Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren: Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600 [3rd rev. ed.] 9783110667806, 9783110652352

Caravaggio’s paintings are to a great extent vexing, ambiguous and provocative. They deviate from traditional visual pat

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German Pages 488 Year 2021

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort und Dank
Einführung: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren
I. Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes
II. Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild
III. Ironisches Spielen mit Normen. Caravaggios Werke im ‚ öffentlichen‘ Raum
Schluß
Literaturverzeichnis
Namensregister
Verzeichnis der Werke Caravaggios
Bildnachweis
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Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren: Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600 [3rd rev. ed.]
 9783110667806, 9783110652352

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Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren

Valeska von Rosen

Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren Ambiguität, Ironie und Performativität in der Malerei um 1600 Dritte, aktualisierte und erweiterte Auflage

Inhaltsverzeichnis Vorwort und Dank

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Einführung: Caravaggio und die Grenzen des Darstellbaren 13 Eine Analogie von Leben und Werk? 13 Text- versus bildgestützte Diskurse 21 Die Ambiguität und Performativität der Bild in epochaler Perspektive 29 Versuchte Normierungen 36 Verhandlungen über das ‚Darstellbare‘ 40 Veränderungen des ‚Bildwürdigen‘ 45 Anmerkungen zum Sprachgebrauch 51

I Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes 1. Performativität in profanen Gemälden 55 1.1 Caravaggios „Bacchus“ im Atelier: Posen und Rollenspiele eines Knaben 55 1.2 „Bacchus und Trinker“: Bartolommeo Manfredi demaskiert ­Caravaggio 73 1.3 Künstliche Wolken im Olymp: Spadarinos „Brindisi“ und Manfredis „Midas“ 78 1.4 Die Performativität des Bildes. Lebendigkeit und Attitüde 83 1.5 Vorzeichnungsloses ‚Abmalen‘ der Modelle? Caravaggios ‚Fehler‘ 94 1.6 Die Performativität der Wahrnehmung 108

2. Theatrale Mimesis in der Altarmalerei 111 2.1 Fliegende Engel als dei ex macchina in Altarbildern 111 2.2 „Con modo non naturale“: Dramatisches Licht und künstliche Wirklichkeiten 127

3. Performativität in religiösen Gemälden 136

3.1 Verkörperte Theologumena: Caravaggios „Madonna dei ­Palafrenieri“ und Battistello Caracciolos „Immacolata Concezione“ 136 3.2 Eine Heilige in Pose. Caravaggios „Katharina von Alexandrien“ 152 3.3 Die „Hl. Magdalena“ der Sammlung Pamphilj: „mezzo tra il devoto e profano“ 162 3.4 Resümee: Die Performativität der Bilder 167

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Inhaltsverzeichnis

II Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild 1. Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette? ­Antiveduto Grammaticas „Hl. Pudentiana“ und Francesco Furinis „Hl. Lucia“ 173 1.1 Die „Hl. Pudentiana“ von Antiveduto Grammatica in Nantes 173 1.2 Francesco Furinis „Hl. Lucia“ in der römischen Galleria Spada 181 1.3 Namenlose Märtyrerinnen und laszive Glaubenspersonifikationen: Furinis weibliche Heilige in Halbfigur 189

2. Unklare Gesten oder worum wird gespielt? Variationen über zwei petrinische Sujets 199 2.1 Ein ‚Close-up‘ eines Altarbildes: Filippo Vitales „Befreiung Petri“ in Nantes 199 2.2 Mit und ohne Flügel: Antiveduto Grammaticas Variationen der „Befreiung Petri“ 203 2.3 Klärungen und Verunklärungen einer caravaggesken Invention: Die „Verleugnung Petri“ und der „Pensionante del Saraceni“ 207 2.4 Wer spielt? Worum wird gespielt? Würfeln um das Gewand Christi und andere Spielerdarstellungen der ‚Caravaggisten‘ 216

3. Spadarinos und Caravaggios religiöse Sujeterfindungen und ein ­Bildpalimpsest 225 3.1 Häusliche Szenen: „Maria und Anna bei der Handarbeit“ in der Galleria Spada und „Martha und Magdalena“ am ­Schminktisch in Detroit 225 3.2 Jacopo Vignalis „Konzert der hl. Cäcilie“ und die Grenzen des Akzeptablen 230

4. Laszive Sünderinnen und ebensolche Märtyrer: Heftige Affekte und das piacer troppo des Betrachters 235 4.1 Die „Magdalena“ von Guido Cagnacci und die Diskursivierung des erotischen Heiligenbildes seit dem Cinquecento 236 4.2 Objekt der Blicke: der „Hl. Sebastian“ von Carlo Saraceni, Giovanni Baglione und von einem anonymen „Caravaggisten“ in Monticello 252 4.3 Resümee: Zum Gattungsprofil des erotischen Heiligenbildes im Seicento 263

Inhaltsverzeichnis

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5. Caravaggios ‚Ignudo‘ in der Pinacoteca Capitolina und andere Darstellungen Johannes’ des Täufers 270 5.1 Caravaggios nackter „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina: Hirte oder Heiliger? 271 5.2 Die Sprache der Inventare und die ‚Sprache‘ der Bilder 278 5.3 „Vn’ ignudo di S. Gio. Battista“: Caravaggios übrige TäuferDarstellungen 282 5.4 Bedeutungsspiele: Ambiguität und der diletto des Betrachters 288 5.5 Hirten- oder Kreuzstäbe? Die Johannes-Darstellungen der ­‚Caravaggisten‘ 291 5.6 Voraussetzungen der Ambiguität: Leonardos „Johannes-Bacchus“ in seinem Kontext 299 5.7 Posen eines ‚Michelangelo-Knaben‘ 304

6. Die Waffen des Liebesgotts und die Arma Christi – Cupidi und ­Christuskinder im Schlaf: Transformationen einer Figur 309 6.1 Ceccos „Bambino Gesù“ in Budapest und die Nacktheit des ­Christuskindes 309 6.2 Die Erfindung des Sujets und das Durchspielen der Analogien: Der Bambino Gesù und der Cupido dormiente 312 6.3 Spielformen der Ambiguität: Heranwachsende Cupidi und ­ ebensolche Christuskinder 322 6.4 Zwischen antiker Mythologie und christlicher Heilsgeschichte: ­ Schlafende Kinder und ein weiterer Bildpalimpsest 328 6.5 „L’invito al bambino“: Parallele Phänomene in der ­ zeitgenössischen sakralen Lyrik 333

7. Resümee: Zum Gattungsprofil des religiösen Sammlerbildes um 1600 337

III Ironisches Spielen mit Normen. Caravaggios Werke im ­‚öffentlichen‘ Raum Avantpropos: Voraussetzungen eines Auftrags an Caravaggio. Die Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi 363 1. Verschobene Peripetien und dunkle Handlungen in Caravaggios ersten storie für einen sakralen Raum: die Seitenbilder der ­Contarelli-Kapelle 369 1.1 Die amphibolia der Erzählung in der „Berufung Matthäi“ und die ambivalenten Reaktionen der ‚Caravaggisten‘ 369

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Inhaltsverzeichnis

1.2 Ironisierung der perspicuitas in der Dunkelheit des „­MatthäusMartyriums“ 389

2. Dekorum und Ironie im Matthäus-Altarbild für die Contarelli-Kapelle 400 2.1 „Un uomo dozzinalissimo e plebeo“: noch einmal zum Dekorum des„Matthäus-Giustiniani“ 402 2.2 „Gran schiamazzi“: Caravaggios Selbststilisierung 418 2.3 Ambivalenzen einer Kategorie 422 2.4 Ironische Imitationen: Caravaggio, Raffael und der Cavalier d’Arpino 428

Schluß 441 Literaturverzeichnis 445 Namensregister 475 Verzeichnis der Werke Caravaggios 481 Bildnachweis 483

Inhaltsverzeichnis

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Vorwort und Dank Am Anfang meiner Beschäftigung mit Caravaggio und den „Caravaggisten“ standen eine Reihe von Fragen: Wie lassen sich die unkonventionellen Aspekte der Gemälde Caravaggios analytisch fassen, ohne dabei auf das Denkmuster vom prämodernen, regelzerstörenden „Genie“ zurückzugreifen? Wie sind seine Werke überhaupt in der Bildkultur seiner Zeit zu verorten? Erschöpfte sich die Leistung der – so unbefriedigend als „Caravaggisten“ bezeichneten – Maler seines Umfelds tatsächlich darauf, das subversive Potential seiner Bilder zu nivellieren, oder gab es auch konzeptionelle Zuspitzungen seiner Strategeme? Welches Betrachterverhalten konditionierten Werke wie der „JohannesKnabe“ in der römischen Pinacoteca Capitolina, und was war überhaupt die adäquate Rezeptionshaltung vor religiösen Bildern in Sammlungsräumen? Und schließlich: Worin bestehen die epochalen Voraussetzungen der Phänomene des Ambiguen, Ironischen und Performativen – gerade in einer Zeit, in der mehr als je zuvor versucht wurde, die religiöse Bildsprache zu regeln? Daß ich diesen Fragen mit Konzentration und in Breite nachgehen konnte, verdanke ich drei Institutionen: der Bibliotheca Hertziana, die mir ein Forschungsstipendium gewährte, das mir die Materialsammlung vor Ort ermöglichte, dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, in dessen luxuriöser Abgeschiedenheit ich in engem Austausch mit Kollegen ganz anderer Disziplinen das Erarbeitete überdenken konnte, und schließlich der Gerda Henkel Stiftung, die mir zum richtigen Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Niederschrift des Textes bot und überdies einen großzügigen Druckkostenzuschuß für die Publikation zur Verfügung stellte. Allen beteiligten Personen in diesen Institutionen, in Rom Sybille Ebert-Schifferer und Elisabeth Kieven, in Berlin Dieter Grimm, Luca Giuliani und Joachim Nettelbeck und in Düsseldorf Michael Hanssler und Angela Kühnen gilt mein sehr herzlicher Dank. Die vierte beteiligte Institution, die Fakultät für Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin, hat das Manuskript als Habilitationsschrift angenommen. Klaus Krüger und Werner Busch haben mich äußerst fair und hilfsbereit durch das Verfahren geleitet und mir ebenso wie Horst Bredekamp höchst wertvolle Hinweise für die Überarbeitung gegeben. Von zwei Personen habe ich mehr gelernt als ich es durch das Zitieren ihrer Schriften an den jeweiligen Stellen zum Ausdruck bringen kann: Von Rudolf Preimesberger, der in magistralen Aufsätzen das Prinzip der „kunstlosen Kunst“ für Caravaggio fruchtbar gemacht hat, auf dem meine Überlegungen zu Caravaggio basieren, und von Bernhard Jussen. Seine Ausführungen zur historischen Semantik und seine wissenschaftliche curiositas an Bildern waren

Vorwort und Dank

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der Ansporn, mich am Zimmern eines methodischen Rahmens für die Auslotungen des Darstellbaren in der Bildkultur um 1600 zu versuchen. Vielen weiteren Kollegen und Freunden bin ich für Hinweise, Diskussio­nen ­ ernstorff, Costanza und konkrete Hilfen dankbar: Thomas Bauer, Marieke von B Caraffa, Maurizia Cicconi, Beate Fricke, Claudia Gerken, Sergio Guarino, Thomas Hauschild, Philine Helas, Andreas Kablitz, Martin Kaltenecker, Margit Kern, Julian Kliemann, Christiane Kruse, Ekkehard Mai, Golo Maurer, Cecilia Mazzetti, Alexander Perrig, Manfred Pfister, Rhoda Eitel Porter, Wolfgang Prohaska, Ulrich Raulff, Klaus Reichert, Georg Schelbert, Katharina Schüppel, Lothar Sickel, Beate Söntgen, Christoph Thoenes und Gerhard Wolf, außerdem Roswitha Wisniewski sowie Josefa und Reinhold von Rosen. Essentiell war die Unterstützung, welche die Bibliotheken in Rom und in Berlin leisteten. FritzEugen Keller und Gesine Bottomley sei stellvertretend für alle Mitarbeiter der Hertziana und des Wiko wärmstens gedankt. Annette Hojer hat freundlicherweise einen großen Teil der Übersetzungen aus dem Italienischen hergestellt; etwaige Fehler oder Ungenauigkeiten habe jedoch allein ich zu verantworten. Wanda Löwe hat mit Präzision und großem Einsatz Korrektur gelesen. Das Manuskript wurde im Sommer 2005 fertiggestellt und im Winter 2006/07 überarbeitet. Danach erschienene Literatur konnte leider nur noch punktuell eingearbeitet werden. Meine Bochumer Mitarbeiter, Britta Hochkirchen, Barbara Thönnes, Dennis Hübner und Katharina Busch haben mit großer Sorgfalt und Hilfsbereitschaft die Umwandlung eines Manuskripts in ein Buch mit Abbildungen unterstützt. Seitens des Akademie Verlags hat Katja Richter das Buch mit hohem Einsatz betreut. Daß ein Band mit Gemälden, die oft unauffindbar in Privatsammlungen verborgen sind, partiell nur äußerst unbefriedigend zu bebildern ist, ist am Schluß meine etwas zerknirschte Einsicht. Hellmudt Schulz hat mit nie nachlassender Geduld und Freundlichkeit gegenüber der Autorin die Umbrüche erstellt und das Mögliche aus leider mitunter miserablen Vorlagen herausgeholt. Allen gilt mein herzlichster Dank. Mein Mann, Philipp von Rosen, kennt seinen Anteil am Entstehen des Buches. Ich möchte ihn nach der liebevollen und stützenden Begleitung durch so viele gemeinsame Jahre nicht in Worte fassen. Meine Eltern, Elke und Edgar Wisniewski, nahmen seit einer Seminararbeit über die Contarelli-Kapelle, die ich im Winter 1990 an der LMU München schrieb und die am Weihnachtstisch heftige Diskussionen über die Identität des Protagonisten in der „Berufung Matthäi“ auslöste, regen Anteil am Thema und hatten die wunderbare Idee, die Gespräche auf Malta und Sizilien fortzuführen. Meine Mutter hat das erste Manuskript dieser Arbeit noch Korrektur gelesen, das Erscheinen des Buches erleben beide nicht mehr. Ihrem Andenken ist es gewidmet. Köln, Ostern 2009

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Vorwort und Dank

Vorwort zur dritten Auflage: Die breite Aufmerksamkeit, die die „Caravaggisten“ in den Jahren seit der Drucklegung der beiden letzten Auflagen dieses Buches erfahren haben, erleichtert auch die Zugänglichkeit gut reproduzierbarer Druckvorlagen. Für die nun vorliegende dritte Auflage habe ich mir selbst den Wunsch erfüllt, den Text mit weitgehend farbigen Abbildungen auszustatten. Am Text konnte ich nur dort Korrekturen vornehmen, wo sie den Verbleib oder Zuschreibungen der Gemälde betrafen. Außerdem habe ich Fehler und einige sprachliche Unebenheiten verbessert, aber keine inhaltlichen Veränderungen vorgenommen. Ohne die unermüdliche Unterstützung von Anna Magnago Lampugnani und Linda Marie Kuhnhen in Düsseldorf sowie die Vorarbeiten durch Clara Stolz in Bochum hätte ich die Neubebilderung des Manuskripts niemals bewältigen können. Ihnen gilt mein großer Dank. Köln, Ostern 2021

Vorwort und Dank

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Einführung: Caravaggio und die Grenzen des ­Darstellbaren Eine Analogie von Leben und Werk? Ein splitternackter „Johannes“ mit Widder, der suggeriert, er sei vielleicht doch nur ein gewöhnlicher Hirte (Abb. 1), ein zum Apostel berufener Zöllner Levi, über dessen Identität im Bild sich streiten läßt (Abb. 2), eine vor uns ­posierende

1 Caravaggio, ­Johannes der Täufer, Rom, ­Kapitolinische Museen

Caravaggio und die Grenzen des ­Darstellbaren

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2 Caravaggio, Berufung Matthäi, Rom, S. Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli

„Heilige Katharina“ mit langem Degen, der nicht ihr Marterinstru­ment gewesen sein kann (Abb. 3) und deren Ähnlichkeit mit einer stadtbekannten Dame zweifelhaften Rufs für zeitgenössische Bildbetrachter unverkennbar war –1 Caravaggios Gemälde verfügen über ein hohes Potential an Irritierendem und Uneindeutigem. Sie unterlaufen tradierte Lesarten, erzeugen widersprüchliche Bedeutungen, und unklare Gesten erschweren die Bestimmung der Handlungsrollen der Bildfiguren. In den großen Seitengemälden für die ContarelliKapelle entbehren die Narrationen der Evidenz; forcierte und unter realistischen Vorzeichen nicht plausible Ausleuchtungen der Räume verunklären die figürlichen Arrangements, und im „Marientod“ (Abb. 4) provozieren unangemessene Gestaltungsweisen ebensolche Assoziationen bei ihren Betrachtern. Kaum etwas an Caravaggios Werken entspricht dem, was seine Zeitgenossen zu sehen gewohnt waren: Die scharfen Hell-Dunkel-Kontraste und die Art und Weise, wie die Figuren in die Bildräume gesetzt sind, sind äußerst ungewöhnlich; die Lebensähnlichkeit seiner Modelle und die durch das starke malerische rilievo der Figuren erzeugte Sinnlichkeit der unbekleideten Figuren wie 1 „Johannes der Täufer“, Rom, Pinacoteca Capitolina (s. Kap. II.5.1); „Berufung des hl. ­Matthäus“, Rom, San Luigi dei Francesi (siehe Kap. III.1.1.); „Katharina von Alexandrien“, ­Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza (siehe Kap. I.3.2.).

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Einführung

3 Caravaggio, Katharina von Alexandrien, Madrid, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza

der des „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina von ungekannter Intensität. Caravaggio begründete Bildgattungen, verstieß gegen Normen und Gestaltungskonventionen – kurz: Seine Gemälde weichen in hohem Maße von der Bildsprache seiner Zeit ab und zeichnen sich durch eine auf mehreren Ebenen wirksame Alterität, ‚Originalität‘2 und Unkonventionalität aus. Die Reaktionen seines Publikums fielen entsprechend aus. Die erhaltenen Textquellen, die – wenn auch bedingt – das Kunstgespräch der Zeit spiegeln, berichten direkt und indirekt von höchst kontroversen Reaktionen auf die Werke, deren Enthüllung häufig von „rumore“ und „gran schiamazzi“ begleitet war.3 So wurden bekanntlich mehrere seiner Altarbilder von den zuständigen 2  Ich setze den Begriff in Anführungsstriche, um den Unterschied zum Originalitätsbegriff der Genieästhetik zu markieren. 3  Von „rumore“ und „gran schiamazzi“ infolge von Caravaggios erster Kapellenausstattung in San Luigi dei Francesi berichtet Caravaggios Zeitgenosse Giovanni Baglione, der dem Maler Federico Zuccari die Worte „Che rumore è questo …“ in den Mund legt (Giovanni Baglione, Le vite de’ pittori, scultori et architetti. Dal Pontificato di Gregorio XIII. del 1572. In fino a’tempi di Papa Urbano Ottavo nel 1642, Rom 1642, Faksimile-Edition, hg. v. V. Mariani, Rom 1935, S. 137). Auch die Werke in der Sammlung von Ciriaco Mattei, wie den „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina, bringt er mit „romore“ [sic! Baglione verwendet „rumore“ und „romore“] in Verbindung: „Anzi fe cadere al romore anche il Signor Ciriaco Matthei, a cui il Carauaggio hauea dipinto vn s. Gio, Battista, e quando N. Signore andò in Emaus, & all’hora

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4 Caravaggio, Marientod, Paris, Musée du Louvre

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Einführung

Kongregationen und Priesterschaften scharf kritisiert und abgelehnt. Gleichzeitig verfügte Caravaggio aber über einen illustren Kreis von Sammlern und Förderern in Rom und den Orten seiner durch äußere Umstände erzwungenen Reisen, die sich nicht nur um seine Galeriebilder förmlich gerissen, sondern auch die abgelehnten Altarbilder gern für ihre Sammlungen übernommen haben. Daß Caravaggio unkonventionell arbeitete, weil er so veranlagt war und auch so lebte, ist ein verblüffend einfaches und darum durch die ältere Forschung so beharrlich perpetuiertes Denkmuster, das gleichwohl unter strukturellen Gesichtspunkten wenig hilfreich ist.4 Selbstverständlich lassen sich Werk und Leben bei einem Künstler nicht gänzlich trennen, doch die Annahme einer vorschnellen Kausalität ließ alle weiteren und weiterreichenden Bedingungen seiner Praxis beiseite. Denn Caravaggios Werke ‚erklären‘ sich nicht aus der postulierten Besonderheit seines Charakters und Lebens – zumal wir hierbei ohnehin Gefahr laufen, einem Zirkelschluß zu unterliegen und die ‚Schwärze‘ seiner Seele aus der seiner Bilder herauszulesen. Die in den Schriftquellen dokumentierten Ereignisse in seinem privaten Leben (Mord oder Totschlag infolge eines eskalierten Glücksspiels mit Freunden, Inhaftierungen infolge unerlaubten Tragens eines Degens und Beleidigungen)5 lassen auf ein besonderes Temperament mit Hang zur Brutalität, zu Ausbrüchen von Jähzorn und mangelhafter Selbstbeherrschung schließen. Diese Eigenheiten, die im übrigen che s. Thomasso toccò co’l dito il costato del Saluadore; & intaccò quel di molte centinaia di scudi“ (Ebd.). 4  Idealtypisch formuliert dies Christoph L. Frommel 1971: „Provozierend wirkten sein Leben, seine Aussprüche und Bilder schon auf die Zeitgenossen. […] wo er in der Öffentlichkeit auf Ablehnung stößt, versucht er es ein zweites Mal. Doch er malt nur solche Themen, die er im ganz persönlichen Sinne umdeuten kann. Und diese persönliche Umdeutung ist nur möglich, weil es ihm gelingt, elementare Erfahrungen seiner eigenen Existenz unmittelbar für seine Kunst fruchtbar werden zu lassen, weil er seine Kunst lebt und sein Leben zu Kunst macht.“ Christoph Luitpold Frommel, Caravaggio und seine Modelle, in: Castrum peregrini 96 (1971), S. 21–56, hier 21 und 54 (Hervorh. V.v.R.); vgl. auch ebd. S. 21: „[…] wir haben in Caravaggios Werken eine seltsame Wechselwirkung zwischen Leben und Kunst entdeckt, eine existentielle Lebensfülle, die uns Heutigen wichtiger geworden ist als Pathos und Formel […]. Im Folgenden soll versucht werden, dieses Wechselverhältnis am Bildgegenstand einiger ausgesuchter Werke zu veranschaulichen“ (ebd., S. 21 f.). Auch Howard Hibbards psychoanalytische Überlegungen, denen zufolge der Maler seine Schuldgefühle im Kunstschaffen kompensierte, stehen in dieser Denktradition (Howard Hibbard, Caravaggio, New York 1983, S. 259 f.). Dagegen argumentiert z. B. Carrier, vgl. David Carrier, The Transfiguration of a Commonplace. Caravaggio and His Interpreters, in: Word & Image 3 (1987), S. 41–73, hier 43. 5  Für alle diesbezüglichen Dokumente siehe Stefania Macioce, Michelangelo Merisi da Caravaggio: fonti e documenti 1532–1724, unter Mitarbeit v. Antonella Lippi, Rom 2003, bes. Nr. I Doc 71, S. 70, I Doc 115, S. 105, I Doc 160, S. 138 (Caravaggio wirft einem Kellner einen Teller mit Artischocken ins Gesicht), I Doc 167, S. 140 f., I Doc 175, S. 147–150, II Doc 234, S. 180, II Doc 273, S. 195; siehe aber auch das Dok. I 96, S. 92–95, aus dem hervorgeht, daß das Tragen des Degens bei Künstlern in Caravaggios Umfeld durchaus üblich war.

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eine ganze Reihe weiterer Künstler in der Frühen Neuzeit mit ihm teilten, werden ihm aber kaum bestimmte Themen oder Darstellungsweisen auf den Leib geschrieben haben.6 Die Behauptung einer Kausalität von Leben und Werk wird zudem problematischer, vergegenwärtigt man sich die große Bildproduktion der Maler seiner Nachfolge, die zumindest teilweise ihrem Vorbild Caravaggio hinsichtlich ihrer Unkonventionalität in wenigem nachstanden – eine Erklärung auch ihrer Bildsprache aus der psychischen Disposition der einzelnen Künstler dürfte sich hier von selbst verbieten und zeigt folglich die Problematik solcher Erklärungsmuster auf. Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten damit begonnen, sich des historischen Orts und ideengeschichtlichen Stellenwerts ihrer Vorannahmen zu vergewissern. Dabei erkannte sie in der Rückprojektion der in der (post)romantischen Genie- und Ausdrucksästhetik wurzelnden Leben-Werk-Analogie auf Künstler früherer Zeiten ein methodisches Problem.7 Es verstärkte sich durch die zunehmende Erkenntnis der Bedeutung des self-fashioning der Künstler in der Frühen Neuzeit und ihrer Selbstdarstellungs- und Maskierungspraktiken, die uns ohnehin der Illusion, über die künstlerische Produktion einen unverstellten Blick auf das Wesen des jeweiligen Künstlers zu erhalten, berauben. Die Versuche der jüngeren Forschung, die Alterität und novitas von Caravaggios Bildern zumindest partiell zu nivellieren, indem sie die stilistischen Parallelen zwischen seinen Werken und der oberitalienischen, speziell der lombardischen Malerei nachwies, waren vor dieser Folie – also der methodisch schwierigen Beschreib- und Interpretierbarkeit der Unkonventionalität – nachvollziehbar, sie führten aber nicht zum gewünschten Resultat. Tatsächlich lassen sich für viele stilistische und konzeptuelle Charakteristika der Gemälde Caravaggios, wie die Hell-Dunkel-Malerei und das Interesse an niederen Bildgattungen, die Voraussetzungen in der oberitalienischen Malerei finden. Wie aber ebenfalls längst beobachtet wurde, überwiegen die Unterschiede und nicht die Gemeinsamkeiten.8 Erklären läßt sich auf diese Weise weder das forciert unkonventionelle als auch das von der Forschung immer vermerkte, aber nie

6  Ein damit verknüpftes Thema ist die postulierte Homosexualität des Malers; siehe dazu Kap. 1, S. 60 und Anm. 12. 7  Besonders explizit: Klaus W. Hempfer, Shakespeares Sonnets: Inszenierte Alterität und Diskurstypenspiel, in: Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven, hg. v. Dieter Mehl, Münster 1993, S. 168–205, wiederabgedruckt in: Ders., Grundlagen der Textinterpretation, hg. v. Stefan Hartung, Stuttgart 2002, S. 157–183, hier 157. 8 Mit Bezug auf die Farbbehandlung z. B. von Janis C. Bell, Some Seventeenth-Century ­Appraisals of Caravaggio’s Coloring, in: Artibus et historiae 14 (1993), Nr. 27, S. 103–130, bes. S. 103–106; dies., Light and Color in Caravaggio’s Supper in Emmaus, in: Artibus et historiae 16 (1995), Nr. 31, S. 139–170.

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Einführung

als intellektuelles Strategem analytisch erfaßte und als „ambig“9 bezeichnete Potential seiner Bilder. Es manifestiert sich allein in dem Umstand, daß von Caravaggios fünf römischen Altarbildern drei von den zuständigen Kongregationen bzw. Priesterschaften nicht behalten wurden; möglicherweise gab es ein sechstes, das dasselbe Schicksal ereilte.10 In allen Fällen waren, wie die ältere Forschung, gestützt auf Berichte und Indizien, stets argumentiert hat, mit einiger Wahrscheinlichkeit die bemängelte Angemessenheit der Ausdruckssprache und die Verstöße gegen das Dekorum von Figur und Darstellung die ausschlaggebenden Gründe. Die in der jüngeren Forschung geäußerten Zweifel an den Berichten über die Zurückweisung der Werke aufgrund mangelhaften Dekorums sind ein nachvollziehbarer Versuch, dem Dilemma der Beschreibbarkeit von Unkonventionalität nach dem Ende der Gültigkeit des LebenWerk-Paradigmas samt der Vorstellung vom prämodernen ‚Regelzerstörer‘ zu entgehen. Die entsprechenden Argumentationen und Konjekturen halten aber, wie zu zeigen sein wird, einer kritischen Überprüfung nicht stand.11 Zu viele Fakten deuten darauf hin, daß Caravaggios Werke bei ihrer Enthüllung tatsächlich jenen „rumore“ ausgelöst haben, von dem mehrere Quellen und indirekt auch die spätere Bildproduktion der ‚Caravaggisten‘ sprechen, und daß Caravaggio dies mehr als nur in Kauf nahm: Wenn er die Betrachter seines ersten Altarbildes für die Contarelli-Kapelle mit einem Apostelevangelisten konfrontiert, der des Schreibens unkundig erscheint und hierfür die Hilfe eines reizvoll entblößten Engels in Anspruch nehmen muß (Abb. 5), wenn er in der „Katharina von Alexandrien“ (Abb. 3) eine Märtyrerin, deren tradierte Darstellung den Zeitgenossen bekannt war, in forcierter Pose auf einem großen Kissen mit ‚falschem’ Martyriumswerkzeug und einem vertrockneten Palmzweig posieren läßt, und wenn sein (verlorenes) Trinitäts-Gemälde – wahrscheinlich handelt es sich um sein sechstes, ebenfalls abgelehntes römisches Altarbild – sogar einen nüchternen Inventar-Verfasser zu einer ungewöhn­lichen Beschreibung veranlaßt:

9  Eine Ausnahme bildet der Germanist Peter Burgard in seinem Artikel: The Art of Dissimulation: Caravaggio’s „Calling of St. Matthew“, in: Pantheon 56 (1998), S. 95–102, der mit Bezug auf die vieldiskutierte Unklarheit des Protagonisten Matthäus in der „Berufung Matthäi“ in der Contarelli-Kapelle von einem Kalkül des Malers ausgeht. Dabei deutet er eine weitere Perspektive des Phänomens an, wenn er über das Gemälde schreibt, es „participates in an eminently Baroque performance of tension and fundamental ambiguity“ (ebd., S. 95). 10 Es handelt sich um das Altarbild für die Contarelli-Kapelle in San Luigi dei Francesi (ehem. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum), den „Marientod“ (Paris, Musée du Louvre) und die „Madonna dei Palafrenieri“ (Rom, Galleria Borghese). Siehe hierzu Kap. III.2.1 und III.2.2. Für das mögliche sechste Altarbild siehe S. 36, 148, 400, 401. 11  Siehe Kap. III.2.2; ich beziehe mich vor allem auf die entsprechenden Versuche von Luigi Spezzaferro und Creighton Gilbert.

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5 Caravaggio, Matthäus und Engel (Kriegsverlust), ehem. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum

„un quadro d’un vecchio e d’un giovane, con una colomba sotto […] capriccio del Caravaggio, col quale ha voluto esprimere la Trinità“, „ein Gemälde mit einem Alten und einem Jungen und einer Taube darunter […], ein capriccio Caravaggios, mit dem er die Trinität hat ausdrücken wollen“,12 12  Zitiert nach Mia Cinotti, Michelangelo Merisi detto il Caravaggio: tutte le opere. Saggio cri-

tico di Gian Alberto Dell’ Acqua, Bergamo 1983 (Hervorh. V.v.R.); siehe hierfür Kap. III.2.2.

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Einführung

6 Lucio Massari, Matthäus und der Engel, Rom, S. Maria della Concezione

zeigt sich sehr deutlich seine Absicht, gezielt auszutesten, was sich mit den Normen und Vorstellungen seiner Zeit vereinbaren ließ und die Grenzen des Darstellbaren und Akzeptablen potentiell zu überschreiten.13

Text- versus bildgestützte Diskurse Das Potential, das in dieser offenkundigen methodischen Aporie liegt, bildete den Ausgangspunkt dieser Arbeit und ging einher mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Entwicklung neuer Erklärungsmodelle. Aber wie lassen 13  Eine analoge Formulierung bezüglich der ‚Grenzen‘ des Gebotenen findet sich bei Arme-

nini: „[…] poiché ci sono opere in alcune chiese, dipinte da’ buoni, altrimenti celebri, le quaei passano il segno veramente dell’onestà e del decoro“ (Giovan Battista Armenini, De’ veri precetti della pittura [Ravenna 1586], Buch 1ii, Kap. 5, hg. v. Marina Gorreri, Turin 1988, S. 190).

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sich Formen offensichtlich gezielter Unkonventionalität und intendierter Ambiguität in der Kunst der Frühen Neuzeit analysieren, ohne das unterkomplexe Denkmuster eines Malers, in dessen Bildern sich einerseits Modernität und anderseits ein ungestümes Wesen manifestiere, fortzuschreiben? Meine nachfolgenden Überlegungen sollen in diesem Sinne einen Versuch darstellen, ­egularien Normentransgression und Unkonventionalität in einem auf R be­ruhenden künstlerischen System zu beschreiben, mit dem sich Caravaggios Innovationspotential methodisch plausibel erklären läßt. Dabei zeichnete sich im Hinblick auf die Forschungsentwicklung der vergangenen Jahrzehnte rasch ab, daß die hierfür notwendige historische Kontextualisierung und Diskursivierung der Bilder nicht mehr vorrangig textgestützt zu leisten ist, gibt es doch kaum eine Bemerkung in der Kunsttheorie des Seicento über Caravaggio, die nicht bereits Gegenstand intensivster Ausdeutung unter verschiedenen Vor­zeichen gewesen ist. Was sie zutage brachten, sind überwiegend Perpetuierungen und nur gelegentlich signifikante Variationen des Denk­musters über einen Maler, der ausschließlich die ihn umgebende Wirklichkeit als Modell nahm und so auf die Orientierung an der Antike und Hochrenaissance verzichtete. Daß Caravaggios Bilder ungleich komplexer strukturiert sind, hat die Forschung längst zeigen können. So haben – ich fasse äußerst verkürzt zusammen – Walter Friedländer und Howard Hibbard Caravaggios Vertrautheit speziell mit der oberitalienischen Bildtradition herausgearbeitet,14 Luigi Salerno, Kristina Herrmann Fiore und Anthony Colantuono seine Verortung in den Dichter- und Intellektuellenkreisen Roms nachgewiesen,15 Lynn Federle Orr Caravaggios Bezugnahmen auf die Antike rekonstruiert und Rudolf Preimesberger den ambitionierten Modus seiner Rekurse auf M ­ ichelangelos Werke vor Augen geführt;16 darüber hinaus wurden inzwischen seine spezifischen Bezugnahmen auf die Natur, sei es durch Einsatz der Farbe und des Bildlichts, sei es durch die Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten seines Mediums, wesentlich differenzierter analysiert.17 14  Walter Friedländer, Caravaggio Studies, Princeton 1955; Hibbard, Caravaggio 1983. 15  Luigi Salerno, Caravaggio e la cultura nel suo tempo, in: Novità 1975, S. 17–27; ders., Dun-

can T. Kinkead & William H. Wilson, Poesia e simboli nel Caravaggio, in: Palatino 10 (1966), S. 106–112; Kristina Herrmann Fiore, Il Bacchino malato autoritratto del Caravaggio ed altre figure bacchiche degli artisti, in: Quaderni di Palazzo Venezia 6 (1989), S. 95–134; Anthony Colantuono, Caravaggio’s Literary Culture, in: Caravaggio. Realism, Rebellion 2006, S. 57–68; auch Adrienne von Lates, Caravaggio’s Peaches and Academic Puns, in: Word & Image 11 (1995), S. 55–60. 16  Rudolf Preimesberger, Michelangelo da Caravaggio – Caravaggio da Michelangelo. Zum „Amor“ der Berliner Gemäldegalerie, in: Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, hg. v. Valeska v. Rosen, Klaus Krüger & dems., München/Berlin 2003, S. 243–260. 17  Auch hier kann ich nur wenige, mir für die Revision des ‚Caravaggio-Bildes‘ der Forschung besonders wichtig erscheinende Titel nennen: Bell, Light and Color 1995; Andreas Prater, Licht und Farbe bei Caravaggio: Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldunkels,

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Einführung

Daß für die Beantwortung der Frage, wie die Zeitgenossen Caravaggios Bilder konkret wahrnahmen und auf sie reagierten, die Rekonstruktion eines bildgestützten Diskurses weiterführen könnte und möglicherweise sogar höheres heuristisches Potential als ein textgestützter Diskurs bürge, war meine Ausgangshypothese.18 Bekanntlich existiert in den Werken der oft als ‚Caravaggisten‘ bezeichneten Maler der ersten Jahrzehnte des Seicento eine überaus reiche Bildproduktion, deren Eigenschaft, sich mitunter sehr konkret zu Caravaggios Bildern zu verhalten, noch viel zu geringe Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Überhaupt ist dieser Teil der Bildproduktion trotz der wichtigen Grundlagenarbeiten von Benedict Nicolson und Alfred Moir außerhalb der Spezialforschung nach wie vor nur rudimentär bekannt19 und vor allem theoretisch noch kaum erschlossen.20 Wie also reagierten die Maler, die mit dem in methodischer Hinsicht problematischen Begriff ‚Caravaggisten‘ belegt wurden, auf Caravaggios Werke? Wie rezipierten sie sie, wie verarbeiteten sie deren Ambivalenzen und Neuerungen und glichen sie mit ihren eigenen Vorstellungen von dem, was in verschiedenen Kontexten darstellbar war, ab? Rekonstruiert man diese Prozesse, offenbart sich in der Malerei der ersten Stuttgart 1992; Elizabeth Cropper, „The Petrifying Art“: Marino’s Poetry and Caravaggio, in: Metropolitan Museum Journal 26 (1991), S. 193–212; Klaus Krüger, Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien, München 2001, S. 243–279. 18 Für eine entsprechende Ausweitung des Diskursbegriffs siehe meine Einleitung: „Der stumme Diskurs der Bilder“. Einleitende Überlegungen, in: Der stumme Diskurs der Bilder 2003, S. 9–16 (mit weiterer Literatur). 19  Benedict Nicolson, Caravaggism in Europe, hg. u. überarb. v. Luisa Vertova, 3 Bände, Turin 1990; Alfred Moir, The Italian Followers of Caravaggio, Cambridge (MA) 1967; ders., Caravaggio and His Copyists, New York 1976. 20  Ein Überblick über die entsprechende Literatur kann nicht gegeben werden, ich ver­weise nur auf einige Titel, die Diskussionen über die Frage, was ‚Caravaggismus‘ ist und inwieweit das Konzept heuristisch trägt, enthalten oder angestoßen haben: Arthur von ­Schneider, ­Caravaggio ­ ollowers (Ausst.und die Niederländer, Marburg 1933; Richard E. Spear, Caravaggio and His F Kat. Cleveland Museum of Art 1971), Cleveland (OH) 1971; Evelina Borea, Considerazioni sulla mostra „Caravaggio e i suoi seguaci a Cleveland“, in: Bollettino d’arte 57 (1972), S. 154– 164; Margot Klütsch, Caravaggio und die französische Malerei des 17. Jahrhunderts, Diss. Univers. Köln 1974; Holländische Malerei in neuem Licht. Hendrick ter Brugghen und seine Zeitgenossen (Ausst.-Kat. Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum/Utrecht, Centraal Museum 1986/87), hg. v. Albert Blankert & Leonard J. Slatkes, Braunschweig 1986; Caterina Volpi, La pittura a Napoli a metà del Seicento tra influenze caravaggesche e neovenetismo: da Caravaggio a Salvator Rosa, in: Caravaggio e il caravaggismo, hg. v. Giovanna C ­ apitelli u. a., Rom 1995, S. 207–219; Giovanna Capitelli, „Caravaggesco“ o „naturalista“?: breve itinerario all’interno di una categoria storiografico-critica, in: ebd., S. 73–85; Judith W. Mann, Caravaggio and Artemisia. Testing the Limits of Caravaggism, in: Studies of Iconography 18 (1998), S. 161– 185; Stephen D. Pepper, Caravaggeschi, o no?, in: Quadri e sculture 8 (2001), S. 38–45; Rossella Vodret, The Spread of Caravaggio’s Influence. Caravaggism in Italy, in: Caravaggio & His World. Darkness & Light. (Ausst.-Kat. Sydney, Art Gallery of New South Wales/Melbourne, National Gallery of Victoria 2003/04), Sydney 2003, S. 52–58; Wolfgang Prohaska, The Spread of Caravaggio’s Influence. His Influence in the North, ebd., S. 59–65.

