Chemie für Mediziner [8. Aufl. Reprint 2021] 9783110927238

Dieses Lehrbuch vermittelt den Studierenden der Medizin eine solide und zeitgemäße, den aktuellen Erfordernissen entspre

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Chemie für Mediziner [8. Aufl. Reprint 2021]
 9783110927238

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de Gruyter Lehrbuch Wächter • Hausen Chemie für Mediziner fortgeführt von G. Reibnegger 8. Auflage

Helmut Wächter • Arno Hausen

Chemie für Mediziner fortgeführt von Gilbert Reibnegger 8. Auflage

W Walter de Gruyter G Berlin • New York 2002 DE

Autor

Univ.-Prof. Dr. Gilbert Reibnegger Medizinisch-Chemisches Institut und Pregl-Laboratorium der Karl-Franzens-Universität Graz Harrachgasse 21 A-8010 Graz [email protected] Chronologie

1. Auflage 1975 2. Auflage 1977 3. Auflage 1979 4. Auflage 1982 5. Auflage 1985 6. Auflage 1989 7. Auflage 1996 8. Auflage 2002 Das Buch enthält zahlreiche Abbildungen und Tabellen.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Wächter, Helmut: Chemie für Mediziner / Helmut Wächter ; Arno Hausen. - 8. Aufl. / fortgef. von Gilbert Reibnegger. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (De-Gruyter-Lehrbuch) ISBN 3-11-017581-9

@ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. © Copyright 2002 by Walter de Gruyter & Co. KG, D-10785 Berlin. - Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Datenkonvertierung und Druck: Tutte Druckerei GmbH, Salzweg-Passau. Bindung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin. Einbandgestaltung: Hansbernd Lindemann, Berlin.

Vorwort zur 8. Auflage

Die 7. Auflage des Lehrbuches stellte eine komplette Überarbeitung des Lehrstoffes dar. Die vorliegende Auflage wurde auf Basis zahlreicher Hinweise und Korrekturvorschläge sorgfältig durchgesehen und korrigiert. Inhaltlich und didaktisch hält sie sich an die vorherige Auflage, da die Resonanz auf die 7. Auflage sehr positiv war. Auch meine eigenen Studierenden an der Medizinischen Fakultät in Graz haben mir zustimmende Kommentare zum Lehruch gegeben, so dass ich hoffen kann, dass das Konzept insgesamt den Bedürfnissen der Studierenden entgegenkommt. Bei Frau Christiane Bowinkelmann und Frau Dr. Martina Bach vom Verlag Walter de Gruyter möchte ich mich für die ausgezeichnete Zusammenarbeit besonders bedanken. Auf Basis dieser exzellenten Kooperation mit dem Verlag entstand mittlerweile ja auch eine CD-ROM mit dem Titel "Grundlagen der Chemie - interaktiv", die wesentlich auf dem Material des Lehrbuches aufbaut und die neuen elektronischen Möglichkeiten der Graphik sowie der Interaktivität noch intensiver nutzt. Graz, im Juni 2002

Gilbert Reibnegger

Vorwort zur 1. Auflage

Über die Ausbildung der Medizinstudenten in der Chemie fanden sich bisher an verschiedenen Universitäten unterschiedliche Auffassungen, die sich unter anderem auch in der inhaltlichen Verschiedenheit bestehender Lehrbücher ausdrückten. Zum Zwecke eines einheitlicheren und zweckmäßigeren Chemieunterrichtes für Medizinstudenten erarbeitete eine deutsche Sachverständigenkommission den Umfang des Lehrstoffes der Chemie für Mediziner, und das Institut für medizinische Prüfungsfragen, Mainz, verlegte erstmals im September 1973 den deutschen "Gegenstandskatalog für die Fächer der ärztlichen Vorprüfung". Etwa zur gleichen Zeit erstellten wir den Entwurf eines österreichischen "Lehrzielkataloges für medizinische Chemie", der sich inhaltlich vollständig mit dem deutschen Gegenstandskatalog deckt, und legten diesen Entwurf im Sommer 1973 dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung zur weiteren Diskussion vor. Das vorliegende Buch "Chemie für Mediziner" umfaßt das Wissensgebiet dieser Gegenstandskataloge, allerdings aus Gründen einer zusammenhängenden und leicht verständlichen Darstellung oft in etwas anderer Reihenfolge. Teilweise überschreitet das Buch geringfügig den Umfang des Wissensgebietes des deutschen Gegenstandskataloges, wenn eine erweiterte Ausführung für ein leichteres Verständnis notwendig schien. Um die Koordination zum deutschen Gegenstandskatalog zu erleichtern, haben wir ein Korrelationsregister aufgenommen, das die Punkte des Gegenstandskataloges mit der Seitennummer des Lehrbuches verbindet. Das Buch selbst entstand nach einer Vorlesung, die wir in dieser Form erstmals im Wintersemester 1972/73 an der Universität Innsbruck gehalten haben. Wir sehen die Aufgabe des Buches nicht darin, medizinische Anwendungsmöglichkeiten chemischer Substanzen zu beschreiben oder eine Einführung in die klinische Chemie zu geben, sondern wir wollen dem Leser soweit einen Einblick in die Chemie geben, daß er in der Lage ist, die Chemie als Grundlage für andere Fächer wie beispielsweise die Biochemie, Physiologie, Pharmakologie u.a. zu verstehen. Chemische Synthesen, Ableitungen und Berechnungen haben wir, um allzuviel Lehrstoff zu vermeiden, auf ein unbedingt nötiges Mindestmaß beschränkt. Naturgemäß wird ein Anspruch auf umfassende Darstellung und exakte mathematische Ausführung des behandelten Stoffes nicht erhoben. An dieser Stelle danken wir auch allen Studenten, die uns in dem an die Vorlesung angeschlossenen Seminar wertvolle Anregungen gegeben haben. Zu besonderem Dank sind wir Herrn Dr. L. Call für die kritische Durchsicht des Manuskripts verpflichtet. Frl. K. Koväts danken wir für das gewissenhafte Schreiben des Manuskripts und die Anfertigung des Sachregisters. Dem Verlag Walter de Gruyter danken wir für die jederzeit gewährte Unterstützung und die sorgfältige Drucklegung. Innsbruck, im Juli 1975

H. Wächter

• A. Hausen

Inhaltsverzeichnis A. 1.

Grundlagen der allgemeinen Chemie Einleitung

2.

Zustandsformen der Materie 4 2.1 Der Begriff der Phase 4 2.2 Aggregatzustände 6 2.3 Kristalline Festkörper 9 2.4 Ionenkristalle 10 2.5 Riesenmoleküle 11 2.6 Molekülkristalle 12 2.7 Kristalle mit Wasserstoffbrückenbindungen 13 2.8 Gase 14 2.9 Das Boyle'sche Gesetz 14 2.10 Das Gesetz von Charles und Gay-Lussac. Thermodynamische (absolute) Temperaturskala 16 2.11 Das Gesetz von Avogadro 18 2.12 Ideale und reale Gase 18 2.13 Das ideale Gasgesetz 19 2.14 Das Daltoniche Partialdruckgesetz 21 2.15 Flüssigkeiten 22 2.16 Gläser 23 2.17 Gummiartige Stoffe 23 Atombau 24 3.1 Atome 24 3.2 Elementarteilchen 25 3.3 Kernbau 27 3.4 Kernreaktionen und Radioaktivität 29 Struktur der Elektronenhülle 37 4.1 Elektromagnetische Strahlung 37 4.2 Das Bohr'sehe Atommodell 39 4.3 Heisenberg'sehe Unschärferelation 41 4.4 Der Wellencharakter des Elektrons 43 4.5 Das quantenmechanische Bild der Elektronenhülle von Atomen 44 4.6 Die Elektronenzustände des Wasserstoffatoms 49 4.7 Mehrelektronensysteme und das Aufbauprinzip 50 4.8 Das Periodensystem der Elemente 54 Die chemische Bindung 56 5.1 Ionisierungspotential und Elektronenaffinität 56 5.2 Die Ionenbindung 57 5.3 Die einfache kovalente (homöopolare) Bindung 58 5.4 Hybridisierung und Bindungswinkel 62 5.5 Mehrfachbindungen 65 5.6 Mesomerie und polyzentrische Molekülorbitale 67 5.7 Metallische Bindung 69 5.8 Semipolare (koordinative) Bindung 70 5.9 Polarisierte kovalente Bindung 71 5.10 Bindungskräfte zwischen Molekülen 73

3.

4.

5.

3 3

VIII 6.

7.

8.

9.

Inhaltsverzeichnis Die chemische Reaktion

76

6.1 6.2 6.3

76 77 81

Chemische Gleichungen Relative Atom- und Molekülmasse, Stoffmenge, Konzentration Konzentrationsangaben

Die Thermodynamik

84

7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9

84 85 86 87 88 90 91 94 95

Grundbegriffe Zustandsfunktionen Innere Energie eines Systems; 1. Hauptsatz der Thermodynamik Reaktionen bei konstantem Volumen; die Enthalpie Thermochemische Reaktionsgleichungen Brennstoffe, Verbrennung und Energiegewinnung Ein Maß für die Unordnung: Die Entropie und der 2. Hauptsatz 3. Hauptsatz der Thermodynamik Freie Enthalpie und das chemische Gleichgewicht

Löse- und Fällungsgleichgewichte

104

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

104 104 105 109 110

Allgemeines Auflösung ohne Dissoziation in Ionen Auflösung mit Dissoziation in Ionen Gekoppelte Salz-Lösung und -Fällung Der Eigenioneneffekt

Säuren und Basen

112

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5

112 113 114 116

Allgemeines Autoprotolyse des Wassers Der pH-Wert Die Stärke von Säuren und Basen Zusammenhang zwischen Säurekonstante und Basenkonstante bei einem konjugierten (korrespondierenden) Säure-Base-Paar 9.6 Die Berechnung von pH-Werten 9.7 Protonenübergänge beim Auflösen von Salzen 9.8 Protolysegrad und Ostwald'sches Verdünnungsgesetz 9.9 Puffersysteme 9.10 Säure-Base-Titrationen (Maßanalyse) 9.11 Indikatoren 10.

11.

117 120 127 128 130 136 139

Oxidation und Reduktion

140

10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7

140 141 144 147 148 154

Allgemeines Die Oxidationszahl Stöchiometrisch korrekte Redoxgleichungen Rationelle Nomenklatur von Sauerstoffsäuren und deren Anionen Elektrochemische Spannungsreihe Elektrochemische Reaktionen und chemisches Gleichgewicht Knallgasexplosion und Atmungskette - eine biologische Betrachtung von Redoxreaktionen

158

Komplexreaktionen

162

11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6

162 162 163 164 166 167

Allgemeines Die Komplexreaktion und das chemische Gleichgewicht Nomenklatur von Komplex Verbindungen Chelatkomplexe Eigenschaften komplexierter Metallkationen Biologische Bedeutung von Komplexverbindungen

Inhaltsverzeichnis

IX

12.

Heterogene Gleichgewichte

169

Allgemeines Löse- und Fällungsreaktionen Nernst'sches Verteilungsgesetz Löslichkeit von Gasen in Flüssigkeiten (Henry-Dalton'sches Gesetz) Adsorption Gleichgewichte in Gegenwart von Membranen 12.6.1 Diffusion 12.6.2 Osmose 12.6.3 Donnan-Beziehung 12.7 Dampfdruckerniedrigung 12.8 Anwendungen heterogener Gleichgewichte auf Trennverfahren 12.8.1 Trennung durch Dampfdruckunterschiede: Destillation und Sublimation 12.8.2 Trennung durch Löslichkeitsunterschiede: Kristallisation 12.8.3 Trennung durch unterschiedliche Verteilungskoeffizienten: Extraktion 12.8.4 Chromatographische Verfahren

169 169 170 172 174 175 176 177 179 182 184 184 184 185 185

Chemische Kinetik

186

13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6

186 186 192 194 195 197

12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6

13.

Reaktionsgeschwindigkeit Reaktionsordnung Temperaturabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit Das Energieprofil einer chemischen Reaktion Katalyse Kinetik einfacher enzymkatalysierter Reaktionen

B.

Spezielle anorganische Chemie

205

14.

Einleitung

205

15.

Hauptgruppenelemente

206

15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6 15.7 15.8 15.9

207 207 209 212 219 224 229 230 233

16.

C.

17.

Edelgase Wasserstoff Halogene Chalkogene Stickstoffgruppe Kohlenstoffgruppe Borgruppe Erdalkalimetalle Alkalimetalle

Biochemisch und physiologisch wichtige Übergangsmetalle

236

16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6

236 237 239 240 240 241

Eisen Cobalt Kupfer Zink Molybdän Metalle in der Medizin

Spezielle organische Chemie

245

17.1 Sonderstellung der Chemie des Kohlenstoffs 17.2 Funktionelle Gruppen 17.3 Chemische Reaktionen in der organischen Chemie

245 246 247

Allgemeines zur organischen Chemie

245

X 18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Inhaltsverzeichnis Isomerie 18.1 Konstitution, Konfiguration und Konformation von Molekülen 18.2 Strukturisomerie 18.3 Stereoisomerie 18.4 Charakterisierung der räumlichen Anordnung von Substituenten an asymmetrischen Kohlenstoffatomen: D,L- und R.S-Nomenklatur 18.5 Diastereomerie Alkane 19.1 Struktur und Nomenklatur 19.2 Physikalische Eigenschaften 19.3 Chemische Eigenschaften Alkene 20.1 Struktur und Nomenklatur 20.2 Physikalische Eigenschaften 20.3 Chemische Eigenschaften

250 251 254 256

Alkine 21.1 Struktur und Nomenklatur 21.2 Physikalische Eigenschaften 21.3 Chemische Eigenschaften Cycloalkane 22.1 Struktur und Nomenklatur 22.2 Physikalische Eigenschaften 22.3 Chemische Eigenschaften Aromatische Kohlenwasserstoffe 23.1 Struktur und Nomenklatur 23.2 Physikalische Eigenschaften 23.3 Chemische Eigenschaften 23.4 Kondensierte aromatische Kohlenwasserstoffe Halogenierte Kohlenwasserstoffe 24.1 Halogenalkane 24.1.1 Struktur und Nomenklatur 24.1.2 Physikalische Eigenschaften 24.1.3 Chemische Eigenschaften 24.2 Aromatische Halogenverbindungen

275 275 275 275 277 277 278 278 281 281 283 283 289 290 290 290 291 291 293

Alkohole 25.1 Struktur und Nomenklatur 25.2 Physikalische Eigenschaften 25.3 Chemische Eigenschaften 25.3.1 Säure-und Base-Reaktionen der Alkohole 25.3.2 Nucleophile Substitutionen 25.3.3 Eliminierung von Wasser 25.3.4 Oxidation von Alkoholen 25.4 Einige Vertreter der Alkohole Phenole und Chinone 26.1 Phenole 26.2 Chinone

295 295 295 296 296 296 298 298 299 299 299 303

259 261 263 263 267 268 270 270 271 271

Inhaltsverzeichnis

XI

27.

Ether

304

28.

27.1 Struktur und Nomenklatur 27.2 Physikalische Eigenschaften 27.3 Chemische Eigenschaften Carbonylverbindungen (Aldehyde und Ketone)

304 305 305 306

28.1 Struktur und Nomenklatur 28.2 Physikalische Eigenschaften 28.3 Chemische Eigenschaften 28.3.1 Redoxreaktionen 28.3.2 Additionsreaktionen 28.3.3 Acidität des Wasserstoffs am a-C-Atom

306 308 309 309 309 314

29.

Carbonsäuren

319 319 320 320 320

30.

29.1 Struktur und Nomenklatur 29.2 Physikalische Eigenschaften 29.3 Chemische Eigenschaften 29.3.1 Acidität von Carbonsäuren 29.3.2 Nucleophile Substitution an der Carboxylgruppe von Carbonsäuren und Carbonsäurederivaten 29.3.3 Acidität des Wasserstoffs am a-C-Atom 29.3.4 Nomenklatur von mehrfunktionellen Verbindungen 29.4 Ungesättigte Carbonsäuren 29.5 Mehrprotonige (mehrbasige) Carbonsäuren 29.6 Hydroxy- und Ketocarbonsäuren Amine

321 327 329 329 330 332 335

30.1 Struktur und Nomenklatur 30.2 Physikalische Eigenschaften 30.3 Chemische Eigenschaften 30.3.1 Basizität der Amine 30.3.2 Reaktionen von Aminen mit salpetriger Säure 30.4 Einige wichtige Vertreter

335 336 336 336 337 340

Kohlensäurederivate 31.1 Kohlensäureamide 31.2 Ureide 31.3 Guanidin Organische Schwefelverbindungen 32.1 Allgemeines 32.2 Einige wichtige Verbindungsklassen 32.2.1 Thioalkohole 32.2.2 Sulfonsäuren 32.2.3 Thioether und Thioester Heterocyclische Verbindungen 33.1 Allgemeines 33.2 Wichtige Vertreter 33.2.1 Fünfgliedrige Heterocyclen mit einem Heteroatom 33.2.2 Fünfgliedrige Heterocyclen mit zwei Heteroatomen 33.2.3 Sechsgliedrige Heterocyclen mit einem oder zwei Stickstoffatomen 33.2.4 Mehrkernige Heterocyclen

340 340 341 343 344 344 344 344 346 346 347 347 347 347 349 350 350

31.

32.

33.

xn

Inhaltsverzeichnis

D.

Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

355

34.

Kohlenhydrate 34.1 Struktur und Nomenklatur 34.2 Monosaccharide 34.2.1 Chemischer AufbaXIIu 34.2.2 Verhalten in wässriger Lösung 34.2.3 Physikalische Eigenschaften 34.2.4 Chemische Eigenschaften 34.3 Di- und Oligosaccharide 34.3.1 Die glycosidische Bindung 34.3.2 Verknüpfung von Monosacchariden über glycosidische Bindungen 34.4 Polysaccharide Nucleinsäuren 35.1 Allgemeines 35.3 Das Skelett der Nucleinsäuren 35.3 Die heterocyclischen Basen der Nucleinsäuren 35.4 Nucleoside und Nucleotide 35.5 DNA und RNA Lipide 36.1 Klassifizierung der Lipide 36.2 Fettsäuren 36.3 Terpene 36.4 Steroide 36.5 Triacylglycerine (Triglyceride, Neutralfette) 36.6 Phospholipide 36.7 Sphingolipide 36.8 Oberflächenaktive Substanzen Aminosäuren, Peptide und Proteine 37.1 Proteinogene L-a-Aminosäuren 37.2 Physikalische und chemische Eigenschaften der Aminosäuren 37.3 Die Peptidbindung 37.4 Bedeutung der Peptide und Proteine 37.5 Verschiedene Strukturebenen eines Proteins Vitamine und Coenzyme 38.1 Historische Aspekte 38.2 Einteilung der Vitamine 38.3 Chemische Strukturen der Vitamine 38.3.1 Thiamin (Vitamin B^ und Thiaminpyrophosphat 38.3.2 Riboflavin (Vitamin B2) und die Flavinnucleotide 38.3.3 Nicotinsäure (Niacin) und die Pyridinnucleotide 38.3.4 Pantothensäure und Coenzym A 38.3.5 Vitamin B6 und die Pyridoxin-Coenzyme 38.3.6 Biotin und Biocytin (Vitamin H) 38.3.7 Folsäure und Tetrahydrofolsäure 38.3.8 Cobalamin (Vitamin B,2) 38.3.9 Liponsäure und Lipolysin 38.3.10 Ascorbinsäure (Vitamin C) 38.3.11 Retinol (Vitamin A)

355 355 356 356 358 361 361 365 365 366 367 369 369 370 372 374 376 379 379 380 382 384 389 390 392 393 395 395 401 403 404 404 408 408 408 409 409 410 412 412 413 415 416 417 418 419 420

35.

36.

37.

38.

Inhaltsverzeichnis 38.3.12 Calciferol (Vitamin D) 38.3.13 Tocopherol (Vitamin E) 38.3.14 Phyllochinone (Vitamin K)

XIII 422 424 424

Weiterführende Literatur

425

Sachregister

426

A Grundlagen der allgemeinen Chemie

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Einleitung Zustandsformen der Materie Atombau Struktur der Elektronenhülle Die chemische Bindung Die chemische Reaktion Die Thermodynamik Löse- und Fällungsgleichgewichte Säuren und Basen Oxidation und Reduktion Komplexreaktionen Heterogene Gleichgewichte Chemische Kinetik

A

Grundlagen der allgemeinen Chemie

1 Einleitung Chemie ist die Wissenschaft von den Stoffen und den stofflichen Veränderungen. Neben der Physik und der Biologie stellt die Chemie den dritten Eckpfeiler der Naturwissenschaften dar. Chemische Kenntnisse und chemische Arbeitsmethoden haben in allen Bereichen der Medizin, vor allem in der Biochemie, Physiologie und Klinischen Chemie, stets an Bedeutung gewonnen. Ein Studium dieser Fächer ist ohne ein Verständnis der elementaren chemischen Grundbegriffe und ohne die Fähigkeit, in den Kategorien der Chemie zu denken, praktisch nicht möglich. Der erste Teil des Buches soll diese elementaren Grundlagen der Chemie vermitteln. Um einen leichteren Einstieg in die Begriffswelt der Chemie zu ermöglichen, wird das Kapitel "Zustandsformen der Materie", das am stärksten mit der vertrauten Welt des Alltags verbunden ist, an den Anfang des Buches gestellt. Erst danach behandeln wir den Bau der Atome und Moleküle, wobei auf das Phänomen der chemischen Bindung besonderes Gewicht gelegt wird. Einer kurzen Einführung in die Thermodynamik schließt sich eine ausführlichere Besprechung des chemischen Gleichgewichts an. Die dabei erarbeiteten Gesetzmäßigkeiten werden auf die Grundtypen der chemischen Reaktionen (Lösungs- und Fällungsreaktionen, Reaktionen von Säuren und Basen, Redoxvorgänge und Komplexbildungsreaktionen) angewandt. Eine Diskussion der Prinzipien der chemischen Kinetik beendet die Einführung in die allgemeine Chemie. Im folgenden, der Anorganischen Chemie gewidmeten Teil, wird besonders die medizinische Relevanz der jeweils besprochenen Elemente und ihrer Verbindungen hervorgehoben, auf eine ausführliche beschreibende Systematik aber verzichtet, da Ziel des Lehrbuches nicht eine Darstellung von detailliertem Einzelwissen ist, sondern die Vermittelung von umfassenderen Gesetzmäßigkeiten. Dieses Ziel wird auch im dritten Teil des Buches verfolgt, in dem eine Einführung in die Organische Chemie gegeben wird. Über die wichtigsten funktionellen Gruppen und ihre wesentlichen Reaktionsmechanismen wird ein Überblick gegeben. Die reine Stoffchemie tritt zugunsten der Reduktion des Lehrstoffes in den Hintergrund. Der vierte Teil schließlich bringt eine Einführung in die chemischen Grundlagen der wichtigsten Naturstoffklassen (Proteine, Kohlenhydrate, Lipide, Nucleinsäuren, Vitamine und Coenzyme), wobei insbesondere die strukturellen Aspekte dieser Verbindungen betrachtet werden; die funktionellen Gesetzmäßigkeiten werden nicht detailliert abgehandelt (siehe Lehrbücher der Biochemie).

4

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

2 Zustandsformen der Materie 2.1 Der Begriff der Phase Wenn eine Substanz (ein Stoff) in allen seinen Teilen vollkommen gleichmäßig einheitliche chemische und physikalische Eigenschaften hat, so liegt ein homogener Stoff vor. Beispiele dafür sind etwa ein Stück Schwefel oder Messing. Lassen sich hingegen an der Substanz mit bloßem Auge oder mit dem Mikroskop Bereiche unterscheiden, die beispielsweise unterschiedliches Aussehen, unterschiedliche Härte, unterschiedliches spezifisches Gewicht usw. aufweisen, so bezeichnet man eine derartige Substanz als heterogen. Holz, in dem weiche und harte "Ringe" einander abwechseln, ist offensichtlich ein heterogenes Material, ebenso Granit, der aus den Komponenten Feldspat, Quarz und Glimmer besteht. Mit dem Begriff Phase bezeichnet man einen homogenen Teil eines Stoffsystems, der von anderen Teilen durch physikalische Grenzen getrennt ist. Glimmer etwa stellt eine der Phasen des heterogenen Stoffes Granit dar. Heterogene Stoffe bestehen also immer aus mindestens zwei Phasen. Der Begriff der Homogenität ist allerdings nicht gleichbedeutend damit, daß nur eine Komponente vorliegt: In einer Lösung von Kochsalz in Wasser befinden sich zwei chemisch völlig unterschiedliche Komponenten, die aber eine homogene Phase bilden, da die Lösung auch bei stärkster Vergrößerung unter einem Mikroskop eine völlig einheitliche Substanz darstellt. Anderseits kann eine chemisch einheitliche Substanz auch in Form eines heterogenen Gemisches vorliegen, etwa ein System aus flüssigem Wasser und Wasserdampf, oder ein in Wasser schwimmendes Stück Eis. Eine Phase umfaßt alle Anteile, die gleiche Eigenschaften und Zusammensetzung besitzen. Mehrere Eiskristalle, die in Wasser schwimmen, bilden daher nicht mehrere Phasen, sondern nur eine, die Eisphase. Ein Metallblock zum Beispiel ist überall gleichmäßig hart, leitet elektrischen Strom und Wärme, reflektiert Licht, bildet also eine Phase. Mischen wir Öl und Wasser, so erhalten wir ein System mit zwei flüssigen Phasen. An der Phasengrenze Öl 0 liegt nur mehr eine kleinere, durch die Gleichung bestimmte, Zahl von Ausgangskernen N vor. Abb. 3.4.1 zeigt die exponentielle Abnahme der radioaktiven Kerne.

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3

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i Was bedeutet diese Ungleichung? Sie besagt, daß, wenn wir den Ort eines Teilchens immer präziser bestimmen, unser Wissen über seinen Impuls (oder, gleichbedeutend, seine Geschwindigkeit) immer unpräziser wird. Das Produkt der Ungenauigkeiten beider Größen, angedeutet durch das vorgesetzte A (griechisch: delta), kann nie kleiner werden als das Planck'sche Wirkungsquantum geteilt durch 2 mal die Zahl pi. Und diese Unscharfen sind keineswegs etwa durch ungenaue Meßinstrumente bedingt, sondern eine prinzipielle Eigenschaft der Natur. Diese Auffassung des Naturgeschehens steht in radikalem Gegensatz zur der der klassischen Mechanik, in der es prinzipiell keine Grenze für die Meßgenauigkeit gibt. Das Weltbild der klassischen Mechanik läßt sich am besten darstellen an der

42

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Fiktion des Laplace'sehen Dämons, der Vorstellung nämlich, daß ein genügend großes "Gehirn" (heute würden wir vielleicht "Computer" sagen), welches die Orte und Impulse aller Teilchen des Weltalls zu einem bestimmten Zeitpunkt exakt kennen würde, die Geschichte des Universums - und zwar sowohl die vergangene als auch die zukünftige Geschichte - berechnen könnte. Die Quantenmechanik räumt mit dieser Vorstellung radikal auf, da Ort und Impuls gleichzeitig nicht mit beliebiger Genauigkeit gemessen werden können. Diese Ungleichung hatte in der Tat revolutionäre Auswirkungen: Sie veränderte das von Isaac Newton stammende bisherige Weltbild der Physiker radikal. Allerdings sind die Konsequenzen dieser Beziehung nur im Mikrokosmos spürbar; bei den uns im Alltag begegnenden makroskopischen Phänomenen bemerken wir sie nicht. (Dies ist eine Folge der Kleinheit der Planck'schen Konstante h). Im Bereich des Atoms aber hat die Heisenberg'sche Unschärferelation jedoch drastische Auswirkungen. Insbesondere hat sie zur Folge, daß es im naturwissenschaftlichen Sinne unmöglich ist, präzise Aussagen über den Aufenthaltsort oder die Bahn von Elektronen in einem Atom zu machen: Der Begriff "Bahn" im Bohr'schen Atommodell würde nur Sinn geben, wenn man den Ort und den Impuls eines Elektrons in einem bestimmten Zeitpunkt präzise angeben könnte, denn dann könnte man mittels der Gesetze der Newton'schen Mechanik auch die zukünftige Bahn des Elektrons exakt berechnen. Dies ist nicht der Fall, sondern man kann prinzipiell nur Wahrscheinlichkeitsaussagen über den Aufenthalt von Elektronen machen. Ein ganz neues Bild vom Atom wird daher zu erarbeiten sein. Wir wollen uns an dieser Stelle klar machen, daß diese neue und überraschende Situation keinesfalls bedeutet, daß die Naturwissenschaft wegen dieser anschaulich nicht verstehbaren Beschränkung, die ihr durch die Unschärferelation auferlegt wird, nun Spielplatz für irgendwelche esoterischen oder mythologischen Spekulationen geworden sei. Es wurde von einigen Autoren - wohl aus kommerziellen Überlegungen - der Versuch unternommen, eine Synthese der modernen Naturwissenschaft und verschiedener fernöstlicher Religionen zu behaupten, wobei die nicht-anschaulichen Elemente der modernen Physik, insbesondere die Unschärferelation und bestimmte Folgerungen aus der Relativitätstheorie, zur Rechtfertigung und Untermauerung derartiger Unternehmungen herangezogen wurden. Tatsächlich aber sind alle diese zentralen Bestandteile der modernen Naturwissenschaft Ergebnis strenger und nüchterner wissenschaftlicher Arbeit und haben dem quantitativen und messenden Zugang zu den Wundern und Schönheiten der Natur außerordentlich wertvolle Instrumente an die Hand gegeben. Allerdings sind die Naturwissenschaften bescheidener geworden, als sie es noch vor etwa hundert Jahren waren, als man glaubte, alles auf mechanischem Wege erklären zu können: Wir erkennen heute, daß unsere Anschauung im sehr Kleinen und im sehr Großen versagt. Der Grund für dieses Versagen unserer Anschauung in Gebieten, wo uns nur mehr die Mathematik weiterhilft, ist wohl darin zu sehen, daß unsere Begriffskategorien sich in der Evolution in einer Weise entwickelt haben, um uns auszurüsten, mit unserer unmittelbaren Umwelt, das heißt mit wilden Tieren, mit Kälte, Hunger und Durst fertig zu werden.

4. Struktur der Elektronenhülle

4.4

43

Der Wellencharakter des Elektrons

Wir haben bereits gesehen, daß in der Quantenmechanik das Licht (allgemein: die elektromagnetische Strahlung) sowohl Wellen- als auch Teilchencharakter besitzt. Warum eigentlich sollte diese Beziehung nicht symmetrisch sein? Der französische Physiker Louis de Broglie hatte 1924 tatsächlich diesen Gedanken und versuchte,den Elektronen, die bislang eindeutig als Teilchen betrachtet wurden, Welleneigenschaften zuzuordnen. Sein Gedankengang war etwa folgender: Ausgangspunkt waren die beiden bereits beschriebenen Beziehungen für Energie, nämlich E = m • c 2 (Relativitätstheorie) und E=h v = hfA

(Planck'sches Gesetz für die Energie von Lichtquanten). Kombiniert man diese beiden Gleichungen, so ergibt sich mc2 = h | und daraus, aufgelöst nach der Wellenlänge,

Ersetzt man nun Licht (mit der Geschwindigkeit c) durch Elektronen (mit der Geschwindigkeit v), so folgt

als Wellenlänge bewegter Elektronen (m ist die Elektronenmasse).

Was so eigenartig klingt, konnte durch Experimente eindeutig bewiesen werden: Elektronen, bislang nur als Teilchen betrachtet, zeigen bei geeigneten Versuchsanordnungen eindeutig Welleneigenschaften wie Interferenz und Beugung, wobei bei Elektronen deren Wellenlänge durch den Experimentator nach Belieben verändert werden kann: Durch Variation der Spannung, die zur Beschleunigung der Elektronen dient, können wir v und 1 variieren. Alle Vorhersagen der Theorie konnten bestätigt werden. Das folgende Kapitel soll nun zeigen, welche Konsequenzen diese überraschenden Eigenschaften von Elektronen für das moderne Bild des Atoms haben.

44 4.5

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Das quantenmechanische Bild der Elektronenhülle von Atomen

Entsprechend der Heisenberg'schen Unschärferelation ist es unmöglich, gleichzeitig präzise Aussagen über den Ort und den Impuls eines Elektrons zu machen. Was aber sehr wohl möglich ist, sind Wahrscheinlichkeitsaussagen, in welchem Raumbereich sich das Elektron im Mittel aufhält. Mit anderen Worten, wir können berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Elektron in einem bestimmten Raumelement anzutreffen ist. Die Berechnung dieser Wahrscheinlichkeiten kann interessanterweise mit demselben mathematischen Formalismus durchgeführt werden, den die Physiker seit Jahrhunderten für die Beschreibung gewöhnlicher Wellenerscheinungen verwenden. Dies ist außerordentlich wichtig. Denken wir an eine schwingende Saite, die an beiden Enden fixiert ist (etwa wie bei einer Geige). Wird die Saite angeschlagen, so entstehen stehende Wellen mit bestimmten Wellenlängen und Frequenzen, die Grundschwingung und die Oberschwingungen. Die entsprechenden Wellenlängen stehen im Verhältnis ganzer Zahlen zueinander (Abb. 4.5.1). Der Ton, den die schwingende Saite erzeugt, entsteht eben durch diese stehenden Wellen: Wo ein bestimmtes Partikel der Saite sich in einem bestimmten Augenblick aufhält, ist für das Phänomen des Tones uninteressant; es ist der Zustand der Saite über einen längeren Zeitraum, der den Musiker interessiert.

Abb. 4.5.1

Grund- und Oberschwingungen

einer schwingenden

Saite

Während alle Elemente der Saite in der Grundschwingung zwischen den fixierten Enden schwingen, besitzen die Oberschwingungen einen, zwei usw. Punkte, wo die Schwingungsamplitude gleich Null ist: Die betreffenden Elemente der Saite bewegen sich während des Schwingungsvorganges überhaupt nicht ( K n o t e n p u n k t e ) . Mit den Elektronen eines Atomes verhält es sich ähnlich: Wo ein bestimmtes Elektron des Atoms sich zu einem definierten Zeitpunkt befindet, ist für die stationären

4. Struktur der Elektronenhülle

45

(das heißt, über einen längeren Zeitraum konstanten) Eigenschaften des Atoms unerheblich und kann wegen der Unschärferelation auch gar nicht angegeben werden (zum Unterschied von einer schwingenden Saite!). Der Zustand und die stationären Eigenschaften des Atoms werden hingegen durch die besprochenen stationären Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der Elektronen bestimmt, und diese gehorchen einer Wellengleichung (der sogenannten Schrödingergleichung nach dem österreichischen Physiker Erwin Schrödinger). Wie beim Beispiel der schwingenden Saite die Grund- und Oberschwingungen durch ganze Zahlen charakterisiert werden können, so sind auch für die Zustände der Elektronen im Atom nur ganz bestimmte und diskrete Zustände möglich, die durch ganze Zahlen, sogenannte Quantenzahlen, beschrieben werden können. Im Bohr'schen Atommodell waren sogenannte Quantenzahlen, die die erlaubten Bohr'schen Bahnen der Elektronen um den Atomkern beschreiben, völlig willkürlich angenommen worden. Im quantenmechanischen Modell des Atoms dagegen folgt die Existenz von Quantenzahlen automatisch aus den mathematischen Eigenschaften der Lösungen der Wellenfunktionen für die Elektronen. Allerdings beschreiben diese Quantenzahlen nicht definierte Bahnen der Elektronen, sondern eben die Wellenfunktionen der Elektronen, aus denen man die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten berechnen kann (auch als Orbitale bezeichnet). Die Analogie der dreidimensionalen stehenden Welle, die die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elektrons im Atom beschreibt, mit der zweidimensionalen stehenden Welle bei einer Saite ist sehr weitgehend: Auch bei den Wahrscheinlichkeitswellen gibt es einen Grundzustand und "angeregte" Zustände, die den Oberschwingungen entsprechen. Den Knotenpunkten der Saite entsprechen sogenannte Knotenflächen der Wahrscheinlichkeitswellen, das sind Flächen, wo also die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elektrons verschwindet. Während allerdings bei einer schwingenden Saite ein Satz von ganzen Zahlen ausreicht, um die Schwingungszustände zu charakterisieren (nämlich gerade die ganzzahlige Anzahl der Knotenpunkte), benötigen wir bei den dreidimensionalen Schwingungszuständen, die die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Elektronen beschreiben, mehrere Sätze ganzer Zahlen (Quantenzahlen), die im einzelnen noch zu besprechen sind: Die Hauptquantenzahl n, die die Werte 1,2,3, ... annehmen kann, ist ein Maß für den mittleren Abstand des Elektrons vom Atomkern und auch ein Maß für die Energie des Elektrons: Je größer n, desto größer ist der Kernabstand und desto schwächer ist die Bindungsenergie des Elektrons. Außerdem besitzen Orbitale mit der Hauptquantenzahl n genau n-1 Knotenflächen, die nicht durch den Atomkern gehen. Die Nebenquantenzahl l gibt die räumliche Gestalt eines Orbitals an; sie bestimmt die Zahl der (nicht im Unendlichen liegenden) Knotenflächen, die durch den Atomkern gehen. Sie kann, je nach Hauptquantenzahl n, Werte von 0 bis n-1 annehmen.

46

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Die magnetische Quantenzahl m (Orientierungsquantenzahl), die, je nach Nebenquantenzahl t, Werte von -l bis +£ annehmen kann, gibt Auskunft über die Orientierung der Orbitale im Raum. Sie läßt sich experimentell dadurch ermitteln, daß ein Magnetfeld angelegt wird, wodurch die Energien der Orbitale mit gleichem n und £, aber verschiedenem m, unterscheidbar werden. Schließlich kennen wir noch die Spinquantenzahl s, die etwas mit der Eigendrehung des Elektrons zu tun hat und zwei Werte,

und — , annehmen kann.

Wie sehen nun die durch diese verschiedenen Quantenzahlen charakterisierten stehenden dreidimensionalen Wahrscheinlichkeitswellen, die man auch als Orbitale bezeichnet, aus? Die Nebenquantenzahl l = 0 bezeichnet Orbitale, die kugelsymmetrisch sind. Abb. 4.5.2 zeigt schematisch ein derartiges Orbital, auch als s-Orbital bezeichnet.

Abb. 4.5.2

Schematische Darstellung eines s-Orbitales

( / = 0)

Während Abb. 4.5.2 ein s-Orbital durch eine Fläche darstellt, die den Raum umhüllt, innerhalb dessen die Aufenthaltswahrscheinlichkeit des entsprechenden Elektrons einen bestimmten Wert, etwa 90%, hat, zeigt Abb. 4.5.3 Schnitte durch s-Orbitale:

47

4. Struktur der Elektronenhülle Knotenfläche

n=1

n=2

e=o

f =0 Abb. 4.5.3

Zweidimensionaler

Schnitt durch s-Orbitale

(/ = 0) mit

verschiedenen

Hauptquantenzahlen. Die Schwärzung entspricht der Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons. Während diese beim ls-Orbital (n = 1) mit steigendem Kernabstand monoton abfällt, weist das 2s-Orbital eine kugelsymmetrische Knotenfläche auf.

Im Gegensatz zu den kugelsymmetrischen s-Orbitalen besitzen Orbitale, die durch die Nebenquantenzahl £ = 1 charakterisiert sind, hanteiförmiges Aussehen (Abb. 4.5.4). Sie weisen, der Nebenquantenzahl entsprechend, bereits

Knotenfläche

eine

auf, die durch den Atomkern verläuft. Da zu £ = 1 die drei Magnetquantenzahlen m = -1, m = 0 und m = +1 möglich sind, existieren drei derartige Orbitale (p-Orbitale), die senkrecht aufeinander stehen wie die Achsen eines dreidimensionalen kartesischen Koordinatensystems und die Bezeichnung px, py und pz-Orbital haben.

Abb. 4.5.4

Die drei möglichen p-Orbitale bitale sind völlig gleichartig, nach

den

py-Orbital,

drei

Achsen

Mitte; pz-Orbital,

zur Nebenquantenzahl jedoch

des

räumlich unterschiedlich,

Raumes, rechts).

('=• I. Die drei Or-

orientiert

und zwar

(px-Orbital,

links;

48

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Erhöht man die Nebenquantenzahl auf £ = 2, so erhält man die sogenannten dOrbitale. Diese besitzen zwei Knotenflächen durch den Atomkern. Entsprechend m = -2, -1, 0, 1,2 gibt es hier fünf verschiedene Möglichkeiten. Drei Orbitale besitzen die höchste Elektronendichte (AufenthaltsWahrscheinlichkeit) rosettenförmig jeweils zwischen zwei Achsen eines rechtwinkeligen Koordinatensystems (Abb. 4.5.5).

Abb. 4.5.5

Die drei d-Orbitale, fen (d'

Abb. 4.5.6

Die

die zwischen jeweils zwei Koordinatenachsen

verlau-

links; d , Mitte; d , rechts).

beiden

entlang

der Koordinatenachsen

verlaufenden

d-Orbitale.

Links: dx2 y2; rechts: dz2 .

Die zwei weiteren d-Orbitale verlaufen entlang der x- und y-Koordinatenachsen; eines ist rosettenförmig, und das zweite weist die Form einer in z-Richtung liegenden Hantel auf, die zusätzlich von einem Torus in der x,y-Ebene umrundet wird.

49

4. Struktur der Elektronenhülle

4.6 Die Elektronenzustände des Wasserstoffatoms Das Elektron eines Wasserstoffatoms kann sich in verschiedenen durch sogenannte Quantenzahlen charakterisierten Zuständen befinden. Diese Zustände sind, wie wir gesehen haben, durch bestimmte Energien gekennzeichnet, und die mit den Zuständen verknüpften Wahrscheinlichkeitswellen besitzen charakteristische geometrische Formen. Welchem Ordnungsschema folgen diese Orbitale ? Die Tabelle 4.6.1 erläutert die Zusammenhänge: Tab. 4.6.1

Schale n K L M N

1 2 3 4

Die verschiedenen Quantenzustände des

l

0 0 1 0 1 2 0 1 2 3

OrbitalTyp ls 2s 2p 3s 3p 3d 4s 4p 4d 4f

m 0 0 -1 0 +1 0 -1 0 +1 -2 -1 0 +1 +2 0 -1 0 +1 -2 -1 0 +1 +2 -3 -2 -1 0 +1 +2 +3

Wasserstoffatoms.

Zahl der Orbitale 1 1 3 1 3 5 1 3 5 7

s +/+/-

+/+/+/+/+/+/+/-

+/-

1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2 1/2

Zahl der Zustände 2 8 18 32

Die wichtigste Quantenzahl ist die Hauptquantenzahl n. Sie bestimmt, in welcher "Schale", bezeichnet mit K, L, M, usw. das Elektron sich befindet. Anschaulich gesprochen bedeutet dies, daß die Raumbereiche, in denen das Elektron sich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit befindet, mit zunehmendem n größer werden (siehe auch Abb. 4.5.3). Außerdem ist die Energie des Elektrons davon abhängig, in welcher Schale es sich befindet: Am stärksten an den Atomkern gebunden (und damit in einem Zustand tiefster Energie) ist das Elektron in der K-Schale; in den höheren Schalen ist die Bindung zum Kern schwächer, die Energie daher höher. Jede Schale besteht aus verschiedenen "Unterschalen", charakterisiert durch die Nebenquantenzahl £. Je nach Nebenquantenzahl spricht man von s, p, d, usw. Zuständen. Beim Wasserstoffatom sind die zu einem bestimmten n gehörenden Zustände mit verschiedenem l energetisch "entartet"; das heißt, sie besitzen gleiche Energie. (Dies gilt bei Mehrelektronenatomen nicht mehr.) Zu jeder Nebenquantenzahl l

50

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

gibt es 2i + 1 Zustände, die sich in der Magnetquantenzahl m unterscheiden; sie sind normalerweise auch entartet, nur in einem äußeren Magnetfeld erhalten sie verschiedenen Energien. Schließlich kann das Elektron in jedem der durch n / , m charakterisierten Orbitale zwei Zustände mit unterschiedlichen Spin s annehmen. Normalerweise (im Grundzustand) befindet sich das Elektron des Wasserstoffatoms im Zustand ls; durch Energiezufuhr kann es in einen der energetisch höher liegenden Zustände übergehen. Aus einem Zustand höherer Energie kann das Elektron auch in einen Zustand geringerer Energie überwechseln, dann wird die entsprechende Energiedifferenz als Licht einer bestimmten Frequenz abgestrahlt. 4.7 Mehrelektronenatome und das Aufbauprinzip Während man die Orbitale und damit die Zustände eines Elektrons im Wasserstoffatom exakt berechnen kann (Zweiteilchen-Problem: 1 Elektron und 1 Atomkern), ist dies für Mehrelektronenatome (Vielteilchen-Problem: mehrere Elektronen und 1 Atomkern) nicht mehr möglich; man kann aber ausgezeichnete Näherungen berechnen. Dabei ergibt sich, daß die Orbitale in einem Mehrelektronensystem denen des Wasserstoffs sehr ähnlich sind, nur ist die energetische Entartung der Unterschalen aufgehoben: s-Orbitale einer bestimmten Hauptquantenzahl haben eine niedrigere Energie als p-Orbitale, diese liegen energetisch tiefer als die d-Orbitale usw. Wie verteilen sich die Elektronen eines Mehrelektronenatoms auf die verschiedenen Orbitale? Als prinzipielle Regel für die Ermittelung der korrekten Elektronenkonfiguration des Grundzustandes eines Atoms (also des energetisch tiefstliegenden und damit stabilsten Zustandes) gilt, daß Orbitale niedrigerer Energie zuerst besetzt werden. Zusätzlich gibt es drei Regeln: 1) Grundsätzlich dürfen zwei Elektronen eines Atoms nicht in allen vier Quantenzahlen n,l,m,s übereinstimmen (Pauli-Verbot, nach Wolfgang Pauli). 2)

Kann sich ein neu hinzukommendes Elektron vom vorherigen Elektron entweder durch die Orientierungsquantenzahl m oder aber durch die Spinquantenzahl s unterscheiden, so erfolgt die Besetzung der möglichen Orbitale so, daß die Orientierungsquantenzahl dieser Elektronen unterschiedlich ist (1. Hund'sehe Regel, nach Friedrich Hund). Dies bedeutet, daß Orbitale gleicher Haupt- und Nebenquantenzahl zuerst einfach besetzt werden.

3)

Elektronen, die Orbitale mit gleichem n und i, aber verschiedenem m einzeln besetzen, haben parallelen Spin (die gleiche Spinquantenzahl) (2. Hund'sche Regel).

51

4. Struktur der Elektronenhülle

i

0

n

s

4

4s

3 CD

Ö

pq

d 3d

3s

CD • i-H

EP

P

2p 2s

ls

Abb. 4.7.1

Die Elektronenzustände bis zun = 4 und /=

für den Grundzustand eines Atoms

(gezeichnet

2).

Die energieärmsten Orbitale sind - entsprechend ihrer jeweiligen Energie - schematisch in Abb. 4.7.1 dargestellt. Das Aufbauprinzip besagt, daß die in einem Atom zur Verfügung stehenden Elektronen im Grundzustand "von unten her", also beginnend mit den energieärmsten Zuständen, in die Orbitale eingefüllt werden, wobei weder das Pauli-Verbot noch die beiden Hund'schen Regeln verletzt werden dürfen. Dies verdeutlichen wir anhand der leichtesten Elemente (immer im Grundzustand): Das Wasserstoffatom (chemisches Symbol H, 1 Proton, 1 Elektron) besitzt die Elektronenkonfiguration ls (genauer ls 1 , wobei die Hochzahl die Zahl der Elektronen in dem angegebenen Zustand ls bedeutet). Im Helium (He, 2Protonen, 2 Elektronen) finden wir die Elektronenkonfiguration ls 2 , da auch das zweite Elektron im ls-Zustand untergebracht werden kann, ohne das Pauli-Verbot zu verletzen (ein Elektron hat die Spinquantenzahl s = +1/2, das andere hat s = -1/2). Man spricht auch von gepaarten Elektronen. Bei Helium ist

52

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

die erste Elektronenschale (n = 1) vollständig gefüllt. Diese ist hier auch die äußerste Schale, die sogenannte Valenzschale. Bei Lithium (Li, 3 Protonen, 3 Elektronen) muß das neu hinzukommende Elektron bereits das energetisch zweitniedrigste Orbital besetzen; die Elektronenkonfiguration ist also ls 2 2s. Beryllium (Be, 4 Protonen, 4 Elektronen) besitzt die Elektronenkonfiguration ls22s2. Auch die beiden 2s-Elektronen haben entgegengesetzten (antiparallelen) Spin, sie sind gepaart. Im Bor (B, 5 Protonen, 5 Elektronen) muß das fünfte Elektron ein p-Orbital besetzen; die Elektronenkonfiguration ist daher ls22s22p. Bei Kohlenstoff (C, 6 Protonen, 6 Elektronen) muß man erstmals die Hund'schen Regeln anwenden: Das neu hinzukommende Elektron besetzt ein weiteres 2p-Orbital, sein Spin ist gleichgerichtet wie der des fünften Elektrons. Diese beiden Elektronen sind daher ungepaart. Die Elektronenkonfiguration ist ls22s22px2py. (px und py sind willkürlich gewählt; man könnte genausogut auch py und pz wählen). Stickstoff (N, 7 Protonen, 7 Elektronen) hat demzufolge die Elektronenkonfiguration ls22s22px2py2pz. Bei Sauerstoff (O, 8 Protonen, 8 Elektronen) hingegen muß das letzte hinzugekommene Elektron in ein bereits einfach besetztes 2p-Orbital eingeordnet werden, die Elektronenkonfiguration ist somit 1 s22s22px22py2pz. Die beiden letzten Elemente mit der Valenzschale der Hauptquantenzahl n = 2 sind Fluor (F, 9 Protonen, 9 Elektronen) mit ls22s22px22py22pz und Neon (Ne, 10 Protonen, 10 Elektronen) mit ls22s22px22py22pz2. Damit ist auch die zweite Schale abgeschlossen. Bei den darauffolgenden Elementen Natrium (Na), Magnesium (Mg), Aluminium (AI), Silicium (Si), Phosphor (P), Schwefel (S), Chlor (Cl) und Argon (Ar) wiederholt sich der Zyklus. Die Tabelle 4.7.1 zeigt diesen systematischen Aufbau der Elektronenschalen in einer etwas anderen Darstellung. Dabei wird unterschieden zwischen der Valenzschale (der äußersten Elektronenschale mit der höchsten Hauptquantenzahl) und den inneren Elektronenschalen. Diese werden in einer Kurzschreibweise durch Angabe des Atoms, welches gerade das s- und die p-Orbitale der zweitäußersten Schale voll besetzt hat (Ausnahme He; hier ist nur das ls-Orbital voll besetzt, lp-Orbitale gibt es in der K-Schale nicht), symbolisiert. So wird etwa die Elektronenkonfiguration des auf das Neon folgenden Natriums angegeben als [Ne]3s oder, ausführlicher, als ls22s22px22py22pz23s. Wie wir noch sehen werden, sind Elemente, die sowohl das s- als auch die drei pOrbitale ihrer Valenzschale vollständig besetzt haben (wie Ne, Ar; bei He ist nur das ls-Orbital voll besetzt, da p-Orbitale zur Hauptquantenzahl n=l nicht

53

4. Struktur der Elektronenhülle

existieren), außergewöhnlich stabil und extrem reaktionsträge. Sie werden als Edelgase bezeichnet, und die ihnen entsprechenden abgeschlossenen Elektronenkonfigurationen bezeichnet man als Edelgaskonfiguration. In Kurzschreibweise gibt man das nächstleichtere Edelgas und die Valenzelektronenkonfiguration an: Tab. 4.7.1

Elektronenkonfiguration der Elemente Wasserstoff bis Argon. Die besonders hervorgehobenen Elemente sind Edelgase; sie besitzen in der Valenzschale die Konfiguration s2p6. Mit "innere Konfiguration" ist die Elektronenkonfiguration des nächstleichteren Edelgases bezeichnet. Die Pfeile deuten die Elektronen mit ihrem Spin an; die Tabelle zeigt somit an, wie die Hund'schen Regeln im Detail angewandt werden.

Element innere Konfiguration Valenzschale(n) H

[He] [He] [He] [He] [He] [He] [He] [He] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne]

1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 3 3 3 3 3 3 3

[Ne]

3



He Li Be B C N O F Ne Na Mg AI Si P S C1 Ar



s

px

py

pz

i ti t

H U U n H H H

t t t

n H n

t t t

H H

t t t ti

t

H H H H H

U U

t t t

n u ti

t t t

H U

t t t

n

Die auf das Argon folgenden Elemente Kalium (K) und Calcium (Ca) haben - etwas überraschend - die Konfiguration K: [Ar]4s' und Ca: [Ar]4s2, obwohl eigentlich unbesetzte 3d-Orbitale vorhanden sind. Wie Abb. 4.7.1 aber zeigt, ist die Energie der 3d-Orbitale etwas höher als die des 4s-Orbitals, welches daher bevorzugt besetzt wird. Bei den nachfolgenden zehn Elementen Scandium bis Zink hingegen werden die fünf 3d-Orbitale systematisch mit Elektronen besetzt; dann erst werden die 4p-Orbitale aufgefüllt (Gallium bis Krypton, welches wieder ein Edelgas ist). In analoger Weise kann man alle noch verbleibenden Elemente systematisch bezüglich ihrer Elektronenkonfiguration einordnen. Allerdings ist bei den schwereren

54

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Elementen die Besetzung nicht ganz so streng gleichmäßig, da die Energieniveaus der Orbitale immer näher zusammenrücken.

4.8 Das Periodensystem der Elemente

Wir haben nunmehr zwei wichtige Möglichkeiten kennengelernt, die verschiedenen chemischen Elemente zu ordnen: Einerseits können sie entsprechend der Anzahl der Protonen im Atomkern angeordnet werden, andererseits haben wir mit dem Aufbauprinzip ein Schema kennengelernt, wie die Elemente hinsichtlich ihrer Elektronenanzahl in ein geordnetes System gebracht werden können. Dieses System ist deshalb so besonders interessant, da - wenn eine neue Schale mit größerer Hauptquantenzahl begonnen wird - eine periodische Wiederkehr der Elektronenkonfiguration in der Valenzschale beobachtet wird. Damit liefert die Quantentheorie eine elegante Erklärung für das sogenannte Periodensystem der Elemente, welches - lange vor der Entwicklung der Quantentheorie - bereits im 19. Jahrhundert aufgrund zahlreicher empirischer Beobachtungen gefunden worden war: Im Periodensystem der Elemente (siehe Buchbeilage) werden die Elemente nach steigender Protonenzahl im Kern (Kernladungszahl, Ordnungszahl) angeordnet, und zwar so, daß Elemente mit gleicher Elektronenkonfiguration in der Valenzschale untereinander zu stehen kommen. Die horizontalen Elementreihen in dieser Anordnung bezeichnet man als Perioden, die senkrechten als Gruppen. Da die chemischen Eigenschaften eines Elements im wesentlichen von seinen Valenzelektronen bestimmt werden, sind die Elemente einer Gruppe untereinander chemisch sehr ähnlich. Wir sprechen auch von der Homologie dieser einander sehr ähnlichen Elemente. Historisch war diese chemische Ähnlichkeit von Elementen, neben der Ordnungszahl der Atome, das zweite wesentliche Ordnungskriterium für die Erstellung des Periodensystems. Das Verdienst, das Periodensystem entdeckt zu haben, gebührt zwei Forschern, dem Russen Dmitri Iwanowitsch Mendelejew und dem Deutschen Lothar Meyer. Von einander völlig unabhängig, veröffentlichten beide ihre Entdeckung 1869. Entsprechend der Elektronenkonfiguration in der Valenzschale werden vier Elementtypen unterschieden: •

Edelgase (Gruppe Villa):

Wie schon besprochen, besitzen Edelgase in ihrer Valenzschale die außergewöhnlich stabile Konfiguration ns2np6 (Ausnahme ist He mit ls 2 ). Sie sind daher extrem

4. Struktur der Elektronenhülle

55

reaktionsträge und markieren jeweils das Ende einer Periode des Periodensystems. Die auf sie folgenden Elemente beginnen immer mit der Besetzung einer neuen Elektronenschale. •

Hauptgruppenelemente (Gruppen Ia bis Vlla):

Diese Elemente (zu denen eigentlich auch die Edelgase gehören) zeichnen sich dadurch aus, daß die s- und p-Orbitale der Valenzschale teilweise oder ganz gefüllt sind und daß ihre (falls vorhanden) d- und f-Orbitale entweder völlig leer oder völlig gefüllt sind. Da es zu einer Hauptquantenzahl n > 1 ein s- und drei p-Orbitale gibt, können in einer Periode nur acht Hauptgruppenelemente untergebracht werden. Sie werden auch als sp-Elemente bezeichnet. •

Übergangselemente (b-Gruppen):

Ab der vierten Periode werden die d-Orbitale der zweitäußersten besetzten Schale gefüllt (diese Elemente heißen daher auch d-Elemente). Entsprechend den fünf dOrbitalen einer Hauptquantenzahl n > 2 gibt es ab der vierten Periode jeweils zehn Übergangselemente pro Periode. Alle Übergangselemente sind Metalle. Viele haben große technische Bedeutung. Einige von ihnen spielen, zum Beispiel als Bestandteile von Enzymen, wesentliche Rollen in der Biochemie der Zelle. Eine moderne Richtung der Biochemie, die sogenannte Bioanorganische Chemie, befaßt sich mit den vielfältigen Struktur- und Reaktionsmöglichkeiten, die durch diese Elemente in die Biochemie eingebracht werden. •

Innere Übergangselemente (Lanthanoide und Actinoide):

Ab der sechsten Periode werden, folgend auf die Elemente Lanthan beziehungsweise Actinium, die f-Orbitale der drittäußersten besetzten Schale gefüllt (f-Elemente). Pro Periode gibt es vierzehn solche Elemente (sieben f-Orbitale), die untereinander chemisch sehr ähnlich sind, weil sich die Besetzungsunterschiede in der drittäußersten Schale chemisch kaum mehr bemerkbar machen. Auch die inneren Übergangselemente sind ausnahmslos Metalle. Der außerordentlich starken chemischen Ähnlichkeit der inneren Übergangselemente ist es zuzuschreiben, daß sie relativ spät entdeckt wurden. Die Trennung in die einzelnen Elemente und deren Isolierung und Identifizierung war außergewöhnlich schwierig und erforderte größtes experimentelles Können.

56

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

5 Die chemische Bindung 5.1 Ionisierungspotential und Elektronenaffinität Die Bausteine von Ionenkristallen werden durch elektrostatische Anziehungskräfte zusammengehalten. Diese Bausteine sind elektrisch geladene Teilchen, sogenannte Ionen, die positiv oder negativ geladen sein können. Zur Bildung eines positiven Ions muß ein Elektron aus der Elektronenhülle entfernt werden. Dies ist am leichtesten bei Elektronen der Valenzschale möglich, da diese am schwächsten gebunden sind (sie befinden sich in den höchsten Energieniveaus). Die dazu erforderliche Energie wird Ionisierungspotential genannt; sie ist stets positiv. Das positive Vorzeichen bedeutet, daß das betrachtete System, also das Atom, Energie aufnimmt; die Energieänderung des Systems ist positiv. Man spricht allgemein von systemozentrischer Vorzeichengebung. Die Abb. 5.1.1 zeigt, wie sich das Ionisierungspotential der Elemente in Abhängigkeit von der Ordnungszahl ändert.

Ionisierungpotential [EV]

40

60

Ordnungszahl Abb.5.1.1

Das Ionisierungspotential der Elemente. Edelgase und Alkalimetalle sind besonders hervorgehoben.

Die Abbildung zeigt, daß das Ionisierungspotential mit zunehmender Ordnungszahl in einer charakteristischen Weise variiert.Tatsächlich reflektiert die Abbildung das Periodensystem der Elemente: Die Edelgase (Konfiguration s2p6) weisen die höchsten Ionisierungspotentiale auf, die auf sie im Periodensystem folgenden Alkalimetalle (s1) dagegen sind besonders leicht in positive Ionen zu überführen, da sie die niedrigsten Ionisierungspotentiale besitzen. Zwischen diesen Extremen liegen die

5. Die chemische Bindung

57

anderen Elemente, wobei innerhalb einer Periode die Ionisierungspotentiale von den Alkalimetallen zu den Edelgasen hin zunehmen, wenn auch nicht immer streng monoton. Offenbar ist es also besonders schwer, aus den sehr stabilen Edelgasatomen ein Elektron zu entfernen. Der Grund ist die große Stabilität dieser Atome, bedingt durch ihre besondere Elektronenkonfiguration. Im Gegensatz dazu geben Alkalimetalle relativ leicht ein Elektron ab, da sie ja dadurch die Elektronenkonfiguration des im Periodensystem unmittelbar vor ihnen stehenden Edelgases annehmen. Sie bilden also relativ leicht positive Ionen. Dieser auffälligen Leichtigkeit, mit der Alkalimetalle ein Elektron abgeben, um eine Edelgaskonfiguration in der Valenzschale zu erreichen, entspricht die große Neigung der Elemente der siebten Hauptgruppe, der sogenannten Halogene (Gruppe Vlla), ein Elektron aufzunehmen und dadurch negative Ionen zu bilden. Sie gehen dabei von der Valenzschalenkonfiguration s2p5 in die Edelgaskonfiguration s2p6 über. Die Energie, die erforderlich ist, ein Elektron aufzunehmen und ein negatives Ion zu bilden, nennt man Elektronenaffinität. Sie kann sowohl positiv (bei der Bildung des negativen Ions muß Energie aufgewendet werden) als auch negativ sein (Energie wird frei; die Energieänderung des Systems ist negativ). Besonders stark negative Werte findet man bei den Halogenen; dies entspricht der großen Neigung dieser Atome, Elektronen aufzunehmen. Bei Edelgasen ist die Elektronenaffinität dagegen stark positiv; es bedarf großer Energiezufuhr, um einem Edelgas ein zusätzliches Elektron "aufzuzwingen". Das Ionisierungspotential und die Elektronenaffinität stehen in Beziehung zum metallischen bzw. nichtmetallischen Charakter der Elemente. Metalle besitzen locker gebundene Valenzelektronen; ihr Ionisierungspotential ist niedrig und sie neigen zur Bildung positiv geladener Ionen. Sie finden sich im Periodensystem links unten. Nichtmetalle haben relativ hohe Elektronenaffinität; die Energieänderung bei der Bildung negativer Ionen ist gewöhnlich stark negativ. Im Periodensystem stehen typische Nichtmetalle rechts oben. Zwischen diesen Extremen gibt es Übergänge; die Elemente in der Diagonale von oben links nach rechts unten weisen sowohl metallische als auch nichtmetallische Eigenschaften auf. 5.2 Die Ionenbindung Bringt man ein Alkalimetall und ein Halogen unter geeigneten chemischen Bedingungen zusammen, so tritt eine lebhafte chemische Reaktion ein: Festes Natriummetall und Chlorgas etwa reagieren fast explosionsartig, und als Produkt der Reaktion finden wir einen typischen Ionenkristall, nämlich Natriumchlorid, eine

58

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Substanz, die sich in ihren Eigenschaften dramatisch von beiden Ausgangsstoffen unterscheidet. Was ist passiert? Natrium gibt offenbar leicht ein Elektron ab (geringes Ionisierungspotential) und bildet ein positives Ion, Chlor hingegen (hohe Elektronenaffinität) nimmt leicht ein Elektron auf und bildet ein negatives Ion. Beide Atome erreichen dadurch die stabile Edelgaskonfiguration: Natrium ([Ne]3s) die des Neons und Chlor ([Ne]3s23p5) die des Argons. In Formelschreibweise können wir schematisch schreiben (e~ symbolisiert ein Elektron): Na

>

Na + + e

Cl + e

> >

er Na + + C1

Na + Cl

Für den ersten Teilprozeß ist die Ionisierungsenergie des Natriums maßgeblich, für den zweiten die Elektronenaffinität des Chlors. Die bei dieser Reaktion entstehenden negativen Chlorid-Ionen und die positiven Natrium-Ionen bilden den Ionenkristall Natriumchlorid. Dadurch wird aufgrund der Coulomb'schen Anziehungskraft zwischen den beiden ungleichnamig geladenen Ionen ein großer Energiebetrag frei, die Gitterenergie. Die Elektronendichte zwischen den Ionen ist praktisch Null. Allgemein können zwei Elemente Ionenbindungen (auch heteropolare Bindung genannt) eingehen (und Ionenkristalle ausbilden), wenn die Summe aus Elektronenaffinität und Gitterenergie die Ionisierungsenergie übertrifft. Das bedeutet, daß Elemente auf der linken Seite des Periodensystems (erste und zweite Hauptgruppe) gut geeignet sind, mit Elementen auf der rechten Seite (sechste und siebente Hauptgruppe) Ionenkristalle auszubilden. 5.3 Die einfache kovalente (homöopolare) Bindung Viele chemische Verbindungen sind nicht aus Ionen aufgebaut; für ihre Bildung und ihre Stabilität ist eine andere Art von chemischer Bindung verantwortlich, die sogenannte Atombindung oder kovalente (homöopolare) Bindung. Im Gegensatz zur Ionenbindung (heteropolaren Bindung), bei der ein Partner ein zusätzliches Elektron bekommt (negatives Ion) und ein Partner ein Elektron abgibt (positives Ion), entstehen kovalente Bindungen durch gemeinsame Elektronenpaare. Im Gegensatz zur Ionenbindung ist bei der kovalenten Bindung die Elektronendichte zwischen den Bindungspartnern hoch.

59

5. Die chemische Bindung

Ein einfaches Beispiel ist das zweiatomige Wasserstoffmolekül: Jedes Wasserstoffatom kann ein Elektron zur Bindung beisteuern, und das entstehende Elektronenpaar steht gewissermaßen beiden Atomen zur Verfügung, sodaß beide Wasserstoffatome die bevorzugte Edelgaskonfiguration des Heliums erhalten. In analoger Weise kann in einem zweiatomigen Chlormolekül jedes Chloratom die Konfiguration von Argon erreichen, wenn pro Atom ein Elektron für ein gemeinsames Elektronenpaar zur Verfügung gestellt wird. Auch Verbindungen mit verschiedenartigen Atomen sind möglich, etwa Chlorwasserstoff, eine Verbindung eines Chloratoms mit einem Wasserstoffatom. Symbolisiert man nach Gilbert Newton Lewis (1916), Professor für Chemie an der University of California, die Elektronen der Valenzschale durch Punkte, so kann der Sachverhalt wie in Abb. 5.3.1 dargestellt werden:

Abb. 5.3.1

Einfache kovalente Bindungen in der

Lewis-Schreibweise

Abb. 5.3.2

Einfache kovalente Bindungen in der üblichen Schreibweise, wobei ein Elektronenpaar (bindend oder nichtbindend) als Strich symbolisiert wird. (Die die Atome einhüllenden Ellipsen werden normalerweise nicht angeschrieben; sie sollen nur verdeutlichen, wie durch das gemeinsame Elektronenpaar jedes Atom Edelgaskonfiguration erreicht.

