierten die zeremonialwissenschaftlichen Autoren umfangreiche Kompilationen, welche die charakteristische zeitgenössische Wahrnehmung des Osmanischen Reiches zwischen »Befremden und Faszination«81 noch heute spürbar werden lässt. Sie legten immense Stoffsammlungen vor, die für die Erforschung des frühneuzeitlichen diplomatischen Zeremoniells im Allgemeinen und die zeremoniellen Aspekte des Verhältnisses zum Osmanischen Reich im Besonderen eine regelrechte Fundgrube darstellen. Thesenartig lässt sich formulieren, dass die in den zeremonialwissenschaftlichen Werken geschilderten Ausprägungen und Besonderheiten des osmanischen Zeremoniells oftmals als Spiegelung kollektiver Charaktereigenschaften des »Türcken« verstanden und in ihrer wahrgenommenen Fremdheit als Merkmal der Distinktion mit dem – wie auch immer verstandenen – »Eigenen« in Beziehung gesetzt wurden. Der agonale Leitgedanke machtpolitischer und/oder zivilisatorischer Über- bzw. Unterlegenheit fungierte hierbei als wichtiges narratives Strukturierungsmerkmal. Auch der Faktor Religion wurde als Kernelement von Fremd- und Differenzerfahrungen und zugleich als integraler Bestandteil der konfliktreichen Beziehungen zwischen den christlich-europäischen Mächten und den Osmanen verstanden. Insofern sind die zeremonialwissenschaftlichen Schriften ein typisches Produkt einer Zeit des Wandels, in der die Vorstellung einer Integration des Osmanischen Reiches in eine gemeinsame Staatenwelt, wie sie schon im 1623 publizierten Friedensplan des Éméric Crucé angedacht wurde,82 noch die erkennbare Ausnahme darstellte.
81 Harriet Rudolph, Türkische Gesandtschaften ins Reich am Beginn der Neuzeit – Herrschaftsinszenierung, Fremdheitserfahrungen und Erinnerungskultur. Die Gesandtschaft des Ibrahim Bey von 1562, in: Kurz u. a., Das Osmanische Reich, S. 295–314, hier S. 295. 82 Vgl. hierzu zuletzt Guido Braun, Friedensutopien in der Frühen Neuzeit. Éméric Crucé und die Idee einer supranationalen Friedenssicherungsinstanz – Vorläufer der UNO?, in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive, unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Bonn 2017 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 2), S. 97–116, hier S. 106–109.
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Michael Rohrschneider
Quellen- und Literaturverzeichnis 1.
Quellen
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Literatur
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Brunert, Maria-Elisabeth, Dr., Universität Bonn, Zentrum für Historische Friedensforschung Conermann, Stephan, Prof. Dr., Universität Bonn, Philosophische Fakultät, Institut für Orient- und Asienwissenschaften, Abteilung Islamwissenschaft Gahbler, Katharina, Dr., Universität Bonn, Philosophische Fakultät, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte Geiss, Peter, Prof. Dr., Universität Bonn, Philosophische Fakultät, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Didaktik der Geschichte Goetze, Dorothée, Dr., Mittuniversitetet, Institutionen för humaniora och samhällsvetenskap, Sundsvall, Schweden Helfer, Florian, M.Ed., Universität Bonn, Philosophische Fakultät, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Didaktik der Geschichte Heuser, Peter Arnold, Dr., Universität Bonn, Zentrum für Historische Friedensforschung Karsten, Arne, PD Dr., Universität Wuppertal, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Institut für Geschichte, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit König, Daniel G., Prof. Dr., Universität Konstanz, Geisteswissenschaftliche Sektion, Fach Geschichte, Geschichte der Religionen Müller-Tietz, Sandra, M.A., Universität Bonn, Philosophische Fakultät, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Didaktik der Geschichte
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Plassmann, Alheydis, PD Dr., Universität Bonn, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte Rohrschneider, Michael, Prof. Dr., Universität Bonn, Philosophische Fakultät, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte / Zentrum für Historische Friedensforschung