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7  Caravaggio, Madonna dei Pellegrini, Rom, Sant’Agostino

Jahrzehnte des Seicento ein sehr komplexer und vor allem antagonistisch argumentierender Bild­diskurs, der gerade in der Ambivalenz der Reaktionen auf Caravaggio aussagekräftig ist. Einige Beispiele seien hierfür vorab angeführt: So hat kaum ein Werk des Malers die Zeitgenossen und die Forschung derart polarisiert wie sein erstes Altarbild überhaupt, das für die Contarelli-Kapelle in San Luigi dei Francesi bestimmt war (Abb. 5).21 Direkt nach seiner Anbringung im Jahr 1602 wurde 21  223 × 183 cm; Siehe Maurizio Marini, Caravaggio „pictor praestantissimus“. L’iter artis-

tico completo di uno dei massimi rivoluzionari dell’arte di tutti i tempi, Rom 42005, Nr. 52, S. 463–466; Cinotti 1983, Nr. 4; S. 412–416. Hierzu unten Kap. III.2.1.

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8 Anonym, Variierende Kopie nach Caravaggios Madonna dei Pellegrini, ­München, Alte Pinakothek

es offensichtlich Zielscheibe der Kritik, die zu seiner Entfernung und seinem Transfer in eine Kunstsammlung führte. Wir können zwar diese unmittelbare Reaktion durch den nachgewiesenen Ortswechsel des Gemäldes erschließen, ihre Ursachen nennt allerdings nur ein deutlich späteres Textzeugnis von Giovanni Pietro Bellori, das in den frühen 1640er Jahren verfaßt, und erst 1672 publiziert wurde.22 Diese Verspätung bot der Forschung wiederholt Anlaß zur 22  Giovanni Pietro Bellori, Le vite de’ pittori, scultori e architetti moderni, Rom 1672, hg. v.

Evelina Borea, Turin 1976, S. 219 f.: „Qui avenne cosa che pose in grandissimo disturbo e quasi fece disperare il Caravaggio in riguardo della sua riputazione; poiché, avendo egli terminato il quadro di mezzo di San Matteo e postolo su l’altare fu tolto via da i preti con dire che quella figura non aveva decoro né aspetto di Santo, stando a sedere con le gambe incavalcate e co’ piedi rozzamente esposti al popolo. Si disperava il Caravaggio per tale affronto nella prima opera da esso publicata in chiesa, quando il marchese Vincenzo Giustiniani si mosse a favorirlo a liberollo da questa pena; poiché, interpostosi con quei sacerdoti, si prese per sé il quadro e gliene fece fare un altro diverso, che è quello si vede ora su l’altare; e per onorare maggiormente il primo, portatolo a casa, l’accompagnò poi con gli altri tre Vangelisti di mano di Guido, di Domenichino e dell’Albano, tre li piú celebri pittori che in quell tempo avessero fama …“. Für den Nachweis der Frühdatierung der Vita Caravaggios: Evelina Borea, Bellori 1645. Una ­lettera a Francesco Albani e la biografia di Caravaggio, in: Prospettiva 100 (2000), S. 57–69;

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9 Caravaggio, Verleugnung Petri, New York, Metropolitan Museum

Relativierung des postulierten Grundes, mangelhaftes Dekorum von Figur und Darstellung habe zur Zurückweisung des Gemäldes geführt.23 Erstaunlicherweise blieben in der Diskussion dieser Frage die Reaktionen auf Caravaggios Werk im visuellen Medium weitgehend unbeachtet; so beispielsweise das nur wenige Jahre später entstandene Gemälde des Bologneser Malers Lucio Massari (1569–1633) mit dem hl. Matthäus und einem Engel im Chor der Chiesa dei Cappuccini in Rom (Abb. 6).24 Wenn Massari bei grundsätz­ licher Wahrung der Anordnung und der Handlungsrollen der Figuren deren Gestaltungsweise grundlegend verändert, gibt er ein sehr ‚beredtes‘ Zeugnis dafür, was ein Maler wenige Jahre später in einem für einen sakralen Raum bestimmten Gemälde für akzeptabel erachtete und was nicht. Bezeichnenderweise verändert Massari nicht nur das Äußere der Protagonisten vollständig, siehe auch Donatella Livia Sparti, La formazione di Giovan Pietro Bellori, la nascita delle Vite e il loro scopo, in: Studi di storia dell’ arte 13 (2002), S. 177–248. 23  Siehe unten, Kap. III.2.1. 24  240 × 160 cm; um 1610/11. Es ist Teil eines Evangelistenzyklus für den Mönchschor der Chiesa dei Cappuccini (S. Maria della Concezione). Vgl. La scuola dei Carracci: i seguaci di Annibale e Agostino, hg. v. Emilio Negro & Massimo Pirondini, Modena 1995, S. 217–250, S. 222 und 249.

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10  Bernardo Strozzi, ­Verleugnung Petri, Köln, Wallraf-Richartz Museum

sondern faßt auch die Inspiration und den Vorgang der Abfassung des Evangeliums gänzlich anders auf. Sein Engel läßt jede erotische Ausstrahlung missen, und auch der Evangelist verfügt nicht mehr über das frappierend einfache, von Filippo Baldinucci als „plebejisch“ beschriebene Äußere seines Vorbilds.25 Es wird ihm nicht mehr die Hand geführt – was in Caravaggios Gemälde tatsächlich ein wenig an eine ‚Schreibnachhilfestunde‘ erinnert –, der Engel assistiert dem Heiligen lediglich durch das Halten der Schriftrolle. Zwar hat auch Massaris „Matthäus“ die Beine übereinandergeschlagen – was Bellori explizit als kritisierten Punkt an Caravaggios Altarbild anführt –, aber er streckt dabei dem Betrachter nicht seine schmutzige Fußsohle entgegen. Als ‚visuelles Dokument‘26 der Wahrnehmung von Caravaggios Gemälde ist Massaris kaum bekanntes Werk von nicht zu unterschätzender Bedeutung: 25 Filippo Baldinucci, Notizie dei professori del disegno da Cimabue in qua …, hg. v.

F. ­Ranalli, Florenz 1846, (Nachdr. Florenz 1974), Bd. 3, S. 684 f. 26  Um Mißverständnissen vorzubeugen: Mir geht es hier und bei allen weiteren Beispielen

nicht darum, Kunstwerke auf einen (passiven) Dokument- oder Quellencharakter zu reduzieren, ganz im Gegenteil. Mich interessieren die aktiven Transformationen der Werke Caravaggios, die die jeweiligen Künstler vornehmen, dadurch mit dem Maler ‚verhandeln‘ sowie ihre Sicht auf die Werke dokumentieren.

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11 Anonym, Variierende Kopie nach Caravaggios Johannes der Täufer, Glasgow Museum Resource Centre

Detaillierter und damit deutlicher als es ein Textdokument tut, bezeugt es, was einem Maler an Caravaggios „Matthäus“ wenige Jahre nach dessen Fertigstellung faszinierend erschien, zugleich aber auch, was er als derart problematisch empfand, daß er es in seiner Bildlösung eliminierte. Damit macht Massari eine verloren geglaubte Kommunikation über Caravaggios Altarbild für uns rekonstruierbar. In dieser Art und Weise der Reaktion auf Caravaggios Werke bildet Massaris „Matthäus“ für S. Maria della Concezione keine Ausnahme. Ein signifikanter Teil der Bildproduktion des frühen Seicento folgt einem ähnlichen Schema. So versucht der Kopist der „Madonna di Loreto“ in der Cappella Cavalletti in Sant‘ Agostino durch die Verstärkung der Nimben bei der Figur Mariens und des Jesuskindes sowie die Hinzufügung von Puttenköpfen in der oberen Bildecke die sakrale Aura der Kopie gegenüber Caravaggios Altarbild zu verstärken, in dem eine indezent gekleidete, lässig in einer Nische oder einem Türrahmen stehende Muttergottes von zwei Pilgern verehrt wird, (Abb. 7  und  8);27 27  216,5 × 139,5 cm; München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek (De-

pot); siehe Moir, Caravaggio and His Copyists 1976, Nr. 290, S. 98. Für Caravaggios Ge­mälde,

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Einführung

Bernardo Strozzi verändert in seinem, auf Caravaggios „Verleugnung Petri“ in New York (Abb. 9) rekurrierenden Gemälde die Gestensprache der Figuren derart, daß deren Kommunikation für uns – anders als im Vorbild – unschwer lesbar ist (Abb. 10),28 darüber hinaus sichern Attribute (Messer und Hahn) die eindeutige Identifizierung der Figuren. Und schließlich bekleidet der Kopist von Caravaggios lasziv-provokantem Johannes-Knaben für Ciriaco Mattei (Abb. 1) den Heiligen (Abb. 11),29 versieht ihn mit den konventionellen Attributen (Kreuzstab und Fell) und ersetzt den irritierenden Widder in seinem Arm durch das ikonographisch ‚richtige‘ Lamm. Wenn die Maler in der Verarbeitung gerade das ambige und dadurch oft problematische Potential ihrer caravaggesken Vorbilder eliminieren, zeigen sie uns, was ihren Norm- und Wertvorstellungen zuwiderlief und daher für sie nicht wiederholbar war, wenngleich sie Caravaggios stilistischen und kompositionellen Neuerungen gegenüber höchst aufgeschlossen waren. Damit sind diese Gemälde der oft ‚namenlosen‘ und weitgehend vergessenen Maler des frühen Seicento wichtige Zeugnisse in einem zu rekonstruierenden Bilddiskurs, der nachvollziehbar werden läßt, was zu bestimmten Zeiten und im Hinblick auf bestimmte Funktionen der Werke von einigen Zeitgenossen des Malers und von den nachfolgenden Generationen als ‚visualisierbar‘ erachtetet wurde.

Die Ambiguität und Performativität der Bilder in epochaler Perspektive Es sind die Zeugnisse eines gänzlich anderen Blicks auf Caravaggio, welche die weitere Perspektive meines Themas eröffnen. Dies möchte ich mit Bezug auf zwei konträre Reaktionen auf dessen „Verleugnung Petri“ (Abb. 9) zeigen. Wie gesehen, bemühte sich Bernardo Strozzi, Caravaggios Bildidee einer auf die psychische Interaktion der Figuren konzentrierten Schilderung der Narration durch Hinzufügung wichtiger Attribute der Figuren und handlungsrelevanter Details besser lesbar zu machen. Damit verleiht er dem Gemälde die Klarheit, Eingängigkeit und Evidenz, die eine mühelose Lektüre des Bildes ermöglichen, und die, wie noch zu zeigen sein wird, als Normen gerade r­eligiöser Historien­ das sich noch in Sant’ Agostino befindet (260  ×  150 cm): Marini 2005, Nr. 65, S. 487– 490; Cinotti 1983, Nr. 60, S. 524 f. 28  118,5 × 180 cm; Köln, Wallraf-Richartz-Museum; siehe Luisa Mortari, Bernardo Strozzi, Rom 1995, Nr. 239, S. 135 (sie datiert es auf nicht später als 1633–35). Für Caravaggios Gemälde im Metropolitan Museum (94 × 125,5 cm), siehe Marini 2005, Nr. 81, S. 521–523; Cinotti 1983, Nr. 67, S. 548 f. 29 115,4  ×  85,9 cm; Glasgow, Glasgow Museums Resource Centre (GMRC); siehe Moir, ­Caravaggio and His Copyists 1976, Nr. 16g, S. 87; Art Gallery and Museum Glasgow. Catalogue of Italian Paintings, Bd. 2. Illustrations, Glasgow 1970, Nr. 140, S. 40; für Caravaggios Gemälde in der Pinacoteca Capitolina (129 × 95 cm): Marini 2005, Nr. 58, S. 475–478; Cinotti 1983, Nr. 59, S. 521–523. Siehe unten, Kap. II.5.1.

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bilder galten. Ganz anders hingegen der Schöpfer eines Gemäldes, das sich im Musée de la Chartreuse in Douai befindet (Abb. 12).30 Die Forschung hat diesem Maler, dem nur ein sehr kleines Œuvre zugewiesen werden kann, den Notnamen Pensionante del Saraceni gegeben. Wahrscheinlich handelt es sich um den lothringischen Maler Georges de La Tour, der sich mit einiger Sicherheit zwischen 1613 und 1616 in Rom aufhielt und dessen in dieser Zeit entstandene Werke unbekannt sind.31 Wenn der Pensionante die Komposition von Caravaggios Gemälde weitgehend übernimmt, sich dabei aber auf die beiden Protagonisten beschränkt und den Soldaten in Caravaggios Werk mit dem kümmerlichen, auf den Evangelienbericht verweisenden Feuerschein eliminiert, forciert er etwas, das in seinem Vorbild angelegt war: nämlich die schwache Semantisierung des Bildes, aus der dessen latente Ambiguität zwischen einem sakralen und einem profanen Sujet folgt. Denn was legt uns eigentlich nahe, in dem Gemälde die Darstellung von Petrus und der Magd und damit ein Ereignis der christlichen Heilsgeschichte zu erkennen und nicht ein alttestamentliches Sujet oder auch ein beliebiges erregt kommunizierendes Paar und mithin eine Genrekonstellation? Tatsächlich nahm die Forschung lange an, es handele sich um die Verbildlichung von Hiob, der von seiner Frau verspottet wird. Wie der Pensionante del Saraceni in seinem Douaier Gemälde die Benennung des Bildes durch die Betrachter lenkt und welche Faktoren den Vorgang der Konstitution von Bedeutung zusätzlich aufladen, wird an diesem und vergleichbaren Beispielen ausführlich zu zeigen sein. Hier ist zunächst das Faktum an sich relevant, daß der Maler nicht etwa das ambige Potential seines Vorbildes nivelliert, wie es Bernardo Strozzi tat, sondern es sogar steigert. Obgleich der Pensionante del Saraceni vor der Folie eines Gemäldes von Caravaggio arbeitete – eine Vorgehensweise, für die wir zahlreiche Beispiele aus dem Œuvre der ‚Caravaggisten‘ kennen – ist dies aber keineswegs stets so. Gänzlich unabhängig von einer caravaggesken Bildvorlage entstand etwa das Gemälde einer jugendlichen Maria mit ihrer Mutter Anna am Spinnrad, das sich in der römischen Galleria Spada befindet (Abb. 13).32 Es stammt von einem anonymen Künstler, in dem Roberto Longhi Giovanni Antonio Spadarino erkennen wollte. Vor dem Hintergrund der Bildtradition ist die Tätigkeit ebenso wie die Erscheinungsweise der beiden Frauen ungewöhnlich: Mit Marias breitem Gesicht mit markanten Wangen- und Stirnknochen und 30  98 × 128 cm; Douai, Musée de la Chartreuse; Francoise Baligand, Le Musée de la Char-

treuse Douai, Paris 1999, S. 25 f.; Pierre Rosenberg, in: The Age of Caravaggio (Ausst.-Kat. New York, Metropolitan Museum/Napoli, Museo e Gallerie Capodimonte 1985), New York 1985, Nr. 47, S. 167. 31  Siehe unten, S. 213. 32  101 × 131 cm; Rom, Galleria Spada; Federico Zeri, La Galleria Spada in Roma. Catalogo dei dipinti, Florenz 1954, S. 51 f., verzeichnet als „anonimo seguace di Caravaggio“; siehe Kap.  II.3.1.

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12 Pensionante del Saraceni, Verleugnung Petri, Douai, Musée de la Chartreuse

13 Giovanni Antonio Spadarino, Maria und Anna bei der Handarbeit, Rom, Galleria Spada

hervortretenden Augen sowie Annas herben, fast männlichen Zügen und der großen Nase löst sich der Maler vollständig vom visuellen Kanon der Marien­ darstellungen, was durch Marias feuerrote, zu Schnecken eingedrehte und hochgesteckte Haare sowie ihre Kleidung in den nicht marianischen Farben Türkis und Weinrot noch zusätzlich forciert wird. Verfügten beide Figuren nicht über Nimben, hätten wir keine Veranlassung, in dieser ikonographisch ungewöhn­lichen Darstellung überhaupt die hl. Anna und Maria zu erkennen und nicht auf eine beliebige Handarbeitsszene zu schließen – also auf eine profane Darstellung, die wir mit dem (anachronistischen) Begriff des ‚Genre‘ klassifizieren.

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Die beiden Werke der anonymen Maler, die „Verleugnung Petri“ und die genrehafte Mariendarstellung, nur zwei Beispiele aus einer sehr umfangreichen, viele hundert Gemälde umfassenden33 Bildproduktion, werfen eine ganze Reihe von Fragen auf: nach der Konstitution von Bedeutung, nach deren Stabilität im Hinblick auf die möglichen Kontexte des Bildes und nach dem Verhältnis der Historie zum Genre. Sie sollen im einzelnen ausführlich besprochen werden; hier ist zunächst vor allem eines wichtig: Die Beispiele zeigen, daß mit einem auf Caravaggios Œuvre fokussierten Blick eine Studie zum ambigen, normabweichenden Potential in der Malerei des frühen Seicento nicht zu schreiben ist. Das Phänomen hat weitreichende Dimensionen, und deswegen müssen sich Frage und Interesse auf einen weitaus umfassenderen Teil der Bildproduktion der ersten Jahrzehnte des Seicento richten. Hierfür sind zunächst einige Bemerkungen zu dem genannten Bildkorpus angebracht. Mit der Bezeichnung ‚Caravaggisten‘, die das Gros der hier behandelten Künstler betrifft, klassifiziert die Forschung traditionell jene italienischen und ausländischen Maler, die (temporär) in Rom gearbeitet haben und deren Werke stilistische Gemeinsamkeiten mit Caravaggios Werken aufweisen, und zwar das starke chiaroscuro, die geringe Raumtiefe und die Positionierung der Figuren in engen Bildräumen und -ausschnitten vor ungestalteten Hintergründen. Dabei zeichnet sich in den letzten Jahrzehnten ein wichtiger Paradigmenwechsel in der Forschung ab: Die traditionelle Vorstellung einer caravaggesken Phase, die ein Künstler durchlebt habe, oder gar einer entsprechenden Identität weicht der Vorstellung einer Stiloption. Der caravaggeske Modus werde also von den Künstlern ganz im Sinne des rhetorischen Stilkonzepts der Frühen Neuzeit bewußt gewählt und eingesetzt, und auch, wie man es gut im Œuvre von Orazio Gentileschi beobachten kann, auch synchron neben anderen Modi verwendet.34 Durch die angeführten Beispiele dürfte deutlich geworden sein, daß in meiner Untersuchung vorrangig konzeptuelle Phänomene im Vordergrund stehen. Für sie bilden einige der stilistischen Mittel die Voraussetzung: So wird etwa in der „Verleugnung Petri“ in Douai die Ambi33  Um einen ungefähren Anhaltspunkt für den Umfang der Bildproduktion zu geben: Das

überarbeitete Verzeichnis von Nicolson, Caravaggism in Europe von 1990 dokumentiert knapp 1650 Werke. Auch damit ist es keineswegs vollständig; etwa ein Viertel der hier behandelten Werke ist dort nicht verzeichnet. 34  Siehe hierfür den Katalog der Ausstellung Orazio and Artemisia Gentileschi. Father and Daughter Painters in Baroque Italy (Ausst.-Kat. Roma, Museo del Palazzo di Venezia/New York, The Metropolitan Museum/Saint Louis, Art Museum 2001/02), hg. v. Keith C ­ hristiansen & Judith Mann, New York 2002, in dem herausgearbeitet wird, wie durch jüngere Dokumentenfunde die zuvor auf stilistischem Weg erfolgten Datierungen der Gemälde revidiert werden müssen. Vgl. dazu auch Verf.in, Pluralismus in New York: Orazio und Artemisia Gentileschi; Father and Daughter Painters in Baroque Italy (New York: The Metropolitan Museum of Art), in: Kunstchronik 55 (2002), S. 538–542. Grundlegend für das frühneuzeitliche Stilkonzept: Ulrich Pfisterer, Donatello und die Entdeckung der Stile: 1430–1445, München 2002.

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guität durch die Strukturierung des Bildes ausschließlich durch Figuren vor simplen, ungestalteten Hintergründen vorbereitet und durch kalkuliert unplausible Ausleuchtungen der Szenerie unterstützt. Wichtig – weil für die Bewertung der Phänomene und deren methodische Verortung folgenreich – ist, daß die hier interessierenden Charakteristika auch in den Werken solcher Maler zu beobachten sind, die nicht zu den ‚Caravaggisten‘ gezählt werden und die tatsächlich auch in keinem wie auch immer gearteten Näheverhältnis zu Caravaggio standen. Bereits mit dem Bologneser Lucio Massari haben wir einen Künstler gesehen, der zwar sein Gemälde mit deutlichem Rekurs auf Caravaggios gestaltete, jedoch nicht dessen stilistische Merkmale adaptierte. Ein großer Stellenwert in den folgenden Ausführungen kommt Malern wie den Florentinern Francesco Furini und Jacopo Vignali und dem emilianischen Künstler Guido Cagnacci zu, die überwiegend nicht in Rom gearbeitet haben und deren Werke dennoch die Phänomene des Ambigen oder der gezielten semantischen Offenheit aufweisen. Aus dieser Beobachtung resultiert die Änderung der Parameter in meiner Analyse. Der Terminus ‚Caravaggisten‘, den ich gelegentlich verwende, dient nur als Verständigungshilfe. Statt des Phänomens ‚Caravaggio und Caravaggismus‘ geht es mir um die Strukturen und Bedingungen der Malerei in epochaler Perspektive, die die beobachteten Phänomene zur Folge hatten. Konkreter als ich es bislang getan habe, möchte ich die Phänomene, die im folgenden im Zentrum stehen werden, benennen: Vorrangig ist es die ‚strukturelle‘ oder ‚strategische‘ Ambiguität, welche die Zwei- oder Mehrdeutigkeit eines Bildes oder eines Aspekts desselben bezeichnet. Sie kann in Extremfällen zur semantischen Offenheit der Bilder führen.35 Als intendiertes Ausdruckmittel wird „Ambiguität“ oder – aristotelisch – „amphibolia“ ebenso wie die ihr verwandte „obscuritas“36 seit der Antike reflektiert.37 Sie ist zu unter35 Allgemein zum Konzept der Ambiguität: Wolfgang Ullrich, Grundrisse einer philo-

sophischen Begriffsgeschichte von Ambiguität, in: Archiv für Begriffsgeschichte 32 (1989), S. 121–169; Roland Bernecker & Thomas Steinfeld, s.v. Amphibolie, Ambiguität, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding u. a., Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 436– 444; ­Christoph Bode, s.v. Ambiguität, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 67–70; Gerald Graff, Determinacy/Indeterminacy, in: Critical Terms for Literary Study, hg. v. Frank Lentricchia & Thomas McLaughlin, Chicago/London 21995, S. 163–173. Grundlegend für linguistische Ambiguität: Norbert Fries, Ambiguität und Vagheit. Einführung und kommentierte Bibliographie, Tübingen 1980. 36  Zur ‚Dunkelheit‘ als Kategorie in der Neuzeit, etwa mit Bezug auf den Bibeltext, siehe Kap. II, Anm. 357. 37  Zur Ambiguität in der Antike mit Schwerpunkt auf der linguistischen Ambiguität siehe: Walter Wimmel, Sprachliche Ambiguität bei Horaz, München 1994; ders., Zum Problem doppelsinniger Formulierung beim späten Horaz, Glotta 65 (1987), S. 241–250; W. Neuhauser, Ambiguitas als Wesenszug der lateinischen Sprache, Serta Philol. Aenipontana II, hg. v. R. Muth, Innsbruck 1972, S. 237–258 und besonders die Beiträge in: Irène Rosier (Hg.), L’ambïguité. Cinq études historiques, Lille 1988.

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scheiden von der ontologischen Mehrdeutigkeit bildlicher oder auch sprachlicher Zeichen, wie sie insbesondere in den formalistischen und strukturalistischen Theorien zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts postuliert und schließlich von Umberto Eco mit dem expliziten Anspruch, ein überzeitlich gültiges Phänomen zu beschreiben, in seiner Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Offenes Kunstwerk“ (1962) ausgearbeitet wurde.38 Unter der intendierten Ambiguität, um die es mir geht, sind hingegen keine Essentialia, sondern künstlerische Setzungen zu verstehen, die folglich mit einer bestimmten Wirkabsicht verknüpft sind. Gleichwohl sind beide Konzepte nicht immer scharf voneinander zu trennen, und ich werde unten zeigen, daß die Maler durchaus auf die ihnen bewußte ontologische Mehrdeutigkeit ikonischer Zeichen reagierten. Wie in den angeführten Beispielen bereits gesehen, entsteht Ambiguität durch die Reduktion der die Figuren markierenden oder Narrationen bestimmenden Zeichen in Verbindung mit einem gezielten Abweichen von der Bildtradition. Dies generiert, wie in der „Verleugnung Petri“ in Douai (Abb. 12), das Umspielen der Grenze zwischen einem profanen und einem sakralen Sujet. Die Ambiguität ist also eng verknüpft mit dem Themenkomplex der Signifikation, der Generierung von Bedeutung im visuellen Medium. Sie kann sich, wie in der „Verleugnung“, mit einem ‚aufführungshaften‘, hier – aus noch zu erläuternden Gründen – als ‚performativ‘ bezeichneten Charakter der Darstellungen verbinden. Er entsteht durch den starken Modellbezug der Figuren, der sich in der Bildwirkung spürbar artikuliert, wenn dieselben Modelle in verschiedenen Gemälden einmal als „Johannes der Täufer“ (Abb. 1), einmal als „Amor“ (Abb. 14) posieren,39 oder – wie im Œuvre des Pensionante – einmal die Frage der Zugehörigkeit Petri zu den Jüngern Jesu, ein anderes Mal den Wert einer Melone verhandeln (Abb. 12 und Abb. 15).40 Der Eindruck des Aufführungshaften entsteht außerdem durch die forcierten Posen der Bild­ figuren und durch den Eindruck arrangierter settings. So suggeriert das unpassende Werkzeug des Martyriums in der „Katharina von Alexandrien“ (Abb. 3), es sei genau der Gegenstand gewesen, der im Atelier zufällig verfügbar war, als das Modell – das im übrigen unübersehbare Ähnlichkeit mit einer von 38  Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 92002 (zuerst ital. 1962), Siehe hier-

für Dieter Mersch, Eco, in: Julian Nida-Rümelin u. a. (Hg.), Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1998, S. 257–262; Helge Schalk, Umberto Eco und das Problem der Textinterpretation. Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik, Würzburg 2000; Verf.in, s.v. Offenes Kunstwerk, in: Metzler Lexikon der Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2003, S. 256–258. 39  So in Caravaggios Gemälden in der Pinacoteca Capitolina und in der Berliner Gemäldegalerie (156 × 113 cm); siehe Marini 2005, Nr. 54, S. 467–470; Cinotti 1983, Nr. 1, S. 409–411. 40  So in seiner „Verleugnung Christi“ in Douai und der „Marktszene“ (130 × 98 cm) in Detroit, The Detroit Institute of Art; siehe für dieses Bild: Il genio di Roma, 1592–1623 (Ausst.Kat. London, Royal Academy of Arts/Roma, Palazzo Venezia 2001) hg. v. Beverly Louise Brown, Rom 2001, Nr. 15, S. 61. Siehe unten Kap. II.2.3.

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14 Caravaggio, Amor Vincitore, Berlin, SMPK, Gemäldegalerie

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15  Pensionante del Saraceni, Marktszene, Detroit, The Detroit Institute of Art

16 Caravaggio, Porträt einer Kurtisane („Fillide“), (Kriegsverlust), ehem. Berlin, ­Kaiser-Friedrich-Museum

Caravaggio ebenfalls porträtierten Kurtisane namens „Fillide“ hat (Abb. 16) – dort posierte und vom Maler entsprechend ausstaffiert wurde.41 Auch für das Phänomen des Performativen gilt: Weil es das grundsätzliche Verhältnis von Repräsentation und Wirklichkeit berührt – die Gemälde geben ja vor, daß die Figuren in ihnen nicht ‚sind‘, sondern lediglich ‚Rollen spielen‘ –, handelt es sich um Phänomene, die Kernfragen des Bildes berühren: seine Semantik und seine ‚Beredsamkeit‘, und damit auch die Vermittlungsleistung seiner Inhalte. Klar erkennbar wird diese Verbindung des Performativen und der Semantisierung in der zitierten signifikanten Formulierung in der zeitgenössischen Beschreibung des verlorenen Trinitätsgemäldes als „ein Gemälde mit einem Alten und einem Jungen […], mit dem er die Trinität hat ausdrücken wollen“.42

Versuchte Normierungen Daß durch die beiden Phänomene Ambiguität und Performativität die Frage nach der Angemessenheit solcher Bildstrategien gerade für religiöse Gemälde 41 173  ×  133 cm; 1597/98; ehem. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum; Marini 2005, Nr. 27,

S. 418 f.; Cinotti 1983, Nr. 7, S. 418–420; siehe hierfür Kap. I.3.2. 42  Siehe oben, S. 20.

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relevant wird, liegt auf der Hand. Im Prinzip verstoßen sie ebenso wie die unter dem Gesichtspunkt des Dekorums problematischen Bilder exakt gegen das, was um 1600 im Hinblick auf die postulierte Adäquanz von Sujet und Darstellung Konsens war. Vor allem im Rom dieser Jahre befinden wir uns in einer Situation, in der in zuvor nicht gekannter Weise versucht wurde, die religiöse Bildsprache auf bestimmte Ideale hin auszurichten, sie zu regeln und zu kontrollieren. Dies zeigt sich allein in der Quantität der entsprechenden präskriptiven Schriften seit dem fortgeschrittenen Cinquecento, die mit der Absicht der renovatio auch der Bilder auftraten: „Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’historie“ („Dialog in dem die Irrtümer und Mißbräuche der Maler hinsichtlich der Geschichten behandelt werden“) lautet der unmißverständliche Titel von Giovanni Andrea Gilios Schrift. Auch die anderen bildtheologischen Traktate und „Instructiones“ nachtridentinischer Zeit von Gabriele Paleotti, Federico Borromeo, Antonio Possevino, Johannes Molanus und (mit Einschränkungen) auch des Kunsttheoretikers Giovanni Paolo Lomazzo verfolgen eine ähnliche Zielsetzung: die Regelung der Bildsprache und der künstlerischen Ausdrucksweisen mit der Absicht der Erneuerung der religiösen Malerei, deren Bedeutung für die Vermittlung von Glaubensinhalten den Autoren in hohem Maße bewußt war.43 Norm und Ziel künstlerischer Sprache war die Klarheit (perspicuitas) und Evidenz der Bilder auf der einen und eine allumfassende Angemessenheit von Figuren und Darstellungen auf der anderen Seite: „La cosa tanto è bella; quanto è chiara“, „[eine] Sache ist so schön, wie sie klar ist“, schreibt Gilio,44 Gabriele Paleotti erkennt die Aufgabe religiöser Bilder im „parlare in modo aperto e chiaro“, im „offenen und klaren Sprechen“,45 und Borromeo präzi43  Um nur die wichtigsten zu nennen: Gilio da Fabriano, Due Dialoghi, Camerino 1564,

Nachdr. Florenz 1986; Johannes Molanus, De picturis et imaginibus sacris, Löwen 1570; erweiterte Edition unter dem Titel: De historia SS. imaginum et picturarum pro vero earum usu contra abusus: libri IV (Löwen 1594), hg. u. ins Franz. übers. v. François Boespflug & Olivier Christin, Paris 1996; Carlo Borromeo, Instructiones fabricae et supellectilis ecclesiasticae (1577), hg. u. übers. v. Massimo Marinelli u. a., Città del Vaticano 2000; Gabriele Paleotti, Discorso intorno alle immagini sacre e profane (1582), hg. v. Stefano Della Torre, Città del Vaticano 2002; ders., De imaginibus sacris, Ingolstadt 1594; Antonio Possevino, Tractatio de poesi et pictura, Lyon 1595; Federico Borromeo, De pictura sacra libri due, Mailand 1624, hg. v. C. Castiglione, eingel. v. G. Nicodemi, Sora 1932 (konzipiert bereits in Rom in den Jahren 1586–95); Giovanni Paolo Lomazzo, Trattato dell’arte de la pittura, Mailand 1584, Nachdr. Hildesheim 1968. So behandelt beispielsweise Paleotti im umfangreichen zweiten Buch seines „Discorso intorno …“ kapitelweise die möglichen „abusi“ und „dipinti indecorosi“ etc. 44  Gilio, Due Dialoghi 1564, Nachdr. Florenz 1986, S. 115. 45  Paleotti, Discorso (2002), S. 202: „Uno dei massimi elogi che si può fare ad uno scrittore o ad un professore di qualsiasi disciplina, è che sa spiegare con grande chiarezza i concetti della materia […] La stessa cosa si può dire in generale di un pittore, e tanto maggiormente in quanto le sue opere servono come un libro per gli sprovveduti, ai quali occorre sempre parlare in modo aperto e chiaro.“

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siert dies durch die Forderung, die unabdingbare Eindeutigkeit der Figuren sei notfalls durch die Anbringung der Namen der Heiligen im Bild zu gewährleisten.46 Dies verband sich mit dem Appell, die Eingängigkeit und Wirkmächtigkeit der Handlungen, durch die Drastik in der Schilderung der Passion Christi und der Martyrien der Heiligen, deren Kult um 1600 umfassend gefördert wurde, zu gewährleisten.47 Wie weit auch immer man den Prämissen der in den letzten Jahrzehnten boomenden Forschungen zur Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung, die in jüngerer Zeit auch das Medium der Bilder für sich entdeckt haben,48 folgen mag – die Absichten in diesen Forderungen sind unmißverständlich: Sie zielen auf die mentale Steuerung und Erziehung des Publikums der Bilder, auf ihre Emotionalisierung und Verhaltenskonformität mit dem Zweck, Frömmigkeit und konformes religiöses Verhalten zu evozieren. Daß diese Forderungen an die Bilder nicht die Produkte einer Schreibtischgelehrsamkeit ohne praktische Relevanz waren und daß man Verstößen gegen die Vorgaben mit wenig Toleranz begegnete, zeigen die Beispiele für regelrechte ‚Säuberungen‘ der Kirchen in den Jahren um die Jahrhundertwende. Bereits unter Papst Sixtus V. Peretti (1585–90) wurden problematische Fälle mit kritischer Aufmerksamkeit bedacht, und während des langen Pontifikats von Clemens VIII. Aldobrandini (1592–1605) wurden anstößige Gemälde und Kruzifixe aus Kirchenräumen entfernt,49 etwa weil sie die geforderte Würde 46  Carlo Borromeo, Instructiones fabricae (2000), Bd. 1, Kap. 17, S. 72 und 74: „Quae prae-

terea ob significationem rei sacrae imaginibus Sanctorum appinguntur, eiusmodi apponantur, quae ex Ecclesiae instituto apte, decoreque conveniant: ut corona, quae scuti rotundi instar, Sanctorum capitibus apponitur; … tumque quod proprium est, ac praecipuum insigne cuiusque Sancti“; „… imaginibus minus notis nomina Sanctorum subscribantur; quod et veteris consuetudinis est …“. Für eine Übersetzung mit Kommentar siehe Evelyn Carole Voelker, Charles Borromeo’s Instructiones fabricae et supellectilis ecclesiasticae, 1577. A translation with commentary and analysis, Ann Arbor (MI) (Diss. Syracuse Univ.) 1977. 47  Siehe hierfür unten Kap. II.7. 48 Jens Baumgarten, Konfession, Bild und Macht: Visualisierung als katholisches Herrschafts- und Disziplinierungsinstrument in Rom und im habsburgischen Schlesien (1560– 1740), ­Hamburg 2004, der das Konfessionalisierungs- und Sozialdisziplinierungsparadigma an Bildern erprobt und nachweist, welche Bedeutung die Visualisierung in den Prozessen spielte (mit ausführlicher Paraphrase der einschlägigen geschichtswissenschaftlichen Literatur zu den Konzepten der Konfessionalisierung, Sozialdisziplinierung und Modernisierung); mit ­ icolo Bezug auf die Bildkünste die Bedeutung des Konzepts relativierend: David Nelting, N ­Circignanis Fresken in Santo Stefano Rotondo und Antonio Gallonios „Trattato de gli Instrumenti di Martirio“. Zwei Beispiele manieristischer Praxis unter den Bedingungen der Gegenreformation, in: Romanische Forschungen 113 (2001), S. 70–81; generell die Vorannahmen und Ergebnisse der Konfessionalisierungsforschung in bezug auf Italien problematisierend: ­Volker Reinhardt, Rom im Zeitalter der Konfessionalisierung. Kritische Überlegungen zu ­einem Epochen­deutungskonzept, in: Zeitsprünge 7 (2003), S. 1–18, und Peter Hersche, Italien im Barockzeitalter 1600–1750: eine Sozial- und Kulturgeschichte, Wien 1999, S. 183–266. 49  Siehe unten Kap. II.7.