Gewöhnlich schreibt man für je zwei Elektronen (ein Elektronenpaar), die sich in einem gemeinsamen Orbital befinden und sich nur durch die Spinquantenzahl

60

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

unterscheiden, Striche anstelle von Punkten (Abb. 5.3.2). Bei dieser Schreibweise können nichtbindende Elektronenpaare entweder explizit angeschrieben werden oder auch ausgelassen werden. Die Anzahl der kovalenten Bindungen eines Atomes in einer Verbindung bezeichnet man als Bindigkeit (in den bisherigen Beispielen sind sowohl Wasserstoff als auch Chlor jeweils einbindig). In der Sprache der Quantenmechanik wird die kovalente Bindung etwas anders beschrieben. Dies soll am einfachsten Beispiel, dem Wasserstoffmolekül, skizziert werden (Abb. 5.3.3). Energie Atom

Molekül

Atom

antibindendes Molekülorbital

getrennte Atome (ls-Atomorbitale)

bindendes Molekülorbital

Abb. 5.3.3

Das quantenmechanische stoffmolekül

Bild

der

kovalenten

Bindung

im

Wasser-

Nähern sich zwei Wasserstoffatome aus großer Entfernung, so besitzt vorerst jedes Atom ein Elektron in einem ls-Orbital. Wenn die beiden Wasserstoffatome einander sehr nahe kommen, "verschmelzen" die beiden Atomorbitale zu zwei Molekülorbitalen. Ein Molekülorbital ist bindend, das heißt, seine Energie ist geringer als die der beiden getrennten ls-Atomorbitale, das zweite hingegen hat eine um den selben Betrag höhere Energie als die getrennten Atomorbitale, es ist antibindend. Und genauso, wie in Atomen Elektronen dem Aufbauprinzip entsprechend in die Atomorbitale "gefüllt" werden, besetzen auch in Molekülen die Elektronen die Orbitale in geordneter Reihenfolge, beginnend mit dem energieärmsten Orbital. PauliVerbot und Hund'sche Regeln gelten auch hier. Beim Wasserstoffmolekül können beide Elektronen das bindende Molekülorbital besetzen. Da seine Energie niedriger ist als die Energie der beiden getrennten Wasserstoffatome, ist das Wasserstoffmolekül stabiler als zwei getrennte Wasserstoffatome. Hätte man hingegen in gleicher Weise zwei Heliumatome kombiniert, die ja

61

5. Die chemische Bindung

jeweils zwei Elektronen besitzen, so müßten zwei Elektronen das bindende und zwei Elektronen das antibindende Orbital besetzen: Der Energiegewinn im bindenden Molekülorbital würde durch den Energieverlust im antibindenden Molekülorbital genau kompensiert, und die Heliumatome haben somit keinen energetischen "Grund", miteinander eine Bindung einzugehen. So versteht man, daß Wasserstoff bei normalen Bedingungen als zweiatomiges Molekül (Formelschreibweise H 2 ) vorkommt, Helium dagegen in atomarer Form (He). Betrachten wir die beiden Molekülorbitale noch etwas genauer: Beim bindenden Molekülorbital befindet sich zwischen den beiden Atomen keine Knotenebene, der Raum zwischen den Atomen steht den Elektronen also zur Verfügung. Außerdem ist das Molekülorbital (und damit die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der beiden Elektronen) rotationssymmetrisch um die Verbindungsachse der beiden Atome angeordnet. Derartige Molekülorbitale nennt man allgemein a-Orbitale (a: griechisch "sigma"). Beim nichtbindenden Molekülorbital dagegen ist zwischen den Atomen die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen vermindert; es gibt eine Knotenebene senkrecht zur Verbindungsachse der Atome. Auch dieses Molekülorbital ist rota-tionsymmetrisch um die Verbindungsachse der Atome angeordnet; es wird als a*-Orbital (gesprochen "sigma-Stern") bezeichnet. Sigma-Bindungen sind nicht nur zwischen s-Orbitalen möglich (Beispiel H2 ), sondern auch zwischen s- und p-Orbitalen (Beispiel HCl), zwischen p- und p-Orbitalen (Beispiel CI2) und auch mit d-Orbitalen. Die Abb. 5.3.4 zeigt die Möglichkeiten bei s- und p-Orbitalen.

r

s

+

s

s

p

Abb. 5.3.4

+

Möglichkeiten der Ausbildung und p-Orbitalen.

+

p

p

von a-Bindungen

bei Vorhandensein

von s-

62 5.4

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Hybridisierung und Bindungswinkel

Wir verstehen jetzt, warum sich ein Atom Wasserstoff mit einem zweiten Wasserstoffatom zu einem H2 -Molekül vereinigt, und nicht etwa drei Wasserstoffatome zu H3. Ebenso ist verständlich, daß sich gerade zwei Chloratome zu einem CI2 -Molekül vereinigen. Der Grund ist in allen behandelten Fällen das Streben der Atome, in der Valenzschale die entsprechende Edelgaskonfiguration zu erreichen. Alle Moleküle können wir mit diesem Schema aber noch nicht erklären. Nehmen wir das einfachste organische Molekül, das Methan. Spaltet man diese Verbindung in die Elemente, so sieht man, daß es nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff besteht, und zwar im Verhältnis 1:4. Anhand der Elektronenkonfiguration des Kohlenstoffs [He]2s22p*2py würde man eigentlich eine Verbindung CH 2 mit einem freien Elektronenpaar (im 2s-Orbital) erwarten, da ja nur zwei ungepaarte Elektronen in den 2p-Orbitalen zur Verfügung stehen. Diese Verbindung (Abb. 5.4.1a) existiert zwar unter dem Namen "Carben", sie ist jedoch sehr instabil und reaktionsfähig. Den Grund für diese Instabilität sehen wir sofort: Zwar erreichen die Wasserstoffatome im CH2-Molekül Edelgaskonfiguration, das Kohlenstoffatom aber hat nur drei Elektronenpaare = sechs Elektronen in der Valenzschale zur Verfügung. Methan muß also, entsprechend dem experimentell gefundenen Atomverhältnis C:H =1:4 und entsprechend dem Prinzip, daß chemische Bindungen sich ausbilden, um allen beteiligten Atomen die Edelgaskonfiguration in der Valenzschale zu ermöglichen, die in Abb. 5.4.1b gezeigte Formel haben.

Abb. 5.4.1

Die Bindungsverhältnisse beim Methan, a) Die aufgrund der Elektronenkonfiguration des Kohlenstoffs zu erwartende Struktur ("Carben"). b) Die den experimentellen Gegebenheiten entsprechende Struktur, die den beteiligten Atomen Edelgaskonfiguration in der Valenzschale ermöglicht, c) Kugel-Stab-Modell des Methan-Moleküls, das seine Tetraederstruktur verdeutlicht.

63

5. Die chemische Bindung

Wie können wir dieses Problem lösen? Es gibt mehrere mathematische Möglichkeiten der Erklärung, die jedoch sehr abstrakt und unanschaulich sind. Ein einfaches Konzept zum Verständnis, welches besonders im dritten Teil des Buches wiederholt zur Erklärung der Bindungsverhältnisse in den organischen Molekülen herangezogen werden wird, ist die Vorstellung der sogenannten Hybridisierung. Dazu stellt man sich gedanklich vor, daß in einem ersten Schritt ein 2s-Elektron des Kohlenstoffs in das leere 2p z -Orbital übertritt. Die Elektronenkonfiguration ändert sich also wie folgt: [He]2s 2 2p¿2pi

[He]2s 1 2pi2p'2p^.

Diesen Schritt, der eine kleine Energiezufuhr kostet, die aber bei der nachfolgenden Bindungsbildung mit den vier Wasserstoffatomen bei weitem überkompensiert wird, nennt man "Promovierung" des Kohlenstoffatoms. Im zweiten Schritt werden aus dem einem 2s-Orbital und den drei 2p-Orbitalen vier energetisch gleichwertige Orbitale, die Hybridorbitale, gebildet. Mathematisch wird dies einfach durch eine Linearkombination der entsprechenden Wellenfunktionen erreicht. Da diese vier Hybridorbitale durch "Mischen" von einem s- und drei p-Orbitalen zustandegekommen sind, nennt man sie sp 3 -Hybridorbitale. Sie sehen aus wie ein p-Orbital mit zwei sehr ungleich großen Orbitallappen, und sie sind räumlich in die Ecken eines Tetraeders gerichtet, in dessen Zentrum das Kohlenstoffatom sitzt. Dieses Konzept erklärt nicht nur das Zahlenverhältnis der Atome im Methanmolekül, sondern auch seine Geometrie: Man weiß aus Experimenten, daß Methan exakt tetraederförmige Geometrie besitzt (Abb. 5.4.1c).

s

Abb. 5.4.2

+

p

a) Die Bildung eines sp 3 - Hybridorbitals durch Kombination eines s- mit einem p-Orbital. Mathematisch sind die beiden Orbitallappen eines pOrbitals mit verschiedenem Vorzeichen behaftet, daraus resultieren die verschieden großen Orbitallappen des Hybridorbitals, b) Die räumliche Orientierung der großen Orbitallappen der vier sp 3 -Hybridorbitale: Ausrichtung in die Ecken eines Tetraeders.

64

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Solche sp 3 -Hybridorbitale benötigt man nicht nur zur Beschreibung der meisten Kohlenstoffverbindungen, sondern auch zur Erklärung der Bindungsverhältnisse in vielen anderen kovalenten Verbindungen. Betrachten wir die einfachste Wasserstoffverbindung des Stickstoff, das N H 3 - M 0 lekül (Ammoniak; Abb. 5.4.3a) und des Sauerstoffs, das H20-Molekül (Wasser; Abb. 5.4.3b). In den beiden Molekülen besetzen die Wasserstoffatome drei bzw. zwei Ecken eines Tetraeders, in dessen Zentrum das Zentralatom N bzw. O liegt. Ein (Ammoniak) bzw. zwei (Wasser) Hybridorbitale sind im Gegensatz zum Methan hier nicht in kovalente Bindungen involviert; sie enthalten vielmehr ein bzw. zwei freie Elektronenpaare.

Abb. 5.4.3

Bindungsverhältnisse

im Ammoniak- bzw.

Wassermolekül.

Das vorgestellte Modell erklärt die experimentell beobachtbaren Bindungswinkel. Im Methan beträgt der H-C-H - Winkel 109°28', dies entspricht dem exakten Tetraederwinkel. Im Ammoniak findet man für den H-N-H - Winkel 107°, und im Wasser beobachtet man einen H-O-H - Winkel von 105°. Diese leichten Abweichungen vom idealen Tetraederwinkel erklärt man damit, daß diejenigen Hybridorbitale, die freie (nichtbindende) Elektronenpaare enthalten, voluminöser (räumlich ausgedehnter) sind als bindende Hybridorbitale, wodurch die letzteren räumlich etwas zusammengedrängt werden. Die bindenden Hybridorbitale unterscheiden sich auch dadurch von den nichtbindenden, da sie mit ls-Orbitalen der Wasserstoffatome überlappen und dadurch auch in den anziehenden und die "Elektronenwolken" kontrahierenden Einflußbereich der Wasserstoffkerne kommen. Insgesamt ist die Erklärung der Bindungsverhältnisse in diesen Verbindungen mit Hilfe des Hybridorbitalmodells sehr anschaulich. Eine Erklärung nur auf Basis der sund p-Orbitale dagegen ist unbrauchbar; sie würde sowohl die Atomzahlverhältnisse (siehe Methan) als auch die Bindungswinkel falsch voraussagen, da p-Orbitale aufeinander senkrecht stehen und man somit H-X-H - Bindungswinkel um die 90° vorhersagen würde.

5. Die chemische Bindung

65

5.5 Mehrfachbindungen Neben der sp3-Hybridisierung gibt es noch weitere Möglichkeiten, wie s- und pOrbitale miteinander kombiniert werden können. Im Ethen (C2H4) etwa ist jedes C-Atom mit je zwei H-Atomen und dem anderen CAtom verbunden. Kohlenstoff liegt in promovierter Form [He]2s'2pi2py2pJ vor, allerdings werden nur zwei 2p-Orbitale (2px, 2p y ) mit dem 2s-Orbital zu drei Hybridorbitalen kombiniert, die sinngemäß sp2-Hybridorbitale genannt werden. Die Form jedes dieser drei energetisch gleichwertigen Hybridorbitale ist - ähnlich wie bei den sp3-Hybridorbitalen - die einer unsymmetrischen Hantel. Geometrisch gesehen liegen die drei Hybridorbitale alle in einer Ebene und schließen einen Winkel von je 120° zueinander ein; sie weisen also in die Ecken eines gleichseitigen Dreiecks. Diese drei Hybridorbitale sind in chemische Bindungen involviert: Zwei der drei sp2-Hybridorbitale überlappen mit den ls-Orbitalen der H-Atome, während das dritte mit dem sp2-Hybridorbital des anderen C-Atoms überlappt. Die dadurch entstehenden Bindungsmolekülorbitale sind um ihre jeweilige Bindungsachse rotationssymmetrisch; sie sind also a-Orbitale (a: griechischer Buchstabe "sigma"). Was aber passiert mit dem einen Elektron im übriggebliebenen 2p z -Orbital? Abb. 5.5.1 veranschaulicht, daß die beiden "einsamen" Elektronen in den 2pz-Orbitalen der beiden C-Atome ebenfalls miteinander zu einem bindenden (und einem - nicht dargestellten - antibindenden) neuen Molekülorbital überlappen können, welches zu der a-Bindung zwischen den beiden C-Atomen hinzukommt. Die beiden C-Atome sind also durch eine Doppelbindung miteinander verbunden. Das neue bindende Molekülorbital ist allerdings nicht mehr rotationsymmetrisch um die C=C - Verbindungsachse; man bezeichnet derartige Bindungen als 71-Bindungen (7t: griechisch "pi"). Wegen der Nicht-Rotationssymmetrie dieses Bindungstyps ist eine freie Rotation um die Kernverbindungsachse nicht mehr erlaubt, da bei Verdrehung eines der beiden freien p-Orbitale gegenüber dem anderen keine gute Überlappung und daher keine stabile chemische Bindung mehr möglich wäre. Doppelbindungen verleihen den betroffenen Molekülen daher geometrische Starrheit. Im Ethin (C2H2) liegt sogar eine Dreifachbindung vor: Hier wird in beiden CAtomen nur ein p-Orbital mit einem s-Orbital zu zwei sp-Hybridorbitalen kombiniert, und an jedem C-Atom bleiben zwei p-Orbitale übrig, die nun zwei bindende (und zwei antibindende) 7c-Molekülorbitale ausbilden können. Die beiden H-Atome liegen mit den beiden C-Atomen auf einer Gerade; Ethin ist ein lineares Molekül (Abb. 5.5.2).

A. Die Grundlagen der chemischen Bindung

Abb. 5.5.1

Jedes C-Atom im Ethen bildet drei sp2—Hybridorbitale aus, die mit zwei H- und einem C-Atom drei a-Bindungen ergeben (durch Striche symbolisiert). Alle Atome liegen in einer Ebene. An jedem C-Atom bleibt ein 2pz— Orbital mit je einem Elektron übrig; die beiden p-Orbitale bilden ein zusätzliches Molekülorbital. Diese "Tl"-Bindung ist nicht mehr rotationssymmetrisch um die Bindungsachse.

Abb. 5.5.2

Jedes C-Atom im Ethin bildet zwei sp-Hybridorbitale aus, die eine lineare Anordnung für die vier Atome ergeben (hier durch Striche symbolisiert). An jedem C-Atom bleiben so zwei p-Orbitale mit je einem Elektron übrig; diese bilden zwei zusätzliche bindende Molekülorbitale aus (zwei n-Bindungen).

67

5. Die chemische Bindung

Jt-Orbitale liegen energetisch etwas höher als a-Bindungen, sie sind also etwas schwächer als diese. Doppelbindungen sind daher etwas weniger stabil als zwei Einfachbindungen, aber natürlich wesentlich stabiler als eine Einfachbindung. Je größer die Bindungsenergie, desto kürzer ist die Bindungslänge. Die folgende Tabelle gibt einige typische Werte. Tab. 5.5.1

Bindung

5.6

Typische Bindungslängen

und -energien von

Kohlenstoffbindungen

Bindungslänge (nm)

Bindungsenergie (kj/mol)

C-H

0.107

415

C-C

0.154

331

C=C

0.135

620

C=C

0.121

812

C-O

0.143

343

c = o

0.122

708

Mesomerie und polyzentrische Molekülorbitale

Bisher haben wir chemische Bindungen immer als lokalisierte Phänomene betrachtet und so getan, als wären Molekülorbitale nur zwischen je zwei unmittelbar aneinander gebundenen Atomen möglich. Tatsächlich können in verschiedenen Verbindungen auch Molekülorbitale ausgebildet werden, die mehr als zwei Atomen angehören, sogenannte polyzentrische Molekülorbitale. Ein Prototyp für derartige Systeme ist das Benzen (früher: Benzol). Seine chemische Formel ist C Ö H Ö . Die tatsächliche Konfiguration des Moleküles, das heißt die genaue Angabe der Bindungsverhältnisse, war lange Zeit unerklärlich: Aus spektroskopischen Untersuchungen wußte man, daß alle sechs C-C Bindungen völlig ununterscheidbar sind und eine Bindungslänge von 0.139 nm aufweisen. Außerdem zeigt Benzen eine viel größere Stabilität als Moleküle mit normalen Doppelbindungen. Man nennt Benzen und seine Derivate aromatische Verbindungen, wobei der aromatische Zustand nicht notwendigerweise mit einem aromatischen Duft zu tun hat (manche aromatischen Verbindungen riechen sehr unangenehm), sondern in der

68

A. Die Grundlagen der chemischen Bindung

Fachsprache des Chemikers eben diesen besonders stabilen Zustand bedeutet. Die Quantenchemie hat die Erklärung für das außergewöhnliche Verhalten dieser Verbindungen geleistet: Die C-Atome bilden ein reguläres Sechseck, und die sechs HAtome liegen in der selben Ebene; die C-C-H - Bindungswinkel betragen 120°. Jedes C-Atom ist sp 2 -hybridisiert; die sechs verbleibenden p z -Orbitale können durch Überlappung sechs polyzentrische Molekülorbitale (drei bindende und drei antibindende) ausbilden, die sich ringförmig oberhalb und unterhalb der Molekülebene erstrecken und den sechs 71-Elektronen eine Delokalisation ("Ringstrom") über alle sechs C-Atome hinweg erlauben. Die Valenzstrichformel des Benzens kann nur durch zwei Grenzstrukturen angegeben werden: a) C II H

C^

H

b)

c)

Abb. 5.6.1

Grenzstrukturen des Benzen-Ringes, a) Valenzstrichformeln; te Schreibweise, c) abgekürzte einfachste Schreibweise.

b) abgekürz-

Abb. 5.6.1 zeigt verschiedene Schreibweisen für die Benzen-Struktur. Die Formeln a) und b) zeigen die zwei Grenzstrukturen, die man mangels besserer Symbole in der klassischen Valenzstrichschreibweise schreiben muß. Der wahre Zustand des Moleküls wird weder durch die linke noch durch die rechte Grenzstruktur wiedergegeben, sondern liegt irgendwo in der Mitte: Alle C-C - Bindungen sind völlig gleichwertig und ununterscheidbar. Diesen klassisch nicht eindeutig beschreibbaren Zustand nennt man Mesomerie, der zwischen den Grenzstrukturen gezeichnete Doppelpfeil heißt Mesomeriepfeil. Mesomerie ist nicht ein Gleichgewicht oder etwa ein Oszillieren zwischen den beiden Grenzstrukturen; diese sind vielmehr nur eine

5. Die chemische Bindung

69

unvollständige Beschreibung des realen Zustandes und besitzen keine physikalische Realität. Die Formel c) beschreibt den wahren Zustand am besten; der in das Molekül gezeichnete Kreis symbolisiert die frei beweglichen 7C-Elektronen. Neben den ringförmigen (aromatischen) Verbindungen mit mesomeren (und damit besonders stabilen) Bindungen gibt es auch nichtringförmige Verbindungen mit mesomeren Bindungen. Diese werden zwar nicht als Aromaten bezeichnet; die den mesomeren (delokalisierten, polyzentrischen) Bindungen eigentümliche hohe Stabilität kennzeichnet jedoch auch derartige Verbindungen (siehe Organische Chemie). 5.7

Metallische Bindung

Die überwiegende Zahl der Elemente sind Metalle. Die Eigenschaften von Metallen sind aus dem Alltag jedem geläufig: Sie sind undurchsichtig, besitzen meist einen typischen "metallischen" Glanz, und sie sind gute Leiter für Wärme und den elektrischen Strom. Chemisch gesehen zeichnen sie sich durch niedrige Ionisierungspotentiale aus; sie bilden also leicht durch Elektronenabgabe positiv geladene Kationen. Im Periodensystem findet man die Metalle insbesondere auf der linken Seite (niedrige Hauptgruppennummer), und der Metallcharakter nimmt mit steigender Periode zu. Alle Übergangselemente sind Metalle. Die Bindung zwischen Metallatomen kann als Sonderfall der kovalenten Bindung charakterisiert werden: Die Valenzelektronen sind nur sehr schwach gebunden, da der positive Atomkern durch die weiter innen liegenden Elektronenschalen stark abgeschirmt wird. Daher sind die entsprechenden Orbitale räumlich weit ausgedehnt und können mit den Valenzorbitalen anderer Metallatome gut überlappen. Durch Wechselwirkung praktisch aller Metallatome kommt es zur Bildung polyzentrischer Molekülorbitale, die über den ganzen Metallkristall ausgedehnt sind. (Die Überlappung von zwei s-Orbitalen zweier Wasserstoffatome führt zur Bildung von zwei neuen Molekülorbitalen, die Überlappung einer riesigen Zahl von Valenzorbitalen, etwa von 1023 Valenzorbitalen, die von 1023 Atomen stammen, führt zur Bildung von 1023 Molekülorbitalen, von denen die Hälfte, also 5 • 1022, bindend und ebenso viele antibindend sind). Diese ungeheuer vielen Molekülorbitale unterscheiden sich in ihrer Energie nur sehr wenig und bilden eine fast kontinuierliche Folge von energetisch "erlaubten" Zuständen für die Elektronen, ein sogenanntes Leitungsband. In diesem Leitungsband sind die Elektronen delokalisiert und können sich, wie die Teilchen eines Gases, praktisch frei bewegen. Legt man eine elektrische Spannung an, können sie dem elektrischen Feld leicht folgen, daher sind Metalle gute elektrische Leiter. Ebenso beruht die gute Wärmeleitfähigkeit auf dieser hohen Beweglichkeit der Elektronen. Man spricht von einem "Elektronengas", in dem die positiv geladenen "Atomrümpfe" eingebettet sind.

70 5.8

A. Grundlagen der chemischen Bindung

Semipolare (koordinative Bindung)

Dieser Bindungstyp ist ein Spezialfall der kovalenten Bindung: Ein Bindungspartner stellt beide bindenden Elektronen (ein Elektronenpaar) zur Verfügung, der zweite Partner dagegen bringt ein unbesetztes Orbital ein. Moleküle oder Ionen, die derartige Bindungen enthalten, nennt man Koordinationsverbindungen oder Komplex- Verbindungen. Ein klassisches Beispiel dieses Bindungstyps finden wir zwischen den Molekülen Bortrifluorid (BF 3 ) und Ammoniak (NH3): Im BF 3 bildet das Boratom mit seinen drei Valenzelektronen und je einem Elektron eines Fluoratoms drei kovalente Einfachbindungen aus; es erreicht dadurch aber kein Oktett in der Valenzschale, sondern nur ein Elektronensextett, und ein sp 3 -Hybridorbital bleibt unbesetzt. Mit diesem freien Orbital am Bor tritt das freie Elektronenpaar am Stickstoffatom des Ammoniaks in Wechselwirkung (Abb. 5.8.1):

Abb. 5.8.1

Die Koordinationsverbindung aus Bortrifluorid eine typische koordinative Verbindung.

und

Ammoniak,

Wir können uns auch vorstellen, daß diese Bindung in zwei Schritten zustande kommt: Im ersten Schritt gibt Ammoniak ein Elektron an das Bortrifluorid ab: NH 3 - > N H ^ + e" BF 3 + e"

BF 3 .

Anschließend bilden die beiden Ionen eine kovalente Bindung: NH 3 + BF 3 —> F 3 B

NH3

5. Die chemische Bindung

71

Die eingekreisten Ladungen über den Atomen sind keine realen Ladungen, sondern nur formale Ladungen, die das formale Vorgehen bei der Beschreibung der Bindungsverhältnisse in zwei Schritten reflektieren. (Formale Ladungen bieten in vielen Fällen eine Hilfe zum Verständnis von Reaktionsmechanismen, insbesondere in der Organischen Chemie). Man kann die koordinative Bindung auch durch einen Pfeil symbolisieren, der vom elektronenliefernden Atom (Donor) zum elektronenaufnehmenden Atom (Akzeptor) zeigt: F3B

NH 3 .

Sehr häufig ist bei Komplexverbindungen der Akzeptor ein Metallkation, dessen unbesetzte Orbitale mit freien Elektronenpaaren von zahlreichen Molekülen (etwa Wasser, Ammoniak) koordinative Bindungen ausbilden können. In diesen Fällen sind meist mehrere (häufig vier oder sechs) Donormoleküle mehr oder weniger symmetrisch um das zentrale Metallkation angeordnet; man bezeichnet die Donormoleküle als Liganden. Metallkomplexe spielen in der Natur eine große Rolle (Beispiele: Häm, der rote Blutfarbstoff, ist ein Eisenkomplex; Chlorophyll, das Blattgrün, ist ein Magnesiumkomplex). 5.9

Polarisierte kovalente Bindung

Kovalente Bindungen zwischen verschiedenen Atomen, und sogar zwischen gleichen Atomen, die jeweils mit unterschiedlichen weiteren Atomen verbunden sind, sind fast immer polar: Die Bindungselektronen sind nicht völlig gleichmäßig zwischen den beiden Bindungspartnern aufgeteilt, und die an der Bindung beteiligten Atome tragen sogenannte Partialladungen. Ein Bindungspartner zieht die "Elektronenwolke" etwas stärker an sich und erhält somit eine kleine negative Überschußladung, der zweite Partner hingegen wird - natürlich um den selben Betrag, positiv aufgeladen. Ein Maß für das Bestreben eines Atoms, innerhalb eines Moleküls Elektronen an sich zu ziehen, ist die Elektronegativität. Die Elektronegativität ist keine Eigenschaft des isolierten Atoms, sondern tritt erst dann in Erscheinung, wenn dieses Atom Bindungspartner in einem Molekül ist, also in Relation zu den anderen Atomen, an die es gebunden ist. Sie hängt mit der Ionisierungsenergie und Elektronenaffinität zusammen. Auch die Elektronegativität zeigt in Bezug auf die Stellung der betrachteten Elemente im Periodensystem ein charakteristisches Muster (Abb. 5.9.1).

72

A. Grundlagen der chemischen Bindung

Abb. 5.9.1

Charakteristisches Elemente

Muster

der

Elektronegativitäten

der

chemischen

Die höchsten Elektronegativitäten - und somit das stärkste Bestreben, vom jeweiligen Bindungspartner Elektronen an sich zu ziehen, besitzen die Elemente Fluor (7. Hauptgruppe, 2. Periode) und Sauerstoff (6. Hauptgruppe, 2. Periode). Offensichtlich sinkt innerhalb der Hauptgruppen von rechts nach links (von den Halogenen zu den Alkalimetallen hin) dieses Bestreben ab, ebenso sinkt es innerhalb einer Hauptgruppe mit steigender Periodenzahl. Auffällig ist die relativ hohe Elektronegativität des Wasserstoffs (Hauptgruppe 1, Periode 1); sie entspricht ziemlich genau der des Kohlenstoffs. Eine wichtige Folgerung aus dieser Ähnlichkeit der Elektronegativitäten dieser beiden Atome ist die apolare und sehr stabile C - H-Bindung, die die Basis der ungeheuer großen Zahl organischer Verbindungen ist. Zur Kennzeichnung der auftretenden Partialladungen verwendet man das griechische d (delta), mit einem der jeweiligen Ladung entsprechenden Vorzeichen. Chlorwasserstoff, in dem Chlor der elektronegativere Partner ist, ist somit 5H-Cl zu schreiben.

5. Die chemische Bindung

73

Moleküle mit polarisierten kovalenten Bindungen sind in den meisten Fällen (wenn die Bindungsdipole nicht zufällig symmetrisch sind und sich gegenseitig neutralisieren), elektrische Dipole: Der Schwerpunkt der positiven Ladung und der Schwerpunkt der negativen Ladung fallen nicht in einem Punkt zusammen. Einen solchen Dipol charakterisiert man durch das Dipolmoment, das Produkt aus Ladung und Ladungsabstand. Im Bereich von molekularen Dipolen wählt man als Einheit des Dipolmomentes das Debye: 1D = 3.33 • 10"33C • m (Coulomb mal Meter). Polare Verbindungen besitzen eine hohe Dielektrizitätskonstante e (griechisch: epsilon): Bringt man eine derartige Substanz zwischen die Platten eines Kondensators, nimmt dessen Kapazität um den Faktor e gegenüber dem Vakuum zu, daß heißt, man kann das e-fache an Ladung aufbringen, um eine bestimmte Grenzspannung zu erzielen. Das Wassermolekül hat aufgrund des gewinkelten Aufbaues ein sehr hohes Dipolmoment (£=81); Wasser ist ein sehr stark polares Medium. Dies spielt in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle in der Biochemie und Physiologie, da sich praktisch alle Lebensvorgänge in der Zelle in einem wässrigen System abspielen. Kohlendioxid dagegen, das linear (0=C=0) aufgebaut ist, hat kein Dipolmoment, da sich die Bindungs-Dipolmomente der beiden C=0 - Bindungen gegenseitig (vektoriell) kompensieren. 5.10 Bindungskräfte zwischen Molekülen Bisher haben wir uns mit Bindungen innerhalb von Molekülen beschäftigt. Auch zwischen Molekülen oder zwischen Molekülen und Ionen wirken Kräfte, die allerdings mit zunehmendem Abstand sehr rasch abfallen. Im Prinzip sind alle diese zwischenmolekularen Bindungskräfte Coulomb'sche Kräfte. Die stärksten Wechselwirkungen finden wir zwischen Ionen und polaren Molekülen (Ion-Dipol - Wechselwirkung). Sie ist insbesondere für die Auflösung von Ionenkristallen in polaren Flüssigkeiten, etwa Wasser, verantwortlich. Wenn sich Ionen in einem polaren Lösungsmittel befinden, so üben sie aufgrund ihrer elektrischen Ladung auf die Lösungsmitteldipole Kräfte aus, die in der Nähe der Ionen zu einer geordneten Struktur des Lösungsmittels führen. In der Nähe von positiven Ionen orientieren sich die Lösungsmitteldipole so, daß ihr negativer Pol zum Kation, der positive hingegen vom Kation weggerichtet ist. Analog orientieren sich in der Nähe von negativen Ionen die Dipole mit ihrem positiven Pol zum Anion hin, mit dem negativen vom Anion weg (Abb. 5.10.1). Wir sprechen von Solvatisierung (im Spezialfall des Lösungsmittels Wasser auch von Hydratisierung). Die von den

74

A. Grundlagen der chemischen Bindung

Ionen stark gebundenen Lösungsmitteldipole bilden insgesamt die Solvathülle (bei Wasser Hydrathülle) der gelösten Ionen.

• |

0

Kation

O

Anion

Abb. 5.10.1

8-

8+



8-



2H 2 0( g) + Energie Spielen sich chemische Reaktionen zwischen in einem Lösungsmittel gelösten Stoffen ab, so wird das Lösungsmittel in der Reaktionsgleichung üblicherweise nicht berücksichtigt. Ebenso vereinfacht man bei Reaktionen mit gelösten Ionen die Reaktionsgleichungen: Ionen, die in der Reaktion keine Rolle spielen, werden weggelassen und nur die reagierenden Ionen werden berücksichtigt ("Ionengleichung"). So kann man die Neutralisation einer Säure (Beispiel: wässrige Lösung von HCL) mit einer Base (Beispiel: wässrige Lösung von NaOH) entweder ausführlich schreiben (das tiefgestellte aq bedeutet "in wässriger Lösung"; vom englischen aqueous = wässrig): H:q + Cl-q + Na^ + OH"q -> H 2 0 + Cllq + Na^ oder aber einfacher und übersichtlicher: H+ + OH~ —» H 2 0

6. Die chemische Reaktion

77

Auf diese Weise erspart man sich nicht nur viel Schreibarbeit, man kann das Wesentliche einer chemischen Reaktion viel schneller und einfacher erfassen und verstehen. Chemische Gleichungen enthalten für den Fachmann eine Fülle von Information. Um diese verstehen und nützen zu können, müssen wir einige quantitative Grundlagen für die Beschreibung von Stoffen und ihrer chemischen Reaktionen kennenlernen. 6.2 Relative Atom- und Molekülmasse, Stoffmenge, Konzentration Wie wir im Kapitel 3 gesehen haben, sind Atome und Moleküle unvorstellbar klein. Die Masse einzelner Atome ist in der Größenordnung von 10~24g, das ist - in Dezimalzahlen ausgedrückt - gleich 0.000 000 000 000 000 000 000 001 g (!). Um beim Rechnen mit atomaren oder molekularen Massen nicht mit extrem kleine Zahlen oder Zehnerpotenzen hantieren zu müssen, wurde eine atomare Masseneinheit (abgekürzt "a.m.u." für atomic mass unit) eingeführt. Sie ist definitiert als ein Zwölftel der Masse eines l2C-Nuclids, das ist das häufigste Isotop des Kohlenstoffs mit sechs Neutronen (daneben hat Kohlenstoff, wie wir wissen, sechs Protonen; die Nucleonenzahl beträgt also 12). In Zahlen ausgedrückt, wiegt diese atomare Masseneinheit genau 1.6603 • 10 -24 g. Vergleichen wir diese Masse mit der der Protonen und Neutronen, so finden wir, daß ein Nucleon (Proton oder Neutron) fast genau 1 a.m.u. wiegt. Der Definition der atomaren Masseneinheit liegt folgende Überlegung zugrunde: Da verschiedene Atome verschieden große Masse haben, ihre Wirkungen auf andere Atome oder Moleküle jedoch stets als ganze, unteilbare Atome ausüben, ist die Angabe der Masse zur Beschreibung von Stoffportionen unzulänglich: In einem Kilogramm Wasserstoff (H-Atome wiegen sehr wenig) sind etwa 200 mal soviele IiAtome enthalten als Hg-Atome in einem Kilogramm Quecksilber (ein Hg-Atom wiegt etwa 200 mal soviel wie ein H-Atom). Daher wurde als Einheit der Stoffmenge das Mol eingeführt: Ein Mol ist die Stoffmenge einer Substanz, die gerade ebensoviele Teilchen enthält wie Atome in exakt 12 g des Kohlenstojf-Nuclids 12C enthalten sind, nämlich 6.023 • 1023 Teilchen. Teilchen können Atome, Moleküle, Ionen, Elektronen oder Formeleinheiten sein. Die Zahl der Teilchen in einem Mol eines Stoffes haben wir bei der Besprechung der Gasgesetze bereits kennengelernt (Kapitel 2, Avogadro-Konstante NA , früher Loschmidt'sche Zahl). Was ist der Vorteil dieser Definition der Stoffmenge ? Der Vorteil ist ein ganz erheblicher, da wir in die Lage versetzt werden, sehr einfach von der mikroskopischen

78

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Beschreibung eines Stoffes, also von der Betrachtung seiner kleinsten Teilchen, zur makroskopischen Beschreibung, also der Betrachtung von Mengen, die wir sehen, anfassen, riechen oder schmecken können, umzuschalten: Ein 12 C-Atom etwa wiegt exakt 12 a.m.u.; 1 Mol 12C, das sind 6.023 • 1023 1 2 CAtome, wiegt exakt 12 g. Ebenso finden wir im Periodensystem zum Beispiel für Sauerstoff eine relative Atommasse von 15.9996 a.m.u. und wissen damit, daß ein O-Atom 15.9996 a.m.u. wiegt, ein Mol O aber 15.9996 g. Und in diesen 15.9996 g Sauerstoff befinden sich wiederum genau N A O-Atome. Nicht nur für Atome, auch für Moleküle gilt diese elegante Relation: Die zur Beschreibung von Molekülen nötige relative Molekülmasse ergibt sich einfach durch Addition der relativen Atommassen aller Atome im Molekül. Wassermoleküle etwa bestehen aus einem Sauerstoff- und zwei Wasserstoffatomen (Formel H 2 0 ) . Mit Hilfe des Periodensystems findet man für die relative Molekülmasse des Wassers (gerundet) 18 a.m.u: Das bedeutet, daß in 18 g Wasser gerade NA Wassermoleküle enthalten sind. Der Molbegriff ist eine der wesentlichen Säulen einer modernen quantitativen Chemie. Es ist außerordentlich wichtig, stets den Janus-Charakter dieses Begriffes vor Augen zu haben, nämlich den Stoffmengenaspekt und den Teilchenzahlenaspekt. Mit Hilfe des Molbegriffs können wir aus chemischen Reaktionsgleichungen eine Fülle an zusätzlicher Information herauslesen. Die Reaktionsgleichung für die Knallgasexplosion etwa, 2H2(g) + 02(g) —> 2H 2 0( g ) + Energie, unterrichtet uns nicht nur darüber, daß gasförmiger Wasserstoff mit Sauerstoffgas unter Energiefreisetzung gasförmiges Wasser bildet, sondern auch, daß zwei H 2 Moleküle mit einem 0 2 -Molekül zu zwei H 2 0 - Molekülen reagieren. Dies aber bedeutet - ausgedrückt in Masse- oder Stoffmengenbegriffen - daß 4 a.m.u. Wasserstoff (1 H 2 wiegt 2 a.m.u) mit 32 a.m.u. Sauerstoff (1 0 2 wiegt 32 a.m.u.) zu 36 a.m.u. Wasser reagieren. "Multiplizieren" wir diese Überlegung mit N A , so wissen wir auch, daß 2 • N A H 2 -Moleküle mit N A 0 2 - Molekülen zu 2 • N A H 2 0-Molekülen reagieren. Anders ausgedrückt, 2 Mol molekularer Wasserstoff, das sind 4g, reagieren mit 1 Mol molekularem Sauerstoff, das sind 32 g, zu 2 Mol Wasser, das sind 36g. Ziehen wir dazu noch unsere bereits erarbeiteten Kenntnisse über die Verhältnisse bei (idealen) Gasen heran, so wissen wir auch, daß zwei Volumsteile Wasserstoffgas mit einem Volumsteil Sauerstoffgas zu zwei Volumsteilen Wasserdampf reagieren, wenn wir, was in sehr guter Näherung erfüllt ist, die auftretenden Gase bei den Temperaturen einer Knallgasexplosion als ideal ansehen.

79

6. Die chemische Reaktion

Die chemische Reaktionsgleichung informiert uns also nicht nur über qualitative Aspekte einer chemischen Reaktion, sondern ganz detailliert auch über die quantitativen Verhältnisse, und zwar in einem mikroskopischen und in einem makroskopischen Kontext. Zwischen der Stoffmenge n, der molaren Masse M und der Masse m einer Substanz X besteht ein einfacher Zusammenhang: Die Stoffmenge n, das ist die Zahl der Mole, in einer beliebigen Masse m ist gleich dem Quotienten aus der Masse und der molaren Masse M, das ist die Masse eines Mols der Substanz: m(X) ; Einheit [mol] M(x) m(X) M(X) = Einheit r kg i oder meist - H n(X) .mol. .molj

n(X) =

Wir halten nochmals fest: • Gleiche Stoffmengen Teilchenzahlen.

verschiedener

Substanzen

enthalten

gleiche

• Gleiche Volumina idealer Gase enthalten gleiche Teilchenzahlen, daher auch gleiche Stoffmengen, nicht aber gleiche Massen. Wir wollen diese Gesetzmäßigkeiten noch in zwei weiteren Rechenbeispielen festigen. Wir berechnen, wieviel g H 2 nötig sind, um genau 1 g H 2 0 herzustellen: Da aus 4.0 g H 2 , wie wir bereits gesehen haben, 36.0 g H 2 0 entstehen, braucht man nur

Wir können leicht berechnen, wieviel Mol Wasserstoff diese Masse entspricht: Es sind genau _ m(H 2 ) - ^

n ( H 2 )

=

o.ll ^

=

1 , T8moL

Dieses Ergebnis ist auch zu erwarten, denn entsprechend der Reaktionsgleichung muß pro entstandenem Mol (bzw. Molekül) H 2 0 gerade ein Mol (bzw. Molekül) H 2 verbraucht werden, und 1 g H 2 0 entspricht -p-mol Wasser. lo

80

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Als zweites Beispiel wollen wir das Skelett des Menschen näher betrachten: Dieses hat eine durchschnittliche Masse von 11 kg. Der Gehalt an Calciumphosphat Ca3(P04)2 beträgt 58%. Wieviel g Phosphor (P), wieviel mol P und wieviel PAtome enthält ein durchschnittliches menschliches Skelett ? Aus dem Prozentanteil berechnen wir die Masse von Calciumphosphat zu 11 • 0.58 kg , das sind 6.38 kg oder 6380 g. Aus dem Periodensystem entnehmen wir die relativen atomaren Massen von Calcium, Phosphor und Sauerstoff und berechnen die Masse von einem Mol Calciumphosphat zu 310.174 g. Ca P O

40.078 30.974 15.999

Summe

mal 3 mal 2 mal 8

120.234 g 61.948 g 127.992 g

310.174 g zro orv

Daher sind im durchschnittlichen menschlichen Skelett ^ ^ = 20.569 mol Calciumphosphat enthalten, oder 20.569 -2 mol P, das entspricht 41.138 mol P oder 41.138 -30.974= 1274 gP. Zum selben Ergebnis gelangen wir, wenn wir den Massenanteil des Phosphors in Calciumphosphat berechnen: Da in einer Formeleinheit Ca3(P04)2 gerade zwei PAtome enthalten sind, enthält 1 mol der Verbindung (=310.174 g) genau zwei mol P (= 61.948 g), und der Massenanteil von P beträgt 61948

310.174

=0.1997 = 19.97%.

Daher müssen in 6380 g Calciumphosphat ebenfalls 19.97% P enthalten sein, das sind ebenfalls 1274 g. Leicht gelingt nun die Umrechnung auf die Zahl der Atome: 41.138 mol P sind 41.138 • 6.023 • 1023 = 2.47 • 10 2 5 P-Atome . Wir sehen, daß zur erfolgreichen Bewältigung solcher stöchiometrischer Probleme ein klares Formulieren der Teilprobleme Grundvoraussetzung ist; die eigentlichen mathematischen Anforderungen sind sehr gering und gehen über die Aufstellung einfacher Proportionen bzw. einfaches Schlußrechnen nicht hinaus.

81

6. Die chemische Reaktion

6.3

Konzentrationsangaben

Die meisten uns interessierenden chemischen Reaktionen, insbesondere die Reaktionen in lebenden Zellen, spielen sich zwischen Stoffen ab, die in einem Lösungsmittel (meist Wasser) gelöst sind. Zur quantitativen Beschreibung derartiger Reaktionen benötigen wir die Kenntnis der Stoffmengen oder Massen, die in einem gegebenen Volumen der Lösung enthalten sind, also die Konzentrationsverhältnisse der Lösung. Die informativste Angabe bietet die Stoffmengenkonzentration, das ist die Angabe, wieviele Mole einer Substanz X in der Volumseinheit (SI-Einheit: Im 3 , meist aber 1 1 = ein Liter) der Lösung enthalten sind: c(X) =

[mol/1 Lösung]. V bezeichnet das Lösungsvolumen.

Für diese Größe ist auch der Begriff Molarität üblich. Kennt man die molare Masse einer Substanz nicht (etwa bei vielen Proteinen), so muß man die Massenkonzentration heranziehen, die im Gegensatz zur Molarität keine Auskunft über die Zahl der Teilchen der gelösten Substanz in der Volumseinheit der Lösung machen kann: ^ / y x

p(X) =

[kg/1 der Lösung] (p: griechischer Buchstabe rho).

In manchen Fällen ist es günstig, die sogenannte Molalität als Angabe der Konzentration heranzuziehen. Man bezieht sich dabei mit der Angabe der Stoffmenge n auf die Masse des reinen Lösungsmittels: b(X) = ^ ^ [mol/kg Lösungsmittel LM], Dies ist dann von Vorteil, wenn bei genauen Experimenten der Einfluß der Temperatur auf die Dichte einer Lösung eine Rolle spielt. Den Unterschied zwischen Molarität und Molalität kann man sich am besten klarmachen, wenn man die Herstellung einer 1-molaren Lösung mit der einer 1-molalen Lösung vergleicht: Zur Herstellung einer 1-molalen Lösung genügt es, bei beliebiger Temperatur 1 mol der zu lösenden Substanz und 1000 g des Lösungsmittels (die Masse ist temperaturunabhängig) abzuwiegen und in einem beliebigen Gefäß zu mischen. Will man hingegen eine exakt 1-molare Lösung herstellen, muß man 1 mol der zu lösenden Substanz in einem 1-Liter- Maßkolben, der bei einer bestimmten Temperatur (meist 25°C) geeicht ist, bei ebendieser Temperatur mit einer solchen Menge des

82

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Lösungsmittels mischen, daß die fertige Lösung den Maßkolben genau bis zur Meßmarke füllt (Abb. 6.3.1). molai:

molar:

Lösun^mttd

mittel 1 MdI Sitetanz

1 NM Substanz

•B

1000 g

1 liter, 25°C

]Vfel3kolben

Abb. 6.3.1

ErlenmeyerKol ben

Herstellung molarer und molaler

Lösungen

Weiters ist die Angabe des dimensionslosen Stoffmengenanteils x (früher Molenbruch) gebräuchlich, dessen Definition x(X) =

n(X) En

Bezug auf Gesamtstoffmenge

lautet. Er gibt für eine Substanz in einem Gemisch (etwa einer Lösung) an, wieviele Mole dieser Substanz, bezogen auf die Gesamtmolzahl des Gemisches, vorliegen. Den ebenfalls dimensionslosen Massenanteil haben wir beim Beispiel der Berechnung des P-Gehalts eines Skeletts bereits kennengelernt: Er ist definiert als g(X) pro 100g Gemisch. Bei Calciumphosphat etwa beträgt der Massenanteil von P, wie wir berechnet haben, 0.1997 (=19.97%). Er ist unabhängig von Druck und Temperatur. Der ältere Ausdruck "Gewichtsprozent" ist sachlich irreführend (Gewicht ist nicht Masse) und soll nicht mehr benützt werden. Analog definiert man den dimensionslosen Volumenanteil, der bei Gemischen aus flüssigen Komponenten angewendet wird, als ml(X)/pro 100ml Gemisch. Früher war dafür der Ausdruck "Volumsprozent" üblich, der nicht mehr benützt werden soll. Alkohol mit einem Volumenanteil von 0.20 (=20%) etwa bedeutet eine Mischung von Alkohol und Wasser, bei der auf 100 ml des Gemischs gerade 20 ml reiner Alkohol kommen.

83

6. Die chemische Reaktion

Zwischen den Konzentrationsangaben kann man leicht umrechnen. Zwei Beispiele dafür werden im folgenden gegeben: a) Umrechnung von Massenkonzentration und

Stoffmengenkonzentration:

Eine wässrige Lösung von Natriumhydroxid NaOH ("Natronlauge") hat eine Massenkonzentration von 30.2 g/1 (dies entspricht einem Massenanteil von 3.02%, da 100 ml der Lösung oder - bei Annahme einer Dichte der Lösung von 1 kg/1 - 100 g der Lösung 3.02 g NaOH enthalten). Gesucht ist die Stoffmengenkonzentration. Zuerst berechnen wir die Stoffmenge NaOH, die in 1 Liter der Lösung enthalten ist: 1 Mol NaOH wiegt (Periodensystem!) 40.0 g, also folgt n =

m M

30.2 = 0.755 mol NaOH. 40.0

Die Lösung ist also 0.755 molar (c = 0.755 mol/1). b) Umrechnung von Massenanteil und Stoffmengenanteil Eine Lösung von Ethanol (chemische Summenformel

C2H5OH,

relative Molekül-

masse = 46 g/mol) in Wasser enthält die Massenanteile Ethanol = 0.70 ( = 70%) und Wasser (18 g/mol) = 0.30 (= 30%). Gesucht ist das Stoffmengenverhältnis. Wir nehmen willkürlich 100 g Gemisch an und berechnen die Stoffmengenkonzentration beider Komponenten, die bei dieser Gesamtmasse (die sich offensichtlich aus 70 g Ethanol und 30 g Wasser zusammensetzen muß) vorliegen: n(Ethanol) = 7 7 = 1.52 mol, und 46 n ( H 2 0 ) = |J = 1.67 mol.

18

Die Stoffmengenanteile betragen daher für Ethanol:

1.52 = 0.48 = 48%, 1.52+1.67

für H 2 0 :

1.67 = 0.52 = 52% 1.52+1,67

Man beachte, daß die Summe der Massenanteile aller Komponenten ebenso wie die Summe ihrer Stoffmengenanteile immer 1.0 (=100%) betragen muß.

84

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

7 Die Thermodynamik 7.1 Grundbegriffe In den vorangegangenen Kapiteln war der Aufbau der Materie aus Atomen und Molekülen unser Gegenstand; wir haben eine mikroskopische Betrachtungsweise verwendet. Die Thermodynamik führt uns zurück zu den makroskopischen Eigenschaften der Materie: Eigenschaften, die direkten Messungen zugänglich sind und - wenigstens häufig - auch von unseren Sinnen erfaßt werden können. Diese Eigenschaften und insbesondere ihre gegenseitigen Zusammenhänge, unabhängig von atomaren Vorstellungen, beschreibt die Thermodynamik. Die Thermodynamik bildet die Grundlage für die quantitative Beschreibung der Energetik (das heißt, der auftretenden Energieumsätze) chemischer Reaktionen. Sie erklärt, warum gewisse Reaktionen spontan oder nicht spontan, vollständig oder nur unvollständig ablaufen, und sie gestattet die Berechnung des sogenannten chemischen Gleichgewichtszustandes, bei dem makroskopisch keine weitere stoffliche Änderung des Systems mehr stattfindet. Die Thermodynamik macht keine Aussage über die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen, diese ist Gegenstand der chemischen Kinetik. In der Thermodynamik bemüht man sich um eine quantitative Beschreibung empirisch, das heißt durch die Erfahrung, gefundener Zusammenhänge bestimmter Eigenschaften, die den Zustand eines Systems charakterisieren (diese Eigenschaften nennt man Zustandsfunktioneri). Ein zentraler Begriff der Thermodynamik ist der eines Systems: Dies ist ein Reaktionsraum, der von seiner Umgebung durch reale oder gedachte Wände abgegrenzt ist und bei dem nur kontrollierte Einflüsse der Umgebung zulässig sind. \ Abgeschlossenes System

Geschlossenes System

Offenes System

Abb. 7.1.1

ŒZD an> €ZZ>

(ideale) Thermosflasche

viele chemische Reaktionen

Lebewesen

Verschiedene Arten von Systemen und einfache Beispiele (E: Energie; M: Materie)

7. Die Thermodynamik

85

Wir unterscheiden abgeschlossene Systeme (kein Austausch von Energie und Materie zwischen System und Umgebung), geschlossene Systeme (Austausch nur von Energie, nicht aber von Materie) und offene Systeme (Austausch von Energie und Materie; Abb. 7.1.1) Die Wahl der Systemwände oder -grenzen ist willkürlich und sollte stets dem Problem angepaßt sein: Es kann ein Gefäß sein, in dem eine chemische Reaktion stattfindet, oder es kann eine lebende Zelle sein. Abgeschlossene System lassen weder Energieaustausch noch Materieaustausch mit der Umgebung zu, man bezeichnet sie auch als adiabatisch. Geschlossene Systeme können Energie mit der Umgebung austauschen; bleibt infolge dieses Wärmeflusses die Temperatur konstant, so ist das System isotherm. In offenen Systemen kann sowohl Energie als auch Materie mit der Umgebung ausgetauscht werden: Lebende Zellen, aber auch lebende Organismen generell sind gute Beispiele für offene Systeme. 7.2 Zustandsfunktionen Systemeigenschaften, die den augenblicklichen Zustand des entsprechenden Systems eindeutig charakterisieren, nennen wir Zustandsfunktionen oder Zustandsgrößen. Beispiele dafür sind Druck, Temperatur, Volumen, Konzentrationen der Systemkomponenten. Nur solche Systemeigenschaften sind Zustandsfunktionen, deren Wert nicht davon abhängig ist, auf welchem Weg das System den jeweiligen Zustand erreicht hat. Ein wichtiges Beispiel für Zustandsfunktionen und eine naturgesetzliche Beschreibung ihrer Zusammenhänge haben wir bereits kennengelernt, nämlich die ideale Gasgleichung. Wir können Zustandsfunktionen in zwei Gruppen ordnen, in intensive und extensive Zustandsfunktionen: Intensive Zustandsfunktionen hängen nicht von der Größe des betrachteten Systems ab. Beispiele sind Druck, Dichte, Temperatur. Wenn wir ein ideales Gas bei bestimmten äußeren Bedingungen betrachten, so sind derartige Eigenschaften nicht nur dem Gas als ganzes zu eigen; wir finden dieselben Werte für Druck, Dichte und Temperatur in jedem beliebigen Teilvolumen des betrachteten Gases. Extensive Größen dagegen hängen in erster Linie von der Größe des betrachteten Systems ab. Beispiele sind Volumen, Wärmeinhalt, Stoffmenge, innere Energie, Masse: Die Masse etwa eines doppelt so großen Systems beträgt bei sonst gleichen Bedingungen das Doppelte. Eine zentrale Rolle in der Thermodynamik spielen energetische Zustandsfunktionen: Sie werden benötigt zur quantitativen Erfassung der Energieänderungen, zum Beispiel im Verlauf einer chemischen Reaktion.

86

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

7.3 Innere Energie eines Systems; 1. Hauptsatz der Thermodynamik Die innere Energie eines Systems U (das ist der Energieinhalt des Systems), ändert sich, wenn das System mit seiner Umgebung Energie in Form von Wärme Q oder in Form von Arbeit W austauscht. Aus unzähligen Experimenten, bei welchen diese Größen unter verschiedensten Bedingungen gemessen wurden, kristallisierte sich der 1. Hauptsatz der Thermodynamik heraus (das griechische D = Delta soll die Änderung der nachgestellten Größe symbolisieren): AU = Q + W in Worten: Die von einem System mit der Umgebung ausgetauschte Summe von Wärme und Arbeit ist gleich der Änderung der inneren Energie des Systems. Für diesen aus der Erfahrung gewonnenen Satz gibt es mehrere andere Formulierungen, die dasselbe aussagen: • Es ist unmöglich, eine Maschine zu konstruieren, die ohne Energiezufuhr kontinuierlich Arbeitsleistung erzeugt (Satz von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile 1. Art). • In einem geschlossenen System bleibt die Summe aller Energieformen konstant: Energie kann nicht vernichtet oder neu erschaffen werden (Energieerhaltungssatz). Wichtig bei allen thermodynamischen Betrachtungen ist die bereits besprochene systemozentrische Vorzeichengebung: Wenn man dem System Wärme zuführt oder Arbeit am System verrichtet, so sind Q, W und AU positiv, wenn das System Wärme an die Umgebung abgibt oder Arbeit an der Umgebung leistet, so sind diese Größen negativ. Wärme und Arbeit sind keine Zustandsfunktionen. Je nachdem nämlich, wie man einen bestimmten Prozeß lenkt, kann mehr Arbeit oder mehr Wärme umgesetzt werden. In der Chemie tritt Arbeit meist in Form von Volumsarbeit (= - p • AV ) oder elektrischer Arbeit auf. Volumsarbeit tritt insbesondere bei Reaktionen auf, bei welchen Gase beteiligt sind. Wir können uns ihr Zustandekommen am besten erklären, wenn wir die Ausdehnung eines Gases in einem Kolben gegen einen äußeren Druck betrachten (Abb. 7.3.1).

87

7. Die Thermodynamik

Abb.7.3.1

Zur Volumsarbeit: Der Kolben wird vom expandierenden Gas aus der Anfangsposition ("vorher") in die Endposition ("nachher") verschoben.

Das Gas dehnt sich um ein Volumen AV aus; dabei wird der Kolben, der die Fläche A besitzt, um eine Wegstrecke ADx bewegt. Dazu ist eine Kraft F erforderlich, die dem äußeren Druck entgegenwirkt. Die vom System verrichtete (abgegebene) Arbeit ist p - W = F A x = — Ax-A = p- AV, und somit folgt A W = - p AV . 7.4 Reaktionen bei konstantem Volumen; die Enthalpie Wenn von den verschiedenen möglichen Energieformen nur Wärme und Volumsarbeit berücksichtigt werden, so können wir zwei Grenzfälle unterscheiden: Wenn sich das Volumen während der Reaktion nicht ändert (AV = 0), lautet der erste Hauptsatz AU = Q v , wenn V = const. Q v ist die bei konstantem Volumen umgesetzte Wärme. Im Gegensatz zum Wärmeumsatz bei beliebiger Prozeßführung, wo sich sowohl Druck als auch Volumen ändern können, ist Qv eine Zustandsfunktion, ebenso wie AU. Wir können das Ergebnis auch so formulieren: Bei einer chemischen Reaktion ohne Volumsänderung ist die umgesetzte Wärme ein Maß für die Änderung der inneren Energie. Chemische Reaktionen spielen sich aber meist bei konstantem Druck ab. Dann lautet der erste Hauptsatz AU = Q p - p • AV , wenn p = const. (isobare Prozeßführung).

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A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Q p , die bei konstantem Druck umgesetzte Wärmemenge, ist ebenfalls eine Zustandsfunktion, die man als Enthalpie H bezeichnet. Ihre Definition ist H s U + p • V. Bei konstantem Druck erhält man also für die Änderung der Enthalpie AH = AU + p • AV = Q p . Das heißt, bei einer unter konstantem Druck verlaufenden chemischen Reaktion ist der auftretende Wärmeumsatz ein Maß für die Änderung der Enthalpie des Systems. Die vorstehenden Ergebnisse können wir auch zur Beschreibung der energetischen Verhältnisse bei chemischen Reaktionen anwenden, wobei wir wegen der Konstanz des Drucks anstelle der inneren Energieänderungen stets Enthalpieänderungen betrachten. Je nachdem, ob bei einer chemischen Reaktion die Enthalpieänderung negativ oder positiv ist, bezeichnen wir Reaktionen als exotherm (AH < 0, das System gibt Enthalpie an die Umgebung ab) oder endotherm (AH > 0; das System nimmt aus der Umgebung Enthalpie auf). Zwei Beispiele verdeutlichen die Terminologie: Bei der Reaktion von Wasserstoff und Stickstoff zu Ammoniak gibt das System Enthalpie an die Umgebung ab: 3H2 + N2 -» 2NH 3 ;

AH = -92.3 kJ/mol: exotherme Reaktion

Dagegen erhöht sich der Enthalpiegehalt des Systems bei der Bildung von Stickstoffmonoxid aus Stickstoff und Sauerstoff: N2 + 0 2

2NO;AH = +180.6 kJ/mol: endotherme Reaktion.

7.5 Thermochemische Reaktionsgleichungen Da die Enthalpien der Ausgangsstoffe und der Endprodukte und gleichermaßen die Reaktionsenthalpien vom Druck und der Temperatur abhängen, gibt man sie - um sie vergleichbar zu machen - für einen Standardzustand an. Als Standardzustand wählt man bei Gasen den idealen Zustand, bei Flüssigkeiten und Feststoffen den Zustand der reinen Phase, und zwar bei einem Druck von 1.01325 bar (101325 Pa, alte Einheit 1 atm) und einer definierten Temperatur (meistens 25 °C). Die bei diesem definierten Standardzustand gemessenen Standardenthalpien gibt man als AH298

89

7. Die Thermodynamik

an; der Index 298 gibt die gewählte Temperatur [in K] an. Werte für AH^g für viele chemische Reaktionen sind bekannt und tabelliert; da die Enthalpie eine extensive Größe ist, bezieht man sich auf die Bildung von 1 Mol Endprodukt (molare Bildungsenthalpien). In der Biochemie werden die Standardenthalpien zusätzlich auf das Standard-pH von 7.0 bezogen. Ein wichtiger Spezialfall ist die sogenannte Standardbildungsenthalpie: Diese Größe gibt an, wieviel Enthalpie bei der Bildung von 1 mol der Substanz aus ihren Elementen unter Standardbedingungen freigesetzt wird: Ein Beispiel ist die Umsetzung von Wasserstoff mit Sauerstoff zu Wasser ("Verbrennung" des Wasserstoffs, "Knallgasexplosion"): H2(G) + I O 2 ( G ) - >

H 2 0 ( I) ;

AH^g = -285 kJ/mol.

Experimentell sind grundsätzlich nur Enthalpieänderungen meßbar; absolute Enthalpien kann man nicht messen. Man behilft sich mit einem Trick: Die Enthalpien der Elemente im Standardzustand werden willkürlich gleich Null gesetzt. Das Beispiel mit der Verbrennung von Wasserstoff ist noch in weiterer Hinsicht lehrreich: Wenn man die Reaktion von gasförmigem Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser so lenkt, daß das Wasser nicht kondensiert, sondern gasförmig bleibt, wird weniger Enthalpie als Wärme frei, und zwar gilt H2(g) + io 2 ( g)

H 2 0( g );

AH^98 = -243 kJ/mol.

Die Differenz von +42 kJ/mol ist der Enthalpiebetrag, den man aufwenden muß, um 1 mol flüssiges Wasser zu gasförmigem Wasser zu verdampfen, die molare Verdampfungsenthalpie. Umgekehrt betrachtet wird bei der Kondensation von gasförmigem zu flüssigem Wasser eine Kondensationsenthalpie von -42 kJ/mol frei. Der gesamte Sachverhalt läßt sich zusammenfassen: H2(g) + i o 2 ( g )

H 2 0( g );

H 2 0( g ) -> H 2 0 ( I) ;

H2(g) + ±0 2 ( g )

AH°98 = -243 kJ/mol AH298 = - 4 2 kJ/mol

H 2 0 ( 1 ) ; AH^98 = (-243) + (-42) = -285 kJ/mol.

Wir können also zwei Teilreaktionen zu einer Gesamtreaktion addieren; die entsprechenden Reaktionsenthalpien addiert ergeben dann die Reaktionsenthalpie der Gesamtreaktion.

90

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Was wir hier ausführlich besprochen haben, ist einfach eine Konsequenz des ersten Hauptsatzes: Die Energie bleibt erhalten; sie kann weder neu erzeugt noch vernichtet werden. Man bezeichnet diesen Tatbestand im speziellen Fall chemischer Reaktionen auch als Satz von Hess: Bei gleichem Anfangs- und Endzustand der Reaktion ist die Reaktionsenthalpie für jeden Reaktionsweg gleich groß. Gleichgültig also, ob wir von gasförmigem Wasserstoff und Sauerstoff in einem Reaktionsschritt direkt zu flüssigem Wasser kommen, oder ob wir die Reaktion in zwei Teilschritten durchführen (zuerst Bildung von gasförmigem Wasser, danach Kondensation desselben); die freigesetzte Enthalpie ist dieselbe. 7.6 Brennstoffe, Verbrennung und Energiegewinnung Die Energie- oder Enthalpieänderungen bei Verbrennungen mit Sauerstoff stellen für lebende Organismen höchst bedeutsame Fragen dar, da diese ihren Energiebedarf zu einem großen Teil aus Verbrennungen im weiteren Wortsinn decken. In der Tabelle 7.6.1 sind Verbrennungsenthalpien in kJ/mol Brennstoff und in kJ/g Brennstoff angegeben (die Umrechnung gelingt leicht, wenn man die relative Molekülmasse in g/mol kennt): Tab. 7.6.1

Verbrennungsenthalpien

einiger Stoffe (in Sauerstoff)

Brennstoff

kJ/mol

g/mol

kJ/g

-285

2

-142.5

-5452

114

-47.8

-11347

284

-40.0

-2816

180

-15.6

Wasserstoff H

2(

g

)

+

^ 0

2 ( g

)

H

2

0

(

I )

Benzin (Octan) CgHi8(i) + ^ - 0 2 ( g ) —» 8 C 0 2 ( g ) + 9 H 2 0 ( i ) Stearinsäure

(in tierischen Fetten)

Ci8H3602(s) + 2602(g)

18C02(g) + 18H20(i)

Glucose C 6 H i 2 0 6 ( s ) + 602(g) - » 6C02(g) + 6H20(i)

Diese Auflistung zeigt, daß Wasserstoff - bezogen auf die eingesetzte Brennstoffmasse -der wirksamste Brennstoff überhaupt ist. Benzin hat etwa ein Drittel des Brennstoffwertes von Wasserstoff. Interessant für lebende Organismen ist, daß

7. Die Thermodynamik

91

Stearinsäure (als Beispiel einer wesentlichen Komponente von Fett) fast ebenso effektiv verbrennt wie Benzin, während Glucose (als Beispiel für die Kohlenhydrate) bei der Verbrennung wesentlich weniger Enthalpie freisetzt. In der Natur werden beide Verbindungsgruppen als Energiespeicher verwendet; Fett hauptsächlich im tierischen Organismus und Kohlenhydrate ("Stärke") hauptsächlich im pflanzlichen Organismus. Warum können Pflanzen es sich "leisten", einen viel weniger effizienten Energiespeicher zu benützen? Die Antwort liegt in der "Lebensweise" von Pflanzen und Tieren: Pflanzen sind ortsfest; die Verwendung eines weniger effizienten Brennstoffes ist durchaus möglich, da bei der Masse des Brennstoffes kaum eingespart werden muß. Der gespeicherte Brennstoff muß ja nicht herumgetragen werden, ein leichter Brennstoff ist daher kein gravierender Vorteil. Dafür aber ist die Energiespeicherung und - Verwertung bei Kohlenhydraten relativ einfach möglich, ganz im Gegensatz zur aufwendigeren und komplizierteren Biochemie des Fettstoffwechsels. Tiere, die sich bewegen, müssen den komplizierten Fettstoffwechsel auf sich nehmen; für sie ist ein leichter und effizienter Brennstoff eine wesentliche Bedingung ihrer Existenz. 7.7 Ein Maß für die Unordnung: Die Entropie und der 2. Hauptsatz In vielen Bereichen des Alltags gewinnt man den Eindruck, daß in einem System Prozesse und Reaktionen dann spontan ablaufen, wenn der Energiegehalt des Systems nach dem Ablaufen des Prozesses geringer ist als vor dem Prozess: Ein hochgehaltener Stein etwa, der losgelassen wird, fällt zu Boden, wobei seine ursprüngliche potentielle Energie zuerst - streng nach dem 1. Hauptsatz - in kinetische Energie und, nach dem Aufprall am Boden, in Wärmeenergie (Deformationsenergie) umgewandelt wird, die letztendlich an die Umgebung abgegeben wird. Ein anderes Beispiel: Kohle (C) verbrennt mit Sauerstoff (0 2 )zu Kohlendioxid (CO2), wobei die Umgebung stark erwärmt wird. Das System Kohle-Sauerstoff hat eine viel höhere Enthalpie als das entstehende Kohlendioxid; die Differenz wird - wiederum streng nach dem 1. Hauptsatz - bei der Verbrennung als Wärme an die Umgebung abgegeben. Betrachtet man diese Systeme isoliert, so nimmt die Energie (oder Enthalpie) bei derartigen spontanen Prozessen zwar ab, aber da Energie nach dem 1. Hauptsatz nicht verloren gehen kann, findet sich jeweils in der Umgebung des betrachteten Systems ein ebenso großer Energiezuwachs. Warum aber hat noch nie jemand beobachtet, daß rund um einen am Boden liegenden Stein sich der Boden abkühlt und die dabei gewonnene Energie den Stein spontan hochhebt, ihm also als zuerst kinetische und schließlich potentielle Energie zugeführt wird ? Warum kommt es uns ganz widersinnig vor, daß die Umgebung einer gewissen Kohlendioxidmenge sich abkühlt, und in gleichem Maße Kohlendioxid

92

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

wieder in Kohlenstoff und Sauerstoffgas zurückverwandelt wird? Nach dem 1. Hauptsatz sollte dies ohne weiteres möglich sein. Zahllose andere Beispiele ließen sich anführen: Wärme etwa fließt stets von warm nach kalt, Eis schmilzt in wärmerer Umgebung, Gasmoleküle erfüllen spontan das gesamte ihnen verfügbare Volumen. Außerdem gibt es in der Chemie durchaus spontan ablaufende endotherme Reaktionen, in deren Verlauf das System von der Umgebung Energie aufnehmen muß, damit die Reaktion ablaufen kann (AH > 0). Die Betrachtung von Energie (oder Enthalpie) alleine sagt offensichtlich noch nichts darüber aus, ob ein bestimmter Prozeß spontan ablaufen kann; wir benötigen ein weiteres Kriterium. Dieses neue Kriterium ist das Streben nach zunehmender Unordnung, nach zunehmender Entropie eines Systems. Betrachten wir als Beispiel Wasser: Vom Standpunkt des Energie- oder Enthalpiekriteriums ist der stabilste Zustand des Wassers der feste (Eiskristall): Durch Ausbildung der maximal möglichen Zahl von Wasserstoffbrückenbindungen (siehe Abb. 2.7.1) kann das Wasser seine Enthalpie maximal absenken. Aber - lassen wir energetische Betrachtungen einmal außer acht - wie wahrscheinlich ist der hochgeordnete kristalline Zustand ? Hier kann ein Gedankenexperiment weiterhelfen: Stellen wir uns ein extrem einfaches "Universum" vor, welches nur vier Atome enthält und maximal neun Atomen Platz bieten kann. Und in dieser imaginären Welt wollen wir Anordnungen, bei denen die vier verfügbaren Atome ein "dichtgepacktes" 2 x 2 - Quadrat bilden, als "Kristall" bezeichnen, alle anderen Anordnungen aber als "Gas". Abb. 7.7.1 zeigt einige mögliche Zustände in unserem Mini-Universum.

ooo o•• o•• Abb. 7.7.1

••o o•o oo•

o•o ••o o•o

s

Einige Anordnungsmöglichkeiten von vier Atomen (ausgefüllte Kreise) in einer Welt mit neun verfügbaren Atompositionen (leere Kreise). Die beiden hervorgehobenen Anordnungen stellen "Kristallzustände" dar, die restlichen symbolisieren "Gaszustände".