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und Dezenz nicht erfüllten oder weil man in ihnen, wie im Fall eines Altarbildes von Scipione Pulzone für den Gesù, die Modelle wiederzuerkennen glaubte.50 Welche Wirkung solche Maßnahmen im Hinblick auf ein regelkonformes Verhalten der Rezipienten der Bilder hatten, zeigt ein signifikantes Zeugnis aus den 1580er Jahren: Als der einflußreiche römische Bankier Piero Antonio Bandini seine Familienkapelle in San Silvestro al Quirinale mit einem Altarbild auszustatten plante, ließ er sich bezüglich der Darstellungsweise der vorgesehenen „Himmelfahrt Mariens“ zunächst von Silvio Antoniano, dem Vizerektor der Sapienza, beraten. Dieser wandte sich bezüglich der „richtigen“ („esatta“) Darstellung des Sujets mit einem Fragenkatalog an den Bologneser Erzbischof Gabriele Paleotti, der unmittelbar zuvor seinen „Discorso intorno alle imagini“ (1582) publiziert hatte, dem Antoniano aber offensichtlich die gewünschten Hinweise nicht in allen Details entnehmen konnte.51 In seinem Brief gibt Antoniano mit bedeutsamen Formulierungen dem starken Wunsch („desiderio“) Bandinis Ausdruck,

50  Diese Reaktion auf Pulzones „Pala degli Angeli“ für die Kapelle von Gasparo Garzonio

im Gesù (1589–91) berichtet Giovanni Baglione recht ausführlich: „E stauano nella cappella de gli Angeli sopra l’altare alcuni d’essi Angioli in piede assai belli, ma perche erano ritratti dal naturale, rappresentanti diverse persone da tutti conosciute, per cancellare lo scandalo furono tolti via“ (Baglione, Le Vite 1642, S. 54). Gauvin Alexander Bailey bezweifelt in seiner jüngeren Untersuchung über die Bildproduktion der Jesuiten in Rom um 1600 (Between Renaissance and Baroque. Jesuit Art in Rome, 1565–1610, Toronto u. a. 2003, S. 211–213) diese Begründung, doch wissen wir aus dem Visitationsbericht Papst Clemens VIII. sicher, daß dieser auf jeden Fall eine dezentere Bedeckung der Engel gefordert hatte („Ad Cappellam SS. Angelos. Imagines etiam SS Angelorum decentius contegatur“ (zit. nach Bailey, ebd., S. 347, Anm. 176), wie im übrigen ebenfalls für die Figur der hl. Magdalena in Pulzones „Beweinung“ für die Cappella della Passione im Gesù (1593), heute im Metropolitan Museum in New York. Zumindest für die Rezeption dieser Begebenheit, auf die es mir hier vorrangig ankommt, ist entscheidend, wie sie im Seicento kolportiert wurde, was uns Baglione und später Carlo Cesare Malvasia (Felsina pittrice: Vite de pittori bolognesi [Bologna 1678], hg. v. Giampetrino Zanotti, Bologna 1841, Band I, S. 381) und Filippo Titi in seinem Studio di pittura, scoltura, et architettura, nelle chiese di Roma (1674–1763), Repr. Florenz 1987, Bd. 1, S. 100 bezeugen. Zum Gemälde Pulzones siehe auch Alexandra Dern, Scipione Pulzone (ca. 1546–1598), Weimar 2003, S. 69. Malvasia erwähnt den Vorfall bei der Besprechung der Pala mit drei Engeln des Bologneser Malers Francesco Brizio für die Cappella Pelloni in der Kirche S. Martino in Maggiore (Ellen Hermann-Atorino, Francesco Brizio, Worms 1989, S. 145-6, no. G3, fig. 42), die aus demselben Grund „fattagli fare da un di que’ padri, e osservato il volto di un di essi […] non minor scandalo di quello fossero mirati quegli Angeli, che nella cappella de’ stessi nel Giesù di Roma dipinse Scipion Gaetano“ ausgelöst hätte (ebd., S. 381). 51  Siehe hierfür Fabrizio D’Amico, Scipione Pulzone, l’Assunta di S. Silvestro al Quirinale, e un aspetto del rapporto fra pittura e controriforma, in: Daniela Gallavalotti Cavallero, ders. & Claudio Strinati, L’arte in Roma nel secolo XVI. Bd. 2, La pittura e la scultura, Bologna 1992, S. 231–243; auch Dern, Pulzone 2003, S. 53–55 und 135–137 (zu Scipione Pulzones Gemälde). Den Hinweis auf diesen Vorgang verdanke ich Alexander Perrig.

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„che il quadro dell’Assuntione della Madonna […] sia fatto con tutta quella circonspettione, et accuratezza che si può maggiore, circa la verità dell’historia, et esatta ripresentazione di tanto misterio.“ „daß das Gemälde mit der Auferstehung der Madonna […] mit der größtmöglichen Umsicht und Genauigkeit hinsichtlich der Wahrheit der Geschichte und der exakten Darstellung des so großen Mysteriums gemacht sei.“52

Paleotti beriet sich bezüglich des von Antoniano angesprochenen Widerspruchs zwischen der Bildtradition und den neuen Präskriptionen ausführlich mit Carlo Sigonio, dem Sekretär des Kardinalskollegs, und verfaßte schließlich ein Antwortschreiben, in dem er empfahl, sich grundsätzlich an der „consuetudine antica della S.ta Chiesa“ – „an der alten Gepflogenheit der Heiligen Kirche“ zu orientieren, wenn nicht „ci è scrittura canonica, o necessità di vive ragioni, che astringa in contrario.“ „wenn es nicht eine kanonische Schrift gibt oder Notwendigkeit durch sehr gute Gründe, die das Gegenteil erzwingen“.53

Ferner gibt er detaillierte Anweisungen für die richtige Positionierung des Sarkophags im Bild, die Gruppierung der Apostel um den Sarkophag, deren Blickrichtungen und für das Aussehen der Madonna. Sie wurden von Scipione Pulzone präzise befolgt. Besser als mit diesem Beispiel läßt sich das in Rom infolge der intensiven Debatten über religiöse Malerei in nachtridentinischer Zeit entstandene Klima kaum illustrieren, und es ist durchaus anzunehmen, daß es eine Vielzahl ähnlicher Fälle gab, die nicht dokumentiert sind. Blickt man vor diesem Hintergrund auf die Fülle ambiger Darstellungen in den ersten Jahrzehnten des Seicento, die den Gegenstand dieses Buch bilden, ist folglich nicht nur zu fragen, wie sich ihre Existenz erklärt, sondern auch, welche Reaktionen ihr Auftreten in einer Kultur, die ihre Bildsprache derart normierte, auslösten.

Verhandlungen über das ‚Darstellbare‘ Im Prinzip zeigt sich in den genannten diskrepanten ‚gemalten‘ Reaktionen der Zeitgenossen auf Caravaggios Werke – also der Übernahme und Forcierung ihrer Ambiguität und Unkonventionalität oder deren Nivellierung – das, wovon auch die Texte im Modus der Präskription oder – wie im Fall der Korrespondenz zwischen Antoniano und Paleotti – in Form des Dialogs sprechen: Um 1600 und bis weit ins Seicento hinein ist die Frage virulent, was darstellbar ist, und vor allem, wie es darstellbar ist. Das gilt, wie zu zeigen sein 52  Brief vom 13. April 1583; zitiert nach Paolo Prodi, Ricerche sulla teorica delle arti figura-

tive nella riforma cattolica, Rom 1962, S. 191 (Hervorh. V. v. R.). 53  Brief vom 27. April 1583; ebd., S. 193.

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wird, keineswegs nur für solche Themen, die als ‚gegenreformatorisch’ klassifiziert wurden. Diese Beobachtung deckt sich mit parallelen Ansätzen in unseren historisch ausgerichteten geistes- und kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen, die seit längerem im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert eine „Krise der Repräsentation“ postulieren, in der das Verhältnis zwischen ‚res‘ und ‚verba‘ bzw. ‚signa‘ problematisch wird und in der in Texten und Künsten explizit und implizit Fragen der Semantisierung verhandelt werden.54 „Les mots et les choses“ lautet bekanntlich der originale Titel der wirkmächtigen Abhandlung Michel Foucaults, die im historischen Aufriß diachrone Sprachund Denkordnungen rekonstruiert und im 17. Jahrhundert einen epistemischen Bruch konstatiert, in dem die binäre Zeichentheorie die ternäre ablöste und sich die Epistemologie der Repräsentation als das jeden Denkvorgang und Äußerungsakt strukturierende Denkmuster durchsetzte.55 Ich will meinen Überlegungen nicht Foucaults archäologisches Modell mit all seinen methodischen und theoretischen Implikationen zugrunde legen oder gar den postulierten Wechsel vom ternären zum binären Modell auf die Bildkünste übertragen. Letzteres ist in meinen Augen weder sinnvoll noch plausibel, denn Foucaults Ausführungen tragen stark den spezifischen Bedingungen der Sprache Rechnung und lassen sich folglich nur sehr begrenzt und auch nur punktuell gewinnbringend auf visuelle Medien beziehen.56 Woran es aber für 54 Vgl. etwa: Theatralität und die Krisen der Repräsentation, hg. v. Erika Fischer-Lichte,

Stuttgart 2001, darin bes. die Einleitung zu Teil 1 von Andreas Kablitz, „Krise der Repräsentation“ im 17. Jahrhundert, S. 23–27; Robert Weimann, Shakespeare und die Macht der Mimesis. Autorität und Repräsentation im elisabethanischen Theater, Berlin/Weimar 1988; ­Andreas Mahler, Epistemologisches Interpretieren – Der Historiker Foucault und S­ hakespeares „Troilus and Cressida“, in: Shakespeare-Jahrbuch (1994), S. 113–128, bes. 127 f.; Paul Münch, 1600. Ordnungen im Umbruch – Angst und Vernunft, in: Das Jahrtausend im Spiegel der Jahrhundertwenden, hg. v. Lothar Gall, Berlin 1999, S. 241–284. Loci classici der Literatur des späten ­ antagruel“ 16. und frühen 17. Jahrhunderts sind das 9. Kapitel von Rabelais’ „Gargantua und P und Cervantes’ „Don Quichotte“. An älteren Untersuchungen ist zu nennen: Friedrich ­Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris 1934; Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1939 (Orig. Paris 1935). Von einer „Krise der Repräsentation“ mit Bezug auf die Malerei der Frühen Neuzeit spricht Victoria von Flemming, Dissimulazione. Lorenzo Lippi, Salvator Rosa und die Krise der Repräsentation, in: Diletto e Maraviglia: Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis zum Barock. Rudolf Preimesberger zum 60. Geburtstag, hg. v. Christine Göttler, Ulrike Müller Hofstede u. a., Emsdetten 1998, S. 75– 100, hier 78–80. 55  Michel Foucault, Les mots et les choses, Paris 1966; dt. unter dem Titel „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft“, Frankfurt a. M. 31974, S. 31–113, bes. 83–91. 56  Auch wenn Foucault in seinem Aufsatz „Worte und Bilder“ das „Sichtbare“ („visible“) mit dem „Sagbaren“ („dicible“) parallelisiert (Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften. Band I. 1954–1969, hg. v. Daniel Defert & François Ewald, Frankfurt a. M. 2001, Nr. 51, S. 794–797, hier 795: „… Überschneidung, Isomorphie, Transformation, Übersetzung: kurz: das ganze Feston des Sichtbaren und des Sagbaren, das eine Kultur in einem bestimmten geschichtlichen

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die Kunstwissenschaft anzuknüpfen lohnt, weil es sowohl zur Beschreibung von Strukturen des Wandels in den Künsten generell als eben auch gerade für die von mir beobachteten Phänomene um 1600 heuristisches Potential birgt, ist das in Foucaults archäologischen Schriften entwickelte epistemologische Denkmodell insbesondere in seiner Relation zur Bestimmung des Verhältnisses der ‚Worte‘ resp. ‚Zeichen‘ zu den ‚Dingen‘.57 Indem Foucault in jeder Erkenntnis eine von den Diskursen bestimmte Ordnung des Denkbaren vorgegeben sieht, die wiederum historischem Wandel unterliegt, ändert sich folglich das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gedacht und gesagt werden kann. Damit liefert er historisch arbeitenden Disziplinen einen Ansatzpunkt für die Analyse von Vorgängen des Wandels, der in einigen Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft wie etwa der Historischen Semantik auch aufgegriffen wurde, um konkreter als es Foucault selbst leistet – er konstatiert ja nur die Ablösung von Epochen, blendet aber die Frage, warum sie einander ablösen und wie sich dieser Prozeß vollzieht, weitgehend aus –58 Transformationsphänomene zu untersuchen.59 Dieses Denkmuster basiert auf dem Axiom, daß in Augenblick auszeichnet“), wird diese Einbeziehung der visuellen Medien doch theoretisch nicht elaboriert. Bekanntlich zieht er ebenfalls an markanten Umbruchstellen der Episteme Kunstwerke wie Velázquez’ „Meninas“ zur Illustration heran, in denen sich für ihn die epistemologischen Brüche verdichtet abbilden, was er jedoch ebenfalls nicht theoretisch ausführt; siehe hierzu: Svetlana Alpers, Interpretation ohne Darstellung – oder: Das Sehen von „Las Meninas“, in: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, hg. v. Wolfgang Kemp, Köln 1985, wiederabgedruckt in: Thierry Greub (Hg.), Las Meninas im Spiegel der Deutungen. Eine Einführung in die Methoden der Kunstgeschichte, Berlin 2001, S. 194– 206; Rainer Marx, Der Platz des Spiegels, in: Michel Foucault. Velázquez’ Las „Meninas“. Der Essay von Michel Foucault, Frankfurt a. M. 1999, S. 57–88; Foucault und die Künste, hg. v. ­Peter Gente, Frankfurt a. M. 2004; darin vor allem der Beitrag von Ulrich Raulff, Der Souverän des Sichtbaren. Foucault und die Künste – eine Tour d’ horizon, S. 9–20. 57 ‚Episteme‘ wird definiert als Instanz, welche „die historischen Bedingungen definiert, unter denen ein bestimmtes Denken möglich wird“ (Ulrich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Histo­rizität. Foucault als Historiker, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 122); weiter heißt es ebd.: „Sie organisiert das Verhältnis der Sprache, des wichtigsten Kommunikationszugangs des Menschen in der Welt zu den Dingen. Der Clou dieses Vorhabens besteht darin, die Episteme nicht als eine vorgeschaltete Ordnung zu begreifen, sondern ihre Positivität aus dem empirischen Sprach- und Denkakten zu destillieren.“ Siehe auch Ulrich Johannes Schneider, Michel Foucault, Darmstadt 2004, S. 66–100. 58  Vgl. Kablitz, Krise der Repräsentation 2001, S. 23: „Epistemologische Ordnungen sind gleichsam synchrone Formationen, die übergangslos aufeinanderfolgen und deren Abfolge sich keinem erklärenden oder auch nur erläuternden Grund subsumieren läßt.“ 59  Siehe hierfür Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001; Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780–1867, Stuttgart 1993; Hans Erich Bödeker (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 22002; das von Rolf Reichardt herausgegebene Beiheft 21 der Zeitschrift für Historische Forschung mit dem Thema „Aufklärung und Historische Semantik“ (1998), darin vor allem die Beiträge des Herausgebers und Hans-Jürgen Lüsebrink. Grundlegend für die Überlegungen zur Anschlußfähigkeit der Künste in epistemologischer Perspektive vor allem: Klaus W. ­Hempfer,

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einer Gesellschaft nicht zu allen Zeiten alles sagbar ist, was nach Möglichkeiten von Grammatik und Logik durchaus sagbar wäre. Meine daran anknüpfende Überlegung ist, daß genau die Frage, was ‚sagbar‘ oder – in der Übertragung auf die Bildkünste – ‚was ‚darstellbar‘60 ist – nicht im technisch-artistischen Sinn, sondern im Sinn des ‚diskursiv Möglichen‘ –, für die Künstler um 1600 selbst in einem so hohen Maße virulent wurde, daß sie es mehr oder weniger explizit zum Thema machten. Mit kalkulierten Überschreitungen der visuellen Tabugrenzen erproben und verletzen sie die Grenzen des Darstellbaren und handelten sie damit zugleich auch neu aus. Maler wie Caravaggio und zahlreiche andere, denen meine Untersuchung gilt, erproben Bildformulierungen für verschiedene Kontexte und arbeiten dabei an einem Kernproblem des frühneuzeitlichen Gemäldes: dem Verhältnis von ‚res‘ und ‚signa‘ und damit der Frage, wie Bedeutung im Bild überhaupt generiert wird. Diesen Prozeß im Zeitraum von etwa 1595 bis etwa 1630 nachzuzeichnen ist Ziel der folgenden Ausführungen, das also das Erkenntnisinteresse der Forschung, das sich auf die individuelle Haltung der Maler zur nachtridentinischen Kirche richtete, verschiebt.61 Bei der Rekonstruktion dieses Vorgangs betrachte ich weitgehend unabhängig voneinander zwei in funktionaler Hinsicht verschiedene Bildgattungen oder -typen: das Sammler- oder Galeriebild, das in Rom in dieser Zeit einen großen Erfolg erlebte, auf der einen und das Bild für den

Probleme traditioneller Bestimmungen des Renaissancebegriffs und die epistemologische ‚Wende‘, in: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst, hg. v. dems., Stuttgart 1993, S. 9–45; auch ders., Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: Die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard), in: Modelle des literarischen Strukturwandels, hg. v. Michael Titzmann, Tübingen 1991, S. 7–43, wiederabgedr. in: ders. Grundlagen 2002, S. 41–75, bes. 70–72; ders., Bernd Häsner, Irina Rajewsky u. a., Diskursivierung des Performativen, in: Paragrana 13,1 (2004), S. 81–127, bes. 100–120. 60  Ich ersetze Foucaults eigenen, allerdings selten verwendeten Begriff des „Sichtbaren“ („visible“) durch den des „Darstellbaren“, da er das aktive Moment der Setzung stärker zum Ausdruck bringt. 61  Ich beziehe mich hier vor allem auf das Kapitel „Il Caravaggio e gli indirizzi della Controriforma“ von Ferdinando Bologna, L’incredulità del Caravaggio e l’esperienza delle „cose naturali“, Turin 1992, S. 11–92, dem es um die Rekonstruktion der persönlichen Haltung Caravaggios geht, was sich (einschließlich der Antwort des Autors) sowohl im Titel seines Buches, als auch in der Überschrift des Unterkapitels „Sottomissione o ultima resistenza?“ zeigt. Ich halte die Frage, was Caravaggio glaubte, weder für beantwortbar, noch für die Analyse seiner Werke für sehr weit führend. Dies gilt auch deswegen, weil es, wie ich in den Einzelanalysen zeigen werde, meist nicht die „gegenreformatorischen“ Bildvorstellungen gab, zu denen sich Caravaggio oder die anderen Maler folglich entweder affirmierend oder distanzierend hätten verhalten können; vielmehr lassen sich zu vielen Themen konträre Positionen auch in den durch Schriften und Bilder rekonstruierbaren Wert- und Glaubensvorstellungen festmachen, auf die die Maler wiederum in einer spezifischen Weise reagierten.

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Kirchenraum mit seiner weitgehenden Öffentlichkeit auf der anderen Seite.62 Diese Unterscheidung von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ ist insofern gerechtfertigt, als doch die Zeitgenossen die „quadri privati“ deutlich von den „opere publiche“63 unterschieden – eine Terminologie, die also grundsätzlich übernommen werden kann, wenngleich man sich selbstverständlich bewußt halten muß, daß insbesondere die Kategorie der ‚Privatheit‘ in einer Kultur der Geselligkeit wie der Frühen Neuzeit anders nuanciert ist als in unserem Sprachgebrauch.64 Was sich mit meinen Überlegungen zur spezifischen Situation um 1600 verbindet, ist auch ein theoretisch-methodologischer Versuch der Darstellung von Phänomenen des Wandels generell, speziell solchen, denen man epochalen Charakter zuerkannte. Gerade die Jahre um 1600 galten der kunsthistorischen Forschung stets als Zeitpunkt eines Epochenwechsels, und zwar von der Renaissance bzw. dem Manierismus zum Barock. Für die Malerei war er mit den Namen Caravaggio und Annibale Carracci verknüpft und mit stilistischen Veränderungen in ihren Gemälden sowie ihrem vermeintlich einzigen Interesse an einer ‚Nachahmung der Natur‘ begründet. Wenn ‚Stil‘ jedoch seine Funktion als zentrale Begründungskategorie der Kunstwissenschaft eingebüßt hat und wenn sich – wie noch zu zeigen sein wird – der vermeintliche ‚Naturalismus‘ oder ‚Realismus‘ insbesondere der Bildwelt Caravaggios zunehmend als artifiziell erzeugter Effekt erweist, dann fehlen Modelle der Beschreib- und Erklärbarkeit für die in der Malerei um 1600 allenthalben zu beobachtenden 62 Eine Zusammenstellung von Kriterien für ‚Öffentlichkeit‘ in der Frühen Neuzeit for-

mulieren Susanne Rau und Gerd Schwerthoff: „Als öffentlich möchten wir vorläufig ­Räume definieren, die für Menschen unterschiedlicher regionaler Herkunft, sozialer Zugehörigkeit und unterschiedlichen Geschlechts prinzipiell zugänglich waren. Weiterhin sollen diese ­Räume kommunikativ und interaktiv profiliert und für frühneuzeitliche Gesellschaften relevant sein …“ (Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. dens., Köln u. a. 2004, S. 11–52, hier 48). 63  Giulio Mancini, Considerazioni sulla pittura (Rom 1617–21), hg. und eingel. v. Adriana Marucchi, komm. v. Luigi Salerno, Rom 1956, S. 251. Zuvor bereits Armenini, De’ veri precetti (1586), S. 169 in seinem Kapitel über das Dekorum des Ortes: „E ciò causa l’esser diversi gli effetto et i fini a che essi tendono, che sí come altri soggetti et opere si fanno alle cose ­publiche et altre alle private, …“. Ähnlich Francesco Scannelli, Il microcosmo della pittura, Cesena 1657 (Repr. Bologna 1989), S. 199: „… nella Galeria dell’Eminentissimo Pio alcuni Quadretti, ed in particolare vna figura di S. Gio. Battista ignudo, che non potria dimostrare più vera carne quando fosse viuo, sicome l’Amoretto, che si ritroua appresso al Prencipe Giustiniani, che frà i dipinti priuati di Michelangelo da Carrauaggio sarà forsi il più degno“; Bellori schreibt (mit negativem Unterton) über Bartolomeo Manfredi „… venne a morte in Roma, non avendo lasciato in publico opera alcuna“ (Bellori, Vite 1976, S. 234). 64  Siehe für diesen Problemzusammenhang: Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, hg. v. Gert Melville & Peter von Moos, Köln 1998; Offen und verborgen: Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. v. ­Caroline Emmelius, Fridrun Freise u. a., Göttingen 2004.

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Einführung

Veränderungen. Mit der eingedenk des konstruktiven Charakters epochaler Formationen erfolgten Einführung des Terminus ‚Frühe Neuzeit’ hat die Kunstwissenschaft das Problem elegant umschifft. Gleichwohl ist es in meinen Augen lohnend, dieses Thema unter veränderten Prämissen und im Bewußtsein des Entwurfscharakters solcher Versuche erneut anzugehen und nach Parametern zu suchen, die als Indikatoren von Wandel gelten können. Dies ist gerade auch vor der Folie des massiv anwachsenden Interesses an barocker und neobarocker Ästhetik sinnvoll.65 Dabei ist die terminologische Frage – was man als Barock, Frühe Neuzeit oder Manierismus betitelt – für mein Vorgehen unerheblich. Mich interessiert, welche Veränderungen in welchen Dynamiken geschehen, wie sie sich beschreiben lassen und was die Ursachen für sie sind. In diesem Sinne möchte ich zeigen, daß sich die Jahrzehnte um 160066 als eine Phase beschreiben lassen, in der aus noch zu erläuternden Gründen das Tradierte grundsätzlich überdacht, relativiert und neu justiert wird. Es ist also gerade das Ausloten der Bedingungen und Möglichkeiten des Darstellbaren für die alten wie die neuen Bildkontexte, und damit die Verrückung oder Umordnung der semantischen Formationen, die einen Wandel des Darstellungssystems indizieren. Gerade in Italien, in der diese Phänomene massiv in den hier fokussierten Jahrzehnten auftreten, um dann aber ab den 1630er Jahren vergleichsweise zügig und weitgehend spurlos wieder zu verschwinden und von einer verbindlichen ‚hoch­ barocken‘ Bildsprache verdrängt werden, läßt sich dieser Prozeß idealtypisch beobachten.67

Veränderungen des ‚Bildwürdigen‘ Was sind nun die Bedingungen und Gründe für diese Prozesse? Daß es um 1600 zu einem Überdenken internalisierter Normen und Konventionen und deren visueller ‚Verhandlung‘ kommt, liegt in meinen Augen zum einen gerade an der versuchten massiven Regulierung der Bildsprache im Zuge der Ausbildung einer nachtridentinischen Bildtheorie, und zum anderen an den sich in relativ kurzer Zeit ereignenden massiven Veränderungen in den kommunika65  Ich nenne nur wenige Titel: Barock als Aufgabe, hg. v. Andreas Kreul, Wiesbaden 2005;

Estetica barocca (Akten des Kongresses in der Accademia Nazionale dei Lincei März 2002), hg. v. Sebastian Schütze, Rom 2004; Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche, hg. v. Peter J. Burgard, Wien 2001. 66  Siehe etwa Sidney J. Freedberg, Circa 1600. A Revolution in Style in Italian Painting, Cambridge (MA) 1983. 67  Wenn ich oben das Schlagwort der „Krise der Repräsentation“ angeführt habe, so soll damit keine Nähe zum Manierismuskonzept, das ja lange Zeit explizit oder implizit geistesgeschichtlich fundiert war, suggeriert werden. Es dürfte deutlich geworden sein, worin die Unter­ schiede zwischen einer geistesgeschichtlich fundierten Epochenbestimmung, in der Kunst und Literatur als Symptom oder Indikator einer bestimmten – in diesem Fall: krisenhaften – mentalen Verfaßtheit gelesen werden, und einer epistemologischen bestehen.

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tiven Rahmenbedingungen für die Künste, speziell in deren Ordnungssystem. Damit meine ich zunächst Veränderungen, die die Gattungen sowohl in bezug auf das Inhalts- oder Sujetkriterium als auch auf das funktionale Kriterium betreffen. Letzterem kommt in meiner Arbeit zentraler Stellenwert zu. Denn die breite Etablierung des Sammlerbildes in Rom um 1600 hatte eine Reihe bedeutsamer, den Status der Bilder betreffender Implikationen. In die um 1600 massiv anwachsenden Sammlungen gelangten schließlich nicht nur die Gemälde mit weitgehend neuen Sujets wie dem Stilleben, der Landschaft und dem Genre68, die hier auf einen ihnen adäquaten Rezeptionsrahmen stießen; das Gros der Bilder in Sammlungen war vielmehr religiös.69 Dabei verdeutlichen besonders diejenigen Werke, die ursprünglich für einen anderen Ort und für eine andere Funktion bestimmt waren, wie sich durch die seit 1600 massiv anwachsenden Bildersammlungen die Rahmenbedingungen der Künste sowohl auf der produktionsästhetischen wie der rezeptionsästhetischen Ebene ändern. Die Tatsache, daß Caravaggios von der Priesterschaft von San Luigi dei Francesi abgelehntes Altarbild mit dem Apostelevangelisten Matthäus in die Sammlung Giustiniani gelangte und dort nachweislich in derselben Sala hing wie der provozierend nackte „Amor Vincitore“ in Berlin (Abb. 14), der „Lautenspieler“ (St. Petersburg; Abb. 17) und das erwähnte Porträt der Kurtisane Fillide (ehem. Berlin; Abb. 16),70 macht die Dimensionen der Dekontextualisierung der Bilder gerade in bezug auf meine Fragestellung nach den Grenzen und Möglichkeiten des Darstellbaren deutlich. Gleichzeitig wirft dieser Vorgang die Frage nach den Produktions- und Rezeptionsbedingungen auch für jene religiösen Darstellungen auf, die nicht Produkt eines nachträglichen Kontextwechsels waren, sondern von vornherein für Sammlungen bestimmt waren.

68  Hierfür Bert W. Meijer, Sull’ origine e mutamenti dei generi, in: La Pittura in Italia. Il

Seicento, Bd. 2, Mailand 21989, S. 585–604. Silvia Danesi Squarzina, Natura morta e il collezionismo a Roma nella prima metà del Seicento, in: Natura morta, pittura di paesaggio e il collezionismo a Roma nella prima metà del Seicento, hg. v. ders., Rom 1996, S. 9–75. Dies., Natura morte e collezionismo a Roma nella prima metà del Seicento. Il terreno di elaborazione dei generi, in: Storia dell’arte 93/94 (1999), S. 266–291. 69  Hierzu Luigi Spezzaferro, Problemi del collezionismo a Roma nel XVII secolo, in: Geografia del collezionismo. Italia e Francia tra il XVI e il XVIII secolo (Atti delle giornate di studio, Roma 19–21 settembre 1996), hg. v. Olivier Bonfait, Michel Hochmann u.a, Rom 2001, S. 1–23. Auch Patrizia Cavazzini, La diffusione della pittura nella Roma di Primo Seicento: Collezionisti ordinari e mercanti, in: Quaderni storici 116 (2004), S. 353–374. 70  Luigi Salerno, The Picture Gallery of Vincenzo Giustiniani II: The Inventory, Part II, in: The Burlington Magazine 102 (1960), S. 135–148, hier S. 135, Nr. 1 („Un quadro grande di S. Matteo con l’Angelo che l’insegna figure intiere dipinto in tela … di mano di Michelang.o da Caravaggio …“) und Nr. 9 („Un quadro con un Amore ridente, in atto di dispregiar il mondo, che tiene sotto con diversi stromenti Corone, Scettri, et armature chiamato per fama il Cupido del Caravaggio dipinto in tela …“).

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Einführung

17 Caravaggio, Lautenspieler, St. Petersburg, Eremitage

Wie sehr die Entstehung der Bildgattungen Landschaft, Genre und Stilleben im ausgehenden Cinque- und frühen Seicento die Bildkonventionen und Sehweisen verändert hat, wird durch den Umstand deutlich, daß sich – legt man die später kanonisch werdende Zahl von fünf Bildgattungen zugrunde – binnen weniger Jahrzehnte die Anzahl der Gattungen von zwei auf fünf erweiterte. Indiziert die Entstehung einer neuen Gattung generell die Veränderung der Bedingungen von Wahrnehmung, so gilt dies in besonderer Weise, wenn sich, wie es in der Malerei um 1600 ja der Fall ist, das Gattungsspektrum ‚nach unten‘ erweitert. Wenngleich in diesem Zeitraum kaum ein derart starres und hierarchisches Werteschema wie im späteren französischen Akademiewesen existierte, so ist doch mit Sicherheit davon auszugehen, daß aufgrund der Sujets und der Formate der Werke ein Bewußtsein für die Rangniedrigkeit der neuen Gattungen, speziell des Genrebildes und des Stillebens, ausgebildet war.71 Auch den unter diesem Gesichtspunkt von den Zeitgenossen bekanntlich intensiv studierten antiken Schriften konnte man entsprechende Wertvorstellungen entnehmen;72 so etwa, wenn Plinius von „minoris picturae“ spricht oder den

71  Sehr deutlich wird das in den Kunsttheorien von Giovanni Battista Agucchi und Carlo

Cesare Malvasia, wie Victoria von Flemming gezeigt hat. Sie mockieren sich über Caravaggios Wahl von „oggetti fermi“ wie Melonen etc. anstelle von „lebendigen Bewegungen“ als Sujets für seine Gemälde, sprechen dem Künstler jede Phantasieleistung ab, und auch der Betrachter benötigt in der Rezeption entsprechend keinen „intelletto“ (siehe Victoria von Flemming, Arma amoris. Sprachbild und Bildsprache der Liebe. Kardinal Scipione Borghese und die Gemälde­zyklen des Francesco Albani, Mainz 1996, S. 257–279). 72  Siehe hierfür die einschlägigen Texte von Aristoteles, Horaz, Plinius, Leonardo, Vasari, Paleotti, Lomazzo und Bellori samt zugehörigen Kommentaren in: Die Genremalerei (= Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren. 4), hg. v. Barbara Gaehtgens, Berlin 2002.

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18 Annibale Carracci, Bohnenesser, Rom, Galleria Colonna

Beinamen des Malers Peiraikos, „Rhypographos“ (Schmutzmaler), nennt.73 Klaus Hempfers Beobachtung, daß die Entstehung rangniedriger Gattungen per se mit einem Normverstoß einhergeht,74 leuchtet gerade im Blick auf frühe römische Genrebilder, wie Annibale Carraccis „Bohnenesser“75 (Abb. 18) oder Caravaggios „Wahrsagerin“76 (Abb. 19) unmittelbar ein. In beiden Gemälden wird etwas bildwürdig, das es zuvor zumindest in diesem Kulturkreis nicht war. Die Wirkung solcher Werke auf die zeitgenössischen Betrachter wird man sich folglich kaum groß genug vorstellen können. Caravaggio, der mit seinem „Früchtekorb“ in der Ambrosiana (Abb. 20) und mit seinen Genrebildern, der „Wahrsagerin“, den „Kartenspielern“ und den ein- und mehrfigurigen Knabendarstellungen, wesentlich an der A ­ usbildung 77 von zweien dieser drei neuen Bildgattungen beteiligt war, muß ein sehr 73  Ebd., S. 72. Siehe das vollständige Zitat in Kap. 1, Anm. 18. 74  Klaus W. Hempfer, Gattungskonstitution als Normverletzung: Zum Problem der Poetik

‚niederer‘ Gattungen im Kontext der Regelpoetik, in: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, hg. v. Werner Helmich & Astrid PoierBernhard, München 2002, S. 240–253. 75  „Mangiafagioli“, 57 × 68 cm; gegen 1583/84; Rom, Galleria Colonna; siehe Donald Posner, Annibale Carracci. A Study in the Reform of Italian Painting around 1590, New York 1971, Nr. 8a, S. 5. 1674 wird es im Inventar der Pallavicini-Sammlung bezeichnet als: „Un Villano che mangia fagioli … mezza figura al naturale – di Annibale Carracci“. Ich subsumiere die in Carraccis vorrömischer Zeit entstandenen „Mangiafagioli“ hier unter die römischen Genrebilder, da sich das Gemälde frühzeitig in Rom befand und es mir hier auf die Rezeption ankommt. 76  Für das Bild, von dem es zwei als eigenhändig geltende Fassungen gibt, die sich in der Pinacoteca Capitolina und im Musée du Louvre befinden (115 × 150 cm bzw. 99 × 131 cm): Marini 2001, Nr. 19, S. 403 f. bzw. Nr. 22, S. 408–411; Cinotti 1983, Nr. 42, S. 484–487 bzw. Nr. 58, S. 519–521. 77  Zum „Früchtekorb“ und seinem Stellenwert bei der Entstehung der Gattung des Stillebens zuletzt Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggios Früchtekorb – das früheste Stilleben?, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65 (2002), S. 1–23. Für meine Themenstellung ist nicht relevant, ob das Bild – und das gilt ebenfalls für Caravaggios Genrebilder – tatsächlich jeweils das ‚erste‘ seiner Gattung war. Entscheidend ist vielmehr ihre Wirkung auf die Bildproduktion seiner Zeit, die in bezug auf beide Gattungen extrem groß war.

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19 Caravaggio, Wahrsagerin, Paris, Musée du Louvre

20 Caravaggio, Früchtekorb, Mailand, Pinacoteca Ambrosiana

genaues Gespür für die Bedeutung dieses Wandels und die mit ihm einhergehenden Veränderungen der Wertigkeiten besessen haben. Sein von Vincenzo Giustiniani überlieferter Ausspruch, für ihn bedeute ein gutes Figurengemälde ebenso großen Aufwand wie ein Blumenbild,78 bezeugt dies i­ndirekt in seiner forciert unkonventionellen Haltung, die offensichtlich darauf angelegt war, einer Norm zuwiderzulaufen. Diese Haltung manifestiert sich auch in Caravaggios Umgang mit dem Formvokabular der neuen Bilder. So fügte 78  „Il Caravaggio disse, che tanta manifattura gli era a fare un quadro buono di fiore come

di figure“ (Vincenzo Giustiniani, Lettera sulla pittura a Teodoro Amideni [d.i. Dirck van ­Ameyden]), in: Lettere Memorabili dell’ Ab. Michele Giustiniani, Rom 1675, Bd. III, Nr. 85). Der Brief wurde kurz nach 1610 verfaßt.

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21  Caravaggio, Martyrium des hl. Matthäus, Rom, S. Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli

er Figuren, die als bravi-artig gekleidete Jungen mit Federbuschhüten eher dem Genre zuzurechnen sind, in seine ersten großen, für den Kirchenraum bestimmten Historiengemälde, die Darstellungen der Berufung und des Martyriums des Matthäus in der Contarelli-Kapelle (Abb. 2 und Abb. 21), ein, wo sie den Zeitgenossen durch ihre weder zeitgenössische noch zeitlose ­Kleidung79 wie 79  Die kontroverse Forschungsdiskussion um die Frage, ob die Kostüme, die auch die Zöll-

ner in Caravaggios „Berufung Matthäi“ tragen, als zeitgenössisch gelten können, faßt Nicole Hartje, Bartolomeo Manfredi (1582–1622). Ein Nachfolger Caravaggios und seine europäische Wirkung. Monographie und Werkverzeichnis, Weimar 2004, S. 133 f. gut zusammen. Demnach spricht viel dafür, daß die Zeitgenossen die Figuren als verkleidet wahrnahmen. Bezeichnenderweise zeigt Nicolas Régniers „Scena di genere“ im Warschauer Muzeum Narodowe ein ausgelassenes Kostümfest mit eben diesen Kleidungen; obendrein sind die Figuren maskiert. Siehe zu dem Gemälde: Pier Luigi Fantelli, Nicolò Renieri „Pittore Fiammingo“, in: Saggi e memorie di storia dell’arte 9 (1974), S. 77–115, hier S. 191, Abb. 49.

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kostümiert erschienen sein müssen. Bekanntlich genossen sie eine beispiellose fortuna critica, wobei das Gros der Maler sie bezeichnenderweise in genrehafte Spieler- und Musikerdarstellungen ‚rücktransferierte‘. Vor diesem Hintergrund läßt sich auch Caravaggios Rolle in diesem Prozeß der Umformulierung der Bildsprache bestimmen und damit plausibel machen, warum eine Untersuchung, die epistemologisch perspektiviert ist und die Veränderungen in der visuellen Semantik in der Malerei von gut drei Jahrzehnten beschreiben will, seinen Namen im Titel trägt. Caravaggio war, wie ich im folgenden zeigen möchte, ‚Vorreiter‘ hinsichtlich der Wahrnehmung des umfassenden Transformationsprozesses der künstlerischen Systeme seiner Zeit. Er erkannte, welche Verfahren unter den veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen und den massiven Regelungsversuchen in den Bildern im öffentlichen Raum verändert wurden, und reagierte darauf, indem er die künstlerischen Verfahrensweisen und Normen, die die künstlerische Produktion seiner Zeit bestimmten, in einer sehr spezifischen Weise zugleich bediente und brach, und damit dissimulierend-ironisch80 in Frage stellte. So setzte er einen Prozeß in Gang, der teils in Abhängigkeit von ihm durch die römischen ‚Caravaggisten‘, teils aber auch unabhängig von ihm von Malern wie Furini, Cagnacci und Vignali in anderen Regionen weitergeführt wurde.