7. Die Thermodynamik

93

Die Kombinatorik lehrt uns nun, daß in einer derartigen Welt mit neun möglichen Positionen vier nichtunterscheidbare Atome auf

verschiedene Arten angeordnet werden können. Aber nur 4 dieser 126 Anordnungen erfüllen unser Kriterium für "Kristall"; die restlichen 122 Anordnungen sind weniger geordnet und unseren Spielregeln zufolge "Gaszustände". Diesem einfachen Gedankenexperiment zufolge bezeichnen wir, wenn wir ein thermodynamisches System betrachten, das ja immer aus unzähligen Teilchen besteht, die Zahl der Anordnungsmöglichkeiten dieser Teilchen in dem ihnen zur Verfügung stehenden Volumen als thermodynamische Wahrscheinlichkeit W. In unserem Mini-Universum ist somit die thermodynamische Wahrscheinlichkeit für den Kristallzustand Wk = 4, die für den Gaszustand hingegen Wo = 122. Generell streben natürliche Systeme nach einer Zunahme der Zahl der möglichen Anordnungsmöglichkeiten (Zunahme der thermodynamischen Wahrscheinlichkeit W). Der berühmte österreichische Physiker Ludwig Boltzmann definierte eine neue Zustandsfunktion, die Entropie S, als eine dem Logarithmus der thermodynamischen Wahrscheinlichkeit eines Zustands proportionale Größe: S = klnW Hierbei ist k die sogenannte Boltzmann-Konstante. Ihre Definition ist: k = r^- = 1.3806- 10~ 23 J-K -1 , NA

sie entspricht also der idealen Gaskonstante, bezogen auf 1 Molekül. Die Entropie ist ein quantitatives Maß für die molekulare Unordnung - und damit für die thermodynamische Wahrscheinlichkeit - eines Zustandes. Der Zustand, der die geringste Ordnung aufweist, ist der wahrscheinlichste und besitzt daher die größte thermodynamische Wahrscheinlichkeit und den größten Entropiegehalt. Bislang haben wir die neue Zustandsgröße Entropie vom molekularen Standpunkt betrachtet, da dies dem intuitiven Verständnis dieser Größe am dienlichsten ist. Die Thermodynamik ist aber streng genommen eine makroskopische Disziplin, das heißt, man sollte ohne Rückgriff auf molekulare Eigenschaften auskommen. Wie fügt sich die Entropie in dieses Gedankengebäude? Jeder spontane (= freiwillig ablaufende) Prozeß kann zur Arbeitsleistung verwendet werden. Man denke etwa an die Erzeugung elektrischer Arbeit durch die Ausnützung der beim spontanen Zutalstürzen eines Flusses freiwerdenden potentiellen Energie. Die aus einem spontanen Prozeß gewinnbare maximale Arbeitsleistung

94

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

erhält man dann, wenn man durch geschickte Prozeßführung Reibungsverluste möglichst vermeidet (sogenannte reversible Prozesse). Die Thermodynamik lehrt nun, daß die maximale Arbeitsleistung sich gemäß der folgenden Formel berechnen läßt: Wmax

=

A

H

-

T



A S .

Das Produkt T • AS wird als gebundene Energie bezeichnet: Dieser Anteil der Enthalpieänderung AH läßt sich selbst bei optimaler Prozeßführung nicht als Arbeit ausnützen, sondern wird in die Zunahme der inneren Unordnung des Systems investiert. Dieser Verlust an Arbeitsfähigkeit eines Systems ist prinzipieller Natur und kann durch keine noch so geschickte Prozeßführung vermieden werden. Wir können nun für abgeschlossene Systeme, bei denen kein Energieaustausch mit der Umgebung möglich ist, ein neues Kriterium zur Beantwortung der Frage heranziehen, ob ein bestimmter Prozeß spontan abläuft: Prozesse in abgeschlossenen Systemen laufen nur dann ab, wenn dabei die Entropie zunimmt (AS >0). Das Streben nach Entropiezunahme ist die Triebkraft für Prozesse in Systemen, in denen die innere Energie bzw. Enthalpie konstant bleibt. Dies ist eine der möglichen Formulierungen des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik. Auch andere Formulierungen sind gängig: Da auch das Universum als Ganzes als ein System angesehen werden kann, muß die Entropie des Universums bei jedem Prozeß zunehmen. Man spricht vom Wärmetod des Alls, der am Ende der Entwicklung des Universums stehen sollte. Eine weitere Aussage spricht von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile zweiter Art: Dies wäre eine Maschine, die - ohne Zufuhr sonstiger Energie - nichts anderes tut, als der Umgebung ständig Energie zu entziehen und damit Arbeit zu leisten. Vom Standpunkt des 1. Hauptsatzes wäre, da ja keine Energie neu erzeugt oder vernichtet würde - eine solche Maschine erlaubt. Die Erfahrung aller Ingenieure aber zeigt, daß man in eine solche Maschine tatsächlich mehr Energie hineinstecken müßte, als man letzlich an Arbeit gewinnen kann. Zur Angabe von Entropien reiner Verbindungen benützt man üblicherweise die Standardentropie S°. Diese bezeichnet die Entropie eines Mols reiner Phase bei 25°C und dem Standarddruck von 101325 Pa. 7.8 3. Hauptsatz der Thermodynamik Der 3. Hauptsatz der Thermodynamik besagt, daß die Entropie einer idealen kristallinen Substanz beim absoluten Nullpunkt der Temperatur Null ist. Im Gegensatz zu den energetischen Zustandsfunktionen, für die nur Differenzen gemessen werden können, können so Entropiewerte absolut berechnet werden. Die Aussage ergibt sich zwanglos aus der Boltzmann'schen Entropieformel: Beim absoluten Nullpunkt

7. Die Thermodynamik

95

gibt es für einen idealen Kristall wegen des Aufhörens jeder Bewegung, auch jeder Gitterschwingung, eine einzige Anordnung: W = 1. Dann ist aber S = k • InW = k • In 1 = 0. 7.9 Freie Enthalpie und das chemische Gleichgewicht Für abgeschlossene Systeme besitzen wir mit der Entropie ein Kriterium, ob eine Reaktion / ein Prozeß freiwillig abläuft oder nicht. Für allgemeinere Fälle, wenn also auch Energieaustausch mit der Umgebung erlaubt ist, benötigen wir ein allgemeineres Kriterium, welches die zwei Triebkräfte, die das Naturgeschehen beherrschen, nämlich einerseits das Streben nach minimaler Energie, andererseits das Streben nach maximaler Unordnung, miteinander kombiniert. Eine neue Zustandsfunktion, die den Zweck erfüllt, diese beiden oft in entgegengesetzte Richtung strebenden Triebkräfte richtig zu kombinieren, wurde von Gibbs in Analogie zur oben angeführten Gleichung für die maximal gewinnbare Arbeit formuliert: G = H - TS. G wird als Freie Enthalpie (im angelsächsischen Schrifttum auch "Gibbs free energy") bezeichnet; die Einheit dieser neuen Zustandsfunktion ist die einer Energie pro mol (kJ/mol). Da für G wie für alle anderen energetischen Zustandsfunktionen nur Differenzen meßbar sind, gilt für die Änderung der Freien Enthalpie eines isothermen (T=const.) und isobaren (P = const.) Prozesses AG = A H - T AS. Die Änderung der Freien Enthalpie AG ist das Höchstmaß an Arbeit, das sich bei dem Prozeß gewinnen läßt. Der Energiebetrag T • AS, die gebundene Energie, kann prinzipiell nicht in Arbeit umgewandelt werden; mit diesem Energiebetrag wird vielmehr die innere Unordnung des Systems erhöht. Die Zustandsfunktion AG dient zur Definition des sogenannten Gleichgewichtszustandes, dem jeder spontan ablaufende Prozeß zustrebt. Generell strebt die Freie Enthalpie einem Minimum zu. Das bedeutet: Wenn G während des Prozesses abnimmt (AG < 0), so läuft der Prozeß spontan ab. Wir sprechen von einer exergonischen Reaktion. Nimmt G hingegen zu (AG > 0), so verläuft der Prozeß nicht

96

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

freiwillig und spontan: eine endergonische Reaktion liegt vor. Wenn sich G nicht mehr ändert (AG = 0), ist das System im thermodynamischen Gleichgewicht. Das heißt, ein spontaner Prozeß wird nur solange ablaufen, bis AG Null wird; dann ist der Gleichgewichtszustand erreicht. Je nachdem, wie die beiden Triebkräfte (Streben nach minimaler Energie und nach maximaler Entropie) nun für einen interessierenden Prozeß gerichtet sind, lassen sich vier Fälle unterscheiden: • AH < 0 und AS > 0 : Bei der Reaktion wird Energie freigesetzt und die innere Unordnung nimmt zu. AG ist auf jeden Fall negativ; der Prozeß kann spontan ablaufen. • AH > 0 und AS < 0 : Bei der Reaktion wird vom System Energie aufgenommen, die innere Unordnung nimmt ab. AG ist sicher positiv; der Prozeß kann nicht spontan ablaufen. • AH < 0 und AS < 0 : Hier "ziehen" die beiden Triebkräfte in entgegengesetzte Richtungen. Bei niedrigen Temperaturen ist der Term - T • AS kleiner als AH, und die Reaktion ist exergonisch. Ab einer bestimmten AH Grenztemperatur T = — — allerdings dominiert der Entropiebeitrag, und Z\tj die Reaktion wird endergonisch, das heißt, sie kann bei Temperaturen oberhalb der Grenztemperatur nicht freiwillig ablaufen. • AH > 0 und AS > 0 : Es gilt - mit umgekehrten Vorzeichen - dasselbe wie im gerade besprochenen Fall. Bei Temperaturen unterhalb der AH überwiegt der Enthalpieterm, und die ReakGrenztemperatur T = — tion ist endergonisch, läuft also nicht spontan ab. Bei Temperaturen über der Grenztemperatur hingegen überwiegt der auf die Entropiezunahme zurüchzuführende Beitrag zu AG, und die Reaktion wird exergonisch, kann also freiwillig ablaufen. Ein medizinisch wichtiges Beispiel für eine Reaktion entsprechend dem zuletzt besprochenen Fall (endotherm, aber exergonisch) ist die folgende Reaktion zwischen zwei Festsubstanzen: Ba(OH)2 • 8H 2 0 + 2NH4SCN -> Ba(SCN)2 + 10H 2 0 + 2NH3 1 Beide Ausgangsstoffe (Bariumhydroxid mit gebundenem Kristallwasser und Ammoniumrhodanid) sind kristalline Salze und somit hochgeordnet. Die Produkte der

97

7. Die Thermodynamik

Reaktion sind kristallines Bariumrhodanid, flüssiges Wasser und gasförmiges Ammoniak. Diese Reaktion ist zwar stark endotherm (wenn man die Reaktion in einem Becherglas ablaufen läßt und dieses gleichzeitig auf ein nasses Holzbrettchen stellt, so friert es sofort an!), aber durch die Wasserbildung und Ammoniakfreisetzung ist die Entropieänderung so stark positiv, daß die Reaktion spontan abläuft. Derartige endotherme, aber exergonische Reaktionen werden in den Kältepackungen in der Ersten Hilfe praktisch angewandt. Wie bei der Enthalpie setzt man willkürlich die Freien Bildungsenthalpien der Elemente im Standardzustand (25°C, 101325 Pa) gleich Null. Die Freien Standardbildungsenthalpien vieler Verbindungen können damit berechnet werden und sind für sehr viele Verbindungen in Tabellenwerken enthalten. Mit ihrer Hilfe können für beliebige chemische Reaktionen Freie Standardreaktionsenthalpien - und damit die Triebkräfte chemischer Reaktionen- berechnet werden: A G ? = Z AGPRODUKTE - E AG^| UKTE .

(Das griechische Sigma X bedeutet dabei den Summenoperator; man muß also die AG 0 -Werte aller Produkte summieren und davon die Summe der AG 0 -Werte der Ausgangsstoffe subtrahieren). Man kann diese Standardwerte, die sich ja auf 25°C, 101325 Pa und 1 molare Konzentrationen aller Reaktionspartner beziehen, auf beliebige Bedingungen (Temperatur, Druck, Konzentrationen) nach der folgenden Formel auf Freie Reaktionsenthalpien AGr umrechnen: AGr = AG? + R T l n ^ 4 = AG? + R T l n [ C F [ D ] 8 r , d-cl [A]«-[B] ß ' wobei die allgemeine chemische Reaktion cxA + ßB

5=S

YC + ÖA

mit den Ausgangsstoffen A und B, den Endstoffen C und D und den stöchiometrischen Koeffizienten a,ß,yund 8 zugrundegelegt wird. Wie kann dieser Ausdruck interpretiert werden? Zuerst die Erklärung für AG?: Dies ist die Freie Standardreaktionsenthalpie, eine für die betrachtete Reaktion charakteristische Größe. Nehmen wir an, sie sei negativ. Dann kann die betrachtete Reaktion auf jeden Fall spontan ablaufen, wenn alle Reaktionspartner (Ausgangsstoffe und Endstoffe) in 1molarer Konzentration vorliegen. Der logarithmische Ausdruck in der Gleichung beträgt dann Null, und beim Standardzustand gilt AGr = AG?. Was passiert im Zuge des ReaktionsVerlaufes? Die Konzentrationen der Ausgangsstoffe nehmen ab,

98

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

und simultan dazu nehmen die Konzentrationen der Produkte zu. Der logarithmische Ausdruck wird also jedenfalls positiv, und zwar umso mehr, je weiter die Reaktion fortschreitet. Er wird zunehmend die negative Freie Standardreaktionsenthalpie kompensieren. Das heißt, im Verlauf der spontanen Reaktion ist AGr zunächst stärker negativ, dann immer weniger negativ, bis schließlich AG° durch den logarithmischen Ausdruck kompensiert und AGr daher Null wird: Die Reaktion kann nun nicht mehr spontan ablaufen, da die Freie Reaktionsenthalpie nicht mehr abnimmt; ein Gleichgewichtszustand ist erreicht, und die Konzentrationen der beteiligten Stoffe ändern sich nicht mehr. Der Gleichgewichtszustand ist durch die mathematische Bedingung AGr = 0 charakterisiert. Eine einfache Umformung der oben angegebenen Gleichung ergibt für diesen Fall: ln

[Cr-[D]5^ [A]a[B]ß

AG° R-T'

Wenn man für den logarithmischen Ausdruck im Gleichgewicht, also mit den erreichten Gleichgewichtskonzentrationen, eine neue Größe K definiert, so läßt sich die letzte Beziehung noch vereinfachen zu lnK=

4G ? R T

Entlogarithmieren ergibt K =

AG° e

RT =

1 0

AG° 2.3 R T

bzw. AG0 = - R • T • In K = -2.3 • R • T • log ]0 K . Die neue Konstante K =

[C]7 • [Dl 8 [A] a -[B]P

bezeichnen wir als Gleichgewichtskonstante.

Was bedeutet diese thermodynamisch abgeleitete Gleichgewichtsbedingung? Historisch wurde das chemische Gleichgewicht von den norwegischen Chemikern Guldberg und Waage auf einem ganz anderen Weg gefunden. Sie beschäftigten sich mit der Bildung von Jodwasserstoffgas aus den Elementen, entsprechend der Formel H2(g) + l2(g) -> 2HI(g) Beim Experimentieren mit verschiedensten Ausgangskonzentrationen fanden sie, daß nie eine vollständige Umsetzung zu Jodwasserstoffgas eintrat; eine gewisse

7. Die Thermodynamik

99

Menge an Ausgangsstoffen blieb immer zurück. Wenn sie umgekehrt von Jodwasserstoff ausgingen und diesen bei denselben Temperatur- und Druckbedingungen sich selbst überließen, trat unvermeidlich eine gewisse, am Auftreten der intensiv violett gefärbten Joddämpfe klar nachweisbare Zersetzungsreaktion im Sinne der Umkehrreaktion 2HI(g) ->H2(g)+l2(g) ein. Beim exakten Auswerten ihrer Meßergebnisse fanden sie überraschenderweise, daß bei konstanter Temperatur der aus den Konzentrationen gebildete Quotient [HI]2 [H2] • [I2] zahlenmäßig immer denselben Wert annahm, wenn man die Reaktion so lange ablaufen ließ, bis keine sichtbare Änderung des Reaktionsgemisches mehr nachweisbar war. Dieses Ergebnis stimmt aber genau mit dem oben allgemein abgeleiteten Ausdruck für die Gleichgewichtskonstante überein. Wir halten fest: Im chemischen Gleichgewicht ist der Quotient, der aus dem Produkt der Konzentrationen der Endstoffe und dem Produkt der Konzentrationen der Ausgangsstoffe gebildet wird (wobei jede Konzentration in eine Potenz gehoben wird, die dem stöchiometrischen Koeffizienten des entsprechenden Stoffes zahlenmäßig gleich ist), bei konstanter Temperatur und konstantem Druck eine für die betreffende Reaktion charakteristische Gleichgewichtskonstante. Diese Konstante ist unabhängig von den jeweiligen Konzentrationen. Die soeben formulierte Gesetzmäßigkeit nennt man auch Massenwirkungsgesetz', sie ist einer der zentralen Grundpfeiler der Chemie. Sie gilt sowohl bei homogenen (alle Reaktionsteilnehmer befinden sich in einem Aggregatzustand) als auch bei heterogenen Reaktionen (die Reaktion spielt sich nicht nur in einem Aggregatzustand ab). Aus der zahlenmäßigen Größe von K (und damit gleichbedeutend von AG?) kann man einige qualitative Schlüsse ableiten. Wenn K > 1 (dies entspricht AG? < 0), so liegt das "Gleichgewicht auf der Seite der Produkte" (die Produkte überwiegen im Gleichgewicht; die Reaktion läuft weitgehend ab). Wenn K = 1(AG? = 0), so liegt ein "ausgeglichenes Gleichgewicht" vor. Ist hingegen K < 1(AG? >0), so liegt das "Gleichgewicht auf der Seite der Ausgangsstoffe" (die Edukte überwiegen im Gleichgewicht; die Reaktion läuft nur zu einem geringen Grad ab). Chemische Reaktionen sind grundsätzlich Gleichgewichtsreaktionen. Bei extremer Lage von K allerdings kann der Eindruck entstehen, als ob die Reaktion vollständig (K » 1) oder gar nicht (K « 1) ablaufen würde.

100

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Das chemische Gleichgewicht ist ein dynamisches Gleichgewicht: Dies bedeutet, daß zwar makroskopisch keine Reaktion mehr nachweisbar ist, aber auf molekularem Niveau, also mikroskopisch, laufen sowohl die Hinreaktion als auch die Rückreaktion weiterhin ab, aber gleich schnell. Die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen ist Thema der Chemischen Kinetik; wir wollen aber dennoch bereits an dieser Stelle eine kinetische Begründung für das chemische Gleichgewicht anhand des besprochenen Gleichgewichts zwischen Jod, Wasserstoff und Jodwasserstoff geben. Betrachten wir zuerst die Reaktion von links nach rechts, die Hinreaktion: Es ist intuitiv verständlich, daß H2- und I2-Moleküle zur Bildung von HI-Molekülen zusammentreffen müssen. Die Wahrscheinlichkeit dieses Zusammentreffens aber ist natürlich umso größer, je größer die Konzentrationen dieser Teilchen sind. Wenn wir die molaren Konzentrationen mit [] kennzeichnen, so können wir diese Proportionalität ausdrücken durch v=k[H2][I2], wobei v die Reaktionsgeschwindigkeit und k die Geschwindigkeitskonstante, das ist der Proportionalitätsfaktor, bezeichnen. Für die Rückreaktion müssen dagegen zwei HI-Moleküle zusammentreffen; wir schreiben daher für die Geschwindigkeit der Rückreaktion V=k [HI] • [HI]. (Die Pfeile bezeichnen die Richtung des jeweils betrachteten Vorgangs). Nach dem oben Gesagten aber ist im chemischen Gleichgewicht die Geschwindigkeit der Hinreaktion gleich der Geschwindigkeit der Rückreaktion, also v=v. Setzt man nun ein, so folgt k[H2][I2]=k[HI]2; und k _ [HI]2 £ [H 2 ]-[I 2 r Der Quotient zweier konstanter Größen ist selbst natürlich auch eine Konstante, und wir erhalten

101

7. Die Thermodynamik

k_ £

K

_

[HI]2 [H2][I2]'

denselben Ausdruck, den man für die Reaktion entsprechend der thermodynamisch abgeleiteten Gleichgewichtsbedingung hinschreiben müßte, beziehungsweise was Guldberg und Waage experimentell fanden. (Es sei hinzugefügt, daß diese kinetische Motivation des Massenwirkungsgesetzes zwar sehr anschaulich ist, aber nicht für alle Reaktionen in der gebotenen Strenge durchgeführt werden kann. Die thermodynamische Ableitung dagegen ist generell gültig). Für die Verwendung des Massenwirkungsgesetzes in der Praxis gibt es einige wichtige Regeln: Treten bei Reaktionen Gase auf, ist es oft vorteilhaft, anstelle der Konzentrationen die Partialdrücke der Gase zu verwenden. Bei heterogenen Reaktionen treten reine feste oder flüssige Stoffe im Massenwirkungsquotienten nicht auf, da die Konzentration derartiger Stoffe aufgrund der sehr geringen Kompressibilität flüssiger und fester Stoffe praktisch immer konstant (und durch die Dichte der Stoffe vorgegeben) ist. Den Doppelpfeil .

» verwendet man, um anzuzeigen, daß eine chemische Re-

aktion eine Gleichgewichtsreaktion ist. Die Länge der einzelnen Pfeile kann die "Lage" des Gleichgewichtes symbolisieren; so bezeichnet etwa



ein

Gleichgewicht, welches vorwiegend zu den Produkten führt, bei dem die Rückreaktion also nur in sehr geringem Ausmaß verläuft (K « 1). Streng genommen gilt das Massenwirkungsgesetz nur in Systemen, in denen sich die reagierenden Teilchen nicht anderweitig behindern und beeinflussen, also in verdünnter Materie (viele Gasreaktionen, Reaktionen in stark verdünnten Lösungen). Auf diese Details wollen wir aber nicht näher eingehen; für die Zwecke dieses Lehrbuchs wollen wir die Gültigkeit in der beschriebenen Form stets voraussetzen. Zwei weitere Voraussetzungen müssen erfüllt sein, daß sich bei einer Reaktion ein chemisches Gleichgewicht einstellen kann: Das Massenwirkungsgesetz gilt nur in geschlossenen Systemen. Die Reaktionsgeschwindigkeiten der Hin- und der Rückreaktion (über die das Massenwirkungsgesetz nichts aussagt) dürfen nicht unendlich langsam sein. Diese letztere Bedingung ist außerordentlich wichtig, bedenkt man, daß etwa lebende Gewebe - und damit wir Menschen - in der irdischen Sauerstoffatmosphäre überhaupt nur bestehen können, weil die Reaktion zwischen Sauerstoff und der lebenden Substanz bei normalen Bedingungen unendlich langsam verläuft. Vom thermodynamischen Standpunkt betrachtet, müßte diese stark exergonische Reaktion spontan ablaufen (und sie tut es auch, wenn wir lebende Materie an einer Stelle anzünden). Wir werden den Grund für diese Metastabilität organischer Materie in der Sauerstoffatmosphäre im Rahmen der Kinetik noch diskutieren.

102

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Betrachten wir ein chemisches System im Gleichgewicht. Jede Änderung der Konzentration einer der Substanzen, die im Massenwirkungsquotienten aufscheinen, bringt das System aus dem Gleichgewicht, da der Quotient nicht mehr den richtigen Wert K besitzt. Als Folge reagiert das System durch geeignete Anpassung aller Konzentrationen, bis das Massenwirkungsgesetz wieder erfüllt ist, bis also der Quotient wieder den Wert K annimmt. Daher kann man durch eine Erhöhung der Konzentration eines Ausgangsstoffes die Reaktion "nach rechts" verschieben: Es müssen Endstoffe nachgebildet werden, damit der Quotient wieder den richtigen Wert K annimmt. Ebenso kann man durch die Erniedrigung der Konzentration eines Endstoffes die Reaktion "nach rechts" verschieben. Eine Erniedrigung der Konzentration eines Ausgangsstoffes oder eine Erhöhung der Konzentration eines Endstoffes hingegen hätte die umgekehrte Wirkung; die Rückreaktion würde begünstigt ablaufen. Wir bezeichnen dieses allgemeine Prinzip als Gesetz von Le Chatelier oder Gesetz des kleinsten Zwanges. Eine derartige Beeinflußung des Massenwirkungsgesetzes beobachtet man, wenn ein Endstoff einer Reaktion als Ausgangsstoff einer weiteren Folgereaktion dient (gekoppelte Reaktionen), etwa nach folgendem Muster: A

.

B (Reaktion I)

und

B

C (Reaktion II).

Die Reaktion II entzieht also den Stoff B aus dem ersten Gleichgewicht I. Das Massenwirkungsgesetz liefert K r = ^ => [B] = Kz [A] [A] K

" =

tÜ LÖJ

^

=^ = • • K-II

Gleichsetzen der Ausdrücke für [B] ergibt Ki • Kn = 77I = K, [A] ein Ausdruck, der der direkten Gesamtreaktion

entspricht. Die Gleichgewichtskonstante K der Gesamtreaktion ist also das Produkt der Gleichgewichtskonstanten der gekoppelten Reaktionen. Auf dieseWeise kann etwa eine erste Reaktion I, die eine kleine Gleichgewichtskonstante Ki besitzt, durch eine nachfolgende Reaktion II, die dem ersten Gleichgewicht einen Endstoff

103

7. Die Thermodynamik

der Reaktion I mit einer großen Gleichgewichtskonstante K n "entzieht", unterstützt werden. Gekoppelte Reaktionen, oft aus vielen Einzelreaktionen kombiniert, finden wir bei den meisten enzymatischen "Reaktionskaskaden" in der Biochemie. Lebende Zellen sind üblicherweise keine geschlossenen, sondern offene Systeme; sie tauschen Energie und Materie mit der Umwelt aus. Trotzdem kann auch bei derartigen Systemen eine Art Gleichgewicht, ein sogenanntes Fließgleichgewicht, ausgebildet werden, und zwar dann, wenn die Zulieferung von Ausgangsstoffen und der Abtransport von Reaktionsprodukten einander die Waage halten. In der Zelle stellen sich dann über längere Zeitspannen konstante Konzentrationen der beteiligten Stoffe ein (stationärer Zustand). Dieser Zustand ist aber kein echtes chemisches Gleichgewicht. Im folgenden werden die besprochenen Gesetzmäßigkeiten systematisch auf die vier Haupttypen chemischer Reaktionen in wässriger Lösung angewandt. Diese sind in der Tabelle 7.9.1 aufgelistet; man kann sie einheitlich als Reaktionen auffassen, bei denen irgendwelche Teilchen übertragen werden (Transferreaktionen). Tab. 7.9.1

Die vier Grundtypen chemischer Reaktionen

Reaktionstyp

übertragene Teilchen

Löse- und Fällungsreaktionen

Ionen oder Moleküle zwischen der festen und der gelösten Phase

Neutralisationsreaktionen (Reaktionen zwischen Säuren und Basen)

Protonen (einfach positiv geladene Wasserstoffionen)

Redoxreaktionen (Reduktions- und Oxidationsreaktionen)

Elektronen

Komplexreaktionen

Ionen oder Moleküle zwischen der Lösung und der Einflußsphäre von Metallkationen

104

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

8 Löse- und Fällungsgleichgewichte 8.1 Allgemeines Bringt man Molekülkristalle oder Ionenkristalle in eine Flüssigkeit ein, so lösen sie sich auf, wenn die Wechselwirkungen zwischen den Molekülen der Flüssigkeit und den Bausteinen des Feststoffes genügend stark ist: Das kristalline Gitter wird zerstört, und die nun frei in der Lösung befindlichen Moleküle oder Ionen des ursprünglichen Kristalls werden durch Solvatation (Ausbildung von Hüllen aus Lösungsmittelmolekülen) stabilisiert. Allerdings kann man in einem bestimmten Volumen von Lösungsmittel nicht unbegrenzt viel Feststoff auflösen: Erreicht die Konzentration der gelösten Teilchen einen bestimmten, für das jeweilige System aus Feststoff und Lösungsmittel bei konstanter Temperatur charakteristischen Wert, so wird bei Zugabe noch weiterer Mengen des Feststoffes keine weitere Zunahme der Konzentration der gelösten Teilchen mehr beobachtet. Ein Gleichgewicht hat sich eingestellt. Mikroskopisch betrachtet gehen zwar weiterhin in jedem Zeitintervall Teilchen in Lösung, gleichzeitig aber treten gleich viele Teilchen aus der Lösung wieder in den Kristall ein. Da sich dieses Gleichgewicht an der Phasengrenze zwischen dem Feststoff und der Lösung ausbildet, ist es ein heterogenes Gleichgewicht. Je nachdem, ob beim Lösen der Substanz gelöste Moleküle entstehen oder durch sogenannte Dissoziation Ionen gebildet werden, lassen sich zwei Fälle unterscheiden. 8.2 Auflösung ohne Dissoziation in Ionen Besonders einfach sind die Verhältnisse bei Substanzen, die nicht dissoziieren (Beispiele: Lösungen von Glucose oder anderen Kohlenhydraten in Wasser, Lösung von Iod in Wasser). Wenn wir die gelöste Substanz allgemein als A bezeichnen (und uns auf das wichtigste Lösungsmittel Wasser beschränken), so liegt folgende Reaktion vor: A( S )

«

A ( aq)

Der tiefgestellte Index s bedeutet feste Substanz A (von solid, englisch für fest), der Index aq bedeutet, daß eine Hydrathülle aus Wassermolekülen die gelösten Moleküle der Substanz A stabilisiert (von aqueous, englisch für wässrig). Nach den Regeln zur Aufstellung des Massenwirkungsgesetzes können wir also schreiben:

105

8. Löse- und Fällungsgleichgewichte

K=[A (aq) ], (die Konzentration des festen A ist eine Konstante; sie entspricht ja der konstanten Dichte der festen Substanz und wird daher nicht explizit angeschrieben). Der in der eckigen Klammer angeschriebene Ausdruck bedeutet die im Gleichgewicht vorhandene Konzentration von A (die Sättigungskonzentration). In Worten: Bei einem Löseprozeß ohne Dissoziation ist die Gleichgewichtskonstante gleich der Sättigungskonzentration der Substanz A, die ja bei konstanter Temperatur einen charakteristischen und konstanten Wert besitzt. Natürlich ist die Voraussetzung für die Gültigkeit der Behauptung, daß wirklich Sättigung vorliegt. Nicht jede beliebige Konzentration der gelösten Substanz ist gleich K, sondern ausschließlich die Sättigungskonzentration. Und die liegt immer erst dann vor, wenn soviel Substanz A gelöst ist, daß jeder weitere Zusatz von A zur Bildung eines festen Rückstandes (Bodensatz) führt, der sich nicht mehr auflöst. 8.3 Auflösung mit Dissoziation in Ionen Etwas komplizierter liegen die Verhältnisse, wenn wir die Auflösung mit Dissoziation betrachten (Beispiele: Lösungen von Ionenkristallen oder von festen Säuren oder Basen). Die chemische Reaktion läßt sich im einfachsten Fall (l:l-Salz: ein Kation und ein Anion) beschreiben als AB(S)

-

Afaq) + B7aq) •

Nach den allgemeinen Regeln muß das Massenwirkungsgesetz lauten: K

=

[A(aq)] ' [B(aq)] =

L

AB •

(Auch hier scheint die Konzentration des festen Salzes AB nicht explizit auf.) Die Gleichgewichtskonstante für diesen Spezialfall heißt Löslichkeitsprodukt; daher die Abkürzung LAB • Das Löslichkeitsprodukt ist das Produkt der Ionenkonzentrationen in einer gesättigten Lösung. Es ist die Gleichgewichtskonstante für die unter Dissoziation verlaufende Auflösung einer Substanz. Löslichkeitsprodukte schwerlöslicher Salzen sind sehr klein (LAB « 1), und um Berechnungen mit so kleinen Zahlen bequemer zu gestalten, empfiehlt sich eine logarithmische Umformung nach der folgenden Definition: PLab

=-log10LAB-

106

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Bei schwerlöslichen Salzen gilt dementsprechend PLab > 0 . Löslichkeitsprodukte, die - wie alle Gleichgewichtskonstanten - nur von der Temperatur abhängig sind, erlauben die Berechnung, ab welcher Konzentration ein Salz aus einer Lösung "auszufallen" beginnt, das heißt, die Löslichkeitsgrenze überschritten und fester Niederschlag gebildet wird. Dies ist insbesondere von Bedeutung, wenn Lösungen Ionenkombinationen enthalten, die ein schwerlösliches Salz bilden können. Ein medizinisches Anschauungsbeispiel ist die Bildung von Konkrementen (wie Harnstein): Enthält Harn aus ernährungsbedingten oder krankheitsbedingten Gründen größere Mengen an Calcium-Ionen Ca 2+ und Oxalat-Ionen C2O4 - , so kann das Produkt der beiden Ionenkonzentrationen das Löslichkeitsprodukt von Calciumoxalat CaC2C>4 übersteigen, und festes Calciumoxalat fällt aus. Anhand der Berechnung der molaren Löslichkeit dil eines Salzes mit gegebenem LAB soll vorgeführt werden, wie man Gleichgewichtsberechnungen durchführen kann. Wir beginnen mit dem einfachsten Fall, einem Salz, das aus einer Kation- und einer Anionsorte besteht (ein sogenanntes AB-Salz). Bei Berechnungen von chemischen Gleichgewichten bewährt sich folgendes Schema, welches sich insbesondere bei komplizierteren Problemen als wertvoll erweisen wird: Wir zerlegen die Reaktion gedanklich in zwei Schritte: Im ersten Schritt stellen wir uns vor, daß das AB-Salz in Wasser eingebracht wird, aber noch nicht zu dissoziieren beginnt (Zeit t = 0). Im zweiten Schritt erfolgt die Dissoziation und die Gleichgewichtseinstellung (t = GGW). Die Tabelle 8.3.1 dient zur Erfassung der Konzentrationsverhältnisse zu beiden Zeitpunkten. Tab. 8.3.1

Konzentrationsverhältnisse in einer Lösung eines AB-Salzes vor (t=0) und nach Einstellung des Gleichgewichtes (t=GGW)

t=0

t = GGW

+

[A ]

0

X

[B]

0

X

Anschließend werden die so ermittelten, noch unbekannten Gleichgewichtskonzentrationen in das Massenwirkungsgesetz eingesetzt: LAB

= [A + ] [B"]

= X

X .

Auflösung nach x ergibt die gesuchte molare Löslichkeit:

107

8. Löse- und Fällungsgleichgewichte

x - V^abEin für die medizinische Praxis bedeutsames Beispiel ist die Löslichkeit des sehr schwerlöslichen Bariumsulfats BaSCU, welches als Kontrastmittel bei gastrointestinalen Röntgenuntersuchungen sogar oral eingenommen werden kann, obwohl B a l lonen extrem giftig sind. Die molare Löslichkeit (m L ) von BaS04 ergibt sich aus dem Löslichkeitsprodukt LBaso4 = 10"10mol2 • l"2 zu m L (BaS0 4 ) = VlO"10 = 10-5mol • l"1. In 1 Liter Wasser löst sich nur ein Hunderttausendstel Mol des Salzes auf; die Konzentration an Ba 2 + - Ionen ist so gering, daß keine toxischen Wirkungen auftreten. Auch für den allgemeinen Fall eines Salzes, welches beim Auflösen in m Kationen und n Anionen dissoziiert (AraBn - Salz), kann man die molare Löslichkeit über das Löslichkeitsprodukt ermitteln. Die Reaktion lautet AmBn

mAn+ + nB m_ .

LAmB„ = [A n+ ] m • [Bm"]n. Wenn wir das gezeigte Rechenschema auf den Fall anwenden, daß sich m L = x Mol des Salzes in Wasser zu einem Liter lösen, ergibt sich die Tabelle 8.3.2. Tab.8.3.2

Schema zur Berechnung des Gleichgewichts aus m Kationen und n Anionen

beim Auflösen eines

t=0

t = GGW

n+

0

mx

m

0

nx

[A ] [B ]

Setzen wir in die obige Gleichung ein, so ergibt sich: LAmBn = [m • x] m • [n • x]n = m m • n" • x m+n ;

Salzes

108

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Hierzu zwei Beispiele: Fluorid-Ionen bilden mit Calcium-Ionen schwerlösliches Calciumfluorid (Bestandteil von Zahnschmelz): Ca2+ + 2F _ .

CaF2

Der in Tabellenwerken aufgelistete Wert von pLcaF2 ist 10.46, also ist LCaF2 = 10"pL = 10-1046 = 3.47 • 10_11mol3 • l"3.

mL

= (3^1^1)^=2.05.10^.1-.

Diese niedrige molare Löslichkeit des Salzes ist der Grund, warum bei Flußsäureverätzungen der Haut die betroffenen Hautstellen tief mit einer Ca 2+ -Ionen enthaltenden Lösung unterspritzt werden: Die sehr giftigen F~-Ionen werden durch Ausfällung zu unlöslichem Calciumfluorid unschädlich gemacht. Magnesiumammoniumphosphat, ein möglicher Bestandteil von Konkrementen (Harnstein), dissoziiert nach folgender Gleichung: Mg2+ + NH; + PO4-

MgNH 4 P0 4 L M gNH 4 P0 4 = 3

• 10"13mol3 • l- 3 = [Mg2+] • [NHJ] • [PO^]

Unser Rechenschema, angewandt auf dieses ABC-Salz, lautet (Tab. 8.3.3): Tab. 8.3.3

Schema für das Lösegleichgewicht von Magnesiumammoniumphosphat

t=0

t = GGW

[Mg2+]

0

X

[NHJ]

0

X

0

X

[PO3"]

109

8. Löse- und Fällungsgleichgewichte

Setzen wir die Gleichgewichtskonzentrationen Löslichkeitsprodukt ein, so erhalten wir LABC = [ A ] • [ B ] • [ C ] = x

3

=

in die Gleichung für das

M^,

mL = (LABC)' = 6.7 • 10"5mol • L"1, einen sehr kleinen Wert, der die Schwerlöslichkeit des Konkrementes eindrucksvoll bestätigt. 8.4 Gekoppelte Salz-Lösung und -Fällung Bisher haben wir uns nur mit der Auflösung von Salzen beschäftigt. Eine Kombination mehrerer Löse- und Fällungsgleichgewichte können wir mit demselben Formalismus ebenso behandeln; hierbei werden wir einige weitere ganz allgemeine Eigenschaften von chemischen Gleichgewichten kennenlernen. Hydroxid-Ionen OH" fällen aus Lösungen, die Silber-Ionen Ag+ enthalten, schwerlösliches braunschwarzes Silberhydroxid AgOH aus. Mit einer Lösung von Chlorid-Ionen kann man eine Umfällung dieses schwerlöslichen Salzes in noch schwerer lösliches weißlich-gelbes Silberchlorid erzwingen: AgOH(S) + Cl~

AgCl(s) + OH-

braunschwarz

(I)

weiß

Diese sogenannte gekoppelte Salz-Lösung und -Fällung (I) können wir in zwei Schritten beschreiben: Silberhydroxid steht im Gleichgewicht mit seinen Ionen (II), und die entstehenden Silber-Ionen können mit anwesenden Chlorid-Ionen ein neues Gleichgewicht mit Silberchlorid einstellen (III). Die beiden Reaktionen lauten: AgOH(S) Ag+ + Cl"

^ ^

Ag+ + OH-

(II)

AgCl(S)

(III)

Wie kann man die Gleichgewichtskonstante Ki für die Gesamtreaktion (I) aus den bekannten Löslichkeitsprodukten der beiden Salze ermitteln? Nach den allgemeinen Regeln schreiben wir

110

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Kl =

W

Reaktion (II) stellt die Dissoziation von Silberhydroxid dar; die Gleichgewichtskonstante der Reaktion ist das Löslichkeitsprodukt von Silberhydroxid: Kn = [Ag+] • [OH"] -

LAg0H

= lO"7 7mol2 • 1":.

Die Reaktion (III) aber ist die Umkehrung der Dissoziation von Silberchlorid; die dazugehörige Gleichgewichtskonstante ist der Kehrwert des Löslichkeitsprodukts von Silberchlorid.

Multiplikation der beiden Teilreaktions-Gleichgewichtskonstanten liefert nach Kürzung durch [Ag+] die Gleichgewichtskonstante der Gesamtreaktion: K n • Km =

= K i = 10l°~7'7 = 1 0 2 3 =

200

Dieser Wert ist wesentlich größer als 1; die gekoppelte Reaktion von schwerlöslichem Silberhydroxid zu dem noch schwerer löslichen Silberchlorid kann daher spontan und sehr weitgehend ablaufen. Wir können aus diesem speziellen Beispiel einige allgemeinen Schlußfolgerungen ziehen: • Bei Umkehr der Richtung einer chemischen Reaktion ergibt sich der Kehrwert der Gleichgewichtskonstante der ursprünglichen Reaktion als neue Gleichgewichtskonstante. • Bei gekoppelten Reaktionen ist die Gleichgewichtskonstante der Gesamtreaktion das Produkt der Gleichgewichtskonstanten der Teilreaktionen. • Bei Kopplung mit einer geeigneten Zweitreaktion kann auch eine Teilreaktion mit sehr kleinem K zu einer Gesamtreaktion mit großem K führen. 8.5 Der Eigenioneneffekt Als Abschluß unserer Betrachtungen zu Löse- und Fällungsreaktionen wollen wir eine Folgerung des Prinzips des kleinsten Zwanges (Prinzip von Le Chatelier)

111

8. Löse- und Fällungsgleichgewichte

beschreiben: Die molare Löslichkeit von BaSC>4 in reinem Wasser haben wir oben bereits berechnet; sie beträgt mLBaS04 = VLBaso4 = TÜr"« = 10"5mol • L 1 . Wie ändert sich die molare Löslichkeit, wenn wir Bariumsulfat in einer Lösung auflösen, die bereits Sulfat-Ionen SO^- enthält, beispielsweise in einer 0.01 M Lösung von Natriumsulfat Na2SC>4 (die Einheit M steht für molare Konzentration, das heißt mol • 1_1) ? Tab. 8.5.1 erläutert die Verhältnisse: Tab. 8.5.1

Löslichkeit von Bariumsulfat in einer 0.01 M Lösung von

t=0

t = GGW

[Ba2+]

0

X

[SOf]

0.01

0.01 + x

Natriumsulfat

Qualitativ können wir vorhersagen, daß die molare Löslichkeit, die in reinem Wasser schon sehr klein ist (10~5M), aufgrund des Le Chatelier-Effektes noch kleiner sein wird. Daher ist die Näherung 0.01 + x = 0.01 sicherlich zulässig. Dann aber gilt LBaso4 = x • (0.01 + x) - 0.01 • x = 10"2 • x, und für die molare Löslichkeit von Bariumsulfat ergibt sich der extrem kleine Wert mL = x =

m-io

= 10~8mol • l" 1 .

Durch den Zusatz von Eigenionen, das sind Ionen, die in der betrachteten Gleichgewichtsreaktion eine Rolle spielen (hier die Sulfat-Ionen), kann die Löslichkeit eines schwerlöslichen Salzes noch wesentlich herabgesetzt werden. Wir werden dem Eigenioneneffekt auch bei den noch zu besprechenden Reaktionstypen begegnen: Bei den Säure-Base-Reaktionen werden wir die Puffersysteme und die Henderson-Hasselbalch'sche Gleichung besprechen, bei Redoxreaktionen die Konzentrationsabhängigkeit elektrochemischer Potentiale und die Nernst'sehe Gleichung - in beiden Fällen spielt der Eigenioneneffekt eine zentrale Rolle.

112

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

9 Säuren und Basen 9.1 Allgemeines Es ist eine Alltagserfahrung, daß gewisse Stoffe sauer schmecken und andere Stoffe einen "seifigen" (alkalischen oder basischen) Charakter haben. Die Definition des Säure-/ Base-Begriffs hat sich im Laufe der Geschichte geändert. Die erste brauchbare Definition gab der schwedische Chemiker Svante Arrhenius: Er bezeichnete als Säure jede Wasserstoffverbindung, die in Wasser positiv geladene Wasserstoff-Ionen (H+-Ionen, Protonen) bilden kann. Analog bezeichnete er als Basen jede Hydroxidverbindung, die in Wasser Hydroxid-Ionen OH" bildet. Wenn eine Säure und eine Base kombiniert werden, kommt es zur sogenannten Neutralisationsreaktion H+ + OH"

H20,

wobei aus den Wasserstoff-Ionen der Säure und den Hydroxid-Ionen der Base Wasser gebildet wird. Diese Definition erwies sich letztlich als zu eng: Insbesondere stellen die Beschränkung des Basenbegriffs auf Hydroxid-Ionen enthaltende Verbindungen und die Einschränkung auf Wasser als Lösungsmittel wesentliche Schwachpunkte der Theorie dar. Der moderne Säure-/ Base-Begriff geht auf Brönsted zurück: Eine Säure ist eine Substanz, die Wasserstoff-Ionen an geeignete Akzeptorsubstanzen abgeben kann. Stoffe, die Wasserstoff-Ionen aufnehmen können, werden als Basen bezeichnet. Die Brönsted'sche Definition orientiert sich nicht so sehr an der Zusammensetzung einer Substanz, sondern an ihren Reaktionsmöglichkeiten. Einige Beispiele seien angeführt: Säure = Protonendonor (HCl, H 2 0, H 3 0 + , NHJ, H 2 S0 4 , HSO4) Die entsprechenden Namen der Verbindungen lauten (in der Reihenfolge): Chlorwasserstoff, Wasser, Hydronium-Ion, Ammonium-Ion, Schwefelsäure, Hydrogensulfat-Ion. Base = Protonenakzeptor (Cl", OH", H 2 0,NH 3 , HSO4, SO4-) Chlorid-Ion, Hydroxid-Ion, Wasser, Ammoniak, Hydrogensulfat-Ion, Sulfat-Ion.

113

9. Säuren und Basen

Bei der Betrachtung dieser Beispiele fällt auf, daß jede Substanz in der Basen-Liste sich von der entsprechenden in der Säure-Liste jeweils durch das Fehlen eines H + Ions unterscheidet. Man nennt derartige Stoffpaare ein konjugiertes Säure-BasePaar. H + -Ionen können in normaler Materie nicht längere Zeit isoliert existieren, weil sie als "nackte" Atomkerne eine extrem hohe Ladungsdichte (Verhältnis Ladung zu Oberfläche) besitzen. Säuren können daher ihre Protonen nur abgeben, wenn Basen anwesend sind, um die Protonen aufzunehmen. Für eine vollständige Säure-BaseReaktion (eine Protolyse) müssen immer zwei konjugierte Säure-Base-Paare (1 und 2) gekoppelt sein: HA(Säurei) + B(Base 2 )

A"(Basei)+ BH+(Säure2).

Im Verlauf einer derartigen Reaktion entstehen also wieder eine Säure (konjugiert zur ursprünglichen Base) und eine Base (konjugiert zur ursprünglichen Säure). Die relative Stärke der beiden Säuren (Basen) bestimmt, wie noch gezeigt werden wird, die Lage des Gleichgewichts. Die Liste der Säuren und Basen enthält auch Stoffe, die sowohl als Säure als auch als Base auftreten können (H 2 0,HS04)- Solche Stoffe bezeichnen wir als Ampholyte (amphotere Stoffe). 9.2 Autoprotolyse des Wassers Obwohl im Wassermolekül nur kovalente Bindungen vorhanden sind, leitet selbst reinstes Wasser in geringem Ausmaß den elektrischen Strom. Der Grund dafür ist der amphotere Charakter des Wassers: Ein Wassermolekül kann als Säure fungieren und an ein weiteres Wassermolekül, das als Base auftritt, ein Proton übertragen. Dabei entstehen gemäß der Gleichung H20 + H20

OH +H3O1+

aus zwei Wassermolekülen ein Hydroxid-Ion und ein Hydronium-Ion . Diese Ionen bewirken die elektrische Leitfähigkeit von reinem Wasser. Das Massenwirkungsgesetz für diese Reaktion (Autoprotolyse, eine Protonenübertragung zwischen Molekülen gleicher Art) lautet K' =

[H 3 Q + ] • [OH ] [H 2 0] 2

114

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Wegen der konstanten Dichte und damit der konstanten Konzentration von flüssigem Wasser kann der Ausdruck [H 2 0] 2 in die Gleichgewichtskonstante miteinbezogen werden, und der resultierende Wert kann experimentell mit Hilfe von Leitfähigkeitsmessungen bestimmt werden: K w = [H 3 0 + ] • [OH - ] = 1.0 • 10"14mol2 • 1~2 (bei 25°C). Diese neue Konstante, die formal aussieht wie ein Löslichkeitsprodukt, bezeichnet man als Ionenprodukt des Wassers K w . In verdünnten wässrigen Lösungen ist das Ionenprodukt des Wassers nicht nur für reines Wasser, sondern auch bei Anwesenheit von Säuren und Basen gültig. Betrachtet man reines Wasser, so muß aufgrund der Autoprotolyse des Wassers die Konzentration der Hydronium-Ionen und der Hydroxid-Ionen exakt gleich groß sein, und zwar [H 3 0 + ] = [OH"] = TlW = 10"7mol • l" 1 . Löst man eine Säure in Wasser auf, so steigt die Hydronium-Konzentration an, da die Säuremoleküle Protonen an die Base Wasser übertragen: [H 3 0 + ] > lO-'mol-l" 1 . Dementsprechend aber muß die Konzentration der Hydroxid-Ionen abnehmen, und zwar so lange, bis das Produkt [H 3 0 + ] • [OH"] = 10"14 beträgt. Umgekehrt ist es bei der Auflösung einer Base in Wasser: Da die nun als Säure fungierenden Wassermoleküle Protonen auf die Base übertragen, steigt die Konzentration der Hydroxid-Ionen an: [OH - ] > 10"7mol • l"1. Dementsprechend muß die Konzentration der Hydronium-Ionen abnehmen, und zwar wiederum so lange, bis das Ionenprodukt des Wassers erfüllt ist. 9.3 Der pH-Wert Um das Rechnen mit Zehnerpotenzen zu vermeiden, führt man wie beim Löslichkeitsprodukt eine logarithmische Transformation der Hydronium- und HydroxidIonenkonzentrationen durch. Wir definieren:

115

9. Säuren und Basen

• Der pH-Wert ist der negative Hydronium-Ionenkonzentration:

dekadische

Logarithmus

der

pH = -log 1 0 [H 3 O + ]. Die Bezeichnung pH stammt vom lateinischen pondus hydrogenii und bedeutet soviel wie Konzentration der Hydronium-Ionen. Zur Aussprache: Es heißt entweder "der pH-Wert" oder "das pH' einer Lösung. Eine analoge Definition gilt für die Konzentration der Hydroxid-Ionen: pOH s -log 10 [OH~], Mit der zusätzlichen Definition pK w = -log 1 0 K w ergibt sich der einfache Zusammenhang pH + pOH = pKw = 14. In dieser Form sieht man die Gegenläufigkeit von pH und pOH: Steigt das pH, so sinkt das pOH, bis die Summe der Werte wieder 14 ergibt. Reines Wasser besitzt ein pH = 7. Also muß für reines Wasser gelten: pOH = 7. Lösungen von Säuren sind durch pH < 7 (entsprechend pOH > 7) charakterisiert. Lösungen von Basen haben ein pH > 7 (und pOH < 7). Die Abb. 9.3.1 zeigt dieses gegenläufige Verhalten.

Abb. 9.3.1

Das gegenläufige Verhalten von pH und pOH.

116

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

9.4 Die Stärke von Säuren und Basen Die wässrigen Lösungen von Chlorwasserstoff HCl oder von Schwefelsäure H2S04reagieren sehr stark sauer, Essigsäure H3C-CO2H dagegen schwach sauer und kann zum Verfeinern von Speisenbenützt werden. Wie kann man Säuren (oder auch Basen) verschiedener Stärke miteinander vergleichen? • Die Basis für die Beurteilung der Stärke einer Säure (Base) ist das chemische Gleichgewicht, welches sich bei der Reaktion dieser Säure (Base) mit einer Standard-Base (Standard-Säure) einstellt. In wässrigen Lösungen wählt man vorteilhaft F^Oals Standard; aufgrund seiner amphoteren Natur kann das Wassermolekül mit Säuren als Base und mit Basen als Säure reagieren. Betrachten wir zuerst die Reaktion einer beliebigen Säure HA (A~ : konjugierte Base) mit der Standard-Base H2O: H 3 0 + + A".

HA + H2O

Die Gleichgewichtskonstante dieser Standardreaktion ist ein Maß für die Säurestärke (die Konzentration [H 2 0] schreiben wir wieder gemäß den Regeln zur Aufstellung des Massenwirkungsgesetzes nicht explizit an): K

[H 3 Q + ][A-]_ [HA] =Ks(Ka)-

Diese spezielle Gleichgewichtskonstante wird als Säurekonstante bezeichnet (der Index S steht für "Säure", der auch gebräuchliche Index a bedeutet "acid": englisch für "Säure"). Ks hat für jede Säure bei konstanter Temperatur einen charakteristischen Wert. Zur Vereinfachung der Rechnungen definieren wir: pK s s - l o g 1 0 K s . Ganz analog gestaltet sich die mathematische Behandlung der Reaktion einer beliebigen Base B (BH+ : konjugierte Säure) mit der Standard-Säure H2O: B + H2O

5=t

BH+ + OH-

Die Gleichgewichtskonstante dieser Standardreaktion ist ein Maß für die Basenstärke:

117

9. Säuren und Basen

K -

^

- = KB(Kb).

Diese spezielle Gleichgewichtskonstante wird als Basenkonstante bezeichnet (der Index B steht für "Base", b für englisch "base"). KB besitzt für jede Base bei konstanter Temperatur einen charakteristischen Wert. Zur Vereinfachung der Rechnungen definieren wir: pKB =-log 1 0 K B . Bei starken Säuren gilt Ks > 1 (pKs < 0), bei schwachen Säuren dagegen ist Ks < 1 (pKs > 0). (Bei Basen gelten analoge Zusammenhänge für KB und pKB.) 9.5 Zusammenhang zwischen Säurekonstante und Basenkonstante bei einem konjugierten (korrespondierenden) Säure-Base-Paar Wenn man die Säurekonstante Ks für eine beliebige Säure HA HA+H2O

.—• H3O++A-

kennt, so kann man die Basenkonstante K B für die konjugierte Base A~ A +H2O

.

• HA + OH"

berechnen (man beachte, daß diese Reaktion nicht die Umkehrung der Reaktion der Säure mit Wasser ist!). Zuerst schreiben wir das Massenwirkungsgesetz für die Reaktion der Base A" mit H2O gemäß den Regeln: „

Kb(A-) =

[HA] • [OH-] ^



Diesen Ausdruck dürfen wir entsprechend den mathematischen Grundregeln erweitern, das heißt, wir multiplizieren den Zähler und den Nenner mit dem gleichen Faktor,für den wir die Konzentration der Hydronium-Ionen wählen: „

Kb(A-) -

[HA] • [OH ] [H3Q+] ^

Durch geschicktes Zusammenfassen erhalten wir

118

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Der erste Ausdruck ist aber gerade der Kehrwert des Massenwirkungsgesetzes für die Reaktion von HA mit H 2 0 , also gleich

— , und das Produkt der beiden K-s(ha)

noch übrigen Konzentrationen haben wir bereits als K w kennengelernt. Daher gilt: Kw bzw. Ks(ha) • Kb(a-) = KwKb(a-) = K-S(ha) Das heißt: • Die Stärke einer Säure ist umgekehrt proportional der Stärke ihrer konjugierten Base, beziehungsweise das Produkt der Säurekonstante einer Säure und der Basenkonstante ihrer konjugierten Base ist gleich dem Ionenprodukt des Wassers. Eine besonders einfache Schreibweise dieses Zusammenhanges liefert die logarithmische Transformation pKs + pKß = pK w = 14. Dieses Ergebnis ist sehr wichtig. Es hat zur Folge, daß die konjugierte Base einer starken Säure eine extrem schwache Base ist. Salzsäure etwa (eine wässrige Lösung von Chlorwasserstoff HCl) ist eine sehr starke Säure: KS(hcd = 1000 = 10 3 und pKs(Hci) = - 3 . Daher ist das Chlorid-Ion, die zu Chlorwasserstoff konjugierte Base, extrem schwach, so schwach, daß es mit Wasser überhaupt nicht reagiert und wässrige Lösungen von Chloriden daher völlig neutral reagieren: 17 PKb(ci-) = 14-pKs(Hco = 17 und KB(ci ) = 10" . Im Gegensatz dazu ist die konjugierte Base einer schwachen Säure eine schwache Base und die konjugierte Base einer sehr schwachen Säure eine relativ starke Base. Allgemein gilt: • Je schwächer sauer eine Säure ist, desto stärker basisch ist die dazu konjugierte Base. Die Blausäure etwa ist eine sehr schwache Säure mit KS(hcn) = 10"94 und PKs(hcn) = 9.4; die dazu konjugierte Base, das Cyanid-Ion, ist deutlich basisch: Kb(cn-) = 10 -4 6 und pKB(HCN) = 4.6, das ist sogar stärker basisch als Ammoniak.

119

9. Säuren und Basen

Klassifiziert man Säuren nach ihrer Stärke, so werden häufig folgende Bereiche unterschieden (wobei die folgende Einteilung nur ein sehr grobes, ungefähres Schema darstellen soll): Starke Säuren: Hierzu gehören insbesondere die sogenannten Mineralsäuren, deren Salze als Minerale wesentlich zum Aufbau der festen Erdkruste beitragen: Säure HA Perchlorsäure HCIO4

pKs

pK B

—9

konjugierte Base A Perchlorat CIO4

Salzsäure HCl

—3

Chlorid Cl"

~ 17

Schwefelsäure H2SO4

--3

Hydrogensulfat HSO4

~ 17

Salpetersäure HNO3

-1.32

Nitrat NO3

15.32

-23

Mittelstarke Säuren: In dieser Klasse finden sich Säuren mit einem pKs-Wert zwischen 0 und etwa 4.5: Hydrogensulfat HSO4

1.92

Sulfat SO4"

12.08

Phosphorsäure H3PO4

1.96

Dihydrogenphosphat H2PO4

12.04

salpetrige Säure HN0 2

3.35

Nitrit NO2

10.65

Schwache Säuren: Hier finden sich die meisten organischen und einige anorganische Säuren: Essigsäure H3CCO2H Kohlensäure H2CO3 Schwefelwasserstoff H 2 S Ammonium-Ion NH4 Blausäure HCN Wasser H 2 0

4.75 6.35 7.00

Acetat H3CCO2 Hydrogencarbonat HCO3

9.25 9.40

Hydrogensulfid HS" Ammoniak NH3 Cyanid CN"

15.75

Hydroxid OH~

9.25 7.65 7.00 4.75 4.60 - 1.75

Einige wichtige Tatsachen sind aus dieser exemplarischen Aufstellung ersichtlich:

120

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

• Es gibt Neutralsäuren, Anionsäuren (negativ geladen) und Kationsäuren (positiv geladen). • Eine Anionsäure (Beispiel Hydrogensulfat) ist schwächer als die entsprechende Neutralsäure (Beispiel Schwefelsäure), da die negative Ladung die Abgabe eines Protons erschwert. • Die Säurestärke von Wasserstoffverbindungen nimmt innerhalb einer Periode des Periodensystems zu (Beispiel: Chlorwasserstoff ist stärker als Schwefelwasserstoff). • Die Säurestärke von Wasserstoffverbindungen nimmt innerhalb einer Gruppe des Periodensystems zu (Beispiel: Schwefelwasserstoff ist stärker sauer als Wasser). • Bei Sauerstoffsäuren der allgemeinen Formel HxEOy (E: ein Element) ist die Säurestärke umso größer, je mehr Sauerstoffatome im Molekül sind (Beispiel: Salpetersäure ist stärker als salpetrige Säure). • Die Stärke von Sauerstoffsäuren nimmt innerhalb einer Periode des Periodensystems zu (Beispiel: Perchlorsäure ist stärker als Schwefelsäure, und diese ist stärker als Phosphorsäure). • Die Stärke von Sauerstoffsäuren nimmt innerhalb einer Gruppe des Periodensystems von oben nach unten ab (Beispiel: Phosphorsäure ist schwächer als Salpetersäure). 9.6 Die Berechnung von pH-Werten Die Berechnung des pH-Wertes einer wässrigen Lösung einer Säure oder einer Base (oder auch eines Gemisches aus Säuren und Basen) spielt eine wichtige Rolle, da bei Kenntnis des pH-Wertes die Konzentration aller übrigen Teilchensorten berechnet werden kann. Die Kenntnis der zugrundeliegenden Formeln ist daher sehr wichtig. Wir betrachten zuerst die Dissoziation von Säuren. Eine einbasige Säure HA (nur ein Proton kann abgegeben werden) wird in reinem Wasser gelöst; die Totalkonzentration der Säure (dissoziierter und undissoziierter Teil) sei c§. Das Massenwirkungsgesetz für die Dissoziationsreaktion lautet

9. Säuren und Basen Ks =

121

[H 3 0+] • [A-] [HA]

Wir unterscheiden zwei Fälle. Die einfachere Situation liegt vor, wenn es sich um eine starke Säure handelt. Wie in Kapitel 8 erleichtert eine tabellarische Vorgangsweise den Rechenvorgang (Tab. 9.6.1). Wir nehmen an, daß nach der fast vollständigen Dissoziation der Säure HA nur mehr ein sehr kleiner Anteil x undissozierter HA-Moleküle vorliegen soll. Dann ergibt sich folgendes Schema: Tab. 9.6.1

Dissoziationsgleichgewicht

einer starken einbasigen

Säure.

t=0

t = GGW

[H 3 o + ]

0

c°s-x

[A-]

0

Cs-X

[HA]

c°s

X

Setzen wir die Gleichgewichtskonzentrationen (Spalte t=GGW) in das Massenwirkungsgesetz ein, so ergibt sich 2

o Ks-

^

.

Wollen wir diesen Ausdruck nach x auflösen, so erhalten wir eine quadratische Gleichung. Allerdings können wir uns durch geschickte Wahl der Unbekannten x die exakte Auflösung der quadratischen Gleichung ersparen: Wenn wir berücksichtigen, daß eine starke Säure in Wasser praktisch vollständig in Ionen dissoziiert ist, daß also die Konzentration x der im Gleichgewicht noch vorliegenden undissoziierten HA-Moleküle sehr viel kleiner sein muß als die Totalkonzentration der Säure: X « Cs , dann können wir näherungsweise schreiben:

122

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Das heißt, wir treffen die Annahme: • Bei der Dissoziation einer starken einbasigen Säure ist die Konzentration der H 3 O I o n e n im chemischen Gleichgewicht ebenso wie die Konzentration der konjugierten Base A" praktisch gleich der Totalkonzentration der Säure: [H 3 0 + ] = [A-]«c£ . Das pH der Lösung ist also pH = -logc°. Die Konzentration an undissoziierter Säure im chemischen Gleichgewicht ist durch Umformung der Gleichung für Ks dann auch näherungsweise berechenbar: [HA] -

(Ps)

.

Ein Beispiel soll diese Berechnungen veranschaulichen: Wir berechnen das pH einer 0.01 M (anders geschrieben: 10"2M) Lösung der sehr starken Säure Chlorwasserstoff HCl ( Ks = 1000, pK s = -3): pH = -log 1Q 0.01 =+2 und [HCl] =

103

= 10"7mol • H .

Der Bruchteil der undissoziierten HCl-Moleküle, verglichen mit der Totalkonzentration 0.01 M, ist tatsächlich winzig; er beträgt mit ^

=

= io-7- Na + + e". Jedes Chlor-Atom nimmt ein Elektron auf und wird zu einem einfach negativ geladenen Chlorid-Ion reduziert. Die Teilgleichung der Reduktion ist somit Cl 2 + 2e" ->2C1"

141

10. Oxidation und Reduktion

Für die Aufstellung der korrekten Gesamtreaktion aus den beiden Teilgleichungen beachten wir, daß die Oxidation soviele Elektronen liefern muß wie in der Reduktion konsumiert werden; wir müssen also die Halbreaktion der Oxidation mit dem Faktor 2 multiplizieren und erhalten, da sich nun die Elektronen links und rechts des Reaktionspfeils "aufheben", als Gesamtgleichung 2Na + CI2 —> 2Na+ + 2C1". Wie bei Säure-Base-Reaktionen führen wir den zentralen Begriff des konjugierten (korrespondierenden) Redoxpaares ein: Dies sind Stoffpaare, die sich nur durch die Zahl ihrer Elektronen unterscheiden. Bei dem Beispiel der Reaktion zwischen Natrium und Chlor bilden Na/Na+ und 2Cr/Cl 2 zwei konjugierte Redoxpaare. Eine Halbreaktion kann daher immer in der allgemeinen Form oxidierte Form + z Elektronen


S O ^ Die unterschiedlichen Oxidationszahlen links und rechts werden nun durch eine der Differenz entsprechende Elektronenanzahl ausgeglichen: so ist etwa bei der ersten Teilreaktion die Oxidationszahl des Permanganat-Ions (+7) um +5 größer als für das Mangan-Kation (+2); daher fügen wir auf der Permanganat-Seite 5 Elektronen hinzu. Analog müssen wir bei der zweiten Teilreaktion 2 Elektronen auf der Seite des Sulfat-Ions schreiben: MnÜ4 + 5e~ - » Mn 2+ S O ^ - > S O f + 2e" Beide Teilgleichungen sind noch nicht wirklich korrekte "Gleichungen" in dem Sinne, daß links und rechts vom Reaktionspfeil Gleichheit der Atome und der Ladungen herrscht. Wir führen nun eine Bilanzierung der verschiedenen Atome durch, und hierbei machen wir Gebrauch von der Tatsache, daß die betrachtete Reaktion ja in wässrigem Milieu abläuft. Wir gleichen zunächst die Zahl der Sauerstoffe links und rechts aus, wobei wir H20-Moleküle benützen: MnO^ + 5e~

Mn 2+ + 4 H 2 0

SO^ - + H2O —» S O ^ + 2e~ Die noch fehlende Bilanzierung der Wasserstoff-Atome gelingt mittels Protonen: MnOj + 5e~ + 8H+

Mn 2+ + 4 H 2 0

SO3- + H 2 0 - » SO4" + 2e" + 2H + Als Abschluß kontrollieren wir die Ladungsbilanz: Wenn die bisherigen Schritte korrekt durchgeführt wurden, so muß - wie es in unserem Beispiel auch der Fall ist - die Ladungsbilanz stimmen.