Anmerkungen zum Sprachgebrauch Alle genannten Kirchen und Sammlungen befinden sich, sofern nicht anders vermerkt, in Rom. Wenn nicht anders angegeben, sind die frühen Besitzer der Werke unbekannt, ohne daß darauf jeweils hingewiesen wird. Aus sprachlichen Gründen, nicht um die weitgehende Exklusion des weiblichen Publikums der Bilder (in den privaten Sammlungen) abzubilden, spreche ich meistens im Singular von ‚dem Betrachter‘. Der Terminus ‚Caravaggisten‘ wird trotz der problematischen Implikationen aus Gründen der Verständigung für die Maler, die von der Forschung so bezeichnet werden, verwendet. Die Anführungszeichen sollen die Distanz zu der ihm anhaftenden Konnotation des Epigonalen markieren. Die historische Distanz mag es rechtfertigen, daß mit dem Begriff der ‚Zeitgenossenschaft‘ Caravaggios recht großzügig umgegangen wird und auch Werke aus dem zweiten und dritten Jahrzehnt des Seicento darunter subsumiert werden, sofern nicht eine Differenzierung durch die Sache selbst erforderlich ist.

80  Zur Dissimulationsironie bes. Kap. III.2.4.

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I Posen und Rollenspiele Die Performativität des Bildes

1. Performativität in profanen Gemälden 1.1 Caravaggios „Bacchus“ im Atelier: Posen und Rollenspiele eines Knaben Seinem Charme entzieht man sich nicht leicht: Bacchus, lebensgroß, in Gestalt eines zwölf- bis fünfzehnjährigen Jünglings mit schwarzem, dicht gelocktem Haar und schön geschwungenen Brauen, der sein noch kindlich-weiches, zum muskulösen Oberkörper nicht recht passendes Gesicht leicht nach unten wendet, fixiert uns mit tiefschwarzen Augen (Abb. 22).1 Auf einer Kline oder simplen Liege lagernd, einen überquellenden Obstkorb vor sich, prostet er uns mit einer gut gefüllten Weinschale zu. Der Physio­gnomie und den dreckigen Fingernägeln nach zu urteilen ist dieser Bacchus weit mehr ein römischer ragazzo als ein antiker Gott. Er lebt nicht im olympischen Ambiente, nicht in der freien Natur, sondern posiert in einem nicht näher bestimmten Raum, an einem unantikischen Steintisch vor dunklem Hintergrund. Drapiert ist er mit einem in seiner Stofflichkeit kaum charakterisierten Tuch, das für die Bedeckung der Liege und zur Verhüllung der linken Körperseite des Knaben eigentlich zu massiv ist, dennoch den größeren Teil seines Oberkörpers unbedeckt läßt. Daß die Nacktheit nicht der natürliche Zustand dieses Bacchus ist, indizieren die krassen Unterschiede im Inkarnat des Knaben zwischen 1  95 × 85 cm; ca. 1595/96; Florenz, Uffizien; Marini 2005, Nr. 23, S. 411–413; Elena Fumagalli, in: La natura morta a palazzo e in villa. Le collezioni dei Medici e dei Lorena (Ausst.Kat. Firenze, Palazzo Pitti 1998), hg. v. Marco Chiarini Livorno 1998, Nr. 33, S. 88; Cinotti 1983, Nr.  13, S.  431–433; The Age of Caravaggio 1985, Nr. 71, S.  241–246; auch: Bacco di Caravaggio a Capodimonte (Ausst.-Kat. Napoli, Museo di Capodimonte 2003), hg. v. Paola Giusti & Nicola Spinosa, Neapel 2003. Die frühe Geschichte des Gemäldes, vor allem die ­Frage, wann das Gemälde an den Großherzog von Florenz, Ferdinando I de’ Medici, ge­langte, und welche Rolle der Kardinal del Monte bei diesem Transfer spielte, ist etwas unklar. Die Einträge in Inventaren der Gemälde in der Villa des Großherzogs in Artimino aus den Jahren 1609, 1620 und 1638 nennen zwar nicht den Namen des Künstlers, werden in der Forschung aber traditionell mit Caravaggios Gemälde in Verbindung gebracht. Angesichts der engen Beziehungen von Caravaggios frühem Förderer, dem Kardinal Francesco del Monte, der dem Kardinal ­Ferdinando als Ratgeber von Florenz nach Rom folgte und nach dessen Ernennung zum Großherzog Kurienkardinal und Geschäftsträger des Großherzogtums beim Heiligen Stuhl war, wurde vermutet, es handelte sich bei dem Gemälde um ein Geschenk del Montes an den Großherzog. Zygmunt Waźbiński, Il Cardinale Francesco Maria Del Monte: 1549–1626, Florenz 1994, Bd. 1, S. 98 f., erwähnt ein Dokument, das den Erwerb eines Bacchus-Gemäldes (ohne Nennung des Künstlers und der Maße) in Rom für den Großherzog im Jahre 1618 dokumentiert. Nach Claudio Pizzorusso (Amicizia di Bacco. Variazioni su un tema del Caravaggio, in: ­Artista. Critica dell’arte in Toscana [1998], S. 8–17, hier 10) ist es allerdings sehr unwahrscheinlich, daß es sich dabei um Caravaggios Gemälde handelte, da der Kaufpreis des Bildes von 20 scudi erheblich unter dem lag, was dessen Gemälde zu diesem Zeitpunkt kosteten.

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22  Caravaggio, Bacchus, Florenz, Uffizien

dem Gesicht und den Händen einerseits und dem Rumpf andererseits.2 Wir haben keinen jungen Gott vor uns, der in antikischer Nacktheit der ihm angestammten Tätigkeit – dem ungehemmten Genuß von Wein und der ausgelas2  Vgl. Hibbard, Caravaggio 1983, S. 40: „Caravaggio is attempting – unsuccessfully – to evoke an ancient and poetic world wholly outside his own. His pagan nude has the red face and hands of a man who is customarily clothed.“ Positiv gewendet von Eberhard König, Caravaggio, Köln 1997, S. 24.

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Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes

23 Caravaggio, Fruttaiuolo, Rom, Galleria Borghese

senen Feier mit seinem Thiasos – nachgeht, sondern einen Jungen, der in weitgehend entkleidetem Zustand, etwas nachlässig und keineswegs vollständig3 kostümiert eine Rolle einnimmt. Wie um auf das Forcierte des Arrangements hinzuweisen, steigert Caravaggio die Pose des Jungen ins Labile: Das leicht geneigte Glas läßt befürchten, der Wein würde sogleich überschwappen, und dieses transitorische Moment betonen auch die Bläschen am Rand, die vorgeben, vom soeben erfolgten Eingießen des Weins herzurühren –4 so, als habe Caravaggio exakt jenen Moment festgehalten, in dem der Knabe zum Bacchus und Bacchus ‚Bild‘ geworden ist. Weshalb haben die Zeitgenossen in dieser Figur überhaupt einen Bacchus erkannt?5 Primär gelang dies wohl aufgrund des Kranzes aus Weinlaub mit den großen dunklen – ein wenig zu dunklen – Trauben, die sich kaum von den schwarzen Haarlocken abheben, und sekundär wegen der Antike oder Antiki3  Es fehlen ihm der Thyrsosstab und das Pantherfell. 4  Eine Beobachtung von Maurizio Marini, Io, Michelangelo da Caravaggio, Rom 1974, S. 358.

Siehe hierzu auch unten, Anm. 80. 5  Das Gemälde läßt sich sicher mit drei Inventareinträgen, die es als „Bacco“ bzw. „Bacho“ bezeichnen, verbinden. Letztere ist die ausführlichste; sie lautet: „un quadro in tela […] ritratto un Bacco con una tazza di vino in mano coronato di grappoli d’uva e pampani“ (zit. nach ­Marini 2005, S. 411); vgl. auch: La natura morta 1998, Nr. 33, S. 88. Es befand sich im appartamento granducale der Medici-Villa d’Artimino.

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24 Caravaggio, Knabe, von einer Eidechse gebissen, London, ­National Gallery 25 Caravaggio, Konzert, New York, ­Metropolitan Museum

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zität evozierenden Nacktheit des Knaben samt Draperie und Kline. Aber dieser Bacchus ist von seiner Lebenswelt, den Silenen, Satyrn und Mänaden getrennt. Er ist ein ‚gezähmter‘ Weingott im Innenraum, in der Kunstwelt des MalerAteliers, der seinem Betrachter mit einem gut gefüllten Weinglas zuprostet. Wenige moderne Autoren konnten sich der Metaphorik des Theatralischen und Inszenierten enthalten, um den Bildeindruck von Caravaggios Frühwerk in den Florentiner Uffizien adäquat zu beschreiben.6 Das Moment der Pose samt dominanter Ausrichtung auf den Betrachter im ‚Close-up‘-Bildausschnitt verbindet den „Bacchus“ mit den anderen Knabenbildern in Halbfigur aus den ersten Jahren der Tätigkeit des Malers in Rom: dem „Fruttaiuolo“ in der Galleria Borghese (Abb. 23), der einen überquellenden Fruchtkorb vor sich hält,7 den von einer Eidechse in den Finger gebissenen und hierauf heftig reagierenden Jungen in der Londoner National Gallery (Abb. 24) und der Sammlung Longhi,8 den sichtlich bewegt seine Laute spielenden und dazu singenden Knaben in New York und Sankt Petersburg (Abb. 17)9 und den Musikern im „Konzert“ des Metropolitan Museum (Abb. 25),10 welche sich auf eine konzertante Darbietung vorbereiten. Sie alle sind körperlich und mimisch auf ihre Betrachter ausgerichtet11 und wenden sich mit ihren geöffneten Mündern und emotionalisierten Blicken aus tränenfeuchten Augen an sie. Der Eindruck des Posierens, den die Knaben mit dem Florentiner „Bacchus“ teilen, wird in­direkt auch durch die minimale Charakterisierung der Räumlichkeiten erzeugt, die 6  So jüngst von Leo Bersani & Ulysse Dutoit, Caravaggio’s Secrets, Cambridge (MA) 1998, S. 43–49, hier 43: „In various ways, Caravaggio’s figures resist being read only as that which they are meant to represent. This resistance has momentous consequences for his painting since it allows for the ontologically initiatory virtue of his work. It is, however, also occasionally visible as a blockage, or opacity, within the represented scene. In some of his paintings the models have a presence, a visibility that works against their disappearing within the roles assigned to them.“ Vgl. auch König, Caravaggio 1997, S. 24, der sein Kapitel über Caravaggios Knabenbilder mit „Die Pose im Atelier“ überschreibt, und John T. Spike, Caravaggio, New York 2001, S. 70. 7  70 × 67 cm; Rom, Galleria Borghese; Marini 2005, Nr. 3, S. 371–373; Cinotti 1983, Nr. 49, S. 499–501. Eine Übersicht über die Interpretationen der Knabenbilder in der Forschung unter allegorischem, moralischen und religiösen Vorzeichen gibt Christoph Schreier, Von der Darstellung zur Vergegenwärtigung: Motiv und Funktion des Sinnlichen in Caravaggios Frühwerk, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 50 (1989), S. 329–338; auch Minna Heimbürger, Interpretazioni delle pitture di genere del Caravaggio secondo il „metodo neerlandese“, in: Paragone 41 (1990), S. 3–18. 8 66  ×  49  cm, London, National Gallery; 65,8  ×  52,3  cm (Florenz, Fondazione Roberto ­Longhi); Marini 2005, Nr. 14, S. 393–395 und Nr. 15, S. 395; Cinotti 1983, Nr. 16, S. 435–437. 9  100 × 126 cm (New York, Metropolitan Museum, Dauerleihgabe der Sammlung D. Wilden­ stein); 94 × 119 cm (St. Petersburg, Eremitage); Marini 2005, Nr. 9, S. 381–386 und Nr. 17, S. 398–401; Cinotti 1983, Nr. 24, S. 447–450. 10  92 × 118,5 cm; New York, Metropolitan Museum; Marini 2005, Nr. 16, S. 395–398; Cinotti 1983, Nr. 38, S. 476–479. 11  Im Konzertbild blicken zwei der vier Figuren aus dem Gemälde heraus.

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die Kunstwelt des Ateliers evoziert. Der Anschein der Pose entsteht aber auch durch das Artifizielle des Arrangements überhaupt, und zwar der Figuren zu­einander – wie im „Konzert“ – oder, etwa im „Lautenspieler“, der Figur zu den kunstvoll drapierten, Sinne und Appetit anregenden Blumen und Früchten –, ferner entsteht er – wie im „Knaben, von einer Eidechse gebissen“ – durch die emphatische Zuspitzung auf einen transitorischen Moment und schließlich durch die Art und Weise der Präsentation der Figuren selbst. So wirken der geflügelte kleine Junge im „Konzert“ und der von einer Eidechse gebissene Junge mit Schleife und Rose im Haar übermäßig geschminkt und ausstaffiert für das Posieren und ‚Porträtiert‘-Werden. Die Wirkung, die diese Gemälde mit lebensgroßen Figuren auf ihre ersten Betrachter gehabt haben, muß sehr groß gewesen sein: Wie oft betont wurde, involvieren sie die Person vor dem Bild mittels der starken Ansprache ihrer Sinne, und zwar nicht nur des Sehvermögens, sondern auch des Geruchs-, Geschmacks-, Gehörs- und des Tastsinns. Unübersehbar ist ferner das erotische Moment der Knaben und damit der Bilder, das in einer männerdominierten Betrachterkultur, wie sie in den Sammlungen der Nobilität und des gehobenen Bürgertums in Rom um 1600 gegeben war, als homoerotisch zu lesen ist.12 Das 12  Die homoerotischen Aspekte von Caravaggios Knabenbildern, die erstmals von Donald

Posner zum Thema gemacht wurden (Donald Posner, Caravaggio’s Homoerotic Early Works, in: Art Quarterly 34 [1971], S. 301–324), daran anknüpfend von Barry Wind (Studies in Genre Painting 1580–1630, Ann Arbor 1983 [Diss. New York University], S. 136–142) sowie von Andreas Sternweiler (Die Lust der Götter: Homosexualität in der italienischen Kunst von Donatello zu Caravaggio, Berlin 1993 [Diss. FU Berlin 1992], S. 209–302), sind unübersehbar. Sie wurden stets mit dem homoerotischen Milieu um den Kardinal del Monte, dem von den Zeitgenossen die Liebe zu Knaben nachgesagt wurde, in Verbindung gebracht. Diese Verbindung sollten jedoch nicht dahingehend überbewertet werden, daß diese Bilder mit der per se zweifelhaften Kategorie ‚homoerotische Bilder‘ etikettiert werden und sich ihre Analyse darin erschöpft. Ich will – auch in methodischem Anschluss an Pfisterers Rekonstruktion des „fundamental ‚homosozialen‘ Selbstverständnis[ses] der Renaissance-Gesellschaft und insbesondere auch der intellektuellen Zirkel“ [Pfisterer 2008, passim, hier S. 15] hier zeigen, daß die ‚Ansprache‘ des Betrachters generell ein Wert im Diskurssystem der Zeit war und – was sich selbstredend versteht, von den Autoren gelegentlich aber zu wenig deutlich gemacht wird – ohnehin im virtuellen Bereich verbleibt, schließlich haben wir es nur mit Gemälden zu tun. So schreibt etwa Posner: „Caravaggio’s youths do not merely address themselves to the spectator – they solicit him. Bacchus […] does so with uninhibited openness and unmistakable intent. Holding the spectator with his languorous gaze, he proffers a glass of wine. […] Bacchus is already half- undressed, and with his right hand he begins to loosen the knot of the sash around his waist. The picture urges orgiastic surrender to the delights of the senses“ (ebd., S. 302). Es geht in den Gemälden um das Spiel mit Reiz und Attraktion auch auf einer Metaebene durch das Bild, und damit durch Malerei. Problematisch ist die Klassifikation als ‚homoerotische Bilder‘ auch durch den zeitgenössischen Umgang mit den Gemälden. So gelangte der Florentiner „Bacchus“ ja an Ferdinando de’ Medici, der offenkundig nicht homosexuell orientiert war. D. h. die Gemälde ‚funktionierten‘ besonders gut in einem gesellschaftlichen Kontext, welcher der Knabenliebe gegenüber aufgeschlossen war, jedoch nicht ausschließlich in einem solchen. Ohne die Diskussion um Caravaggios postulierte Homosexualität hier aufrollen zu können,

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ist der Fall, wenn etwa die Musiker von einem Trauben naschenden, geflügelten Cupido mit Köcher begleitet werden, die Kleidungsstücke der Knaben von überdimensionierten Schleifen zusammengehalten werden, deren dem Betrachter zugewandte Enden dessen tatto animieren sollen,13 der „Lautenspieler“ sein Gegenüber explizit mit einem Liebeslied adressiert und die vor ihm liegenden Noten in der Baßstimme eine dezente Aufforderung zum Duett enthalten.14 Die besondere Wirkung der Bilder war aber sicherlich nicht nur durch die novità der Darstellungsweise, sondern auch der Sujets überhaupt gegeben. Es sind Darstellungen einfacher Knaben, die wir namentlich nicht bezeichnen können und die unbedeutenden Handlungen nachgehen. Damit erfüllen sie weitgehend jene Merkmale, die wir retrospektiv einer Bildgattung zuschreiben, die im 18. Jahrhundert die Bezeichnung ‚Genre‘ erhielt.15 Zuvor existierte bekanntlich für Gemälde, die keine Begebenheiten der profanen oder sakralen Historie oder der Mythologie verbildlichen, kein generalisierender Gattungsbegriff, und es gab auch nur in Ansätzen eine eher deskriptive als präskriptive Theorie. Die Bilder wurden nach ihren Motiven als musica, Marktszene, sei nur angemerkt, daß unsere moderne Vorstellung einer sexuellen Identität der Frühen Neuzeit eher fremd war, für die eher die Frage einer entsprechenden Praktizierung zählte. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig noch einmal zu betonen, daß es in Caravaggios Umfeld auch Frauen wie die in den Quellen so bezeichnete „donna del Caravaggio“ namens Lena gab (siehe hierfür Macioce 2003, II Doc 202, S. 167). An die in meiner Einleitung angemahnte Vorsicht gegenüber Prämissen der Ausdrucksästhetik ist hier zu erinnern. Entscheidend ist ohnehin vielmehr, daß Caravaggio ein besonderes Bedürfnis bei den Interessenten seiner Bilder befriedigte, und damit so etwas wie eine ‚Marktlücke‘ entdeckte. Zum Themenkomplex jüngst: Genevieve Warwick, Allegories of Eros, Caravaggio’s Masque, in: Caravaggio, Realism, Rebellion 2006, S. 82–90. 13  Sternweiler, Lust der Götter 1993, S. 220 f. 14  Wie Franca Trinchieri Camiz und Agostino Ziino (Caravaggio. Aspetti musicali e committenza, in: Studi musicali 12 [1983], S. 67–90, hier 69–75) gezeigt haben, hat der „Lautenspieler“ die Noten von vier Madrigalen vor sich. Sie verzeichnen nur die „incipits“, nicht den vollständigen Text. Für einen Musikkenner, wie den ‚ersten‘ Betrachter Vincenzo Giustiniani, waren die Stücke aber darüber zu bestimmen. Es handelt sich um vier Madrigale des flämischen Komponisten Jacques Arcadelt; der Versanfang des einzigen nicht partiell verdeckten Madrigals, dem im St. Petersburger Gemälde auch die vollständigen ersten Verse beigegeben sind, lautet: „Voi sapete ch’io v’amo, anzi v’adoro …“ / „Ihr wißt, daß ich euch liebe, ja an­bete …“. Siehe auch Volker Scherliess, Zu Caravaggios „Musica“, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 17 (1973), S. 141–148; er weist darauf hin, daß eine „Absetzung“ der Laute in die Baßstimme musikalisch nicht sinnvoll wäre (ebd., S. 147). 15  Ich beziehe mich auf die strukturale Definition von Barbara Gaehtgens, Einleitung, in: Genremalerei 2002, S. 13–46, hier 13: „Genremalerei ist […] Figurenmalerei. […] im Gegensatz zur Historienmalerei mit ihren Themen aus Geschichte, Mythologie und Religion charakterisiert ‚Genre‘ eine andere, zwar verwandte und untergeordnete Gattung der Malerei, in der keine heroischen Taten und historischen Ereignisse, keine bekannten und bedeutenden Persönlichkeiten, sondern anonyme, ‚unhistorische‘ Figuren in ihrem individuellen Lebensbereich, ihrem zuständlichen Dasein oder bei spektakulären Ereignissen dargestellt werden.“ Was in den Knabenbildern mithin überwiegend fehlt, sind die Handlungsmomente.

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Spieler­darstellungen oder Knabenbilder bezeichnet.16 Trotz des noch fehlenden Gattungsprofils um 1600 wird man bei den ersten Betrachtern ein Bewußtsein dafür, daß diese Gemälde nicht mit den traditionellen Gattungen kompatibel waren, voraussetzen können; dies zum einen aufgrund der Neuartigkeit und unübersehbaren ‚Niedrigkeit‘ der Sujets – man denke nur an Annibale Carraccis „Bohnenesser“ in der Galleria Colonna (Abb. 18) –17 und zum anderen, weil zumindest ein entsprechend gebildeter Betrachter die Verbindung zu jenen von Plinius als „minoris picturae“ und „Schmutzmalerei“ beschriebenen Bildern hergestellt haben dürfte, die sich in der Antike trotz oder gerade wegen ihres normbrechenden Potentials großer Beliebtheit erfreuten.18 Caravaggios Knabenbilder entstanden nicht voraussetzungslos. Seit Roberto Longhi hat die Forschung zeigen können, daß die Werke ebenso wie die mehrfigurigen Genregemälde des Malers, die „Wahrsagerin“ (Abb. 19) und die „Kartenspieler“,19 in einer oberitalienischen Bildtradition wurzeln.20 Die 16  Es gibt auch die charakterisierende Bezeichnung „pittura ridicola“, die allerdings nur auf

einen Teil der Bilder zutrifft; so Gabriele Paleotti, in seinem „Discorso intorno alle immagini sacre et profane“, dessen 31. Kapitel er mit „Delle pitture ridicole“ überschreibt. Dabei dürfte er an die insbesondere in der Lombardei verbreiteten (halbfigurigen) Darstellungen lachender Personen mit Kleintieren denken wie „Quattro persone che ridono con un gatto“ eines anonymen Malers in Genua, Museo dell’Accademia ligustica di belle arti. 17  57 × 68 cm; gegen 1583/84; Rom, Galleria Colonna; siehe Posner, Carracci 1971, Nr. 81, S. 5. Für Carraccis Genrebilder siehe Anm. 21 und 23. 18  Siehe hierfür G. Plinius Secundus d. Ä, Naturalis historiae. Lat.-dt., XXXV, hg. und übers. v. Roderich König, München 1978, § 112, S. 84/85: „Namque subtexi par est minoris picturae celebres in penicillo; e quibus fuit Piraeicus arte paucis postferendus; proposito nescio an distinxerit se, quoniam humilia quidem secutus humilitatis tamen summam adeptus est gloriam. tonstrinas sutrinasque pinxit et asellos et obsonia ac similia, ob haec cognominatus rhyparographos; in iis consummatae voluptatis, quippe eae pluris veniere quam maximae multorum“ / „Denn es ist sinnvoll, hier diejenigen Künstler anzuführen, die mit dem Pinsel in der Genremalerei berühmt sind; zu ihnen zählt Peiraikos, der in der Kunst nur wenigen nachzustellen ist: ich weiß nicht, ob er sich vorsätzlich abgesondert hat, weil er sich nur von gewöhnlichen Gegenständen leiten ließ und doch gerade in diesem Kleinen den höchsten Ruhm erwarb. Er malte Barbierstuben und Schusterwerkstätten, Esel, Gemüse und Ähnliches und erhielt deshalb den Beinamen ‚Schmutzmaler‘; aus diesen Werken spricht vollendetes Vergnügen, so daß sie zu höherem Preis verkauft wurden als die größten Bilder von vielen“. Der Verstoß gegen Werte und Normen drückt sich in der Formulierung von „absondern“ aus, sowie in der Möglichkeit, daß diese Werke höher bezahlt werden konnten als Bilder mit einem ‚hohen‘ Sujet, und sie manifestiert sich natürlich auch in der Bezeichnung „rhyparographos“. Siehe hierzu auch Norman Bryson, Stilleben. Das Übersehene in der Malerei, München 2003, S. 65–103. 19  Siehe für diese Gemälde in der Pinacoteca Capitolina in Rom, dem Musée du Louvre in Paris und dem Kimbell Art Museum in Fort Worth: Marini 2005, Nr. 19, S.  403 f., Nr. 22, S. 408–411 und Nr. 18, S. 401–403; Cinotti 1983, Nr. 42, S. 484–487 bzw. Nr. 58, S. 519–521 und Nr. 70, S. 554–556. 20 Roberto Longhi, Quesiti caravaggeschi. II: I Precedenti, in: Pinacotheca 5–6 (1928), S.  258–320, wiederabgedruckt in: ders., Opere complete, Bd. 4: „me pinxit“ e Quesiti caravaggeschi 1928–1934, Florenz 1968, S. 97–143. Zeitgleich hat sich mit den oberitalienischen Wurzeln Caravaggios auch Nikolaus Pevsner beschäftigt, der sie allerdings nur unter stilisti-

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26 Marco d’Oggiono, Mädchen mit Kirschen, New York, ­Metropolitan Museum

forcierte Pose der Figur, die durch die Bildform des ‚Close-up‘ gesteigerte Präsenz und die hierdurch bedingte starke Ansprache des Betrachters zeigen allerdings, daß Caravaggios ‚Knaben‘ von der älteren – wiederum von niederländischen Genrebildern Pieter Aertsens und Joachim de Beuckelaers angeregten – Genremalerei signifikant abweichen, was der Vergleich des „­Fruttaiuolo“ mit dem „Mädchen mit Kirschen“ eines leonardesken Malers namens Marco d’Oggiono (Abb. 26), mit Dosso Dossis „Junge mit Blumenschale“ (Abb. 27) und sogar mit Annibale Carraccis „Knaben mit Trauben und Kürbis“ (Abb. 28) deutlich macht.21 In rezeptionsästhetischer Hinsicht bedeutsam ist, daß sich die schem Vorzeichen diskutiert (Die Lehrjahre Caravaggios, in: Zeitschrift für Bildende Kunst 62 [1928/29], S. 278–288). Siehe auch Friedländer, Caravaggio Studies 1955, S. 34–56, 79–84; Hibbard, ­Caravaggio 1983, S. 15–46; Catherine Rose Puglisi, Caravaggio, London 1988, S. 15–79; Caravaggio. La luce nella pittura lombarda (Ausst.-Kat. Bergamo, Accademia Carrara 2000), hg. v. Francesco Rossi, Mailand 2000 (mit weiterer Literatur). 21  So auch Krüger, Schleier 2001, S. 252; ders., Das unvordenkliche Bild. Zur Semantik der Bildform in Caravaggios Frühwerk, in: Caravaggio. Originale und Kopien 2006, S.  24–35, hier S. 29 f. Für das früher Boltraffio inzwischen Marco d’Oggiono zugeschriebene Ge­mälde (zuletzt Cristina Quattrini in Raffaello e l’eco del mito, hg. v. Cristina Rodeschini [Ausst. Kat. Bergamo, Accademia Carrara], Venedig 2018, S.  75, 84 n. 55, S.  194), mit den Maßen 48,9 × 37,5 cm im New Yorker Metropolitan Museum siehe: I pittori della realtà: le ragioni di una rivoluzione da Foppa e Leonardo a Caravaggio e Ceruti (Ausst.-Kat. Cremona, Museo Civico Ala Ponzone/­New York, The Metropolitan Museum of Art 2004), hg. v. Mina ­Gregori & Andrea Bayer, Mailand 2004, S. 92 f. Für Dossis Gemälde (67,3 × 65,2 cm; Öl/Holz auf Leinwand übertragen, 1524–26) in einer Privatsammlung, siehe: La natura morta ­italiana

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27 Dosso Dossi, Junge mit Blumenschale, ­Privatsammlung

cinquecenteske Genremalerei mit ihren Protagonisten Vincenzo Campi, Sofonisba Anguissola, Callisto Piazza, Bartolomeo Passerotti und Dosso Dossi auf Oberitalien konzentriert hat, und zwar auf die Lombardei, das Veneto und die Emilia.22 Bezeichnenderweise waren die beiden Maler, die diese Gattung tra Cinquecento e Settecento (Ausst.-Kat. München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung 2002/03), hg. v. Mina Gregori & Johann Georg Prinz von Hohenzollern, Mailand 2002, S. 62 f. Es handelt sich um einen Teil eines Deckengemäldes für die Camera del Poggiolo im Palazzo Ducale von Ferrara. Für das kaum bekannte Bild in Stonor Park, Oxfordshire (58 × 47,5 cm), das meist Annibale Carracci zugeschrieben und für ein Selbstbildnis gehalten wird, siehe Giovanna Perini, L’effigie di Ludovico: contributo all’iconografia del Carracci maggiore, in: Accademia Clementina: Atti e memorie 32 (1993), S. 355–385, hier 355 f.; Alessandro Brogi, Ludovico Carracci, Bologna 2001, Bd. 1, Nr. R 7, S. 251; Ulrich Pfisterer, Erste Werke und Autopoiesis: der Topos künstlerischer Frühbegabung im 16. Jahrhundert, in: Visuelle Topoi: Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, hg. v. dems. & Max Seidel, München 2003, S. 263–302, hier 288 f., Tf. VII. Weitere Vergleiche, welche die Differenzen gerade unter dem Aspekt der Ansprache des Betrachters zu erkennen geben, lassen sich auch zwischen Caravaggios „Knaben, der von einer Eidechse gebissen wird“ und einem Gemälde vom Ende des 16. Jahrhunderts nach einer (in Neapel aufbewahrten) Zeichnung von Sofonisba Anguissola ziehen. Es zeigt zwei Kinder, von denen eines in einen mit Krebsen gefüllten Korb gefaßt hat und gebissen wird. Es befand sich nachweislich 1607 in der Sammlung Borghese in Rom und wird, wie die Forschung vermutet, Caravaggio als Vorbild gedient haben. Siehe Kristina Herrmann Fiore, Caravaggio e la quadreria del Cavaliere d’Arpino, in: Caravaggio. La luce nella pittura lombarda (Ausst.-Kat. Bergamo, Accademia Carrara 2000), hg. v. Francesco Rossi, Mailand 2000, S. 57–76, hier 64 f., Abb. 11. 22  Eine fundierte Studie zur Genese der Gattung in Italien steht noch aus; die wichtigsten Analysen sind: Barry Wind, Studies in Genre Painting: 1580–1630, Ann Arbor 1983 (Diss.

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28 Annibale Carracci, Junge mit Trauben und Kürbis, Oxfordshire, Stonor Park

New York University); ders., Pitture Ridicole: Some Late Cinquecento Comic Genre Paint­ ings, in: Storia dell’ Arte 20 (1974), S.  25–35; ders., Genre as Season: Dosso, Campi, Caravaggio, in: Arte Lombarda 42 (1975), S.  70–73; Marianna Haraszti-Takács, Spanish Genre Painting, Budapest 1983, S.  43–65; Meijer, Sull’origine 1989, S.  585–604; Thomas Fusenig, ­Liebe, ­Laster und Gelächter. Komödienhafte Bilder in der italienischen Malerei im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts, Bonn 1997 (Diss. TU Aachen 1993); Hans-Joachim Raupp, „Pitture ridicole“ – „Kleine Sachen“. Zur Genremalerei in den romanischen Ländern, in: Von Caravaggio bis Poussin. Europäische Barockkunst aus der Eremitage in St. Petersburg. (Ausst.-Kat. Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland 1997), hg. v. Tatjana ­Kustodieva, Bonn 1997, S. 58–68; Da Caravaggio a Ceruti. La scena di genere e l’immagine dei pitocchi nella pittura italiana (Ausst.-Kat. Brescia, Museo di Santa Giulia 1998/99), hg. v. Francesco Porzio, Mailand 1998 (darin vor allem die Beiträge von Francesco Porzio, A ­ spetti e problemi della scena di genere in Italia, S. 17–41, und Raffaella Colace, I precedenti nel Cinquecento, S. 281–289); Michel Hochmann, Genre Scenes by Dosso and Giorgione, in: Dosso’s Fate. Painting and Court Culture in Renaissance Italy, hg. v. Luisa Ciammitti, Steven F. Ostrow & Salvatore Settis, Los Angeles 1989, S. 63–82 und für die Zusammenhänge mit der niederländischen Malerei besonders: Silvia Danesi Squarzina, Natura morte 1999, S. 266–291. S­ iehe auch die monographischen Untersuchungen zu den Künstlern Vincenzo Campi, I C ­ ampi e la cultura artistica cremonese del Cinquecento (Ausst.-Kat. Cremona, S.  Maria della Pietà 1985), hg. v. Mina Gregori, Mailand 1985; Vincenzo Campi: scene del quotidiano (Ausst.-Kat. Cremona, Museo Civico „Ala Ponzone“ 2000/01), hg. v. Franco Paliaga, Mailand 2000, und Angela Ghirardi, Passerotti pittore (1529–1592). Catalogo generale, Rimini 1990, S.  64–75. Für meine Fragestellung nicht hilfreich ist die sozialhistorisch angelegte Studie von Norbert Schneider, Geschichte der Genremalerei. Die Entdeckung des Alltags in der Kunst des F ­ rühen Neuzeit, Berlin 2004. Grundlegend für die Genese der holländischen Genremalerei jüngst ­Larry Silver, Peasant Scenes and Landscapes: the Rise of Pictorial Genres in the Antwerp Art Market, Philadelphia 2006.

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29 Caravaggio, Kranker Bacchus, Rom, Galleria Borghese

in Rom einführten, nämlich Caravaggio und Annibale Carracci,23 lombardischer bzw. emilianischer Herkunft. Für die Frage nach der Wirkung von Caravaggios Knabenbildern ist diese Konzentration der Gattung auf Oberitalien wichtig: Nach allem, was wir wissen, boten Caravaggios Knabenbilder und „Kartenspieler“ ebenso wie Carraccis „Bohnenesser“ (Abb. 18) und „Trinkende Knaben“ für einen römischen Betrachter um 1600, der mit der oberitalienischen Bildkultur nicht vertraut war, nicht nur ungewohnte Seherfahrungen, sondern sie liefen auch durch die Niedrigkeit ihrer Sujets tradierten 23  Bezeichnenderweise fertigten die Carracci ihre Genrebilder zunächst in Bologna an; ­siehe

Keith Christiansen, The Historiography of a Once (and Future?) Annibale Carracci, in: S­ tudi di storia dell’ arte in onore di Denis Mahon, hg. Maria Grazia Bernardini & Silvia D ­ anesi Squarzina, Milano 2000, S.  123–131; Görel Cavalli-Björkman, A Bolognese Portrait of a ­Butcher, in: The Burlington Magazine 141 (1999), S. 418 f., Anna Ottani Cavina, Studies from Life: Annibale Carracci’s Paintings of the Blind, in: Emilian Painting of the 16th and 17th Centuries: a Symposium, hg. v. H. A. Millon, Bologna 1987; Roberto Zapperi, Annibale Carracci. Bildnis eines jungen Künstler, Berlin 1990, S. 39–64; Pfisterer, Erste Werke 2003, S. 283–289.

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30  Bartolomeo Passerotti, Lautenspieler, Boston, Museum of Fine Arts

31  Francesco Melzi, Mädchen mit Blumenstrauß, Rom, Galleria Borghese

Gestaltungskonventionen zuwider. Denn sie machten etwas bildwürdig, was es zuvor nicht war, und dies in einer fingierten Lebenswirklichkeit, die für ihre ersten Betrachter ebenso faszinierend wie frappierend gewesen sein muß. Zurück zum „Bacchus“ der Florentiner Uffizien: Caravaggios Zeitgenossen – sein postulierter ‚erster‘ Betrachter, der vermutlich der Kardinal del Monte war, und sein ‚zweiter‘, Ferdinando de Medici, der Großherzog von Toskana –24 hatten offensichtlich keinen Zweifel daran, hier den Weingott der antiken Mythologie vor sich zu haben. Strukturell verfügt dieser „Bacchus“ allerdings über alle Merkmale, die auch die Knabenbilder haben; mithin verwundert die schlichte Bezeichnung von Caravaggios anderer Bacchusdarstellung (Abb. 29) in einem Inventar von 1607 als „giovinotto“ nicht.25 Mittels Laubkranz, antikischem Gewand und Kline ist der Knabe in die Rolle des antiken Gottes geschlüpft, hat sich zum antiken Gott gemacht oder ist antiker Gott geworden – wie auch immer man diesen im Gemälde suggerierten perfor24  Für die Besitzverhältnisse des Gemäldes siehe oben, Anm. 1. 25  Das Gemälde wird im Besitz des Cavalier d’Arpino bezeichnet als: „un altro quadretto con

un giovinotto con la Ghirlanda d’hellera intorno, et rampaccio d’uva in mano senza cornice“ zit. nach Cinotti 1983, S. 505. (Das Inventar wurde bei der Beschlagnahmung der Güter des Cavaliere durch Papst Paul V. erstellt; dieser schenkte das Gemälde gemeinsam mit dem „Knaben mit Fruchtkorb“ seinem Nepoten Scipione Borghese.)

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mativen Vorgang der Bildwerdung qua Rolleneinnahme, der den hybriden Status des Bildes in Hinsicht auf seine Zugehörigkeit zu den Gattungen Genre und Mythologie bedingt, sprachlich adäquat beschreiben möchte. Das Oszillieren eines Werks zwischen zwei Gattungen ist grundsätzlich nichts Ungewöhnliches. Gattungen liegen selten und schon gar nicht in den Phasen ihrer Genese ausschließlich in reiner Form vor. Das gilt auch für die per se heterogene Gattung der Genremalerei, was solche Werke verdeutlichen können, die sich an der Grenze zwischen Genre und Porträt, Genre und Stilleben oder Genre und Allegorie bewegen. Als Beispiele zu nennen sind etwa ­Bartolomeo Passerottis Bostoner „Lautenspieler“ (Abb. 30),26 seine „Pescheria“27 oder die Marco d’Oggiono bzw. Francesco Melzi zugeschriebenen Gemälde „Mädchen mit Kirschen“ (Abb.  26) bzw. „Mädchen mit Blumenstrauß“ (Abb. 31).28 Was den Florentiner „Bacchus“ in seinem gattungshybriden Status hiervon unterscheidet, ist das Kalkül, mit dem Caravaggio die Grenzen zwischen Genre und mythologischem Gemälde sowie zwischen Genre und Porträt regelrecht inszeniert, wenn er die Zeichen der der Pose vorangegangenen Entkleidung des Knaben, in dem die Zeitgenossen wahrscheinlich einen Freund Caravaggios erkannt haben,29 ostentativ im Bild beläßt. Indem Caravaggio den schmalen Grat zwischen dem Zustand des ‚Noch-Modell-Seins‘ der Figur und ihres ‚Zum-Bacchus-Werden’ ins Bild setzt, zielt er auf ein irreduzibles Changieren zwischen der Darstellung eines olympischen Gottes und der eines simplen Knaben. Durch die schmutzigen Fingernägel des Modells macht er darüber hinaus in ironischer Weise die große Diskrepanz zwischen der Identität des Knaben und seiner mythologischen Rolle deutlich. Auch Bacchus’ 26  77 × 60 cm; 1576, Boston, Museum of Fine Arts, siehe Ghirardi, Passerotti 1990, Nr. 51,

S. 211 f. 27  112 × 152 cm; Rom, Galleria Nazionale Palazzo Barberini; siehe ebd., Nr. 65, S. 237. 28  Siehe oben, Anm. 21 (für Marco d’Oggionos Gemälde); für das Francesco Melzi zuge-

schriebene Gemälde in der römischen Galleria Borghese (64  ×  52  cm) siehe: I pittori della realtà 2004, S. 7. 29  Frommel hat die Verbindung zwischen verschiedenen Figuren in Caravaggios Gemälden, und zwar dem „Bacchus“ der Uffizien, dem „Lautenspieler“, dem Knaben in der „Wahrsagerin“ im Louvre und einem der Zöllner in der „Berufung Matthäi“ in der Contarelli-Kapelle zu dem aus Sizilien stammenden Maler Mario Minniti hergestellt, der in diesen Jahren Caravaggios Entourage angehört hat. Das Aussehen Minnitis überliefert ein Porträtstich in den „Memorie de’ pittori messinesi“ des hypothetischen Verfassers Gaetano Grado oder Grasso (Messina 1823, Tf. 83), in dem Minniti tatsächlich ähnlich rundbogig geschwungene Brauen, ein rundes Gesicht mit vollen Wangen und vollem Mund hat, wie es die genannten Knaben, insbesondere der Bacchus, aufweisen (Frommel, Caravaggio und seine Modelle 1971, S. 30 f.; ders., Caravaggio, Minniti e il Cardinal Francesco Maria Del Monte, in: Michelangelo Merisi da Caravaggio: la vita e le opere attraverso i documenti, hg. v. Stefania Macioce, Rom 1996, S. 18–41, hier 19 f.). Frommel weist darauf hin, daß Minnitis Physiognomie idealerweise die dem Weingott zugeschriebenen Eigenschaften der Weichheit und Weiblichkeit aufwies. Für den Maler Minniti siehe den Katalog: Mario Minniti: l’eredità di Caravaggio a Siracusa (Ausst.Kat. Siracusa, Chiesa del Collegio dei Gesuiti 2004), hg. v. Vera Greco, Neapel 2004.

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Handhaltung mit einem manieriert-affektiert abgespreizten kleinen Finger läßt das Gewagte der Rolle für jeden sofort durchschaubar werden, denn mit dieser an sich vornehm konnotierten Geste, die etwa adlige Malerinnen und Maler gern in ihren Selbstbildnissen verwenden,30 suggeriert der ragazzo mit seinen dreckigen Fingernägeln ein ‚als ob‘; er gibt sich also feiner, als er ist. Die Wahl des Sujets für dieses Spiel um Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, um Simulation und Authentizität, wird kaum zufällig erfolgt sein: Kein zweiter antiker Gott ist stärker mit dem Bereich des Performativen wie auch dem Vorstellungsinhalt künstlerischer Kreativität verbunden als der dieu-masqué, der Gott des Theaters und der rituellen Raserei.31 In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung von Avigdor Posèq aufschlußreich:32 Im „Gastmahl des Trimalchio“ seines „Satyricon“ schildert der antike Dichter Petronius ein Bankett, bei dem die Gäste ein Schwein zerlegen und dabei von kleineren Performances und Maskeraden unterhalten werden: „Während wir so sprachen, reichte ein bildschöner Bursche mit Weinlaub- und Efeugewinden, der sich bald als schwärmender, jetzt als trunkener oder triumphierender Dionysos ausgab, in einem Rohrkörbchen Trauben herum und trug mit Diskantstimme Poesien seines Herrn vor. Auf diese Töne hin wandte sich Trimalchio um und sagte: ‚Dionysos, du sollst liber sein.‘ Der Bursche zog dem Keiler die Freiheitsmütze herunter und setzte sie sich selber auf. Da ließ Trimalchio eine neue Bemerkung fallen und sagte: ‚Ihr werdet mir einen liber pater nicht abstreiten.‘ Wir beklatschten den Witz und küssen jetzt den Burschen bei seiner Runde schier zunichte.“33 30  So beispielsweise Sofonisba Anguissolas „Selbstbildnis an der Staffelei“ im Muzeum Za-

mek in Lancut sowie das ihr ehemals zugeschriebene, mittlerweile als Porträt der Mutter Bianca von Lucia Anguissola geltende Bildnis in der römischen Galleria Borghese (siehe: La prima donna pittrice. Sofonisba Anguissola. Die Malerin der Renaissance [um 1535–1625] [Ausst.Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum 1995], hg. v. Sylvia Ferino-Pagden, Wien 1995, Nr. 3, S. 63 und Nr. 24, S. 93) sowie Vicente Carduchos Selbstbildnis beim Schreiben seines Traktats im Pollok House in Glasgow (siehe hierfür Susann Waldmann, Der Künstler und sein Bildnis im Spanien des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur spanischen Porträtmalerei, Frankfurt a. M. 1995, Nr. 3, S. 202). 31  Françoise Frontisi-Ducroux, Le dieu-masqué, une figure du Dionysos d’Athènes, Paris 1991; Vincenzo Cartari, Le Imagini de i Dei de gli antichi (Venedig 1580), hg. v. Ginetta Auzzas u. a., Vicenza 1996, S. 369: „Bacco […] era giovine, allegro e giocondo perché beendo gli uomini temperatamente svegliano gli spiriti e più arditi diventano e più lieti e sonoeziando creduti essere di migliore ingegno allora. Da che venne che fecero gli antichi così Bacco capo e guida delle Muse come Apollo. E non meno furono già coronati i poeti di edera consecrata a Bacco che di lauro, pianta di Apollo.“ Vgl. Spike, Caravaggio 2001, S. 34. 32  Avigdor W. G. Posèq, Bacchic Themes in Caravaggio’s Juvenile Works, in: Gazette des Beaux-Arts 115 (1990) S. 113–121: „In offering room and board to the young Michelangelo Merisi he (d.i. del Monte) presumably let him take part in his parties and also enticed him to evoke those meetings in his pictures“ (S. 113). 33  Petronius, Das Gastmahl des Trimalchio. Cena Trimalchionis. Lat.-dt., hg. & übers. v. Wilhelm Ehlers & Konrad Müller, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 33 (Der Keiler, von dem hier die Rede ist, wurde der Gesellschaft als Festmahl gereicht; über die Frage, warum er eine Frei-

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Ob und inwieweit Caravaggios Gemälde auf diese Textstelle rekurriert, läßt sich nicht definitiv bestimmen.34 Die Annahme einer direkten bildlichen Spiegelung entsprechender Praktiken mit Maskeraden und Travestien, die Posèq für den Del Monte Kreis postuliert,35 halte ich angesichts der noch zu zeigenden Verbreitung performativer Bildstrukturen in der profanen wie in der religiösen Malerei dieser Jahrzehnte für nicht sehr plausibel.36 Bemerkenswert ist aber die strukturelle Vergleichbarkeit zwischen Caravaggios Gemälde und der von Petronius beschriebenen Performance durch die auch ihr eingeschriebene Dialektik von Maskerade und anschließender Demaskierung. Der Reiz der Performance besteht für die Zuschauer darin, daß der Schauspieler in seiner Rolle gerade nicht gänzlich aufgeht, vielmehr als Person hinter oder in der Maske präsent bleibt, was sich in Petronius’ Wortspiel über den italischen Begriff für Bacchus, „Liber“, andeutet: Der vorgebliche Bacchus, tatsächlich ein Sklave des Patrons, wird von diesem als Lohn für seine gelungene Performance freigelassen und wird damit erst eigentlich zum „Liber“. Mit Caravaggios zweiter Bacchus-Darstellung ist ebenfalls ein Rollenspiel verknüpft. Der Knabe der Galleria Borghese (Abb. 29) posiert hinter einem steinernen Tisch vor pechschwarzem, undeterminiertem Hintergrund und ist heitsmütze trug, kreiste das Gespräch, bevor der schöne Knabe den Saal betrat). Für die antike Symposiumliteratur siehe Herwig Görgemanns, s.v. Symposium-Literatur, in: Der Neue ­Pauly. Enzyklopädie der Antike Bd. 11, Stuttgart/Weimar 2001, Sp. 1138–1141. 34  Für die Editionen des Texts in der Frühen Neuzeit siehe Posèq, Bacchic Themes 1990, S. 120, Anm. 22. 35  Posèq, Bacchic Themes 1990, S. 113: „Emulating Horace’s patron, Del Monte sought the company of talented individuals irrespective of their humble social origins“. Vgl. auch Suzanne E. May, The Artifice of Depicting Reality: Caravaggio and the Theatrical Spotlight, in: Rutgers Art Review 18 (2000), S. 27–49, hier 29. 36  Siehe hierzu unten Kap. I.3. Zum Begriff des Performativen unten, S. 85  f. Was im Zusammenhang mit der theatralen Praxis etc. sicherlich jedoch weiterführt, ist die Überlegung, daß sich eine solche Praxis in der antiken Skulptur zu spiegeln scheint, worauf mehrere Statuen und Büsten des Antinous den Hinweis geben. Sie zeigen den berühmten Geliebten von Kaiser Hadrian, der im Jahre 130 unter ungeklärten Umständen in Ägypten verstarb und als Gott verehrt wurde, mit Weinschale und Thyrsos. Möglicherweise wurde auch eine Bacchus-Statue in der Galleria Giustiniani als Antinous betrachtet. Vgl. insbesondere den Antinous-Dionysos (sog. „Antinous Braschi“) in der Sala Rotonda im Vatikan (Nr. 540): Christoph W. Clairmont, Die Bildnisse des Antinous. Ein Beitrag zur Porträtplastik unter Kaiser Hadrian, Neuchâtel 1966, Nr. 27, S. 47, Tf. 21; vgl. auch ebd., Nr. 26, den aus der römischen Villa Casali stammenden Antinous-Dionysos in Kopenhagen, Ny Carlsberg Glyptothek sowie Nr. 37, S. 51 (Tf. 27), den Kopf im Londoner British Museum. Auf die Statue in der Villa Giustiniani, die sich nicht erhalten hat, weist Posèq, Bacchic Themes 1990, S.  118, hin und äußert die Vermutung, auch sie könne als Antinous betrachtet worden sein. Sie ist abgebildet in: Galleria Giustiniani del Marchese Vincenzo Giustiniani, Rom 1640, Tf. 69, S. 71; vgl. I Giustiniani e l’antico, hg. v. Giulia Fusconi, (Ausst. Kat. Roma, Pal. Fontana di Trevi 2001/02), Rom 2001, Nr. 1, 69, S. 534; Silvia Danesi-Squarzina, A „Hagar and the Angel“ by Carel Philips Spierinck in Potsdam, in: The Burlington Magazine 141 (1999), S. 349–351, hier Abb. 36, S. 350 (ohne Bezeichnung als Antinous).

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ebenfalls in ein einfaches weißes Tuch aus grobem Stoff im antikischen Habitus gekleidet, das eine seiner Schultern frei läßt und von einer Schleife zusammengehalten wird.37 Statt eines Kranzes aus Weinlaub trägt er einen aus Efeu, der ebenfalls als Attribut des Bacchus gilt.38 In seinen Händen – die Finger haben wiederum schmutzige Nägel – hält er eine helle Traube. Vor ihm liegt eine dunkle Traube, die jedoch durch die Kombination mit zwei Pfirsichen in ihrem Verweiswert auf den Weingott abgeschwächt ist.39 Das Modell für diesen Bacchus wird den Zeitgenossen ungleich bekannter gewesen sein als das für den Weingott in den Uffizien: Wie oft vermutet wurde, ist es der Maler selbst. Giovanni Baglione berichtet in seiner Vita Caravaggios, dieser habe nach Verlassen der Werkstatt des Cavalier d’Arpino mehrere Selbstbildnisse mit Hilfe eines Spiegels geschaffen, dabei „[…] vn Bacco con alcuni grappoli d’ vue diuerse“.40 Der Bericht wird durch die Ähnlichkeit der Figur mit dem KreidePorträt des Malers von der Hand Ottavio Leonis in der Florentiner Biblioteca Marucelliana (Abb. 32) bestätigt. Die Wahrnehmung des Modells ‚in der Rolle‘ bietet im Vorgang der Bildbetrachtung einen besonderen Reiz, den nicht nur seine ‚ersten‘ Betrachter, Giuseppe Cesari und Scipione Borghese, besonders genossen haben werden. Er verstärkt sich durch die Diskrepanz zwischen Figur und Rolle, welche wiederum das Moment des Arrangierten und Inszenierten verstärkt. Denn dieser schwermütige Bacchus präsentiert sich wenig dionysisch. Nichts weist auf die mit seiner Lebenswelt verknüpften Momente des Rauschhaften, der rituellen Ekstase oder des unbeherrschten Weinkonsums hin. In Verbindung mit der auffälligen Blässe seines Inkarnats hat dies der Forschung stets Anlaß zu Interpretationen geboten, die sich – Rollenträger und Rolle folgerichtig miteinander verwechselnd – auf das Modell bezogen. Ob sich Caravaggio hier zu einem Zeitpunkt als Weingott porträtierte, in dem er von einer längeren Krankheit genas, wie Roberto Longhi vermutete – was zum 37  67 × 53 cm; 1592–93; Rom, Galleria Borghese; siehe Marini 2005, Nr. 7, S. 377–379; Cinotti

1983, Nr. 52, S. 505–510; Herrmann Fiore, Il Bacchino 1989, S. 95–134. Daß die Zeitgenossen in diesem Gemälde tatsächlich einen Bacchus erkannten, beweist eine Formulierung von Giulio Mancini in einer Postille zum Codice Mariano: „un Bacco bellissimo et era sbarbato lo tiene Borghese“ (zit. nach Marini 2005, S. 377). 38  Vgl. Renate Schlesier, s.v. Dionysos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 1997, Sp. 651–662, bes. 652; vgl. auch Anne Ley, ebd., Sp. 662–664. 39  Von Lates, Caravaggio’s 1995, S. 55–60, hat in den Pfirsichen eine Anspielung auf die Formulierung „dare le pesche“, womit die Praktizierung von Analverkehr gemeint ist, konstatiert und dies mit lasziv-derben Gedichten in Verbindung gebracht, wie sie in humoristischen Akademien der Zeit gepflegt wurden. Wenngleich Caravaggios Mitgliedschaft in einer solchen Akademie nicht belegt ist, so ist durch den Prozeß mit Baglione nachgewiesen, daß er Spottverse verfaßte (was er freilich bestritt). Von Lates verweist in diesem Zusammenhang auch auf das von der Forschung bereits mit Caravaggios Gemälde in Verbindung gebrachte, in der Brera aufbewahrte Selbstbildnis Lomazzos als Bacchus, das mit der Mitgliedschaft des Malers in der „Academia della Vale di Bregno“ in Verbindung gebracht wird. 40  Baglione, Le Vite 1935, S. 136.

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32 Ottavio Leoni, Porträt Caravaggios, Florenz, Biblioteca Marucelliana

Bildtitel „Kranker Bacchus“ führte –,41 ob die Blässe als Indiz auf die Komplexion des saturnischen Temperaments, des Phlegmatikers oder des Melancholikers zu lesen ist, oder ob er sich den Habitus eines elegischen Dichters verleihen wollte,42 sei dahingestellt; entscheidend ist eine augenfällige Diskrepanz zwischen der Beanspruchung und der Erfüllung einer spezifischen Rolle. Wesen der Figur und Rolle des Bacchus entsprechen einander nicht; Caravaggio hat eine ‚falsche‘ Rolle übernommen, die sich hierdurch um so mehr als eine Rolle zu erkennen gibt.

41  Roberto Longhi, Precisioni nelle gallerie italiane, in: Vita Artistica 2 (1927), S. 28–35, hier

30. Eine Krankheit Caravaggios, die er im Ospedale della Consolazione kurierte, wird von Giulio Mancini erwähnt. 42  Letzteres formulierte erstmals Giulio Carlo Argan brieflich gegenüber Hans Sedlmayer, zitiert in: Sedlmayr, Caravaggio. Das Selbstbildnis der Galleria Borghese, in: Hefte des Kunsthistorischen Instituts der Universität München 9/10 (1962), S. 23–25; dort auch der Hinweis auf das saturnische Temperament. Siehe auch Prater, Licht und Farbe 1992, S. 122, 127 f.; vgl. auch Cinotti 1983, S. 507 f.; Herrmann Fiore, Il Bacchino 1989, S. 119. Daß Caravaggio einen besonders blassen Teint gehabt habe („pallido in viso“), berichtete Giulio Cesare Gigli; siehe Sergio Samek Ludovici, Vita del Caravaggio dalle testimonianze del suo tempo, Mailand 1956, S. 137; nun jüngst John F. Moffitt, Caravaggio in Context. Learned Naturalism and Renaissance Humanism, Jefferson & London 2004, S. 112–141.

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1.2 „Bacchus und Trinker“: Bartolomeo Manfredi demaskiert ­Caravaggio Auch wenn sie nicht als unmittelbare Reflexe auf Caravaggios Darstellungen des Weingotts gelten können, sind Paulus Bors „Bacchus“ in Posen (Abb. 33)43 und Nicolas Régniers gleichnamiges Gemälde der Sammlung Giustiniani (Abb.  34)44 konzeptuell doch sicherlich von Caravaggios Figurinventionen angeregt.45 In beiden Werken ist Bacchus ohne seinen Thiasos ins Bild gesetzt. Bor präsentiert uns einen von der Seite gesehenen splitternackten Knaben, der in der freien Natur sitzt, nur über einen Efeukranz verfügt und über seine linke Schulter einen nachdenklichen Blick auf seinen Betrachter wirft; Régnier heiterten hingegen einen deutlich älteren, korpulenteren und überdies er­ Bacchus vor ungestaltetem Hintergrund im Innenraum, den ein konzentriert von schräg links oben einfallender, scharf gebündelter Strahl ausleuchtet. Nur mäßig bedeckt ihn ein über das linke Bein gelegtes Pantherfell, obendrein ist ihm ist das unbacchantische Accessoire eines Beistelltisches zugeordnet. Er blickt seitlich aus dem Bild, während er aus tiefdunklen Trauben ‚Wein‘ in eine muschelförmige Schale preßt. Deutlicher von Caravaggios „Krankem Bacchus“ angeregt, in der Haltung jedoch dessen „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina (Abb. 1) ähnlicher, ist der querformatige „Bacchus“ eines anonymen Malers in der St. Petersburger 43  149 × 106 cm; Poznan, Muzeum Narodowe; siehe Nicolson, Caravaggism in Europe 1989,

Bd. 1, S. 66, Bd. 2, Abb. 1636. Für diesen Maler, der um 1601 im niederländischen Amersfoort geboren ist und 1623 in Rom bezeugt ist, siehe Ulrike B. Wegener, „Paulus Bor“, in: Allgemeines Künstler-Lexikon, Bd. 12, München/Leipzig 1996, S. 658. Nicht zugänglich war mir die unpublizierte Dissertation von A. Bercht, Paulus Bor, de schilderijen, Rijks-Univ. Utrecht, Utrecht 1991. 44  128 × 103 cm; das Gemälde stammt aus der Sammlung Giustiniani, gelangte im 19. Jahrhundert in die Potsdamer Gemäldegalerie und wurde im 2. Weltkrieg zerstört; siehe Fantelli, Nicolò Renieri 1974, S.  77–115, Nr. 82, S.  102; Annick Lemoine, L’iter di un caravaggesco nordico: Nicolas Régnier e il movimento naturalista, in: Paragone 51 (2000), S.  43–72, hier 47–49, Abb. 23; ders., Nicolas Régnier, Emmausmahl, in: Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie (Ausst.-Kat. Berlin, Altes Museum; Roma, Palazzo Giustiniani 2001), hg. v. Silvia Danesi Squarzina, Mailand 2001, S. 324, erwähnt, daß von dem Gemälde, das vor dem 2. Weltkrieg in Potsdam aufbewahrt wurde, lediglich ein einziges Photo existiert. Der um 1590 in Maubeuge geborene Maler wurde bei seinem Aufenthalt in Rom (1610/20–1626) ‚Kammermaler‘ des Marchese Vincenzo Giustiniani, dessen Sammlungsinventar von 1638 neun Gemälde von seiner Hand verzeichnet. Für sein Œuvre siehe auch Annick Lemoine, Nicolas Régnier et son entourage. Nouvelles propositions biographiques, in: Revue de l’art 117 (1997), S. 54–63 und ders., Nicolas Régnier, „peintre domestique“ du marquis Vincenzo Giustiniani, in: Bulletin de l’Association des Historiens de l’Art Italien 6 (1999/2000), S. 28–33; Klütsch, Caravaggio und die französische Malerei 1974, S. 93–125. 45  Möglicherweise waren sie vom „Kranken Bacchus“ angeregt; der „Bacchus“ der Uffizien war in der Villa von Ferdinando de’ Medici in Artimino schwer zugänglich, allerdings könnten Kopien des Gemäldes existiert haben.

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33 Paulus Bor, Bacchus, Posen, Muzeum Nardowe 34 Nicolas Régnier, Bacchus, (Kriegsverlust), ehem. Potsdam, Gemäldegalerie

Eremitage, der vollständig nackt, nur mit einem Laubkranz im Haar und einer Traube in der Hand auf einem Felsen in der weiten Landschaft sitzt und über die linke Schulter einen ernsten Blick auf seinen Betrachter wirft (Abb. 35).46 ‚Caravaggesk‘ ist an ihm die – in einer Außenraumdarstellung in keiner Weise motivierte – starke Licht-Schatten-Modellierung, weiterhin die Modellreferenz des ungeschönten Körpers, dessen Schamhaaransatz zu erkennen ist, und schließlich das überdimensionierte Früchtestilleben im Vordergrund, das aus zahlreichen Trauben, Melonen und Feigen besteht, die ihre besten Tage bereits gesehen haben. Daß das posenhafte und inszenierte Moment von Caravaggios BacchusGemälden von den zeitgenössischen Malern bemerkt wurde, zeigt noch deutlicher ein Werk von Bartolomeo Manfredi, einem Maler, der wahrscheinlich mit jenem „Bartolomeo servitore“ in Caravaggios Werkstatt identisch ist, von dem in den Akten des Prozesses zwischen Giovanni Baglione und Caravaggio

46  141  ×  170  cm; St. Petersburg, Eremitage; siehe Svetlana Nikolaevna Vsevoložskaja, Ca-

ravaggio and his followers: paintings in Soviet museums, Leningrad 1975, Abb. 78–80 (ohne Datierung; frühere Zuschreibung an Rutilio Manetti).

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35 Anonym, Bacchus, St. Petersburg, Eremitage

die Rede ist.47 „Bacchus und der Trinker“ in der römischen Galleria Barberini, das wohl noch vor 1610 entstand,48 zeigt vor braunem, nicht näher charakterisiertem Hintergrund zwei Männer in Halbfigur, die von einem konzen47  Für die Vita und Werkstattzugehörigkeit des Malers Hartje, Manfredi 2004, S. 45–59; fer-

ner Zygmunt Wazbinski, Bartolomeo Manfredi alla luce dei nuovi documenti. Un artista caravaggesco e il mercato nel secondo decennio del Seicento, in: Bulletin du Musée National de Varsovie 37 (1996), S. 137–153; Rita Randolfi, Bartolomeo Manfredi e la moda del tempo: significati e cronologie, in: Caravaggio e il caravaggismo, hg. v. Giovanna Capitelli, Rom 1995, S.  175–182; Raffaella Morselli, Bartolomeo Manfredi (1582–1622): Sandrart, il collezionista olandese Balthasar Coymans e alcune nuove proposte, in: Antichità viva 32 (1993), Nr. 3/4, S. 25–37; Rita Randolfi, La vita di Bartolomeo Manfredi nei documenti romani e un’ ipotesi sulla sua formazione artistica, in: Storia dell’ arte 1992, Nr. 74, S. 81–91; Dopo Caravaggio. Bartolomeo Manfredi e la Manfrediana Methodus (Ausst.-Kat. Cremona, S. Maria della Pietà 1988), hg. v. Maria Cristina Poma, Mailand 1988. Manfredi war ebenfalls Oberitaliener; er wurde 1582 unweit von Cremona geboren und ging vermutlich um 1600 nach Rom, wo er bis zu seinem Tod 1622 tätig war. Baglione zufolge arbeitete er zunächst als Lehrling in der Werkstatt Cristoforos Roncallis und, sofern sich die erwähnte Bemerkung in den Prozeßakten tatsächlich auf ihn bezieht, um 1603 in der Werkstatt Caravaggios (hierzu Hartje, Manfredi 2004, S. 47 f.). 1610 ist Manfredi als selbständig niedergelassener Maler mit eigener Werkstatt dokumentiert. 48  132  ×  96  cm; Rom, Galleria Nazionale Palazzo Barberini; siehe Hartje, Manfredi 2004, Nr. A7, S. 302–304 und 161–169; Dopo Caravaggio 1998, Nr. 2, S. 60; Francesca Cappelletti, in: Immagini degli Dei. Mitologia e collezionismo tra ’500 e ’600 (Ausst.-Kat. Lecce, Fondazione Memmo 1996/97), hg. v. Claudia Cieri Via, Venedig 1996, S. 135 f. Es gibt keine Hinweise auf den frühen Besitzer des Gemäldes und keine zeitgenössischen Beschreibungen; erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts ist es im Besitz des Kardinals Silvio Valenti Gonzaga belegt.

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36 Bartolomeo Manfredi, Bacchus und Trinker, Rom, Palazzo Barberini

trierten, von links vorn auf die Gruppe gerichteten Lichtstrahl beschienen werden (Abb. 36). Der Jüngere von beiden, dessen Oberkörper unbedeckt ist, wird durch den Kranz aus Weinlaub und die Trauben als Bacchus bestimmt. Er entspricht im Typus weitgehend Caravaggios Florentiner Bacchusfigur und auch sein Oberkörper ist teilweise unbedeckt, allerdings ist seine Physiognomie mit den dunklen, ungepflegten Zähnen deutlich derber als die von Caravaggios Knaben. In seiner rechten erhobenen Hand hält er zwei Trauben, die er im Begriff ist auszudrücken, wobei der so gewonnene ‚Wein‘ in das zum Trinken erhobene Glas des ihm gegenüber stehenden Bacchanten läuft. Es ist gerade die – bei Caravaggio nicht vorgeprägte – Kombination der beiden Figuren, die Manfredis Bildinvention in konzeptueller Hinsicht relevant macht.49 Bacchus erscheint hier in Verbindung mit einem nicht antik(isch) gekleideten Mann im ‚Bravo‘-Kostüm mit Federbarett und Brokatwams ähnlich den berühmten 49  Es sei angemerkt, daß in einem Gemälde des venezianischen Malers Niccolò Frangipane

„Bacchus mit Mädchen und Narr“ in der venezianischen Galleria Querini-Stampaglia eine entsprechende Kombination bereits vorgebildet ist. Die Kenntnis dieses Bildes bei Manfredi und den Betrachtern seiner Werke wird man jedoch nicht annehmen können (siehe Hartje, Manfredi 2004, S. 521, Abb. 110).

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Jungen in Caravaggios „Berufung des Matthäus“ – also in Kleidungsstücken, die wahrscheinlich nicht mehr der Mode der Zeit um 1600 entsprachen, aber von den Zeitgenossen doch als eher ihrer Lebenswelt denn der Antike entstammend wahrgenommen wurden.50 Die Forschung hat Manfredis kompositionelles Abweichen von Caravaggios Bacchus-Darstellung als Indiz eines Prozesses der Entwicklung der caravaggesken Knabendarstellungen hin zu mehrfigurigen Genrebildern mit den für sie typischen Sujets – Gelage, Musik- oder Spielszenen – verstanden, die dann vor allem in der holländischen Malerei auf fruchtbaren Boden gefallen seien. Dabei hat sie sich auf die stark überinterpretierte Formel eines „Manfrediana Methodus“ gestützt, die Joachim von Sandrart in seiner „Teutschte(n) Akademie“ prägte.51 Diese ‚Erklärung‘ des Gemäldes im Sinne eines Bausteins in einer sukzessiven Entwicklung hin zum mehrfigurigen holländischen Genrebild übersieht in meinen Augen den prägnanten Aspekt von Manfredis Darstellung in konzeptueller Hinsicht. Dieses besteht in der Kombination einer der Welt der genrehaften Spielerdarstellungen, mithin dem Genre entstammenden Figur, mit einer mythologischen. Diese Verbindung generiert den hybriden Status des Werks zwischen einem Genre- und einem mytho­ logischen Gemälde – in gewisser Weise ähnlich und doch signifikant anders als in Caravaggios Gemälde. Auch in Manfredis Gemälde wird der Reiz am gedanklichen Nachvollzug seiner vorgeblichen Entstehung geweckt. Denn wie der Florentiner „Bacchus“ zeigt sich Manfredis Weingott durch die Unterschiede im Inkarnat zwischen seiner rechten Hand und dem Rumpf recht deutlich als kostümiert, und damit eben als ein ragazzo, der sich, bevor er die Rolle eines Bacchus eingenommen, zunächst entkleidet hat.52 Manfredi suggeriert also, der Knabe sei zu 50  Siehe hierfür meine Einleitung, Anm. 79. 51  Dies ist etwas irreführend, denn bei Sandrart ist lediglich von einer spezifischen „Manier“

Manfredis die Rede, die zudem auch derjenigen Caravaggios entspräche: „Des Caravaggio guter Manier hat sehr fleißig nachgefolgt und angenommen ein Mantuaner genannt Bartholomeo Manfredi, so daß wenig Unterschied erschienen. Er imitirte das Leben mit großer Wahrheit und mahlte meist halbe Figuren in Lebensgröße, begabe sich auch absonderlich auf Ausbildungen der Conversationen, Spielen, Gastungen, Soldaten, und dergleichen vollkommenen Werken, …“ Joachim von Sandrart, Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-­ Künste (Nürnberg 1675), hg. v. Artur Rudolf Peltzer, München 1925, S. 277. Und in der knappen Vita über den Antwerpener Maler Gerard Seghers heißt es ähnlich allgemein: „… ein fürtrefflicher Mahler, der sich um mehrere der Kunst Begründung zu Rom auf Bartholomaei Manfredi Manier legte und in allen Dingen das Leben ganz ähnlich nachzubilden sich beflisse“ (ebd., S. 170). Es sind also drei Aspekte, die Sandrart an Manfredis Werken hervorhebt: auf formaler Ebene die Präferenz für die Halbfigur in Lebensgröße, auf der konzeptuellen das ‚Malen nach dem Leben‘, auf der Sujet-Ebene schließlich die Bevorzugung von Spieler- und Wirtshausthemen. 52  Vgl. auch Hartje, Manfredi 2004, S. 168: „… so wie Caravaggio die physischen Makel des Modells […] nicht korrigierte, hatte auch Manfredi dem Gott seine Rolle als Bacchus nur

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Bacchus geworden, indem er sich in ein fellartiges rotes Gewand gehüllt und einen Kranz aus Weintrauben und -blättern aufgesetzt habe. Indem er seinem Gegenüber nun Wein einschenkt, ‚spielt‘ er zwar seine Rolle, doch spielt er sie keineswegs perfekt, denn es dürfte sich allenfalls um Traubensaft handeln, den er so aus den Früchten gewinnen kann. Wenn Manfredi Caravaggios Bildidee derart kalkuliert aufnimmt, zugleich aber durch die Einfügung einer eindeutig nicht-antiken Figur dessen Konstitutionsbedingungen zuspitzt, macht er damit indirekt das Rollenspiel des Prototyps dieser Werke zum Thema. Er entlarvt Caravaggios „Bacchus“ spielerisch, ‚de-maskiert‘ ihn, oder, wenn man so will, ‚dekonstruiert‘ ihn.53

1.3 Künstliche Wolken im Olymp: Spadarinos „Brindisi“ und Manfredis „Midas“ Le dieu-masqué erscheint auch in Giovanni Antonio Spadarinos „Brindisi im Olymp“ und ist nun erstmals von seinesgleichen umgeben (Abb. 37).54 Es ist eine ganze Götterversammlung, die hier auf recht künstlich wirkenden Wolkengebilden thront und sich gegenseitig neckt. Was diese Bewohner des griechischen übergestülpt und präsentierte ihn in Gestalt eines wohlgenährten Römers von bäuerlicher Prägung.“ Auf S. 167 spricht sie von der „ambivalente(n) Gattungszugehörigkeit“ des Gemäldes, führt dies aber nicht aus. 53  Ich verwende den Terminus ‚Dekonstruktion‘ im engeren, nicht-poststrukturalistischen Begriffsverständnis, wie ihn Andreas Kablitz eingeführt hat: „Um eine Dekonstruktion handelt es sich […] dort, wo ein Text die Kategorien eines anderen benutzt, um zugleich ihre verborgenen Widersprüchlichkeiten bloßzulegen“ (Affektintimität und Diskursöffentlichkeit  – Shakespeares dark-lady-Sonette als Dekonstruktion des tradierten lyrischen Diskurses, in: Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven, hg. v. Dieter Mehl, Münster 1993, S. 206–242, hier 208). 54  128,5  ×  197,5  cm; Florenz, Uffizien; für dieses Gemälde siehe Gianni Papi, Spadarino, Soncino 2003, Nr. 21, S. 138–140 mit stilistischer Datierung in die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts; den schönen Titel verlieh dem Gemälde Evelina Borea, die 1970 seine Überführung aus dem Museo Civico in Pistoia nach Florenz veranlaßte. Es läßt sich verbinden mit einem Eintrag („Dei che bevono l’ambrosia“) im Inventar der Bildersammlung des Abate Francesco Marucelli in Rom, das nach dem Tod desselben, am 12.12.1702, erstellt wurde. Die geringe Beachtung des Gemäldes durch die Literatur erklärt sich mit dessen langjährigen Ausstellungsort im schwer zugänglichen Corridoio Vasariano, aus dem es erst kürzlich in die öffentlichen Museumsräume verbracht wurde. Für den 1595 in Rom geborenen und 1652 ebd. gestorbenen Maler, der eigentlich Giovanni Antonio Galli heißt und von Giulio Mancini (gemeinsam mit Manfredi, Cecco del Caravaggio, Ribera und, mit Einschränkung, auch Carlo Saraceni) zu Caravaggios „Schule“ gezählt wird (Considerazioni sulla pittura [Rom 1617–21], hg. u. eingel. Adriana Marucchi, komm. v. Luigi Salerno, Rom 1956, Bd. 1, S. 108) und die Stadt kaum je verlassen zu haben scheint, siehe Papi, Spadarino 2003; ders., Giovanni Antonio Galli detto lo Spadarino, in: Michelangelo Merisi da Caravaggio: Come nascono i capolavori (Ausst.-Kat. Firenze, Palazzo Pitti/Roma, Palazzo Ruspoli 2001/02), hg. v. Mina Gregori, Mailand 2001, S. 358; John T. Spike, Spadarino Problems, in: Studi di storia dell’ arte 16 (2005), S. 253–260; Massimo Pulini, Lo Spadarino tra „Damnatio memoriae“ e riscoperta, in: Storia dell’arte 18 (2007), S. 31–44.

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37  Giovanni Antonio Spadarini, Brindisi im Olymp, Florenz, Uffizien

Götterhimmels eint, ist ihr wenig olympischer Habitus: Der bärtige Göttervater Jupiter ruht mit faltigem, etwas schlaffem Oberkörper und winzigem gezacktem Pfeil im Schoß auf einer Wolkenbank und beobachtet nachsichtig lächelnd die Aktivitäten seiner jüngeren Götter-Kollegen. Seine Blöße verdeckt ein großes rotes Tuch, das auch dem ihm zärtlich zugetanen, lockigen Cupido mit großen Flügeln und Bogen Schutz bietet. Dem in der Mitte stehenden blondgelockten Mundschenk des Göttervaters, Ganymed, wird der Wein mit Schwung eingeschenkt, wobei das Überlaufen des kostbaren Safts für allgemeine Erheiterung sorgt. Der im Sinkflug herbeieilende Götterbote Hermes mit Flügelkappe kommentiert das Malheur spöttisch, das Ganymed zu einer Kopfnuß für den Verursacher Bacchus veranlaßt. Der Weingott mit dunkelgelocktem Haar, Efeukranz und freiem Oberkörper ist uns mit dem Rücken zugewandt und bis auf ein geschlitztes Felltuch um die Hüfte unbekleidet. Ein weiterer Bewohner des Olymp leert einen wertvollen Silberkrug gründlich bis zum letzten Tropfen. Das Arrangement der Figuren im Gemälde ist artifiziell: Die Szene spielt sich auf der vordersten schmalen Raumschicht auf plustrigen Wolken ab, die trotz ihrer Beschaffenheit Ganymeds und Bacchus’ festen Stand auf demselben Bodenniveau ermöglichen. Zwischen diesen beiden Figuren bietet sich uns der Ausblick auf den weiten Wolkenhimmel, der durch den Wechsel in der Farbig-

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38 Orazio Riminaldi, Dädalus und Ikarus, ­Hartford, The Wadsworth Museum

keit der Wolken und die strikte Trennung vom Vordergrund einen kulissenhaften Charakter hat. Nicht ersichtlich ist der Bezeichnungswert des darüber liegenden tiefschwarzen Streifens. Die Szenerie wird mit einem konzentrierten, von links vorn kommenden Lichtstrahl beschienen, wie er für gewöhnlich in Caravaggios Innenraum-Darstellungen begegnet. Im Prinzip wird hier eine Trink- oder Spielerszene, wie sie Manfredi oder Gerrit van Honthorst dutzendfach verbildlichten, auf künstlich wirkende Wolken verlagert, die Figuren werden kostümiert, Cupido wird ein Flügelpaar umgehängt, und ein weiterer Junge mit Flügelkappe wird mehr hinter als über der Figurengruppe arrangiert. Die stark gebräunten Unterarme des alten Mannes mit seinem wenig muskulösen Oberkörper, dem ein ‚Blitzchen‘ in die Hand gegeben ist, zeigen an, daß auch ihm die Rolle des Göttervaters eine eher fremde ist, kurz: Hier wird antik-olympische Götterwelt gespielt. Warum Spadarino und die anderen ‚Caravaggisten‘ Sujets wie die Götterversammlung oder den Weingott Bacchus für diese Bildstrategie wählen, liegt auf der Hand: So wird die Diskrepanz zwischen der angemaßten hohen Rolle der Figuren und der Physis der Modelle besonders groß und im rezeptiven Nachvollzug entsprechend reizvoll: Es sind einfache Jungen, die Götterwelt spielen und dazu nicht viel mehr als ihren – meist weitgehend entkleideten –

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39 Anonym, Tod des Hyacinthus, Cherbourg, Musée Thomas Henry

Körper benötigen. Ähnliches gilt für Orazio Riminaldis „Dädalus und Ikarus“ in Hartford (Abb. 38), in dem ein splitternackter Jüngling in lasziver Pose breitbeinig auf einem Tisch sitzt und uns mit leicht geöffnetem Mund einen schmachtenden Blick aus den Augenwinkeln zuwirft, während ihm ein älterer Mann Flügel ansteckt. Dabei üben nicht nur die Federn in unmittelbarer – auch taktiler – Nähe zu uns auf dem Tisch im Bildvordergrund einen starken Reiz auf unseren Tastsinn aus.55

55  132  ×  96,1  cm; 1625–30, Hartford, Wadsworth Atheneum, für dieses Bild siehe: Wad­s­

worth Atheneum Paintings. Catalogue, Bd. 2: Italy and Spain: Fourteenth through Nineteenth Centuries, hg. v. Jean K. Cadogan, Hartford 1991, S. 208–210; Gianni Papi, Momenti di cultura romana a Pisa. Orazio Riminaldi, in: Roberto Paolo Ciardi, Roberto Contini, ders., ­Pittura a Pisa tra Manierismo e Barocco, Mailand 1992, S. 257–293, hier 262. Der Existenz von ­mindestens fünf Kopien nach zu urteilen, handelte es sich um eine überaus erfolgreiche Komposition. Für den 1593 in Pisa geborenen Künstler, der vermutlich im zweiten Jahrzehnt des Seicento nach Rom kam, siehe auch Mina Gregori, Note su Orazio Riminaldi e i suoi rapporti con l’ambiente romano, in: Paragone 23 (1972), Nr. 269, S. 35–66, zu „Dädalos und Ikaros“ ebd. S.  49; Renaissance to Rococo. Masterpieces from the Wadsworth Atheneum Museum of Art (Ausst.-Kat. Sarasota, Fort Worth, Omaha, Nashville, Charlotte 2004–06), hg. v. Eric ­Zafran, New Haven & London 2004, S. 27.