146

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Die korrekten Teilgleichungen können wir kombinieren und gelangen so zur Gesamtreaktionsgleichung. Dabei machen wir von der physikalisch-chemischen Tatsache Gebrauch, daß freie Elektronen instabil sind, daß also die Teilgleichung der Oxidation der Sulfit-Ionen gerade soviel Elektronen liefern muß, wie in der Teilgleichung der Reduktion der Permanganat-Ionen verbraucht werden. Wir ermitteln das kleinste gemeinsame Vielfache der stöchiometrischen Koeffizienten, die in den Teilgleichungen die Zahl der Elektronen angeben. Diese Koeffizienten sind 2 und 5; das kleinste gemeinsame Vielfache ist 10. Wir erweitern beide Teilgleichungen mit Faktoren, die wir so wählen, daß die Zahl der Elektronen gleich dem kleinsten gemeinsamen Vielfachen wird: 2MnC>4 + 16H+ + lOe" -> 2Mn2+ + 8H 2 0 5SO3" + 5H 2 0

5SO4- + 10H+ + 10e"

Diese erweiterten Teilgleichungen werden kombiniert und Reaktionsteilnehmer, die auf der linken und auf der rechten Seite aufscheinen, werden eliminiert: 2MnC>4 + 6H+ + 5SO3"

2Mn2+ + 5SO4" + 3H 2 0

Dies ist die gesuchte stöchiometrisch korrekte Gesamtreaktionsgleichung. In ganz analoger Weise können wir beim Aufstellen korrekter Redoxgleichungen vorgehen, wenn die Reaktion in einem basischen Milieu verläuft. Als Beispiel behandeln wir die Redox-Disproportionierung von Chlor (Oxidationszahl des Chlor gleich Null), welches in basischer Lösung in zwei Stoffe mit unterschiedlichen Oxidationszahlen disproportioniert, nämlich Chlorid-Ionen Cl" (Oxidationszahl = - 1 ) und Hypochlorit-Ionen CIO" (Oxidationszahl = +1): *

(Noch unvollständige) Reaktionsgleichung: [OH"]

Cl2 -> Cl/ClO". *

Trennung in Halbreaktionen und Festlegung der Oxidationszahlen: 0 -1 Cl2 —> 2 Cl : Reduktion von Chlor 0 +1 Cl2 -> 2 Cl O": Oxidation von Chlor

*

Ausgleich der Oxidationszahlen mit Elektronen: Cl2 + 2e" —> 2C1"

(Die Halbreaktion der Reduktion ist nun eine korrekte chemische Gleichung).

147

10. Oxidation und Reduktion

CI2 —» 2C10" + 2e" *

Sauerstoff-Bilanz (nur bei der Oxidations-Halbreaktion notwendig): CI2 + 2H 2 0 —» 2C10" + 2e~

*

Wasserstoff-Bilanz (nur bei der Oxidations-Halbreaktion notwendig): Cl2 + 2H 2 0 -» 2C10" + 2e~ + 4H+

Da die Reaktion in alkalischem Milieu stattfindet, fügen wir auf beiden Seiten der Reaktionsgleichung gerade soviel Hydroxid-Ionen hinzu, daß die Protonen zu Wasser neutralisiert werden (in diesem Beispiel sind 4 O H - - Ionen nötig): Cl2 + 2H 2 0 + 40H" -> 2C10" + 2e" + 4H 2 0 Zwei H2O-Moleküle dürfen auf beiden Seiten subtrahieren werden: Cl2 + 40H" -> 2C10" + 2e~ + 2H 2 0 Die beiden Halbreaktionen, in denen bereits gleich viele Elektronen erscheinen, dürfen addiert werden: 2C12 + 40H"

2C1" + 2C10" + 2H 2 0,

und nach Division der stöchiometrischen Faktoren durch 2 erhalten wir Cl2 + 20H-

Cl- + CIO- + H 2 0 .

als korrekte Reaktionsgleichung für die Gesamtreaktion. 10.4 Rationelle Nomenklatur von Sauerstoffsäuren und deren Anionen Im obigen Beispiel lernten wir das Hypochlorit-Ion kennen. Es ist ein Vertreter einer Klasse von Verbindungen, die als Sauerstoffsäuren (allgemein: H n XO m ) und deren konjugierte Basen (Anionen XO^-) bezeichnet werden. Das Konzept der Oxidationszahl erlaubt eine rationelle Nomenklatur derartiger Stoffe, die einfacher ist als die herkömmliche Benennungsweise. Traditionell nennt man die stabilste Sauerstoffsäure eines Elements "Element"- Säure. So heißt etwa H3PO 4 Phosphorsäure, H 2 S04 Schwefelsäure und HCIO3 Chlorsäure. Eine Ausnahme bildet HNO3, die nicht Stickstoffsäure, sondern aus historischen Gründen Salpetersäure heißt. Die konjugierten Basen dieser Säuren werden nach dem Wortstamm des lateinischen Elementnamens unter Beifügung der Endung

148

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

-at benannt: PO4 heißt Phosphat, SO4 ist Sulfat (von sulfur, Schwefel), C10 3 ist Chlorat, und NOJ wird als Nitrat bezeichnet (von nitrogenium, Stickstoff). Sauerstoffsäuren, die ein Sauerstoffatom weniger enthalten als diese Elementsäuren, tragen im Namen die Endung -ige, die Bezeichnungen ihrer konjugierten Basen enden auf -it: PhPC^ist phosphorige Säure, H2SO3 schwefelige Säure, HCIO2 chlorige Säure, und HNCMst salpetrige Säure. Die Salze nennt man Phosphit, Sulfit, Chlorit und Nitrit. Sauerstoffsäuren mit noch einem Sauerstoffatom weniger werden durch die Vorsilbe Hypo- gekennzeichnet, ihre Anionen ebenfalls: Ein Beispiel ist HCIO, die hypochlorige Säure, und ihre konjugierte Base CIO", das Hypochlorit. Sauerstoffsäuren mit einem Sauerstoffatom mehr als die Element-Säure werden durch die Vorsilbe Per- gekennzeichnet; ebenso ihre Anionen: Ein Beispiel ist HCIO4, die Perchlor säure, und ihre konjugierte Base CIO4, das Perchlorat. (Wichtig ist die Unterscheidung der Endungen -it und -id bei den Salzen: auf -id enden die Namen der konjugierten Basen der Wasserstoffverbindungen der Elemente, die keinen Sauerstoff enthalten: Beispiele dafür sind Nitrid N3~, Oxid 02~, Fluorid F", Phosphid P 3 ", Sulfid S 2_ und Chlorid Cl"). Mit dem Konzept der Oxidationszahlen vereinfacht sich die Nomenklatur der Sauerstoffsäuren und ihrer konjugierten Basen erheblich: Wir bilden den Namen der Säure aus dem Elementnamen und -säure und ergänzen durch Angabe der Oxidationszahl des Elements (in nachgestellter Klammer mit römischen Zahlzeichen). So heißt H2SC>4Schwefelsäure-(VI), H2SO3 Schwefelsäure(IV). Die Namen der konjugierten Basen setzen sich aus dem Wortstamm des lateinischen Elementnamens, einem nachgestellten -at und der Angabe der Oxitationzahl zusammen. CIO4 ist Chlorat-(VII), und CIO" heißt Chlorat-(I). 10.5 Elektrochemische Spannungsreihe Kombiniert man zwei konjugierte Redoxpaare, so liefert das Redoxpaar mit der höheren Tendenz, Elektronen abzugeben, Elektronen an das zweite Redoxpaar. Diese Tendenz zur Elektronenabgabe eines Redoxsystems bezeichnet man als sein Potential (Symbol E). Es ist, ähnlich der Säurekonstante oder der Basenkonstante bei Säure-Base-Reaktionen, ein quantitatives Maß für die Stärke eines Oxidations- oder Reduktionsmittels. Vereinbarungsgemäß ordnet man dem Redoxpaar, das die höhere Tendenz zur Elektronenabgabe besitzt, ein negativeres Potential zu. Damit fließen in der Reaktion (Red und Ox stehen für die reduzierte und oxidierte Form eines konjugierten Redoxpaares)

10. Oxidation und Reduktion

149

ze

Redi/Oxi ->Red 2 /Ox 2 die Elektronen stets vom negativeren zum positiveren Potential. (Die Zahl der bei der Reaktion umgesetzten Elektronen ist wiederum durch z bezeichnet.) Bei Säure-Base-Reaktionen müssen sich stets das konjugierte Säure-Base-Paar, das Protonen abgibt, in derselben Lösung befinden wie das konjugierte Säure-BasePaar, das Protonen aufnimmt. Im Gegensatz dazu kann man die konjugierten Redoxpaare (die Halbreaktionen) bei einer Redoxreaktion räumlich trennen, da die übertragenen Elektronen durch einen elektrischen Leiter, beispielsweise durch einen Metalldraht, ausgetauscht werden können. Voraussetzung für einen derartigen Elektronenfluß (einen elektrischen Strom) ist die unterschiedliche Neigung zur Elektronenabgabe der beiden Halbreaktionen, die Potentialdifferenz. Diese bezeichnet man auch als elektromotorische Kraft (EMK); ihr Symbol ist AE. Eine wichtige Gleichung verknüpft diese Größe mit der freien Enthalpieänderung einer Reaktion: AG = - z F AE

F steht für die Faradoy-Konstante, eine wichtige Naturkonstante, deren Zahlenwert F = 96487Coulomb • mol"1 beträgt. Wie kommt das Potential E zustande? Am einfachsten ist die Erklärung für die Vorgänge, die sich beim Eintauchen eines Metalls M ("Elektrode") in eine Lösung, die Kationen dieses Metalls enthält, abspielen. In der Grenzschicht zwischen dem festen Metallstab und der Lösung findet ein chemisches Gleichgewicht statt: M

«

Mz+ + ze~

Je nach dem sogenannten "Lösungsdruck" des Metalls können Metall-Kationen aus dem metallischen Kristallgitter in Lösung gehen. Dabei lädt sich die Elektrode negativ auf, da die entsprechenden Elektronen im Metall zurückbleiben. Andererseits können auch Kationen aus der Lösung wieder in das Metall zurück gehen. Es wird sich sehr schnell ein dynamisches Gleichgewicht einstellen, wobei in der Zeiteinheit gleichviele Metallkationen aus dem Metall in die Lösung diffundieren wie aus der Lösung zurück in das Metall eingebaut werden. Wenn die Metallkationen eine hohe Elektronenaffinität (und einen kleinen Lösungsdruck) besitzen ("edlere Metalle"), so wird die Metalloberfläche (Elektrodenoberfläche) positiv geladen; wenn eher Kationen aus dem Metall in Lösung gehen ("unedlere Metalle"), so resultiert

150

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

eine negative Ladung der Elektrode. Eine derartige Halbzelle ist im eigentlichen Sinn die Realisierung der oben angeschriebenen Redox-Teilreaktion. Interessant sind derartige Vorgänge insbesondere dann, wenn ein unedleres Metall, etwa ein Zink-Stab, in eine Lösung eintaucht, die Kationen eines edleren Metalls enthält, beispielsweise eine Lösung von Kupfersulfat CUSO4, die Cu 2 + -Ionen enthält. Abb. 10.5.1 zeigt schematisch, was passiert.

Abb. 10.5.1

Vorgänge eintaucht.

an einem Zinkstab,

der in eine Lösung

mit

Cu-(lI)-Ionen

Aufgrund des relativ hohen Lösungsdruckes des Zinks gehen Zn 2 + -Kationen in Lösung. Der Zinkstab lädt sich dabei negativ auf, und dieser Elektronenüberschuß führt dazu, daß Cu 2 + -Kationen am festen Zinkstab reduziert werden und sich als metallisches Kupfer niederschlagen. Dieser Vorgang der Auflösung des Zinkstabes und der Abscheidung des Kupfers geht aufgrund der hohen Potentialdifferenz der beiden konjugierten Redoxpaare Cu 2+ /Cu und Zn 2+ /Zn so lange vor sich, bis praktisch alle Cu 2 + -Ionen reduziert sind.

10. Oxidation und Reduktion

151

Im gerade betrachteten Beispiel sind beide konjugierten Redoxpaare in derselben Lösung anwesend. Wie oben angedeutet, können wir eine solche vollständige Redoxreaktion Cu 2+ + Zn —» Cu + Zn 2+ auch räumlich in die Halbreaktionen Zn

Zn 2+ + 2e~

Cu 2+ + 2e~ -> Cu trennen. Dies geschieht in folgender Anordnung (Abb. 10.5.2)

0 Elektronenfluß

elektrisches Meßgerät

Stromschlüssel

Cu-Stab

Abb. 10.5.2

Ein galvanisches

Element

Koppelt man die zwei Halbzellen elektrisch leitend miteinander, die die oben beschriebenen Halbreaktionen realisieren, so fließt wegen des zwischen den Redoxpaaren bestehenden Potentialunterschiedes ("Spannung") elektrischer Strom, und

152

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

zwar fließen Elektronen von der unedleren Zink- zur edleren Kupferelektrode. An der Kupferelektrode werden somit Kupferionen entladen durch Elektronen, die an der Zinkelektrode freiwerden, weil Zink in Lösung geht. Eine derartige Anordnung, die auch durch die Kurzschreibweise Cu2+/Cu//Zn/Zn2+ beschrieben werden kann, nennt man galvanisches Element. Die Funktion des "Stromschlüssels", eines mit einer Salzlösung gefüllten und an beiden Enden offenen Glasrohres, ist es, eine elektrische Aufladung der beiden Lösungen zu verhindern, da diese die Reaktion sehr schnell beenden würde; der Stromschlüssel ("Salzbrücke") gewährleistet die Ionenleitung zwischen beiden Gefäßen. Potentiale von Halbelementen werden mit einer Bezugselektrode gemessen, deren Potential willkürlich gleich Null gesetzt wird: Diese Elektrode realisiert die Halbreaktion H + + e~

2^2 •

Ihr Aufbau ist in Abb. 10.5.3 beschrieben.

r H2-Gas Stromschlüssel

I Platinelektrode H^Lösung (1 m o l / L i t e r ) Abb.10.5.3

Schematischer Aufbau der

Normalwasserstoff-Elektrode

J

153

10. Oxidation und Reduktion

Diese Normalwasserstoff-Elektrode besteht aus einer 1-molaren Lösung von Hydronium-Ionen (pH = 0.0), in die ein Platindraht mit einer Platinelektrode eintaucht, die von feinverteiltem Platin überzogen ist. Diese Elektrode wird von Wasserstoffgas bei einem Druck von 101325 Pa umspült. Wasserstoffgas hat die Eigenschaft, sich an der Oberfläche bestimmter Edelmetalle (insbesondere Platin und Palladium) zu lösen. Man erhält auf diesem Wege quasi eine feste WasserstoffElektrode; das Platin nimmt an der Reaktion nicht teil. Das Potential E einer Elektrode, das bei 25 °C und 1 molarer Konzentration aller Reaktionsteilnehmer gegen die Normalwasserstoff-Elektrode gemessen wird, heißt Normalpotential E°. Die Normalwasserstoff-Elektrode hat definitionsgemäß ein Normalpotential von E

H+/iH2-0Volt-

Für eine beliebige Elektrode kann man über eine Spannungsmessung (Voltmeter) das Potential ermitteln: T T_pO c0 u - ^-OxTRed - ^h+^H;,

-

_c0 ^Ox/Red •

Man nennt die sich experimentell ergebenden elektrischen Spannungen U, wenn die Temperatur 25°C beträgt und die Redox-Partner in 1 M Konzentration vorliegen, Normal- oder Standardpotentiale. Übereinkunftsgemäß haben Redoxpaare mit hoher Elektronenabgabetendenz ein negatives, solche mit niedriger Elektronenabgabetendenz ein positives Standardpotential (Elektronen fließen von der negativeren oder unedleren Elektrode zur positiveren oder edleren). Ordnet man alle Redoxpaare nach steigendem Normalpotential, so resultiert die elektrochemische Spannungsreihe. In dieser Anordnung der verschiedenen konjugierten Redoxpaare stehen die unedleren Systeme, also diejenigen mit hoher Elektronenabgabetendenz, oben, während die edleren Systeme, die eine große Tendenz besitzen, Elektronen aufzunehmen, sich am unteren Ende befinden. Die Grenze zwischen negativen und positiven Normalpotentialen bildet das konjugierte Redoxpaar H + / 1 h 2 . Diese Auflistung erlaubt die Vorhersage, ob eine Redoxreaktion zwischen zwei Redoxpaaren möglich ist. Beispielsweise kann das Redoxpaar Zn/Zn2+ das Redoxpaar Ag/Ag+ reduzieren, da es in der Spannungsreihe weiter oben steht. Das heißt, ein Zinkstab wird sich in einer Ag + -Lösung so lange auflösen, bis die Lösung frei von Ag + -Ionen ist.

154

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Tab. 10.5.1

Redoxpaar Li/Li+ K/K+ Ca/Ca2+ Na/Na+ Mg/Mg2+ Al/Al3+ Zn/Zn2+ Fe/Fe2+ Pt/H2/2H+ Cu/Cu2+ 2I-/I 2 Ag/Ag+ Hg/Hg2+ 2Br/Br 2 2H 2 0/0 2 2Cr 3+ /Cr 2 0^ 2C1-/C12 Mn2+/Mn04

Die elektrochemische

Spannungsreihe

Reaktion Li+ + e" Li + K + e" —> K Ca2+ + 2e~ —» Ca Na+ + e" —> Na Mg2+ + 2e~ Mg 3+ Al + 3e-->Al Zn2+ + 2e~ —» Zn Fe2+ + 2e~ —» Fe 2H+ + 2e~ —» H2 Cu2+ + 2e~ —> Cu I2 + 2e" 21+ Ag + e~ —> Ag Hg2+ + 2e~ —> Hg Br2 + 2e~ -> 2Br" O2 + 4H+ + 4e~ —» 2H2O C r 2 0 ^ + 14H+ + 6e- -> 2Cr3+ + 7H 2 0 CI2 + 2e_ —> 2C1" Mn04 + 8H+ + 5e" -> Mn2+ + 4H 2 0

E°(Volt) -3.05 -2.93 -2.87 -2.71 -2.36 -1.66 -0.76 -0.44 0.000 +0.34 +0.54 +0.80 +0.85 +1.07 +1.24 +1.33 +1.36 +1.51

10.6 Elektrochemische Reaktionen und chemisches Gleichgewicht Das Normalpotential eines gegebenen Redoxpaares liegt nur dann vor, wenn die Temperatur 25°C beträgt und alle Konzentrationen 1-molar sind. Abweichungen von diesen Standardbedingungen haben Änderungen des Potentials zufolge. Kombinieren wir daher etwa zwei Cu/Cu2+-Halbzellen (Kupferstäbe tauchen in Lösungen mit Cu 2+ -Ionen ein) mit unterschiedlichen Konzentrationen der Cu 2+ -Ionen, resultiert trotz chemisch gleichartiger Natur der beiden Elektroden eine Konzentrationsspannung, die - wenn wir Stromfluß erlauben - letztlich zum Konzentrationsausgleich in beiden Halbelementen führt. Das Potential ist also konzentrationsabhängig. Grundsätzlich gilt für die Abhängigkeit des Potentials eines beliebigen Halbelementes die Nernst'sche Gleichung:

155

10. Oxidation und Reduktion

E = E° + ^ l n - [ 0 x ] z • F [Red] Dabei ist R die Allgemeine Gaskonstante, T die absolute Temperatur, z die Zahl der pro Formelumsatz umgesetzten Elektronen und F = 96487 C • mol -1 , die Faradaykonstante. In bezeichnet den Logarithmus

naturalis.

Nach Umrechnung auf den dekadischen Logarithmus und Einsetzen der Konstanten R und F können wir bei 25°C (=298 K) auch schreiben E = Eo +

0059 JO*L * + 7. l o1 g0 S i o [ R e d r

Kombiniert man zwei Halbelemente zu einem galvanischen Element, so ist die Differenz AE der beiden Elektrodenpotentiale gleich der gemessenen Spannung U (auch EMK, elektromotorische Kraft) und es gilt AG = - z F AE . Bei Standardbedingungen folgt daraus einerseits AG0 = —z • F • AE°, andererseits kennen wir aus der Thermodynamik den Zusammenhang zwischen der Gleichgewichtskonstante K und der Änderung der freien Standardenthalpie: AG° = - R T lnK . Daher besteht ein Zusammenhang zwischen dem Unterschied der Normalpotentiale der beiden Redoxpaare und dem chemischen Gleichgewicht: lnK = £ ^ A E ° , b z w . RT log10K = ^

• AE°, und schließlich K = 1 0 ^ ^ ° .

Dieser Zusammenhang ist außerordentlich wichtig, gestattet er doch, aus bequem zugänglichen elektrischen Meßgrößen Gleichgewichtskonstanten, die auf anderem Wege oft nur sehr schwer meßbar sind, zu bestimmen. Als Beispiel wollen wir die Gleichgewichtskonstante für das oben beschriebene galvanische Element Cu2+/Cu//Zn/Zn2+ berechnen. Die Normalpotentiale der zugrundeliegenden konjugierten Redoxsysteme entnehmen wir der elektrochemischen Spannungsreihe:

156

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

EL-/zn = "0.76V Ecu-/cu = 0-34V Somit ist die Änderung der Normalpotentiale für die Gesamtreaktion AE° = 0.34-(-0.76) = 1.10V. Damit kann die Gleichgewichtskonstante für die Redoxreaktion Cu2+ + Zn —» Cu + Zn2+ berechnet werden (z = 2): K = ^ - P2+- = 105^ 1 10 = 1036-67 » 5 • 10 36 . [Cu ] Dieser Wert ist unvorstellbar hoch: Die Reaktion läuft so lange, bis Gleichgewicht eintritt. Dies ist dann der Fall, wenn die Konzentration der Zn 2+ -Ionen um den Faktor der Gleichgewichtskonstante größer ist als die Konzentration der Cu 2+ -Ionen. Bedenken wir, daß ein Mol "nur" etwa 6 • 1023 Teilchen sind, so folgt, daß wir im 5 - 1036 chemischen Gleichgewicht in etwa « 1013 Liter einer 1 M Zn 2+ -Lösung (das sind 10 Billionen Liter) ein einziges Cu 2+ -Ion antreffen würden. Das heißt, die Reaktion läuft vollständig ab; der Zinkstab löst sich solange auf, bis alle KupferIonen restlos zu metallischem Kupfer reduziert sind. Die Umkehr-Reaktion Zn2+ + Cu —» Zn + Cu 2+ , tritt demzufolge also praktisch nicht ein. Ihre Gleichgewichtskonstante ist ja gerade der Kehrwert K ~ 0.2 • 10"36; ein Kupferstab, eingetaucht in eine Zinksalzlösung, wird also von der Lösung überhaupt nicht angegriffen. Mit Hilfe dieser Zusammenhänge kann man somit feststellen, ob ein Redoxvorgang tatsächlich möglich ist. Aufgrund des Normalpotentials des Wasserstoffs, Eh2/2h+ = 0 Volt gilt zum Beispiel, daß alle Metalle, die in der Spannungsreihe ein negatives Normalpotential besitzen, in 1-molarer Säure löslich sind. In reinem Wasser jedoch finden wir für die Reaktion

157

10. Oxidation und Reduktion

mit der Nernst'schen Gleichung und mit pH = 7 ein negatives Normalpotential: E = E° + ^

log [H+] = -0.06 • pH = -0.42 V.

Daher lösen sich nur besonders unedle Metalle, die ein Normalpotential unterhalb von -0.42 Volt aufweisen, auch in reinem Wasser auf. So wie das Potential einer Wasserstoff-Elektrode sind die Normalpotentiale vieler Redoxpaare pH-abhängig: Immer dann, wenn in der korrekten Halbreaktion Protonen aufscheinen, finden wir diese pH-Abhängigkeit. Ein wichtiges Beispiel bietet die Berechnung der Oxidationskraft von Sauerstoff: O2 + 4e" + 4H+ —» 2H2O E° = +1.24V. Die Nernst'sche Gleichung lautet: E

.Eo

+

0^6.log[H+]4.po2

Bei einem Sauerstoffdruck po2von 101.325 kPa (auf diesen Druck ist auch R und damit 0.059 bezogen) kann po2 gleich 1 gesetzt werden und man erhält: E = Eo

_ 0 | 6 .4. p H

= Eo

_ 0.06 • pH.

Sauerstoff ist also in saurer Lösung stärker oxidierend als in alkalischer Lösung. Man kann diese Abhängigkeit der Potentiale vieler Redoxsysteme vom pH-Wert auch dazu nützen, eine Messung des pH-Wertes durch eine Potentialmessung

vor-

zunehmen: Dazu koppelt man eine pH-abhängige Elektrode gegen eine Bezugselektrode, die pH-unabhängig ist (etwa die Normalwasserstoffelektrode, die ja definitionsgemäß bei 1 molarer Hydronium-Ionenkonzentration betrieben wird, oder auch irgend eine Metallelektrode, die in eine Lösung des betreffenden Metalls eintaucht). Der gemessene Wert für die Potentialdifferenz beider Elektroden (die Spannung) kann in pH-Werte umgerechnet werden.

158

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

10.7 Knallgasexplosion und Atmungskette - eine biologische Betrachtung von Redoxreaktionen Ein Gemisch aus Wasserstoffgas und Sauerstoffgas ist zwar bei Raumtemperatur stabil, doch genügt ein Funke, und das Gemisch explodiert, wobei unter heftigster Wärmeentwicklung Wasser entsteht ("Knallgasexplosion"). Die zugrundeliegenden Halbreaktionen sind 2H+ + 2e- - > H 2 E = EH +/ H 2 = 0.00 Volt O2 + 4H+ + 4e~ —» 2H 2 0 E = E£ 2/H20 = +1.24 Volt Die Normalpotentialdifferenz - und sozusagen die Triebkraft für die Reaktion - ist gegeben durch AE° = +1.24 - 0.00 = 1.24 Volt (dies gilt unabhängig vom pH-Wert, da beide Reaktionen in gleicher Weise vom pH-Wert abhängen). Damit berechnet sich die freie Standardenthalpieänderung zu AG0 = - z • F • AE° = - 2 • 96500 • 1.24 = -239000 J • mol"1 AG0 = -239 kJ • mol"1. Diese bei der Reaktion frei werdende Standardenthalpie ist stark negativ; die Reaktion besitzt daher eine große Triebkraft. Dies ist der Grund, daß das Gemisch so explosiv reagieren kann. In lebenden Zellen dient ebenfalls Sauerstoff zur Oxidation (Verbrennung) der Nährstoffe; sein hohes Oxidationspotential liefert die Triebkraft dazu und bietet so die Grundlage für alle Lebensvorgänge, die Energie erfordern. Natürlich können in lebenden Zellen keine Knallgasexplosionen ablaufen. Vielmehr gewährleistet die biochemische Maschinerie der Zelle eine schrittweise Übertragung der Elektronen auf den Sauerstoff. Wasserstoff, das eigentliche Reduktionsmittel in dieser Reaktion, liegt aber in der Zelle nicht in freiem gasförmigen Zustand vor, sondern in chemisch gebundener Form vor: Wasserstoff ist gebunden an ein Coenzym, das sogenannte Nicotinamid-adenin-dinucleotid (NADH).

159

10. Oxidation und Reduktion

NH

HC. HCX C O-

O

N+

-CHS—

o.

V

o O.

HC

O

N/ O-

CH

v

J

HO

OH

HC—"CH

^C

//

CH, HC 2

\

HC

NH2

N-

N

N'

CH

CH

V

/

HC—CH

I

OH Abb. 10.7.1

I

OH

Die oxidierte Form des Coenzyms Nicotinamid-adenin-dinucleotid Nicotinamid ist hervorgehoben)

(das

Der wichtigste Teil dieses komplexen Moleküls ist die Nicotinamid-Gruppe; sie kann in der hier dargestellten oxidierten Form (NAD+) von reduzierten Nährstoffen wie Glucose Wasserstoff aufnehmen (Abb. 10.7.2); die entstehende reduzierte Form des Coenzyms, NADH, stellt die zelluläre Speicherform von Wasserstoff dar.

2H+ + 2e~ +

Abb. 10.7.2

+

Die Reduktion des Nicotinamid-Teils

des

Coenzyms

H

160

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Die vom pH-Wert abhängige Halbreaktion NAD+ + 2H+ + 2e~

NADH + H +

besitzt mit E° = 0.10V ein geringfügig weniger negatives Normalpotential als die Reaktion 2H+ + 2e~ —» H2 mit E° = 0.00V. Dennoch ist der Potentialunterschied zum Sauerstoffsystem mit AE° =+1.24-0.10 = +1.14V beachtlich; die damit verbundene Änderung der freien Enthalpie AG0 = -220kJ • mol"1 stellt eine sehr große Triebkraft für die Oxidation durch Sauerstoff dar. Wenn also Sauerstoff mit der Wasserstoff- Speicherform der Zelle, dem reduzierten Coenzym NADH reduziert wird, wird nur unwesentlich weniger Energie frei als bei der Knallgasexplosion! Die Energie wird aber nicht in einem Schritt frei, wie bei der Knallgasexplosion, sondern die Zelle führt die Oxidation in mehreren Einzelschritten durch: Die Elektronen werden kaskadenartig auf biologische Redoxsysteme übertragen, die ein zunehmend positiveres Normalpotential besitzen, bis schließlich Sauerstoff selbst vom letzten Redoxsystem zu Wasser reduziert wird. Die Einzelschritte liefern die Energie in einem Ausmaß, welches die Zelle nützen kann: Sie erzeugt damit eine chemische Speicherform von Energie, nämlich ATP (Adenosintriphosphat). Abb. 10.7.4 zeigt die chemische Formel des Adenosintriphosphates. HN O

O

O

O

PvwO

PWO

O

O

P II O

O

(

OH Abb. 10.7.4

OH

Adenosintriphosphat, der Energiespeicher der Zelle (Die Zick-ZackBindungen stellen die besonders energiereichen Bindungen dar)

161

10. Oxidation und Reduktion

Dieses Molekül kann bei Bedarf gespalten werden, wobei die in den energiereichen Bindungen des Moleküls gespeicherte Energie frei wird und von der Zelle je nach ihrer spezifischen Aufgabe genutzt werden kann, etwa für Muskelarbeit. Abb. 10.7.3 zeigt schematisch, daß - ähnlich wie durch Turbinen bei fallendem Wasser - die Energie der vom hohen Energieniveau des NADH-Redoxpaares zum tiefen Energieniveau des Redoxpaares Sauerstoff-Wasser "fallenden" Elektronen zum Aufbau von gespeicherter Energie benützt wird.

Energie

negatives Potential

NADH+H

NAD ADP+P

ATP

ADP+P

ATP ADP+P

positives Potential

Abb. 10.7.3

1/2 0 2 + 2H +2e~

Der Aufbau chemisch gespeicherter Energie in der "Atmungskette". ATP ist die Abkürzung für Adenosintriphosphat. ADP steht für Adenosindiphosphat, welches unter Energieaufwand mit Phosphat P zu ATP aufgebaut wird, wobei die dazu nötige Energie der exergonischen Reduktion von Sauerstoff zu Wasser entnommen wird.

Wir beachten, daß der mit der Reduktion des Sauerstoffmoleküls zu Wasser verbundene Energiegewinn, der in der lebenden Zelle in Form chemischer Energie speicherbar und nutzbar gemacht wird, die energetische Grundlage für das Funktionieren lebender Materie darstellt.

162

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

11 Komplexreaktionen 11.1 Allgemeines Im Kapitel 5.8 wurde die koordinative Bindung besprochen: Ein Bindungspartner "liefert" ein Elektronenpaar (Elektronenpaar-Donor), welches eine Bindung zum zweiten Partner ermöglicht, der ein unbesetztes Orbital zur Verfügung stellt (Elektronenpaar-Akzeptor). Zumeist ist der Akzeptor ein Metallkation. Bereits die einfache Hydratation eines Metallkations beim Auflösen desselben in Wasser wird durch koordinative Bindungen zwischen dem Kation und den Wassermolekülen (freie Elektronenpaare am Sauerstoff) ermöglicht. Dieses Beispiel führt uns zur allgemeinen Definition einer Komplexverbindung: Komplexverbindungen bestehen aus Partnern, die auch für sich alleine stabil und beständig sind. Die Bindungsart zwischen diesen Partnern ist die koordinative Bindung. Ein solvatisiertes Eisen-(II)-Ion [Fe(H20) l+ ] beispielsweise besteht aus einem zweifach positiv geladenen Fe 2+ -Ion, dem Zentralion, und sechs H 2 0-Molekülen, den Liganden, die über die freien Elektronenpaare ihrer Sauerstoffatome koordinativ an das Kation gebunden sind. Die eckigen Klammern sollen hier nicht wie sonst eine molare Konzentration bezeichnen, sondern symbolisieren, daß es sich um eine Komplexverbindung handelt. Sowohl das Fe 2+ -Ion als auch die H 2 0 Moleküle sind für sich alleine existenzfähig. Die Stabilität der koordinativen Bindung - und damit der Komplexverbindungen - hängt sowohl von der Fähigkeit der Liganden ab, Elektronenpaare zur Verfügung zu stellen, als auch von der Akzeptorqualität des Zentralions. Besonders gute Akzeptoren sind die Kationen der Übergangselemente, die ja teilweise unbesetzte innere d-Elektronenschalen besitzen. 11.2 Die Komplexreaktion und das chemische Gleichgewicht Die allgemeine Bildungsgleichung einer Komplexverbindung lautet: Zn+ + mL

* [Z(L):+],

wobei Z das Zentralkation und L die Liganden symbolisiert. Nach den Regeln für das Massenwirkungsgesetz muß im Gleichgewicht gelten (anstelle der sonst üblichen eckigen Klammern verwenden wir eine andere Schreibweise für molare Konzentrationen, um eine Konfusion zu vermeiden):

163

11. Komplexreaktionen C [Z(LC] _ JS.-— =

Cz-CL

Die Gleichgewichtskonstante wird auch als Komplexbildungskonstante bezeichnet (der Index f bei Kf bedeutet formation, englisch für Bildung). Die Gleichgewichtskonstante für den umgekehrten Vorgang der Dissoziation eines Komplexes in seine Bestandteile bezeichnen wir als K [Übergangszustand] —> Endprodukt Energie Übergangszustand

1 AH 1

Edukte

Produkte Reaktionskoordinate

Abb. 13.4.1

Energieprofil einer Übergangszustand

chemischen

Reaktion

mit

einem

instabilen

In dem Beispiel erkennen wir die Aktivierungsenergie als die Energiedifferenz zwischen den Ausgangsstoffen und dem instabilen Übergangszustand', diese Energie ist für die Kinetik der Reaktion maßgeblich. Hingegen ist die Differenz der Energien der Ausgangs- und Endstoffe entscheidend für die Thermodynamik der Reaktion:

195

13. Chemische Kinetik

sie entspricht der Reaktionsenthalpie DH. Im Beispiel in Abb. 13.4.1 sehen wir das Profil einer exothermen Reaktion (AH < 0). Abb. 3.4.2 zeigt ein etwas komplexeres Beispiel: hier tritt im Verlauf der Reaktion ein lokales Minimum des Energieprofils auf; dieses entspricht einer Zwischenstufe, die unter Umständen auch isoliert werden kann.

Energie Übergangszustand 1 Übergangszustand 2

Edukte

Produkte Reaktionskoordinate

Abb. 13.4.2 Energieprofil

einer chemischen Reaktion mit einer

Zwischenstufe

13.5 Katalyse Durch Temperaturerhöhung erhöht man den Anteil der Moleküle, die aufgrund ihrer Energie die Aktivierungsschwelle überwinden können; die Reaktion verläuft schneller. Temperaturerhöhung ist aber nicht immer möglich, um eine Reaktion zu beschleunigen: Man kann im menschlichen Organismus nicht einfach ein Streichholz anzünden, um die Oxidation von Glucose durch Sauerstoff zu ermöglichen, sondern diese Reaktion muß bei etwa 37°C ablaufen. Katalysatoren helfen hier: Ein Katalysator ist eine Substanz, deren Anwesenheit die Aktivierungsenergie einer chemischen Reaktion absenkt, wodurch diese schneller verläuft (Abb. 13.5.1).

196

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Abb. 13.5.1

Absenkung der Aktivierungsenergie durch einen Katalysator K (fett gezeichnetes Energieprofil: Reaktion bei Anwesenheit von K, dünn gezeichnetes Energieprofil: Reaktion bei Abwesenheit von K)

Die Erniedrigung der Aktivierungsenergie (Ea(K) < E a ) wird dadurch bewirkt, daß die Reaktion in Anwesenheit des Katalysators einen im Vergleich mit der nicht katalysierten Reaktion geänderten Verlauf nehmen kann; der Reaktionsmechanismus wird verändert. Der Katalysator nimmt intermediär zwar an der Reaktion teil; nach Bildung der Produkte liegt der Katalysator aber wieder in derselben Form vor wie vor Beginn der Reaktion. Die Thermodynamik der Reaktion, die nur vom Anfangsund Endzustand abhängt, da DG, DH und DS Zustandsfunktionen sind, wird durch den Katalysator nicht beeinflußt. Damit wird auch die Lage des chemischen Gleichgewichtes nicht verändert; der Katalysator erhöht nur die Geschwindigkeit der Gleichgewichtseinstellung. Ein Katalysator beschleunigt, wie man an der Abb. 13.5.1 sieht, sowohl die Hinreaktion als auch die Rückreaktion. Die lebende Zelle vollbringt die erstaunlichsten chemischen Transformationen bei der niedrigen Temperatur von etwa 37°C. Dies ist unter anderem nur durch ein unvorstellbar raffiniertes System von biologischen Katalysatoren, den Enzymen, möglich. Die Evolution des Lebens wird tatsächlich nur dadurch ermöglicht und in Gang gehalten, daß lebende Systeme einen Weg gefunden haben, die Information für die Herstellung der richtigen und geeigneten Biokatalysatoren an ihre Nachkommen weiterzugeben. Die Suche nach Katalysatoren ist natürlich auch für die technologische Chemie ein zentrales Anliegen, ermöglichen doch vielfach nur Katalysatoren eine wirtschaftlich vertretbare Synthese der vielfältigen Produkte der chemischen Industrie, ohne die unser Leben fast schon undenkbar geworden ist.

197

13. Chemische Kinetik

Auch für die Umweltproblematik spielen Katalysatoren eine wichtige Rolle; man denke nur an die Katalysatoren, die eine bessere und vollständigere Verbrennung der Treibstoffe in Kraftfahrzeugsmotoren gewährleisten sollen oder die Stickoxide nach der Reaktionsgleichung 2NO(g)

->N2(g)

+ 0 2(g)

unschädlich machen sollen. Diese letztere Reaktion ist mit AG°98 =-173 kJ pro 2 mol NO zwar stark exergonisch, hat aber eine sehr hohe Aktivierungsenergie und läuft daher nur bei Anwesenheit geeigneter Katalysatoren genügend rasch ab. 13.6 Kinetik einfacher enzymkatalysierter Reaktionen Wir wollen als Abschluß dieses Kapitels anhand des einfachsten Falles einer enzymkatalysierten Reaktion die Grundzüge der mathematischen Behandlung der Enzymkinetik studieren. Weiterführende Informationen dazu findet man in Lehrbüchern der Biochemie. Wir betrachten folgende Reaktion: Ein Substratmolekül S reagiert mit einem Enzymmolekül E zu einem Enzym-Substrat-Komplex ES, und dieser reagiert unter Freisetzung des Enzyms weiter zum Produktmolekül P: E+S

k+i k

-l

ES

k+2

E + P.

-2

In dieser schematisierten Reaktionsgleichung stehen die Konstanten ki bis k 2 für die Geschwindigkeitskonstanten der jeweiligen Elementarreaktion in die HinRichtung (+) und in die Rück-Richtung (-). Bei unserer Betrachtung halten wir uns stets vor Augen, daß die Konzentration der Enzymmoleküle E zu Beginn der Enzymreaktion viel kleiner ist als die der Substratmoleküle S. Im Verlauf der Reaktion nimmt die Konzentration von S natürlich ab, die Totalkonzentration des Enzyms, E t , dagegen bleibt konstant. Unsere nachfolgende Analyse beschränkt sich im wesentlichen darauf, die Abhängigkeit der Anfangsgeschwindigkeit der Enzymreaktion, also zu einem Zeitpunkt, zu dem noch sehr wenig Substrat zu Produkt umgesetzt ist, von der Substratkonzentration [S] zu beschreiben.

198

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

In der vereinfachten Annäherung von Michaelis und Menten setzen wir voraus, daß der zweite Reaktionsschritt, die Bildung des Produkts, der langsamste und damit geschwindigkeitsbestimmende Schritt sei. Dann ist die (Anfangs-) Bildungsgeschwindigkeit des Produkts ® = v = k«.[ES]. dt k_2

Die Riickreaktion P + E —» ES wollen wir vernachlässigen. Falls alle Enzymmoleküle mit Substratmolekülen zum Enzym-Substrat-Komplex ES reagiert haben, so liegt der Fall der Enzymsättigung vor: Die Enzymreaktion erreicht ihre maximal mögliche Geschwindigkeit v max ; eine weitere Erhöhung der Substratkonzentration hätte keinen Effekt auf die Reaktionsgeschwindigkeit. Daher: [ES] = E t , die Konzentration des Enzym-Substrat-Komplexes ist gleich der Totalkonzentration an Enzym. Wir dürfen also schreiben: Vmax = k + 2 • E t .

Für den allgemeinen Fall, wenn das Enzym nicht gesättigt ist, müssen wir die zeitliche Abhängigkeit von [ES] betrachten, um die Geschwindigkeitsgleichung lösen zu können. Wenn wir den ersten Reaktionsschritt betrachten, so können wir für die Bildungsgeschwindigkeit von ES schreiben: ^

dt

= k+1[E][S],

Die Konzentration von freiem Enzym E ergibt sich als Differenz der Konzentration aller Enzymmoleküle minus der in den Enzym-Substrat-Komplexen gebundenen: [E] = E t - [ES], und wir erhalten d[ES] = k+i - ( E t - [ E S ] ) - [ S ] . dt Zugleich aber wird [ES] durch die Rückreaktion zu E und S und durch die Bildung des Produkts auch vermindert: dt

= k - i • [ E S ] + k+2 • [ES] = ( k "i + k+2> * [ E S ] •

13. Chemische Kinetik

199

Im Fließgleichgewicht (steady State) der Enzymreaktion sind die Bildungs- und Zerfallsgeschwindigkeiten von ES gleich groß, und es gilt: k+i • (Et - [ES]) • [S] = (k_i + k+2) • [ES]. Diese Gleichung formen wir um: (Et - [ES]) • [S] _ k_i +k+2 _ [ES] "

v M

-

Wir fassen also den Quotienten aus den Geschwindigkeitskonstanten, k_i + k+2 k+i ' zu einer neuen Konstante K M , der sogenannten Michaelis-Menten-Konstante, zusammen. Wir können nun die Konzentration von ES berechnen: (Et - [ES]) • [S] T/r _ K m [ES] ' Et • [S] - [ES] • [S] = Km • [ES], LbM

_ E t •[S] ~KM+[sr

Damit können wir die ursprüngliche Geschwindigkeitsgleichung umschreiben zu v=k

E,•[S] + 2

' '

K M + [S]'

und mit Vmax = k+2 • Et

erhalten wir schließlich

V = Vmax * [ S ]

K m + [S]'

Dieser Ausdruck ist die Michaelis-Menten-Gleichung. Sie beschreibt für viele Enzyme das Aktivitätsverhalten (die Anfangsreaktionsgeschwindigkeit) als Funktion der Substratkonzentration [S]. Einschränkend müssen wir festhalten, daß diese einfache Form allerdings nur für Umsetzungen mit einem Substrat gültig ist. Wie hängt nun die Reaktionsgeschwindigkeit v von der Substratkonzentration [S], der Michaelis-Menten-Konstante K M und der Maximalgeschwindigkeit vmaxab ? Abb. 13.6.1 zeigt, wie v von [S] und vmax abhängt. Zwei Enzyme Ei und E 2 , beide mit demselben Wert Km = 1, besitzen unterschiedliche Werte für v max :

200

A. Grundlagen der allgemeinen Chemie

Vmaxl

=0.1,

Vmax2 = 0 . 2 .

Wie die Abbildung zeigt, kann man durch Erhöhung von [S] die Anfangsgeschwindigkeit erhöhen, doch auch durch beliebig hohe Substratkonzentrationen kann man v nicht über die jeweilige Maximalgeschwindigkeit hinaus erhöhen.

Abb. 13.6.1

Enzymkinetik:

Einfluß der Substratkonzentration

malgeschwindigkeit

[S] und der Maxi-

vmax

Während die v max -Werte die Geschwindigkeit der Enzymreaktion bei Substrat- Sättigung angeben, bestimmt die Michaelis-Menten-Konstante, wie schnell bei steigender Substratkonzentration die Maximalgeschwindigkeit erreicht wird. Um dies zu demonstrieren, zeigt Abb. 13.6.2 das Verhalten zweier Enzyme, die denselben Wert v ^ = 0.1 besitzen, aber unterschiedliche K M -Werte: KMI

= 1,

KM2 =

10.

201

13. Chemische Kinetik

Abb. 13.6.2

Enzymkinetik: Einfluß der Substratkonzentration Menten-Konstante

und der

Michaelis-

Ein höherer K M - Wert hat offensichtlich zur Folge, daß die Enzymreaktion bei steigender Substratkonzentration langsamer gegen die maximal erreichbare Geschwindigkeit vmax konvergiert. Wir können der Michaelis-Menten-Konstante noch eine weitere, sehr interessante Interpretation geben. Um dies zu erkennen, halten wir zuerst fest, daß aufgrund der mathematischen Form der Michaelis-Menten-Gleichung K M die Dimension einer Konzentration, also mol/1, haben muß. Wie groß ist die Geschwindigkeit v der Enzymreaktion, wenn [S] gerade gleich groß ist wie K M ? Einsetzen in die Michaelis-Menten-Gleichung ergibt: [S] Km + [S] v

max

v

max • Km KM + KM

Km 2 • KM

* max •

v mal 2

Ist also [S] = K M , SO ist die Reaktionsgeschwindigkeit v gerade gleich der halben Maximalgeschwindigkeit. In anderen Worten: Km ist die Substratkonzentration bei halbmaximaler Reaktionsgeschwindigkeit. Je größer also K M ist, desto höher muß die Substratkonzentration sein, damit die halbmaximale Geschwindigkeit erreicht wird.

B Spezielle anorganische Chemie

14. Einleitung 15. Hauptgruppenelemente 16. Biochemisch und physiologisch wichtige Übergangsmetalle

B

Spezielle anorganische Chemie

14 Einleitung Bei der Besprechung des Atombaues haben wir das Periodensystem der Elemente kennengelernt: Lange vor der Entwicklung der Quantenmechanik und des modernen Atombegriffs haben der russische Chemiker Dimitrij Mendelejew und unabhängig davon der Chemiker Lothar Meyer in Deutschland 1869 mit einem genialen Ordnungschema die Vielfalt der chemischen Grundstoffe in ein wissenschaftliches System gebracht. Sie ordneten die Elemente nach ihren Atomgewichten und nach ihren chemischen Eigenschaften. Wir verstehen heute den Aufbau dieses Periodischen Systems der Elemente mit Hilfe unserer Kenntnis des Atomkerns, der aus Protonen und Neutronen besteht, und des quantenmechanischen Aufbauprinzips der Elektronenschalen: Die Protonenzahl im Kern (Ordnungszahl) definiert die chemische Identität der Atome, und die Periodizität der Eigenschaften der Elemente wird durch die Periodizität der Besetzung der Valenzelektronenschale mit Elektronen hervorgerufen. Betrachtet man das Vorkommen der Elemente (in Atom-%) auf der Erde, so fällt eine starke Ungleichgewichtigkeit auf: Relativ wenige Elemente stellen den weitaus überwiegenden Teil aller Atome in der Erdrinde: f

H, 0 , Al, Si plus C, F, Na, Mg, P, S, K, Ca, Ti, Mn, Fe plus N, Cl, Ni

90.09 % 99.98 % 99.998%

Eine ganz ähnliche Ungleichgewichtigkeit des Vorkommens der Elemente findet man auch für die Atome im lebenden menschlichen Organismus: /

H, C, N, O plus Na, Mg, P, S, Cl, K, Ca plus F, Si, V, Cr, Mn, Fe, Co, Cu, Zn, Se, Mo, Sn, I

99.35 % 99.996% 99.999%

206

B. Spezielle anorganische Chemie

Offensichtlich sind nicht alle Elemente gleichermaßen wichtig für den Aufbau des lebenden Organismus. Daher wollen wir in diesem Kapitel nicht alle chemischen Elemente besprechen, sondern uns im wesentlichen auf die Hauptgruppenelemente und auf diejenigen Übergangselemente beschränken, die für das Verständnis der Biochemie des Menschen von Bedeutung sind. Die Tabelle 14.1 listet die für das Leben wichtigsten Elemente auf und gibt schlagwortartig einige Hinweise auf deren jeweilige Rolle (Übergangselemente sind kursiv dargestellt). Tabelle 14.1 Die wichtigsten Elemente der

Biosphäre

Element

Funktion

Element

Funktion

H C

Wasser, org. Verb. org. Verbindungen

Ca V

Knochen, Enzyme Enzyme

N

org. Verbindungen

Cr

Insulin

O

Wasser, org. Verb.

Mn

Enzyme

F

Zähne, Knochen

Fe

Enzyme, Häm

Na

extrazelluläres Kation

Co

Vitamin B12

Mg

Enzyme, Chlorophyll

Cu

Enzyme

Si

Bindegewebe, Knochen

Zn

Enzyme

P S Cl K

Energietransfer Proteine, Coenzyme extrazelluläres Anion

As Se Mo

Proteine Antioxidans Enzyme

intrazelluläres Kation

I

Schilddrüsenhormone

15 Hauptgruppenelemente Die Hauptgruppenelemente oder s,p-Elemente zeichnen sich dadurch aus, daß ihre Valenzelektronen ausschließlich in s- oder p-Orbitalen vorkommen, während ihre d- und f-Orbitale entweder vollbesetzt oder leer sind. Die Einteilung der Elemente in Gruppen (senkrechte Anordnungen der Elemente im Periodensystem) berücksichtigt die chemische Ähnlichkeit, die aus dem analogen Aufbau der Valenzschalen resultiert. Die chemische Ähnlichkeit ist besonders ab der dritten Periode (waagrechte Anordnungen der Elemente) ausgeprägt; zwischen der zweiten (erste Achterperiode) und der dritten Periode (zweite Achterperiode) finden sich dagegen etwas stärkere Unterschiede zwischen den Elementen innerhalb

207

15. Hauptgruppenelemente

einer Gruppe. Diese Unterschiede sind sehr bedeutsam; so ist zum Beispiel die Neigung zur Ausbildung von Doppelbindungen nur Elementen der ersten Achterperiode eigen. Auch die Ausbildung von Wasserstoff-Brückenbindungen finden wir nur bei den elektronegativen Elementen N, O und F der ersten Achterperiode, nicht aber bei den entsprechenden Elementen P, S und C1 der zweiten Achterperiode.

15.1 Edelgase Die Edelgase haben mit Ausnahme des Heliums (Elektronenkonfiguration l s 2 ) in ihrer Valenzschale die Elektronenkonfiguration ns 2 p 6 . Die Edelgase Helium (He), Neon (Ne), Argon (Ar), Krypton (Kr), Xenon (Xe) und Radon (Rn, radioaktiv) sind einatomige Gase und kommen mit Ausnahme des häufigeren Argons (0.93 Volumsprozent der Luft) in sehr kleinen Konzentrationen in der Luft vor. Die Schmelz- und Siedepunkte liegen bei extrem tiefen Temperaturen (Beispiel: Siedepunkt von Helium = -269C = 4K); dies ist eine Folge der Tatsache, daß zwischen den Edelgasatomen nur die schwachen van der Waals-Wechselwirkungen bestehen. Aufgrund der energetischen Stabilität der Elektronenkonfiguration s 2 p 6 sind die Edelgase extrem reaktionsträge. Verbindungen der Edelgase sind außerordentlich schwer herzustellen und besitzen praktisch keine medizinische Bedeutung. Bei energetischer Anregung, etwa durch elektrische Entladungen in einer Röhre, senden Edelgase charakteristische Lichtspektren aus (Neonröhre). Für Helium selbst gibt es einige medizinische Anwendungen: Da es chemisch völlig inert ist, eignet es sich für Lungenfunktionsprüfungen. Weiters wird Helium als Zusatz zu Tauchgas verwendet, da es sich in Blutplasma viel schlechter löst als Stickstoff, wodurch die Gefahr der Bildung von Gasbläschen im Blut von Tauchern bei zu raschem Auftauchen gesenkt und somit die Gasemboliegefahr verringert wird.

15.2 Wasserstoff Elektronenkonfiguration

und allgemeine

Eigenschaften

Wasserstoff (Elektronenkonfiguration ls 1 , chemisches Symbol H von hydrogenium) nimmt bei den Hauptgruppenelementen eine gewisse Sonderstellung ein, die eine Besprechung in einem eigenen Kapitel rechtfertigt. Das Wasserstoffatom ist das kleinste und leichteste Atom und besitzt die einfachste Elektronenhüllstruktur. Bei Abgabe des Elektrons bleibt wie bei den Alkalimetallen ein positiv geladenes Ion (ein Kation) zurück. Das Kation H + ist aber einzigartig; es ist ein nackter Atomkern ohne verbleibende Elektronenhülle, ein Proton. Das

208

B. Spezielle anorganische Chemie

Proton ist in freier Form nur kurzfristig existent; es spielt eine zentrale Rolle bei Säure-Base-Reaktionen. Wasserstoff kann aber wie die Halogene auch ein Elektron aufnehmen; dann resultiert ein negativ geladenes Hydrid-Ion H", welches wie die ebenfalls einfach negativ geladenen Halogenid-Ionen Edelgaskonfiguration besitzt. Wasserstoff "paßt" daher zu keiner der Hauptgruppen wirklich gut hinzu: Er hat eine wesentlich höhere Ionisierungsenergie und Elektronegativität als die Alkalimetalle und tritt Metallen gegenüber als elektronegativer Partner auf (Hydride). Auf der anderen Seite besitzt Wasserstoff eine wesentlich geringere Elektronenaffinität und Elektronegativität als die Halogene; gegenüber Nichtmetallen tritt er praktisch immer als elektropositiver Partner auf. Eine Konsequenz dieser Zwischenstellung des Wasserstoffs haben wir bei den Regeln für die Festlegung der Oxidationszahlen kennengelernt: Während die Oxidationszahl von H in den meisten Verbindungen +1 ist, beträgt sie in Verbindungen mit Metallen (Metallhydride) - 1 . Vorkommen und Herstellung Wasserstoff ist das häufigste Element im Weltall (2/3 der Atome), auch am Aufbau der Erdrinde ist Wasserstoff stark beteiligt (1/6 der Atome). Technisch läßt sich Wasserstoff durch Reduktion aus seinen Verbindungen, insbesondere aus Wasser darstellen, etwa direkt durch stark elektropositive Metalle, durch Einwirkung verdünnter Säuren auf unedle Metalle oder durch Elektrolyse (Zersetzung von Wasser durch elektrischen Strom): 2H 2 0 + 2Na -> H 2 + 2NaOH 2HCl + Z n - » H 2 + Z n C l 2 2H 2 0

2H2 + 0 2 .

Eigenschaften Wasserstoff ist ein typisches Nichtmetall. Er ist bei gewöhnlichen Temperatur- und Druckbedingungen gasförmig und bildet zweiatomige Moleküle H 2 . Er ist ein färb-, geschmack- und geruchloses Gas (FP 14 K, KP 20 K). Von Wasserstoff existieren drei Isotope (Protium 'H, Deuterium 2 H, Tritium 3 H). Tritium ist radioaktiv (ß-Strahler); es wird in der Biochemie als Tracer angewandt. Chemische Verbindungen Von den meisten Elementen mit Ausnahme der Edelgase existieren Verbindungen mit Wasserstoff (kovalente, salzartige, metallische und komplexe Hydride).

15. Hauptgruppenelemente

209

Die kovalenten Hydride (eigentlich ein schlechter Name!) sind Verbindungen mit Nichtmetallen, Halbmetallen, und einigen Metallen, so etwa mit C (Methan CH 4 ), Si (Silan SiH 4 ), Sn (Stannan SnH 4 ), N (Ammoniak NH 3 ), O (Wasser H 2 0 ) , F (Fluorwasserstoff HF) und viele andere mehr. Charakteristisch ist für diese Verbindungen, daß H den elektropositiven Partner darstellt; das heißt, daß die Oxidationszahl von H in diesen Verbindungen immer +1 ist.. Bei den salzartigen Hydriden (richtiger Name!) mit Alkali- und Erdalkalimetallen ist Wasserstoff hingegen der elektronegative Partner: LiH, NaH, BeH 2 etc. Eine Sonderstellung nehmen die metallischen Hydride ein: Gewisse Schwermetalle wie Platin (Pt) und Palladium (Pd) besitzen die Fähigkeit, Wasserstoff in atomarer Form an ihrer Oberfläche gewissermaßen zu lösen. Dieser in Form von H-Atomen an der Metalloberfläche haftende Wasserstoff ist ein sehr starkes Reduktionsmittel und wird daher technisch bei Hydrierungen viel verwendet (das Metall bildet also einen Katalysator für derartige Reaktionen). (Eine sehr wichtige Anwendung, die Normalwasserstoffelektrode, haben wir bereits kennengelernt). Schließlich gibt es komplexe Hydride: Diese entstehen formal aus zwei Wasserstoffverbindungen. Beispiele sind Natriumboranat NaH + BH3 —» Na + [BH 4 ] und Lithiumalanat LiH + AIH3 -> Li+[A1H4]; sie stellen wichtige Reduktionsmittel in der organischen Chemie dar. 15.3 Halogene Zu den Halogenen gehören die Elemente Fluor (F), Chlor (Cl), Brom (Br), Iod (I) und das radioaktive Astat (At). Das letztere besitzt keine Bedeutung und wird daher nicht näher besprochen. Elektronenkonfiguration Die Elektronenkonfiguration in der Valenzschale ist ns 2 p 5 : Ein Elektron fehlt zur Edelgaskonfiguration, daher besitzen die Halogene eine hohe Elektronenaffinität und Elektronegativität (F ist das elektronegativste Element überhaupt!). Die Halogene (= Salzbildner) kommen daher entweder als negativ geladene Anionen in salzartigen Verbindungen mit Metall-Kationen oder als negativ polarisierte Bindungspartner in kovalenten Verbindungen vor. Bei Fluor sind nur zwei Oxidationszahlen möglich: 0 in elementarer Form als F 2 und -1 in allen F-Verbindungen. Bei Chlor,

210

B. Spezielle anorganische Chemie

Brom und Iod sind die Verhältnisse analog; nur in kovalenten Verbindungen mit den besonders stark elektronegativen Elementen F und O sind auch positive Oxidationszahlen möglich. Vorkommen und Herstellung Aufgrund der hohen Reaktivität kommen Halogene in der Natur nicht in elementarer Form vor, sondern vorzugsweise als Bestandteile der festen Erdkruste in Salzen. Daneben stellt auch das Meerwasser eine Halogenquelle dar: Es enthält 2% Chloridionen, 0.01% Bromidionen; Iod ist in Tang angereichert. Eigenschaften Fluor kommt als F 2 vor, ein gelbliches, extrem giftiges und aggressives Gas. Es reagiert praktisch mit allen Elementen. Chlor, ein grünes, erstickend riechendes Gas mit der Formel CI2, ist ebenfalls chemisch außerordentlich aggressiv und zellschädigend. In stark verdünnter Lösung wird es zur Desinfektion von Schwimmbädern eingesetzt. Brom ist neben Quecksilber Hg das einzige bei 25°C flüssige Element. Die braunrote, unangenehm riechende Flüssigkeit besteht aus Br 2 -Molekülen. Sie erzeugt auf der Haut schmerzhafte Wunden. Iod bildet als I2 grauschwarze, metallisch aussehende Kristalle. Beim Erhitzen entsteht ohne Übergang über eine flüssige Phase direkt ein tiefvioletter Dampf (Sublimation), der sich beim Abkühlen wieder als festes Iod niederschlägt (Resublimation). Alle Phasen des Iod bestehen wie bei den übrigen Halogenen aus zweiatomigen Molekülen. Von medizinischem Interesse ist die desinfizierende Wirkung einer alkoholischen Lösung von Iod, die zur Wunddesinfektion Anwendung findet ("Iodtinktur"). Chemische

Verbindungen

Halogene reagieren mit Wasserstoff zu den Halogenwasserstoffverbindungen. Die Reaktion von H2 mit F2 verläuft explosionsartig, bei CI2 und Br2 muß die Reaktion mittels ultraviolettem Licht gestartet werden (Aktivierungsenergie!); ^schließlich reagiert bei Raumtemperatur praktisch nicht mit H2. Die entstehenden Wasserstoffverbindungen sind mit Ausnahme von HF gasförmig und lösen sich sehr gut in Wasser. Fluorwasserstoff HF ist aufgrund der Ausbildung starker Wasserstoffbrükkenbindungen zwischen den Molekülen bei Temperaturen unterhalb von 20°C flüssig. Die wässrigen Lösungen reagieren (stark) sauer, wobei die Säurestärke von HF zu HI ansteigt: Flußsäure (wässrige Lösung von HF) ist nur eine mittelstarke Säure, wohingegen Salzsäure (HCl), Bromwasserstoffsäure (HBr) und Iodwasserstoffsäure (HI) sehr starke Säuren darstellen.

211

15. Hauptgruppenelemente

Flußsäure wird technisch zum Ätzen von Glas verwendet, da sie mit dem Siliciumdioxid (Hauptbestandteil des Glases) zu gasförmigem Siliciumtetrafluorid reagiert: Si0 2 + 4HF

2H 2 0 + SiF4 t

Die Salze dieser Säuren (Fluoride, Chloride, Bromide und Iodide) mit Metallen sind typische Ionenkristalle und als solche gut wasserlöslich. Ausnahmen sind die schwerlöslichen Chloride, Bromide und Iodide von Silber-(I), AgX (X steht für das Halogen), Quecksilber-(I), HgX, Blei-(II), PbX2 und Thallium-(I), T1X. Die wichtigsten Verbindungen der Halogene (ausgenommen Fluor) mit Sauerstoff sind die sogenannten Sauerstoffsäuren HXO n . Diese können 1 bis zu 4 O-Atome enthalten; die Namen der Sauerstoffsäuren und ihrer Salze haben wir bereits kennengelernt (Kap. 10.4). Die wichtigsten Sauerstoffsäuren sind die Chlorsäure-(V) ("Chlorsäure") HC103 und die Chlorsäure-(VII) ("Perchlorsäure") HC10 4 . Die letztere stellt die stärkste bekannte Säure in wässrigen Milieu dar: K s ~ 109, pKs ~ - 9 . Ihre Salze sind die Chlorate-(VII) (Perchlorate). Chlorate-(V) und Chlorate-(VII) ergeben aufgrund ihrer sehr starken Oxidationskraft in Verbindung mit organischen Substanzen außerordentlich explosive Mischungen. Darauf beruht ihre Verwendung in Feuerwerkskörpern und in Streichholzköpfchen. Physiologische und medizinische Bedeutung: Ob Fluorid F" ein lebensnotwendiges Element ist, ist nicht gesichert, doch bildet es in Form des Fluorapatits C a s i P O ^ F eine wichtige Komponente des Zahnschmelzes; es wird daher in Form von Natriumfluorid NaF Zahnpasten zur Bekämpfung der Karies zugesetzt. Verletzungen mit Flußsäure HF führen zu bösartigen Verätzungen: Die Verbindung dringt schnell durch die Haut ein. Eine medizinische Behandlung ist möglich durch tiefes Unterspritzen der betroffenen Stelle mit einer Lösung eines Calciumsalzes: Ca 2+ -Ionen bilden mit F"-Ionen schwerlösliches Calciumfluorid CaF 2 . Diese Reaktion ist auch die Erklärung für die Gerinnungshemmung des Blutes durch Fluorid-Ionen: Durch die Bildung des schwerlöslichen Calciumfluorids wird dem Blut das für die Gerinnungsreaktion erforderliche Calcium entzogen. Chlorid Cl" ist das wichtigste Anion zur Aufrechterhaltung der Elektroneutralität innerhalb und außerhalb von Zellen. Freie Salzsäure findet sich im Magensaft. Sie wirkt dort bakterizid und schafft das für die Funktion des eiweißverdauenden Enzyms Pepsin nötige saure Milieu (pH ~ 1 - 2 ) . Bromide Br~ spielen als Sedativa (Beruhigungsmittel) eine wichtige Rolle. Iodid I" ist für die Biosynthese der Schilddrüsenhormone 3,5,3'-Triiodthyronin und 3,5,3',5'- Tetraiodthyronin (= "Thyroxin") unentbehrlich (Abb. 15.3.1):

212

B. Spezielle anorganische Chemie

Oc-^OH

Ck^OH

H 2 N—CH

Abb. 15.3.1

3,5,3'-Triiodthyronin

H 2 N—CH

und

3,5,3',5'-Tetraiodthyronin

Jodmangel in der Nahrung führt zu einer verminderten Biosynthese dieser Hormone. Ein krankhaft vergrößertes Schilddrüsengewebe (Struma, Kropf) ist eine äußere Folge dieser Hypothyreose, die unbehandelt zu schweren Beeinträchtigungen bis zum Kretinismus führen kann. In vielen gebirgigen Gegenden der Welt (Alpen, Anden, Himalaya) ist die Iodaufnahme vermindert und der Jodmangelkropf endemisch. Durch Versetzen des Speisesalzes mit Natriumiodid (5 mg Nal pro kg NaCl) kann Abhilfe geschaffen werden. Unbekannt ist der Iodmangelkropf dagegen an den Meeresküsten, da alle Meeresfrüchte eine reiche Iodquelle darstellen. Von den Sauerstoffsäuren der Halogene ist die Chlorsäure-(I) (Unterchlorige Säure) HCIO bzw. ihre konjugierte Base, das Chlorat-(I) (Hypochlorit) CIO" als Teil des cytotoxischen Arsenals von Zellen der Immunabwehr von Bedeutung, da es stark bakterizid wirkt. Medizinisch wird es auch als Desinfektionsmittel eingesetzt. 15.4 Chalkogene Die Chalkogene (= Erzbildner) sind die Elemente der 6. Hauptgruppe: Sauerstoff (O von oxygenium), Schwefel (S von sulfur), Selen (Se), Tellur (Te) und das instabile, radioaktive Polonium (Po).