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40  Anonymer holländischer “Caravaggist“, Adam und Eva, Krakau, Schloß Wawel

41  Bartolomeo Manfredi, König Midas, Privatsammlung

Auf noch weniger Raum und ebenfalls ohne jeden Orts- oder Zeitbezug präsentiert ein anonymer Maler eine Darstellung des in den Armen seines Geliebten Apoll sterbenden Hyacinthus (Abb. 39), und damit zwei muskulöse, gut gebaute und weitestgehend unbekleidete Jünglinge, die sich in forcierter Ausleuchtung ihrer Körper und nur mit dem nötigsten Gegenstand der Identifizierung – der Leier des Sonnengottes –, ausgestattet, effektvoll von einer roten, künstlich stark bewegten Draperie vor tiefschwarzen Fond abheben.56 Nur einen Apfel benötigen „Adam und Eva“ eines holländischen ‚Caravaggisten‘ für ihr Verführungsspiel (Abb. 40),57 und Manfredis „König Midas“ 56 132  ×  91,2  cm; Cherbourg, Musée Thomas Henry; siehe hierfür Bestandskatalog (Le

Musée Thomas Henry à Cherbourg. Les collections et leur histoire, Caen 2003, S. 7; Gianni Papi, Cecco del Caravaggio, Soncino 2001, Tf. 52 mit Zuschreibung an einen „Maestro dell’ Incredulità di San Tommaso (Jean Ducamps?)“, den Papi rekonstruiert (siehe ebd., S. 44 f.). Der einzige mir bekannte Aufsatz über Ducamps von Andrea G. de Marchi, L’Asino d’Oro – Jean Ducamps, detto Giovanni del Campo, in: Gazette des Beaux-Arts 135 (2000), S. 157–166, erwähnt das Gemälde nicht. Den Mythos von Hyacinthus erzählen Ovids „Metamorphosen“ 10, 162–219. 57  110,5 × 85,5 cm; 2. Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts (?); Krakau, Schloß Wawel; siehe J­ oanna Winiewicz-Wolska (Hg.), Malarstwo Holenderskie w zbiorach zamku królewskiego na W ­ awelu, Krakau 2001, Nr. 34, S. 97–99 (mit Zuschreibung an Gerrit van Honthorst, nachdem Paul Huys

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(Abb. 41) verfügt lediglich über eine schlichte Zackenkrone, die ihn als König ausweisen soll.58 Welchen König und was für eine Geschichte uns Manfredi vor Augen führt, wird erst bei nahsichtiger Betrachtung des Gemäldes und der Wahrnehmung der Goldperlen unter dem linken Fuß des Königs erkennbar. Sie rufen die Geschichte des Königs Midas in Erinnerung, der sich in der Quelle des lydischen Flusses Pactolus von dem Zauber zu befreien suchte, daß alles, was er berührte, zu Gold wurde. Auch hier wird die das Bild konstituierende ‚Performance‘ des nur in ein braunes Tuch gehüllten Modells nicht negiert, sondern vielmehr durch die schmutzigen Fuß- und Fingernägel der Figur und durch das ostentativ indezente Moment des sichtbaren Schamhaaransatzes betont. Verbunden mit einer auf die Involvierung des Betrachters abzielenden enormen Plastizität und der hierdurch generierten scheinbaren Präsenz seiner Glieder, welche, die ästhetische Grenze verletzend, in den Betrachterraum einzudringen scheinen, verstärken die Bildmotive die durch die starke Untersicht bedingte Monumentalität der Figur in ihrer Wirkung.

1.4 Die Performativität des Bildes. Lebendigkeit und Attitüde Bei aller Verschiedenheit der Sujets – Caravaggios Bacchus-Darstellungen, Spadarinos „Götterversammlung“, Riminaldis „Dädalus und Ikarus“ und die übrigen betrachteten Werke haben die ihnen konstitutive Als-ob-Struktur gemeinsam. Die Bildfiguren ‚sind‘ nicht Bacchus, Zeus oder Ikarus, sie nehmen vielmehr die entsprechenden Rollen ein.59 Es sind Knaben und Männer, die eine olympische Götterwelt, mythologische Zwischenwelten oder einen antiken König mimen, und sie tun dies unter Einsatz ihres Körpers und mit Hilfe nur weniger Gegenstände, die als Attribute die Benennbarkeit der Figuren und damit die Erkennbarkeit des Sujets durch die Betrachter gewährleisten. Dabei wird, wie ich gezeigt habe, das Rollenspiel als solches kenntlich gemacht, Janssen [Jan van Bijlert: 1597/98–1671. Catalogue raisonné, Amsterdam 1998, S. 273, Nr. R-1, S. 195] mit dem allerdings wenig überzeugenden Kommentar „very likely 18th century“ die Zuschreibung an Bijlert von Nicolson/Vertova 1990, Nr. 1310, zurückgewiesen hatte). 58  135,5 × 100 cm; um 1617–19; Privatsammlung; siehe für dieses Bild Hartje, Manfredi 2004, Nr. A27, S. 349 f. und 101; Morselli, Bartolomeo Manfredi 1993, S. 31. Es ist bereits 1631 als eines von sechs Werken des Malers in der Sammlung des Herzogs Carlo Emmanuele I. von ­Savoyen dokumentiert. In der Sammlung von Maffeo Barberini ist ein Gemälde Manfredis eines „Re Mida con l’Orecchie d’Asino“ bezeugt, bei dem es sich um ein Pendant handeln dürfte. Vermutlich stammte also auch das Gemälde der Savoyer aus Barberini-Besitz. Ovid berichtet in den „Metamorphosen“ (XI 85–145) vom Schicksal des Königs Midas, der sich von Dionysos das Geschenk erbeten hatte, daß sich alles, was er berührt, in Gold verwandele. 59 Für Caravaggios Gemälde ist dieses Phänomen oft benannt worden; vgl. etwa die von Carrier, The Transfiguration 1987, S. 62 f., zusammengestellten Textbelege. Allerdings haben lediglich die in den folgenden Fußnoten genannten Autoren weitergehende Überlegungen bezüglich der konzeptuellen Implikationen und Gründe für diese Visualisierungsstrategie angestellt.

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Maskierung und Demaskierung liegen also dicht beieinander. Wenn „Bacchus“ pseudovornehm einen kleinen Finger abspreizt, an einem ‚modernen‘ Tisch sitzt und mit einem übertrieben großen Tuch drapiert ist, das den Vorgang des Kostümierens in Erinnerung ruft, oder ein von seiner Physis her kaum olympisch anmutender „Jupiter“ mit einem lächerlichen Zackenblitz ausgestattet oder der „Cupido“ im „Konzert“ der Knaben Caravaggios (Abb.  25) übertrieben stark geschminkt ist, wird die Diskrepanz zwischen einem ‚authentischen‘ Bacchus, Jupiter oder Cupido und Figuren, die diese Identitäten lediglich temporär annehmen oder simulieren, und damit zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Schein‘ deutlich. Maske, Staffage und Schminke signalisieren Inauthentizität und uneigentliche Semantik.60 Zeichentheoretisch formuliert fallen in solchen Visualisierungsstrategien Signifikant – in diesem Fall eine Person, die Modell für eine Figur steht – und Signifikat – hier die durch den Signifikanten generierte, mit einer bestimmten Bedeutung versehene Bildfigur – auseinander.61 Dabei liegen das, was als erfolgreiche Einnahme der Rolle und was als Fallen aus derselben bewertet wird, haarscharf beieinander. Diese Volatilität ist in einem sich durch Simultaneität auszeichnenden Gemälde unabdingbar, um den Effekt des Rollenspiels überhaupt zu erzeugen. Klaus Krüger hat mit Bezug auf den entkleideten, mit einem Flügelpaar ausstaffierten elf- oder zwölfjährigen „Amor Vincitore“ der Berliner Gemälde­ galerie (Abb. 14)62 die durch die Rolleneinnahme und das Mit­sprechen des Modells

60 Vgl. Andreas Mahler, Maske und Erkenntnis – Funktionen karnevalesker Identität bei

Shakespeare, in: Maskeraden. Geschlechterdifferenz in der literarischen Inszenierung, hg. v. Elfi Bettinger, Berlin 1995, S. 117–134, hier 117. 61  Siehe auch Wolfram Pichler, Die Evidenz und ihr Doppel. Über Spielräume des Sehens bei Caravaggio, in: Das Bild ist der König. Repräsentation nach Louis Marin, hg. v. Vera Beyer, Jutta Voorhoeve u. a., München 2006, S. 125–156, hier 142: „Caravaggios ‚Zeigen‘ […] (spielt) den Referenten gegen das Signifikat, den buchstäblichen Anblick des Modells gegen die vorgeblich intendierte ikonographische Bedeutung aus.“ Eine leicht veränderte italienische Fassung des Aufsatzes erschien unter dem Titel „Il dubbio e il doppio: le evidenze in Caravaggio“ in den Akten der Tagung „Caravaggio e il suo ambiente“, hg. v. Sybille Ebert-Schifferer, Julian Kliemann, Lothar Sickel & Valeska v. Rosen, Mailand 2007, S.  9–33. Für den Kontext von Pichlers Überlegungen siehe unten, S. 92. 62  156  ×  113  cm; 1601–02; Berlin, Gemäldegalerie; siehe Marini 2005, Nr. 54, S.  467–470; Cinotti 1983, Nr. 1, S. 409–411; zum Bild zuletzt: Rudolf Preimesberger, Michelangelo da Caravaggio – Caravaggio da Michelangelo. Zum „Amor“ in der Berliner Gemäldegalerie, in: Der stumme Diskurs der Bilder. Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, hg. v. Valeska v. Rosen, Klaus Krüger & dems., München/Berlin 2003, S. 243–260; Victoria von Flemming, Der Sieg der Knaben oder von freiwilliger und unfreiwilliger Knechtschaft. Michelangelo, Caravaggio, Guido Reni und ein stummer Streit der Bilder, in: Männlichkeit im Blick. Visuelle Inszenierungen in der Kunst der Frühen Neuzeit, hg. v. Mechthild Fend und Marianne Koos, Köln u. a. 2004, S. 99–119; sowie ausführlich zum Moment der Pose und mitsprechenden Identität des Knaben: Herwarth Röttgen, Caravaggio. Der irdische Amor oder Der Sieg der fleischlichen Liebe, Frankfurt a. M.1992.

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bedingte Ästhetik des Werks als „performativ“63 bezeichnet. Die Semantik des Begriffs verweist auf zwei eng miteinander verknüpfte Assoziationsfelder: auf das Theater, den genuinen Ort des Rollenspiels, und auf ‚lebende Bilder‘, also auf ephemere Inszenierungen, in denen Personen in einer Rolle figurieren, diese „jedoch“, wie Philine Helas definiert hat, „nicht im Sinne eines Theaterstückes spielen, sondern durch Kostüm, Attribut und Pose verkörpern“.64 So erlangen sie statische und damit bildhafte, skulpturale Qualität. Die Aufführung solcher ‚lebenden Bilder‘, ist eine seit dem Trecento nachweisbare und im Quattro- und Cinquecento vor allem im Festwesen verbreitete Praxis, welche die tableaux vivants des 18. Jahrhunderts antizipierte.65 Wenngleich performative Bildstrukturen im hier definierten Sinn in der Gattung der storia und des Genres in der Malerei um 1600 wohl erstmalig auftauchen, so gibt es doch eine strukturelle Parallele im sog. Rollenbildnis. In ihm wird die Darstellung eines Porträtierten ‚so, wie er ist‘ oder zu sein vorgibt mittels Kostümierung, Attributen, Frisur oder allgemeinem Habitus mit einer spezifischen historischen, religiösen oder mythologischen Figur überblendet, deren ‚Rolle‘ der Porträtierte also einnimmt.66 Die Folge solcher Bild­strategien 63  Krüger, Schleier 2001, S.  244, Anm. 144, wo er vom „performativen Charakter der Ge-

stelltheit“ spricht, S. 279 (siehe auch die vorherige Anmerkung): Zur Zielrichtung seiner Überlegungen siehe unten Anm. 77 und 86. 64  Philine Helas, Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 7. 65  Die Assoziation des lebenden Bildes mit Bezug auf den „Amor Giustiniani“ jüngst von Krüger, Schleier 2001, S. 245: „Der unvermeidliche Eindruck der Gestelltheit, des zurechtgefügten und drapierten Arrangements verleiht der Darstellung den Charakter eines ‚Lebenden Bildes‘ im Bild, der Darstellung einer Darstellung, und läßt die Anschauung dabei immer neu im Unklaren, ob es sich um Amor in Gestalt eines Knaben handelt oder um einen Knaben, der als Amor fungiert.“ Zum lebenden Bild siehe die gründliche und materialreiche Studie von Helas, Lebende Bilder 1999, zur Frage der Terminologie S. 2 f. 66  Die Genese dieser (bereits in der Antike belegten) Gattung in Italien seit dem ausgehenden Trecento bedarf noch einer gründlichen Untersuchung, die auf den Studien von Friedrich B. Polleross, Das sakrale Identifikationsporträt. Ein höfischer Bildtypus vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, 2 Bde., Worms 1988 und Donat de Chapeaurouge, Theomorphe Porträts der Neuzeit, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Geistesgeschichte und Literaturwissenschaft 42 (1968), S. 262–302 basieren kann. Siehe auch: Rose Wishnevsky, Studien zum „portrait histoire“ in den Niederlanden, Phil. Diss. München 1967; Brigitte Walbe, Studien zur Entwicklung des allegorischen Porträts in Frankreich; Phil. Diss. Frankfurt a. M. 1974; Stephanie Goda Tasch, Studien zum weiblichen Rollenporträt in England von Anthonis van Dyck bis Joshua Reynolds, Weimar 1999 (Diss. Bochum 1995). Die Autorin weist auf die sich dem Betrachter vermittelnde Diskrepanz und hierdurch bedingte Spannung zwischen der (realen) Person und der (idealen) Rolle hin (S. 11). Die Buchtitel geben bereits die gänzlich verschiedenen Bezeichnungen des Phänomens zu erkennen; Baldinucci verwendet den Terminus „ritratto istoriato“. Die Grenzen dieser Gattung zum (überwiegend älteren) „Krypto“- oder „verkleideten ­Porträt“, in dem Figuren in einem mehrfigurigen Darstellungszusammenhang meist religiöser Natur die Gesichtszüge von Personen appliziert werden, die zum Zeitpunkt der Erstellung des Werks meist noch lebten und einen gewissen Bekanntheitsgrad besaßen, sind naturgemäß fließend. Im Prinzip ist in den Rollenbildnissen der Porträtanteil dominanter, weil ein selbststän-

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ist eine den ‚performenden‘ Knaben und Männern der mythologischen oder genrehaften Gemälde analoge Als-ob-Struktur, deren Implikationen und Folgen es sowohl in bildkonzeptueller Hinsicht als auch den Wahrnehmungsvorgang und das intendierte Betrachterverhalten betreffend noch genauer zu konturieren gilt. Zunächst einige terminologische Bemerkungen: Nachdem in den Geistesund Kulturwissenschaften Begriff und Konzept des ‚Performativen‘ schon gut ein Jahrzehnt erfolgreich verwandt werden, kann es an dieser Stelle unterbleiben, die semantischen Ausdifferenzierungen des Konzepts ausgehend von der Sprechakttheorie John L. Austins nachzuzeichnen. Ich möchte mich darauf beschränken, einige wenige Aspekte des theoretischen Rahmens anzudeuten, der eine Verwendung des Begriffs auch in bezug auf visuelle Künste sinnvoll macht. Entscheidend ist dabei einerseits die Aufwertung bestimmter Begriffsfelder wie ‚(Selbst-)Inszenierung‘, ‚Theatralität‘, ‚Maskerade‘ und ‚Verkörperung‘, wodurch das Theater „zum gemeinsamen heuristischen Modell für die Beschreibung ganz unterschiedlicher Phänomene“67 werden konnte, zum anderen ist es die Aufwertung der Prozesse und Dynamiken des Produzierens, Herstellens, Aufführens und der spezifischen Materialität gegenüber dem fertigen, geschlossenen und definierten Produkt samt der sich daraus ergebenden Problematisierung eines einfachen reproduktiven Darstellungsbegriffs. Es versteht sich, daß Begriff und Konzept des Performativen mit Bezug auf die Künste zunächst dort Anwendung fanden, wo die Referenzen auf das Theater am größten sind: in der Performance- und Happening-Kunst der 1960/70er Jahre und der ‚Body-Art‘, um dann auf das allgemeine ‚Handeln‘, mit Bildern, wie wir es aus dem Festwesen, aus politischen und religiösen Zeremonien und aus Ritualen kennen, und damit auf visuelle Phänomene auch älterer Zeiten, ausgeweitet zu werden. Der Fokus auf die Prozesse des Machens und Erstellens rückt wiederum den genuin produktiven Akt in den Blick, vor allem in seiner Relevanz für und in seinem ‚Mitsprechen‘ im ausgeführten Gemälde. In diges Porträt durch Hinzufügung von Attributen und Narrationselementen mit einer storia überblendet wird. Polleross weist auf S. 49 daraufhin, daß gerade in der italienischen Malerei der Frühen Neuzeit oft schwer zu entscheiden ist, was als ein Rollenporträt gemeint ist, und wo ein Heiligenbild lediglich die Zeichen intensiveren Modellstudiums aufweist. 67  Klaus W. Hempfer, (Pseudo-)Performatives Erzählen im zeitgenössischen französischen und italienischen Roman, in: Romanistisches Jahrbuch 50 (1999), S.  158–182, wiederabgedruckt in: ders., Grundlagen der Textinterpretation, hg. v. Stefan Hartung, Stuttgart 2002, S. 185–208. Für das folgende außerdem vor allem Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; die Hefte mit den Themen „Theorien des Performativen“ und „Praktiken des Performativen“ der Zeitschrift Paragrana (Bd. 10, 2001 und Bd. 13, 2004); Geschichtswissenschaft und der „performative turn“: Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. v. Jürgen Martschukat & Steffen Patzold, Köln 2003; Uwe Wirth (Hg.), Performanz zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt  a. M. 2002; Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002.

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diesem Sinn lassen sich die inszenierten oder, genauer noch, die ‚aufführungshaften‘ Qualitäten der bislang ge­sehenen Bilder aus Caravaggios Umkreis als Kennzeichen struktureller Performativität begreifen. Diese Qualitäten treten um so schärfer in den Blick, wenn wir sie auf einen Begriff bringen können, zumal das zeitgenössische Sprechen über Kunst offensichtlich nicht über einen adäquaten Terminus verfügte.68 Die Werke erzeugen also den Eindruck der Integration einer (sich in Zeit vollziehenden) Handlung, die sich tatsächlich oder vorgeblich ereignet hat, ins Bild, und zwar den vorgeblichen Prozeß ihrer eigenen Entstehung. Daß eine solche strukturelle Performativität mit performativen Prozessen in der Wahrnehmung von seiten der Betrachter in Verbindung steht und bestimmte Kommunikations- und Verhaltensweisen sowie Selbstinszenierungsformen bedingt, möchte ich im folgenden zeigen. Zunächst seien aber noch genauer die malerischen Mittel in den Blick genommen, die die entsprechenden Bildqualitäten bedingen: Vorrangig ist hier noch einmal das forcierte Posieren der Figuren quasi für ihre Betrachter zu nennen. Hierfür seien neben den bereits erwähnten mythologischen und den noch zu behandelnden religiösen Darstellungen zwei in diesem Sinne charakteristische Darstellungen des triumphierenden Cupido genannt. So Caravaggios berühmter Berliner „Amor“ mit seinem prekär labilen Sitzmotiv: Der Knabe scheint im Begriff zu sein, von einem bild­parallel situierten Podest herab- und auf den Betrachter zuzurutschen, wobei sein rechtes Knie die ästhetische Grenze bereits zu verletzen scheint und er uns einen fröhlich und leicht provokant lächelnden Blick schenkt (Abb. 14). Von ihm angeregt ist der „Cupido“ von Tommaso Salini in Prag (Abb. 42), der seine ungewöhnliche und durch nichts motivierte Körperhaltung mit übermäßig und indezent gespreizten Beinen ebenfalls ausschließlich für den Betrachter aufführt, den der Knabe dabei auch konzentriert fixiert.69 In einem Porträt wie dem des Großmeisters des Malteserordens Alof de Wignacourt im Louvre ist die Pose 68  Angemerkt sei, daß auch der Begriff ‚Theatralität‘ ein moderner ist, der in den meisten euro­

päischen Sprachen erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert belegt ist (siehe hierfür Erika Fischer-Lichte, Einleitung, in: dies., Theatralität und Krisen 2001, S. 1–19, hier 2). Im übrigen ist auch sein Bedeutungsrahmen gegenüber ‚Performativität‘ deutlich enger, weil er sich konkreter auf spezifisch theatrale Phänomene bezieht, nicht auf ‚Performances‘ generell. 69  Für dieses Bild mit den Maßen 170 × 103 cm, das sich in der Prager Galerie der Burg befindet: Vittoria Markova, Alcune nuove proposte per Tommaso Salini, in: Paragone 40 (1989), Nr. 475, S.  26–41, hier 31–33, die es in die 2. Hälfte des 2. Jahrzehnts des Seicento datiert; Jaromír Neumann, Die Gemäldegalerie der Prager Burg, Prag 1966, Nr. 30, S. 168–172 (noch mit Zuschreibung an Orazio Gentileschi und früherer Datierung in das erste Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts); Imperial paintings from Prague (Ausst.-Kat Maastricht, Bonnefantenmuseum 2001), hg. v. Eliska Fucíková, Gent 2001, S. 121. Es gibt über diesen Maler, der Baglione zufolge vornehmlich Stilleben gemalt haben soll, nur einige kürzere Aufsätze; siehe vor allem Donatella Pegazzano, Documenti per Tommaso Salini, in: Paragone 48 (1997), Nr. 15/16, S. 131–149.

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42  Tommaso Salini, Cupido, Prag, Galerie der Burg

43 Caravaggio, Porträt von Alof de Wignacourt, Paris, Musée du Louvre

des Porträtierten für den Betrachter zwar gattungskonstitutiv, Caravaggio übersteigert sie aber durch die Einfügung eines von der Seite heran­tretenden Knaben (Abb. 43). Dieser trägt einen Helm mit Federbüschen und einen Überwurf herbei, als handele es sich dabei um Requisiten für die Zurschaustellung des Großmeisters, die dieser gleichwohl erst noch anlegen müßte. Der so entstandene Effekt ist von Leo Bersani und Charles Dutoit zutreffend als „making him look like a metal puppet“ beschrieben worden,70 und Andreas Beyer erkennt darin zu Recht die visuelle Überpointierung dessen, was ein Porträt im Prinzip ja auch ist, nämlich ein ‚Kostümstück‘.71 70 Bersani & Dutoit, Caravaggio’s Secrets 1998, S.  49. Für das Gemälde mit den Maßen

195 × 134, das 1608 in Malta entstand und sich heute im Pariser Louvre befindet, siehe Marini 2005, Nr. 89, S. 536–538; Cinotti 1983, Nr. 43, S. 487–489. 71 Ich zitiere die gesamte Passsage aus „Das Porträt in der Malerei“ von Andreas Beyer (­München 2002, S.  190): „Ungewöhnlich im ikonographischen Kontext dieses Porträts erscheint die Beifügung eines Pagen, die gleichwohl mit der notorischen Gewohnheit des ­Wignacourt begründet wird, sich stets mit einer Vielzahl junger Knappen zu umgeben. Vielleicht kommt aber gerade im Einsatz dieser Figur Caravaggios Eigenart besonders prägnant zum Ausdruck, in Widersprüchen zu argumentieren und eine Bilddialektik aufzubauen. […] Zudem scheint das ostentative Herbeitragen und die Zurschaustellung der ‚Requisiten‘ von

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Der Eindruck des Aufführungshaften entsteht weiterhin durch solche Motive, welche die ‚Öffnung‘ oder ‚Entgrenzung‘ des Bildes nach vorn bewirken: So durch die auf den Betrachter ausgerichtete Mimik und Gestik der Figuren oder die (vorgebliche) Niederlegung der ästhetischen Grenze durch Bildelemente in starkem rilievo, welche die Bildwirklichkeit zu verlassen scheinen. Performative Qualitäten werden ferner durch explizite ‚verbale‘ Adressierungen des externen Bildbetrachters etwa durch das „Voi sapete“ in Caravaggios „Lautenspieler“ und schließlich durch die virtuelle Einbeziehung des Rezipienten in das Historien-Geschehen erzeugt. Letzteres ist der Fall in Caravaggios (Abb. 44)72 oder Nicolas Régniers (Abb. 45)73 David und GoliathDarstellungen, in denen der aus dem Vorgang der Enthauptung gelöste und mitunter vor einen Vorhang posierende74 jugendliche David die Trophäe des abgeschlagenen Goliath-Hauptes dem Betrachter auf Augenhöhe entgegenhält den Entstehungsbedingungen des Gemäldes zu berichten und es als das zu beschreiben, was es ist – ein Kostümstück.“ 72  Zu Caravaggios Gemälde mit dem Maßen 125  ×  101  cm in der Galleria Borghese, das wahrscheinlich um 1609/10 entstand und sich spätestens 1613 im Besitz der Familie Borghese befand, Marini 2005, Nr. 108, S. 567 f.; Cinotti 1983, Nr. 51, S. 502–505. Rudolf Preimesberger, Golia e Davide, in: Docere delectare movere: affetti, devozione e retorica nel linguaggio artistico del primo barocco romano (Atti del convegno organizzato dall’Istituto Olandese a Roma, Roma, 19–20 gennaio 1996), hg. v. Sible de Blaauw u. a., Rom 1998, S. 61–70; jüngst David M. Stone, Self and Myth in Caravaggio’s David and Goliath, in: Caravaggio. Realism, Rebellion 2006, S. 36–46. Zur Frage des Bezugs zu Guido Renis Gemälde mit demselben Sujet im ­Louvre (237 × 137 cm), das mit breitem Konsens auf stilistischer Basis in die Jahre 1605/06 datiert wird, siehe D. Stephen Pepper, Guido Reni: l’opera completa, Novara 1988, Nr. 19, S. 221 f. Es zeigt in Überlebensgröße den bis auf ein übergeworfenes Fell nackten Knaben mit attraktivem Federbuschhut, wie er lässig mit überkreuzten Füßen an einer Säulenbasis lehnt und mit der linken Hand in den Haarschopf des gigantischen Goliath-Kopfes auf einem Quader greift. Die Beantwortung der Frage, wer diese Bildidee eines posierenden David hatte, also Reni oder Caravaggio, hängt von mehreren Faktoren ab: 1. der Datierung des ebenfalls nicht dokumentarisch gesicherten Gemäldes von Caravaggio, das von der Forschung zunehmend in die letzten Lebensjahre des Malers datiert wird; 2. von der Beurteilung der Originalität der Bildfassungen im Wiener Kunsthistorischen Museum und im Madrider Prado, die zuvor entstanden und mithin Caravaggios Bildidee erstmalig formulieren könnten und 3. der Eigenhändigkeit und Datierung der jüngst als eigenhändiges und der Borghese-Fassung ähnlichen Werks in Londoner Privatbesitz, das wegen einiger Pentimenti früher als dasselbe entstanden sein könnte und von Mina Gregori in die Zeit des ersten Neapel-Aufenthalts, also 1606/07, datiert wird (Mina Gregori, Un nuovo „Davide e Golia“ del Caravaggio, in: Paragone 51 [2000], Nr. 31, S. 11–22). Sollte die Invention tatsächlich auf Reni zurückgehen, was inzwischen auch von Pepper für wahrscheinlich erachtet wird (A New „David with the Head of Goliath“ by Guido Reni, in: The Burlington Magazine 144 (2000), S. 429–433, hier 430), könnte sich der von Malvasia kolportierte Vorwurf Caravaggios an Reni „di rubare il suo stile e il suo colore“ (auch) auf dieses Gemälde beziehen. 73  132 × 99 cm; Rom, Galleria Spada; für dieses Bild: Jean-Pierre Cuzin, in: Dopo Caravaggio 1987, Nr. 17, S. 104 (ohne Dat.); Fantelli, Nicolò Renieri 1974, Nr. 96, S. 102 (ohne Dat.). 74  Preimesberger, Golia e Davide 1998, S. 64 f., hat gezeigt, daß David damit die Bildrealität scheinbar verläßt und in die Betrachterwirklichkeit einzudringen scheint. Er liest den Vorhang – „tenda“ im Italienischen – als die „tenda“ des Saul, mithin das Zelt des Saul.

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44 Caravaggio, David und Goliath, Rom, Galleria Borghese

45  Nicolas Régnier, David und ­Goliath, Rom, Galleria Spada

oder diesen sogar, wie in Orazio Riminaldis Turiner Gemälde, mit dem Finger auf den Enthaupteten hinweist (Abb. 46).75 Auch der Vorhang im anonymen „Tod des Hyacinthus“ (Abb. 39) evoziert den Eindruck einer Präsentation der Figurengruppe auf einer Bühne, auf der die Figuren buchstäblich ‚in-Szenegesetzt‘ sind.76 Pointiert formuliert, zeigen die Gemälde nicht lediglich ihren Gegenstand, sondern die Darstellung desselben. Müßte eine solche Darstellung ‚zweiter 75  100 × 80 cm; Turin, Galleria Sabauda; für dieses Bild, das 1635 im Inventar der Savoyer ge-

nannt wird: Gianni Papi, Momenti di cultura 1992, S. 257–293, hier 261 f.; Percorsi caravaggeschi tra Roma e Piemonte, hg. v. Giovanni Romano, Turin 1999, Tf. 21. 76  Vgl. auch die „Hl. Familie mit Elisabeth, Johannes und einem Engel“ von Orazio Borgianni in der römischen Gallerina Barberini (226 × 173,5 cm; wohl noch erstes Jahrzehnt des Seicento), in dem die Figurengruppe – eigens präsentiert durch einen großen roten zurückgezogenen Vorhang – vor tiefschwarzem Hintergrund erscheint, vor dem ein Engel Geige spielt. Vom Handlungsraum ist allein der Steinfußboden angegeben. Siehe Gianni Papi, Orazio Borgianni, Soncino 1993, Nr. 18, S. 111 f.; Caravaggio e i suoi. Percorsi caravaggeschi in ­Palazzo Barberini (Ausst.-Kat. Roma, Palazzo Barberini 1999), hg. v. Claudio Strinati & Rossella Vodret, Neapel 1999, Nr. 11, S. 48. Das Gemälde stammt aus dem Konvent von San Silvestro in Capite. Für den Maler, der 1578 in Rom geboren wurde und ebendort 1616 verstarb, siehe Marco Gallo, Orazio Borgianni. Pittore romano (1575–1616) e Francesco de Castro. Conte di Castro, Rom 1997.

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46 Orazio Riminaldi, David und Goliath, Turin, Galleria Sabauda

Ordnung‘ eigentlich einen mimetischen Bruch bedeuten, der auf der Ebene der Rezeption einen Distanzeffekt und eine hierdurch bedingte Minderung der Wirkung nach sich zöge, so ist in den gezeigten Beispielen das genaue Gegenteil der Fall: Die Ansprache der Betrachter wird sogar verstärkt.77 Werke wie der „Tod des Hyacinthus“, der „König Midas“ oder der Florentiner „Bacchus“ zeigen, daß dies neben den genannten Mitteln zur Öffnung des Bildes nach vorn durch das besondere, an den virtuellen Tastsinn des Betrachters appellierende78 malerische rilievo zugleich die Folge der fehlenden räumlichen Verortung der Figuren ist. Das Gemälde besteht ja nahezu ausschließlich aus Figuren, die ohne Orts- und Zeitbezug vor einem dunklen Fond agieren. Die Bildwirkung wird ferner durch die brillante, auf die sinnliche Ansprache des Betrachters zielende79 Deskription der Oberflächen erzeugt – zu nennen sind 77  Krüger interpretiert Caravaggios Bildstrategie sowohl produktions-, als auch rezeptions-

ästhetisch: das von den Bildern inszenierte „piacevole inganno“ (Emmanuele Tesauro), das aus dem „unlösbaren Widerspiel von finto und vero“ resultiert, diene der „Geltendmachung des Mediums“ und rücke die „Bedingtheit bildlichen Darstellens“ ins „Zentrum der Aufmerksamkeit“ des Betrachters (Krüger, Schleier 2001, S. 248 f. und 279). 78  Siehe für die Verbindung von rilievo und tatto in der Kunst- und Poetiktheorie: Verf.in, Die Enargeia des Gemäldes. Zu einem vergessenen Inhalt des Ut-pictura-poesis und seiner Relevanz für das cinquecenteske Bildkonzept, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 27 (2000), S. 171–208, bes. 185, 189 und 195 f. 79  Ebd.; siehe auch Pichler, Evidenz 2006, S. 133.

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die äußerst delikate Schilderung der Federn und der wie haptisch wahrnehmbaren Haut der Oberschenkel und des Gesäßansatzes von Ikarus in Riminaldis Hartforder Gemälde –; sie entsteht außerdem durch die dramatische Ausleuchtung der Bildbühne und durch das vor allem Caravaggios Werke auszeichnende Phänomen einer regelrechten ‚Pointierung‘ der Bildzeit. So wirft der Wein im Kelch des Florentiner „Bacchus“ Bläschen, die vom ‚soeben‘ vorgenommenen Einschenken herzurühren scheinen,80 und die Früchte des Stillebens tragen Tautropfen, scheinen mithin soeben gepflückt, arrangiert und bildlich gebannt worden zu sein.81 Auf diese Weise wird die genuine Gegenwärtigkeit des sich eo ipso durch Simultaneität auszeichnenden Mediums der Malerei derart zugespitzt, daß die ‚Lebendigkeit‘ und die Kraft des Bildes zur Vergegenwärtigung des Gezeigten beim Betrachter weiter gesteigert werden. All diese visuellen Strategien sind also über ihre Wirkung motiviert. Sie sind eine Zuspitzung des für den Bilddiskurs des Cinquecento relevanten antiken Prinzips des Vor-Augen-Stellens (enárgeia), das auf der Simultaneität und genuinen Wirkmächtigkeit des Bildes gründet.82 Wolfram Pichler hat jüngst den Begriff der Evidenz – lateinisches Äquivalent der enárgeia – für Caravaggios Malerei, die beansprucht, „Dinge so darzustellen, als ob sie körperlich unmittelbar anwesend wären“, fruchtbar gemacht.83 Das Bild verstärkt mithin seine Wirkung, indem es den Seheindruck von theatralen Präsentationen und den mit ihnen verknüpften Anspruch der Mimesis von Wirklichkeit alludiert: Pose und Attitüde generieren ein Moment der „Bewegung“ und den Effekt der Verlebendigung.

80  Pichler, Evidenz 2006, S.  143: „… seine zerbrechliche Gegenwart pointieren …“ sowie

S. 138 und 151. In einer interessanten Ausdeutung sieht Pichler in den in vielen Gemälden Caravaggios zu beobachtenden rissigen oder aufgeplatzten Stoffen, denen er eine dynamisierende Wirkung zuschreibt, die Thematisierung der Zeitlichkeit seiner Malerei. Für den in der theoretischen Reflexion entwickelten Zusammenhang von visueller Gegenwärtigkeit und Evidenz siehe Verf.in, Die Enargeia 2000, bes. S. 180 und 191. 81  Prater, Licht und Farbe 1992, S. 97, weist daraufhin, daß sich gleichfalls erste Stufen der Fäulnis an den Früchten beobachten lassen. Die Thematisierung der Bildzeit ist mithin komplexer, weil sich ebenfalls der Eindruck einstellt, einige Früchte seien im (sukzessiven) Prozeß der Ausführung des Gemäldes verfault. Für das Bild und seine Datierung in die frühen neunziger Jahre siehe Marini 2005, Nr. 10, S.  386–388; Cinotti 1983, Nr. 32, S.  464–466; EbertSchifferer, Caravaggios 2002, S. 1–23. 82  Siehe hierfür Verf.in, Die Enargeia 2000 (mit weiterer Literatur); Emmanuelle Hénin, Ut pictura theatrum. Théâtre et peinture de la Renaissance italienne au classicisme francais, Genf 2003, S. 29–36. 83  Pichler, Evidenz 2006, S.  127. Vgl. auch bereits Schreier, Darstellung 1989, S.  329–338, der den Frühwerken Caravaggios eine „fast greifbare Nähe“ und „Evidenz des Sinnlichen“ (S.  331) attestiert, diese Qualitäten allerdings kategorisch gegen jede Form gedanklich-konzeptueller Inhaltlichkeit ausspielt.

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Aber wie im Theater das Rollenspiel auf einem Code beruht und das Wissen um die Fiktionalität von seiten der Zuschauer niemals ganz zu verdrängen ist,84 so zeigt insbesondere der Florentiner „Bacchus“, daß sich auch in der Malerei der durch die beschriebenen Mittel generierte Effekt nicht in der Evozierung einer körperlichen Präsenz der Figur erschöpft. Seine Evidenz ist, nach Pichler, „instabil“85 – und dies gerade durch den Effekt der Pose, „wodurch sich das erstaunliche Maß fiktiver körperlicher Gegenwart desjenigen, der uns im Bild begegnet, umgekehrt proportional zur Glaubhaftigkeit des mit ihm verbundenen Sujets verhält“.86 Bereits Leo Bersani und Ulysse Dutoit haben von der „opacity“ des Bildes infolge des von Caravaggio forcierten Rollenspiels seiner Figuren gesprochen.87 Auch hier liegt ein Spiel vor, dem ein reflexives Moment eingeschrieben ist: ein Umspielen der Evidenzkraft der Malerei, das aus der Ambivalenz von Natürlichkeit und Künstlichkeit der Pose und Attitüde resultiert und eine gewisse strukturelle Parallele im genuinen Paradox der ‚lebenden Bilder‘ hat, die den Eindruck von Bewegung und Vergegenwärtigung trotz oder gerade durch die sich in der Pose manifestierende Stillstellung erhalten.88

84  Vgl. Mahler, Maske und Erkenntnis 1995, S. 118: „Das Spiel der Maskerade beruht […] auf

einem Kontrakt. Der Spielende tut so, als ob er ein anderer sei, und der Zuschauer als Mitspieler tut so, als ob er dies dem Spieler glaube. Der Kontrakt der Maskerade ist der Kontrakt jeder Fiktion; ihr Spieler erfordert im Zuschauer den Komplizen.“ 85  Pichler, Evidenz 2006, S. 143. 86  Pichler; ich zitiere hier nach dem (unpublizierten) deutschen Manuskript seines ins Italienische übersetzten Aufsatzes (ders., Il dubbio e il doppio: le evidenze in Caravaggio, in: Caravaggio e il suo ambiente 2007, S. 9–33, hier S. 21: „Il grado sorprendente di presenza fisica fittizia di chi è effigiato nel quadro è inversamente proporzionale alla credibilità del significato di Bacco a essa collegato“), da sich der Satz nicht in seinem Aufsatz von 2006 befindet. Ziel dieser Strategie ist nach Pichler, ähnlich wie Krüger (siehe Anm. 77), das „Sehen des Betrachters zu öffnen“, worunter er ein „in Bewegung halten“ versteht, um „die Materialität des Mediums mit ins Spiel“ zu bringen (Pichler, Evidenz 2006, S. 151 und 146). 87  Bersani & Dutoit, Caravaggio’s Secrets 1998, S. 43–49; siehe das Zitat oben, Anm. 6. 88  So Gottfried Boehm in seiner Teilprojektschilderung zum ‚lebendigen Bild‘ im NFS Eikones, das an der Universität Basel beheimatet ist; siehe http://www.eikones.ch, Modul 03 „Zeit im Bild. Lebendigkeit und Temporalität“ (Stand 19.6. 2005); zum Paradox der „stillen Bewegtheit“ der Attituden im 18. Jahrhundert: Bettina Baumgärtel, Die Attitüde und die Malerei, Paradox der stillen Bewegtheit in Synthese von Erfindung und Nachahmung, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 46 (1992), S. 21–41, bes. 29–31. Philine Helas wies mich daraufhin, daß dieser Effekt im ‚lebenden Bild‘ der Frühen Neuzeit verstärkt wird durch das gelegentliche Aufbrechen der Starrheit, etwa wenn die verkörpernde Person Verse rezitiert etc.

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1.5 Vorzeichnungsloses ‚Abmalen‘ der Modelle? Caravaggios ‚Fehler‘ 89 Mehrfach habe ich bereits darauf hingewiesen, daß Caravaggios Gemälde oft den Eindruck erwecken, als habe ihr Schöpfer seine Modelle im Atelier oder in einem anderen beliebigen Innenraum posieren lassen, sie mit bestimmten Kleidungsstücken und Gegenständen ausstaffiert und dann quasi eins zu eins, ohne sich bildvorbereitender Studien zu bedienen, „abgemalt“. Die Schilderung der Arbeitsweise des Malers durch den niederländischen Kunsttheoretiker Carel van Mander in seinem bereits 1604, also noch zu Lebzeiten Caravaggios, in Haarlem publizierten „Schilderboeck“ scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Van Mander spricht unter Berufung auf den Bericht seines römischen Agenten von Caravaggios Malerei „direkt nach der Natur, nicht nach Zeichnungen“; weiter heißt es, der Maler führe nie einen einzigen Pinselstrich aus, der „nicht nach dem Leben gesetzt sei.“90 Auch Giulio Mancini charakterisiert in seinen 1617–21 verfaßten „Considerazioni sulla pittura“ die Malpraxis der „schola“ (!) Caravaggios, als „modo d’operare […] molto osservante del vero, che sempre lo tien davanti mentre ch’opera.“, als „Arbeitsweise, […] bei der die Wirklichkeit sehr beobachtet wird, die, während man arbeitet, immer vor Augen steht.“91 Er scheint darunter die enge Orientierung am Modell zu verstehen, äußert sich allerdings nicht zu der Frage, wie und mit welchen Mitteln der so entstandene Seheindruck von den Malern in die planimetrische Ordnung des Gemäldes umgesetzt wird. Es verwundert nicht, daß sich, gestützt auf die Evidenz der Bilder und die kunsttheoretischen Bemerkungen van Manders und Mancinis, eine Forschungsauffassung etablieren konnte, der zufolge Caravaggio tatsächlich direkt vor dem posierenden und von ihm selbst in einer bestimmten Weise arrangierten Modell gearbeitet und den sich ihm so bietenden Eindruck eines ‚lebenden Bildes‘ unmittelbar auf die Leinwand gebannt habe, ohne sich durch 89  Eine anders akzentuierte Fassung dieses Unterkapitels habe ich zu einem Aufsatz mit dem

Titel „Arbeiten am Image. Caravaggios Selbststilisierung in Bezug auf seine Arbeitsweise“ ausgearbeitet (erschienen in: Caravaggio. Originale und Kopien 2006, S. 62–72). 90  Carel Van Mander, Het Schilderboeck, Haarlem 1604, fol. 191r: „Dan zijn segghen is dat alle dinghen niet dan Bagatelli, kinderwerck oft bueselinghen zijn t’zy wat oft van wien gheschildert soo sy niet nae t’leven ghedaen en gheschildert en zijn en datter niet goet oft beter en can wesen dan de Natuere te volghen. Alsoo dat hy niet eenen enckelen treck en dest oft hy en sittet vlack nae t’leven en copieert end’en schildert.“ Die Übersetzung zit. nach Nevenka Kroschewski, Über das allmähliche Verfertigen der Bilder. Neue Aspekte zu Caravaggio, München 2002, S. 17 und 146, die diese Passage ausführlich diskutiert (S. 151–158). 91  Mancini, Considerazioni, Bd. 1, S. 108; siehe hierzu Kroschewski, Über das allmähliche Verfertigen 2002, S. 34–41. Sie arbeitet präzise heraus, daß die spätere Kunsttheorie den engen Bezug zwischen Caravaggios Modellstudium und der spezifischen Arbeitsweise nicht mehr herstellt.

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Vorstudien oder Kompositionsentwürfe vorzubereiten. Daß Caravaggio, von dem sich keine einzige sicher zuschreibbare Zeichnung erhalten hat, möglicherweise seine Gemälde nie in diesem Medium vorbereitet habe, ist eine Überlegung, die bereits in der älteren Forschung geäußert wurde, wobei seine oberitalienische Herkunft und seine Nähe zur venezianischen Malschule, in der dem Medium der Vorzeichnung eine vergleichsweise geringe Bedeutung für den Bildentwurf zukam, sicherlich eine Rolle spielte.92 Zu einer veritablen Theorie über die nicht nur gänzlich vorzeichnungslose, ja sogar ‚primamalerische‘ Arbeitsweise des Malers ausgearbeitet wurde sie von Mina Gregori für die große Ausstellung „Michelangelo Merisi da Caravaggio – Come nascono i capolavori“, die um die Jahreswende 1991/92 in Florenz stattfand.93 Es ist zu vermuten, daß Derek Jarmans preisgekrönter Film über den Maler von 1986 an der Entwicklung und Etablierung dieser Ideen einen gewissen Anteil hat. Denn Jarman zeigt in sehr eingängiger visueller Rhetorik Caravaggios Leben im Atelier gemeinsam mit Personen seiner ‚Entourage‘, die sich aus bestimmten, von ihnen selbst erlebten Situationen heraus recht unmittelbar in tableaux vivants-artigen settings zusammenfinden, die der Maler dann mit ungestümer Geste auf die Leinwand bannt und die nolens volens den Figurationen seiner Gemälde entsprechen.94 92  Etwa Denis Mahon: On Some Aspects of Caravaggio and His Times, in: The Metropolitan

Museum of Art Bulletin 12 (1953), 33–45, hier 39; siehe die Zusammenfassung weiterer diesbezüglicher Aussagen bei Kroschewski, Vom allmählichen Verfertigen 2002, S. 9–21; zu den gegenteiligen Meinungen, ebd., bes. S. 64–74. 93  Michelangelo Merisi da Caravaggio. Come nascono i capolavori (Ausst.-Kat. Firenze, Palazzo Pitti/Roma, Palazzo Ruspoli 1991/92), hg. v. Mina Gregori, Mailand 1991; siehe darin vor allem den Beitrag der Herausgeberin „Come dipingeva il Caravaggio“, S.  13–29; zuvor bereits, wenn auch vorsichtiger interpretierend, da er Caravaggios Kunst nicht als „simple demonstration of naturalism“ versteht: Keith Christiansen, Caravaggio and „L’esempio davanti del naturale“, in: The Art Bulletin 68 (1986), S. 421–435 (das Zitat auf S. 421). Ohne dies hier umfassend belegen zu können, läßt sich doch schließen, daß die Auffassung vom ‚primamalerisch’ arbeitenden Caravaggio in der Forschung bis heute dominierend ist. Das hat auch für die Bewertung anderer Künster Folgen, etwa, wenn die Annahme, auch die ‚Caravaggisten‘ müßten so gearbeitet haben, zu einem Zuschreibungs- und Bewertungskriterium wird, wie dies beispielsweise bei Bartolomeo Manfredi der Fall ist, in dessen Gemälde Unterzeichnungen nachweisbar sind. Siehe hierfür Hartje, Manfredi 2004, S.  49 f. So hat etwa auch Keith Christiansen trotz Orazio Gentileschis offenkundiger Wiederholung bestimmter Modelle in derselben Ansicht im Katalog der großen Gentileschi-Ausstellung von 2001/02 nicht den naheliegenden Schluß gezogen, daß dieser mehrfach auf dieselbe Modellstudie zurückgegriffen habe, sondern vom „painting dal naturale – with a posed model“ und „in emulation of Caravaggio“ gesprochen (The Art of Orazio Gentileschi, in: Orazio and Artemisia Gentileschi 2002, S. 3–37, hier 11; auch S. 94). Siehe hierfür Verf.in, Pluralismus in New York 2003, bes. S. 540. 94  Für den Film siehe Derek Jarman’s Caravaggio: the Complete Film Script and Commentaries, photos by Gerald Incandela, London 1986; Christina Scherer & Guntram Vogt, Derek Jarman, in: Augen-Blick 24 (1996), S. 6–68; Leo Bersani & Ulysse Dutoit, Caravaggio, London 1999; Klaus Krüger, Bilder der Kunst, des Films, des Lebens. Derek Jarmans ­Caravaggio, in:

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Die Bedeutung, die der postulierten ‚primamalerischen‘ Arbeitsweise Caravaggios gerade von Gregori beigemessen wird, ist groß: Auf dieser malerischen Technik basiere Caravaggios „fondamento naturalistico“, seine „naturalistische Grundlage“, ja sie mache das eigentliche ‚revolutionäre‘ Potential seines ‚Naturalismus‘ aus und habe daher programmatischen Charakter.95 Tatsächlich hätte der Verzicht auf Vorzeichnungen nicht nur tradierter Arbeitspraxis widersprochen, sondern wäre auch den mit ihr verknüpften Wertvorstellungen – der originär mit dem disegno als Medium und als immanenter Qualität der Malerei verknüpften geistig-intellektuellen Komponente im künstlerischen Schaffensprozeß – zuwidergelaufen.96 Daran anknüpfend hat David Hockney in seiner jüngeren, kontrovers diskutierten Studie die Überlegung angestellt, Caravaggio habe mit optischen Hilfsmitteln wie Spiegeln und Linsen operiert und das so entstandene Projektionsbild zügig auf die Leinwand übertragen.97 Das bewegte Bild. Film und Kunst, hg. v. Thomas Hensel, dems. & Tanja Michalsky, M ­ ünchen 2006, S. 257–279. 95  Mina Gregori, Come dipingeva il Caravaggio, in: Caravaggio. Come nascono 1991, S. 13– 29, hier 15; siehe auch dies.: Caravaggio dopo la mostra di Cleveland, in: Paragone 263 (1972), S. 23–49, hier 31: „la […] pratica scandalosa di dipingere direttamente dal modello […]“. Und zuvor bereits Friedländer: Caravaggio Studies 1955, S. IX: „Caravaggio’s method of transferring ‚natura‘ – that is to say the model – directly to the canvas without the medium of preliminary drawings must have seemed a kind of crime against the Holy Spirit“; Mahon, On Some Aspects 1953, S. 42 f.: „The mere working mechanics of pictorial representation in the High Renaissance sense never became an open book for Caravaggio.“ 96  Vgl. hierfür Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zu einer Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jahrbuch der Kunstwissenschaft 19 (1974), S.  219–240; auch Verf.in, s.v. Disegno und colore, in: Metzler Lexikon der Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2003, S. 71–73 (mit weiterer Literatur). Relativ zeitnah an Caravaggio betont Giovan Battista Armenini ausführlich den Wert und Nutzen einer guten Zeichenpraxis für die Maler (Armenini, De’ veri precetti della pittura [Ravenna 1586], Buch 1, Kap. 7, hg. v. Marina Gorreri, Turin 1988, S. 67–74). 97  David Hockney: Geheimes Wissen. Verlorene Techniken der Alten Meister wiederentdeckt von David Hockney, München 2001, S. 111–125. Er stellt die These auf, daß sich Caravaggio wie viele Künstler seit dem frühen 15. Jahrhundert in weitaus umfassenderer Weise als dies die Forschung bislang vermutet habe, optischer Hilfsmittel wie konvexer Spiegel und Linsen bedient und direkt nach der optischen Bildprojektion gemalt habe. Beim „Bacchus“ der Sammlung Borghese geht er beispielsweise davon aus, der Maler habe den (in seinem Besitz tatsächlich dokumentierten) Spiegel nicht nur dazu benutzt, seiner eigenen Gesichtszüge ansichtig zu werden, sondern auch um damit die Figur in Einzelteilen auf die Leinwand zu projizieren und dann abzumalen (S. 114). Im Prinzip ist die Vorstellung nur eine Variante der These von Caravaggios ‚primamalerischen‘ Arbeiten, die obendrein sehr assoziativ präsentiert und nur durch Einzelbeobachtungen untermauert wird. So ist ihm beispielsweise das Faktum, daß der „Bacchus“ in den Uffizien die Trinkschale in der linken Hand hält, ‚Beleg‘ für den Einsatz eines Spiegels (S. 114). Obendrein sieht Hockney zwischen der Ausführung beider BacchusGemälde einen Wandel in der Figurendarstellung, den er auf Caravaggios Bekanntschaft mit konvexen Linsen um die Jahrhundertwende zurückführt (ebd.), was in der thesenhaften Kürze seiner Darstellung nicht nachvollzogen werden kann. Hockneys Buch hat bezeichnenderweise

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Es kann hier nicht der Ort sein, Caravaggios tatsächliche Arbeitsweise zu rekonstruieren. Zu viele Informationen bezüglich des Malaufbaus seiner Gemälde sind durch die jüngeren, vor allem von der Restauratorengruppe emmebici vorgenommenen Bildanalysen zu Tage getreten, und es zeichnet sich ab, wie verschieden diese durch Restauratoren und Kunsthistoriker interpretiert werden. Dies gilt auch etwa für die sog. incisioni, die von Gregori und anderen als Indiz für das postulierte ‚primamalerische‘ Arbeiten Caravaggios angesehen werden, weil sie angeblich die Haltung des Modells vor der Leinwand fixierten. Von anderen werden sie genau gegenteilig als Hinweis auf eine Anlage der Komposition in einem separaten Medium, die dann mittels dieser Einritzungen auf die Leinwand übertragen wurde, gelesen.98 Auch die Existenz von frühen Gemälderepliken wird im Hinblick auf die Frage nach ihrer Eigenhändigkeit oder ihrer möglichen Entstehung unter Caravaggios Anleitung entsprechend kontrovers gedeutet.99 Insgesamt zeichnet sich in der Forschung seit einigen Jahren allerdings eine wachsende Skepsis gegenüber der postulierten gänzlich vorzeichnungslosen Malpraxis Caravaggios und dem Vorstellungsbild des ungestümen ‚Maler-Pinslers‘ ab.100 Vorrangig zu nennen ist hier die profunde Studie von vehemente Kritik erfahren, unter anderem von dem Spezialisten für Maltechnik in der Londoner National Gallery, David Bomford, der in seiner Rezension im Burlington Magazine 144 (2002), S. 173 f., neben dem Fehlen entsprechender Dokumente u. a. darauf hinweist, daß das Malen nach der Projektion einer Camera obscura allein durch die Lichtverhältnisse in einem solchen ‚Labor‘ allenfalls das Festhalten von Linien, jedoch nicht die minutiöse Übertragung von Details, ermöglicht. Auch Sara J. Schechner hat jüngst generell, also ohne Bezug auf Caravaggio – eingewandt, daß die Spiegel der Frühen Neuzeit infolge der geringen Größe ihres Focus’ und der Ungleichmäßigkeit ihrer Krümmung kaum die Qualität gehabt haben werden, welche die Voraussetzung für eine Bildproduktion dargestellt hätte (Sara J. Schechner, Between Knowing and Doing: Mirrors and their Imperfections in the Renaissance, in: Early Science and Medicine. A Journal for the Study of Science, technology and Medicine in the Pre-Modern Period 10 (2005), Heft 2, S. 137–162). Für weitere Kritikpunkte siehe meine Anm. 104. 98  Daß sie letzteres mit einiger Sicherheit zumindest in einem Fall waren, zeigen die Untersuchungen der einander äußerst ähnlichen Bildfassungen des „Meditierenden Hl. Franziskus“ in der römischen Chiesa dei Cappuccini und der Galleria Barberini (aus der Chiesa di San Pietro in Carpineto Romano), die beide Einritzungen aufweisen (Marco Cardinali, M. Beatrice De Ruggieri & Claudio Falcucci, Il „San Francesco in meditazione“ di Caravaggio e il suo doppio, in: Storia dell’ arte 108 [2004], S. 60–67; siehe auch Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung (Ausst.-Kat. Düsseldorf, museum kunst palast 2006), hg. v. Jürgen Harten & Jean-Hubert Martin, Ostfilfern 2006, S. 214–218, bes. 217.). Da die Frage der Eigenhändigkeit beider Fassungen nach wie vor höchst kontrovers diskutiert wird (ebd., S. 214–218 und Marini 2005, Nr. 105, S. 562–565), ist es sehr wahrscheinlich, daß Caravaggio selbst bzw. unter seiner Aufsicht zumindest in einem Gemälde die mechanische Übertragung der Komposition auf diese Weise fixiert wurde. 99  Siehe hierfür Caravaggio. Originale und Kopien 2006. 100  Zur Diskussion der Rolle der sog. incisioni in Caravaggios Gemälden, die nicht als Indiz für primamalerisches Arbeiten, sondern als Beleg für die Übertragung eines Vorentwurfs auf die Leinwand gewertet werden: Robert Wald im Abschnitt zur maltechnischen Analyse von

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Nevenka Kroschewski von 2002, die durch die Analyse der relevanten kunsttheoretischen Aussagen des frühen Seicento in ihrem jeweiligen argumentativen Kontext nachweisen konnte, daß diese keineswegs eine unkonventionelle vorzeichnungslose Praxis des Malers belegen, vielmehr erst von der Forschung in diesem Sinne mit modernen, in der Genieästhetik wurzelnden Vorstellungen vom original-schöpferischen Künstler überblendet wurden. Darüber hinaus konnte Kroschewski einige der vermeintlichen technischen Indizien für Caravaggios ‚primamalerische‘ Technik in ihrem Aussagewert nivellieren und außerdem wahrscheinlich machen, daß zumindest einige seiner Gemälde geometrisch konstruiert sind, was wiederum die Annahme bildvorbereitender Studien bedingt.101 Inzwischen mehren sich in der Forschung die Vorschläge, dem Maler auch Zeichnungen zuzuschreiben,102 und zudem wird betont, daß der Malaufbau in seinen Gemälden auf einen schichtenweisen Farbauftrag und ein sorgfältiges Durchtrocknen der verschiedenen Lasuren hinweist, mithin Caravaggio nicht ungewöhnlich schnell gearbeitet haben kann –103 ein Einwand, der im übrigen auch Hockneys suggestiven, aber eher unreflektiert vorgetragenen und nicht belegten Thesen die Grundlage entzieht.104 Was folgt also aus diesen Befunden? Ich möchte diese Frage indirekt durch die Einführung eines Aspekts beantworten, der mir in der Forschungsdiskussion viel zu wenig beachtet erscheint, und zwar den der Evidenz der Bilder: Caravaggios Wiener „Dornenkrönung“, in: Caravaggio in Preussen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie (Ausst.-Kat. Roma, Palazzo Giustiniani/Berlin, Altes Museum 2001), hg. v. Silvia Danesi Squarzina, Mailand 2001, S. 292 f., und Kroschewski, Über das allmähliche Verfertigen 2002, S. 78–84, auch mit Hinweisen auf weitere Unterzeichnungen der Gemälde. 101  Kroschewski, Über das allmähliche Verfertigen 2002, passim. 102  Dies war bereits die These von Alfred Moir 1969 (Did Caravaggio draw?, in: Art Quarterly 32 [1969], S. 354–372), bes. ebd. S. 355 und 362; vgl. auch Maurizio Calvesi: Conforme allo sbozzo, in: Ars 4 (1988), S. 66–71; Maurizio Marini, Disegnato da Caravaggio, in: Quadri e sculture 6 (1998), Nr. 29, S.  41–44, der eine Zeichnung im Florentiner Gabinetto Disegni e stampe degli Uffizi als eigenhändige Studie für die Gruppe der Zöllner in der „Berufung ­Matthäi“ der Contarelli-Kapelle in San Luigi dei Francesi vorschlägt (für frühere Zuschreibungen von Zeichnungen an Caravaggio, bevor sich die These von der alla prima-Malerei durchsetzte, siehe seine Anm. 6 auf S.  44); Kroschewski, Über das allmähliche Verfertigen 2002, S. 67–75; Giulio Bora: Da Peterzano a Caravaggio: un’ ipotesi sulla pratica disegnativa, in: Paragone 53 (2002), S. 3–20. Er geht davon aus, daß Caravaggio zumindest in seiner Jugend in Oberitalien gezeichnet hat und schlägt für einige anonyme Blätter in lombardischen Sammlungen eine Zuschreibung an ihn vor. 103  Vgl. beispielsweise Roberta Lapucci, La tecnica del Caravaggio: materiali e metodi, in: Come dipingeva Caravaggio. Atti della giornata di studio, hg. v. Mina Gregori, Mailand 1991, S. 31–51, hier 46. 104  Hockney, Geheimes Wissen 2001, S. 111–125, der Einwand generell (also ohne Bezug auf Caravaggio) von Matthias Oberli in seiner Rezension von Hockneys Buch, in: Kunstchronik 55 (2002), S. 605–611, hier 608. Für generelle Einwände siehe auch oben Anm. 97.

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­ aravaggio möchte in seinen Gemälden deutlich – überdeutlich in meinen C Augen – den Eindruck einer Referenz auf ihre Entstehungssituation im Atelier erzeugen: durch die erwähnten Unterschiede im Inkarnat seiner Modelle (Abb.  22), durch die Tautropfen auf den Früchten im Stilleben der Ambrosiana, welche die sofortige und rasche Umsetzung der ‚Wirklichkeit‘ in Malerei signalisieren (Abb. 20), durch ein falsches Marterinstrument in der Hand der „Hl. Katharina“ (Abb. 3), das suggerieren soll, der Maler hätte bei der Ausführung des Gemäldes mit dem posierenden Modell im Atelier zufällig nicht die adäquate Waffe zur Verfügung gehabt,105 oder durch das Verdorrtsein des Märtyrerpalmzweigs in demselben Gemälde, der – so will es uns Caravaggio Glauben machen – die mehrere Tage währende ‚Porträtsitzung‘ nicht überdauert hat. Kurz, in allen diesen und vielen weiteren Beispielen richtet Caravaggio sein Bemühen darauf, Eindrücke zu erzielen, die wir von seiner Arbeitsweise gewinnen sollen. Die Frage, wie Caravaggio tatsächlich gemalt hat, ist davon unabhängig zu betrachten, ja im Prinzip ist es sogar wahrscheinlich, daß der Eindruck, den der Maler uns vermitteln will, gerade nicht der Wirklichkeit entspricht und vielmehr in der Diskrepanz der Nukleus einer Selbststilisierung vorliegt.106 Wie weit Caravaggio dabei ging, also ob er auf die Geheimhaltung seiner malerischen Praxis und mithin auf die weitgehende Abgeschlossenheit seines Ateliers zielte und möglicherweise sogar Zeichnungen, die er laut Verträgen für seine Altarbilder vorzulegen hatte,107 bewußt vernichtete,108 läßt sich nur vermuten.109 Anzunehmen ist aber, daß eine Differenz zwischen dem, was uns Caravaggio über die Entstehung seiner Werke vermitteln will – sie seien unmittelbar und ausschließlich vor dem posierenden Modell entstanden – und seiner tatsächlichen Arbeitsweise besteht, wie auch immer diese beschaffen war: Schließlich sind zwischen dem Postulat einer radikalen Zeichnungsverweigerung und der Annahme konventioneller Bildvorbereitung im Medium der Zeichnung auch Zwischenstufen vorstellbar, die Caravaggios Ausbildung in der traditionell dem Medium der Vorzeichnung etwas geringere Bedeutung einräumenden oberitalienischen Malkultur Rechnung tragen. 105  Siehe hierzu den Abschnitt I.3.2. 106  Siehe hierzu meinen Aufsatz Arbeiten am Image 2006. 107  Vgl. Maurizio Calvesi, Uno „sbozzo“ del Caravaggio e la „Deposizione“ di Santa Maria

in Vallicella, in: Studi di storia dell’arte in onore di Mina Gregori, Mailand 1994, S. 148–157, hier 149 f. So verlangt nicht nur der Vertrag, den Caravaggio für die Gemälde in der Cappella Cesari unterzeichnet hatte, die Ausführung von „specimina et designationes figurarum et aliorum“, auch der Kontrakt vom 5. April 1600 (wohl für die „Grablegung Christi“ in der Chiesa Nuova) bezieht sich auf einen bereits vorliegenden „sbozzo per esso signor Michelangelo fatto per detto signor Fabio“. 108  Kroschewski, Vom allmählichen Verfertigen 2002, S. 71, hält dies für möglich. 109  So hypothetisch formuliert von Kroschewski, ebd. S.  155–158, womit sie eine bemerkenswerte Idee von Jacob Hess von 1951 aufgreift; siehe: The Chronology of the Contarelli Chapel, in: The Burlington Magazine 93 (1951), S. 186–201, hier 201.

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Für ent­scheidend aber halte ich folgendes: Das bereits beobachtete Muster der Erzeugung von Evidenz und ihrer kalkulierten Durchbrechung, das seine Werke auszeichnet, läßt sich auch auf der Ebene der Arbeitsweise beobachten, wenn er uns, wie in der „Katharina“, eine ausschließliche und unmittelbare Orientierung am Modell suggeriert. Es ist eine wohl als dissimulatio zu interpretierende Geste eines Malers, der sich poco erudito gibt, indem er konventionalisierte Arbeitspraktiken und die mit ihnen verknüpften Wertvorstellungen zu negieren vorgibt.110 Daß diese Brechung der Evidenz den Gemälden eingeschrieben ist und damit Caravaggio selbst den Zweifel bei uns Betrachtern daran sät, ob er uns tatsächlich das, was ihm direkt vor Augen stand, „vor Augen geführt“ hat – so die Umschreibung von evidenza oder enárgeia in rhetorischen und poetologischen Traktaten – wird bei intensiverer Betrachtung der Werke deutlich.111 So verweist der im dunklen Raum effektvoll beleuchtete nackte Oberkörper des Florentiner „Bacchus“ (Abb. 22) auf die Existenz einer starken, anscheinend oberhalb des Bildfelds befindlichen Lichtquelle. Bei eingehender Betrachtung des Gemäldes wird aber zunehmend unklar, wo deren Position zu denken ist. Der von Bacchus’ Kopf verursachte Schlagschatten auf der linken Schulter erzeugt den Eindruck, sie befände sich links oben, der Schatten an der Karaffe lokalisiert sie aber links vorn. Eigentümlicherweise verläuft der unmittelbar benachbarte Schatten, den das aus dem Korb ragende Blatt wirft, wiederum nicht parallel dazu, und die Figur des Knaben wirft überhaupt keinen Schatten auf die Rückwand.112 Eine solche Lichtführung ist bei einer derart starken Lichtquelle realiter unmöglich. Auch in der figürlichen Anlage des Knaben sind analoge Unstimmigkeiten zu beobachten: Weder korrespondiert mit der kräftigen rechten Schulter des Knaben eine ebensolche linke, noch wird deutlich, wo der Unterkörper des Knaben anzunehmen ist.113 Ähnliches gilt für den „Bacchus Borghese“ 110 Zur dissimulatio siehe unten Kap. III.2.4. 111 Marcus Tullius Cicero, De oratore III 202; hg. u. übers. v. Harald Merklin, Stuttgart

1991, S. 572–575; vgl. auch Pichler, Evidenz 2006, S. 140 f. Ohne dies hier vertiefen zu wollen, sei angemerkt, daß ich vor der Folie dieser Beobachtungen Überlegungen bezüglich eines Zusammenhangs zwischen Caravaggios „Naturalismus“ und den naturwissenschaftlichen Ansätzen eines Giordano Bruno, Tommaso Campanella und Galileo Galilei, wie sie vor allem von Ferdinando Bologna vertreten wurden, skeptisch gegenüberstehe (Bologna, L’incredulità del Caravaggio 1992, S. 138–190, bes. 154–190). Etwa für Caravaggios Stillebenmalerei mögen sich Verbindungen rekonstruieren lassen; für wichtiger halte ich jedoch seinen höchst ambivalenten Umgang mit der Kategorie der imitatio naturae. 112 Letzteres ist die Beobachtung von Alfred Moir, Le sviste di Caravaggio, in: L’ultimo ­Caravaggio e la cultura artistica a Napoli, in Sicilia e a Malta, hg. v. Maurizio Calvesi, Syrakus 1987, S. 139–145, hier 139, der auch darauf hinweist, daß die Stoffe, die wir durch den Kelch sowie die Karaffe hindurchsehen, keinerlei optische Verzerrungen aufweisen. 113 So die Beobachtung von Jutta Held, Caravaggio: Politik und Martyrium der Körper, ­Berlin 1996, S. 43. 2

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(Abb.  29): Auch hier kann Caravaggio nicht einfach das posierende Modell abgemalt haben. Der Muskelverlauf am Rücken mit der dominanten Furche am Schulterblatt ist nicht natürlich, wie sich empirisch leicht nachprüfen läßt, noch sind dies die Beine. Der Knabe müßte über einen deutlich längeren rechten als linken Oberschenkel verfügen.114 Dies sind mitnichten die einzigen ‚Fehler‘ in Caravaggios Gemälden. Alfred Moir hat in einem Aufsatz von 1987 auf zahlreiche „sviste“ des Malers aufmerksam gemacht, die in der Forschung immer wieder, allerdings eher en passant, vermerkt werden.115 Sie finden sich meist in Schilderungen der Extremitäten sowie bei Verkürzungen der Figuren. So kann die „Maria Magdalena“ der Sammlung Pamphilj (Abb. 47)116 kaum über einen Unterleib verfügen, und in der „Konversion Sauli“ in der Cerasi-Kapelle scheint dem niedergestürzten Protagonisten der rechte Unterschenkel samt Fuß zu fehlen.117 Zu ergänzen sind Moirs Beobachtungen um die Figur des „Johannes“ in Kansas City (Abb. 48),118 dessen rechtes Bein zu mittig ansetzt, weiterhin um den „Johannes“ in der Sammlung Borghese (Abb. 49), dessen Beine verschieden lang sind,119 um den „Knaben mit Fruchtkorb“ (Abb. 23), dessen rechte Schulter über eine anatomisch schwer nachvollziehbare Muskulatur verfügt, wohingegen die linke Schulter gar nicht vorhanden zu sein scheint, und schließlich um den Engel im „Martyrium des Matthäus“ in der Contarelli-Kapelle (Abb. 21),120 dessen extrem verdrehte Haltung von keinem noch so beweglichen Modell eingenommen werden kann. Lichtführung und Schattensetzung sind weder in der „Gefangennahme Christi“ noch in der Pariser „Wahrsagerin“ (Abb. 19) plausibel, wo der Beobachtung von Rainald Raabe zufolge das Licht mit der Entfernung von der oben links zu denkenden Lichtquelle im Bild zunimmt und die Schatten dunkler werden.121 Auch die gestochen scharfen LichtSchatten-Kanten auf den rückwärts gelegenen Wandflächen in der „Magdalena“ der Sammlung Pamphilj, den beiden Lautenspieler-Darstellungen (Abb.  17) oder der „Berufung Matthäi“ (Abb. 2), die gerade in der Rezeption durch die ‚Caravaggisten‘ zu einem ‚Signum‘ von Caravaggios Malerei

114 Vgl. auch Herrmann Fiore, Il Bacchino 1989, S.  95, zur etwas unklaren Position der ­ eine; von ihr stammt auch die Beobachtung, daß wir die Figur von unten zu sehen scheinen, B sie aber auf dem Boden sitzt. 115  Moir, Le sviste 1987. 116  Für dieses Bild siehe unten, Abschnitt 3.3. dieses Kapitels. 117  Für dieses Bild siehe Kap. III., S. 379 f., Anm. 54. 118  Für dieses Bild siehe Kap. II.5.3. 119  Siehe ebd. 120  Siehe zu diesem Bild unten Abschnitt 2.1. dieses Kapitels und Kap. III.1.2. 121  Rainald Raabe, Der imaginierte Betrachter: Studien zu Caravaggios römischem Werk, Hildesheim 1996, S. 60 f.; für dieses Bild siehe meine Einleitung, Anm. 76.

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47 Caravaggio, Hl. Maria Magdalena, Rom, Galleria Doria Pamphilj

werden,122 lassen sich nicht auf realiter mögliche Lichtverhältnisse zurückführen, und der Fruchtkorb im „Emmaus-Mahl“ müßte nach einer Beobachtung von Claude Gandelman, dem erzeugten Schatten nach zu urteilen, vom Tisch fallen.123 In diesem Zusammenhang ist auch Moirs Hinweis aufschlußreich, er habe die „Berufung Matthäi“ durch Personen nachstellen lassen,

122  Siehe etwa Bartolomeo Manfredis „Christus erscheint Maria“ im Museo Civico in Cremona, in dem die Ausleuchtung der Figurengruppe mit der durch diese Diagonale suggerierten Lichtquelle ebenfalls nicht übereinstimmt. Für das Gemälde mit den Maßen 257  ×  178  cm (1621–22) siehe Hartje, Manfredi 2004, Nr. A 36, S. 367 f. 123  Claude Gandelman, Der Gestus des Zeigers, in: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, hg. v. Wolfgang Kemp, 2Berlin 1992, S. 71–93, hier 89. Für das Bild mit den Maßen 141 × 196,2 cm siehe Marini 2005, Nr. 47, S. 456–458; Cinotti 1983, Nr. 31, S. 462 f. sowie die in Anm. 125 genannte Literatur.

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48 Caravaggio, Johannes der Täufer, Kansas City, Nelson-Atkins Museum

49 Caravaggio, Johannes der Täufer, Rom, Galleria Borghese

aber es sei den an diesem Experiment beteiligten Technikern nicht möglich gewesen, die faktische Lichtsituation des Gemäldes zu erzeugen.124 Wie lassen sich diese Befunde deuten? Hier ist für die verschiedenen Gemälde zu differenzieren: Für die unter dem Gesichtspunkt der Empirie nicht stringente Lichtführung im Londoner „Emmausmahl“ liegt eine symbolische Bedeutung nahe;125 für einige weitere Gemälde wird man einen entsprechenden Sinn ebenfalls annehmen können. Aber sind die übrigen Beispiele tatsächlich Zeugnisse mangelnden zeichnerischen Trainings Caravaggios, und damit die Folge des postulierten primamalerischen Arbeitens direkt vor dem Modell oder des Einsatzes optischer Hilfsmittel, wie es die Forschung nahezu unisono – wenn auch oft unausgesprochen – annimmt?126 Sind die verschie124  Moir, Le sviste 1987, S. 142. Bemerkenswerterweise sagt Mancini in der erwähnten Passage explizit, daß die Arbeitsweise direkt vor dem Modell nicht bei mehrfigurigen Kompositionen anwendbar sei; siehe Mancini, Considerazioni, Bd. 1, S. 108 f. 125  So überzeugend Charles Scribner III, „In Alia Effigie“, Caravaggio’s London Supper at Emmaus, in: The Art Bulletin 59 (1977), S. 375–383; Krüger, Schleier 2001, S. 261–266. Jüngst dazu: Lorenzo Pericolo, Visualizing Appearance and Disappearance: On Caravaggio’s L ­ ondon Supper at Emmaus, in: The Art Bulletin 89 (2007), Nr. 3, S. 519–539. 126  Jüngst etwa Marco Cardinali, Manuela Falcucci & Maria Beatrice De Ruggieri. Caravaggios Maltechnik im Spiegel von zeitgenössischen Quellen, Forschung und kunsttechnologischer Analyse, in: Caravaggio. Originale und Kopien 2006, S. 82–89, hier 88.