15. Hauptgruppenelemente

213

Elektronenkonfiguration Mit der Elektronenkonfiguration ns 2 p 4 in der Valenzschale fehlen zwei Elektronen zur Edelgaskonfiguration, daher besitzen die Elemente noch immer eine hohe Elektronenaffinität und Elektronegativität (insbesondere Sauerstoff, nach Fluor das am zweitstärksten elektronenaffine Element). Wie die Halogene kommen auch die Chalkogene in der Natur verbreitet in Form von kristallinen Salzen (Ionenkristalle) vor, daneben aber auch als elektronegative Bindungspartner in polarisierten kovalent gebauten Verbindungen. Sauerstoff hat in Verbindungen fast immer die Oxidationszahl - 2 ; nur in Peroxiden, die eine kovalente O - O Bindung enthalten, ist die Oxidationszahl - 1 . Die übrigen, nicht mehr so stark elektronenaffinen Elemente der Gruppe können alle Oxidationszahlen von - 2 —» +6 annehmen. Vorkommen Sauerstoff ist das häufigste Element in der festen Erdkruste und nach Stickstoff der zweitwichtigste Bestandteil der Luft: Als O2 macht er etwa 21% des Luftvolumens aus. Als einziges Element der 6. Hauptgruppe ist er bei Raumtemperatur gasförmig; die übrigen Elemente sind fest. Schwefel kommt elementar in kristalliner Form (gelbe Kristalle) vor. Beide Elemente kommen auch in gebundener Form in Erzen vor (Oxide, Sulfide); Selen und Tellur sind als Selenide und Telluride spuren weise in sulfidischen Erzen enthalten. Tellur kommt selten auch in gediegener Form vor. Eigenschaften und chemische Verbindungen Die Chalkogene weisen untereinander stärkere Unterschiede auf als die Halogene. So sind Sauerstoff und Schwefel typische Nichtmetalle, Selen und Tellur kommen hingegen auch in metallischen Modifikationen mit Halbleitereigenschaften vor, Polonium schließlich ist ein typisches Metall. Die Wasserstoffverbindungen H2X der Chalkogene sind mit Ausnahme des Wassers (Wasserstoffbrücken) gasförmig; sie sind in Wasser löslich und reagieren schwach sauer, wobei die Säurestärke - wie bei den Halogenen - mit zunehmender Größe des Chalkogenatoms zunimmt. Dagegen nimmt die Säurestärke von wässrigen Lösungen der stabilsten Sauerstoffsäuren H 2 X O 4 von der Schwefelsäure-(VI) H 2 S O 4 über die Selensäure-(VI) H2SeC>4 zur Tellursäure-(VI) H2TeC>4 hin ab. Sauerstoff Neben der hauptsächlichen Form O 2 existiert Sauerstoff noch in einer weiteren, ebenfalls gasförmigen Modifikation, dem Ozon O3. Das Ozon-Molekül ist gewinkelt; es besitzt polyzentrische Molekülorbitale und kann in zwei mesomeren Grenzstrukturen formuliert werden:

214

B. Spezielle anorganische Chemie

© Ck Q

©

5/0

0

•o

Ozon bildet in höheren Schichten der Atmosphäre einen "Schutzschild" für das Leben auf der Erde, da es aus dem Sonnenlicht gefährliche kurzwellige UV-Strahlen (UV = Ultraviolett) absorbiert. Durch die vielseitige Verwendbarkeit von sogenannten Muorchlor&ohlenwasserstoffen (FCKW) als Treibgas, Kältemittel und Lösungsmittel gelangen diese Substanzen in die Atmosphäre und beschleunigen die Zersetzung des thermodynamisch instabilen Ozons ("Ozonloch"), wodurch zum Beispiel das Risiko, wegen zu intensiver Sonnenbestrahlung Hautkrebs zu entwickeln, stark ansteigt. Während also die Existenz des Ozon-Schutzschildes in der hohen Atmosphäre von großer Bedeutung ist, stellt Ozon, welches sich bei starker Sonneneinstrahlung unter dem Einfluß von Autoabgasen auch in Bodennähe bilden kann, bei direkter Einwirkung auf den Menschen ein starkes Gift dar, wobei besonders die Atemwege in Mitleidenschaft gezogen werden. Aufgrund seiner kräftigen Oxidationswirkung ist Ozon ein starkes Zellgift; es wird deshalb für Desinfektionszwekke, beispielsweise in Schwimmbädern, benützt. Der Sauerstoff auf der Erde ist ein Produkt des Lebens: Die Uratmosphäre war frei von Sauerstoff; dieser hatte sich bei der Entstehung der Erde mit anderen Elementen zu Oxiden und Salzen von Sauerstoffsäuren verbunden. Sauerstoff entsteht bei der Photosynthese, der Umwandlung von Kohlendioxid und Wasser in Kohlenhydrate, wobei die notwendige Energie durch Sonnenlicht beigesteuert wird: 6C02 + 6H20 % C6Hi206 + 602. (In der chemischen Formelsprache bedeutet hv, das Produkt aus dem Planck'schen Wirkungsquantum h und der Frequenz v des Lichtes, soviel wie Lichtenergie). Die wichtigste Verbindung des Sauerstoffs ist Wasser. Das H 2 0 - M o l e k ü l besitzt stark polare kovalente Bindungen, weist einen gewinkelten Bau auf und ist ein starker Dipol. Die Ausbildung starker Wasserstoffbrückenbindungen ist für den vergleichsweise hohen Schmelz- und Siedepunkt von Wasser (Schwefelwasserstoff H 2 S ist ein Gas) und für die Anomalie der Dichteabhängigkeit von Wasser verantwortlich. Das starke Dipolmoment der Moleküle bewirkt die mit einem Wert von 80 extrem hohe Dielektrizitätskonstante von Wasser und damit seine Eignung als ausgezeichnetes Solvens für Salze. Die große spezifische Wärme, die hohe Wärmeleitfähigkeit und die große Verdunstungswärme des Wassers sind Folgen der H-Brückenbindungen und machen

15. Hauptgruppenelemente

215

Wasser zu einem ausgezeichneten Medium für den Wärmetransport, ob aus der Mitte des Körpers an die Hautoberfläche oder vom Äquator an die Pole der Erde. Eine Sonderstellung nimmt das 'Wasserstoffperoxid H2O2 ein. Wie alle Peroxide enthält es eine 0 - 0 Bindung; die beiden Sauerstoffatome haben die Oxidationszahl - 1 . Wasserstoffperoxid ist instabil und zersetzt sich leicht gemäß 2H 2 0 2

2H 2 O + 0 2 .

Die Zahlen oberhalb der Elementsymbole bedeuten Oxidationszahlen. Bei der Zersetzung werden also aus 4 O-Atomen mit der Oxidationszahl - 1 zwei O-Atome mit - 2 und zwei O-Atome mit 0. Eine Reaktion, bei der ein Element von einer mittleren Oxidationszahl ausgehend zwei verschiedene Oxidationszahlen annimmt, bezeichnet man als Redox-Disproportionierungsreaktion. Wegen seiner mittleren Oxidationszahl kann H2O2 als Reduktionsmittel und als Oxidationsmittel reagieren. Die Halbreaktion der Oxidation (H2O2 ist Reduktionsmittel) lautet: H 2 0 2 - > 0 2 +2H + + 2e~; die Halbreaktion der Reduktion (H2O2 ist Oxidationsmittel) ist H2Ó2

+ 2 H + + 2 e ~ —> 2 H 2 O .

H2O2 ist eine sehr schwache Säure. Ihre Salze sind die Peroxide; sie enthalten das Peroxid-Anión O \ . Beispiele sind Natriumperoxid Na2Ü2 oder Kaliumperoxid K202. H2O2 fällt bei verschiedenen biochemischen Reaktionen innerhalb von Zellen an. Da es ein Zellgift ist, existieren verschiedene enzymatische Mechanismen, um es unschädlich zu machen. Es findet zum Bleichen von Haaren, Federn und Knochenpräparaten weitverbreitete Anwendung. In der Medizin dient es als Desinfektionsmittel in Mund- und Gurgelwässern sowie in der Wundbehandlung. Ein weiteres sehr reaktives und daher schädliches Molekül ist das Superoxid-Anion, welches durch Übertragung eines Elektrons auf molekularen Disauerstoff entsteht: O2 + e —>Ó2 (das Elektron kann zum Beispiel von einem Fe2+ stammen: Fe2+ —» Fe3+ + e~).

216

B. Spezielle anorganische Chemie

Das Superoxid-Anion besitzt ein ungepaartes Elektron; es ist ein Radikal (dies soll der Punkt über dem Elementsymbol anzeigen). Radikale sind extrem reaktiv und können zu völlig unkontrollierbaren Reaktionen führen. Zellen besitzen daher ein Enzym, die Superoxid-Dismutase (SOD), die Superoxid in H2O2 überführt: •



2 0 2 +2H +

SOD

H2O2 + O2.

Die Oxide der Metalle sind meist salzartig aufgebaut: Sie enthalten immer das Oxid-Ion O 2 - , welches beim Auflösen wasserlöslicher Oxide (das sind die Oxide der 1. und teilweise der 2. Hauptgruppe, wie etwa Natriumoxid Na2Ü und Magnesiumoxid MgO) in Wasser aufgrund seiner extrem hohen Basenstärke nach der Gleichung O 2 - + H2O —> 20H" vollständig zu Hydroxid-Ionen protoniert wird. Viele Oxide sind von großer technischer Bedeutung als Erze. Beispiele dafür sind besonders die verschiedenen Oxide des Eisens, die zur technischen Gewinnung des Metalles herangezogen werden. Dabei bewirkt Kohlenstoff eine Reduktion des Metalles. Vereinfacht: +3 0 0 44 2 Fe2 0 3 + 3 C-> 4 Fe +3 C 0 2 .

Schwefel Schwefel kommt elementar als Mineral, gasförmig als Schwefelwasserstoff H2S und Schwefeldioxid SO2 in vulkanischen Dämpfen ("Exhalationen") und gebunden hauptsächlich in Sulfaten, zum Beispiel als medizinisch wichtiges Calciumsulfat ("Gips" mit Kristallwasser CaS0 4 -2H 2 0 und CaS0 4 • ^H 2 0), und Sulfiden ("Blenden", "Kiese", "Glänze") wie Zinkblende ZnS, Kupferkies CuFeS2oder Bleiglanz PbS vor. Schwefel ist ein Bestandteil von Eiweiß (Protein), da er in drei Aminosäuren, den Bausteinen der Eiweiße, vorkommt: Cystein, Cystin und Methionin. Außerdem finden wir Schwefel in zwei Vitaminen, dem Thiamin und dem Biotin. Schwefel kommt je nach Temperatur in verschiedenen Modifikationen vor. Er brennt an Luft mit blauer Flamme, dabei bildet sich Schwefeldioxid: s+o2->so2. Die Wasserstoffverbindung H2S ist ein sehr giftiges und in größter Verdünnung noch deutlich übelriechendes Gas (faule Eier verdanken ihren Gestank dem

15. Hauptgruppenelemente

217

Schwefelwasserstoff). H 2 S ist gut wasserlöslich ("Schwefelwasserstoff-Wasser"); es ist eine schwache zweibasige Säure und bildet zwei Reihen von Salzen: Die Hydrogensulfide mit dem Hydrogensulfid-Anion HS" und die Sulfide mit dem SulfidAnion S 2 ". Viele Sulfide, besonders von Schwermetallen, sind sehr schwerlöslich. Die Bildung von H2S in Senkgruben und Abwasserkanälen kann zu tödlichen Vergiftungsunfällen führen. Schwefelbäder spielen seit altersher eine Rolle in der Behandlung von Gelenksleiden und Hautkrankheiten. Von den Sauerstoffverbindungen ist das gasförmige, stechend riechende und sehr giftige Schwefeldioxid SO2 am wichtigsten. Es entsteht durch Verbrennung von Schwefel und durch "Rösten" sulfidischer Erze. Ein Beispiel für diese Reaktion (Erhitzen unter Zutritt von Sauerstoff) ist etwa 4FeS 2 + 110 2 - » 2Fe 2 0 3 + 8S0 2 . S 0 2 ist ein starkes Zellgift; besonders Pflanzen werden durch "Ausbleichen" (Zerstörung des für die Photosynthese wichtigen grünen Blattfarbstoffs Chlorophyll) bei höheren S0 2 -Konzentrationen in der Luft in Mitleidenschaft gezogen. Es ist außerdem das Anhydrid der schwefeligen Säure H2SO3 und reagiert mit Luftfeuchtigkeit zu dieser mittelstarken Säure: so2+h2o->h2so3. Durch diese Reaktion ist S 0 2 ein Hauptverursacher des sauren Regens. H2SC>3 ist in freier Form nicht beständig, wohl aber in Form ihrer Salze, der Hydrogensulfite mit dem HSOj-Ion und der Sulfite mit dem SO^-Ion. Schwefelige Säure besitzt starke bakterizide Eigenschaften, von denen man bei der Weinherstellung und bei der Konservierung von Trockenobst Gebrauch macht. Die zweite wichtige Sauerstoffverbindung des Schwefels ist Schwefeltrioxid SO3. Es wird technisch in großen Mengen durch katalytische Oxidation von S 0 2 hergestellt. Es ist bei Raumtemperatur fest und löst sich unter Hitzeentwicklung begierig in Wasser, wo es zur sehr starken Schwefelsäure reagiert: so3+h2o->h2so4. Konzentrierte Schwefelsäure, eine farblose, ölige und sehr dichte Flüssigkeit (Dichte p = 1.836 kg pro 1) ist nicht nur eine sehr starke Säure, sondern auch ein starkes Oxidationsmittel, das sogar edle Metalle wie Kupfer auflösen kann: Cu +S O4- + 4H + - » Cu 2+ +S 0 2 T +2H 2 0.

218

B. Spezielle anorganische Chemie

Konzentrierte H2SO4 ist extrem hygroskopisch (wasseranziehend): So kann sie organischer Materie, etwa Zucker, Wasser entziehen: C 6 HI 2 0 6

H,SO4

6C + 6H2O.

Sie bildet zwei Reihen von Salzen, die Hydrogensulfate mit dem HSO^-Ion und die Sulfate mit dem SO^-Ion. Medizinisch sind die schwerlöslichen Salze Calciumsulfat und Bariumsulfat von besonderem Interesse: Calciumsulfat bildet als CaSC>4 • 2H 2 0 ein hartes Mineral (Gips). Beim Erhitzen verliert Gips Kristallwasser und zerfällt zu einem weißen Pulver mit der Formel CaSC>4 • ^HaO. Wird dieses mit Wasser zu einem Brei angerührt, verbindet es sich mit diesem langsam wieder zu CaSC>4 • 2H2O und härtet aus. Gipsverbände werden bei der Versorgung von Knochenfrakturen ausgenützt. Bariumsulfat BaSC>4 ist für Röntgenstrahlen nahezu undurchlässig und wird daher als Röntgenkontrastmittel verwendet. Dies ist trotz der hohen Giftigkeit von Ba 2+ -Ionen möglich, da BaSC>4 schwerlöslich ist: Das Löslichkeitsprodukt beträgt LB3SO4 = 10~10, womit sich als molare Löslichkeit ergibt: m L = VlO"10 = 10"5mol • l" 1 ; in einem Liter Wasser lösen sich dementsprechend nur 0.00001 Mol BaSC>4. Diese geringe Konzentration an freien Ba 2+ -Ionen ist praktisch ungiftig. Die gut löslichen, kristallwasserhältigen Salze Na2SC>4 • IOH2O ("Glaubersalz") und MgS0 4 • 7H 2 0 ("Bittersalz") sind wichtige Laxantien (Abführmittel); die "Bitterwässer" genannten Mineralwässer verdanken ihnen ihre abführende Wirkung. H2SO4 kommt als Zellbestandteil auch in chemisch gebundener Form vor, etwa in Form von Schwefelsäure-Estern kovalent gebunden an Membraniipide (Sulfatide). Selen, Tellur, Polonium Selen ist Bestandteil eines wichtigen Enzyms, der Glutathionperoxidase. Diese spielt eine wichtige Rolle bei der Entgiftung bestimmter Radikale, daher wird Selen zur Gruppe der sogenannten Antioxidantien gerechnet. Selen ist daher ein essentieller Bestandteil der Nahrung. Die meisten sonstigen Verbindungen dieser Elemente sind sehr giftig.

15. Hauptgruppenelemente

219

15.5 Stickstoffgruppe Die Elemente der 5. Hauptgruppe werden als Stickstoffgruppe bezeichnet: Stickstoff (N von nitrogenium), Phosphor (P), Arsen (As), Antimon (Sb von stibium) und Bismut (Bi). Elektronenkonfiguration Die Elemente besitzen die Valenzelektronenkonfiguration ns 2 p 3 , wobei aufgrund der Hund'schen Regeln die drei p-Elektronen einzeln die drei p-Orbitale p x , py und p z besetzen. Die Elektronenaffinität ist im Vergleich mit den Chalkogenen geringer, dennoch tritt Stickstoff in vielen Verbindungen als elektronegativer Partner mit der Oxidationszahl - 3 auf, wie zum Beispiel gegenüber Kohlenstoff und Wasserstoff. Daneben existieren von Stickstoff und den anderen Elementen der Gruppe auch positive Oxidationszahlen (bis hin zur maximal möglichen Oxidationszahl von +5). Die Stabilität der Wasserstoffverbindungen XH3, in welchen die Elemente X der Stickstoffgruppe gegenüber dem Wasserstoff formal die Oxidationszahl - 3 annehmen, nimmt mit zunehmender Ordnungszahl vom Ammoniak NH3 zum Antimonhydrid SbH3 und Bismuthydrid BÍH3 hin sehr stark ab; die letzteren Hydride sind thermisch instabil. Umgekehrt nimmt, wie in den bereits besprochenen Hauptgruppen, der metallische Charakter (der der Tendenz zur Annahme positiver Oxidationszahlen in Verbindungen parallel geht), mit steigender Periode zu. Vorkommen Stickstoff bildet als zweiatomiges N2 mit etwa 78% Anteil die Hauptkomponente der Luft. In gebundener Form kommt er in mineralischen Nitraten ("Salpeter") vor; außerdem ist er wie Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff eines der wichtigsten Elemente beim Aufbau organischer Materie. Eiweiß enthält etwa 16% Stickstoff. Phosphor ist reaktiv; er kommt daher in der Natur nur in gebundener Form in mineralischen Phosphaten vor; auch bildet Phosphor einen Hauptbestandteil von Knochen. Arsen, Antimon und Bismut können (selten) in elementarer Form, meist aber gebunden in Mineralien gefunden werden. Eigenschaften und chemische Verbindungen Wie die Chalkogene zeigen auch die Elemente der 5. Hauptgruppe eine gewisse Heterogenität. Stickstoff ist als einziges Element der Gruppe bei Raumtemperatur gasförmig; die übrigen Elemente sind fest. Phosphor, Arsen und Antimon kommen in metallischen und in nichtmetallischen Modifikationen vor, Bismut ist ein typisches Metall.

220

B. Spezielle anorganische Chemie

Die Wasserstoffverbindungen sind - der geringeren Elektronegativität der Elemente der 5. Hauptgruppe entsprechend - nun nicht mehr vorwiegend sauer, sondern sogar basisch, wobei allerdings die Basizität vom NH3 zum BiH3 stark abnimmt. An der Luft ist nur NH3 stabil, die übrigen Wasserstoffverbindungen entzünden sich, da sie wegen der Neigung der schwereren Elemente der Gruppe zu positiven Oxidationszahlen stark reduzierend wirken. Entsprechend nimmt die Stabilität von Sauerstoffverbindungen der Elemente der 5. Hauptgruppe mit steigender Periodennummer zu. Ebenso wie bei den Chalkogenen nimmt die Stärke der Sauerstoffsäuren ab, wenn wir zu Elementen mit höherer Ordnungszahl fortschreitet: Salpetersäure HNO3 ist eine sehr starke Säure, Phosphorsäure H3PO4 ist eine mittelstarke Säure, und Arsensäure H3ASO4 ist amphoter; sie reagiert mit Basen, aber auch mit Säuren: H 3 As0 4 + 30H- -> ASO4" + 3H 2 0 H 3 AS04 + 5H+ -> As5+ + 4H 2 0 Die letztere Reaktion deutet schon auf den zunehmenden metallischen Charakter hin; ganz analog reagieren Metalloxide und -hydroxide mit Säuren unter Bildung der entsprechenden Metall-Kationen. Stickstoff N 2 ist färb- und geruchlos, siedet etwas tiefer als 0 2 (es ist leichter) und ist wegen seiner sehr stabilen Dreifachbindung sehr reaktionsträge. Die wichtigste Wasserstoffverbindung des Stickstoffs ist Ammoniak NH3. Es ist ein farbloses, giftiges Gas mit einem charakteristischen stechenden Geruch und löst sich wegen der Ausbildung von Wasserstoffbrücken außerordentlich begierig in Wasser ("Salmiak"). Die wässrige Lösung reagiert wegen der Reaktion NH3 + H 2 0

,

• NH4 + OH~

schwach basisch; mit einem pKß = 4.75 ist Ammoniak eine schwache Base. Die konjugierte Säure des Ammoniaks ist das tetraedrisch gebaute Ammonium-Ion NH4, welches etwa gleich groß ist wie das Kalium-Ion K + . Die Ammoniumsalze verhalten sich daher in ihren Eigenschaften, insbesondere hinsichtlich ihrer Wasserlöslichkeit, sehr ähnlich wie die entsprechenden Kaliumsalze. Die Stickstoffwasserstoffsäure HN3 bildet mit Basen sehr instabile Salze, die Azide, die vielfach explosiv sind und oft zu Sprengunfällen führen. Blei- und Silberazid werden daher in Sprengkapseln verwendet. Außerdem sind Azide bakterizid;

15. Hauptgruppenelemente

221

Natriumazid NaN3 wird daher für Desinfektionszwecke, etwa bei der Durchführung von Zellkulturexperimenten, verwendet. Stickstoff bildet verschiedene Sauerstoffverbindungen: Diese sind allgemein weniger stabil als bei den schwereren Elementen der 5. Hauptgruppe, da der Stickstoff selbst relativ elektronegativ ist und daher mit Sauerstoff weniger stabile Bindungen ausbildet als die elektropositiveren Elemente der Gruppe. Distickstoffmonoxid N2O wird als Narcoticum therapeutisch eingesetzt: Es besitzt eine betäubende Wirkung und verursacht eine auffallende Munterkeit und Euphorie ("Lachgas"). Das zweiatomige Stickstoffmonoxid NO ist ein farbloses, giftiges Gas, welches an der Luft schnell zu rotbraunem Stickstoffdioxid NO2 oxidiert wird: 2N0 + 0 2 - > 2 N 0 2 . Dieses letztere Gas ist etwas wasserlöslich und disproportioniert zu Salpetriger Säure HNO2 und Salpetersäure HNO3: 2 N 0 2 + H20->HN02 + HN03. Beide Gase, NO und N 0 2 ("nitrose Gase"), entstehen auch bei der Verbrennung von Kraftstoffen und tragen über die Umwandlung in die beiden Sauerstoffsäuren wesentlich zur Entstehung des sauren Regens bei. Nitrose Gase entstehen auch oft bei Arbeiten mit Salpetersäure und sind nicht selten Ursache schwerer Vergiftungen. Die Anzahl der Elektronen in den beiden Oxiden NO und NO2 ist ungerade: So enthält NO 11 Valenzelektronen, NO2 besitzt 17 Valenzelektronen. Die beiden Verbindungen besitzen daher eine erhöhte Reaktivität. Insbesondere NO hat in den letzten Jahren außerordentliches biomedizinisches Interesse erlangt, da sich herausstellte, daß der sogenannte endothelial derived relaxing factor (EDRF), der für die Regulation des Gefäßtonus und damit des Blutdrucks eine Schlüsselrolle spielt, mit NO identisch ist oder zumindest NO als wesentliche Komponente enthält. Darüberhinaus wird der Substanz heute eine Rolle bei der Nervenreizübertragung (Neurotransmitter) und bei Immunreaktionen als Waffe der Immunzellen (cytotoxische Wirkung) zugeschrieben. Stickstoff bildet zwei Sauerstoffsäuren. Die Salpetrige Säure HNO2 ist eine instabile mittelstarke Säure. Ihre Salze heißen Nitrite [rationell: Nitrate-(III)]. Salpetrige Säure und die Nitrite sind giftig, da sie im sauren Milieu des Magens mit sekundären Aminen (siehe Organische Chemie) N-Nitrosamine bilden, die cancerogen wirken.

222

B. Spezielle anorganische Chemie

Salpetersäure HNO3 ist eine sehr starke Säure; ihre Salze heißen Nitrate [rationell: Nitrate-(V)]. Salpetersäure ist ein starkes Oxidationsmittel: N O3 + 3e" + 4H +

+ 2H20.

So lösen sich auch edle Metalle wie Kupfer und Silber in Salpetersäure auf. Silbernitrat AgN03 besaß früher als Höllenstein (lapis infernalis) medizinische Bedeutung, da es auf der Haut oxidierend wirkt und - unter Abscheidung von schwarzem, elementarem Silber - Hautwucherungen entfernt. Phosphor Von Phosphor ist eine Verbindung von zentraler Wichtigkeit für die Biochemie und Physiologie des Menschen, die mittelstarke Phosphorsäure H3PO4. Als dreibasige Säure ist sie in der Lage, drei Reihen von Salzen zu bilden: Dihydrogenphosphate H2PO4, Hydrogenphosphate HPO4" und Phosphate PO4". Das P O ^ - I o n ist tetraedrisch gebaut; das P-Atom ist tetraedrisch von vier O-Atomen umgeben, genau wie auch das S-Atom in H 2 S0 4 oder das C1 -Atom in HC10 4 . HPO4", H2PO4 und H3PO4 ergeben sich durch Addition der entsprechenden Anzahl von H + -Ionen an die negativ geladenen O- Atome (Abb. 15.5.1).

O HO

P

O OH

HO Abb. 15.5.1

O-

O P HO

OH

O O-

P HO

O"

O-

P

O"

O"

Der Zusammenhang zwischen der Phosphorsäure und ihren Salzen

Dieses Bauprinzip ist für alle Sauerstoffsäuren der verschiedenen Elemente gültig: Die sauren (aciden) Wasserstoffatome sind nie direkt an das Zentralatom gebunden, sondern immer an die Sauerstoffatome, die das Zentralatom umgeben. Abb. 15.5.2 vermittelt einen Eindruck von der räumlichen Gestalt der Moleküle:

223

15. Hauptgruppenelemente

Abb. 15.5.2

Räumlicher Bau der Phosphorsäure (a) und ihrer Anionen: Dihydrogenphosphat, (c) Hydrogenphosphat und (d) Phosphat.

(b)

Analog sind H2SO4, HCIO4 oder H3ASO4 aufgebaut. Bei Sauerstoffsäuren mit nur drei Sauerstoffatomen wie HNO3 ist eine ebene (planare) Anordnung der Sauerstoffatome um das Zentralatom die Regel; bei zwei Sauerstoffatomen wie bei HNO2 finden wir eine gewinkelte Anordnung der Sauerstoffatome am Zentralatom. Calciumphosphat Ca 3 (P04) 2 bildet als Phosphorit große Lagerstätten in Nord- und Westafrika, in Florida und auf der Halbinsel Kola; es wird als Düngemittel abgebaut. Im Knochen stellt Phosphorsäure als Bestandteil des Hydroxylapatits Ca 5 (P04)30H einen wesentlichen Bestandteil dar, Fluorapatit Ca5(P04)3F härtet Zahnschmelz und schützt sehr wahrscheinlich vor Karies. Biochemisch äußerst wichtig sind Phosphorsäureester (das sind Verbindungen zwischen H3PO4 und organischen Hydroxylverbindungen (Alkoholen). Nucleotide etwa sind die Bausteine des genetischen Materials (DNA, RNA) und wichtigste Energieüberträger, Zuckerphosphate spielen vielfältige Rollen bei biochemischen Prozessen und Phospholipide sind essentielle Komponenten biologischer Membranen. Diese Verbindungen werden später detailliert behandelt.

224

B. Spezielle anorganische Chemie

Ein Abkömmling der Phosphorsäure ist Diphosphorsäure (Pyrophosphorsäure) H4P2O7, deren Salze Diphosphate (Pyrophosphate) heißen. Sie ist als Säureanhydrid aufzufassen, das heißt, sie entsteht formal unter Wasserabspaltung aus zwei Molekülen H3PO4, wobei Energie benötigt wird: 2H3PO4

+ Energie -> H4P2O7 + H z O.

Sie enthält eine P - O - P -Brücke (Abb. 15.5.3), die sehr energiereich ist: Sie kann durch H2O in einer Umkehrung der obigen Reaktion leicht gespalten werden, wobei wieder Energie frei wird.

O HO

P

O O

HO Abb. 15.5.3

Konstitution der

P

OH

HO

Diphosphorsäure

Solche energiereichen Bindungen bieten Zellen die Möglichkeit, chemische Energie zu speichern und zu transportieren, etwa in Form des Adenosin-5'-triphosphates (siehe Abb. 10.7.4). Die gespeicherte Energie kann bei Bedarf durch Hydrolyse der energiereichen Bindung (Aufspaltung der Bindung mit Wasser) freigesetzt werden: H4P2O7 + H

2

0 - » 2H3PO4 + Energie.

15.6 Kohlenstoffgruppe Die 4. Hauptgruppe enthält die Elemente Kohlenstoff (C), Silicium (Si), Germanium (Ge), Zinn (Sn von stannum) und Blei (Pb von plumbum). Elektronenkonfiguration Die Valenzschale enthält 4 Elektronen in der Konfiguration ns 2 p 2 . Als Elemente in der Mitte des Periodensystems sind sie in ihren Verbindungen weder ausgeprägt elektronegativ noch elektropositiv. Die maximale Oxidationszahl ist +4, daneben finden wir auch Verbindungen mit der Oxidationszahl +2, die insbesondere bei den schwereren Elementen wie Sn und Pb an Bedeutung gewinnen. Auch die formal maximale negative Oxidationszahl - 4 existiert in den Wasserstoffverbindungen der

15. Hauptgruppenelemente

225

Elemente, XH 4 , wobei allerdings die Beständigkeit vom sehr stabilen Methan CH4 zum Bleiwasserstoff PbH4 stark abnimmt. Eigenschaften Alle Elemente der Kohlenstoffgruppe sind bei Raumtemperatur fest. Kohlenstoff ist ein reines Nichtmetall, Silicium und Germanium sind typische Halbmetalle und daher technisch wichtig zur Herstellung von Halbleitern, Zinn und Blei sind Metalle. Kohlenstoff Kohlenstoff besitzt einige einzigartige Eigenschaften, die er mit keinem anderen Element teilt: Leben, wie wir es kennen, ist nur auf Kohlenstoffbasis vorstellbar. Aufgrund seiner Stellung in der Mitte der ersten Achterperiode des Periodensystems bildet Kohlenstoff sehr stabile Bindungen zu weiteren Kohlenstoffatomen, aber auch zu Wasserstoffatomen aus: Die C - C - Bindung und die C - H - Bindung sind sehr stabil und daher sehr reaktionsträge. Auch mit anderen Nichtmetallen wie N, P, O, S, F, Cl, Br und I bildet C stabile, durch Polarisierungseffekte allerdings auch reaktivere Bindungen aus. Die Neigung zur Ausbildung von C - C - Bindungen manifestiert sich nicht nur in der Struktur von Diamant und Graphit; Kohlenstoffatomme können unverzweigte und verzweigte Ketten beliebiger Größe, aber auch Ringe und dreidimensional aufgebaute Strukturen ausbilden. Daneben ist Kohlenstoff zur Ausbildung stabiler Mehrfachbindungen (Doppelbindungen, Dreifachbindungen) in der Lage. Es gibt daher im Prinzip unendlich viele unterschiedliche Kohlenstoffverbindungen. Der bei weitem größte Teil dieser Verbindungen wird in der Organischen Chemie behandelt; in der Anorganischen Chemie besprechen wir nur das Element selbst und seine Oxide (Kohlenmonoxid, Kohlendioxid), die Kohlensäure und deren Salze (Hydrogencarbonate und Carbonate), und schließlich die Blausäure und ihre Salze (Cyanide). Kohlenstoff kommt in sehr verschiedenartigen Modifikationen vor; so bildet er den mechanisch sehr wenig widerstandsfähigen Graphit, aber auch den Diamant, den härtesten bekannten Stoff. Der Grund für diese Verschiedenartigkeit der Eigenschaften dieser Modifikationen des Kohlenstoffs liegt im molekularen Aufbau: Im Diamant ist jedes C-Atom sp 3 -hybridisiert und tetraedrisch von vier weiteren CAtomen umgeben (siehe Kapitel 2.5), wodurch sich ein sehr stabiles räumlich über den gesamten Kristall gleichartig ausgedehntes Kristallgitter bildet. Im Graphit dagegen ist jedes C-Atom sp 2 -hybridisiert und von drei C-Atomen in planarer Anordnung umgeben, da sich in der so entstehenden ebenen Schicht sehr stabile polyzentrische Molekülorbitale ausbilden (Abb. 15.6.1):

226

B. Spezielle anorganische Chemie

Abb. 15.6.1

Die Schichtenstruktur

des

Graphits.

Diese Schichten sind zwar für sich betrachtet sehr stabil, aber aufgrund ihres relativ großen Abstandes und der nur schwachen Bindungskräfte zwischen den Schichten sehr leicht gegeneinander beweglich, weshalb Graphit so weich ist, daß er technisch als Schmiermittel Verwendung findet. Die polyzentrischen Molekülorbitale bewirken, daß Graphit ein guter elektrischer Leiter ist und zur Herstellung von Elektroden gebraucht wird: Die an jedem sp 2 -hybridisierten C-Atom noch übrigen 2 p z Elektronen sind in den polyzentrischen Molekülorbitalen sehr leicht beweglich. (Im Gegensatz dazu ist Diamant ein idealer elektrischer Nichtleiter oder Isolator). Kohlenstoff ist weiterhin Hauptbestandteil von Kohle und Ruß. Mit Sauerstoff verbrennt Kohlenstoff zu Kohlendioxid CO2 oder - im Falle einer unvollständigen Verbrennung - zu Kohlenmonoxid CO. Bei höherer Temperatur vermag Kohlenstoff auch mit dem Sauerstoff vieler Metalloxide zu reagieren, wodurch diese zu den reinen Metallen reduziert werden: 3+ 0 44 0 2 Fe 2 0 3 + 3 C-> 3 C 0 2 + 4 Fe. CO ist ein farbloses und wegen seiner Geruch- und Geschmacklosigkeit eines der gefährlichsten Giftgase. Seine Giftwirkung beruht darauf, daß es als Ligand mit dem Eisen-Zentralion des Häm im Hämoglobin einen stabileren Komplex bildet als der eingeatmete Sauerstoff 02und diesen von der vorgesehenen Koordinationsstelle am Eisen-Ion verdrängt. Bereits bei einer Konzentration von 0.5% CO in der Atemluft sinkt die Transportfähigkeit des Blutes für Sauerstoff soweit ab, daß es in wenigen Minuten zu einer inneren Erstickung kommt.

227

15. Hauptgruppenelemente

CO2, ein ebenfalls farbloses Gas, bildet zu etwa 0.03% einen Nebenbestandteil der Erdatmosphäre und ist bis zu etwa 4% in der Ausatmungsluft enthalten. Unterhalb von -78C ist es fest, bei höheren Temperaturen sublimiert CO2, es geht also direkt - ohne flüssig zu werden - in den gasförmigen Zustand über. Nur unter höherem Druck läßt es sich verflüssigen. Das feste, weiße CO2 ist unter dem Namen Trokkeneis ein vielverwendetes Kühlmittel. CO2 besitzt linearen Bau:

o = c = o, das Kohlenstoffatom ist also sp-hybridisiert. Es ist 1.5 mal schwerer als Luft und sammelt sich daher an den tiefsten Stellen, unmittelbar über dem Boden, an. Eine brennende Kerze erlischt bei einem C02-Gehalt der Luft von etwa 10%; dadurch wird gerade die Konzentration des Gases angezeigt, die für den Menschen lebensgefährlich ist. Dies ist von Interesse zur Entdeckung gefährlicher CC>2-Konzentrationen, beispielsweise in Weinkellern oder Silos. In Wasser ist CO2 gut löslich; ein kleiner Teil der gelösten C02-Moleküle reagiert chemisch mit Wasser zur instabilen Kohlensäure: CO2 + H2O

.

H2CO3.

Es stellt somit das Säureanhydrid der Kohlensäure dar. Kohlensäure ist eine sehr schwache Säure (pKs =6.1); ihre Salze heißen Hydrogencarbonate (mit dem Anion HCO3) und Carbonate (CO3"). Das System aus H2CO3/H2O + CO2 und HCO3 haben wir als offenes Puffersystem zur Aufrechterhaltung des physiologischen BlutpH-Wertes kennengelernt (siehe Kapitel 9.9). Hydrogencarbonate (Bicarbonate) reagieren in wässriger Lösung schwach basisch (pKß = 1 4 - 6 . 1 =7.9), sie werden zum Beispiel als Speisesoda zur Neutralisation überschüssiger Magensäure (etwa bei Sodbrennen) eingesetzt. Carbonate kommen als gesteinsbildende Mineralien weit verbreitet vor; so als Kalk CaCC>3 oder Dolomit CaC03/MgCC>3. Das Carbonat-Ion ist eben gebaut (sp 2 - hybridisiertes C-Atom) und besitzt polyzentrische Molekülorbitale, ist also mesomeriestabilisiert:

©

§ 101

lol

©

o

101

228

B. Spezielle anorganische Chemie

Blausäure oder Cyanwasserstoff ist ein Gas mit der Formel HC = N. Die Salze dieser extrem schwachen Säure (pKs = 9.4), die Cyanide (zum Beispiel Kaliumcyanid = Zyankali, KCN) sind bereits deutlich basisch (pKB = 14-9.4 = 4.6) und stellen ebenso wie HCN selbst ein äußerst gefährliches Gift dar. Der Grund für diese hohe Toxizität ist ebenso wie beim CO die Bildung sehr stabiler Komplexe mit dem Eisen-Zentralion des Häm und die damit verbundene innere Erstickung, da kein Sauerstofftransport mehr möglich ist. Silicium Silicium ist eines der wichtigsten Elemente in der festen Erdkruste: Als Siliciumdioxid Si0 2 ist es ein wichtiger Gesteinsbildner und bildet Quarz und seine vielfältigen Abarten (farbloser Bergkristall, violetter Amethyst, gelber Citrin, grauer Rauchquarz). Die Salze der Kieselsäure H4Si04, die Silicate, sind Hauptbestandteil sehr vieler verschiedener Gesteine. Warum ist CO2 ein Gas, SiC>2 jedoch ein hartes kristallines Mineral ? Der Grund für diesen eklatanten Unterschied der beiden Dioxide liegt darin, daß Kohlenstoff als Element der ersten Achterperiode ohne Schwierigkeiten Doppelbindungen, sowohl mit weiteren C-Atomen, aber auch mit anderen Atomen wie O, ausbilden kann, Silicium aber nicht. SiC>2 ist daher nicht so wie CO2 linear gebaut mit Si = O-Doppelbindungen, sondern bildet ein dem Diamant ähnliches Kristallgitter aus, in dem jedes Si-Atom im Zentrum eines Tetraeders aus vier O-Atomen liegt, und jedes O-Atom noch mit einem weiteren Si-Atom verbunden ist. Analog sind Tetraeder aus einem Si- und vier O-Atomen das beherrschende Strukturmerkmal in Silicaten. Durch diese Anordnung kann Silicium trotz der Vermeidung von Doppelbindungen die Edelgaskonfiguration in der Valenzschale erreichen. Dieser "kleine" Unterschied zwischen den beiden im Periodensystem benachbarten Elementen hat für das Leben auf der Erde tiefgreifende Konsequenzen: Es wurde spekuliert, ob auf anderen Welten ein Leben auf Silicium-Basis möglich sei, da dieses Element auch wie der Kohlenstoff sehr komplexe Strukturen aufbauen kann, etwa in den verschiedenen Silicaten. Wir müssen aber annehmen, daß ein hypothetisches Leben auf Siliciumbasis von dem, was wir als "Leben" bezeichnen, so völlig verschieden sein müßte, daß es uns schwer fallen würde, es überhaupt als Leben zu erkennen. Es gibt Hinweise dafür, daß Silicium auch für den Menschen als Ultraspurenelement für den regulären Aufbau des Bindegewebes essentiell ist.

15. Hauptgruppenelemente

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15.7 Borgruppe Die 3. Hauptgruppe des Periodischen Systems besteht aus den Elementen Bor (B), Aluminium (AI), Gallium (Ga), Indium (In) und Thallium (Tl). Elektronenkonfiguration Die Elemente besitzen im Grundzustand die Valenzelektronenkonfiguration ns 2 p'. Sie werden auch als Erdmetalle bezeichnet. Mit Ausnahme von Bor sind alle Mitglieder dieser Hauptgruppe Metalle. Bor hingegen leitet den elektrischen Strom schlecht; die Boratome sind weitgehend durch kovalente Bindungen, nicht durch metallische Bindung, aneinander gebunden. Auch in Verbindungen tritt Bor nur kovalent gebunden auf, da die Ionisierungsenergie relativ hoch ist. Dagegen kommen die anderen Mitglieder der Gruppe vorwiegend in ionisch gebundener Form vor. Aluminium und Gallium treten praktisch nur als X 3+ -Ionen auf, während bei Indium und Thallium auch X + -Ionen vorkommen: Hierbei wird nur das p 1 -Elektron abgegeben; die beiden s 2 -Elektronen sind schwerer ionisierbar und bilden ein inertes Elektronenpaar. Eigenschaften und Verbindungen Die Elemente kommen praktisch nie elementar vor, sondern hauptsächlich in Form ihrer Oxide. Aluminium steht seiner Häufigkeit nach an dritter Stelle der Elemente der festen Erdkruste (nach Sauerstoff und Silicium). Aluminium kommt in Form des Oxids AI2O3 als Korund vor. Dieser ist nach dem Diamant der zweithärteste natürlich vorkommende Stoff; durch Metalloxideinlagerungen gibt es rote (Rubin) oder blaue (Saphir) Varietäten dieses Edelsteines. Aluminium wird technisch vor allem aus dem Hydroxid AIO(OH) (Bauxit) elektrolytisch durch Reduktion als wichtiges Leichtmetall gewonnen. Obwohl Aluminium eigentlich sehr unedel ist, korrodiert es an der Luft scheinbar nicht: Es bildet an seiner Begrenzung gegen Luft eine sehr dünne, aber sehr widerstandsfähige Oxidhaut aus AI2O3, die den Zutritt von weiterem Sauerstoff wirksam verhindert. Diese Schutzschicht wird teilweise auch künstlich erzeugt, um besonders widerstandsfähige Werkstücke herzustellen: ELOXAL = ELektrisch OXidiertes ALuminium. Die Erdmetalle haben mit Ausnahme des Bors keine große biochemische und physiologische Bedeutung. Die wichtigste Bor-Verbindung ist die sehr schwache Borsäure H3BO3 =B(OH) 3 , die - eigentlich ein Borhydroxid - mit Wasser H + -Ionen entsprechend der Reaktion B(OH)3 + H 2 0 -> B(OH)4 + H+

230

B. Spezielle anorganische Chemie

freisetzt. Der Grund für diese eigentümliche Reaktion ist, daß das B-Atom in B(OH)3 nur ein Elektronen-Sextett besitzt (die drei Einfachbindungen zu den OHGruppen); es ist eine typische Elektronenmangel-Verbindung und versucht, durch eine koordinative Bindung zu einem freien Elektronenpaar eines Bindungspartners, etwa eines F^O-Moleküls, das Sextett zu einem Oktett aufzufüllen. Ein ganz analoges Verhalten findet man bei anderen B-Verbindungen, etwa BF3, das zur Ausbildung koordinativer Bindungen zum Beispiel mit NH3 neigt (siehe Kapitel 5.8). Eine verdünnte Lösung von Borsäure ("Borwasser") kann als mildes Desinfektionsmittel zum Ausspülen der Augen bei leichten Verletzungen, etwa durch Säurespritzer, verwendet werden. Borsalbe wird zur Behandlung von Brandwunden benützt. Borax, das Natriumsalz Na 2 B 4 07 • 10H 2 0 der Tetraborsäure H2B4O7, die aus Borsäure beim Erhitzen entsprechend der Reaktion 4H 3 B0 3 -> 5H2O + H2B4O7 als Säureanhydrid entsteht, wird in der Glas- und Keramikherstellung verwendet; ebenso findet es als Waschmittelzusatz Verwendung. Es ist nicht gesichert, daß Bor als Spurenelement wirklich essentiell ist, doch gibt es Hinweise darauf, daß es für die ordnungsgemäße Funktion von Zellmembranen eine Rolle spielen könnte. Aluminium-Ionen sind in höherer Konzentration toxisch. Möglicherweise sind sie an der Pathogenese der Alzheimer'schen Krankheit (eine Form der senilen Demenz) mitbeteiligt. Tl + -Ionen sind sehr giftig; seine Verbindungen werden als Rattengift eingesetzt. 15.8 Erdalkalimetalle Unter diesem Begriff faßt man die Elemente der 2. Hauptgruppe zusammen: Beryllium (Be), Magnesium (Mg), Calcium (Ca), Strontium (Sr), Barium (Ba) und das radioaktive Radium (Ra). Elektronenkonfiguration Bei den Erdalkalimetallen ist das s-Orbital der Valenzschale mit zwei Elektronen besetzt: ns 2 . Diese Valenzelektronen werden leicht abgegeben, und die Elemente kommen daher praktisch ausschließlich als X 2+ -Ionen vor. Die Tendenz der Elemente, durch Abgabe der Valenzelektronen zweiwertige Ionen zu bilden, nimmt von Beryllium zu den schwereren Mitgliedern der 2. Hauptgruppe hin zu, da die Valenzelektronen infolge der zunehmenden Entfernung vom Kern zunehmend schwächer gebunden sind.

231

15. Hauptgruppenelemente

Eigenschaften und Verbindungen Die Elemente sind ausnahmslos sehr unedle Metalle. Beryllium und Magnesium bilden an Luft ähnlich wie Aluminium eine sehr dünne, aber widerstandsfähige Oxidschicht, die sie vor weiterer Oxidierung schützt ("Passivierung"). Die Verbindungen der Erdalkalimetalle sind praktisch ohne Ausnahme Salze, die durch typische Ionenbindungen aufgebaut werden. Die meisten Salze, insbesondere Nitrate und Chloride, sind gut wasserlöslich. Schwerlöslich sind die meisten Hydroxide, Fluoride, Phosphate, Carbonate und Sulfate. Einige dieser Salze sind wichtige gesteinsbildende Mineralien: Kalkstein und Marmor sind chemisch Calciumcarbonat CaCC>3, Dolomit stellt ein Gemisch aus Magnesiumcarbonat MgCC>3 und CaC(>3 dar, Flußspat ist Calciumfluorid CaF 2 . CaCC>3 verliert durch Erhitzen ("Kalkbrennen") Kohlendioxid und geht in Calciumoxid über: CaC0 3

Aca0 + c0 2 .

(Das Zeichen A steht in chemischen Reaktionsgleichungen für thermische Energie, also Erhitzen). Das Reaktionsprodukt ("gebrannter Kalk") verbindet sich mit Wasser begierig zu basischem Calciumhydroxid: CaO + H2O —> Ca(OH) 2 . Gebrannter Kalk, Wasser und Sand ergeben Mörtel, einen der ältesten bekannten Baustoffe; das Ca(OH) 2 verbindet sich mit dem CO2 aus der Luft wieder zu hartem CaC0 3 : Ca(OH)2 + C 0 2 -> CaC0 3 + H 2 0 . Gips, in wasserklaren Kristallen vorkommend, ist Calciumsulfat und enthält Kristallwasser: CaSÜ4 • 2H2O. Erhitzt man Gipskristalle, so verlieren sie einen Teil des Kristallwassers: CaS0 4 • 2 H 2 0

CaS0 4 • ^ H 2 0 + i | h 2 0 ;

hierbei zerfallen die Kristalle zu einem weißen feinkristallinen Pulver. Wird dieses Pulver mit Wasser zu einem Brei angerührt, nimmt der Gips wiederum Kristallwasser auf, wobei er hart wird. Daher wird Gips als Baumaterial, aber auch in der Unfallchirurgie viel verwendet. Magnesiumoxid MgO (magnesia usta) wird in Form einer wässrigen Aufschlämmung zur Neutralisation überschüssiger Magensäure (ein Antiacidum) verwendet. Ähnlich kann auch Magnesiumcarbonat MgC03 als Antiacidum eingesetzt werden; es ist auch Bestandteil vieler Zahnpasten und Puder.

232

B. Spezielle anorganische Chemie

Magnesiumsulfat MgSC>4 • 7H2O ist gut wasserlöslich und besitzt eine peristaltikanregende und laxierende Wirkung ("Bittersalz"). Bariumsulfat BaSC>4 bildet das Mineral Schwerspat {Baryt) und ist extrem schlecht wasserlöslich. Es wird in der Medizin als oral verabreichtes Röntgenkontrastmittel bei der Magen-Darm-Passage eingesetzt, da Bariumatome wie alle Atome mit hoher Ordnungszahl und großer Elektronenhülle Röntgenstrahlen sehr stark absorbieren. Diese Verwendung ist nur wegen der Schwerlöslichkeit des Bariumsulfats möglich: Freie Ba 2+ -Ionen, die beispielsweise in Lösungen des gut löslichen Bariumchlorids BaCl2 vorkommen, sind sehr giftig. In einer Aufschlämmung von BaSC>4 jedoch ist die Konzentration von Ba 2+ -Ionen so gering, daß keine Toxizität besteht. Durch Zugabe von leichtlöslichem Natriumsulfat Na 2 S04 kann die ohnehin sehr geringe Löslichkeit von Bariumsulfat nocht zusätzlich abgesenkt werden (Eigenionenejfekt:; siehe Kapitel 8.5). Als Salz der sehr starken Schwefelsäure wird Bariumsulfat von der Magensäure nicht aufgelöst. Würde man anstelle von Bariumsulfat das ebenfalls schwerlösliche Bariumphosphat Ba3(PC>4)2oder Bariumcarbonat BaCC>3verwenden, würden die viel stärker basischen Anionen dieser Salze von der Salzsäure des Magens protoniert werden und Ba 2+ -Ionen in Freiheit gesetzt werden, wodurch ihre Konzentration die Toxizitätsgrenze weit übersteigen würde. Schwerlösliche Erdalkalimetallsalze können als Bestandteile von Konkrementen (Harnstein) auftreten, beispielsweise Calciumoxalat CaCi04 oder Magnesiumammoniumphosphat Mg(NH 4 )P04 • 6H2O. Alkalischer Harn führt gelegentlich zum Auftreten von Calciumphosphatsteinen. Calciumphosphat ist in Form von Hydroxylapatit Ca5(P04) 3 0H Hauptbestandteil der harten Knochensubstanz. Biochemische und physiologische Bedeutung Berylliumverbindungen sind sehr giftig und krebserregend. Magnesium und Calcium dagegen spielen in der belebten Natur eine ganz hervorragende Rolle. Magnesium ist das Zentralion im Chlorophyll der grünen Pflanzen, wo es - ähnlich wie Eisen bei Hämoglobin - in Form eines sehr stabilen Chelatkomplexes durch ein dem Häm sehr ähnliches Porphyrinmolekül gebunden wird (siehe Kapitel 11.6). Auch beim Menschen ist eine ausreichende Magnesiumversorgung für das Funktionieren des intrazellulären Stoffwechsels sehr wichtig: So spielt das Mg 2 + -Ion eine wichtige Rolle bei Phosphatgruppen-Übertragungsreaktionen, bei der Zellatmung in den Mitochondrien, bei der Proteinbiosynthese im Cytosol, bei der Biosynthese von Nucleinsäuren im Zellkern und bei der Übertragung von Nervenreizen. Bei Magnesiummangel kommt es daher auch schnell zu nervösen Störungen, tetanischen Zuständen oder Kribbeln in den Gliedmaßen.

15. Hauptgruppenelemente

233

Calcium ist eines der wichtigsten Ionen im Organismus; seine zentrale Rolle bei der Knochenmineralisierung wurde bereits erwähnt. Darüberhinaus erbrachten die letzten Jahre zahlreiche Forschungsergebnisse, die eine Schlüsselrolle des Ca 2+ -Ions bei der Blutgerinnung, bei der Signalleitung in Nerven, bei der Stabilisierung von Zellmembranen und generell bei der Aktivierung von Zellen für die Erfüllung ihrer jeweiligen Aufgaben enthüllten. Ca 2+ -Ionen werden heute neben weiteren Substanzen als second messenger betrachtet: Dies sind Stoffe, die neben den klassischen Botenstoffen des Organismus, den Hormonen (first messenger), bei der Vermittelung von Kommunikationssignalen zwischen Zellen und Organen eine zentrale Botenrolle übernehmen, da sie die von den first messengers an die Außenmembran der Zielzelle übermittelten Signale ins Zellinnere weiterleiten. Es ist nicht verwunderlich, daß der Calcium-Haushalt des Körpers einer genauen Regulation unterliegt. Über die Wirkung verschiedener Substanzen, etwa Vitamin D, kann durch gezielten Auf- oder Abbau von Knochensubstanz der Calciumspiegel im Blut im erwünschten Konzentrationsbereich (ca. 10 mg in 100 ml) gehalten werden. Strontium besitzt an sich keine biochemische Bedeutung. Da sich Sr2+ sehr ähnlich verhält wie Ca 2+ , stellt radioaktives 90 Sr, ein Produkt bei der Kernspaltung von Uran 235 U, eine besonders große Gefahr bei Unfällen im Zusammenhang mit Kernspaltungsreaktionen dar: Seine Ionen werden anstelle von Calcium in Knochen eingebaut und schädigen dort die besonders teilungsaktiven Knochenmarkszellen durch ihre Strahlung. 15.9 Alkalimetalle Unter diesem Begriff verstehen wir die Elemente der 1. Hauptgruppe: Lithium (Li), Natrium (Na), Kalium (K), Rubidium (Rb), Caesium (Cs) und Francium (Fr). Elektronenkonfiguration

Als Elemente mit der Valenzelektronenkonfiguration ns 1 bilden diese Elemente die am leichtesten ionisierbaren Metalle; die Ionen sind einwertig: X + . Ebenso wie bei den Erdalkalimetallen nimmt die Leichtigkeit der Ionisierung im Periodensystem von Li zu den schwereren Vertretern hin zu. Die Ionisierungsenergie ist so niedrig, daß die Metalle bereits mit der extrem schwachen Säure Wasser unter Reduktion des Wasserstoffs stark exotherm reagieren, wobei die in wässriger Lösung sehr stark alkalisch reagierenden Hydroxide entstehen. Ein Beispiel für diese Reaktion:

234

B. Spezielle anorganische Chemie

2 Na +2 H 2 O -» 2 Na+ +20H-+H 2 + AH. Die Reaktion ist bereits bei Natrium heftig; beim noch reaktionsfreudigeren Kalium ist die dabei freigesetzte Reaktionswärme AH so groß, daß der entstehende Wasserstoff sich mit Luftsauerstoff spontan entzündet (Knallgas-Explosion). An der Luft verbindet sich Natrium mit Sauerstoff spontan zu Natriumoxid Na 2 0 und zu Natriumperoxid Na 2 0 2 , sodaß man das Metall unter Abschluß von Luft unter Paraffinöl aufbewahren muß. Eigenschaften

und

Verbindungen

Alkalimetalle kommen wegen der extrem niedrigen Ionisierungsenergie nie elementar vor, sondern immer als einwertige Ionen. Die Metalle selbst kann man nur unter relativ großem Energieaufwand durch elektrochemische Reduktion herstellen. Die Salze der Alkalimetalle sind fast ohne Ausnahme gut wasserlöslich, was darauf beruht, daß die Bindungen in den Salzen praktisch reine Ionenbindungen ohne kovalenten Beitrag sind. Die Hydroxide sind alle starke Basen, da aufgrund der ausgezeichneten Wasserlöslichkeit eine vollständige Dissoziation in die Alkalimetall- Ionen und die stark basischen Hydroxid-Ionen erfolgt. Von den zahlreichen mineral- und gesteinsbildenden Salzen seien nur einige erwähnt: Natriumchlorid NaCl kommt als Steinsalz vor, aber auch in relativ hoher Konzentration im Meerwasser. Eine 0.9% Kochsalzlösung (9 g NaCl auf ein Liter gelöst) weist dieselbe Osmolarität wie Blut auf und wird als physiologische Kochsalzlösung bezeichnet (isotone Lösung); man verwendet sie zur parenteralen Flüssigkeitssubstitution ("Volumenersatz") bei Unfallopfern mit großen Blutverlusten. Natriumcarbonat Na2CC>3 ist als Soda bekannt und wird als Waschmittel(zusatz) eingesetzt, Kaliumcarbonat K2CO3 wird auch als Pottasche bezeichnet. Die Hydrogencarbonate wie NaHCC>3 werden auch als Bicarbonate bezeichnet. Natriumbicarbonat selbst wird als Speisesoda zum Neutralisieren überschüssiger Magensäure eingesetzt. Es besitzt allerdings wegen der Instabilität der sich dabei bildenden Kohlensäure, die sich nach h

2

c o

3

- > c o

2

+ h

2

o

zersetzt, die unangenehme Eigenschaft, daß es zu Magenblähungen und Aufstoßen (gasförmiges C0 2 !) kommt. In Kombination mit festen organischen Säuren (wie Citronensäure) wird es für Brausepulver und in Backpulver verwendet: Bei Kontakt mit Wasser lösen sich die Bestandteile des Gemischs, die Lösung wird sauer und entwickelt stürmisch C 0 2 . Erwähnenswert ist Natriumnitrat NaNCh, welches als Chilesalpeter eine wesentliche Grundlage für Düngemittel bildet. Natriumsulfat Na 2 S04 • 10H 2 0 schließlich

15. Hauptgruppenelemente

235

ist als Glaubersalz oder Karlsbader Salz in vielen Mineralquellen enthalten; es besitzt ähnliche Eigenschaften wie MgSC>4 und wird daher als mildes Laxans verwendet. Lithiumsalze werden erfolgreich in der Behandlung depressiver eingesetzt.

Störungen

Biochemische und physiologische Bedeutung Natrium- und Kalium-Ionen sind an einer Vielzahl zellulärer Prozesse beteiligt und sind daher essentielle Bestandteile der Nahrung. Wünschenswert wäre ein molares Verhältnis K : Na von 1 : 1; in der Realität nehmen wir meist zuviel Natrium zu uns. Zu hohe Natriumkonzentrationen sind in vielen Fällen die Ursache von Bluthochdruck-Krankheiten. Ein zentrales Charakteristikum für alle lebenden Zellen ist die unterschiedliche Verteilung dieser beiden Ionenarten zwischen Zellinnerem und dem Extrazellulärraum: In der Zelle ist die K + -Konzentration mit etwa 0.10 M etwa 10 mal höher als die Na + -Konzentration mit 0.01 M. In der extrazellulären Flüssigkeit dagegen ist das Verhältnis genau umgekehrt ([Na + ] = 0.10M, [K + ] = 0.0IM). Diese extrazellulären Konzentrationen sind übrigens sehr ähnlich den Konzentrationen der beiden Ionen im Meerwasser, und die Zusammensetzung der extrazellulären Flüssigkeit dürfte wohl den Ursprung allen Lebens im Meer widerspiegeln. Lebende Zellen halten durch aktive, energieverbrauchende Pumpsysteme (Na + /K + - Carrier) diesen großen Konzentrationsgradienten der beiden Alkalimetall-Ionen aktiv aufrecht; erst wenn die Zelle stirbt, bricht der Gradient zusammen, und die Konzentrationen innen und außen gleichen sich durch passive Diffusion aus (siehe Kapitel 12.6). Die Zellen können diesen Konzentrationsgradient auch ausnützen; so wird bei der Leitung von Nervenreizen durch komplizierte Vorgänge die Membran der Nervenzellen für kurze Zeit ionendurchlässig und der Gradient bricht zusammen (Depolarisation), wodurch das elektrische Signal weitergeleitet wird. Anschließend muß die Zelle den Gradienten wieder aufbauen (Polarisation); während dieser Zeit kann sie kein Nervensignal weiterleiten (Erholungsphase). In ähnlicher Weise spielt der Konzentrationsgradient eine wesentliche Rolle für die Erregbarkeit von Muskelzellen.

236

B. Spezielle anorganische Chemie

16 Biochemisch und physiologisch wichtige Übergangsmetalle Von den zahlreichen Übergangsmetallen sind insbesondere die d-Elemente Eisen (Fe), Cobalt (Co), Kupfer (Cu), Zink (Zn) und Molybdän (Mo) wichtig. Allen diesen Metallen ist gemeinsam, daß sie die Fähigkeit besitzen, mit geeigneten Liganden koordinative Bindungen einzugehen, wobei als Ligandenatome insbesondere Stickstoff und Schwefel auftreten. Darüberhinaus spielt bei einigen dieser Elemente ihre Fähigkeit, mehrere stabile Oxidationsstufen ausbilden zu können, eine zentrale Rolle für ihre biochemische Funktion. Die Elemente kommen daher bevorzugt als komplex gebundene Zentralionen in Proteinen (Metalloproteine) vor; sie sind wegen des leichten Wechsels der Oxidationsstufen besonders gut dafür geeignet, biochemisch wichtige Redoxreaktionen (Elektronentransferreaktionen) zu katalysieren. Außerdem erfüllen sie in verschiedenen Organismen die wichtige Funktion des Sauerstoff-Transports. In einigen neu entdeckten Proteinen schließlich besitzen die Metall-Ionen strukturelle Aufgaben; sie fixieren Strukturen, die für die korrekte Funktion der betreffenden Enzyme wesentlich sind. 16.1 Eisen Vorkommen, Eigenschaften und Verbindungen Eisen ist nach Aluminium das vierthäufigste Element der festen Erdrinde und das zweithäufigste Metall. In gediegenem, elementarem Zustand findet man Eisen auf der Erde nur sehr selten (zum Beispiel in Meteoriten); es kommt hauptsächlich in oxidischen und sulfidischen Erzen vor. Elementares Eisen findet man dagegen in der Erde: Der Erdkern (Radius etwa 3500 km) besteht zu 90% aus Eisen und zu 10% aus Nickel. Die wichtigsten oxidischen und sulfidischen Erze des Eisens sind: • Magneteisenstein (Magnetit) Fe304(= Fe203 • FeO) ist ein Mischoxid aus dreiwertigem und zweiwertigem Eisen; es ist ein besonders hochwertiges Erz (Eisengehalt bis zu 70%). • Roteisenstein (Hämatit) Fe203 enthält bis zu 65% an Eisen. • Brauneisenstein Fe203 • XH2O enthält im Gegensatz zu Hämatit variable Anteile an Kristallwasser; er ist das häufigste Eisenerz. • Eisenkies (Pyrit) FeS2 dient zur Schwefelsäureproduktion; die anfallenden Abfälle enthalten bis zu 65% Eisen und werden zur Eisengewinnung genutzt.

16. Biologisch und physiologisch wichtige Übergangselemente

237

Eisen ist in seinen Verbindungen, auch in den biochemisch wichtigen, zwei- oder dreiwertig. Es ist ein unedles Metall; an feuchter, kohlendioxidhältiger Luft wandelt es sich leicht in Fe2C>3 • H2O {"Rost") um. Es kann durch Zink- oder Zinnüberzüge oder durch Legierung mit Chrom und Nickel vor dem Rosten geschützt werden. Eisen ist ein technisch extrem wichtiges Metall; es wird aus seinen Erzen durch Reduktion mit Kohlenstoff gewonnen {Hochofen). Durch bestimmte Veredelungsprozesse wird aus dem brüchigen Roheisen geschmeidiger Stahl erzeugt, der in seinen verschiedenen Varianten als Werkstoff unentbehrlich ist. Biochemie des Eisens Eisen ist das am weitesten verbreitete und wichtigste Übergangsmetall in lebender Materie. Eisenhaltige Proteine beteiligen sich an zwei fundamentalen Prozessen: am Sauerstofftransport und an der Elektronenübertragung. Außerdem gibt es Proteine, deren Rolle im Transport und in der Speicherung dieses wichtigsten Übergangsmetalles bestehen. Eine Reihe wichtiger Eisenproteine sind sogenannte Häm-Proteine: Sie enthalten eine oder mehrere Hämgruppen als zentralen Bestandteil. Die Hämgruppe ist ein Chelatkomplex aus einem Porphyrinmolekül und einem Eisen-Ion (die Formel des Porphyrin-Eisen-Komplexes ist in Abb. 11.6.1 dargestellt). Zu den Häm-Proteinen gehören Hämoglobin (Sauerstoff-Transport von der Lunge ins Gewebe), Myoglobin (Sauerstoff-Transport in der Muskelzelle), Cytochrome (Bestandteile der Atmungskette, das ist die energieliefernde schrittweise Reduktion des Sauerstoffs zu Wasser; siehe Kapitel 10.7), Katalase und Peroxidase (Entgiftung von Wasserstoffperoxid). Der Transport von Eisen im Organismus wird durch ein spezielles TransportProtein, das Transferrin, bewerkstelligt. Überschuß an Eisen wird in Ferritin und Hämosiderin durch extrem starke Komplexbildung gebunden und hauptsächlich in der Leber deponiert. 16.2 Cobalt Vorkommen, Eigenschaften und Verbindungen Cobalt kommt in der Natur ebenfalls in Form von Erzen vor, meist in Begleitung von Arsen: Speiscobalt C0AS2 und Cobaltglanz CoAsS. Die bevorzugte Oxidationstufe ist Co 2+ . Die dreiwertige Stufe, Co3+, bildet sich meist nur, wenn Komplexliganden wie NH3 zugegen sind, da die Komplexbildung die dreiwertige Stufe stabilisiert. Generell besitzt Cobalt eine außergewöhnlich reiche und umfangreiche Komplexchemie.

238

B. Spezielle anorganische Chemie

Biochemie des Cobalt

Die wichtigste Rolle von Cobalt ist seine Beteiligung am Aufbau des Coenzyms Cobalamin (Vitamin Bi 2 ). Dieser wichtige und essentielle Cofaktor, dessen Mangel die perniziöse Anämie verursacht, besitzt eine überaus komplexe Struktur, deren zentrales Element ein Co 3+ -Zentralion ist, welches von einem dem Porphyrin ähnlichen Chelatliganden, dem Corräi-Ringsystem, komplexiert ist (Abb. 16.2.1). o

Abb. 16.2.1

Die Struktur des Cyanocobalamins.

Der Corrinring ist fett

gezeichnet.

Die hauptsächliche Funktion von Vitamin B12 besteht in seiner katalytischen Mitwirkung bei sogenannten 1,2-Umlagerungsreaktionen, deren allgemeines Schema Abb. 16.2.2 zeigt:

16. Biologisch und physiologisch wichtige Übergangselemente

X Abb. 16.2.2

239

H

Allgemeines Schema der 1,2-Umlagerungsreaktionen, die von Vitamin B12-abhängigen Enzymen katalysiert werden (X kann zum Beispiel eine Methylgruppe sein).

Daneben wirkt Vitamin B12 aber auch bei echten Redoxreaktionen mit, so zum Beispiel bei der Umwandlung von Ribonucleotiden zu Desoxyribonucleotiden. 16.3 Kupfer Vorkommen, Eigenschaften und Verbindungen Kupfer, ein Metall, das für den Menschen schon sehr lange große technische Bedeutung besitzt, kommt als relativ edles Metall in der Natur gediegen, aber auch in Form verschiedener Erze (Oxide, Sulfide) und Salze (Carbonate und Chloride) vor. Es ist in reinem Zustand ein zähes, weiches, rötliches Metall mit ausgezeichneter thermischer und elektrischer Leitfähigkeit, weshalb es wichtigster Grundstoff für die Herstellung elektrischer Leitungen ist. Es wird in vielen Legierungen verwendet; Bronze ist eine Kupfer-Zinn-Legierung, Messing eine Kupfer-Zink-Legierung. In wässriger Lösung liegt es meist als Cu 2+ -Ion vor, die einwertige Stufe Cu+bildet meist schwerlösliche Salze. Biochemie des Kupfers Kupfer kommt in verschiedenen Enzymen sowohl im Pflanzen- als auch im Tierreich vor. Die bekannten Kupferproteine sind vorwiegend Oxidasen oder Sauerstoffüberträger. Beispiele sind die Ascorbinsäure-Oxidase von Pflanzen oder die Cytochrom-Oxidase, der letztendliche Elektronenakzeptor in der Atmungskette in Mitochondrien. Viele niedere Lebewesen wie Schnecken, Langusten und Krebse enthalten Cuproproteine als Sauerstoffüberträger, analog dem Hämoglobin der Säugetiere. Diese Proteine werden als Hämocyanine bezeichnet; sie sind aber dem Häm strukturell nicht verwandt.

240

B. Spezielle anorganische Chemie

16.4 Zink Vorkommen, Eigenschaften und Verbindungen Zink besitzt die Valenzelektronenkonfiguration 3d 10 4s 2 ; es ist streng genommen eigentlich kein d-Element, da es eine vollbesetzte 3d-Schale aufweist und in seinen Verbindungen immer nur die zwei 4s-Elektronen abgibt, also als zweiwertiges Zn2+ existiert (Elemente mit vollständig leeren oder vollständig gefüllten d-Orbitalen sind eigentlich per definitionem Hauptgruppenelemente). Dennoch hat Zink mit den Übergangsmetallen die ausgeprägte Fähigkeit zur Komplexbildung gemeinsam. Zink ist ein weiches Metall mit niedrigem Schmelzpunkt, welches stark unedlen Charakter besitzt und daher praktisch nur in Form ionischer Verbindungen auftritt, wobei Zn immer der elektropositive Partner ist. Zink wird technisch viel verwendet; eine Verzinkung von Eisen schützt beispielsweise das Eisen, welches ein positiveres Normalpotential hat, gegen Rosten. Biochemie des Zinks Zink ist eines der biologisch wichtigsten Metalle. In einer Vielzahl von Enzymen (.Dehydrogenasen, Aldolasen, Peptidasen, Phosphatasen, Phospholipasen und anderen) ist Zn2+enthalten; es ist somit wichtig für den Stoffwechsel von Kohlenhydraten, Lipiden und Proteinen. Zu den jüngsten Entdeckungen in der Metalloprotein-Biochemie gehören die Zinkfinger, das sind Zn2+-Ionen-enthaltende Abschnitte (Domänen) von Proteinen, die nucleinsäure-bindende Eigenschaften besitzen. Die metallenthaltenden Bereiche scheinen direkt an den Wechselwirkungen mit der DNA beteiligt zu sein und die Ablesung der DNA (die Expression von Genen) zu regulieren. Die Metall-Ionen besitzen in diesem Fall strukturstabilisierende Effekte. 16.5 Molybdän Vorkommen, Eigenschaften und Verbindungen Molybdän, ein Element der 6. Nebengruppe, ist das einzige essentielle Metall der zweiten Übergangsreihe. Es kommt hauptsächlich als sulfidischer Molybdänglanz M 0 S 2 vor. Es ist ein typisches Metall mit extrem hohem Schmelzpunkt (2610°C). Gegenüber Oxidationsmitteln und Säuren ist es weitgehend inert. Technisch wird es insbesondere als Zusatz zu hochwertigen Stählen legiert. Trotz der hohen Beständigkeit des reinen Metalls sind hohe Oxidationsstufen bei Molybdän-Verbindungen stabiler als niedrige: So ist etwa das Molybdat-(VI)-Ion

16. Biologisch und physiologisch wichtige Übergangselemente

241

, ein strukturelles Gegenstück des Sulfat-Ions SO4 , viel stabiler als das kaum bekannte Mo 2 + -Ion mit der Oxidationsstufe +2. M0O4

Biochemie des Molybdäns Molybdän spielt in verschiedenen Enzymen eine Rolle. Sein spezieller Nutzen liegt in der Fähigkeit zu Zwei-Elektronen-Übertragungen, die durch den Übergang zwischen Mo(IV) und Mo(VI) katalysiert werden. Schon lange gesichert ist seine Rolle in der Nitro genäse der Bakterien bestimmter Pflanzen, wo es gemeinsam mit Eisen die sogenannte Stickstoff-Fixierung ermöglicht: Dabei wird der chemisch äußerst reaktionsträge und somit biochemisch praktisch bedeutungslose Distickstoff N2 zu von der Pflanze gut verwertbarem Ammoniak NH3 reduziert. Die sehr komplexe Struktur des für die Aktivität des Enzyms entscheidenden, schwefel-enthaltenden Molybdän-Eisen-Clusters ist seit einigen Jahren aus Röntgen-Kristallstrukturanalysen bekannt. Eine weitere Klasse von Enzymen, die Sauerstoffatom-Übertragungen katalysieren (verschiedene Oxidasen und Reductasen), enthalten einen anderen molybdänhältigen Cofaktor (englisch: molybdenum cofactor). Die genauen Strukturen dieser Cofaktoren scheinen - ähnlich wie bei den verschiedenen Häm-Proteinen - sehr variabel zu sein. 16.6 Metalle in der Medizin Medizinische Verwendungen von Eisen und Kupfer können bis zu den Alten Griechen und Hebräern zurück nachgewiesen werden. Seit Jahrhunderten werden Hg 2 + Ionen zur Behandlung der Syphilis, Mg 2+ -Ionen bei Darmbeschwerden und Fe 2 + Ionen bei Anämie eingesetzt. Beispiele für moderne Medikamente aus dem Bereich der metallorganischen Verbindungen sind • Cytostatika zur Behandlung schnell wachsender maligner Tumoren der Hoden und Ovarien sowie des Kopf- und Halsbereiches. Ein Vertreter ist Cisplatin, ein Komplex des Platins (Abb. 16.6.1). Bei rechtzeitiger Diagnose kann mit Hilfe von Cisplatin bei etwa 90% von Patienten mit Hodenkrebs eine Heilung erzielt werden. • Bei rheumatoider Arthritis, einer Autoimmunkrankheit, hilft Auranofin, ein Gold-Komplex mit organischen Liganden, der oral verabreicht werden kann (Abb. 16.6.2).

242

B. Spezielle anorganische Chemie

C1 H3N

Pt

C1

NH3 Abb. 16.6.1

cis-Dichloro-diammin-platin-(II) ["Cisplatin"], ein Mittel zur Behandlung bestimmter bösartiger Tumoren

o=c

/CH3 \

o

O C H C ^O 3

u n

" O

HC HC 2 \ \~~-CH n \

n

\ O 1

/ Au

C2H5 r H 2 5

P Cr T M-T

2 5

O^CH

Abb. 16.6.2

Auranofin, ein goldhaltiger Komplex zur oralen Therapie der rheumatoiden Arthritis (der große organische Ligand ist eine über eine ß-S-glycosidische Bindung verknüpfte Glucose, deren freie OH-Gruppen mit Essigsäure verestert sind.

Die Zukunft wird mit einiger Sicherheit neue und heute unerwartete medizinische Möglichkeiten erschließen, da unsere Kenntnis von den aufregenden strukturellen und funktionellen Fähigkeiten insbesondere metallorganischer Verbindungen noch in den Kinderschuhen steckt, aber mit Riesenschritten anwächst.

C Spezielle organische Chemie

17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.

Allgemeines zur organischen Chemie Isomerie Alkane Alkene Alkine Cycloalkane Aromatische Kohlenwasserstoffe Halogenierte Kohlenwasserstoffe Alkohole Phenole und Chinone Ether CarbonylVerbindungen (Aldehyde und Ketone) Carbonsäuren Amine Kohlensäurederivate Organische Schwefelverbindungen Heterocyclische Verbindungen

C

Spezielle organische Chemie

17 Allgemeines zur organischen Chemie 17.1 Sonderstellung der Chemie des Kohlenstoffs Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert unterschied man zwischen der Chemie der unbelebten Materie, der anorganischen Chemie, und der Chemie des Belebten, der organischen Chemie: Man glaubte, die Herstellung der für lebende Systeme erforderlichen Substanzen erfordere eine mystische Lebenskraft (vis Vitalis), die nur dem lebenden Gewebe selbst innewohne. Der deutsche Chemiker Friedrich Wöhler entzauberte diese Vorstellung 1828 durch die erfolgreiche Synthese einer "organischen" Substanz, des Harnstoffs, im Reagenzglas aus dem "anorganischen" Ammoniumcyanat NH4OCN. In einem Brief an den berühmten schwedischen Chemiker Jons Jakob Berzelius, der 1780 den Begriff "organische Chemie" geprägt hatte, schreibt er: "Ich muß Ihnen sagen, daß ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Tier, sei es Mensch oder Hund, nötig zu haben". In der modernen Chemie wurde der Begriff "organische Chemie" beibehalten, bezeichnet nun aber die Chemie der Kohlenstoffverbindungen (nur Kohlenstoff selbst, seine Oxide und die Kohlensäure inklusive ihrer Salze werden der anorganischen Chemie zugerechnet). Warum ist diese einzigartige Hervorhebung des Elementes Kohlenstoff gegenüber den 108 derzeit bekannten übrigen Elementen gerechtfertigt ? Als Element der 4. Hauptgruppe steht Kohlenstoff im Periodensystem der Elemente etwa in der Mitte der ersten Achterperiode. In seinen chemischen Reaktionen steht daher nicht so wie etwa bei den Elementen der 1. und 2. Hauptgruppe die Abgabe der Valenzelektronen oder wie bei den Elementen der 6. und 7. Hauptgruppe die Aufnahme von Elektronen im Vordergrund: Kohlenstoff bildet praktisch keine ionischen Verbindungen, dafür aber sehr stabile kovalente Bindungen sowohl mit weiteren Kohlenstoffatomen als auch mit Atomen anderer Elemente, besonders des Wasserstoffs. Jedes Kohlenstoffatom ist zur Bindungsbildung mit bis zu vier weiteren Kohlenstoffatomen befähigt, die ihrerseits ebenfalls mit weiteren Kohlenstoffatomen verbunden sein können. Während ionische Bindungen räumlich ungerichtet sind und daher zwar Ionenkristalle, aber keine hochorganisierten Moleküle ausbilden können, besitzen kovalente Bindungen eine sehr starke räumliche Vorzugsrichtung. Wie im Kapitel 5 ausführlich dargestellt ist, finden wir am Kohlenstoffatom entweder eine tetraedrische (sp3-Hybridisierung), eine trigonal-planare (sp 2 ) oder

246

C. Spezielle organische Chemie

eine lineare (sp) Geometrie. Diese Eigenschaften prädestinieren den Kohlenstoff als idealen Baustein für den Aufbau auch der kompliziertesten Moleküle: Wir finden unter den Verbindungen des Kohlenstoffs unverzweigte und verzweigte Kettenmoleküle, einfache und mehrfache Ringsysteme, Schichtmoleküle bis hin zu dreidimensionalen Gebilden (wobei Graphit und Diamant als Prototypen für die beiden letzteren Möglichkeiten betrachtet werden können). Auch bei anderen Elementen gibt es einige wie Bor, Silicium und Schwefel, die zur Ausbildung von Ketten, Ringen und dergleichen befähigt sind, allerdings sind die Bindungen bei diesen Elementen wesentlich schwächer und instabiler als beim Kohlenstoff. Dazu kommt, daß die Elemente der dritten und höherer Perioden keine Mehrfachbindungen ausbilden. Außerdem ist die Bindung zwischen Kohlenstoff und Wasserstoff, dem zweitwichtigsten Element in organischen Verbindungen, sogar noch stärker und chemisch stabiler als die Bindung zwischen zwei Kohlenstoffatomen, und schließlich können auch andere Atome oder Atomgruppen an CAtome gebunden werden, ohne daß eine nennenswerte Schwächung der angrenzenden C - C-Bindungen eintritt. Alle diese Phänomene tragen zusätzlich zur einzigartigen Stellung der Kohlenstoffverbindungen bei, und die ungeheure Anzahl bekannter Kohlenstoffverbindungen, die aufgrund dieser Eigenschaften existieren, rechtfertigt die Sonderstellung der Kohlenstoffchemie. 17.2 Funktionelle Gruppen Die wichtigsten Elemente in organischen Verbindungen sind, wie besprochen, Kohlenstoff und Wasserstoff. Trotz der ungeheuren Zahl möglicher Verbindungen wäre aber die organische Chemie recht uninteressant und langweilig, gäbe es nur Kohlenwasserstoffverbindungen, da die C - C - und die C - H-Bindungen sehr stabil sind. Erst die Anwesenheit weiterer Elemente wie Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel und der Halogene, die stärker elektronegativ sind als Kohlenstoff und Wasserstoff, macht die organische Chemie "lebendig", erst durch diese Heteroelemente werden chemische Reaktionen ermöglicht, die in letzter Konsequenz auch für die Existenz des Lebens unbedingt notwendig sind. Meist treten diese Heteroelemente alleine oder in charakteristischen Anordnungen mit wenigen weiteren Atomen auf, und solche typischen Atomgruppierungen verleihen den entsprechenden Molekülen ganz charakteristische Eigenschaften. Alle Kohlenwasserstoffe etwa mit einer Hydroxylgruppe -OH, das ist ein einfach gebundener Sauerstoff, der zusätzlich ein Wasserstoffatom trägt, besitzen chemische und physikalische Eigenschaften, die durch die Hydroxylgruppe bedingt sind; wie der Kohlenwasserstoffrest, an dem die Hydroxylgruppe gebunden ist, aussieht, ist dagegen von untergeordneter Bedeutung.

247

17. Allgemeines zur organischen Chemie

Derartige charakteristische Atome oder Atomgruppen bezeichnet man als funktionelle Gruppen. Diese funktionellen Gruppen sind, wie wir sehen werden, für die Einteilung und Nomenklatur organischer Verbindungen ebenso wichtig wie für ein rationales Verständnis der möglichen chemischen Reaktionen einer beliebigen organischen Verbindung. 17.3 Chemische Reaktionen in der organischen Chemie Während die Zahl der organischen Verbindungen praktisch unbegrenzt ist, wird das Verständnis organisch-chemischer Reaktionen außerordentlich erleichtert durch die Tatsache, daß bei derartigen Reaktionen meist nur kleine Bereiche des Moleküls, eben die funktionellen Gruppen und ihre benachbarten Atome, betroffen sind. Die Zahl der möglichen Reaktionen ist daher stark begrenzt; wir können im wesentlichen alle Reaktionen auf nur vier Reaktionstypen zurückführen: Substitutionsreaktionen, Additionsreaktionen, Eliminierungsreaktionen und Umlagerungen. Bei einer Substitutionreaktion wird ein Atom oder eine Atomgruppe gegen einen anderen Substituenten ausgetauscht. Schematisch können wir die Reaktion wie folgt formulieren: I —C-X

I • —C-Y

+ Y

+ X

Bei Additionsreaktionen lagert sich ein Molekül an ein anderes an, welches eine Mehrfachbindung, meist eine Doppelbindung, enthält. Die Doppelbindung wird im Zuge dieser Reaktion zu einer Einfachbindung: A-B + X

— *

-C-CA B

Die Umkehrung der Addition, die Abspaltung eines Moleküls unter Ausbildung einer Doppelbindung, bezeichnet man als Eliminierungsreaktion: 1 1

- Ci -i C A B



\

/

A - B +1 / C=C \

248

C. Spezielle organische Chemie

Bei Umlagerungsreaktionen schließlich tauschen zwei Substituenten ihre Plätze im Molekül, oder ein Substituent wandert unter gleichzeitiger Verschiebung einer Doppelbindung: II

II

AB

B A

-c-c—• -c-cII II i

i

A=C-C i B

I I

B-A-C=C-

Grundsätzlich gelten für organische Reaktionen wie für alle chemischen Reaktionen die Gesetze der Thermodynamik und der Kinetik: Die Thermodynamik macht Aussagen darüber, ob eine gegebene Reaktion überhaupt stattfinden kann, und wie die energetischen Zustandsänderungen bei der Reaktion sind. Die Kinetik dagegen beschäftigt sich mit der Geschwindigkeit einer Reaktion und versucht, zu Erkenntnissen über den detaillierten Mechanismus der Reaktion zu gelangen. Bei jeder organischen Reaktion werden kovalente Bindungen getrennt und neu gebildet. Je nachdem, ob die Reaktion in einem einzigen Schritt (selten) oder in einer Abfolge zweier oder mehrerer Elementarreaktionen (häufiger) stattfindet, sprechen wir von einer einstufigen (konzertierten) oder einer mehrstufigen Reaktion. Ein wichtiger Gesichtspunkt bei organischen Reaktionen ist die Unterscheidung zwischen dem "angreifenden" Partner, dem Reagens, und dem "angegriffenen" Stoff, dem Substrat. Diese Unterscheidung ist natürlich willkürlich und prinzipiell umkehrbar; in der Praxis aber recht nützlich: Das Substrat ist in der Regel der Stoff, für dessen Schicksal wir uns interessieren; meist ist es auch das größere Molekül. Die chemische Natur des Reagens erlaubt es uns, organische Reaktionen noch weiter zu unterteilen in elektrophile, nucleophile und radikalische Reaktionen: Ein elektrophiles ("elektronen-liebendes") Reagens (ein Elektrophil) ist eine Verbindung mit einem Elektronenmangel-Zentrum. Ein Elektrophil greift ein Substrat an der Stelle im Molekül an, wo eine besonders hohe Elektronendichte besteht. Eine wichtige Gruppe von Elektrophilen sind organische Kationen mit positiv geladenen Kohlenstoffatomen: I

-c©

249

17. Allgemeines zur organischen Chemie

Derartige Kationen nennen wir Carbenium-lonen; der positiv geladene Kohlenstoff (Carbenium-Kohlenstoff) besitzt nur ein Elektronen-Sextett in der Valenzschale und ist daher so reaktiv, daß er nur als kurzlebige Zwischenstufe bei organischen Reaktionen zu existieren vermag. Ein nucleophiles ("kern-liebendes") Reagens (ein Nucleophit) dagegen besitzt einen Elektronenüberschuß. Es greift daher an den Stellen des Substrates an, wo die Elektronendichte gering ist. Ist das nucleophile Zentrum des Reagens ein negativ geladenes Kohlenstoffatom, bezeichnen wir es als Carbeniat-Kohlenstoff:

- c i e i Auch diese Ionen sind sehr reaktive und entsprechend kurzlebige Zwischenstufen. Carbenium- und Carbeniat-Ionen entstehen, wenn eine chemische Bindung zwischen einem Kohlenstoff und seinem Bindungspartner heterolytisch gespalten wird; das heißt, der Bindungspartner nimmt das Bindungselektronenpaar zur Gänze mit (dann resultiert ein Carbenium-Ion) oder er läßt dieses am Kohlenstoff zurück (dies führt zur Bildung des Carbeniats): I I - c - x — « - - c ©

1

1

- c - x — c i e

_ +IX

+

x+

Neben der heterolytischen gibt es auch eine hämolytische Bindungsspaltung; hier bleibt eines der beiden bindenden Elektronen am Kohlenstoff zurück, der nunmehr ein ungepaartes Elektron enthält und ein freies Radikal, ebenfalls eine extrem reaktive Zwischenstufe, bildet: I I - c - x — • - < >

+ x«

Eine erweiterte Charakterisierung organisch-chemischer Reaktionen gewinnen wir durch Angabe der Molekularität des geschwindigkeitsbestimmenden Schrittes: Bei

250

C. Spezielle organische Chemie

unimolekularen Reaktionen ist die Reaktionsgeschwindigkeit dieses langsamsten Reaktionsschrittes, der in einfachen Fällen der experimentell gemessenen Ordnung der Reaktion (siehe Kapitel 13.2) entspricht, von der Konzentration nur eines Reaktionspartners abhängig, bei bimolekularen Reaktionen jedoch vom Produkt der Konzentrationen beider Reaktionspartner, also des Substrats und des angreifenden Reagens. Zusammenfassend charakterisieren wir chemische Reaktionen durch drei Angaben: Reaktionstyp, Art des angreifenden Reagens und Molekularität. Dazu ist eine abkürzende Symbolik üblich: Mit einem Großbuchstaben geben wir den Typ der Reaktion an (S für Substitution, A für Addition, E für Elimination; Umlagerungsreaktionen werden hier nicht berücksichtigt, sie sind auch seltener). Mit einem tiefgestellten zweiten Großbuchstaben wird das Reagens bezeichnet (N für nucleophile, E für elektrophile und R für radikalische Reaktionen). Schließlich folgt Bezeichnung der Molekularität der Reaktion durch eine arabische Ziffer. So bedeutet etwa die Angabe SN2 eine bimolekulare nucleophile Substitution. Die eben gezeigte Beschreibung organisch chemischer Reaktionen ist natürlich nur eine sehr vereinfachende grobe Angabe zum Reaktionsmechanismus. Dieser ist im strengen Sinn das detaillierte Verhalten aller an der Reaktion beteiligten Atome während des Reaktionsablaufes. In der Praxis muß man sich zufriedengeben, wenn man Strukturen der Übergangszustände und Zwischenstufen plausibel machen kann. Die Kinetik der Reaktion liefert hier wertvolle Hinweise; hinzu kommt das Studium der Abhängigkeiten der Reaktionsgeschwindigkeit von möglichen katalytischen Einflüssen, etwa von saurer oder basischer Katalyse. Eine geeignete Markierung der Substrat- oder Reagensmoleküle mit radioaktiven Isotopen vermag weitere wichtige Hinweise auf den Mechanismus der Reaktion zu liefern (!Tracermethode), da das Schicksal der markierten Moleküle oder Molekülfragmente im Verlauf der chemischen Reaktion verfolgt werden kann.

18 Isomerie Die im vorhergehenden Kapitel beschriebene Fähigkeit des Kohlenstoffs, die verschiedensten Bindungsgerüste aufbauen zu können, führt dazu, daß aus einem bestimmten Satz von Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen und gegebenenfalls noch Heteroelementatomen nicht nur eine, sondern mehrere oder gar viele verschiedene Moleküle konstruiert werden können. Mit anderen Worten, die Bruttoformel eines Moleküls, die uns seine Elementarzusammensetzung (die Art und Anzahl der Atome im Molekül) angibt, liefert nur ungenügende Information darüber, wie das Molekül tatsächlich beschaffen ist.

18. Isomerie

251

Diese Erscheinung, daß dieselbe Bruttoformel für verschiedenste Verbindungen mit teilweise ganz unterschiedlichen physikalischen und chemischen Eigenschaften gleich sein kann, bezeichnen wir als Isomerie. Wir unterscheiden zwei Arten von Isomerie, die sogenannte Strukturisomerie und die Stereoisomerie. Die Tabelle 18.1 listet die Unterarten dieser beiden Hauptformen der Isomerie auf. Tab. 18.1

Formen der Isomerie

Strukturisomerie Kettenisomerie Stellungsisomerie Strukturisomerie im engeren Sinn Tautomerie

Stereoisomerie geometrische (cis-trans) Isomerie optische Isomerie (Spiegelbildisomerie) Diastereomerie

Zum besseren Verständnis dieser Einteilung wollen wir drei wichtige Begriffe definieren, die für die Diskussion von Molekülen als dreidimensionaler Gebilde in Raum und Zeit wesentlich sind. 18.1 Konstitution, Konfiguration und Konformation von Molekülen Die Konstitution eines Moleküls umfaßt die Art und Anzahl der Atome und ihr Bindungsmuster, das heißt, die Angabe, welches Atom mit welchem oder welchen anderen Atomen direkt chemisch gebunden ist. Nun sind jedoch, wie wir wissen, Einfachbindungen (s-Bindungen) im Gegensatz zu Mehrfachbindungen (s- und pBindungen) üblicherweise fast frei drehbar, wobei sich das Bindungsmuster während der Drehung nicht ändert, die Konstitution des Moleküls also erhalten bleibt. Die im Prinzip unendlich vielen Formen, die das Molekül während der Drehungen um die Einfachbindungen annehmen kann und die sich alle durch unterschiedliche geometrische Anordnungen der nicht direkt aneinander gebundenen Atome unterscheiden, nennen wir Konformationsisomere oder Konformere. Da die Moleküle bei Raumtemperatur soviel innere Energie besitzen, daß die möglichen Rotationen um Einfachbindungen auch tatsächlich stattfinden, ist es in der Regel nicht möglich, einzelne Konformere zu isolieren; sie wandeln sich stets ineinander um. Schließlich gibt es, wie wir sehen werden, eine dritte Klasse von Isomeren, die, bei gleicher Konstitution, sich durch Rotationen um Einfachbindungen nicht ineinander

252

C. Spezielle organische Chemie

überführen lassen. Diese besonders interessante Art der Isomerie nennen wir Konfigurationsisomerie.

Das folgende Beispiel erläutert die Begriffe Konstitution, Konfiguration und Konformation näher (Abb. 18.1.1). H

H H

C3HA

O

V C

I C

O

R

H

V H"-C-OH

H

CH2(OH)

0

1

c

H OH H

H

.OH

O

I^T.

H

dl Abb. 18.1.1

OH

OH

H HC.

Beispiel zu Konstitution, im Text)

O

H

V

H C

d2 Konfiguration

und Konformation

(Erläuterung

Die Abbildung zeigt die Bruttoformel eines einfachen organischen Moleküls, des Glycerinaldehyds. Die Art und die Anzahl der das Molekül aufbauenden Atome sind angegeben, aber wir können aus dieser Formel keine weiteren Details des Molekülaufbaus entnehmen. Abb. 18.1.1b ist bereits viel informativer; es ist die Konstitutionsformel des Moleküls. Wir ersehen daraus, wie und durch welche Art von Bindungen (Einfach- oder Mehrfachbindungen) Atome direkt miteinander verbunden sind. Allerdings ist auch diese Formel noch immer keine wirklich gute Repräsentation des dreidimensionalen Moleküls. Abb. 18.1.1c stellt den Versuch dar, die lokale dreidimensionale Struktur am mittleren (fett gezeichneten) C-Atom darzustellen: Die vier Bindungen, die von diesem Atom ausgehen, sind tetraedrisch angeordnet; die beiden horizontalen Bindungen sind nach vorne, dem Betrachter zu,

253

18. Isomerie

orientiert, wodurch das H-Atom und die OH-Gruppe "oberhalb" der Buchseite zu liegen kommen, die vertikalen Bindungen dagegen sind vom Betrachter weg orientiert, und die gebundenen Atomgruppen liegen "unterhalb" der Buchseite. Die Zeichnung der Bindungsstriche soll diese unterschiedliche Orientierung in Bezug auf den Betrachter symbolisieren. Wir werden später sehen, daß zu dieser Geometrie des Moleküls eine genau spiegelbildliche existiert, bei der die Position der beiden horizontal angeordneten Bindungspartner vertauscht ist und die durch keine wie immer beschaffene Rotation des Moleküls in die Form der Abb. 18.1.1c überführt werden kann, die mithin also ein Konfigurationsisomer der abgebildeten Form des Glycerinaldehyds darstellt. Die Art der in Abb. 18.1.1c gewählten Darstellung gibt uns also neben der Konstitution auch die Konfiguration des Glycerinaldehyds an. Wenn wir nun zum Beispiel entlang der Bindungsachse zwischen dem eben genau besprochenen mittleren C-Atom und dem untersten C-Atom der Abb. 18.1.1b blikken, so könnten wir vielleicht in einem winzigsten Sekundenbruchteil eine Anordnung der an diese beiden Atome gebundenen Partner wie in Abb. 18.1.1dl erblikken: Das unserem Auge näher gelegene Atom sei dasjenige mit zwei H-Atomen und einer OH-Gruppe; die letztere sei gerade nach oben orientiert. Das mittlere CAtom sehen wir nicht direkt, da es vom vorderen verdeckt ist, aber die Substituenten (Bindungspartner) könnten in der gezeigten Weise angeordnet sein. Diese Konformation des Moleküls wird sich durch die bei Raumtemperatur ständig stattfindenden Rotationen in der nächsten Picosekunde bereits wieder geändert haben, da um die betrachtete C - C - Bindung fast ungehinderte Drehbarkeit besteht. Die hier gezeigte Art der Darstellung nennen wir Newman-Projektion. Eine leichte seitliche Verdrehung der Newman-Projektion führt uns zur Abb. 18.1.1d2; diese Art der Formelschreibweise nennen wir Sägebock-Projektion.

r

Abb. 18.1.2

Kugel-Stab-Modell des Glycerinaldehyds (vergleiche auch Abb. 18.1.1c). Schwarz: Kohlenstoff; weiß: Wasserstoff; schraffiert: Sauerstoff.

254

C. Spezielle organische Chemie

Mit Hilfe moderner Computergrafik ist es möglich, Moleküle auf verschiedene Arten so abzubilden, daß dem Betrachter der Eindruck der dreidimensionalen Gestalt des Moleküls besonders gut vermittelt wird. Abb. 18.1.2 zeigt ein Kugel-Stab- Modell des Glycerinaldehyds in derselben Konfiguration wie in Abb. 18.1.1c. Im folgenden werden die verschiedenen Arten der Isomerie besprochen. 18.2 Strukturisomerie

Unterscheiden sich Moleküle mit gleicher Bruttoformel durch die Anordnung der Atome und der Bindungen, so spricht man von Strukturisomeren. Kettenisomere besitzen unterschiedliche Kohlenstoffgerüste. Abb. 18.2.1. zeigt anhand von Konstitutionsformeln zwei Beispiele (die genaue Erklärung der Namen der Verbindungen folgt später): n-Butan besitzt eine unverzweigte Kette, 2-Methylpropan dagegen weist eine Verzweigung auf; die Bruttoformel beider Verbindungen ist C4H10. Cyclohexan ist ein ringförmig geschlossenes Molekül mit sechs Ringgliedern, Methyl-cyclopentan besitzt einen fünfgliedrigen Ring mit einer Verzweigungsstelle; die Bruttoformel beider Verbindungen ist CöHn. Kettenisomere besitzen unterschiedliche physikalische (Schmelzpunkt, etc.) und chemische Eigenschaften. H3C

CH—CH—CH.

n-Butan (unverzweigt)

H,C

HC

CH.

2-Methyl-propan (verzweigt) CH

H2C

Cyclohexan Abb. 18.2.1

Zwei Paare von

CH2

Methyl-cyclopentan Kettenisomeren

Siedepunkt,

255

18. Isomerie

Besitzen zwei Moleküle dasselbe Kohlenstoffskelett und dieselben funktionellen Gruppen, diese befinden sich aber an unterschiedlichen Positionen in Bezug auf die Kohlenstoffkette, so liegt Stellungsisomerie vor. Ein Beispiel zeigt Abb. 18.2.2; zwei Propanderivate mit jeweils zwei Hydroxylgruppen (Bruttoformel C3H8O2), die aber unterschiedliche Konstitution aufweisen:

H„C 2

HC

|

I

OH

CH

HC—HC

3

2

Ein

|

OH

OH

Propan-l,2-diol Abb. 18.2.2

CH

2

|

2

OH

Propan-l,3-diol

Stellungsisomerenpaar

Stellungsisomere besitzen ebenfalls unterschiedliche physikalische und chemische Eigenschaften, allerdings sind wegen der Gleichartigkeit der funktionellen Gruppen die Unterschiede vielfach nicht sehr stark ausgeprägt. Von der Stellungsisomerie zu unterscheiden ist die Strukturisomerie im engeren Sinn: Hier liegen im Molekül unterschiedliche funktionelle Gruppen vor. Abb. 18.2.3 zeigt als Beispiel das Isomerenpaar Ethanol und Dimethylether: HC 3

CH

OH

2

HC

Ethanol Abb. 18.2.3

Strukturisomere

O

3

CH

3

Dimethylether

im engeren Sinn

Strukturisomere im engeren Sinn haben wegen der unterschiedlichen funktionellen Gruppen stark unterschiedliche physikalische und chemische Eigenschaften. HC 3

C Ii

CH

2

H

O Dimethylketon

HC 3

C^=CH

1

o H Vinylalkohol

Abb. 18.2.4

Keto-Enol-Tautomerie

2

256

C. Spezielle organische Chemie

Unterscheiden sich zwei Verbindungen nur in der Anordnung eines H-Atoms und der Lage einer Doppelbindung, so liegt Tautomerie vor. Ein Beispiel ist die sogenannte Keto-Enol-Tautomerie; Abb. 18.2.4 demonstriert diese Isomerieform am Beispiel des Dimethylketons (Aceton). Aufgrund der verschiedenen Konstitution zeigen Tautomere unterschiedliche physikalische und chemische Eigenschaften; sehr oft liegen die beiden Tautomere in einem dynamischen Gleichgewicht miteinander vor.

18.3 Stereoisomerie Stereoisomere besitzen zwar dieselbe Konstitution, aber die räumliche Anordnung der Atome im Molekül, die Konfiguration, ist unterschiedlich. Wir kennen zwei unterschiedliche Arten von Stereoisomerie: Bei Molekülen mit Doppelbindungen und bei Ringverbindungen ist nicht um alle Bindungen eine freie Drehbarkeit gewährleistet. Bei solchen Molekülen gibt es die geometrische Isomerie (cis-trans-Isomerie): Bei der cis-Form des Moleküls sind die interessierenden Substituenten (Atome oder Atomgruppen) auf derselben Molekülseite in Bezug auf die Doppelbindung oder auf den Ring, bei der trans-Form jedoch auf gegenüberliegenden Seiten. Abb. 18.3.1 zeigt ein Beispiel: H

H

\C ^ = C / / \ Br Br eis-1,2-Dibrom-ethen Abb. 18.3.1

Br

H

\ c = c/ / \Br H trans-1,2-Dibrom-ethen

cis-trans-Isomerie

Cis-trans-Isomere besitzen dieselbe Konstitution, aber die intramolekularen Dimensionen der beiden Isomere,wie etwa paarweise Abstände von nicht direkt miteinander verbundenen Atomen sind unterschiedlich. Daher haben cis-trans-Isomere geringfügig unterschiedliche physikalische und chemische Eigenschaften. Es gibt nun - und hier knüpfen wir nochmals an die Abb. 18.1.1c an - bei bestimmten Molekülen sogar die Möglichkeit, bei gleichbleibender Konstitution Isomere mit unterschiedlicher Konfiguration zu erhalten, bei welchen die intramolekularen

18. Isomerie

257

Atomabstände identisch sind. Abb. 18.3.2 zeigt die beiden möglichen Isomeren des Glycerinaldehyds, die sich in allen molekularen Dimensionen gleichen "wie ein Ei dem anderen", die aber dennoch einen subtilen Unterschied aufweisen: es ist nicht möglich, eine Form durch bloße Drehungen, also ohne Lösen und Neuknüpfen chemischer Bindungen, in die andere zu überführen.

TT

C

CH2(OH)

CH2(OH)

Bild

Abb. 18.3.2

Die zwei spiegelbildlichen Form; rechts: L-Form)

Spiegelbild

Isomeren

des Glycerinaldehyds

(links:

D-

Die beiden Moleküle verhalten sich zueinander wie ein Bild zu seinem Spiegelbild, oder wie die linke Hand zur rechten. Nach dem griechischen Wort"ceir" = "Hand" nennt man derartige Isomere chiral. Chiralität ("Händigkeit") bedeutet also Spiegelbildisomerie, neben der geometrischen Isomerie die zweite Spielart der Stereoisomerie. Wenn nun nicht nur die Konstitution zweier Moleküle gleich ist, sondern auch alle intramolekularen Dimensionen ununterscheidbar sind bis auf den kleinen Unterschied in der räumlichen Anordnung, bestehen dann überhaupt meßbare Unterschiede zwischen den beiden isomeren Formen der Substanz? Die üblichen physikalischen und chemischen Eigenschaften von zwei Spiegelbildisomeren (Enantiomeren) sind in der Tat völlig identisch. Nur anhand zweier Unterschiede gelingt es, die Spiegelbildisomerie nachzuweisen. Die beiden Molekülformen drehen die Schwingungsebene von linear polarisiertem Licht um den gleichen Betrag, aber in unterschiedlicher Richtung. (Wir sprechen daher bei der Spiegelbildisomerie auch von optischer Isomerie.) Außerdem unterscheiden sich die beiden Molekülformen darin voneinander, daß sie unterschiedliche chemische Reaktivität aufweisen, wenn sie mit Reaktionspartnern reagieren, die selbst chiral sind (so ähnlich, wie eine rechte Hand zwar in einen rechten, nicht aber in einen linken Handschuh paßt: Hände sind ebenso wie Handschuhe chiral). Analysiert man die molekularen Voraussetzungen für das Auftreten dieser neuen Art von Isomerie, so findet man, daß dissymmetrische Moleküle unterscheidbare

258

C. Spezielle organische Chemie

Spiegelbildisomere aufweisen können. Dissymmetrische Moleküle besitzen weder eine Symmetrieebene noch ein Symmetriezentrum. Ohne auf die genaue Definition dieser Symmetrieelemente einzugehen, genügt für unsere Zwecke die folgende vereinfachte Definition: Moleküle, die ein asymmetrisches C-Atom aufweisen, das ist ein C-Atom mit vier unterschiedlichen Substituenten, zeigen Spiegelbildisomerie (diese Definition ist etwas vereinfacht; es gibt Moleküle, die dissymmetrisch sind, ohne ein asymmetrisches C-Atom zu besitzen). Abb. 18.3.3 zeigt Bild und Spiegelbild eines asymmetrischen C-Atoms.

\ Abb. 18.3.3

Bild und Spiegelbild eines asymmetrisch

substituierten

Kohlenstoffatoms

Sehr viele biologisch wichtige Stoffe weisen dissymmetrischen Bau auf und können daher in Form von zwei Enantiomeren (Bild und Spiegelbild) existieren. Sie sind optisch aktiv: Wenn wir wässrige Lösungen der reinen Form eines Enantiomers in einem Polarimeter untersuchen, so beobachten wir eine Drehung der Schwingungsebene von linear polarisiertem Licht. Interessanterweise ist von den jeweils zwei möglichen Enantiomeren einer Substanz sehr häufig nur eine biologisch aktiv; ihr Spiegelbild ist entweder inaktiv oder gar schädlich. Hier sei die ConterganKatastrophe erwähnt: Eines der beiden Enantiomeren des Pharmakons Thalidomid (auch Contergan genannt) ist ein hervorragendes Beruhigungs- und Einschlafmittel. Sein Spiegelbild jedoch wirkt zusätzlich teratogen: es löst, wenn es von schwangeren Frauen während der ersten Schwangerschaftswochen eingenommen wird, Mißbildungen an den Embryonen aus. Thalidomid wurde in den 50er und frühen 60er Jahren verwendet; aus Kostengründen wurde bei der chemischen Synthese der Verbindung darauf verzichtet, eine Trennung der beiden Spiegelbildisomeren vorzunehmen, und so ereignete sich - nur weil das schädliche Enantiomer nicht abgetrennt wurde - eine der größten Arzneimittelkatastrophen. Eine subtile Feinheit des räumlichen Aufbaus der Verbindung hatte verheerende biologische Auswirkungen. Enantiomere heißen auch optische Antipoden: Sie drehen die Schwingungsebene von linear polarisiertem Licht um den gleichen Betrag, aber in verschiedene Richtung. Mischt man zwei Lösungen von Enantiomeren, sodaß ihre Konzentrationen in der resultierenden Lösung gleich groß sind, so heben sich ihre Wirkungen auf linear polarisiertes Licht auf; wir nennen solche l:l-Gemische von Enantiomeren ein Racemat oder racemisches Gemisch.

18. Isomerie

259

18.4 Charakterisierung der räumlichen Anordnung von Substituenten an asymmetrischen Kohlenstoffatomen: D,L- und R,S-Nomenklatur Wie können wir die räumliche Anordnung der Substituenten am asymmetrischen C-Atom eindeutig beschreiben, sodaß Konfigurationen unmißverständlich bezeichnet werden können? Hierzu existieren zwei Möglichkeiten: 18.4.1 Fischer-Nomenklatur Die historisch ältere Bezeichnungsweise geht auf den deutschen Chemiker Emil Fischer zurück, der sich insbesondere mit Kohlenhydratchemie beschäftigt hat. Fischer zufolge drehen wir zuerst das zu untersuchende Molekül in eine definierte Lage: Wir denken uns das asymmetrische C-Atom, dessen Konfiguration ermittelt werden soll, in der Papierebene, und wir drehen das Molekül nun so, daß (1) das C-Atom mit der höchsten Oxidationstufe nach oben orientiert ist, (2) die zwei Substituenten, die in der ebenen Projektion der tetraedrisch angeordneten Bindungen horizontal angeordnet sind, in Wahrheit zum Betrachter hin orientiert sind, also oberhalb der Papierebene liegen, und (3) die beiden vertikal angeordneten Bindungen vom Betrachter weg, also unterhalb der Papierebene liegen. Diese ebene Projektion des dreidimensionalen Moleküles bezeichnen wir als Fischer-Projektion. Dazu ein Beispiel: Glycerinaldehyd, eines der einfachsten Kohlenhydratmoleküle, wurde in den Abb. 18.1.1c, 18.1.2 und 18.3.2 bereits in der Fischer-Projektion dargestellt (das höchst oxidierte C-Atom des Glycerinaldehyds ist, wie wir später sehen werden, dasjenige mit dem doppelt gebundenen O-Atom). Insbesondere in der Abb. 18.3.2 sind beide möglichen Enantiomeren der Verbindung richtig in der Fischer-Projektion gezeichnet. (Wir werden später nicht immer die Lage der Bindungen oberhalb und unterhalb der Papierebene explizit durch dick ausgezogene bzw. gestrichelte Bindungen angeben, sondern nur einfache Striche zeichnen, die Voraussetzungen der Fischer-Projektion bezüglich der Lage der Substituenten oberhalb oder unterhalb der Papierebene jedoch stillschweigend annehmen.) Nach Fischer bezeichnen wir die Form des Glycerinaldehyds, bei der in der FischerProjektion die OH-Gruppe rechts zu liegen kommt, als D-Glycerinaldehyd (von lateinisch dextrum - rechts), ihr Spiegelbild als L-Glycerinaldehyd (von laevum = links). Andere chirale Moleküle, die chemisch auf D-Glycerinaldehyd zurückgeführt werden können, ordnen wir der D-Reihe zu, ihre Spiegelbilder aber der LReihe. Glycerinaldehyd dient uns also als Bezugsmolekül. Fischer traf historisch diese Zuordnung willkürlich durch Berücksichtigung des optischen Drehsinnes: Der rechtsdrehenden Form des Glycerinaldehyds ordnete er die

260

C. Spezielle organische Chemie

D-Form der Substanz zu, der linksdrehenden die L-Form. Nach Fischer schreibt man D-(+)-Glycerinaldehyd für die rechtsdrehende und L-(-)-Glycerinaldehyd für die linksdrehende Form. Die Symbole (+) und ( - ) geben den Drehsinn an, in dem die Schwingungsebene des linear polarisierten Lichtes verdreht wird. Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß die Bezeichnung D oder L nicht a priori den Drehsinn einer beliebigen optisch aktiven Substanz angibt, sondern lediglich ihre Beziehung zu D- oder L-Glycerinaldehyd in der Fischer-Projektion, also ihre Konfiguration relativ zu dieser Bezugssubstanz. Der Drehsinn hingegen muß für jede Substanz experimentell ermittelt werden. Die Fischer-Projektion wurde speziell für Probleme der Kohlenhydratchemie entwickelt. Es gibt jedoch Substanzen, für die sich aufgrund ihrer Struktur keine direkte Beziehung zu Glycerinaldehyd herstellen läßt und die daher nicht eindeutig als D- oder L-Form charakterisierbar sind. Außerdem - die Wahrscheinlichkeit, daß die Geometrie des D-Glycerinaldehyds tatsächlich der in Abb. 18.3.2 links gezeichneten Form entspricht, ist eigentlich nur 50%: Fischer hatte zu seiner Zeit keine Möglichkeiten, die wahre Geometrie des Moleküls experimentell festzulegen. In den 50er Jahren ist dies aber möglich geworden, und es zeigte sich, daß Fischer mit seiner willkürlichen Zuordnung Glück hatte: Die wahre (absolute) Konfiguration des D-Glycerinaldehyds entspricht tatsächlich der von Fischer angenommenen. 18.4.2 R,S-System nach Cahn, Ingold und Prelog Cahn, Ingold und Prelog erfanden ein alternatives Nomenklatursystem, in dem eine eindeutige Benennung aller möglichen chiralen Substanzen aufgrund ihrer absoluten Konfiguration möglich ist, das sogenannte R,S-System. Diesem System entsprechend ordnen wir die Substituenten am asymmetrischen C Atom nach einer Prioritätenreihenfolge. Zunächst ist die Ordnungszahl der direkt am asymmetrischen Zentrum gebundenen Atome maßgeblich: Je höher die Ordnungszahl, desto höher die Priorität. Mit den häufigsten Atomen in organischen Verbindungen ergibt sich somit I > B r > C l > S > P > F > 0 > N > C > H . Sind gleichartige Atome mit dem asymmetrischen C-Atom verbunden, so betrachtet man die mit diesen verbundenen Atome, wobei doppelt gebundene Atome doppelt und dreifach gebundene dreifach zählen. Nehmen wir als Beispiel Glycerinaldehyd: Die Substituenten am asymmetrischen Zentrum sind H - C = O, OH, H und CH2OH. Die Hydroxylgruppe OH besitzt die höchste, das Wasserstoffatom H die niedrigste Priorität. Die beiden übrigen Substituenten sind beide über ein C-Atom an das asymmetrische Zentrum gebunden; die H - C = O -Gruppe besitzt jedoch aufgrund des doppelt gebundenen O-Atoms eine

261

18. Isomerie

höhere Priorität als die CH2OH -Gruppe, die eine Einfachbindung zwischen C und O aufweist. Insgesamt lautet die Prioritätsreihenfolge also O H > H - C = O>CH 2 OH>H. Man dreht das Molekül nun so, daß der Substituent mit der niedrigsten Priorität genau hinter dem asymmetrischen C-Atom zu liegen kommt. Dann bilden die drei restlichen Substituenten einen regelmäßigen Stern mit drei Strahlen. Sind diese drei Substituenten so angeordnet, daß man von der Gruppe mit höchster zur Gruppe mit zweithöchster und schließlich mit dritthöchster Priorität im Uhrzeigersinn voranschreitet, so bezeichnet man die Verbindung als R-Enantiomer, andernfalls als S-Enantiomer. CK

jj

O

^ 2 C

C 1

H^-C-^OH

1

HO

(G

/

H

\ CH2OH Abb. 18.4.1

D-Glycerinaldehyd

CH2OH ist das R-Enantiomer

Abb. 18.4.1 zeigt, daß D-Glycerinaldehyd in der neuen Bezeichnungsweise als RGlycerinaldehyd zu benennen ist: Das Molekül in der Fischer-Projektion (linker Teil der Abb.) wird gedreht, bis das H-Atom hinter dem asymmetrischen Zentrum zu liegen kommt. Dadurch gelangen die übrigen drei Substituenten in die rechts dargestellten Positionen, und die Reihenfolge der Priorität nimmt offenbar im Uhrzeigersinn ab. (Analog kann man für den L-Glycerinaldehyd zeigen, daß er das SEnantiomer der Verbindung darstellt). 18.5 Diastereomerie Moleküle mit einem asymmetrischen C-Atom können in zwei enantiomeren Formen (Bild und Spiegelbild) vorkommen. Sind mehrere asymmetrische Zentren im Molekül vorhanden, so erhöht sich die Zahl der möglichen Stereoisomeren: Pro asymmetrischem C-Atom sind zwei Enantiomere möglich; bei n asymmetrischen Zentren gibt es daher im allgemeinen Fall 2" Stereoisomere. Ein Beispiel mit n = 2 asymmetrischen Zentren zeigt Abb. 18.5.1: die möglichen stereoisomeren Formen der zu den Kohlenhydraten gehörenden Aldotetrosen. Entsprechend 2 2 = 4 existieren 4 Stereoisomere, von denen je zwei untereinander wie

262

C. Spezielle organische Chemie

Bild und Spiegelbild zusammenpassen, also Enantiomerenpaare darstellen: D- und L-Erythrose (die beiden OH-Gruppen liegen in der Fischer-Projektion jeweils auf derselben Seite) und D- und L-Threose (die beiden OH-Gruppen liegen auf entgegengesetzten Seiten). XT H—(j:*—OH

HO—y*—H

H—y*—OH

HO——H

CHjOH

CH,OH

D-Erythrose

L-Erythrose

Abb. 18.5.1

XT I HO—y*—H

TT

h— Cl 2 C1*+*CH 3 - > C 1 - C H 3 H 3 C • +*CH3

H 3 C - CH 3 .

Wir halten fest: Bei radikalisch verlaufenden Kettenreaktionen können sehr viele Kettenfortpflanzungsreaktionen stattfinden, bevor Abbruchreaktionen Radikale "vernichten", da die Konzentration an Radikalen zu jedem Zeitpunkt sehr gering ist und die Chance eines Zusammentreffens zweier Radikale viel kleiner ist als die Wahrscheinlichkeit, daß ein Radikal auf ein Molekül stößt, mit dem es im Sinne der beschriebenen Fortpflanzungsreaktionen reagieren kann. Wir sehen aus der Beschreibung auch, daß solche Reaktionen zu uneinheitlichen Produkten führen müssen, da zum Beispiel die Cl-Radikale aufgrund ihrer extrem hohen Reaktivität durchaus auch mit bereits chlorierten Molekülen wie Cl - CH 3 zu höher chlorierten Produkten wie C I - C H 2 - C I (Dichlormethan) weiterreagieren können.

270

C. Spezielle organische Chemie

20 Alkene 20.1 Struktur und Nomenklatur Alkene besitzen eine C = C-Doppelbindung: sie enthalten daher sp 2 -hybridisierte Kohlenstoffatome. Da Alkenen, verglichen mit den entsprechenden Alkanen, zwei H-Atome fehlen, lautet ihre Bruttoformel C n H2 n . Die Doppelbindung entsteht durch Ausbildung einer a-Bindung und einer n-Bindung zwischen den sp 2 -hybridisierten C-Atomen. Da die K-Bindung nur entstehen kann, wenn die benachbarten p-Orbitale achsenparallel stehen, existiert bei Alkenen keine freie Drehbarkeit um die C = C-Doppelbindung. Die doppelt gebundenen C-Atome und die vier an sie gebundenen Atome liegen in einer Ebene; die Bindungswinkel an den sp 2 -hybridisierten C-Atomen betragen 120°. Die Starrheit der Doppelbindung ermöglicht die Existenz von eis, trans-Isomeren. Die Bezeichnungsweise von Alkenen ist sehr einfach: • Wir suchen die längste Kette von C-Atomen, die die Doppelbindung enthält, und numerieren die Atome derart, daß die in die Doppelbindung involvierten C-Atome möglichst kleine Nummern erhalten. • Diese Kette benennen wir wie das entsprechende Alkan, ersetzen aber die Endung -an durch -en. • Die genaue Lage der Doppelbindung geben wir durch die Nummer des C— Atoms an, von dem die Doppelbindung ausgeht. • Sind mehrere Doppelbindungen im Molekül vorhanden, geben wir dies durch das entsprechende griechische Zahlwort an. • Substituenten behandeln wir genauso wie bei den Alkanen. Die Abb. 20.1.1 zeigt einige Beispiele.

H2 C = C H 2

H3C-CH=CH-CH 3

H2 C = C| — C H = C H2 CH3

Ethen Abb. 20.1.1

But-2-en

2-Methyl-buta-l,3-dien

Struktur und Name einiger Alkene

Früher war für Alkene auch eine Bezeichnungsweise als Alkylene üblich; so nannte man etwa Ethen Ethylen (oder Äthylen), Propen Propylen usw.

20. Alkene

271

20.2 Physikalische Eigenschaften Alkene unterscheiden sich in ihren physikalischen Eigenschaften kaum von den entsprechenden Alkanen. Die zwischenmolekularen Kräfte sind etwas größer, da die Doppelbindung ganz schwach polarisiert ist. Alkene haben daher etwas höhere Schmelz- und Siedepunkte.

20.3 Chemische Eigenschaften Alkene sind chemisch bereits etwas interessanter als Alkane: Sie können Additionsreaktionen eingehen; dabei entstehen anstelle der Doppelbindung zwei Einfachbindungen. Der Grund für diese Reaktionsmöglichkeit liegt darin, daß die Bindungsenergie einer C = C-Doppelbindung etwas geringer ist als die von zwei C - C-Einfachbindungen (ji-Bindungen sind generell etwas schwächer als o-Bindungen). Noch eine Eigenschaft der Doppelbindung müssen wir besprechen, um den Mechanismus der Additionen an Alkene zu verstehen: Die rc-Bindung entsteht durch Überlappung der zwei p-Orbitale an den sp 2 -hybridisierten C-Atomen. Die entstehenden rc-Molekülorbitale besitzen oberhalb und unterhalb der Ebene der Doppelbindung eine relativ hohe Elektronendichte, in der Ebene der Doppelbindung hingegen eine Knotenebene. Die hohe Elektronendichte der p-Bindung begünstigt so den Angriff von elektrophilen (= elektronenarmen) Reagentien:

Wir kürzen ab: AE-Reaktion. Beispiele für A E -Reaktionen sind die Addition von Halogenen oder Halogenwasserstoff. Anhand der Addition von Br 2 an Ethen diskutieren wir den Mechanismus: Nähert sich ein Br2-Molekül der voluminösen rc-Elektronenwolke des Ethens, so polarisieren einander die beiden Moleküle gegenseitig (Abb. 20.3.2a). Diese Polarisation führt zur heterolytischen Spaltung der relativ schwachen Br-Br-Bindung, wobei ein sogenannter K-Komplex und ein Bromid-Ion entstehen (Abb. 20.3.2b). Der ^-Komplex reagiert durch die Ausbildung einer kovalenten Bindung weiter zu einem Carbenium-Ion (positive Ladung am C-Atom), welches mesomer mit einem Bromonium-Ion (positive Ladung am Br-Atom) ist (Abb. 20.3.2c); durch Addition des Br"-Ions wird schließlich das 1,2-Dibromethan gebildet (Abb. 20.3.2d).

272

C. Spezielle organische Chemie

Es sei hinzugefügt, daß alle diese Reaktionen prinzipiell reversibel sind, also Gleichgewichtsreaktionen darstellen. H

\

C

^

H

8+

II

+ Br-Br

8+

C

II 8-

H

;

"

FL

8-

H

C

-*• Br H

/H ->Br H

Br—Br

Ai

Br—Br

H

Hn

II 8 -

8-

Br

H rc-Komplex

H. M ^C—Br •4

H

;Br



H

H

Carbenium

H

Bromonium

Hx

H C—Br

Br-Cx H H

Abb. 20.3.2

Die einzelnen Schritte bei einer elektrophilen

Additionsreaktion

Werden unsymmetrische Reagentien wie etwa Halogenwasserstoffsäuren an eine Doppelbindung addiert, so können bei unsymmetrischen Alkenen prinzipiell zwei Produkte entstehen. Betrachten wir etwa die Addition von HCl an Propen (Abb. 20.3.3):

Durch die relativ elektronenreiche rc-Bindung des Propens wird (über einen KKomplex) im ersten Reaktionsschritt ein Proton H + (Elektrophil!) addiert. Das H + Ion kann prinzipiell sowohl an Ci als auch an C2 gebunden werden; im ersten Fall

273

20. Alkene

entsteht ein sekundäres Carbenium-Ion (die positive Ladung sitzt an einem sekundären C-Atom, das ist in unserem Fall das mittlere, welches an zwei weitere C Atome gebunden ist), im zweiten Fall bildet sich ein primäres Carbenium-Ion (die positive Ladung befindet sich an einem primären C-Atom, welches nur mit einem weiteren C-Atom verbunden ist).

© - c —

C1 -CH

+ C1

I H

H3C—Ci

CH 3

H

+H

2-Chlorpropan

H3 C—CH=CH2

H H1C—CH—C +) 2 i x(—'

+ C1

HC—CH-CH—C1 3 2 2

H 1-Chlorpropan Abb. 20.3.3

Zwei Wege der elektrophilen Addition von HCl an Propen

Generell sind sekundäre Carbenium-Ionen stabiler als primäre; daher wird - wie in der Abbildung angedeutet - fast ausschließlich 2-Chlorpropan gebildet, jedoch fast kein 1-Chlorpropan. Dieses Reaktionsverhalten nennen wir Regel von Markownikoff: Bei elektrophilen Additionen wird das Wasserstoffatom des Reaktanden (allgemein: der positiv polarisierte Teil des elektrophilen Reaktanden) an das C-Atom des Alkens gebunden, welches bereits die größere Zahl von H-Atomen aufweist. Der Grund für die Stabilitätsreihenfolge bei Carbenium-Ionen (tertiär > sekundär > primär; Abb. 20.3.4) liegt darin, daß Alkylgruppen einen sogenannten positiven induktiven Effekt (+I-Effekt) auf die C-Atome ausüben, an die sie gebunden sind. Darunter versteht man eine schwache Polarisierung der Bindung zwischen der Alkylgruppe (in Abb. 20.3.4 Methylgruppen) und dem interessierenden C-Atom in dem Sinn, daß die Alkylgruppe eine schwach positive Partialladung (daher +1Effekt) erhält. Da an einem primären C-Atom nur eine, bei einem sekundären zwei, und bei einem tertiären gar drei Alkylgruppen gebunden sind, ist ein tertiäres Carbenium-Ion stabiler als ein sekundäres, und dieses wiederum stabiler als ein

274

C. Spezielle organische Chemie

primäres, da die Ladung des positiv geladenen C-Atoms durch die leichte Ladungsverschiebung von den Alkylgruppen her teilweise kompensiert wird.

HC

H I C ©

^ © HC—C

H

HC

H

primär Abb. 20.3.4

CH

CH I 3 C © CH.

sekundär

Drei Arten von

tertiär

Carbenium-Ionen

Eine technisch wichtige Reaktionsmöglichkeit der Alkene ist die Addition von Wasserstoff H 2 an die Doppelbindung; diese Reduktion der Alkene zu den entsprechenden Alkanen wird meist mit Katalysatoren (feinverteilte Schwermetalle wie Platin, Palladium oder Nickel) durchgeführt. Technisch außerordentlich wichtig sind sogenannte Polymerisationsreaktionen der Alkene, die - oft in tausenden aufeinanderfolgenden Additionschritten - zu den entsprechenden Polymeren führen: Das sind Makromoleküle (griechisch makros = groß, viel), die in vielerlei Abwandlungen einen großen Teil der sogenannten Kunststoffe darstellen. Abb. 20.3.5 zeigt schematisch die Bildung eines derartigen Riesenmoleküls aus den einzelnen Bausteinen, den Monomeren:

n H2C = C |H



•••

CH2

CH—CH—CH—CH—CH | 2 | 2 |

X Abb. 20.3.5 Die Bildung eines Polymers aus vielen

X

X

X

Monomeren

Die Bildung von Polymeren aus Monomeren nennen wir Polymerisation; wir unterscheiden dabei zwischen Polyadditionen, die bei Alkenen die Regel darstellen, und den sogenannten Polykondensationen, bei welchen bei jedem Verlängerungschritt der wachsenden Makromolekül-Kette ein kleines Molekül, meist H 2 0 , austritt; sie sind der Regelfall bei der Bildung biologischer Makromoleküle wie der Polysaccharide aus Monosacchariden, der Proteine aus Aminosäuren und der Nucleinsäuren aus Nucleotiden (siehe dort).

21. Alkine

275

Der monomere Baustein in der Abb. 20.3.5 ist ein Ethenderivat (alter Name: Vinylderivat). Die Tabelle 20.3.1 nennt die Namen einiger Monomere und der entsprechenden Polymere: Tab. 20.3.1

Einige Monomere Abb. 20.3.5)

und die entsprechenden

Polymere

(siehe

Formelbild

X

Monomer (alter Name in Klammer) Polymer

H

Ethen

Polyethen (PET)

CH3

Propen

Polypropen

C1

Ethenylchlorid (Vinylchlorid)

Polyvinylchlorid (PVC)

C6Hs (Phenyl-Rest) Ethenylbenzen (Styrol)

Polystyrol

21 Alkine 21.1 Struktur und Nomenklatur Alkine enthalten eine Dreifachbindung. Diese wird durch sp-hybridisierte C-Atome vermittelt; diese und die direkt an sie gebundenen Atome liegen auf einer Geraden, da ihr Bindungswinkel 180° beträgt. Ihre Bruttoformel lautet CnH2n-2Die Bezeichnungsweise ist analog der der Alkene; anstelle der Endung en werden Alkine durch die Endung -in charakterisiert. Das einfachste Alkin ist Ethin (H - C = C - H); früher wurde es auch als Acetylen bezeichnet. 21.2 Physikalische Eigenschaften Auch Alkine unterscheiden sich in ihren physikalischen Eigenschaften kaum von den entsprechenden Alkanen. 21.3 Chemische Eigenschaften Ethin ist thermodynamisch instabil; unter Druck zerfällt es explosionsartig:

276

C. Spezielle organische Chemie

H - C = C - H—>2C + H 2 ; AH= - 2 2 6 . 9 kJ/mol. Die Verbrennung mit Sauerstoff liefert aufgrund der sehr stark exothermen Reaktion eine sehr heiße Flamme, die in Schneidbrennern und Schweißgeräten ausgenützt wird: 2H - C s C - H + 5 0 2

4C0 2 + 2H 2 0; AH = -2612.6 kJ/mol.

Auch Alkine neigen zu Additionsreaktionen. Eine technisch wichtige Reaktion ist die mit Katalysatoren durchgeführte Anlagerung von Wasser an Ethin (Abb. 21.3.1): HC=CH

Abb. 21.3.1

+ HO



HC=CH I I H OH

^

HC—CH II O

Anlagerung von Wasser an Ethin

Hier entsteht im ersten Reaktionsschritt Ethenylalkohol (Vinylalkohol, die Gruppe H 2 C = C - heißt Ethenyl-Gruppe; sie wird aber auch oft mit dem alten Namen Vinyl-Gruppe bezeichnet). Hydroxygruppen (OH-Gruppen) an Doppelbindungen (sogenannte Enole: en steht für die Doppelbindung, ol für die alkoholische Hydroxylgruppe) sind nicht sehr stabil; in einer Tautomerie-Gleichgewichtsreaktion (beachte die verwendeten Tautomeriepfeile in der entsprechenden Reaktionsgleichung) lagert sich die Verbindung aus der Enol-Struktur in die Carbonylstruktur des Ethanals (Acetaldehyd; Aldehyde werden später besprochen) um. Diese Reaktion ist eine Keto-Enol-Tautomerie, ein Spezialfall einer Umlagerungs-reaktion. Ersetzt man allerdings H 2 0 durch einen Alkohol wie Ethanol ( H 3 C - C H 2 - O H ) , so entsteht ein Ethenylether (Vinylether; Abb. 21.3.2), der aufgrund des fehlenden H- Atoms am Sauerstoff keine Tautomerie zeigt, sondern stabil ist. HC=CH

Abb. 21.3.2

+ HC

CH—OH



HC=CH 2 J o

Anlagerung von Ethanol an Ethin

Solche stabilen Ethenyl-Verbindungen lassen sich wie gewöhnliche Alkene polymerisieren und sind wichtige Ausgangsstoffe für die Produktion von Kunststoffen.

277

22. Cycloalkane

Eine der außergewöhnlichsten Eigenschaften der Alkine ist die Tatsache, daß H Atome an sp-hybridisierten C-Atomen im Vergleich zu Alkanen und Alkenen acid sind: Sie werden relativ leicht als H + -Ion abgegeben. So kann Ethin mit metallischem Natrium unter Reduktion des Wasserstoffs zu Dinatriumacetylid reagieren: H - C = C - H + 2Na->H 2 + [|C = C|]2~ + 2Na+. Allerdings ist Ethin eine viel schwächere Säure als etwa Wasser, sodaß solche Acetylide in Wasser als starke Basen wirken: [|C = C|] 2- + 2 H 2 0 - > H - C = C - H + 20H-.

22 Cycloalkane 22.1 Struktur und Nomenklatur Cycloalkane sind ringförmig gebaute Alkane. Durch den Ringschluß bedingt, ist ihre Bruttoformel der der Alkene gleich: CnH2nIhre Bezeichnungsweise ist einfach: Vor dem Namen des entsprechenden Alkans setzen wir das Präfix Cyclo. Die ersten vier Cycloalkane zeigt Abb. 22.1.1 CH

HC

CH2

Cyclopropan

Abb. 22.1.1

HC

CH2

HC

CH2

Cyclobutan

Die ersten vier Cycloalkane

2

Cyclcopentan

Cyclohexan

278

C. Spezielle organische Chemie

Wie im unteren Teil der Abbildung gezeigt, schreiben wir oft aus Bequemlichkeit nur das nackte Kohlenstoff-Skelett, ohne die C-Atome und die H-Atome explizit auszuschreiben. 22.2 Physikalische Eigenschaften Die Cycloalkane gleichen in ihren physikalischen Eigenschaften sehr den Alkanen. 22.3 Chemische Eigenschaften Einige Cycloalkane zeigen in ihrem Verhalten charakteristische Unterschiede zu den entsprechenden offenkettigen Alkanen: Besonders die kleinsten Ringe, Cyclopropan und Cyclobutan, sind sehr reaktiv und nur unter Schwierigkeiten herstellbar. Der Grund dafür ist die große Abweichung ihrer C - C - C - Bindungswinkel vom idealen Tetraederwinkel (109°28'). Die daraus resultierende Instabilität des Ringsystems bezeichnet man als klassische Ringspannung oder Baeyer-Spannung. Cyclopentan und Cyclohexan dagegen vermeiden diese Ringspannung dadurch, daß sie nicht eben gebaut sind. Aufgrund der Wichtigkeit der sechsgliedrigen Ringe in vielen Naturstoffen (Kohlenhydrate, Terpene, Steroide) besprechen wir die Stereochemie des Cyclohexanringes im folgenden ausführlicher. Wäre Cyclohexan eben gebaut, würden wir einen C - C - C -Bindungswinkel von 120° erwarten, was zu einer beträchtlichen Baey er Spannung führen würde. Außerdem lägen in einem eben gebauten Cyclohexan die H-Atome an benachbarten C Atomen in ekliptischer Position zueinander, was ebenfalls eine destabilisierende Wirkung hätte. Diese Art des Stabilitätsverlustes durch ekliptische H-Atome nennen wir Pitzer-Spannung. Im Cyclohexanring kann die Baeyer-Spannung durch zwei unterschiedliche Konformationen vermieden werden, die beide für alle sechs C-Atome eine tetraedrische Bindungsstruktur erlauben: Sesselform und Wannenform (Abb. 22.3.1). Von diesen beiden Konformationen ist die Sesselform die stabilere: Wie die Abbildung zeigt, sind die H-Atome an benachbarten C-Atomen ausnahmslos in der energieärmeren gestaffelten Stellung zueinander. Im Gegensatz dazu sind in der Wannenform bei je zwei benachbarten C-Atomen die H-Atome in ekliptischer Stellung, wodurch diese Konformation Pitzer-Spannung besitzt und energetisch ungünstiger liegt. In der Sesselform unterscheiden wir zwei Arten von H-Atomen: Äquatoriale IiAtome (bezeichnet durch eq) liegen - bezogen auf eine mittlere Ringebene - ungefähr in dieser Ebene, axiale H-Atome (ax) dagegen stehen senkrecht zu dieser

279

22. Cycloalkane

mittleren Ringebene. Diese Klassifizierung entsprechend der Lage bezüglich der mittleren Ringebene verwenden wir auch dann, wenn anstelle der H-Atome andere Substituenten an den Sechsring gebunden sind.

Abb. 22.3.1

Konformationen von Cyclohexan: Sesselform (links) und Wannenform (rechts). Axiale (ax) und äquatoriale (eq) Position einiger H-Atome ist markiert; die ekliptische (ek) Stellung von H-Atomen in der Wannenform ist ebenfalls angegeben.

Durch die thermische Energie der Moleküle können Cyclohexanmoleküle und Cyclohexanderivate eine Ringkonversion durchführen: Durch ein "Umklappen" der Sesselform kann ein ursprünglich äquatorial gebundenes Atom zu einem axialen werden, und umgekehrt. Am Beispiel eines monosubstituierten Cyclohexanderivats, des Chlorcyclohexans, zeigt Abb. 22.3.2 diesen Vorgang:

Abb. 22.3.2

Ringkonversion

eines monosubstituierten

Cyclohexanderivats

Interessant sind 1,2-disubstituierte Cyclohexanderivate wie 1,2-Dichlorcyclohexan. Von dieser Verbindung existieren zwei geometrische Isomere, nämlich eis- und trans-l,2-Dichlorcyclohexan. Wir können eine vereinfachte ebene Projektion der Molekülstrukturen betrachten oder eine Darstellung, die den räumlichen Bau der Moleküle besser veranschaulicht (Abb. 22.3.3 und Abb. 22.3.4).

280

C. Spezielle organische Chemie

"C1

Abb. 22.3.3

- W

C1

Die zwei möglichen Formen des cis-l,2-Dichlor-cyclohexans in ebener Projektion und in räumlicher Darstellung. Die Formeln ganz links sind so zu lesen, daß der Betrachter die Moleküle von oberhalb der mittleren Molekülebene ansieht. Die durch schwarze Kreise hervorgehobenen C-Atome dienen dem besseren Erfassen der Zusammenhänge zwischen der einfachen ebenen Projektion (Formeln links) und der Darstellung der dreidimensionalen Struktur (Formeln rechts).

-C1 C1 Abb. 22.3.4

Mögliche Formen des trans-l,2-Dichlor- cyclohexans

Bei dem cis-Isomeren ist die Stellung der Substituenten entweder eq-ax oder ax-eq (beide Formen wandeln sich aufgrund der Ringkonversion ständig ineinander um). Bei der trans-Form hingegen ist die Stellung der Cl-Atome entweder ax-ax oder eq-eq. Die eq-eq-Form ist energetisch etwas stabiler als die ax-ax-Form.

23. Aromatische Kohlenwasserstoffe

281

23 Aromatische Kohlenwasserstoffe 23.1 Struktur und Nomenklatur Ringförmige Verbindungen mit durchgehend konjugierten Doppelbindungen und einer Anzahl von 7t-Elektronen, die sich durch den Term 4n + 2 mit n = 0,1,2,... (Hückersehe Regel) beschreiben läßt, weisen besondere Stabilität auf und werden als aromatische Verbindungen bezeichnet. Ihr chemisches Verhalten wird durch das Bestreben dominiert, das stabile aromatische Bindungssystem beizubehalten. Der Grundkörper der aromatischen Verbindungen ist das Benzen, dessen Bindungsstruktur bereits besprochen wurde (siehe Kapitel 5.6). Das Wesentliche sei wiederholt: Benzen wird durch sechs sp2-hybridisierte C-Atome aufgebaut, die ein reguläres Sechseck bilden. An jedem C-Atom ist zusätzlich ein H-Atom gebunden. Durch die Ausbildung polyzentrischer Molekülorbitale aus den an jedem C-Atom übrigbleibenden einfach besetzten p z -Orbitalen sind alle C - C - Bindungen völlig gleichwertig; das Molekül ist vollständig planar gebaut, und alle Bindungswinkel betragen 120°. Die C - C - Bindungsabstände sind durchgehend gleich und liegen mit 0.139 nm zwischen Einfachbindung (0.154 nm) und Doppelbindung (0.133 nm). Ein Kugel-Stab-Modell des Benzens zeigt Abb. 23.1.1:

Abb. 23.1.1

Benzen

(Kugel-Stab-Modell)

Benzen kann drei verschiedene Disubstitutionsisomere bilden, die als 1,2- (oder ortho-] abgekürzt o-); 1,3- (oder meta-\ abgekürzt m-) und 1,4- (oder para-; abgekürzt p-)-Verbindungen bezeichnet werden. Abb. 23.1.2 zeigt dies anhand der Dichlorbenzene:

282

C. Spezielle organische Chemie

C1

C1

C1 1,2-Dichlorbenzen o-Dichlorbenzen

Abb. 23.1.2

Die isomeren

1,3-Dichlorbenzen m-Dichlorbenzen

1,4-Dichlorbenzen p-Dichlorbenzen

Dichlorbenzene

Benennung aromatischer Kohlenwasserstoffe: • Vor dem Namen Benzen gibt man die Namen allfälliger Substituenten und die Stellungen derselben an. Die C-Atome numerieren wir dabei von 1 bis 6 so durch, daß C-Atome mit Substituenten möglichst niedrige Nummern erhalten. • Die relativen Positionen von zwei Substituenten werden, wie oben gezeigt, durch ortho = 1,2; meta =1,3 und para =1,4 angezeigt. Hierbei schreiben wir üblicherweise die Abkürzung, etwa o-Dimethylbenzen, aber wir sprechen "ortho-Dimethylbenzen". • Bei drei gleichen Substituenten kennen wir neben der einfachen Nummerierung noch die älteren Bezeichnungen vicinal - 1,2,3; symmetrisch = 1,3,5 und asymmetrisch = 1,2,4. Wie bei den Alkanen durch Wegnahme eines H-Atoms Alkyl-Reste entstehen, bilden Aromaten durch Entfernung eines H-Atoms Aryl-Reste. Alkylreste werden in Formeln oft durch R-angegeben; für Arylreste verwenden wir in Formeln die Kurzschreibweise Ar-, Im Fall des Benzens entsteht der Phenylrest (C6H 5 -). In Formeln wird der aromatische Ring üblicherweise durch einen Innenkreis (wie in Abb. 23.1.2) oder durch die Valenzstrich-Formeln (siehe Kapitel 5.6) mit alternierenden Doppel- und Einfachbindungen gezeichnet. Diese Kennzeichnungen sind wesentlich, da auch gesättigte Cycloalkane wie Cyclohexan in der üblichen Kurzschreibweise durch ein reguläres Sechseck, aber ohne Innenkreis oder alternierende Doppel- und Einfachbindungen dargestellt werden (siehe Kapitel 22). Für einige Derivate des Benzens kennen wir neben den rationellen Namen auch sogenannte Trivialnamen: Methylbenzen wird auch als Toluen (früher: Toluol) bezeichnet; die drei Dimethylderivate werden auch Xylene (früher: Xylole) genannt:

23. Aromatische Kohlenwasserstoffe

283

1,2-Dimethylbenzen = o-Xylen\ 1,3-Dimethylbenzen = m-Xylen; 1,4-Dimethylbenzen = p-Xylen. 23.2 Physikalische Eigenschaften Benzen ist eine farblose, charakteristisch riechende, sehr giflige Flüssigkeit, die bei 80°C siedet. Benzen ist praktisch apolar, löst sich daher in Wasser fast nicht, ist jedoch gut mischbar mit anderen lipophilen Substanzen. 23.3 Chemische Eigenschaften Die elektrophile Substitution an Aromaten Aromatische Kohlenwasserstoffe wie Benzen reagieren chemisch überraschend einheitlich: Da das aromatische System sehr stabil ist, werden unter gewöhnlichen Umständen praktisch nie Additionsreaktionen beobachtet, die ja Doppelbindungen immer in Einfachbindungen überführen, sondern die typische Reaktion ist eine Substitutionsreaktion, nämlich der Austausch von einem oder mehreren H-Atomen gegen andere funktionelle Gruppen. Der Mechanismus dieser Substitutionen verläuft ebenfalls sehr einheitlich so, daß das elektronenreiche aromatische 7i-Elektronensystem von einem Elektrophil als reaktiver Zwischenstufe angegriffen wird. Die typische Reaktion von aromatischen Verbindungen ist die elektrophile Substitutionsreaktion. Wir kürzen ab: SE-Reaktion. Wir wollen im folgenden die Substitution von Benzen durch elementares Brom betrachten; die dabei zu beobachtenden Reaktionsschritte kommen in ähnlicher Form praktisch bei allen aromatischen SE-Reaktionen vor. Der erste Reaktionsschritt ist die Bildung des reaktiven Elektrophils. Dieser Schritt ist natürlich von der Natur des verwendeten Elektrophils abhängig; bei Halogenen wie Br 2 werden Salze wie FeBr3 [Eisen-(III)-bromid] verwendet: Br 2 + FeBr 3 - » [FeBr^] + Br + . Aus dem Salz und dem Halogen entsteht ein Komplexanion [Tetrabromoferrat-(III)] und ein positiv geladenenes Bromonium-lon, welches ein starker Elektrophil ist.

284

C. Spezielle organische Chemie

Br + greift Benzen an; zuerst bildet sich ein locker gebundenes Assoziat mit den polyzentrischen Molekülorbitalen, ein rc-Komplex. Dieser kann - ähnlich wie bei elektrophilen Additionsreaktionen bei Alkenen - in einen a-Komplex übergehen, in dem das Br-Atom kovalent an ein C-Atom des Ringes gebunden ist (Abb. 23.3.1):

Abb. 23.3.1

Die ersten zwei Schritte bei der elektrophilen Substitution an Aromaten

Der a-Komplex ist wesentlich energiereicher als Benzen, da das C-Atom, an dem nun neben dem ursprünglich gebundenen H-Atom auch ein Br-Atom gebunden ist, sp 3 -hybridisiert ist und die Delokalisierung der polyzentrischen Molekülorbitale unterbricht. In der Valenzstrichformel-Schreibweise können wir für den a-Komplex drei mesomere Grenzstrukturen formulieren (Abb. 23.3.2):

H Abb. 23.3.2

Mesomere Grenzstrukturen des

0-Komplexes

285

23. Aromatische Kohlenwasserstoffe

Der weitere Ablauf der Reaktion ist einfach: der a-Komplex stabilisiert sich dadurch, daß ein H + -Ion austritt, wodurch das aromatische rc-Elektronensystem wieder hergestellt wird (Abb. 23.3.3): H

Abb. 23.3.3

Br

Br

Stabilisierung des (J-Komplexes und Bildung des Produkts Brombenzen

Das H + -Ion bildet schließlich mit dem komplexen Ion den Katalysator wieder zurück: H+ + [FeBr^]

FeBr3 + HBr.

Insgesamt können wir die elektrophile Substitution von Benzen mit Brom also schreiben (Abb. 23.3.4): H

Abb. 23.3.4

Br

Summarische Reaktionsgleichung der Bromierung von Benzen

Genau nach demselben allgemeinen Schema verlaufen verschiedenste elektrophile Substitutionsreaktionen am aromatischen Ring. Unterschiede bestehen nur in der Art der Erzeugung der Elektrophile für den ersten Angriff am rc-Elektronen-Sextett des Benzens. Beispiele für solche Reaktionen sind (in den folgenden summarischen Reaktionsgleichungen ist der Katalysator zur Erzeugung von Elektrophilen jeweils oberhalb des Reaktionspfeiles angegeben; das eigentlich reaktive Elektrophil steht darunter):

286

C. Spezielle organische Chemie

Die Chlorierung läuft völlig analog der Bromierung ab; mit Hilfe des Katalysators Eisen-(III)-Chlorid bildet sich als reaktives Elektrophil ein Chloronium-Ion (Cl + ). Das Produkt heißt Chlorbenzen: C 6 H 6 + Cl2 F 5 3 C 6 H 5 - C1 + HCl ci+

Die Nitrierung wird mit Hilfe eines Gemisches aus konzentrierter Schwefelsäure und konzentrierter Salpetersäure (Nitriersäure) durchgeführt. Die Schwefelsäure katalysiert die Reaktion wegen ihrer stark hygroskopischen (wasserentziehenden Wirkung); das Elektrophil NOJ heißt Nitryl-lon (auch Nitronium-lon) und das Produkt ist Nitrobenzen: H,SO4

C 6 H 6 + HN0 3 -> C6H5-NO2 + H2O NO£

Setzt man ein halogeniertes Alkan ( R - C H 2 - X ; X = Cl,Br) mit dem Katalysator A I C I 3 und Benzen um, so wird durch eine analoge Komplexbildung wie oben über die Zwischenstufe eines Carbenium-Ions ein Alkylrest an den Benzenring gebunden: R -

C H

2

- X + AICI3 - > [AICI3X-] + R -

C H £

C 6 H 6 + R - CH£ -» C 6 H 5 - CH2 - R + H + . Diese Reaktion bezeichnen wir als Alkylierung des Benzens. In ganz analoger Weise können wir ein Carbonsäurechlorid R-CO -C1 anstelle des Halogenalkans verwenden und erhalten durch die Bildung eines Acylium-lons R - C + = O ein Benzenderivat, welches eine Acylgruppe an den Ring gebunden hat (Acylierung des Benzens): C6H6 + R - C O - C l

Aici, R-C+

C 6 H 5 - C O - R + HCl.

oII

Schließlich erwähnen wir noch die Sulfonierung des Benzens mit "rauchender Schwefelsäure" (ein Gemisch aus Schwefeltrioxid SO3 und konzentrierter Schwefelsäure), die zur Benzensulfonsäure führt, einem wichtigen Ausgangsmaterial für die Synthese von Sulfonamiden, die in der Therapie bakterieller Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen): C

6

H

6

+ S O

3

- »

C

6

H

5

- S O

3

H .

287

23. Aromatische Kohlenwasserstoffe

In dieser Reaktion stellt SO 3 selbst ein Elektrophil dar; es ist eine starke LewisSäure (Elektronenmangel Verbindung). Elektrophile Substitution an substituierten

Aromaten

Interessant ist das Verhalten von aromatischen Verbindungen, die bereits einen Substitutenten tragen, bei einer elektrophilen Zweitsubstitution. Der bereits im Molekül befindliche Substituent beeinflußt durch seine elektronenanziehenden oder -abstoßenden Eigenschaften nicht nur die Reaktivität der Verbindung gegenüber einer weiteren Se-Reaktion, sondern bestimmt häufig auch, an welcher Stelle des Ringes die Zweitsubstitution stattfindet (dirigierende Wirkung von Substituenten). Generell können wir feststellen, daß Substituenten, die elektronenreich sind und damit zur Erhöhung der Elektronendichte im aromatischen Ring beitragen, den Angriff des elektronenarmen Elektrophils und die SE-Reaktion erleichtern. Wir nennen sie Substituenten erster Ordnung im Gegensatz zu solchen zweiter Ordnung, die eine elektronenanziehende Wirkung haben und dadurch die Elektronendichte im aromatischen Ring verringern, wodurch die Reaktivität gegenüber SE-Reaktionen absinkt. Diese Effekte von Substituenten auf die Elektronendichte im Ring sind auf zwei Arten möglich: • Praktisch alle Substituenten üben aufgrund ihrer jeweiligen Elektronegativität einen induktiven Effekt (I-Effekt) aus. Elektronenanziehende Substituenten wie etwa Halogenatome ziehen dabei das bindende Elektronenpaar etwas weiter zu sich; sie erhalten eine negative Partialladung (symbolisiert durch 5 - ) und wir bezeichnen sie als Substituenten mit negativem induktiven Effekt (-1- Effekt). Elektronenreiche Substituenten (etwa auch Alkylgruppen) dagegen geben Elektronendichte an den Ring ab; sie nehmen eine positive Partialladung (5+) an und wir nennen sie Substituenten mit +1-Effekt. Induktive Effekte sind üblicherweise schwach, und bei zunehmender Entfernung des für den Effekt verantwortlichen Atoms fällt ihre Wirkung rasch gegen Null ab. • Nichtbindende p-Elektronen oder K-Elektronen (etwa von Doppelbindungen) von Substituenten treten mit den polyzentrischen Molekülorbitalen des aromatischen Ringes in Wechselwirkung und bilden räumlich noch weiter ausgedehnte polyzentrische Molekülorbitale. Diese Art der Wechselwirkung, der sogenannte mesomere Effekt (M-Effekt), ist bei geeigneten Substituenten, vor allem solchen mit konjugierten Doppelbindungen, auch über größere räumliche Entfernungen vom aromatischen Ring hinweg möglich. Wir nennen Substituenten, die auf diese Weise Elektronen aus dem Ring an sich ziehen, - M

288

C. Spezielle organische Chemie

-Substituenten, da sie in formalen mesomeren Grenzstrukturen eine negative Ladung erhalten; Substituenten , die in mesomeren Grenzstrukturen eine positive Ladung erhalten, sind +M-Substituenten. -M-Substituenten erniedrigen die Elektronendichte im Ring; sie erschweren die Zweitsubstitution. +M-Substituenten erhöhen die Elektronendichte im Ring; sie erleichtern die Zweitsubstitution. Ein Beispiel für einen +M-Substituenten ist die Hydroxylgruppe (HO-Gruppe): Obwohl das elektronegative O-Atom einen -I-Effekt ausübt, besteht - wie die Formulierung der möglichen Grenzstrukturen zeigt - ein starker +M-Effekt durch die einsamen Elektronenpaare am O-Atom (Abb. 23.3.5):

Abb. 23.3.5

+M-Effekt der Hydroxylgruppe. Die gebogenen Elektronenpaar-Verschiebungen an.

Pfeilchen deuten die

Beim Vorhandensein von +M- Substituenten werden also besonders die beiden ortho- und die para-Position negativiert (an diesen Positionen müssen in den Grenzstrukturen negative Ladungen geschrieben werden). Es überrascht daher nicht, daß solche Substituenten eine nachfolgende Zweitsubstitution besonders an diesen Ringpositionen erleichtern. +M -Substituenten wirken daher ortho- und para-dirigierend. Ein typischer -M-Substituent dagegen ist die Carbonylgruppe (C = O-Gruppe; sie tritt bei Aldehyden und Ketonen auf und wird noch ausführlich besprochen): Das elektronegative O-Atom übt hier nicht nur einen -I-Effekt aus, sondern zieht über die C = O- Doppelbindung zusätzlich wirksam Elektronendichte aus dem Ring ab (Abb. 23.3.6):

289

23. Aromatische Kohlenwasserstoffe

Abb. 23.3.6

-M-Effekt der

Carbonylgruppe

Bei -M-Substituenten werden offensichtlich die ortho- und die para-Positionen besonders stark positiviert; die reaktionshemmende Wirkung des Substituenten bezüglich einer Zweitsubstitution ist deshalb an diesen Ringpositionen besonders ausgeprägt, die meta-Position aber ist von der desaktivierenden Wirkung des Substituenten am schwächsten betroffen. - M -Substituenten wirken daher meta-dirigierend. Die Kenntnis der Wirkung der verschiedenen Substituenten ist für den synthetisch arbeitenden Chemiker sehr wichtig; für uns genügen einige summarische Angaben: Alkylgruppen sind +1-Substituenten (aktivieren für eine Sn-Reaktion; dirigieren nach der ortho- und para-Position). Sie üben keine M-Effekte aus. AmmoniumIonen (-NH3) sind reine -I-Substituenten (stark desaktivierend; meta- dirigierend). Sind O - oder N-Atome direkt über eine Einfachbindung an Aromaten gebunden (Phenole, Amine, Ether; aber auch Amide und Ester, die über das N - bzw. O-Atom an den Aromaten gebunden sind), wird der -I-Effekt der elektronegativen Atome durch den +M-Effekt aufgrund ihrer freien Elektronenpaare überkompensiert (aktivierend; o,p-dirigierend). Direkt gebundene Halogenatome haben einen besonders ausgeprägten -I-Effekt; trotz des +M-Effekts der freien Elektronenpaare wirken sie zwar o,p-dirigierend, aber schwach desaktivierend. Substituenten mit doppelt gebundenen O-Atomen in der Art der Abb. 23.3.6 (Aldehyde und Ketone; Carbonsäuren; Carbonsäurederivate, die über das Carboxyl-C-Atom an den Ring gebunden sind) ebenso wie heteroatomreiche Substituenten (Nitrogruppe, Sulfonsäuregruppe) haben - I - und -M-Effekt (stark desaktivierend; m-dirigierend). 23.4 Kondensierte aromatische Kohlenwasserstoffe Kondensierte Aromaten sind Verbindungen, bei welchen mehrere aromatische Ringe über eine oder mehrere Ringkanten zusammenhängen. Einige finden wir als Grundstrukturen von Naturstoffen; Abb. 23.4.1 zeigt einige Formeln.

290

C. Spezielle organische Chemie

Naphthalen

Phenanthren Abb. 23.4.1

Naphthacen

Anthracen

Pyren

Kondensierte

Benzpyren

Aromaten

Benzpyren kommt neben anderen kondensierten Aromaten im Tabakrauch und in Autoabgasen vor; die Substanzen wirken häufig stark krebserregend (karzinogen).

24 Halogenierte Kohlenwasserstoffe 24.1 Halogenalkane 24.1.1 Struktur und Benennung

Halogenalkane sind Substitutionsprodukte der Alkane, in welchen ein oder mehrere H-Atome durch kovalent an C-Atome gebundene Halogenatome ersetzt sind. Zur Benennung wird das übliche Schema der Numerierung der C-Kette angewandt. Abb. 24.1.1 zeigt einige Beispiele: C1 H.C—CH. F

Cl

F

1,2-Difluor-ethan

Abb. 24.1.1

Cl—C—H

Einige

Trichlor-methan (Chloroform) Halogenalkane

H,C—CH-CH-CH Br

2-Brom-butan

24. Halogenierte Kohlenwasserstoffe

291

Daneben gibt es noch eine weitere Bezeichnungsweise als Alkylhalogenid: Chlormethan etwa kann auch als Methylchlorid bezeichnet werden, 2-Brom-butan entsprechend als Butyl-2-bromid, usw. 24.1.2 Physikalische Eigenschaften

Halogenalkane sind trotz der polarisierten Bindung zwischen Halogenatom und C Atom weitgehend apolare Substanzen und als solche in polaren Lösungsmitteln wie Wasser unlöslich. Mit lipophilen Lösungsmitteln hingegen sind sie ausgezeichnet mischbar. Schmelz- und Siedepunkte steigen mit zunehmender Molekülmasse an. 24.1.3 Chemische Eigenschaften Die chemische Reaktivität der Halogenalkane ist dominiert durch die polare Bindung zwischen Halogenatom (negative Partialladung) und C-Atom (positive Partialladung). Durch Nucleophile (elektronenreiche Reagentien) lassen sich die Halogenatome von Halogenalkanen verdrängen; das Nucleophil ersetzt im entstehenden Produkt das ursprünglich gebundene Halogen. Die typische Reaktion von Halogenalkanen ist die nucleophile Substitutionsreaktion.

Wir kürzen ab: SN-Reaktion. Analysieren wir die Kinetik (Reaktionsgeschwindigkeit) von S N-Reaktionen, so beobachten wir zwei Typen: Sehr häufig hängt die Reaktionsgeschwindigkeit von den Konzentrationen beider Reaktionspartner, des Halogenalkans und des Nucleophils, ab: d[Produkt] _ ^ [Niideophil] • [Ha log enalkan] Dies ist eine Reaktion 2. Ordnung (siehe Kapitel 13); eine S N 2-Reaktion. Mechanistisch gesehen ist es eine Einschritt-Reaktion {konzertierte Reaktion): In einem Reaktionsschritt nähert sich das Nucleophil dem Halogenalkan, bildet eine Bindung zum C-Atom aus, und über einen Übergangszustand (siehe Kapitel 13), in welchem eine lockere Bindung zwischen Nucleophil, dem C-Atom und dem sich bereits

292

C. Spezielle organische Chemie

ablösenden Halogenatom besteht, wird das substituierte Produkt gebildet, und das Halogen (Fluchtgruppe, Nucleofug) verläßt das Molekül. Im Übergangszustand ist das C-Atom sp 2 -hybridisiert; das übrigbleibende p-Orbital vermittelt die Bindung zum Nucleophil und - auf der entgegengesetzten Seite - zum Halogenatom (Abb. 24.1.2).

Übergangszustand

Abb.24.1.2

Nucleophile Substitution zweiter Ordnung. (X:

Halogenatom)

Wegen des Angriffs des Nucleophils von der dem Halogen entgegengesetzten Seite und durch den Wechsel des Hybridisierungszustandes des C-Atoms "klappt" das Bindungsgerüst im Verlauf der Reaktion "um wie ein Regenschirm im Sturm" (Regenschirm-Mechanismus).

Welche Nucleophile kommen in Frage? Einige wichtige SiM-Reaktionen sind: • Die Bildung von Alkoholen mit Hydroxid-Ionen: R - X + OH" —> R — OH + X~ • Die Bildung von Thioalkoholen (Mercaptanen) mit Hydrogensulfid-Ionen: R - X + SH~

R — SH + X"

• Die Bildung von Nitrilen mit Cyanid-Ionen: R - X + CN" —>R-C = N + X~ • Die Bildung von Aminen (bzw. Ammonium-Ionen) mit Ammoniak: R - X + NH 3 —> R - NH3 + X~ • Die Bildung von Ethern mit Alkoholat-Ionen: R-X + Rj-O-—>R-0-Ri+X~

24. Halogenierte Kohlenwasserstoffe

293

Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten spielt die S N -Reaktion eine wichtige Rolle für synthetische Chemiker, um sehr gezielt neue Substanzen herstellen zu können. In einigen Fällen ergibt die kinetische Analyse von Substitutionsreaktionen, daß ein Geschwindigkeitsgesetz 1. Ordnung vorliegt: d[Produkt] = k • [Ha log enalkan]. — Die Reaktionsgeschwindigkeit hängt nur von der Konzentration des Substrates ab, nicht aber von der des Nucleophils. Diesen Reaktionsweg finden wir bei Halogenalkanen, bei welchen das Halogenatom an einem tertiären C-Atom gebunden ist. Der Mechanismus dieser tion verläuft über zwei Schritte: Im ersten Schritt wird ein Halogenid-Ion vom C Atom abgespalten: R3C-X->R3C++XDieser Reaktionschritt ist langsam (geschwindigkeitsbestimmend); das Nucleophil spielt keine Rolle. Es bildet sich eine Zwischenstufe, ein tertiäres (relativ stabiles) Carbenium-Ion. Dieses reagiert dann sehr schnell mit dem Nucleophil zum Produkt; diese zweite Reaktion spielt für die experimentell ermittelte Reaktionsgeschwindigkeit keine Rolle: R 3 C + + Nu - —> R3C - Nu Die SNl-Reaktion beobachten wir nur bei Halogenalkanen, die relativ stabile Carbenium-Ionen bilden können (tertiäre Halogenalkane und die unten besprochenen Benzylhalogenide). 24.2 Aromatische Halogenverbindungen In aromatischen Halogenverbindungen, bei welchen das Halogenatom direkt an den aromatischen Ring gebunden ist, beobachten wir keine nucleophilen Substitutonsreaktionen. Der Grund dafür ist der partielle Doppelbindungscharakter der Bindung zwischen Halogenatom und Ring-C-Atom, der durch den +M-Effekt des Halogenatoms zu erklären ist (Abb. 24.2.1):

294

C. Spezielle organische Chemie

©

©

©

H Abb. 24.2.1

Mesomerie bei

Brombenzen

Sehr gut nucleophil substituierbar sind hingegen Halogenatome, die sich an einem direkt an den Ring gebundenen C - A t o m befinden (Benzylhalogenide\ der Rest C6H5 - C H 2 - wird als Benzylrest bezeichnet). Mechanistisch verlaufen diese Reaktionen nach SNI: Im ersten Reaktionsschritt wird das Halogenatom als HalogenidIon abgespalten: C 6 H 5 — CH2 — X —^ X + C6H5 — C H j ; die intermediär auftretenden Carbenium-Ionen (Benzyl-Kationen) sind durch Mesomerie stark stabilisiert (Abb. 24.2.2).

H Abb. 24.2.2

Mesomeriestabilisierung

eines

Benzyl-Kations

Im zweiten Reaktionsschritt wird das Nucleophil addiert: C 6 H 5 - C H j + Nu"

C 6 H 5 - CH 2 - Nu.

25. Alkohole

295

25 Alkohole 25.1 Struktur und Benennung Alkohole leiten sich von Alkanen durch Substitution eines oder mehrerer nicht am selben C-Atom gebundenen H-Atome durch Hydroxyl-Gruppen (OH-Gruppen) ab. Alternativ können wir sie auch als Substitutionsprodukte des H20-Moleküles auffassen, in dem ein H-Atom durch einen Alkylrest ersetzt wurde. In der rationellen Nomenklatur verwendet man für Alkohole die Endung -ol. Bei komplizierteren Alkoholen ist die namensgebende Hauptkette die längste unverzweigte Kette von C-Atomen, die die Hydroxylgruppe trägt. Bei einfach gebauten Alkoholen verwendet man auch die Bezeichnungsweise als Alkylalkohol. So kann etwa der einfachste Alkohol, H3C-OH, alternativ als Methanol oder Methylalkohol bezeichnet werden. Bei Alkoholen sind zwei Einteilungsschemata in Gebrauch: • Einteilung nach der Stellung der OH-Gruppe: Je nach der Art des C-Atoms (primär, sekundär, tertiär), an dem die OH-Gruppe gebunden ist, teilen wir ein in primäre, sekundäre und tertiäre Alkohole. (Der einzig mögliche nulläre Alkohol ist Methanol.) • Einteilung nach der Zahl der OH-Gruppen: Je nach der Zahl der alkoholischen Gruppen unterscheiden wir einwertige und mehrwertige Alkohole, wobei sich bei letzteren die OH-Gruppen an verschiedenen C-Atomen befinden. 25.2 Physikalische Eigenschaften Die OH-Gruppe ist - wie auch im Wassermolekül - sehr stark polar, und so unterscheiden sich Alkohole von den entsprechenden Alkanen beträchtlich. Außerdem sind Alkohole über ihre OH-Gruppe(n) ausgezeichnet zur Wasserstoff- Brückenbindung befähigt. Daraus erklären sich die gegenüber den entsprechenden Alkanen wesentlich höheren Schmelz- und Siedepunkte der Alkohole. Insbesondere Alkohole mit kleinen Alkylresten sind gut bis unbeschränkt wasserlöslich und auch zur Auflösung polarer Substanzen befähigt. Bei Alkoholen mit größeren Alkylresten kommt die apolare Natur desselben stärker zum Tragen: Sie verhalten sich mit zunehmender Größe des Alkylanteils zunehmend ähnlicher wie die entsprechenden Alkane.

296

C. Spezielle organische Chemie

25.3 Chemische Eigenschaften Die Reaktivität der Alkohole wird durch die OH-Gruppe dominiert: Sie hat sowohl Säure- als auch Base-Eigenschaften; auch kann sie substituiert, eliminiert und oxidiert werden. 25.3.1 Säure- und Base-Reaktionen der Alkohole Wie H2O sind Alkohole amphotere Substanzen. Ihre Säurestärke ist etwas kleiner als die von H2O, da die Alkylgruppe einen schwachen +I-Effekt ausübt und daher die Abdissoziation des Protons erschwert. Ihre Basizität ist etwa gleich stark wie die von H2O. Daher bilden sich mit starken Säuren Alkyloxonium-lonen: R - OH + H+ —» R - OHJ. Mit sehr starken Basen oder (besser) mit Alkalimetallen in wasserfreiem Milieu bilden sich Alkoholat-Ionen (die mit Alkali-Kationen Salze bilden): 2R - OH + 2Na -» H 2 + 2Na+ + 2R - O". Wegen der höheren Acidität von H 2 0 werden solche Salze der Alkohole in Wasser unter Rückbildung des Alkohols zersetzt: R - O + Na + + H 2 0 - > R - OH + Na + + OH". 25.3.2 Nucleophile Substitutionen In stark saurem Milieu wird die OH-Gruppe nucleophil substituiert: Es bildet sich zuerst ein Alkyloxonium-Ion, welches eine ausgezeichnete Fluchtgruppe bilden kann, nämlich H2O: R - OH + HX —> R - OH2 + X - . Die konjugierte Base der Säure substituiert nun das positiv geladene Oxonium: R - OHJ + X - —» R - X + H2O. Die entstehenden Produkte nennen wir Ester. Solche sind beispielsweise

297

25. Alkohole

• Schwefelsäureester (Sulfate): R - O H + H2SO4 - > R - 0 - S 0 3 H + H 2 0 ; • Phosphorsäureester

(Phosphate):

R - OH + H3PO4 —> R - O - P O ( O H ) 2 + H 2 0 ; und • Halogenwasserstoffsäureester

(Halogenalkane):

r-oh+hci->r-ci+h2o. Die Gesamtreaktion Alkohol + Säure — •

Ester + Wasser

ist die Esterbildung-, bei mittelstarken und starken Säuren funktioniert sie nach dem eben beschriebenen Mechanismus einer nucleophilen Substitution der OH-Gruppe des Alkohols, bei schwachen Säuren wie Carbonsäuren (siehe Kapitel 29) verläuft der Mechanismus zwar anders (nucleophile Substitution der Carboxylgruppe der Säure durch den Alkohol), die Gesamtreaktionsgleichung ist aber dieselbe. Als Nebenreaktion ist hier auch die Etherbildung möglich; dabei substituiert ein Alkoholmolekül die Alkyloxonium-Gruppe eines protonierten Alkoholmoleküls (Abb. 25.3.1): Im ersten Schritt bildet sich das Alkyloxonium-Ion; dieses wird durch ein weiteres Alkoholmolekül substituiert, wobei ein Dialkyloxonium-Ion entsteht, welches sich schließlich durch Abspaltung eines Protons zum Ether stabilisiert. Dabei werden die H + -Ionen immer wieder regeneriert; die Säure wirkt also als Katalysator. R—OH

+ H©

© 2 R—OH

Alkyloxonium-Ion H

*

Abb. 25.3.1

Die säurekatalysierte

HO

Etherbildung

2

+ R—O© DiaLkyloxonium-Ion I oxoniuir R

aus Alkohol

298

C. Spezielle organische Chemie

25.3.3. Eliminierung von Wasser Alkohole können über die Zwischenstufe eines Carbenium-Ions Wasser abspalten. Auch diese Reaktion läßt sich durch Säure katalysieren, da die protonierte O H Gruppe (-OH2) eine extrem gute Fluchtgruppe ist: R - CH2 - CH2 - OH + H + —> R - CH2 - CH2 - OH2 R - CH 2 - CH 2 - OH2 -> H 2 0 + R - CH 2 - CH£ R - C H 2 - C H £ - > H + + R - C H = CH 2 . Die Summenreaktion lautet daher R - C H 2 - C H 2 - 0 H - > H 2 0 + R - C H = CH2. Als Endprodukt bilden sich Alkene. 25.3.4 Oxidation von Alkoholen Die Hydroxylgruppe primärer und sekundärer Alkohole kann zur Carbonylgruppe oxidiert werden. Dabei entstehen aus primären Alkoholen Aldehyde, aus sekundären Alkoholen Ketone (Abb. 25.3.2): H R—C—OH

*

R

C = 0 H

H primärer Alkohol

Aldehyd

H

R—C—R'

Abb. 25.3.2

*

R

C

OH

II O

sekundärer Alkohol

Keton

Die Oxidation von Alkoholen zu

Carbonylverbindungen

R'

299

26. Phenole und Olinone

Tertiäre Alkohole lassen sich nicht in dieser Weise (Erhalt des C-Bindungsgerüstes) oxidieren; wie alle organischen Verbindungen kann man sie mit starken Oxidationsmitteln unter Zerstörung des Bindungsgerüstes oxidieren). Eine Anwendung der Oxidation von Alkoholen wird zum Nachweis von Ethanol in der Atemluft benützt: 3CH 3 - CH 2 - OH + Cr 2 0?" + 8H+

2Cr 3+ + 3CH 3 - CH = O + 7H 2 0.

Das orangerote Dichromat-(VI)-Ion C ^ O ^ - wird zu grünem Chrom-(III)-Ion Cr3+ reduziert; die Farbänderung zeigt die Anwesenheit des Alkohols. 25.4 Einige Vertreter der Alkohole Der einfachste Alkohol ist Methanol C H 3 - O H ; ein billiges Lösungsmittel und Grundlage zur Herstellung von Kunststoffen. Methanol ist sehr giftig; sein Genuß führt zur Erblindung und zum Tod. Ethanol CH3 - CH 2 - OH ist der Trinkalkohol. Ethanol wird durch Vergärung von Monosacchariden wie Glucose unter der Einwirkung von Enzymen der Hefe hergestellt. Die Bruttogleichung für die Reaktion, bei der auch Kohlendioxid ensteht, ist C 6 H i 2 0 6 - > 2 C H 3 - C H 2 - 0 H + 2C0 2 . Der einfachste zweiwertige Alkohol ist Ethan-l,2-diol (Trivialname Glycol). Glycol wird als Frostschutzmittel verwendet und schmeckt süß. Der einfachste dreiwertige Alkohol ist Propan-l,2,3-triol (Glycerin). Es ist eine wichtige Komponente vieler Lipide (Fette, Öle, Phosphoglyceride). Außerdem stellt es in der Zubereitung von nicht austrocknenden Salben und Kosmetika eine wichtige Komponente dar (Glycerin ist schwach hygroskopisch = wasseranziehend).

26 Phenole und Chinone 26.1 Phenole Phenole sind die aromatischen Gegenstücke zu den Alkoholen; sie tragen eine Hydroxylgruppe direkt am aromatischen Ring. Ebenso wie bei aliphatischen (= nicht aromatischen) Alkoholen unterscheiden wir je nach der Zahl der Hydroxylgruppen zwischen ein- und mehrwertigen Phenolen.

300

C. Spezielle organische Chemie

Abb. 26.1.1 zeigt einige wichtige Vertreter. OH

Phenol OH

OH OH

OH HQ

Brenzcatechin

Hydrochinon

OH HO

OH

OH

OH OH

Pyrogallol vicinal

Hydroxyhydrochinon

Phloroglucin symmetrisch

asymmetrisch

Abb. 26.1.1

Wichtige Phenole

Phenole sind formal eigentlich als tertiäre Alkohole zu betrachten; ihre Hydroxylgruppen sind an C-Atome gebunden, die keine weiteren H-Atome tragen. Ihre Reaktionsweise weicht jedoch in mancher Hinsicht aufgrund des Einflusses des aromatischen Elektronensextetts etwas von dem der aliphatischen Alkohole ab. Insbesondere ist die Säurestärke von Phenolen (pKs = 10) erheblich größer als die der Alkohole (pKs = 17). Der Grund für diese erhöhte Acidität ist eine Mesomeriestabilisierung des Phenolat-Ions, welches durch Abspaltung eines H + -Ions aus Phenolen entsteht (Abb. 26.1.2):

301

26. Phenole und Chinone

Abb. 26.1.2

Mesomeriestabilisierung

des Phenolat-Ions

Phenolat-Ionen sind entsprechendder Regel für konjugierte Säure-Basen- Paare pKs(HA) + pKß(A-) = 14 deutlich schwächer basisch (pKß ~ 4) als Alkoholat-Ionen (pKß ~ -3) und daher in wässrigen Lösungen beständig. Phenole, auch an sich schlecht wasserlösliche Vertreter, lösen sich gut in stark basischen wässrigen Lösungen, da sie in die entsprechenden Phenolat-Ionen überführt werden. Verstärkt wird die Acidität durch elektronenanziehende Gruppen, insbesondere - M - Substitutenten wie die Nitrogruppe -NO2, am Benzenring. So ist etwa 2,4,6-Trinitrophenol (Pikrinsäure) eine starke Säure. Phenol selbst ist ein starkes Zellgift. Mit Wasser ist es beschränkt mischbar. Eine Mischung von 100g Phenol und 29g Wasser wurde 1867 von Lister als bakterizides Desinfektionsmittel ("Carbolsäure") eingeführt. Die vom Methylbenzen (Toluen) abgeleiteten Phenole werden auch als Kresole bezeichnet (o-Hydroxy-toluen = o-Kresol, usw.). Lösungen dieser ebenfalls giftigen Verbindungen in Ölseife sind unter dem Namen "Lysol" auch heute als Desinfektionsmittel in Gebrauch. Phenole, insbesondere o- und p-Dihydroxybenzen (Brenzcatechin und Hydrochinon) werden von Luftsauerstoff leicht oxidiert; die genannten zweiwertigen Phenole liefern dabei die im nächsten Kapitel besprochenen Chinone. Vom Brenzcatechin leiten sich einige physiologisch höchst bedeutsame Derivate ab, die sogenannten Catecholamine. Sie entstehen durch enzymatische Reaktionen,

302

C. Spezielle organische Chemie

die von Phenylalanin ausgehen, einer essentiellen Aminosäure, die zusätzlich eine Phenylgruppe enthält (Abb. 26.1.3).

DOPA= 3,4-Dihydroxyphenylalanin

Phenylalanin

NH

NH H-

-H

HC-OH

N H-

3 -H

HC-OH

OH OH Noradrenalin Abb. 26.1.3

Vereinfachtes Schema der Biosynthese der Catecholamine

Die dabei entstehenden Produkte haben außerordentlich wichtige Aufgaben; so stellen DOPA (3,4-Dihydroxy-phenylalanin) und Dopamin Neurotransmitter (das sind Vermittler der Übertragung von Nervenreizen) dar; Noradrenalin und Adrenalin sind als wichtige Hormone in die Regulation vieler Körperfunktionen involviert; insbesondere Adrenalin ist ein "Notfall"-Hormon, welches in bestimmten kritischen Situationen durch Glycogen- und Fett-Abbau Energiereserven mobilisiert und damit den Organismus in die Lage versetzt, einer Gefahr oder Bedrohung wirksam entgegentreten zu können.

303

26. Phenole und Chinone

26.2 Chinone Die Oxidation von o- oder p-Dihydroxyphenol (Brenzcatechin bzw. Hydrochinon) führt zur Bildung von o- bzw. p-Chinon (Abb. 26.2.1): OH

O

+ 2 H"1" + 2 e~

+ 2 H+ + 2 e

OH Abb. 26.2.1

u

Oxidation von o- und p-Dihydroxyphenol

zu o- und p-Chinon

Diese enthalten das chinoide Elektronensystem (in Abb. 26.2.1 durch Fettdruck hervorgehoben): Zwei Carbonylgruppen (> C = O) stehen über ein cyclisches System von alternierenden Einfach- und Doppelbindungen miteinander in Konjugation. Chinone sind gegen Weiteroxidation ziemlich stabil; sie können aber in Umkehrung der gezeigten Reaktion zu den entsprechenden zweiwertigen Phenolen reduziert werden. In der Biochemie fungieren verschiedene Diphenol-Chinon- Redoxpaare als wichtige Katalysatoren von Elektronenübergängen. Zwei solche biologisch wichtigen Chinone zeigt Abb. 26.2.2: Ubichinon (Coenzym Q) ist ein Bestandteil der Atmungskette (der Kaskade von Reaktionen, die die Oxidation von Nährstoffen zur Energiegewinnung bewirken; siehe Kapitel 10.7); seine Seitenkette aus 10 Isopren-Einheiten {Isopren = 2-Methylbuta-l,3-dien) verleiht dem Molekül Fettlöslichkeit. Vitamin K stellt eigentlich eine Gruppe von Naphthochinonen (von Naphthalen abgeleitete Chinone) dar, die unterschiedliche Seitenketten aufweisen (in der Abbildung durch R symbolisiert).

304

C. Spezielle organische Chemie

27 Ether 27.1 Struktur und Benennung Wir können formal Alkohole als Derivate des Wassers betrachten, in welchen ein H-Atom durch einen organischen Rest ersetzt ist. In dieser Betrachtungsweise sind Ether Derivate des Wassers, in welchen beide H-Atome durch organische Reste substituiert sind (Abb. 27.1.1). Ether weisen also als charakteristisches Merkmal eine C - O - C-Gruppierung auf.

o

/

H

\

Wasser Abb. 27.1.1

/

o

H

\

Alkohol

o

/

Et

R

her

Formale Darstellung von Alkoholen und Ethern als Derivate von Wasser

305

27. Ether

Wir benennen Ether, indem wir der Endung -ether die Namen der beiden organischen Reste voranstellen. Sind die beiden Reste gleichartig (R = R ; ), so sprechen wir von symmetrischen, andernfalls von unsymmetrischen Ethern. Beispiele sind: Dimethylether:

H3C-O-CH3

Diethylether:

C2H5 - O - C2H5

Ethylpropylether:

C 2 H 5 - O - C3H7

Die Gruppierung R - O - wird auch als Alkoxy-Gruppe bezeichnet. Neben den offenkettigen Ethern gibt es cyclische Ether; einige Vertreter, die als Grundstrukturen in biologisch wichtigen Naturstoffen vorkommen, finden sich in Abb. 27.1.2: /O

o

HC 2 | H

2

CH I 2 c

\

CH2

CH

2

HC 2 | HC. 2

Tetrahydropyran Abb. 27.1.2

Einige cyclische

CH | 2 CH X) Dioxan

/O HC 2

CH

\ / H 2 C—CH 2

2

Tetrahydrofuran

Ether

27.2 Physikalische Eigenschaften Ether sind relativ apolare Substanzen; so können sie - da sie am O-Atom kein H Atom tragen - keine Wasserstoff-Brückenbindungen ausbilden. Sie sieden daher bei viel niedrigeren Temperaturen als Alkohole ähnlicher Molekülmasse. Ether sind wegen ihrer apolaren Natur gute Lösungsmittel für unpolare Substanzen; so kann man zum Beispiel Fette und fettähnliche Substanzen (Lipide) gut mit Ethern aus Geweben extrahieren. 27.3 Chemische Eigenschaften Ether sind relativ reaktionsträge Substanzen; sie sind jedoch wegen ihrer hohen Flüchtigkeit leicht entflammbar. Außerdem können sie beim Stehen an der Luft explosive Peroxide bilden; beim Umgang mit Ethern ist daher Vorsicht geboten. Diethylether wurde früher in der Medizin als Narkosemittel verwendet.

306

C. Spezielle organische Chemie

28 Carbonylverbindungen (Aldehyde und Ketone) 28.1 Struktur und Nomenklatur Aldehyde und Ketone enthalten die Carbonylgruppe > C = O als charakteristische funktionelle Gruppe. Die Doppelbindung zwischen O - und C-Atom besteht aus einerCT-und einer rc-Bindung. Die beiden weiteren am Carbonyl- C-Atom gebundenen Atome dürfen nur C - und H-Atome sein. Diese Voraussetzung ist wichtig; die in Abb. 28.1.1 gezeigten durchgestrichenen Strukturen sind keine Carbonylverbindungen, da sie diese Regel verletzen. O

O

c R Aldehyd

Carbonsäure Abb. 28.1.1

/ N

R-

Keton

Carbonsäureester

Carbonylverbindungen (obere Zeile) und Carboxylverbindungen, die nicht mit Carbonylverbindungen verwechselt werden dürfen (untere Zeile)

Aldehyde entstehen durch Oxidation aus primären Alkoholen, Ketone aus sekundären (siehe Kapitel 25.3.4). Der Name Aldehyd stammt daher: Aldehyd = a/cohol de/ryi/rogenatus. Aldehyde unterscheiden sich von Ketonen dadurch, daß sie an der Carbonylgruppe (mindestens) ein H-Atom besitzen, Ketone aber zwei C-Atome. Die rationelle Bennenung der Aldehyde und Ketone ist einfach: An den Namen der Stammverbindung (längste Kette von C-Atomen, die die Carbonylgruppe mitenthält), werden die Endungen -al (Aldehyd) oder -on (Keton) angefügt.

307

28 Carbonylverbindungen (Aldehyde und Ketone)

Müssen wir (bei Verbindungen mit mehreren funktionellen Gruppen) das doppelt gebundene O-Atom als Substituent bezeichnen, so wählen wir die Vorsilbe -oxo-. Neben den rationellen Namen sind Trivialnamen in Verwendung. Da insbesondere in den Lehrbüchern der Biochemie immer noch hauptsächlich diese letzteren verwendet werden, müssen wir uns mit ihnen befassen. Bei Aldehyden beruhen die Trivialnamen auf der Tatsache, daß Aldehyde zu Carbonsäuren (siehe Kapitel 28) oxidierbar sind: An den Wortstamm des lateinischen Trivialnamens der entsprechenden Carbonsäure wird der Namen -aldehyd angehängt. Bei Ketonen nennt man die Namen der Alkylreste, die an die Carbonylgruppe gebunden sind, und fügt die Bezeichnung Keton hinzu. Tabelle 28.1 erläutert dies an einigen Beispielen: Tab. 28.1

Formel

H - CH = 0

Rationelle und Trivialnamen einfacher

Aldehyd rationeller Name {Trivialname} Methanal {Formaldehyd}

CH3-CH = 0

Ethanal {Acetaldehyd}

C2H5-CH = O

Propanal {Propionaldehyd}

C3H7-CH = O

Butana/ {Butyraldehyd}

CH3-CO-CH3

Carbonylverbindungen

Carbonsäure rationeller Name [deutscher Trivialname] {lateinischer Trivialname} Methansäure [Ameisensäure] {acidum formicum} Ethansäure [Essigsäure] {acidum aceticum} Propansäure [Propionsäure] {acidum propionicum} Butansäure [Buttersäure] {acidum butyricum}

Propanon {Aceton}

C2H5-CO-CH3

Butanon {Ethylmethylketon}

Abb. 28.1.1 zeigt die Strukturen und Namen einiger wichtiger aromatischer Carbonylverbindungen.

308

C. Spezielle organische Chemie

-C

H

Phenylmethansäure [Benzoesäure] {acidum benzoicum)

Phenylmethanal {Benzaldehyd}

O

2-Hydroxyphenylmethansäure [Salicylsäure] {acidum salicylicum(

2-Hydroxyphenylmethanal

C

C

H

{Salicylaldehyd}

CH

Phenylethanon {Phenylmethylketon Acetophenon}

Diphenylmethanon {Diphenylketon Benzophenon)

Abb. 28.1.1

Formeln und Bezeichnungen einiger aromatischer Carbonylverbindungen (die Namensbeziehungen zwischen Aldehyden und den entsprechenden Carbonsäuren sind wie in Tabelle 28.1 gut erkennbar.

28.2 Physikalische Eigenschaften 8+

8-

Da die Carbonylgruppe entsprechend der Formel >C=0 stark polarisiert ist, besitzen Carbonylverbindungen beträchtliche zwischenmolekulare Wechselwirkungen (Dipol-Dipol-Kräfte) und schmelzen und sieden daher bei höheren Temperaturen als die entsprechenden Alkane, aber - da keine Wasserstoff-Brückenbindungen möglich sind - tiefer als die entsprechenden Alkohole. Aldehyde und Ketone mit nicht mehr als bis zu etwa 5 C-Atomen sind gut bis vollständig wasserlöslich, da sie über das negativ polarisierte O-Atom mit H2O-

28 Carbonylverbindungen (Aldehyde und Ketone)

309

Molekülen Wasserstoff-Brückenbindungen ausbilden können und darüber hinaus auch chemisch mit H2O unter "Hydrat"-Bildung reagieren (siehe unten). 28.3 Chemische Eigenschaften

28.3.1 Redoxreaktionen In Umkehrung ihrer Bildung aus Alkoholen können Aldehyde und Ketone durch starke Reduktionsmittel in primäre und sekundäre Alkohole umgewandelt werden. Gegenüber Oxidationsmitteln verhalten sich Aldehyde anders als Ketone: Während die letzteren praktisch nicht oxidiert werden können, ohne daß das Molekülgerüst zerstört wird (etwa durch Verbrennen), lassen sich Aldehyde mit relativ milden Oxidationsmitteln zu Carbonsäuren weiter oxidieren: R - C H = 0 + H 2 0 - > R - C 0 0 H + 2H+ + 2e-. Auf der Oxidation von Aldehyden beruhen wichtige Nachweisreaktionen für Aldehyde. Als Oxidationsmittel kommen zum Beispiel komplex gebundene Kationen edler Metalle in Frage, die durch die Aldehydgruppe zu weniger stark positiv geladenen Kationen oder zur elementaren Stufe reduziert werden. Ein bekanntes Beispiel ist die Bildung eines Niederschlages von metallischem Silber aus einer farblosen Lösung von Diamminsilber-(I)-Ion durch Aldehydzusatz: [Ag(NH3)2]+ + e"

Ag i +2NH 3 .

Die Elektronen für die Reduktion stammen vom Aldehyd. Diese Reaktion ist als Tollens'sehe Reaktion bekannt. 28.3.2 Additionsreaktionen Die ausgeprägte Polarisierung der Carbonylgruppe erleichtert Additionsreaktionen. Dabei greift im ersten Reaktionsschritt ein Nucleophil am positiv polarisierten C Atom der Carbonylgruppe an. Deshalb gilt: Die typische Reaktion von Carbonylverbindungen ist die nucleophile Additionsreaktion.

310

C. Spezielle organische Chemie

Wir kürzen ab: AN-Reaktion. Der Mechanismus der AN-Reaktion ist am besten zu verstehen, wenn wir das Konzept mesomerer Grenzstrukturen anwenden (Abb. 28.3.1):

\ © — . | 0 ,c—o

Nu \ © —, c—o I©

+

,0 |Nu

Abb. 28.3.1

Der Mechanismus

-C—o|0

fjiu

Nu -C—O l o



+

Y

©

der nucleophilen

-C—O

Addition an

Y

Carbonylgruppen

Die erste Zeile zeigt die Mesomeriemöglichkeit der Carbonylgruppe. Die rechts stehende Grenzstruktur untermauert die Polarisierung: Das O-Atom ist partiell negativ geladen, das C-Atom dagegen positiv. Der Angriff des elektronenreichen Nucleophils (symbolisiert durch Nu") geschieht daher am C-Atom. Schließlich addiert das negativ geladene O-Atom eine positiv geladene Gruppe (Y + ); die Addition ist abgeschlossen, die Doppelbindung ist in zwei Einfachbindungen umgewandelt und der Hybridisierungszustand des C-Atoms der Carbonylgruppe ist entsprechend sp 2 —» sp 3 verändert. Die Reaktion wird zusätzlich erleichtert, wenn sie in saurer Lösung geschieht (saure Katalyse): Dann wird vor der A N -Reaktion ein H + -Ion am O-Atom addiert (dieses fungiert also als Base), und dadurch wird die positive Ladung am C-Atom noch verstärkt, was den nachfolgenden nucleophilen Angriff erleichtert (Abb. 28.3.2):

311

28 Carbonylverbindungen (Aldehyde und Ketone)

\ c=o_ —

\ © —I > — o l O Abb. 28.3.2

\ ^©c ——o ,j ©

«—•

+

H

©

\ C ©—-O — H

Säurekatalyse zur Verstärkung der Positivierung

der

Carbonylgruppe

Das so entstehende Carbenium-Ion reagiert mit dem Nucleophil, beispielsweise mit Alkohol (Abb. 28.3.3):

R CHHH

H

y*

R

©

H

H Abb. 28.3.3

Nucleophile Addition eines Alkohols an eine protonierte

Carbonylgruppe

Das O-Atom des Alkohols greift mit einem freien Elektronenpaar am Carbonyl-CAtom an, und die entstehende Zwischenstufe mit einer positiven Ladung am Sauerstoff ("Oxonium-Ion") stabilisiert sich durch Abspaltung eines Protons, wodurch der Katalysator wieder frei wird. Das entstehende Produkt, welches an einem C Atom sowohl eine Hydroxylgruppe als auch eine Alkoxygruppe trägt, nennen wir ein Halbacetal (im Falle eines Aldehyds) bzw. Halbketal (wenn wir von einem Keton ausgehen).

312

C. Spezielle organische Chemie

Wir halten fest: Aldehyd + Alkohol Keton + Alkohol

• •

Halbacetal Halbketal

In diesen Produkten kann, wenn ein Alkoholüberschuß vorhanden ist, nachfolgend eine nucleophile Substitution der OH-Gruppe durch ein weiteres Alkoholmolekül erfolgen. Dabei bilden sich Acetale bzw. Ketale, die zwei Alkoxygruppen an einem C-Atom tragen (diese können gleich oder verschieden sein). Abb. 28.3.4 zeigt schematisch diese Weiterreaktion:

V /V

R

x > x

sp3 verändert. Die entstehende Zwischenstufe mit tetraedrischer Geometrie ist aber nicht stabil, sondern wandelt sich unter Abspaltung der besten Fluchtgruppe wieder in ein sp2-hybridisiertes Carbonsäurederivat um. Aufgrund des mechanistischen Ablaufs der nucleophilen Reaktion am Carbonylkohlenstoff nennen wir die Reaktion abgekürzt SN2t-Reaktion (das t steht für die tetraedrische Zwischenstufe). Eine zweite Betrachtungsweise geht davon aus, daß im ersten Schritt das Nucleophil addiert wird, im zweiten Schritt die Fluchtgruppe eliminiert wird: Wir sprechen daher auch von einem Additions-Eliminations-Mechanismus. Wir fassen zusammen:

Die typische Reaktion von Carbonsäuren und ihren Derivaten ist die nucleophile Substitutionsreaktion.

Wir kürzen ab: S^t-Reaktion. Zwischen den verschiedenen Carbonsäurederivaten bestehen große Unterschiede in ihrer Reaktivität. Die reaktivsten Verbindungen sind die Carbonsäurechloride, kurz Säurechloride, die die exzellente Fluchtgruppe Chlorid Cl" abgeben. Beispielsweise führt die Reaktion eines Säurechlorids mit einem Alkohol in ausgezeichneter Ausbeute zur Bildung eines Esters: R—C—Cl + HO—R, II o

• R—C—O—R, + HCl II o

Säurechloride sind daher besonders reaktive Acylierungsmittel1, sie dienen zur Einführung des Acylrestes R - CO-in andere Verbindungen. Ebenfalls starke Acylierungsmittel sind Carbonsäureanhydride (Säureanhydride). Wir können uns ihre Bildung vorstellen, indem zwei Carbonsäuremoleküle miteinander unter Wasseraustritt reagieren: R—C—OH+ HO—C—R, II II O o



R—C—O—C—R, II II O o

+ HO 2

Ist R = Ri, so sprechen wir von symmetrischen, sonst von unsymmetrischen Säureanhydriden.

324

C. Spezielle organische Chemie

Carbonsäureester sind milde Acylierungsmittel. Sie können gebildet werden aus Säurechloriden und Alkohol, aus Säureanhydriden und Alkohol, aber auch direkt aus Carbonsäuren und Alkoholen. Die letztere Reaktion, die direkte Veresterung von Alkoholen mit Carbonsäuren, verläuft - wie gezeigt - nach einem SN2t-Mechanismus und damit anders als die Veresterung der Alkohole mit Mineralsäuren (siehe Kapitel 25.3.2). Bei Carbonsäuren ist das Carboxyl-C-Atom Zentrum des nucleophilen Angriffs durch das Alkohol-Molekül. Die Angreifbarkeit des Carbonylkohlenstoffs wird durch eine vorhergehende Protonierung stark erhöht, weshalb die Reaktion durch starke Säuren katalysiert wird (Abb. 29.3.4):

© 9

© X>-H r—c;

© ,0-H R—C^ OH

R—C'^O-H

R - C * • H® \ OH

\

OH H I 0 1 R—C I

R—O—H

OH

IT © H I 0 1 R—C I H

©

OH R

i

H I R - C - O- ©A 0 W H 1 R, V

C °l

^ R—C © I 0 1

O H

+

R—C O

R,

Abb. 29.3.4

Mechanismus

der säurekatalysierten

Esterbildung

R,

29. Carbonsäuren

325

Durch Protonierung bildet sich aus der Carbonsäure ein mesomeriestabilisiertes Kation, das im zweiten Schritt durch den Alkohol angegriffen wird. Im nächsten Schritt wird durch eine intramolekulare Säure-Base-Reaktion ein Proton auf die OH-Gruppe übertragen, wodurch sich die ausgezeichnete Fluchtgruppe H2O bilden kann, nach deren Eliminierung und nachfolgender Freisetzung eines Protons der Ester resultiert. Wie in der Abbildung gezeigt, ist die Esterbildung eine Gleichgewichtsreaktion und reversibel: Der Ester kann durch Wasser wiederum in Alkohol und Carbonsäure hydrolysiert werden. Effizienter als die säurekatalysierte Esterhydrolyse ist jedoch die alkalische Hydrolyse, die nach dem in Abb. 2 9 . 3 . 3 erläuterten SN2t-Mechanismus verläuft (Abb. 29.3.5):

t

"ft1 II C

R

O—R[ + OH

lolO

0 ±

-OH

R-

O—R, 1010 c R

CL

lo|

-OH

±

R

C—OH

o „

+ o—R,

O—R,

lO| R-

lo|

-C—OH

Abb. 29.3.5

GL + O—R,

Die basenkatalysierte

R

,1

C—O

0

+ HO-R,

Verseifungsreaktion

Durch die S^t-Reaktion bilden sich eine Carbonsäure (eine schwache Säure) und ein Alkoholat-Ion (eine extrem starke Base), und diese beiden Produkte reagieren anschließend in einer praktisch vollständig verlaufenden Reaktion zum Alkohol und zum Carboxylat-Ion, der konjugierten Base der Carbonsäure. Die alkalisch katalysierte Hydrolyse von Estern wird aus historischen Gründen als Versetfung bezeichnet: Gewöhnliche Fette sind Ester langkettiger Carbonsäuren, sogenannter Fettsäuren (Beispiel: Stearinsäure), mit einem dreiwertigen Alkohol, dem Glycerin (1,2,3,-Propantriol). Durch Kochen von Fetten mit verdünnter Natronlauge (NaOH) oder Kalilauge (KOH) wurde früher Seife gewonnen, das sind

326

C. Spezielle organische Chemie

die Natrium- oder Kaliumsalze der Fettsäuren. Abb. 29.3.6 schildert schematisch diese Reaktion:

O H

C — O — C 2

o

HC

O

HC

O

II CO II C-

- c h - 4 c h 2 | 3

CH-—1-CH 2 I 3 m

+ 3 NaOH

CH-—1-CH 2

3

O

Fett (Triacylglycerin)

O © 0 II Na O-C-

H C - O H 2

HC-OH

+

CH—fCH

O ©O II Na O-C-

CH^CH3 —'m

o H C - O H 2

Na

Glycerin

O-C-

CH—1-CH3 U o Natriumsalze der Fettsäuren L

Abb. 29.3.6 Die Bildung von Seifen aus Neutralfetten durch alkalische Hydrolyse

Die am wenigsten reaktiven Carbonsäurederivate sind die Säureamide; sie sind praktisch nicht mehr acylierend. Während etwa Carbonsäureester mit Ammoniak oder Aminen zu Säureamiden reagieren, lassen sich Säureamide nicht mehr weiter mit anderen Aminen umsetzen: R—C—O II O

R, +

NH3



R—C—NH2 II O

+ HO—R,

327

29. Carbonsäuren

R—C—NH 2 II O

+

HN

R,



keine Reaktion

Die Säureamidstruktur wird uns bei der Besprechung der Peptide und Proteine wieder begegnen; dort nennen wir sie Peptidbindung. Carbonsäureamide lassen sich durch zwei mesomere Grenzstrukturen beschreiben (Abb. 2 9 . 3 . 7 ) . Wir sprechen von Amidresonanz.

R-

£

N

0 -> R

N

H

/ H

Abb. 29.3.7

C

H



H

Amidresonanz: Die mesomeren Grenzstrukturen eines Carbonsäureamids

Offensichtlich besitzt die C-N-Bindung einen gewissen Doppelbindungscharakter. Dies hat zwei Konsequenzen: Im Gegensatz zu Aminen (R - NH2; siehe Kapitel 30) sind Amide nicht basisch, da das formal freie Elektronenpaar am Stickstoff für die partielle Doppelbindung benötigt wird und für die Anlagerung eines Protons nicht zur Verfügung steht. Zum anderen besteht um die C - N-Bindung keine freie Drehbarkeif, dies hat Auswirkungen auf die Ausbildung relativ starrer und stabiler Sekundärstrukturen in Polypeptiden und Proteinen. 29.3.3 Acidität des Wasserstoffs am

a-C-Atom

Wie bei Carbonylverbindungen ist auch bei Carbonsäuren und ihren Derivaten durch die stark elektronenanziehende Wirkung der Carboxylgruppe (-1- und - M Effekt) die C - H-Bindung am a-C-Atom geschwächt, und durch eine starke Base kann der Wasserstoff als Proton abgespalten werden. Ähnlich wie bei der Aldolkondensation (siehe Kapitel 28) können zwei Carbonsäureester-Moleküle zu einem größeren Molekül kondensiert werden, indem ein Molekül in Form der konjugierten Base am zweiten Molekül gemäß einer SN2t-Reaktion nucleophil substituiert (Abb. 2 9 . 3 . 8 ) . Als sogenannte Claissen-Esterkondensation besitzt diese Reaktion großes Interesse beim präparativen Aufbau größerer Kohlenstoffketten; aber auch die Zelle

328

C. Spezielle organische Chemie

macht sich dieses Prinzip bei der Biosynthese von Fettsäuren (langkettigen Carbonsäuren) zunutze.

1

H—C C O—CH—CH I II H |O|

j

-„© © * (?) +H±J

H—C—C—O-CH-CH 1 ,", H l°l

Essigsäure-ethylester H ! H—C

I

H

C

konjugierte Base

O—C,H5 +

lk

H—C—C—0-C,H,

I

IOI \

^

II

H

fO I

H7'

CH3 N,N-Dimethyl-propylamin (tertiär)

CH HC 3

©I

3

N

CH

I

CH3 Tetramethyl-ammonium-Ion (quartär)

Abb. 30.1.1

Struktur und Nomenklatur von Aminen

(Wir beachten: Bei Alkoholen bezieht sich die Bezeichnung primär-sekundär-tertiär auf die Natur des C-Atoms, an dem die OH-Gruppe gebunden ist.) Wird die Aminogruppe als Substituent bezeichnet,(weil eine weitere funktionelle Gruppe höherer Priorität anwesend ist), so heißt sie Amino- (primär), N-

336

C. Spezielle organische Chemie

Alkylamino- (sekundär) oder N,N-Dialkylamino- (tertiär). Ein Beispiel dafür zeigt Abb. 30.1.2:

4-N-Methyl-N-propylamino-benzencarbonsäure (p-N-Methyl-N-propylamino-benzoesäure)

Abb. 30.1.2

Benennung der Aminogruppe als Substituent einer

Carbonsäure

Das einfachste aromatische Amin (C6H5-NH2; Phenylamin; Aminobenzen) trägt auch den Trivialnamen Anilin. 30.2 Physikalische Eigenschaften Amine mit kleiner Molekülmasse sind wasserlöslich, da sie aufgrund ihrer N - H -Bindungen Wasserstoff-Brückenbindungen ausbilden können. Amine sind meist ölartige Flüssigkeiten mit einem charakteristischen "fischartigen" Geruch. 30.3 Chemische Eigenschaften

30.3.1 Basizität der Amine

Aliphatische Amine zeigen eine ähnliche Basenstärke (pKß = 3 - 5 ) wie Ammoniak (pKB =4.75). Je mehr Alkylgruppen am N-Atom gebunden sind, desto basischer sind sie (desto kleinere pKs-Werte besitzen sie). Dies ist eine Folge des +1-Effekts der Alkylgruppen: Durch ihre elektronenspendende Wirkung wird die Elektronendichte am N-Atom erhöht, wodurch die Anlagerung eines Protons begünstigt wird.

337

30. Amine

Wenn Amine mit Säuren reagieren, entstehen positiv geladene Kationen, die ebenfalls Ammonium-Ionen genannt werden. Ein Beispiel ist die Reaktion von Methylamin mit Salzsäure, die Methylammonium-Ionen (und Chlorid-Ionen) liefert: H 3 C - NH2 + HCl

H 3 C - NH3 + Cl".

Aromatische Amine zeigen ein abweichendes Verhalten: Sie sind wesentlich schwächer basisch. So besitzt etwa Phenylamin (Anilin) ein pKß = 10. Der Grund für diese Eigenart ist - genauso wie für die überraschend hohe Acidität von Phenolen gegenüber aliphatischen Alkoholen (siehe Kapitel 26) - die Einbeziehung des freien Elektronenpaars am Stickstoff in das aromatische Elektronensystem. Die mesomeren Grenzstrukturen in Abb. 30.3.1 verdeutlichen diesen Sachverhalt:

H Abb. 30.3.1

Mesomere Grenzstrukturen des Phenylamins

Durch diese Teilnahme des freien Elektronenpaars am N-Atom an der aromatischen Mesomerie steht es nicht mehr uneingeschränkt für die Anlagerung eines Protons zur Verfügung; daher ist die Basenstärke geringer (positive formale Ladung am N-Atom in drei der vier möglichen Grenzstrukturen). 30.3.2 Reaktionen von Aminen mit salpetriger

Säure

Amine reagieren je nach ihrer Struktur unterschiedlich mit salpetriger Säure. Diese Reaktionen können nicht nur zur analytischen Unterscheidung von Aminen herangezogen werden, sondern haben teilweise auch medizinische Bedeutung, weshalb wir uns mit ihnen beschäftigen wollen. Primäre aliphatische Amine reagieren mit HNO2 unter Bildung von Alkoholen und molekularem Stickstoff: R - C H 2 - C H 2 - N H 2 + HNO2 ->N 2 + R - C H 2 - C H 2 - 0 H + H 2 0 .

338

C. Spezielle organische Chemie

Unter Umständen kann der entstehende Alkohol noch Wasser abspalten; dann resultiert ein Alken: R - C H 2 - C H 2 - 0 H - > R - C H = CH 2 + H 2 0 . Medizinisch besonders wichtig (und gefürchtet) ist die Reaktion sekundärer Amine mit HNO2 : Sie führt zur Bildung der krebserregenden (cancerogenen) NNitrosamine (Abb. 30.3.2): R

R

i /

N - - H + HO- - N — O

Ro Abb. 30.3.2

i /

R, Bildung von

N—N=0

+

HO ^

N-Nitrosaminen

(Die - N = O-Gruppe heißt Miroso-Gruppe; ist sie an einem Stickstoffatom gebunden, wird sie zur N-Nitroso-Grappe.) Diese Reaktion ist der Grund für die Gefährlichkeit erhöhter Nitrit- oder Nitratkonzentrationen in der Nahrung oder im Grundwasser (oft eine Folge übermäßiger landwirtschaftlicher Düngung der Böden): Nitrat-Ionen werden im reduzierenden Milieu des Magens zu Nitrit-Ionen reduziert. Da salpetrige Säure schwächer ist als die Salzsäure des Magens, werden die entstehenden (oder direkt mit der Nahrung aufgenommenen) Nitrit-Ionen zu HNO2 oxidiert, die dann mit sekundären Aminen in der Nahrung (zum Beispiel in Aminosäuren, Peptiden und Proteinen) cancerogene Nitrosamine bildet. Tertiäre aliphatische Amine reagieren mit HN0 2 in einer gewöhnlichen SäureBase-Reaktion; sie bilden Salze (Nitrite): R 3 N + HN0 2

R 3 NH + + NOj.

Primäre aromatische Amine reagieren mit HNO2 auf sehr ungewöhnliche Weise: Sie bilden sogenannte Diazonium-Ionen (Abb. 30.3.3):

Abb. 30.3.3

Die

Diazotierungsreaktion

339

30. Amine

(Die Bezeichnung Di-az-onium bedeutet: Zwei Stickstoffatome bilden eine funktionelle Gruppe mit einer positiven Ladung.) Diese Reaktion {Diazotierung) gelingt nur in saurem Milieu. Die Diazonium-Ionen sind sehr brauchbare Ausgangsstoffe für viele verschiedenen chemische Reaktionen; wir wollen uns mit dem Hinweis begnügen, daß sie wegen der positiven Ladung an der -Gruppe Elektrophile sind, die andere aromatische Verbindungen durch eine elektrophile aromatische Substitution angreifen können, wobei oft intensiv gefärbte Produkte entstehen, die in der analytischen Chemie vielseitige Anwendungen zum qualitativen oder quantitativen Nachweis von Substanzen bieten. Ein Beispiel für eine solche SE-Reaktion (auch Azokupplung genannt) zeigt Abb. 30.3.4:

/ V_„,© •N2

+

H

OH

Diazonium-Ion a-Naphthol

Azo-Verbindung (oft intensiv gefärbt) Abb. 30.3.4

Die Bildung von Azoverbindungen

durch elektrophile

Substitution

Sekundäre aromatische Amine bilden ebenso wie aliphatische sekundäre Amine die gefährlichen N-Nitrosamine. Tertiäre aromatische Amine sind wegen des +M-Effekts der Dialkylamino-Gruppe besonders gut geeignet für SE-Reaktionen; sie werden von HNO2 in saurem Milieu in der para-Stellung substituiert. Zuerst bildet sich aus salpetriger Säure ein Nitrosyl-Ion NO + : O = N - OH + H + —> O = N - OHJ

340

C. Spezielle organische Chemie

O = N-OH£->H2O+NO+ Dieses greift am aromatischen Kern an (Abb. 30.3.5):

H

N

N,N-Dimethylphenylamin

Abb. 30.3.5

Q p-Nitroso-N,Ndimethylphenylamin

Bildung von p-Nitrosoverbindungen aus tertiären aromatischen Aminen

30.4 Einige wichtige Vertreter Die Aminogruppe kommt in zahlreichen biologisch bedeutsamen Verbindungen vor. Einige biologisch sehr wirksame Amine haben wir bei der Besprechung der Phenole kennengelernt, die Catecholamine (siehe Kapitel 26). Andere Beispiele sind die noch zu besprechenden Aminosäuren.

31 Kohlensäurederivate 31.1 Kohlensäureamide Organische Verbindungen, die Kohlenstoff mit der Oxidationszahl 44 enthalten (das ist dieselbe Oxidationszahl wie in Kohlensäure H2CO3 und im Anhydrid der Kohlensäure, dem Kohlendioxid CO2), werden als Kohlensäurederivate bezeichnet. Kohlensäure kann ein Monoamid oder ein Diamid bilden, indem eine oder beide OH-Gruppen durch Nt^-Gruppen ersetzt werden (Abb. 31.1.1):

341

31. Kohlensäurederivate

/ HO

o c

\

OH

H2N

Kohlensäure Abb. 31.1.1

/

o c

\

/ H2N

OH

Carbamidsäure

o c

\

NH 2

Harnstoff

Struktur der Kohlensäure und ihrer Amide

Carbamidsäure, das Monoamid der Kohlensäure, ist wie diese nicht beständig. Während sich Kohlensäure in Kohlendioxid und Wasser zersetzt, bildet sich aus Carbamidsäure nach der Gleichung O = C(OH)(NH2)

c o 2 + NH 3

Kohlendioxid und Ammoniak. Wie die Carbonate sind die Salze der Carbamidsäure, die Carbamate, stabil, ebenso ihre Ester, die Urethane (Abb.31.1.2). O II HN 2

/

c

\ o ^O O^

Carbamat Abb. 31.1.2

O II HN 2

/

c

v O

R

Urethan

Struktur des Carbamat-Anions und eines Urethans

Harnstoff, das Diamid der Kohlensäure, ist das wichtigste und mengenmäßig bedeutendste Endprodukt des Stoffwechsels der Proteine der Säugetiere und des Menschen; er wird, da er leicht wasserlöslich ist, über den Harn ausgeschieden. 31.2 Ureide Ureide sind Derivate des Harnstoffs, in welchen eine oder beide NH 2 -Gruppen durch einen Acylrest R - CO- substituiert sind. Medizinisch besonders interessant ist das cyclische Ureid der Malonsäure, die Barbitursäure. Abb. 31.2.1 zeigt ihre Bildung und die Keto-Enol-Tautomerie (Ausbildung eines aromatischen Ringes):

342

C. Spezielle organische Chemie

HO-

-H

o=c

+

I H

O II HN—C

O II

H

2 H2O +

/

HO- -c II

-H

\

ch2 \ HN—C II 0 Barbitursäure

o

Harnstoff

Malonsäure

OH I N—C // \\ HO—C CH \ / N=C I

O HN—C / \ 0=C CH \ / 2 HN—C II O

OH

Ketoform Abb. 31.2.1

/

0=C

Enolform

Die Bildung von Barbitursäure;

ihre Keto- und ihre

Enol-Form

Die Barbitursäure ist Grundsubstanz einer wichtigen Verbindungsklasse, der Barbituraten, die Bedeutung als Hypnotica besitzen. O Ii

f H

O

x

N I

lH N

H Q

H

K HO

f H

HC I C

o

I~ N

\

Ti:N ll

O

N

c=o

2-Hydroxymalonsäure O II X,

o ^ S -

N O^

HC N' I H

H

Abb. 31.2.2

C'

C=0

-N C—OH

C—O

Die Bildung von Harnsäure;

/

OH I N

Ketoform

•N

\

Harnsäure

\

/

-N

I H

Harnstoff

/

HC' ^Cc

H Harnstoff

H

II

i i

HO'

Enolform

ihre Keto- und ihre

Enol-Form

+4HO

343

31. Kohlensäurederivate

Ein Derivat der Malonsäure, 2-Hydroxy-malonsäure, ist zur Reaktion mit zwei Molekülen Harnstoff befähigt; die Reaktion führt zur Harnsäure (Abb. 31.2.2). Diese kommt im Stoffwechsel als Endprodukt des Purinstoffwechsels vor; übermäßige Harnsäurekonzentration führt zu Gicht. 31.3 Guanidin Wenn wir in der Kohlensäure formal alle O-Atome durch Stickstoff ersetzen, gelangen wir zum Guanidin (Abb. 31.3.1). Guanidin ist eine für organische Verbindungen außerordentlich starke Base (pKß = 0.35), da es nach Anlagerung eines Protons ein sehr symmetrisches, mesomeriestabilisiertes Kation (konjugierte Säure, Guanidinium-Ion) bildet. HN H H2N

NH 2

- H

Guanidin

©|JH2 HN 2

NH

HN 2

2

© HN

HN

21

21

|

// \NH

H2N

©

2

2

HN

A \

2

©

NH,

HN 2

NH

2

Ö Guanidinium-Ion

Abb. 31.3.1

Guanidin und die Grenzstrukturen

des

Guanidinium-Ions

Ein biologisch wichtiges Derivat des Guanidins ist Creatin (N-Methyl-guanidinoessigsäure). In Form des Creatinphosphats, einer Verbindung aus Creatin und Phosphorsäure, dient es zur Energiespeicherung im Muskel: Es enthält eine energiereiche Bindung; das ist eine Bindung, die bei ihrer Aufspaltung durch Wasser (Umkehrung der Bildungsreaktion) besonders viel Energie liefert (stark negativer AG 0 -Wert; Abb. 31.3.2). Creatinphosphat wird im Muskel zum Zweck der Energiegewinnung zu Creatin und Phosphorsäure hydrolysiert. Das dabei anfallende Creatin wird unter Wasserabspaltung zu Creatinin (Abb. 31.3.3) cyclisiert; dieses wird über den Harn ausgeschieden. Da im Erwachsenen bei normaler Muskeltätigkeit jeden Tag etwa dieselbe Creatininmenge im Organismus anfällt, findet die Messung der Creatinin-

344

C. Spezielle organische Chemie

ausscheidung als rohes Maß für die Funktionstüchtigkeit der Nieren verbreitete klinische Anwendung. energiereiche Bindung \

H

/ HN=C

x h

v

+

OH

/

-H

HO

©

//

N—CH-C 2 I \

± h2o

+ Energie

N—CH-C

+

OH

energiereiche

Bindung

I .R

H

HO

2

h3c

HN=C

J—

H2o +

W

o

Bildung von Creatinin aus

\

/

N

c=o

/

CH

HC

Creatin Abb. 31.3.3

OH

H

\ N—CHr-C !

\

Creatinphosphat

H HN=C

o

//

h3c

Creatin, Creatinphosphat,

X.

OH

vN

Creatin Abb. 31.3.2

x

y

h,n=c

O

h3c

Q

2

Creatinin Creatin

32 Organische Schwefelverbindungen 32.1 Allgemeines Schwefel kann anstelle von Sauerstoff in organischen Verbindungen eingebaut sein. Dieser Tatsache wird in den Namen der Verbindungen meist durch Angabe der Bezeichnung thio oder sulfo Rechnung getragen.

345

32. Organische Schwefelverbindungen

32.2 Einige wichtige Verbindungsklassen 32.2.1 Thioalkohole Thioalkohole enthalten als charakteristische funktionelle Gruppe die SH-Gruppe; wir können sie formal als organische Derivate des Schwefelwasserstoffs H2S auffassen, in welchen ein H-Atom durch einen organischen Rest ersetzt ist. Wir bezeichnen sie entweder als Alkanthiole (Beispiel: C2H5-SH, Ethanthiol) oder als Alkylmercaptane (Beispiel C3H7-SH, Propylmercaptan). Die alte Bezeichnung Mercaptan (lateinisch: mercurium captans = Quecksilber einfangend) leitet sich von der Tatsache ab, daß Thiole ebenso wie Schwefelwasserstoff mit Schwermetallen wie Quecksilber sehr schwerlösliche Salze (Thiolate) bildet. Thiole zeigen eine Reihe von interessanten Analogien mit H2S: • Thiole bilden keine Wasserstoff-Brückenbindungen aus und sieden daher bei viel tieferen Temperaturen als vergleichbare Alkohole. • Thiole sind wesentlich stärker sauer als Alkohole (H2S ist acider als H2O). • Thiole stinken - wie H 2 S - in der Regel abscheulich. Thiole sind sehr leicht oxidierbar, dabei entstehen nicht, wie wir von den Alkoholen her vermuten könnten, Thiocarbonylverbindungen, da Schwefel als Element der dritten Periode keine stabilen Doppelbindungen ausbildet, sondern Disulfide, das sind Verbindungen mit einer S-S-Brücke. Abb. 32.2.1 zeigt dies am Beispiel der Aminosäure Cystein, die zum Disulfid Cystin oxidiert werden kann: O

O

C

H2N—CH H2C

H2N—CH H- —S

s— H

O

o

c

H2N—CH H2C Abb. 32.2.1

C

S

Oxidation von Cystein zu Cystin

2

c

H2N—CH S

CH

CH2

+ 2e + 2H+

346

C. Spezielle organische Chemie

Diese Reaktion ist bedeutsam bei den Proteinen, da durch diese Reaktion zwischen Cysteinresten, die an weit entfernten Stellen des Proteinskeletts stehen, bestimmte räumliche Strukturen (Tertiärstruktur) fixiert werden können. 32.2.2 Sulfonsäuren Die Oxidation von Thiolen mit starken Oxidationsmitteln führt zu Sulfonsäuren: R - S H + 3 H 2 0 - > R - S 0 3 H + 6e- + 6H + . Sulfonsäuren sind wegen der hohen Oxidationszahl des S-Atoms (+4 gegenüber -2in Thiolen) starke Säuren. Sulfonsäuregruppen in organischen Verbindungen liegen anionisch vor, weshalb diese Substanzen generell gut wasserlöslich sind: R - S O 3 H + H 2 0 -> R - S O J + H 3 0 + . Sulfonsäuren sind Ausgangsmaterial für eine wichtige Gruppe medizinisch wertvoller Bakterizide, der Sulfonamide. In diesen Verbindungen ist die OH-Gruppe der Sulfonsäure ersetzt durch eine - üblicherweise noch weiter organisch substituierte NH2-Gruppe.Abb. 32.2.2 zeigt das Beispiel der Sulfanilsäure (p-Amino-benzensulfonsäure) und des Sulfanilamids: O H2N

ft

\

S

O OH

O

H2N

ft



\

S

NH

o

Sulfanilsäure

Sulfanilamid

(eine Sulfonsäure)

(ein Sulfonamid)

Abb. 32.2.2

Struktur von Sulfonsäuren

und

Sulfonamiden

32.2.3 Thioether und Thioester Thioether sind formal Derivate von H2S, in welchen beide H-Atome durch organische Reste ersetzt sind (Ri - S - R2). "Ester" der Thiole mit Carbonsäuren bezeichnen wir als Thioester. Ihre Bildung können wir formal folgendermaßen beschreiben:

347

32. Organische Schwefelverbindungen

R—C—OH II O

+

HS—R

>

R—C—S—R, II O

+

HO 2

Thioester sind gegenüber nucleophilen Reagentien reaktiver als "gewöhnliche" Ester; sie sind stärkere Acylierungsmittel und werden als aktive Ester bezeichnet. Ein biologisch äußerst wichtiger Thioester ist das Acetyl-Coenzym A (AcetylCoA), welches im Stoffwechsel der Zelle zur Übertragung der Acetylgruppe H 3 C - C O - dient.

33 Heterocyclische Verbindungen 33.1 Allgemeines Ringförmige Verbindungen, die außer Kohlenstoff noch andere Elemente als Ringglieder enthalten, werden als Heterocyclen bezeichnet. Als Heteroelemente kommen im wesentlichen Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel in Betracht. Heterocyclen finden wir als Grundsubstanzen vieler Naturstoffe, aber auch vieler Medikamente und Pharmaka. Es gibt für heterocyclische Verbindungen zwar eine rationelle Nomenklatur, daneben existieren Trivialnamen, die sich so stark eingebürgert haben, daß sie viel häufiger verwendet werden und ihre Kenntnis unerläßlich ist. Viele Heterocyclen sind aromatisch; die entsprechenden nichtaromatischen Verbindungen werden meist als "Hydro"-Derivate der aromatischen Grundkörper bezeichnet. Die Aromatizität beruht wie beim Benzen auf der Ausbildung polyzentrischer Molekülorbitale aus einfach besetzten p-Orbitalen, wobei die Zahl der n-Elektronen nach der Hückel-Regel für Aromaten durch den Term 4n + 2 ausgedrückt werden kann (meist sind es sechs 7C-Elektronen wie beim Benzen). 33.2 Wichtige Vertreter 33.2.1 Fünfgliedrige Heterocyclen mit einem Heteroatom Bei den drei Vertretern dieser Klasse (Abb. 32.2.1) wird das aromatische Elektronen-Sextett durch die Miteinbeziehung eines freien Elektronenpaars am jeweiligen Heteroatom erreicht:

348

C. Spezielle organische Chemie

// w // w // w

HC

HC

CH

HC

.CH

CH

HC

HC

.CH

CH

HC

.CH

O

HN

Thiophen Abb. 33.2.1

Pyirol

Fünfgliedrige

Heterocyclen

Furan

mit einem

Heteroatom

Thiophen hat dabei den am stärksten aromatischen Charakter, da das S-Atom die geringste Elektronegativität besitzt und daher ein freies Elektronenpaar besonders leicht zur Ausbildung des aromatischen Elektronensystems zur Verfügung stellt. Am wenigsten aromatisch ist Furan (hohe Elektronegativität des Sauerstoffs); es reagiert eher wie ein ungesättigter Ether. Pyrrol ist praktisch nicht basisch, da das freie Elektronenpaar am Stickstoff für die Ausbildung des aromatischen Elektronensextetts benötigt wird. Pyrrol ist der Grundkörper der Aminosäure Prolin (2,3,4,5-Tetrahydro-pyrrol-2carbonsäure). Eine wichtige Klasse von Pyrrolderivaten stellen die Porphyrine dar, kompliziert gebaute aromatische Heterocyclen, die als vierbindige Chelatliganden mit Metall-Kationen Komplexe bilden, die für die Funktion wichtiger Enzyme unerläßliche Bestandteile sind (so ist die katalytisch wirksame Struktur im Hämoglobin, das Häm, ein Komplex eines substituierten Porphyrinderivats mit Eisen-Ionen; Chlorophyll, die katalytisch wirksame Struktur im grünen Blattfarbstoff, ist ein ähnlicher Komplex mit Mg 2+ -Ionen). Abb. 33.2.2 zeigt die Grundstruktur des Porphyrins; man erkennt deutlich die vier Pyrrol-Ringe als Bausteine: HC C-^ \ / C=N

/ wC—NH

C^ CH \ // HN—C

\CH

HC

1/

\ \

CH

Abb. 33.2.2

Porphyrin

N

//

//



HC

c

\

CH

349

32. Organische Schwefelverbindungen

33.2.2 Fünfgliedrige Heterocyclen mit zwei Heteroatomen Alle biologisch interessanten Heterocyclen dieser Klasse (Abb. 33.2.3) enthalten mindestens ein Stickstoffatom. Im Falle von Oxazol und Thiazol stimmt der Trivialname mit den rationellen Namen fast (bis auf die exakte Angabe der Stellung der Atome im Ring) überein: Die Endung -ol bezeichnet fünfgliedrige Ringe, -ox- steht für Sauerstoff, -thia- für Schwefel und -az- für Stickstoff. Pyrazol heißt dementsprechend rationell 1,2-Diazol, Imidazol 1,3-Diazol. HC

CH

HC

Pyrazol

N

HC

Imidazol

Abb. 33.2.3

N

HC

Thiazol

Oxazol

Fünfgliedrige Heterocyclen

mit zwei

N

Heteroatomen

Pyrazol ist Grundkörper verschiedener pharmakologisch wirksamer Substanzen. Imidazol ist Baustein der Aminosäure Histidin. Wird Histidin decarboxyliert (Abspaltung von CO2), so entsteht Histamin (Abb. 33.2.4), eine blutdrucksenkende Substanz, die auch bei allergischen Reaktionen eine wichtige Rolle spielt. o W /

HO

C

H N—CH—CH

CH—CH \

NH

2

C

2

*o=c=o

Histidin Abb. 33.2.4

Decarboxylierung

2

N

2 \

C

N

+

Histamin von Histidin zu Histamin

Thiazol-Bausteine findet man im Vitamin Bi und in verschiedenen Penicillinen (ß-Lactam- Antibiotika).

350

C. Spezielle organische Chemie

33.2.3 Sechsgliedrige Heterocyclen mit einem oder zwei Stickstoffatomen In der rationellen Bezeichnungsweise werden Sechsringe mit der Endung -in bezeichnet. Abb. 33.2.5 zeigt die wichtigsten Verbindungen.

XH HCT HC.

-CH

HC^

^-CH

HC

N

Nicotinsäure

HC. HC"" CH 1

^CH

N3 HC^

N

CH ^CH 1

^CH

N

Pyridazin Abb. 33.2.5

„CH N

Pyridin

N^

O iir

CH

Sechsgliedrige

Pyrimidin Heterocyclen

HC

4 ^ CH

HC^ 1 ^CH N Pyrazin

mit Stickstoff

Pyridin ist eine schwach basische, sehr unangenehm riechende Flüssigkeit; sie ist Grundkörper der Nicotinsäure (Pyridin-3-carbonsäure) und der von dieser abgeleiteten Coenzyme; außerdem ist sie Grundkörper des Vitamins Bö (Pyridoxalphosphat und verwandte Substanzen). Von den drei Diazinen Pyridazin (1,2-Diazin), Pyrimidin (1,3-Diazin) und Pyrazin (1,4-Diazin) ist besonders Pyrimidin wichtig als Grundkörper wichtiger Naturstoffe; insbesondere von Nucleinsäurebasen. 3.2.4 Mehrkernige Heterocyclen Darunter verstehen wir Heterocyclen, die sich von kondensierten Aromaten (siehe Kapitel 23) ableiten. Indol finden wir als Baustein der Aminosäure Tryptophan. Purinderivate stellen neben Pyrimidinderivaten grundlegende Bausteine der

351

32. Organische Schwefelverbindungen

Nucleinsäuren dar. Pteridinderivate kommen in der Natur als Pigmente von Insekten und Fischen, aber auch als Coenzyme und Vitamine vor. Abb. 33.2.6 zeigt Strukturformeln wichtiger mehrkerniger Heterocyclen.

Chinolin

Indol

Purin Abb. 33.2.6

Mehrkernige

Pteridin Heterocyclen

X,

D Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

34. 35. 36. 37. 38.

Kohlenhydrate Nucleinsäuren Lipide Aminosäuren, Peptide und Proteine Vitamine und Coenzyme

D

Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

34 Kohlenhydrate 34.1 Struktur und Nomenklatur Die Klasse der Kohlenhydrate umfaßt eine sehr große Zahl biologisch wichtiger Verbindungen. Sie sind von der Masse her die bedeutendste Naturstoffklasse überhaupt! Alleine Cellulose, die wichtigste Gerüstsubstanz der Pflanzen, stellt bereits über 50% der gesamten organischen Masse auf der Erde. Der Begriff Kohlenhydrat ist historisch bedingt: Einige wichtige Vertreter der Gruppe besitzen eine Summenformel, die rein formal als Hydrat (= WasserVerbindung) des Kohlenstoffs geschrieben werden kann: So lautet beispielsweise die Bruttoformel von Glucose C6H12O6 = C 6 (H 2 0)6. Allerdings kann man auch andere organische Verbindungen rein formal als Kohlenstoff-Hydrate schreiben; so etwa die Milchsäure C 3 H 6 0 3 = C3(H 2 0) 3 . Und es gibt Verbindungen, die zwar den Kohlenhydraten zugerechnet werden, aber diesem formalen Schema nicht gerecht werden: Ascorbinsäure (Vitamin C) besitzt zum Beispiel die Bruttoformel CöHgOö. Die moderne Definition für die Klasse der Kohlenhydrate lautet: Kohlenhydrate sind Polyhydroxycarbonyl-Verbindungen.

Kohlenhydrate enthalten dieser Definition zufolge also mehrere Hydroxylgruppen und eine Aldehyd- oder Ketongruppe im Molekül. Wir kennen verschiedene Einteilungskriterien für Kohlenhydrate. Wir unterscheiden einfache (Monosaccharide) und zusammengesetzte Kohlenhydrate (Di-, Oligound Polysaccharide). Die letzteren sind durch Hydrolyse, zum Beispiel mit verdünnten Säuren, in einfache Kohlenhydrate (die vielfach auch Zucker genannt werden) zerlegbar. Disaccharide bestehen aus 2, Oligosaccharide aus 3 bis 8, und Polysaccharide aus 8 bis zu vielen Tausenden Monosaccharidbausteinen. Die Monosaccharide teilen wir ein nach der Zahl der Kohlenstoffatome (Triosen = 3, Tetrosen = 4, Pentosen = 5, Hexosen = 6 C-Atome, usw) und nach der Art der Carbonylgruppe: Aldotriosen, Ketopentosen, usw. Die folgende Tabelle gibt einen kleinen Überblick über die Kohlenhydrate:

356 Struktur

D. Die Chemie spezieller Naturstoffe

Funktion

Monosaccharide

Substrate für den energieliefernden Stoffwechsel Bauteile wichtiger Biomoleküle (O- und N-Glycoside) Di- und Oligosaccharide Substrate für den energieliefernden Stoffwechsel Polysaccharide Reservekohlenhydrate Stütz- und Gerüstsubstanzen Bindegewebsgrundsubstanz Bauteile der Glycoproteine (Membranen, Enzyme, Blutgruppensubstanzen, Plasmaproteine) 34.2 Monosaccharide 34.2.1 Chemischer Aufbau Die einfachste Aldotriose ist Glycerinaldehyd (2,3-Dihydroxy-propanal). Wie im Kapitel 18 ausführlich besprochen, enthält Glycerinaldehyd ein asymmetrisches C Atom und die Verbindung existiert daher in zwei enantiomeren (= spiegelbildisomeren) Formen, D-Glycerinaldehyd und L-Glycerinaldehyd. Wenn man systematisch von den Triosen zu den Tetrosen, Pentosen usw. fortschreitet, kommt je ein zusätzliches asymmetrisches C-Atom hinzu. Bei Vorliegen von n asymmetrischen C-Atomen existieren insgesamt 2" diastereomere Formen (davon gehört die Hälfte der D-Reihe an, die andere Hälfte der L-Reihe). Abb. 34.2.1 zeigt den systematischen Aufbau der verschiedenen diastereomeren Aldosen mit 3 bis 6 C-Atomen anhand der D-Enantiomeren: Diese enthalten in der gezeigten Fischer-Projektion jeweils die OH-Gruppe am untersten asymmetrischen Zentrum auf der rechten Seite; durch das jeweils neu hinzukommende C-Atom werden, von unten her aufbauend, für jede Konfiguration in der vorhergehenden Reihe zwei neue Konfigurationen ermöglicht, eine mit der OH-Gruppe rechts, die andere links stehend (die Konfiguration des entsprechenden Moleküls in der jeweils vorangehenden Reihe ist durch Fettdruck hervorgehoben). Wie können wir uns die Namen der Aldosen in der richtigen Reihenfolge merken? Für die Pentosen und Hexosen existieren einfache mnemotechnische Hilfsmittel: Für die Pentosen präge man sich das Merkwort RAXL ein (die Anfangsbuchstaben der Aldopentosen); für die Hexosen merke man sich den Satz: Alle alten Glucken möchten gern im Garten tanzen. (Vergleiche die hervorgehobenen Buchstaben und Buchstabengruppen in Abb. 34.2.1).

357

34. K o h l e n h y d r a t e

O^H H-

-OH CHJOH

D-Glycerinaldehyd

O^H H -

-OH

H-

-OH

-OH

CH2OH

CH2OH D-Threose

D-Erythrose

Ov -c

M

OV v

Ov / H "C

H-C-OH

-H

HO-

C

Ov

/H

"C

HO-C-H

H-C-OH

HO-C-H

H-C-OH

H-C-OH

H-C-OH

H-C—OH

M

HO-C-H

HO-C-H

H-C-OH

H-C—OH

CH2OH D-Arabinose

D-Ribose

H-C-OH H-C-OH H-C-OH H-C-OH

D-Allose

D-Xylose

H ° - c H °c-H °CH H-C-OH HO-C-H HO-C-H H-C-OH H-C-OH H-C-OH HO-C-H HO-C-H HO-C-H H-C-OH H-C-OH H-C-OH H-C-OH H-C-OH H-C-OH H-C-OH CH,OH CH,OH CH,OH CHJOH D-AItrose

Abb. 34.2.1

D-Glucose

Systematische

D-Mannose

Konstruktion

D-Gulose

der möglichen

D-Lyxose

°'CH H-C-OH HO-C-H HO-C-H HO-C-H HO-C-H H-C-OH HO-C-H HO-C-H HO-C-H H-C-OH H-C-OH H-C-OH CHJOH CH,OH CH,OH D-Idose

Aldosen

D-Galactose

der

D-Talose

D-Reihe

Einprägen müssen wir uns insbesondere den Glycerinaldehyd, die Tetrosen Erythrose und Threose, die Pentosen Ribose und Xylose, und die Hexosen Glucose, Mannose und Galactose. Die übrigen Verbindungen spielen in der Biochemie keine sehr wichtige Rolle. Zu den gezeigten Molekülen (D-Reihe) existiert jeweils ein Spiegelbild, in dem die Konfiguration der OH-Gruppen an allen asymmetrischen Zentren jeweils vertauscht ist (Abb. 34.2.2 zeigt dies am Beispiel der D- und L-Glucose).

358

D. Die Chemie spezieller Naturstoffe

/H

o*

i

H-C-OH HO-C-H

i

/H

HO-C-H H-C-OH

H-C-OH

HO-C-H

H-C-OH CH2OH

H O - Ci - H CH2OH

D-Glucose

L-Glucose

i

Abb. 34.2.2

cI

D- und L-Glucose, zwei enantiomere

Zucker

Spiegelbildisomere sind Enantiomere. Zu n asymmetrischen Zentren existieren also 2 n_1 Enantiomerenpaare. Stereoisomere Verbindungen, die nicht enantiomer zueinander sind, heißen Diastereomere (Beispiel: D-Allose und D-Mannose sind diastereomer zueinander). Bei den Kohlenhydraten unterscheiden wir schließlich noch den Spezialfall von Diastereomeren, die sich nur in der Konfiguration an einem einzigen asymmetrischen C-Atom voneinander unterscheiden; diese nennen wir Epimere (Beispiel: D-Glucose ist epimer zu D-Galactose oder zu D-Mannose). Von den vielen möglichen Ketozuckern wollen wir zwei nennen, die biochemisch wichtig sind: Dihydroxyaceton (1,3-Dihydroxy-propanon) und Fructose. Die Struktur beider Verbindungen zeigt Abb. 34.2.3; Dihydroxyaceton ist übrigens der einzige nicht-chirale Zucker (enthält kein asymmetrisches C-Atom): CpH2OH HC. HC.., tiLj HC. ni_ HC. m,^ NC V- / / ^ / X / ^ / *T / / X / ^ / / n H,C . C ^CH CH CH CH ^CH C 'XH C ^CH V \ X HC H,C C CH, HC h3c H

H

2

HC

C

/

ß-Carotin

Retinol Abb. 36.3.2

Retinal

ß-Carotin und die Spaltprodukte Retinol bzw. Retinal (die schwarzen Striche markieren Isopren-Bausteine; bei Retinol und Retinal wurde die übliche abkürzende Schreibweise mit Weglassung der H-Atome verwendet).

384

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

Weitere Vitamine mit Terpenstruktur sind Tocopherol (Vitamin E), dessen zentrale Bedeutung als Antioxidans (Entsorgung schädlicher Radikale, die entweder im Organismus durch Stoffwechselprozesse, Immunprozesse und andere endogene Reaktionen gebildet werden oder aber exogen aus der Umgebung in den Körper gelangen) in der jüngsten Zeit intensivst erforscht wurde und wird, sowie die Vitamine der K-Gruppe, die zusätzlich Chinon-Strukturen besitzen und für den Ablauf der Blutgerinnung essentiell sind, aber auch bei den Redoxreaktionen der Atmungskette wichtige Elektronenübertragungsfunktion wahrnehmen. Abb. 36.3.3 zeigt die chemischen Strukturen: ch. HCh

C^ C \ C \ C H 2 CH, I

H3C

C/

X

^CH,

CH,

I

CH,

CH, Tocopherol

Vitamin K

Abb. 36.3.3

Weitere Vitamine mit

2

Terpen-Seitenketten

36.4 Steroide Steroide, die auch zu den Isoprenoiden gezählt werden, sind strukturell Derivate des tetracyclischen Kohlenwasserstoffs Cyclopentano-perhydrophenanthren (auch Steran oder Gonan genannt). Abb. 36.4.1 zeigt die Struktur des Sterans mit der üblichen Nummerierung der Atome und der Bezeichnung der Ringe.

385

36. Lipide

Gonan (Steran) Abb. 36.4.1

Konstitution des Steran-Gerüsts

Die Kombination der drei Sechsringe (A,B,C) kann als gesättigtes Derivat des aromatischen Kohlenwasserstoffs Phenanthren aufgefaßt werden, daher die Bezeichnung Perhydrophenanthren; der Fünfring (D) wird im Namen durch das vorangestellte Cyclopentano- ausgedrückt. Bei Cycloalkanen gibt es eis- trans-Isomerie (siehe Kapitel 22); dies spielt auch für die Stereochemie der Steroide eine Rolle. Wir machen uns dies an einem einfacheren Beispiel klar, dem Decalin (Perhydro-naphthalen), welches, wie Abb. 36.4.2 zeigt, in zwei stereoisomeren Formen existieren kann: H

Abb. 36.4.2

H

Die beiden stereoisomeren Formen von Decalin

In diesem aus zwei kondensierten Sechsringen bestehenden Molekül können die H-Atome an den Brückenkopf-C-Atomen, die die beiden Ringe verbinden, auf der selben (eis) oder auf entgegengesetzten Molekülseiten (trans) stehen. Wir sehen, daß die trans-verknüpfte Molekülform eher gestreckt ist, die cis-Form dagegen abgewinkelt.

386

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

Bei Steroiden mit ihren vier verknüpften Ringen findet man praktisch durchgehend die trans-Verknüpfung aller Ringe, nur der Ring A kann in einigen Steroiden mit dem Ring B auch cis-verknüft sein. Abb. 36.4.3 zeigt, daß die übliche all-transVerknüpfung zu langgestreckten Molekülen führt, die in der Seitenansicht eine Zick-Zack-Anordnung der C-Atome aufweisen wie in Alkanen oder gesättigten Fettsäuren.

Abb. 36.4.3

Steran in der Aufsicht von oben (links) und von der Seite (rechts)

Die meisten natürlichen Steroide besitzen am Cio und am C13 eine Methylgruppe. 13-Methyl-steran heißt auch Estran und ist die Grundstubstanz der Estrogene (weibliche Sexualhormone). Abb. 36.4.4 zeigt Estran und Estron als Beispiel (Estrogene sind die einzigen Steroide mit einem aromatischen Ring A):

Estran

Abb. 36.4.4

Estran und ein weibliches

Estron

Sexualhormon

10,13-Dimethyl-steran heißt auch Androstan\ es ist Grundsubstanz der Androgene (männliche Sexualhormone wie Testosteron; Abb. 36.4.5):

387

36. Lipide

OH

Androstan Abb. 36.4.5

Testosteron

Androstan und ein männliches Sexualhormon

Eine Ethylgruppe an Ci 7 ist typisch für die Gestagene (Schwangerschaftshormone) wie Progesteron; der Grundkörper heißt Pregnan (17-Ethylandrostan; Abb. 36.4.6):

C=0

Pregnan Abb. 36.4.6

Pregnan und ein

Progesteron Schwangerschaftshormon

Gallensäuren sind Abkömmlinge des Cholans [17-(l-Methylbutyl)-androstans]; ihre Funktion ist die Emulgierung von Fett (siehe weiter unten; "oberflächenaktive Substanzen"), um eine bessere Resorption im Dünndarm zu gewährleisten. Abb. 36.4.7 zeigt Cholan und Cholsäure; die Hydroxygruppen stehen, wie durch die strichlierte Bindung angedeutet ist, im Vergleich zur Methylgruppe an Cio auf der entgegengesetzten Seite des Ringsystems (trans-Stellung; bei Steroiden auch als a-Stellung bezeichnet. Im Gegensatz dazu nennt man die cis-Stellung, bezogen auf die Methylgruppe an Cio, ß-Stellung; so steht die Methylgruppe an C17 praktisch immer in ß-Stellung).

388

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

o

Abb. 36.4.7

Cholan und eine Gallensäure

Cholestan [17-(l,5-Dimethylhexyl)-androstan] schließlich ist der Grundkörper der Sterine, deren bekanntestes, das Cholesterin, in Abb. 36.4.8 gezeigt ist:

Abb. 36.4.8

Cholestan und Cholesterin

Cholesterin besitzt am C3-Atom eine ß-ständige OH- Gruppe, die durch langkettige Fettsäuren verestert sein kann. Cholesterin selbst und seine Ester sind wichtige Komponenten der Lipidmembranen von Zellen. Es gibt noch weitere Klassen von Steroiden, die wichtige biologische Funktionen ausüben, wie Corticoide (Nebennierenrindenhormone), die unter anderem den Mineralstoffwechsel regulieren, herzaktive Steroide, Insektenhormone und andere mehr.

389

36. Lipide

36.5 Triacylglycerine (Triglyceride, Neutralfette) Mengenmäßig sind diese einfachsten verseifbaren Vertreter, die Fette und Öle im herkömmlichen Sinn des Wortes, die wichtigste Lipidgruppe. Es handelt sich um Ester des dreiwertigen Alkohols Glycerin (1,2,3-Propan-triol) mit gesättigten und ungesättigten Fettsäuren. Natürlich vorkommende Fette und Öle weisen meist ein sehr komplexes Fettsäuregemisch auf. Die Grundstruktur eines Triacylglycerins zeigt Abb. 36.5.1:

Abb. 36.5.1

Ein Triacylglycerin (mit einem Myristyl-, einem Palmityl- und einem Ölsäurerest; die Acylreste sind in der vereinfachenden Schreibweise gezeichnet.)

Triacylglycerine, die nur gesättigte Fettsäuren enthalten, haben höhere Schmelzpunkte, da sie aufgrund der regelmäßigen Zick-Zack-Strukturen der langen Alkylketten bessere intermolekulare Wechselwirkungen ausbilden können. Ungesättigte Fettsäuren dagegen besitzen wegen der eis-Anordnung der Doppelbindung unregelmäßigere Strukturen (Knick in der Kette); je höher der Gehalt von Fetten an ungesättigten Fettsäuren ist, desto niedriger ist ihr Schmelzpunkt. Öle sind Fette mit hohem Gehalt an ungesättigten Fettsäuren; sie sind bei Raumtemperatur flüssig. Durch Hydrierung (Addition von H2) der Doppelbindungen werden ungesättigte Fettsäuren in gesättigte überführt; wir nennen diesen Vorgang Fetthärtung. Ungesättigte Fettsäuren sind für unsere Ernährung besonders wichtig. Wir sollten in unserer Ernährung auf die Zufuhr ungesättigter Fette achten und gehärtete Fette meiden.

390

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

Fette stellen eine der wichtigsten Speicherformen für Energie dar: Bei gutem Nahrungsangebot werden Überschüsse durch die körpereigene Fettsäurebiosynthese und Veresterung mit Glycerin in Körperfett umgewandelt und als Energiedepot gespeichert; in Mangelzeiten kann der Organismus diese Reserven mobilisieren und "verbrennen" und auf diese Weise seinen Energiebedarf autonom decken. Früher "verseifte" man Fette durch Kochen mit verdünnter Natronlauge. Dabei werden die Esterbindungen alkalisch hydrolysiert; dabei entstehen Glycerin und die Salze der Fettsäuren. Diese Alkalimetallsalze der Fettsäuren nennen wir Seifen. Die oberflächenaktive Wirkung und die Waschwirkung der Seifen wird weiter unten genauer beschrieben. 36.6 Phospholipide CH, N+

NH, / H2Cx

h2cx ch2 x 0 1 0=P—o f

o "

—CH--ch 2 I1 L o 0 -s o=

i 0=P

I 0=P—o

O

o

o

Phosphatidsäure

Phosphatidylethanolamin

C\ H

3

ch2 0 1 0=P—o I o Phosphatidyl-cholin (Lecithin)

P h n-hc

00-

3

R,

ICH

x

CH

R,

0 I 0=P—o o Phosphatidylserin

Abb. 36.6.1

Die Struktur der wichtigsten

Phospholipide

Phosphatidylinositol

391

36. Lipide

Das Bauprinzip der Phospholipide ist einfach: Während in einem Neutralfett alle drei Hydroxylgruppen des Glycerins mit Fettsäuren verestert sind, enthalten Phospholipide nur zwei Fettsäuren; die dritte OH-Gruppe des Glycerins ist mit Phosphorsäure H3PO4 verestert. Die so entstehende Verbindung, eine Phosphatidsäure, enthält gewöhnlich an der Phosphorsäure noch einen zweiten Alkohol in Esterbindung gebunden. Als Alkoholkomponenten kommen im wesentlichen die Aminosäure Serin, der Aminoalkohol Ethanolamin, der quartäre Ammonium-alkohol Cholin und der mehrwertige Alkohol Inositol vor (Abb. 36.6.1). Auch Kohlenhydrat-Bausteine können glycosidisch gebunden sein; dann sprechen wir von Phosphoglycolipiden. Beachtenswert ist bei den verschiedenen Phospholipiden, daß sie alle am Phosphorsäureteil eine negative Ladung tragen, da H3PO4 als mittelstarke Säure (pKs ~ 2) bei physiologischem pH-Wert praktisch zu 100 % als Anion vorliegt. Eine interessante Phospholipidstruktur finden wir bei Cardiolipin: Hier sind zwei Phosphatidsäureteile über ein zusätzliches Glycerinmolekül esterartig verbunden (Diphosphatidylglycerin; Abb. 36.6.2):

?

H

-HC-

O

O 0=

0=C I R 1

Abb. 36.6.3

-CH

-O

C=0 I

Cardiolipin (hervorgehoben:

O- - P = 0

0= =C I

C=0 I R 1

Glycerin-Bausteine)

Die wesentliche biologische Rolle der Phospholipide besteht darin, daß sie wichtige Komponenten beim Aufbau von Biomembranen darstellen. Dabei kann die Lipidzusammensetzung der Membranen je nach Zelle und Organ unterschiedlich sein; Lecithin etwa spielt eine hervorragende Rolle bei Nervenzell-Membranen.

392

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

36.7 Sphingolipide Die bisher erwähnten verseifbaren Lipide besitzen als Alkoholkomponente Glycerin. In den Sphingolipiden dagegen finden wir einen relativ kompliziert gebauten Alkohol, das Sphingosin. Dieses ist allerdings nicht esterartig, sondern säureamidartig an eine langkettige Fettsäure gebunden. Auch solche Säureamide sind durch Kochen mit verdünnter Lauge hydrolysierbar, daher gehören auch diese Verbindungen zu den verseifbaren Lipiden. Abb. 36.7.1 zeigt Sphingosin und die Struktur der Ceramide\ das sind die erwähnten Säureamid-Derivate des Sphingosins. OH

H

I

H 2C

HO

I

CH

.N.

,CH \

h2C

H

CH

II

CH

-CH, H2C H 2 C' HC' HC'

HC H3C

^CH

-CH

-CH

^CH

^CH

Sphingosin

Abb. 36.7.1

HC

Ceramid

Sphingosin und ein Ceramid (hervorgehoben:

Laurinsäure-Rest)

Ceramid besitzt eine freie Hydroxylgruppe am C2. Diese kann mit Phosphorsäure verestert sein, und die Phosphorsäure kann noch weiter mit anderen Alkoholen, zum Beispiel Cholin, verestert sein. Dann sprechen wir von sogenannten Sphingomyelinen. Anstelle des Phosphorylcholins kann auch ein Kohlenhydrat glycosidisch gebunden sein; dann liegt ein Sphingoglycolipid vor. Die Wichtigkeit der Sphingolipide ist, ganz analog wie die der Phospholipide, hauptsächlich durch ihre Teilnahme am Aufbau biologischer Membranen bedingt. Lipide sind - wie aus den nur skizzenhaft vorgestellten Tatsachen offensichtlich ist - mitunter sehr kompliziert aufgebaut, da die verschiedenen Bausteine in sehr wechselnden Kombinationen miteinander verbunden sein können.

393

36. Lipide

36.8 Oberflächenaktive Substanzen Viele Lipide - Seifen, Gallensäuren bzw. ihre konjugierten Basen, Phospholipide, die meisten Sphingolipide - haben eines miteinander gemeinsam: Neben den für alle Lipide typischen ausgesprochen apolaren langen Alkylketten besitzen sie an einer oder einigen Stellen im Molekül positive oder (meist) negative Ladungen oder haben zumindest einen stark polaren Baustein wie etwa ein Kohlenhydrat: Sie sind amphiphil, sie besitzen sowohl einen lipophilen (= fettliebenden apolaren) Teil als auch einen hydrophilen (= wasserliebenden polaren bzw, geladenen) Teil. Amphiphile Substanzen weisen einige ganz spezielle Besonderheiten auf. Durch ihre "doppelte" Natur sind sie ideal geeignet, sich an der Grenzfläche zwischen polaren Flüssigkeiten wie Wasser und apolaren Flüssigkeiten wie Fett- und Öltröpfchen zu verteilen, wobei sie sich natürlich so ausrichten, daß die "polaren Köpfchen" in das Wasser, die "apolaren Schwänzchen" jedoch in die apolare Phase tauchen (Abb. 36.8.1).

O^/O

Film einer amphiphilen Substanz

Fettsäure-Anion ("Seife") Abb. 36.8.1

Verteilung einer amphiphilen Substanz in der Grenzschicht ner polaren und einer apolaren Phase

zwischen

ei-

Eine Konsequenz dieser Verteilung ist die Waschwirkung der Seifen: An sich in Wasser unlösliche Fett- und Öltröpfchen werden mit einem Überzug der polaren Köpfchen der Seifenmoleküle überzogen (die apolaren Schwänzchen befinden sich im Fett) und dadurch quasi wasserlöslich: Eine sehr feine Emulsion der Fett- und Öltröpfchen und deren gute Abwaschbarkeit mit Wasser ist die Folge.

394

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

In unserem Darm machen wir uns diese Emulgierwirkung amphiphiler Substanzen auf Fett ebenfalls zunutze: Die negativ geladenen konjugierten Basen der Gallensäuren helfen uns, Fett in Form kleinster Tröpfchen besser resorbieren zu können. Und schließlich sind amphiphile Phospholipide und Sphingolipide und ihre mehr oder weniger kompliziert aufgebauten Derivate die Basis für den Aufbau von Biomembranen. Diese sind im allgemeinen Doppelschichtmembranen: Zwei molekulare Schichten amphiphiler Lipide sind so zusammengelagert, daß die apolaren Schwänzchen zueinander gerichtet sind, die polaren Köpfchen aber einerseits nach außen zur wässrigen Extrazellulärflüssigkeit, andrerseits nach innen zur wässrigen Intrazellulärflüssigkeit (Abb. 36.8.2).

Abb. 36.8.2

Lipid-Doppelschicht

als Zeumemorun

/

Tatsächlich sind diese Membranen noch viel komplexer; die Doppelschicht der amphiphilen Lipidmoleküle ist nur die Basisstruktur, in die viele andere Komponenten (andere Lipide wie etwa Cholesterinester oder Glycolipide, aber auch Proteine) eingelagert sind, die für eine normale Kommunikation der Zelle mit ihrer Umwelt unerläßlich sind.

395

37. Aminosäuren, Peptide und Proteine

37 Aminosäuren, Peptide und Proteine 37.1 Proteinogene L-a-Aminosäuren Aminosäuren sind eigentlich Aminocarbonsäuren: Sie enthalten mindestens eine Aminogruppe und mindestens eine Carboxylgruppe. Wir werden uns praktisch nur mit einem sehr speziellen Typ befassen, den proteinogenen L-a-Aminosäuren. Diese sind die Bausteine der Proteine (Eiweißstoffe), die sowohl wichtige Baumaterialien von Zellen darstellen als auch in Form der Enzyme (Biokatalysatoren) für den reibungslosen Ablauf der verschiedensten biochemischen Reaktionen sorgen. Diese L-a-Aminosäuren (im folgenden kurz "Aminosäuren") besitzen einen sehr einheitlichen Aufbau (Abb. 37.1.1): S

\ / HN V

0

H

C C 1

H

J

R Abb. 37.1.1

Die allgemeine

V

H N-—C ^ 3 1

H

N

V

R Struktur der

L-a-Aminosäuren

In der Fischer-Projektion schreibt man das Ci-Atom mit der Carboxylgruppe oben; bei L-a-Aminosäuren steht dann die Aminogruppe am asymmetrischen C2-Atom (das ist das a - C-Atom, da es der Carboxylgruppe benachbart ist) auf der linken Seite; weiterhin ist an dieses asymmetrische C-Atom noch ein Rest R gebunden. Die natürlichen, proteinogenen Aminosäuren unterscheiden sich voneinander nur in der Art dieses Restes. Die saure Carboxylgruppe überträgt in einer intramolekularen Säure-Base-Reaktion ein Proton auf die basische Aminogruppe; daraus resultiert ein Zwitterion, welches in der Abb. 37.1.1 rechts angeschrieben ist. Es ist nicht mit Sicherheit bekannt, warum die natürlichen proteinogenen Aminosäuren durchwegs die L-Konfiguration besitzen. Wahrscheinlich aber wurde irgendwann in der Phase der Entstehung des Lebens die L-Form gegenüber der enantiomeren (= spiegelbildsymmetrischen) D-Form bevorzugt, vielleicht durch Katalyse an einem ebenfalls asymmetrischen Mineral, welches zufälligerweise mit der LForm der Aminosäure besser in Wechselwirkung treten konnte. Durch den Prozeß der Evolution setzten sich daraufhin die L-Aminosäuren gegenüber ihren D-

396

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

Enantiomeren vollständig durch. Wäre in dieser sensiblen Phase der Entstehung lebender Materie zufälligerweise eine D-Aminosäure begünstigt gewesen, so besäßen heute sicher alle Aminosäuren die D-Konfiguration. Die Klasse der proteinogenen Aminosäuren besitzt 20 Mitglieder; für diese existiert eine Entsprechung in der Familie der Nucleinsäuren (genetischer Code): Je drei aufeinanderfolgende Nucleotide in der DNA codieren für eine der 20 Aminosäuren, und auf diese Weise findet die Abfolge (Sequenz) der Nucleotide eines Abschnitts der DNA {Gen) eine eindeutige Entsprechung in der Sequenz der Aminosäure- Bausteine in einem Protein (Primärstruktur eines Proteins). Mit den Worten von Kapitel 35: Drei Buchstaben in einem Abschnitt des Informationsspeichers DNA (der aufgrund der spezifischen chemischen Struktur der DNA von Generation zu Generation weitergereicht wird) bilden für den komplexen Ablese- und Synthesemechanismus des Lebens praktisch ein Wort (sie bezeichnen eine spezielle Aminosäure), und dieser Mechanismus fügt auf diese Anweisung hin einer gerade wachsenden Kette von Aminosäuren, die zu einem Protein zusammengefügt werden, die richtige, passende Aminosäure hinzu. Die komplizierten Details dieses Apparates bleiben der Biochemie vorbehalten. Im folgenden wollen wir diese proteinogenen Aminosäuren kennenlernen, ihre chemische Struktur und die daraus sich ableitenden Reaktionsweisen verstehen lernen und schließlich sehen, wie aus diesen relativ kleinen und einfach gebauten molekularen Bausteinen die komplexen Makromoleküle der Eiweißstoffe entstehen. Wir unterscheiden vier Klassen von Aminosäuren. In den folgenden Abb. 37.1.2 bis 37.1.5 sind ihre Strukturformeln abgebildet. Unter der jeweiligen Formel steht der Name der Aminosäure (diese Trivialnamen sind absolut gebräuchlich; die rationellen Namen werden praktisch nie verwendet) sowie zwei international übliche Abkürzungen (three-letter-code und one-letter-code), die besonders für die vereinfachte Angabe der Aminosäure-Sequenz (Primärstruktur) von Proteinen sehr wichtig sind. Um die Säure-Base-Eigenschaften der jeweiligen Aminosäure zu charakterisieren, ist (als Zahlenwert) noch ihr isoelektrischer Punkt angeführt; dessen Bedeutung wird weiter unten erläutert. Die erste (und größte) Gruppe enthält Aminosäuren mit neutralen und hydrophoben (apolaren) Seitenketten R (Abb. 37.1.2). Zwei Aminosäuren sind in mancher Hinsicht etwas abweichend vom allgemeinen Bauplan (Abb. 37.1.1): Glycin, die einfachste Aminosäure, besitzt kein asymmetrisches Zentrum; die Angabe L-Glycin oder D-Glycin macht daher keinen Sinn, da nicht zwei Enantiomere der Verbindung isolierbar sind. Prolin, welches eine von den anderen Aminosäuren etwas abweichende Struktur besitzt, kann auch als hydriertes Derivat des Heterocyclus Pyrrol aufgefaßt werden. Trotz seiner aufgrund der cyclischen Form ungewöhnlichen Struktur ist jedoch auch Prolin eindeutig als L-a-Aminosäure zu charakterisieren.

397

37. Aminosäuren, Peptide und Proteine

0.

O

.0

HN

C

H

HN

à

C

H

CH

O.

0.

O.

H3N

C .CH

H

HN *

C

CH3

Isoleucin Ile I 5.98

HC

.0

HN

H

C

H

o.

HN

,0

C

H

>

HC.

h2C'

Leucin Leu L 6.02

Valin Val V 5.96

Alanin Ala A 6.00

Glycin Gly G 5.97

f1 ' /S •i

Methionin Met M 5.74

Phenylalanin Phe F 5.48

O c

I

H2N

\

H2C

V

CH

/

CH2 Prolin Pro P 6.30

Abb. 37.1.2

Aminosäuren mit neutralen und hydrophoben Seitenketten (Name, Abkürzungen, isoelektrischer Punkt)

398

D. Die Chemie spezieller Naturstoffklassen

Die zweite Gruppe aus sechs Aminosäuren umfaßt die Vertreter mit neutralen, jedoch hydrophilen (polaren) Seitenketten. Die erhöhte Polarität dieser Verbindungen wird durch alkoholische oder phenolische Hydroxyl-Gruppen (Serin, Threonin, Tyrosin), die Thiol-Gruppe (Cystein) und die Säureamid-Gruppe (Asparagin, Glutamin) bewirkt (Abb. 37.1.3). o

o H,N

C

H

HC 2 \OH Serin Ser S 5.68

H 3 N-

C I

C H2C

H„N

H

\

SH

Cystein Cys C 5.05

O H,N

C

si1 u—

1

H

N

f 2 i V Asparagin Asn N 4.38

Abb. 37.1.3

Glutamin Gin Q 4.40

Aminosäuren mit neutralen und hydrophilen

Threonin T^ T

6 0 0

Seitenketten

Zwei Aminosäuren besitzen zusätzlich zur obligaten Carboxylgruppe noch eine zweite (Abb. 37.1.4). Sie sind daher wesentlich saurer als die anderen Aminosäuren. Wir könnten sie auch als Aminoderivate der Dicarbonsäuren Bernsteinsäure und Glutarsäure auffassen.

399

37. Aminosäuren, Peptide und Proteine

o H,N

C

x>

H3N

H

C-

sc* u—

/ —

-H

fl 2 er "

V

V

Glutaminsäure Glu E 3.22

Asparaginsäure Asp D 2.77 Abb. 37.1.4

OH

Aminosäuren mit sauren und hydrophilen

Seitenketten

Drei Aminosäuren besitzen basische Seitenketten (Abb. 37.1.5): Eine mit zusätzlicher Amino-Gruppe (Lysin), eine mit der stark basischen Guanidino-Gruppe (Arginin) und eine mit dem basischen Heterocyclus Imidazol (Histidin). O

-c HN

H3N—C—H CH2

p'

AI

4.003

-268.9 • 272.2

Aluminium

IIb

lb

2

lila

5

Villa

39,948

• 165,7 -189.2

Ar Argon (Ne]3s!p*

36

83,80

- 152,3 -156,6

Kr

Cobalt

Nicke!

Kupfer

Zink

Gailium

Germanium

Arsen

Selen

Brom

Krypton

3d'4s>

(Ar]3d*4**

[Ar]3d'°4s'

[ArJ3d'°4s2

[Ar}3d,04sip1

lArßd'Ms^

[Ar)3d,04sip3

(Ar]3d,04s;'p4

[Ar]3d,u4sJp5

{Ar]3d,Q4s?pB

106,4

)2,91

Rh

1.4 3140 1552

Pd

odium

Palladium

4d«5s'

[Kr]4d'°

I92.2

195,1

ir

• 3830 1772

Pt

107,87

Ag

2212 962

Silber (Krl4dw5s' 196,97 1,4 2810 1064

Au

80

Cd

1.5 2080 r,

In

2270 231,9

Sn

Cadmium

Indium

Zinn

(Krl4d'°5s?

[Kr^d'Wp1

(KrI4d"'5sip1

200,59

356,6 -38.9

Hg

207,2 1457 303,5

TI

ridium

Platin

Gold

Quecksilber

Thallium

M"5d'

{Xe]4fu5d*6s'

[Xe)4fu5d1ü6s'

{Xe]4f,45d,c'6si

{Xe]4f145d,&6s?p'

[266)

(269)

(272)

(277)

127,60

121.76

114,82 1,5 765 320,9

1.6 1740 327,5

Pb

[Xe]4f,45d,06s?p;'

1635 630.7

Sb

990 449,5

Bi

Xe

iod

Xenon

[Kr]4d»5a>p"

IKrHd^Ss'ps

[Kr]4d™5s*p*

(210)

(222)

208,98

1560 271.3

• 107 111,9

Tellur

Antimon

83

Te

131,29

126.90 2.2 184.4 113.5

(209)

IS

962 254

2,0

340 300

ffift

61.8 71.2

ra

Bismut

Polonium

Radon

[XeHf'^d'Wp 1

(Xe]4f145d'°6sJp4

(Xe]4f"5dw6sip»

(289)

Elemente 110 - 112 und 114, entdeckt zwischen 1994 - 96 und 1998, sind noch nicht benannt worden.

Im

Eu

tarium

Europium

I4C6SJ

[Xe]4f'6s


100

(257)

101

70

173,04

Tm b Yb

Lu Lutetium

(Xe)4fia6si

|XeJ4'M6s>

[Xel4lu5d'6s-"

(258)

(259)

(260)

- 1.2

-1.2

3315 1656

Ytterbium

Erbium

|Xe)4f"6s! 99 1,2

-1.2

168,93 1.1 2510 1522

Holmium

(Xe]4l,06e2 98

164.93

Dy h Ho Oysprosium

[Xe]4f,6s? 97 - 1.2

1.2

-1340

Tb

1,1 2335 1409

Terbium

[Xe]4F5d'6s? 96

162,50

158,93

157,25 1.0 1597 822

lür

990

onium

Americium

Curium

Berkelium

Californium

Einsteinium

Fermium

Mendelevium

Nobelium

Lawrencium

|5t>7s'

(Rn]5f'7s?

|Rn]5F6d'7s>

[RnJ5f»7s2

IRnJörw

(Rnjöf'W

ÍRn]5fa7s?

[Rn]5f"7s*

(Rn]5f"7s>

[RnJ5f,46d'7s?

P r o t o n e n z a h l e n u n d relative A t o m m a s s e n d e r E l e m e n t e Elementname

Actinium* Aluminium Americium* Antimon Argon Arsen Astat* Barium Berkelium* Beryllium Bismut Blei Bohrium* Bor Brom Cadmium Caesium Calcium Californium* Cer Chlor Chrom Cobalt Curium* Dubnium* Dysprosium Einsteinium* Eisen Erbium Europium Fermium* Fluor Franc ium* Gadolinium Gallium Germanium Gold Hafnium Hassium* Helium Holmium Indium Iod Iridium Kalium Kohlenstoff Krypton Kupfer Lanthan Lawrencium* Lithium Lutetium Magnesium Mangan Meitnerium* Mendelevium* Molybdän Natrium Neodym Neon Neptunium* Nickel

Elementsymbol

Ac Al Am Sb Ar As At Ba Bk Be Bi Pb Bh B Br Cd Cs Ca Cf Ce Cl Cr Co Cm Db Dy Es Fe Er Eu Fm F Fr Gd Ga Ge Au Hf Hs He Ho In I Ir K C Kr Cu La Lr Li Lu Mg Mn Mt Md Mo Na Nd Ne Np Ni

Protonen- Relative zahl Z Atommasse AT 89 13

(277) 26,981539

95

(243)

51

121,757

IS

39,948

33

74,92159

85

(210)

56

137,327

97

(247)

4

9,012182

83

208,98037

82

207.2

107

(262)

5

10,811

35

79,904

48

112.411

55

132,90543

20

40,078

98

(251)

58

140,115

17

35,4527

24

51,9961

27

58,93320

96

(247)

105

(262)

66 99

(252)

26

162,50 55,847

68

167,26

63

151,965

100 9

(257) 18,998403

87

(223)

64

157.25

31 32

69,723 72.61

7')

196,96654

72

178.49

108 2 67

(265) 4,002602 164,93032

49

114,818

53

126,90447

77

192.22

19

6 36

39,0983 12,011 83,80

29

63,546

57

138,9055

103

(260)

3

6,941

71

174,967

12 25 101

(258)

11 10 93 28

Nb No Os Pd P Pt Pu Po Pr Pm Pa Hg Ra Rn Re Rh Rb Ru Rf Sm O Se S Sg Se Ag Si N Sr Ta Te Te Tb TI Th Tm Ti

Protonen- Relative zahl Z Atommasse A¡ 41 102

92,90638 (259)

76

190,23

46

106,42

15

30,973762

(237) 58,6934

Masse Stoffmenge

195,08

elektrische Stromstä

(244)

84

(209)

thermodynamische Temperatur

59

140,90765

61

(145)

91

231,03588

80

200,59

88

(226)

86

(222) Vorsatz

101,07

10>8

Exa

(261)

1015

Peta

10

Tera

186,207

45

102,90550

37 44 104 62 8

Lichtstärke

Multiplikator

75

85,4678

150,36 15.9994

21

44,955910

10"

Giga

16

32,066

106

Mega

KP

Kilo

10-

Hekto

10'

Deka

106 34

(263) 78,96

47

107.8682

14

28,0855

7 38

14,00674 87,62

73

180,9479

43

(98)

52

127,60

65

158,92534

81

204,3833

90

232,0381

69

168,93421

22 92

238,0289

V H W Xe Yb Y Zn Sn Zr

23

50,9415

1 74

Wich Größe

Länge

SI-Einheit

Meter m

47,88

II

Masse

Kilograrr kg

1,00794 183,84

54

131,29

70

173,04

39

88,90585

30

65,38

50

118,710

40

91,224

*Elemente, von denen keine stabilen Nuklide existieren. Eingeklammerte Werte: Nukleonenzahl der Isotope mit der längsten Halbwertszeit.

22,989768 20,1797

Länge Zeit

78

95,94 144,24

Basisgröl

Name

94

54,93805 (266)

60

Niob Nobelium* Osmium Palladium Phosphor Platin Plutonium* Polonium* Praseodym Promethium* Protactinium* Quecksilber Radium* Radon* Rhenium Rhodium Rubidium Ruthenium Rutherfordium* Samarium Sauerstoff Scandium Schwefel Seaborgium* Selen Silber Silicium Stickstoff Strontium Tantal Technetium* Tellur Terbium Thallium Thorium* Thulium Titan Uran* Vanadium Wasserstoff Wolfram Xenon Ytterbium Yttrium Zink Zinn Zirconium

Elementsymbol

24,3050

109 42

Elementname

Protonenzahlen und relative Atommassen der Elemente: Nach IUPAC Commission on Atomic Weights and Isotopie Abundances, Pure Àppi. Chem. 64, 1519 (1992).

l e m p e r a t u r Kelvin K Kraft

Newton N

Druck

Pascal Pa

Arbeit (Energie)

Joule J

Leistung

Watt W

Bequerel Aktivität einer radio--- B q aktiven Substanz Energiedosis

Gray Gy

SI-Basiseinheiten Basisgröße

Zeichen

Stromstärke nische jr

Name

Wichtige physikalische und mathematische Konstanten Basiseinheit

Zeichen

I i m n /

Meter Sekunde Kilogramm Mol Ampere

m s kg mol A

T /v

Kelvin Candela

K cd

Sl-Vorsätze »rsatz

Vorsatzzeichen

Multiplikator

Vorsatz

Vorsatzzeichen

xa sta sra iga lega ilo ekto 'eka

E P T G M k h da

io- 1 1010 1 10 " 10 ' 10 12 10 15 10 18

Dezi Zenti Milli Mikro Nano Piko Femto Atto

d c m H n P f a

Wichtige Umrechnungsfaktoren SI-hinheit

4eter n

Umrechnung (gerundet)

1 inch = 25,40 mm; 1 foot = 30,478 cm 1 yard = 0,9144 m; 1 mile = 1,6093 km 1 Ängström = 10 "' m

Kilogramm 1 ounce = 28,35 g; 1 pound = 0,4536 kg :g 1 atomare Masseneinheit = 1,66057 • 10 27 kg Celvin C

f=T-273,15 K (Celsius-Temperatur t in °C, thermodynamischeTemperatur Tin K)

•Jewton i

1 N = 105 dyn = 0,10197 kp 5

'ascal 'a

1 Pa = 10 bar = 0,987 10" atm = 0,0075 Torr; 1 atm = 1.01325 bar

oule

1 J = 0,2390 cal = 6,242 • 10 l 8 eV = 2.778 • 10 7 kWh; 1 cal = 4.187 J

Vatt V

1 W = 859,8 cal h'1 = 1,35962 • 10 3 PS

Jequerel iq

1 Curie (Ci) = 3,700 • 1010 Bq

jray 5y

1 Rad (rd) = 0,01 Gy

Größe

Symbol

Bohr-Radius üo re Elektronenradius Ruhemasse des Elektrons nie Ruhemasse des Myons rrif. Ruhemasse des Neutrons mn Ruhemasse des Protons mv Massenverhältnis Proton/Elektron mp/me Atommassenkonstante il Elementarladung e Planck- Konstante h Boltzmann-Konstante k Magnetisches Moment Uc des Elektrons Magnetisches Moment des Protons flp Bohr-Magneton flB Kern-Magneton /J, N Feinstrukturkonstante a Rydberg-Konstante Avogadro-Konstante .-VA Lichtgeschwindigkeit im leeren Raum Co Norm fallbeschleunigung gm Gravitationskonstante G Energieäquivalent der Masse Elektrische Feldkonstante So Magnetische Feldkonstante Mo erste PlanckStrahlungskonstante Cl zweite PlanckStrahlungskonstante C2 Stefan-BoltzmannKonstante a Faraday- Konstante F molare Gaskonstante R Normdruck P" Normtemperatur Tn Tripelpunkt von Wasser molares Normvolumen des idealen Gases Vo Pi K e e Umrechnung natürlicher in dekadische Logarithmen

Zahlenwert

Einheit

0,52917706 • 10 2,817938 • 10 15 0,9109534 • 10 '» 1,883566 • 10 28 1,6749543 • IO 27 1,6726485 -10 27

m m kg kg kg kg

1,836152 • IO3 1,6605655 - 1 0 2" 1,6021892 • 10 i" 6.626176 - 1 0 34 1,380662 • IO 23

kg C J s JK'

9,284832 - 1 0

24

J T-'

1,41049 • 10 2" 9,274078 - 1 0 24 5,050824 • 10 27 7,2973506 • 10 3 1,097373177 • 107 6,022045 • 1023

m-' mol

2,99792458 • 10"

ms

9,80665 6,6720 • 10-"

ms 2 Nm 2 kg"2

8,987555 -10'" 8.854185 • 10 12

J kg ! F m1

1,256637 • 10-6

H mr1

3,741832 • 10

Wm2

1,438786 • 10 2

Km

5,67032 • 10 8 9,648456 • 10" 8,31441 1,013250 • 105 273,15 273,16

Wm 2 K 4 ! C mol J mol ' K Pa K K

2,241383 • 10 2 3,14159265 2,7182818

m3mol

In a = 2,3026 lga lg a = 0,4343 Ina

JT ! J T1 JT 1 -

1

1

1