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denen Schattenwürfe etwa im „Bacchus“ ‚pseudo-naturalistisch‘ erklärbar, so als habe Caravaggio in mehreren Sitzungen seine Modelle und ihre Ausleuchtungen jeweils unterschiedlich arrangiert und sich hierdurch solche ‚Unstimmigkeiten‘ in seinen Gemälden eingehandelt, bzw. als seien diese Folge der Verwendung einer Spiegellinse, die ihn zwang, in einer Montagetechnik die Figur in Teilen zu projizieren?127 Ich halte das für eine etwas naive und vor allem nur scheinbar plausible Vorstellung vom künstlerischen Arbeiten in der Frühen Neuzeit, die außerdem Entscheidendes außer acht läßt. Sicherlich ließen sich einige ‚Fehler‘, wie die Verzeichnungen im „Bacchus“ oder im „Knaben mit Fruchtkorb“,so erklären. Aber das Faktum, daß Caravaggio sie nicht korrigierte – was im Medium der Ölmalerei ja leicht zu bewerkstelligen gewesen wäre –, läßt sich nur damit begründen, daß Caravaggio sie im Bild bestehen lassen wollte, wenn nicht eben sogar absichtsvoll erzeugte,128 und damit aus einer möglichen Schwäche zu Beginn seiner Karriere eine Strategie machte. Und tatsächlich sind eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten gerade unter dem Gesichtspunkt des Figuren­ arrangements gar nicht auf zeichnerisches Unvermögen zurückführbar und mithin keinesfalls Ausdruck oder Folge seiner angeblichen Arbeit direkt vor dem Modell. So hält der Florentiner „Bacchus“ seine Hände derart schlaff, daß seine Tätigkeit – das Halten eines Glases sowie das Greifen in das Gewand – nicht plausibel wird,129 der „Johannes“ in Kansas (Abb. 48), dessen Modell maximal zwanzig Jahre alt sein dürfte, verfügt über die (rechte) Hand eines alten Mannes, die Maria in der „Madonna dei Palafrenieri“ (Abb. 50) sogar über zwei verschieden große Hände.130 Die Heroine steht in „Judith und Holophernes“ der Galleria Barberini viel zu weit von ihrem Opfer entfernt, um 127  Für letzteres Hockney, Geheimes Wissen 2001, bes. S. 114. Für Einwände gegen seine Annahmen siehe meine Anm. 97 und 104. 128  In seinem Schlußsatz erwägt auch Moir knapp diese Möglichkeit, siehe Le sviste 1987, S. 144: „Si può dimostrare che alcune di queste sviste erano volute da Caravaggio che ha esercitato l’inesatta arte della pittura invece d’un esatto e meccanico processo scientifico.“ Vgl. auch die leider nicht ausgeführte Bemerkung von Kroschewski, Vom allmählichen Verfertigen 2002, S. 63: „Diese […] Phänomene [gemeint ist die in einigen Werken fehlende Logik in der Lichtführung und Schattengebung, V.v.R.] machen deutlich, daß Caravaggio sich zugunsten der jeweils intendierten Bildwirkung souverän über die Gesetze des Naturalismus hinwegsetzte, auf die ihn die Kunstgeschichtsschreibung verpflichten möchte.“ So ähnlich auch Herwarth Röttgen, Caravaggio-Probleme, in: Münchner Jahrbuch 20 (1969), S. 143–170, hier 161, mit Bezug auf die Figurendispositionen in der „Berufung Matthäi“ der Contarelli-Kapelle: „Das Erstaunliche bei dem ‚Naturalisten‘ Caravaggio ist, daß er sich um einer wie auch immer ge­ arteten Wirkung willen über die gegenständliche Wirklichkeit hinwegsetzt.“ 129 In diesen Zusammenhang gehört auch die Rille, die Michael Fried beobachtet hat (Thoughts on Caravaggio, in: Critical Inquiry 24 [1997], S.  13–56, hier 42 f.), die Wolfram Pichler unter dem Vorzeichen der Brechung der Bildevidenz gedeutet hat (Pichler, Evidenz 2006, S. 144). 130  Für dieses Bild siehe unten Abschnitt 3.1. dieses Kapitels.

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50 Caravaggio, Madonna dei Palafrenieri, Rom, Galleria Borghese

den zur Enthauptung notwendigen Schwertstreich überhaupt durchführen zu können,131 der Hunnenfürst im „Martyrium der hl. Ursula“ (Abb. 51) hingegen 131  So Matthias Oberli, Schauder und Sensation. Caravaggios „Judit und Holophernes“ – Voraussetzungen und Wirkung von Enthauptungsszenen in der barocken Kunst, in: Georges-

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51 Caravaggio, Martyrium der hl. Ursula, Neapel, Banca Intesa, Le Gallerie d’Italia, Palazzo Zevallos Stigliano

zu nah, als daß er mit seinem unmittelbar zuvor abgeschossenen Pfeil die direkt neben ihm stehende Heilige hätte verletzen können,132 und am Arrangement des „Früchtekorbs“ (Abb. 20) stellt sich bei intensiverer Betrachtung ebenfalls massiver Zweifel ein, weil sich die vermeintlich ihre Frische signalisierenden Tautropfen133 auch an den bereits verfaulten Trauben, dem wurmstichigen Apfel und den welken Blättern finden. Solche Beispiele für offensichtlich gesuchte Durchbrechungen der visuellen Evidenz der Bilder lassen sich auch in Werken einiger ‚Caravaggisten‘ wie Battistello Caracciolo, Spadarino und Orazio Gentileschi beobachten.134 Bloch–Jahrbuch des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich 8 (2001), S. 146–169, hier 150 f. Für das um 1599 entstandene Gemälde mit den Maßen 145 × 192 cm; siehe auch Marini 2005, Nr. 31, S. 424–426; Cinotti 1983, Nr. 55, S. 515–517. 132  140,5 × 170,5 cm; Neapel, Banca Intesa Le Gallerie d’Italia, Palazzo Zevallos Stigliano. Für das Gemälde siehe L’ultimo Caravaggio. Il Martirio di Sant’Orsola restaurato. Collezione Banca Intesa (Ausst.-Kat. Roma, Museo di Villa Borghese/Milano, Pinacoteca Ambrosiana/ Vicenza Palazzo Leoni Montanari 2004), Mailand 2004; Marini 2005, Nr. 110, S. 570–574. 133  Siehe hierzu oben, S. 92 f. und 99. 134  Ich nenne einige Beispiele; so Battistello Caracciolos Altarbild mit dem „Wunder des hl. Antonius“ in Neapel, Museo di Capodimonte (aus der Cappella di Sant’ Antonio in S. ­Giorgio dei Genovesi; 290 × 218 cm, um 1620), in dem der von einem velum umgebene Engel geradezu absurd verzeichnet ist. Für dieses Bild siehe Stefano Causa, Battistello Caracciolo. ­L’opera completa, Neapel 2000, Nr. A 63, S.  190, Abb. 243, S.  269, und Battistello Caracciolo e il primo naturalismo a Napoli (Ausst.-Kat. Napoli, Castel Sant’Elmo u. Certosa di San Martino 1991/92), hg. v. Ferdinando Bologna, Napoli 1991, Nr. 1.19, S. 230. Für diesen vor 1578 in ­Neapel geborenen und dort 1635 gestorbenen Maler, der sich 1614 in Rom aufhielt und Bekanntschaft mit Orazio Gentileschi schloß, siehe auch Wolfgang Prohaska, Beiträge zu ­Giovanni Batista Caracciolo, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 74

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Statt sie als Beglaubigungen pseudoplausibler Lesarten bezüglich der von ihnen suggerierten Entstehung der Bilder mißzuverstehen, sind sie analytisch ernst und ihr rhetorischer Zuschnitt wahrzunehmen: Wie auch immer Caravaggio seine Werke schuf – ob er sie zeichnerisch vorbereitete oder ob er optische Hilfsmittel einsetzte –, entscheidend ist, daß er Eindrücke evoziert, die uns irritieren sollen. Der (erste) Anschein trügt und soll trügen. In diesem Vorgehen zeichnet sich eine ‚Maskierung‘ des Schaffensvorgangs ab, die als Teil einer Strategie des Malers gesehen werden muß, die uns unten noch genauer interessieren soll.135 Caravaggio dissimuliert seine Kunst, zeigt uns ‚fehlerhafte‘, ‚schlechte‘ Malerei, die sich bei genauem Hinsehen als kalkuliert falsch und damit in paradoxer Wendung als nicht wirklichkeitsreferent, sondern als künstlerisch-inszeniert offenbart. Er erzieht uns zum aufmerksamen Sehen, wenn sich das vermeintlich so evidente, der ‚Natur‘ entsprechende Figurenarrangement bei eingehender Betrachtung als empirisch unmöglich erweist. Die Maxime der imitatio, der Caravaggio hier vorgeblich so wörtlich folgt, wird ironisch gebrochen.136 Die gezielten Störungen der Illusion sind Momente innerbildlicher Reflexion der trügerischen Macht, der präsentischen Wirkung und der Evidenz der ‚neuen‘ Malerei al naturale – einer Malerei mit Pinsel­ strichen wie „die Natur selbst“.137

(1978), S. 163–269. Als Beispiel Spadarinos ist der „Narziß“ der Galleria Barberini mit seinen deutlichen Verzeichnungen bzw. Fehlern im Spiegelbild zu nennen, folgt man der Zuschreibung des Gemäldes an diesen Maler aus Caravaggios Umkreis (siehe hierfür Papi, Spadarino 2003, Nr.  35, S.  155–160 [113  ×  97  cm]). Vgl. auch Orazio Gentileschis „Taufe Christi“ in S. Maria della Pace in Rom von 1607 (!), in der es starke Schlagschatten gibt, die nicht durch die innerbildliche Lichtquelle generiert sein können (300 × 240 cm; siehe für das Bild Orazio and Artemisia Gentileschi 2002, Nr. 11, S. 77–79). 135  Im Kapitel III, besonders 2.2. 136  Zu den Konzepten der dissimulatio und Ironie allgemein und ausführlicher zur Anwendung durch Caravaggio siehe unten Kap. III, 2.4. Rudolf Preimesberger hat es mit Bezug auf Caravaggios Selbstbildnis in einer schlechten Handlungsrolle fruchtbar gemacht; siehe Preimes­berger, Caravaggio im „Matthäusmartyrium“ der Cappella Contarelli, in: Zeitenspiegelung. Zur Bedeutung von Traditionen in Kunst und Kunstwissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann zum 60. Geburtstag am 8. Oktober 1998, hg. v. Peter K. Klein und Regine Prange, Berlin 1998, S.  135–149, hier 140 und 144 (hierzu ausführlicher unten, S.  268). Zur ‚schlechten Malerei‘ siehe bereits Verf.in, Der Stratege des Hässlichen. Die kalkulierten Regelverstösse im Spätwerk von Caravaggio, in: Neue Zürcher Zeitung. Literatur und Kunst, Nr. 278. Samstag/Sonntag, 27./28. November 2004, S. 45, und „Inszenierte Unkonventionalität. Caravaggios Ironisierung der Antikenimitatio“, in: Renaissance. Episteme und Agon, hg. v. Andreas Kablitz & Gerhard Regn. Heidelberg 2006, S. 423–449. 137  Bellori, Le Vite 1976, S. 229, der sich hier auf eine Aussage Caravaggios bezieht: „Professavasi egli inoltre tanto ubbidiente al modello che non si faceva propria né mano una pennellata, la quale diceva non essere sua ma della natura“.

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1.6 Die Performativität der Wahrnehmung Wenn Caravaggio Eindrücke sowohl in Hinsicht auf die Disposition der Bilder als auch auf die Art und Weise ihrer Entstehung evoziert, die jedoch bei näherer und intensiverer Betrachtung der Werke unterlaufen werden, spielt er mit den Seherwartungen seines Publikums und verlangt ihm eine in mehrfacher Hinsicht aktive Haltung ab. Seine Gemälde zielen darauf, daß die Betrachter nicht nur deren inszenierten und artifiziellen Charakter im Gewand des ‚Natürlichen‘ samt der damit verbundenen Strategie des Malers durchschauen, sondern daß sie auch am prozessualen Vorgang der ‚Demaskierung‘ der Modelle und dem mit ihm einhergehenden sukzessiven Bewußtwerden des Dispositivs der Bilder Vergnügen empfinden. Dasselbe gilt für die Wahrnehmung ihres hierdurch bedingten labilen Status in bezug auf die Gattungsfrage zwischen Genre und Mythos, zwischen Genre und Allegorie – wie im „Konzert“ (Abb. 25) –138 oder zwischen Genre und Historie. Letzteres ist der Fall, wenn sich die Füße waschende männliche Figur in Manfredis Gemälde bei eingehender Betrachtung als König Midas entpuppt (Abb. 41). Im Nachvollzug der Hybridität in der Gattungszugehörigkeit und der die Bilder auszeichnenden „Grenzperformanz“139 muß für die Betrachter ein besonderer Reiz gelegen haben. Er bestand sicherlich auch in der Wahrnehmung des damit einhergehenden Kontrasts von ‚Hoch‘ und ‚Niedrig‘: So ist das Handlungsmotiv des Fußwaschens, wäre es von einer ‚namenlosen‘, mithin dem Genre zuzurechnenden Person vollzogen, ein denkbar niedriges; wird die Handlung hingegen von König Midas ausgeführt und dient ihre Darstellung der Indikation eines spezifischen Sujets, hat sie eine ungleich höhere Bildwürdigkeit. Auch die prononcierte Schilderung von Emotionen und Affekten, die Caravaggio gerade im „Knaben, der von einer Eidechse gebissen wird“ (Abb. 24) so meisterhaft leistet, ist Charakteristikum der 138  In diesem Zusammenhang ist auf einen Eingriff von unbekannter Hand (möglicherweise aus dem 18. Jahrhundert) hinzuweisen, bei dem der Flügel und Köcher des Cupido im „Konzert“ übermalt und somit aus dem Gemälde im Prinzip ein Genrebild gemacht wurde. Erst bei der Restaurierung 1951/52 wurde das Pentimento entdeckt und zunächst für eine eigenhändige Korrektur Caravaggios gehalten, was aufgrund mehrerer zeitgenössischer Kopien, die den Cupido stets mit Köcher und Flügeln zeigen, unwahrscheinlich ist. Siehe hierzu den Katalogeintrag in: Michelangelo Merisi da Caravaggio. Come nascono i capolavori (Ausst.-Kat. Firenze, Palazzo Pitti/Roma, Palazzo Ruspoli 2001/02), hg. v. Mina Gregori, Mailand 1991, S. 110–122, bes. 110 und 122. Ein weiteres Beispiel für die Ambivalenz zwischen Genre und Allegorie ist Frans Hals’ „Junge mit Totenschädel“ in der Londoner National Gallery, das im Typus auf die Knabenbilder der Utrechter Caravaggisten mit Federhüten reagiert, seinem Knaben aber einen Schädel in die Hand gibt. 139  Den Terminus entnehme ich der von Michael Lüthy verfaßten Kurzbeschreibung des Sonderforschungsbereichs „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin (http://www.sfb626.de/pages/konzepte.html; Stand 20.6.2005).

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‚hohen‘ Historienmalerei,140 die Caravaggio hier sicherlich absichtsvoll gerade am niedrigen Sujet demonstriert. Vermutlich wurde auch die Diskrepanz zwischen der offenkundigen Niedrigkeit der Themen und dem durch den Rekurs auf antike Vorbilder markierten hohen Anspruch der Werke als besonders reizvoll betrachtet. Dies gilt um so mehr, bedenkt man, daß Gemälde wie der „Knabe mit Fruchtkorb“ (Abb. 23) und möglicherweise auch der „Lautenspieler“ (Abb. 17) als Verbildlichungen antiker Ekphraseis rezipiert worden sein könnten.141 Die performative Ästhetik der Bilder spekuliert also nicht nur auf die oben beschriebene Stimulierung der sinnlichen Wahrnehmung. Dadurch, daß die Betrachter quasi zu Zuschauern eines sich vor ihnen und für sie abspielenden Ereignisses werden, zielt sie auch auf die kognitive Perzeption. Denn sie generiert aktive Rezeptionsleistungen und bedingt so eine prozeß- oder ereignishafte, ihrerseits ‚performative‘ Wahrnehmung.142 Die Betrachter werden dazu angeregt, die von den Werken inszenierte „Grenzperformanz“ nachzuvollziehen und sich auf das intellektuelle Spiel um Bilder und ihre Rolle in einem normativen ästhetischen Wertesystem und den damit verknüpften Rezeptionsvorgaben und Seherwartungen einzulassen. So wie der Großherzog Ferdinando de’ Medici seinen „Bacchus“ an einem „luogo delle Delizie“ seiner Villa aufbewahrte,143 arbeiten die ‚neuen‘ Galeriebilder nicht nur qua ihrer Sujets, sondern auch durch die ihnen adäquaten Rezeptionsformen ihrer Funktion im privaten Kontext zu. Die Sammlung ist ihr idealer Ort, weil sie dem diletto dei sensi und dem diletto dell’intelletto

140  Hierzu Ebert-Schifferer: Caravaggios Früchtekorb 2002, S. 1–23, hier 10. 141  Für den „Fruttaiolo“, der mit einiger Sicherheit auf das von Plinius erwähnte Knabenbild

des Zeuxis (Plinius, Naturkunde 1978, § 66, S. 55–57) rekurriert, siehe Julius S. Held, Rubens’ Het Pelsken, in: Essays in the History of Art Presented to Rudolf Wittkower, hg. v. Douglas Fraser, Howard Hibbard u. a., London 1967, S. 188–192, hier 191, Anm. 32; Hibbard, Caravaggio 1983, S. 17; Lubomír Konecny: Zeuxis in Prague: Some Thoughts on Hans von Aachen, in: Prag um 1600. Beiträge zur Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs II, Freren 1988, S. 147– 155; Rainald Raabe: Der imaginierte Betrachter 1996, S. 42–45; Ebert-Schifferer, Caravaggios Früchtekorb 2002, S. 18 f. sowie meinen Aufsatz: Inszenierte Unkonventionalität 2006. Für den „Lautenspieler“: Franca Trinchieri Camiz, „Per prima cosa guarda la lira, per vedere se è dipinta correttamente …“: quadri a soggetto musicale all’epoca di Caravaggio, in: La natura morta al tempo di Caravaggio (Ausst.-Kat. Roma, Musei Capitolini 1995/96), hg. v. Alberto Cottino, Neapel 1995, S. 75–78, mit Bezug auf das mit „Amphion“ beschriebene Gemälde von Philostratos, Die Bilder. Griech.-dt., hg., übers. u. erl. v. Otto Schönberger, München 1968, Nr. 10, S. 112–115. 142  Für einen systematischen Entwurf einer „Performativität der Wahrnehmung“ siehe den von der „Arbeitsgruppe Wahrnehmung“ des Berliner SFB „Kulturen des Performativen“ verfaßten Aufsatz: Wahrnehmung und Performativität, in: Praktiken des Performativen, hg. v. Erika Fischer-Lichte & Christoph Wulf (Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 13 [2004], Heft 1), S. 15–80. 143  Siehe Fumagalli, in: La natura morta 1998, S. 88.

Performativität in profanen Gemälden

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Raum und Rahmen bietet.144 Wie die Art und Weise der Rezeption der Werke darüber hinaus semantisch aufgeladen war, läßt sich nur vermuten: Ihre Betrachtung gemeinsam mit den Modellen – im Fall des „Kranken Bacchus“ also dem Maler selbst – stellt man sich ebenso reizvoll vor wie ihre Einbindung in ‚Performances‘ à la Trimalchios „Gastmahl“, wie sie in Rom im Kreis um den Kardinal del Monte nachweislich aufgeführt wurden. Und es war bezeichnenderweise ja der Kardinal selbst, dem nicht nur einer der beiden „Lautenspieler“, das „Konzert“, sondern wahrscheinlich zunächst auch der „Bacchus“ gehört hat.145

144  Die Formel bezüglich der zwei Aspekte des diletto stammt von Sperone Speroni (Trattatello dei sensi, in: ders., Opere, Venedig 1740, Bd. 5, S. 399 f.), findet sich aber in der Kunst­ theorie häufig, wenngleich nicht immer so präzise und eingängig formuliert. 145  Dokumentiert ist ein Bankett des Kardinals Montalto im Palazzo della Cancelleria im Karneval 1605, bei dem Knaben auftraten, die als Mädchen verkleidet waren. Anwesend waren die Kardinäle Aldobrandini, del Monte und Peretti mit weiteren Geistlichen. Bei dem Tanz im Anschluß an das Festmahl ersetzten die Knaben die nicht anwesenden Frauen. Siehe Sergio Samek Ludovici, Vita del Caravaggio dalle suo testimonianze del suo tempo, Mailand 1956, S. 96; auch Sternweiler, Lust der Götter 1993, S. 236 f.

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2. Theatrale Mimesis in der Altarmalerei Wenn ich bislang den idealen Ort performativer Gemälde in der privaten Galerie postuliert und Sujets wie das des dieu-masqué Bacchus als besonders geeignet für solche Bildstrukturen bezeichnet habe, stellt sich die Frage nach der Interpretierbarkeit entsprechender Phänomene in religiösen Werken, insbesondere solchen, die für Kirchenräume bestimmt waren. Sie bildet den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen, in denen ich nacheinander zwei Werkgruppen in den Blick nehme. Zunächst wird es ausgehend von der Figur des fliegenden oder schwebenden Engels sowie der spezifischen Lichtphänomene um theatrale Effekte in der Altarmalerei des frühen Seicento gehen. Daran anschließend (Kap. I 3) werden solche Werke im Zentrum stehen, welche die oben diskutierten strukturellen Phänomene des Performativen, die forcierte Pose eines Modells und die Herausstellung des Verfertigtseins des Gemäldes in das religiöse Sammlungsbild übertragen. Folgende Fragen gilt es dabei zu klären: Was ist der Ort dieser Gemälde? Wie wurden sie rezipiert, und welche Folgen ergeben sich daraus für den Status und die Aufgabe religiöser Malerei im frühen Seicento?

2.1 Fliegende Engel als dei ex machina in Altarbildern Auch zahlreiche Martyrien-, Visions- oder Konversionsdarstellungen des frühen Seicento, die das Figurenpersonal um das übernatürliche Wesen eines herabschwebenden Engels erweitern, weisen die bereits mehrfach beobachteten performativen Qualitäten auf. Der Ort der Pose dieser Engel ist allerdings nicht der ‚Bühnenboden‘ – wo offensichtlich selbst das göttliche Personal von Spadarinos „Brindisi“ (Abb. 37) Aufstellung genommen hat –, sondern ein Raum, der als überirdischer markiert ist. Aus ihm scheinen die himmlischen Wesen herabzufliegen oder dort liegen sie wie im „Martyrium des Matthäus“ der Contarelli-Kapelle (Abb. 21) schwebend auf einer Wolkenbank.146 Durch die relative Größe dieses Engels im Verhältnis zu den übrigen Bildfiguren gewinnt er eine ungewöhnliche Dominanz. Das gilt auch für die ihm verwandten himmlischen Knaben in Caravaggios „Sieben Werken der Barmherzigkeit“ im neapolitanischen Pio Monte della Misericordia,147 in der 146  323 × 342 cm; 1600; Rom, San Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 37, S. 442–444; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 61B, S. 530–533. Für eine ausführliche Beschäftigung mit den Werken der Contarelli-Kapelle siehe unten mein Kapitel III. 147  390 × 260 cm; 1606/07; Neapel, Pio Monte della Misericordia; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 76, S.  508–512; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 36, S.  471–474. Zum Bild jüngst: Costanza Caraffa, „Ex Purgatorij poenis ad aeternam salutem per Dei misericordiam“: le Sette

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Palermitaner „Anbetung der Hirten“148 und in der heute in der römischen Sammlung Odescalchi aufbewahrten und für die Cerasi-Kapelle in S. Maria del Popolo bestimmten „Konversion Sauli“, in der der Engel in Begleitung Christi weit in den Bildraum herabschwebt.149 Vergleicht man Äußeres und Aufgabe des Engels der Contarelli-Kapelle mit den himmlischen Wesen in dem als visueller Topos für Martyriendarstellungen geltenden Gemälde, auf das Caravaggio mit einiger Sicherheit sogar demonstrativ rekurrierte, nämlich Tizians berühmtes und in Nachstichen weit verbreitetes Altarbild des „Martyrium des Petrus Martyr“ in der venezianischen Dominikanerkirche SS. Giovanni e Paolo (Abb. 183),150 fallen die kompositorischen und konzeptuellen Unterschiede unmittelbar ins Auge: Sind es in Tizians Gemälde kleine Putti, die im aufgerissenen Himmel in weiter Entfernung zum Geschehen und in starker Untersicht erscheinen, zeigt Caravaggio einen leibhaftigen Engel mit mysteriösen großen dunklen Flügeln, den Howard Hibbard durchaus zutreffend als „survivor from the world of Del Monte’s pretty boys“151 bezeichnet hat. Er hat sich mitsamt einer Wolke weit in den irdischen Handlungsraum begeben und bringt den Palmwedel für den Gemarterten herbei, geht also einer klar bestimmten Aufgabe nach. In Tizians Bildinvention hat dieses Motiv zwei Funktionen: Zum einen signalisiert es innerbildlich dem Märtyrer die Annahme seines Opfers im Moment seines Todes, zum anderen verleiht es darüber hinaus auch für den (externen) Betrachter dem brutalen Geschehen einen sichtbaren Sinn.152 opere di misericordia di Caravaggio riconsiderate nel contesto napoletano, in: Caravaggio e il suo ambiente 2006, S. 119–131. 148  268 × 197 cm; 1609; ehem. Palermo, Oratorio della Compagnia di San Lorenzo (1969 gestohlen), siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 104, S. 560–562; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 40, S. 481 f. 149  237 × 189 cm; 1600; Rom, Collezione Odescalchi; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 39, S. 447–449; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 63, S. 540–542. 150  Siehe Harold E. Wethey, The Paintings of Titian. Bd. I: The Religious Paintings, London 1969, Nr. 133, S. 153–155; Verf.in, Mimesis und Selbstbezüglichkeit in Werken Tizians. Studien zum venezianischen Bilddiskurs, Emsdetten/Berlin 2001 (Diss. FU Berlin 1998), S. 141– 204; Patricia Mahnken Meilman, Titian and the Altarpiece in Renaissance Venice, Cambridge 2000, S. 82–143. Für Caravaggios Bezug auf Tizians (nur in Reproduktionen überlieferte) Pala: Friedländer, Caravaggio Studies 1955, S. 113 f. Herwarth Röttgen hat Palma il Govanes Kasseler Gemälde „Christus vertreibt die Wechsler aus dem Tempel“ als „Paradigma“ Caravaggios apostrophiert („Mein Haus soll ein Bethaus heißen, ihr aber habt eine Diebeshöhle daraus gemacht“. Das Paradigma für Caravaggios „Martyrium des hl. Matthäus“ und die innere Verwandschaft zweier Themen, in: Pantheon 50 [1992], S. 55–60), was mir zwar wenig überzeugend erscheint, den (ggf. zusätzlichen) Rekurs auf Tizians exemplum für Martyriendarstellungen aber auch nicht ausschließen würde. 151  Hibbard, Caravaggio 1983, S. 110, und weiter heißt es: „[…] Caravaggio’s angel has not learned to fly; he rests on his cloudy support as best as he can and leans down gingerly so as not to fall.“ 152  Hierzu Verf.in, Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2003, S. 163–166.

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52 Francesco Guarino, Traum Josephs, Solofra, Collegiata di S. ­Michele Arcangelo

Um so frappierender ist es zu sehen, wie Caravaggio das tizianeske Motiv in seiner ersten Martyriumsdarstellung umdeutet. Statt lieblicher Putti im aufgerissenen Himmel, die kleine Palmwedel mit sich führen, zeigt er ein veritables ‚Überreichen-Wollen‘ des Palmzweigs durch den Engel an den bereits gestürzten und durch einen Schwertstreich verletzten Matthäus, der offensichtlich von dem Schergen über ihm an der faktischen Ergreifung und Inbesitznahme des Zweigs gehindert wird.153 Die den Altar partiell verdeckenden weiß-grauen Wolken, die dem Engel als Fundament dienen, haben wie die Wolkenbank in Spadarinos „Olymp“ etwas Künstliches. Und tatsächlich erzeugt die Haltung des knabenhaften Engels auf ihnen ebenso wie die der Engel in Caravaggios Palermitaner „Anbetung der Hirten“ eher den Eindruck des Posierens auf einer durchaus stabilen Unterlage als auf einer himmlisch weichen Wolkenbank. Caravaggios knabenhafte Engel wurden in caravaggesken Altarbildern des frühen Seicento stark rezipiert. Auch in diesen Werken wird die Haltung der Engel nicht notwendigerweise durch ihre Handlungsrollen im Geschehen plausibel, und auch hier halten sie meist eine Reminiszenz an den Akt der Pose des Modells bei der Entstehung im Gemälde wach. Dabei liegen die 153  Vgl. die treffende Formulierung von Held, Politik 1996, S. 85: „Ein Engel balanciert auf einer Wolke und reicht dem Heiligen einen Palmzweig, angestrengt bemüht, genau auf dessen Hand zu zielen, als wäre der Zweig eine magische Hilfe für die irdische Rettung des Heiligen und nicht ein bloßes Siegeszeichen des Martyriums, das auf den jenseitigen Lohn verweist“.

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53 Orazio Riminaldi, Opferung Isaaks, Schweiz, ­Privatsammlung

‚­himm­lischen‘ Wesen oft auf isoliert gezeigten und hierdurch kulissenhaft wirkenden Wolkenformationen. Dies gilt ebenso für Francesco Guarinos „Traum Josephs“ in Solofra (Abb. 52)154 wie für Orazio Riminaldis „Opferung Isaaks“ in Schweizer Privatbesitz (Abb. 53),155 ferner für Claude Vignons „Matthäus-Martyrium“ in Arras (Abb. 54),156 für die Pier Francesco Mola 154  163  ×  222  cm; 1632; Solofra, Collegiata di S.  Michele Arcangelo; für das Gemälde des campanischen Malers (1611–1654), der auch in Apulien tätig war, siehe Riccardo Lattuada, Francesco Guarino da Solofra nella pittura del Seicento (1611–1651), Neapel 2000, Nr. A2, S. 117. Es handelt sich um eines von mehreren Deckengemälden in der Collegiata di S. Michele von Solofra (unweit Avellino). 155  153 × 118 cm; Schweiz, Privatbesitz; Riminaldi kombiniert das Motiv des veritablen Eingreifens seines Engels, das offensichtlich von Caravaggios Darstellung des Sujets in den Uffizien inspiriert ist, mit einer Fliegefigur; siehe für dieses Bild Daniele Benati, Orazio Riminaldi: Un nuovo „Sacrificio di Isacco“, in: Studi di storia dell’arte in onore di Mina Gregori, hg. v. Miklós Boskovits, Cinisello Balsamo 1994, S. 250–254, Abb. 1, S. 251. Für Caravaggios Gemälde (104 × 135 cm) in den Uffizien von ca. 1603: Marini, Caravaggio 2005, Nr. 60, S. 480 f.; Cinotti 1983, Nr. 12, S. 429–431. 156 142  ×  96  cm; Arras, Musée des Beaux-Arts, sign. und datiert in das Jahr 1617; siehe Paola Pacht Bassani, Claude Vignon: 1593–1670 (Ausst.-Kat. Tours, Musée des Beaux-Arts/ Arras, Musée des Beaux-Arts/Toulouse, Musée des Augustins 1993/94), Paris 1993, Nr. 23, S. 177–179. Über den Herkunftsort des Bildes ist nichts bekannt. Interessant ist die für ein Ge­ mälde höchst ungewöhnliche Form der Signatur: CLAUDIUS. VIGNON. INVEN FECIT/ Ao  MDCXVII. Die wohl von Caravaggios erstem Altargemälde für die Contarelli-Kapelle

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54 Claude Vignon, Martyrium des Petrus Martyr, Arras, Musée des Beaux-Arts

zugeschriebene „Befreiung Petri“ der Galleria Borghese (Abb. 55)157 und für Valentin Boulognes „Martyrium der hl. Processus und Martinianus“ in der Pinacoteca Vaticana (Abb. 56).158 Der Ferrareser Carlo Bononi setzt sogar einen inspirierten schmutzigen Fußsohlen des Märtyrers bezeugen den Pasticcio-Charakter des Gemäldes. Für den Maler, der 1593 in der Nähe von Tours geboren und, nach kurzem Aufenthalt in Paris, wahrscheinlich bereits 1609/10 nach Rom kam, um im Jahr 1624 nach Frankreich zurückzukehren, siehe auch die Kolloquiumsakten Claude Vignon en son temps (Actes du colloque international de l’université de Tours 28./29.1.1994), hg. v. Claude Mignot & Paula Pacht Bassani, Paris 1998; Klütsch, Caravaggio und die französische Malerei 1974, S. 150–161. 157  195 × 144 cm; Rom, Galleria Borghese; siehe Galleria Borghese, hg. v. Paolo Moreno & Chiara Stefani, eingel. v. Alba Costamagna, mit Essays v. Anna Coliva u. a., Mailand 2000, Nr. 34, S. 317, mit der Zuschreibung des Werks an Pier Francesco Mola, die auf ein Sammlungsinventar von 1790 zurückgeht, vom Verfasser des Œuvreverzeichnisses des Malers jedoch zurückgewiesen wurde (Richard Cocke, Pier Francesco Mola, Oxford 1972). 158  302 × 192 cm; 1629–30; Vatikan, Pinacoteca; siehe Marina Mojana, Valentin de Boulogne, Mailand 1989, Nr. 50, S.  152–154. Der 1581 in Coulommiers geborene französische Caravaggist Valentin de Boulogne, der um 1614 nach Rom kam und dort bis zu seinem Tod blieb, führte dieses Gemälde in Konkurrenz mit Poussin für den Altar der Kapelle der Heiligen in

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55 Pier Francesco Mola, Befreiung Petri, Rom, Galleria Borghese

Engel, der sich offensichtlich an einen unsichtbaren Gegenstand anlehnt oder sich mit dem Oberkörper über denselben beugt, mit nur minimalen Veränderungen gleich in mehreren Altarbildern ein.159 Weder befinden sich diese Engel wie in Tizians Pala tatsächlich in einer überirdischen Welt, noch ist ihre Größe im Verhältnis zum übrigen Bildpersonal verringert, noch weisen sie signifikante Verkürzungen auf – was auch gar nicht angebracht wäre, da die Engel meist in das Geschehen auf der ‚Bildbühne‘ im Wortsinn ‚ein-greifen‘ oder dies zumindest beabsichtigen. So beugt sich in Valentin Boulognes Martyriums­ St. Peter aus. Für diesen Maler siehe neben der Werkmonographie von Mojana auch Klütsch, Caravaggio und die französische Malerei 1974, S. 22–66; für das Gemälde siehe auch Louise Rice, The Altars and Altarpieces of New St. Peter’s. Outfitting the Basilica, 1621–1666, Cambridge 1997, Nr. 11, S. 232–238. 159  Beispielsweise in der Darstellung der hl. Barbara (London, Mathiesen Gallery) und der „Heiligen Familie mit drei Heiligen“ (Mailand, Brera; ehem. Altarbild für SS. Annunziata di Maria Vergine in Fortezza in Ferrara); siehe für die Gemälde: The Age of Correggio and the Carracci: Emilian Painting of the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Ausst.-Kat. B ­ ologna, Pinacoteca nazionale/Washington, National Gallery/New York, Metropolitan Museum, 1986/87), hg. v. Frances P. Smyth, Cambridge 1986, Nr. 124, S.  383 f.; La pittura emiliana del’ 600, hg. v. Adriano Cera, Mailand 1982, Nr. 9. Für die Vita des 1569 in Ferrara geborenen und 1632 ebenda gestorbenen Malers, der sich nachweislich im Jahr 1616 in Rom aufhielt, siehe Erich Schleier, Carlo Bononi, in: Allgemeines Künstler-Lexikon Bd. 12, S. 606–609.

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56  Valentin Boulogne, Martyrium der Heiligen Processus und Martinianus, Rom, Pinacoteca Vaticana

bild der Pinacoteca Vaticana (Abb. 56) der knabenhafte Engel mit großen dunklen Flügeln und ausschwingendem velum derart energisch und weit zu den Gemarterten herab, daß er von seiner Wolke zu rutschen droht. In Claude Vignons „Matthäus-Martyrium“ (Abb.  54), das sich in einem klaustrophobisch verengten Bildraum ereignet, drückt der Engel dem Märtyrer die Palme tatsächlich in die Hand. Die Pier Francesco Mola zugeschriebene „Befreiung Petri“ in der Galleria Borghese vermittelt den Eindruck, der nur über Kopf gesehene Engel wolle den liegenden Apostelfürsten rettend auf seine Wolke ziehen, und der Engel in Carlo Saracenis „Martyrium der hl. Cäcilia“ in Los Angeles (Abb. 57) setzt dazu an, über veritable ‚Wolken-Stufen‘ auf die ‚Erde‘ herabzusteigen. Dadurch, daß die Standfläche der hl. Cäcilia und ihres Henkers nach vorn umbricht und so den Eindruck einer Bodenplatte erweckt, über die demonstrativ ein Stück Stoff herabhängt, stellt sich tatsächlich die Assoziation mit einem Bühnenboden ein. So ist auch der schmale Streifen, auf dem die Protagonisten agieren, durch nichts weiter gekennzeichnet und

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57 Carlo Saraceni, Martyrium der hl. Cäcilia, Los Angeles, The County Museum

geschmückt als durch ein artifiziell arrangiertes Musikstilleben vor grauem, semantisch in­differentem Hintergrund, auf dem sich ein Lichtkegel abzeichnet.160 In keinem der zuvor genannten Beispiele ist die theatrale Qualität derart forciert wie hier, und diese Beobachtung hat eine signifikante Parallele in der ungewöhnlichen Form der Handlungsschilderung: Ein Betrachter, dem das Sujet des Gemäldes nicht von vornherein bekannt und der genaue Ablauf des Martyriums der Heiligen nicht geläufig war, dürfte kaum in der Lage gewesen sein, sich dieses aus den visuellen Informationen, die uns Saraceni gibt, adäquat zu erschließen. Da der Maler nicht den Moment höchster Spannung – also 160  136,2 × 98,5 cm; ca. 1610; Los Angeles, County Museum of Art, es stammt aus dem Besitz der Familie Rondini; siehe Il genio di Roma 2001, Nr. 32, S. 101 (der ursprüngliche Aufstellungsort des Werks ist unbekannt). Für die Vita des in Venedig um 1579 geborenen Malers, der 1598 nach Rom kam und 1620 in seiner Heimatstadt starb, sowie für sein Verhältnis zu Caravaggio siehe Anna Ottani Cavina, Carlo Saraceni, Mailand 1968, und Laura Testa, Novità su Carlo Saraceni: la committenza Aldobrandini e la prima attività romana, in: Dialoghi di storia dell’arte 7 (1998), S. 130–137.

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58 Orazio Gentileschi, Altarbild mit den Heiligen Valerianus und Cäcilia, Mailand, Pinacoteca di Brera

denjenigen unmittelbar vor der Enthauptung Cäcilias durch den anwesenden Schergen – ins Bild setzt, sondern einen früheren Moment der Handlungssukzession, in dem der Scherge sein Schwert noch nicht einmal gehoben hat, und weil er außerdem einen leibhaftig von seiner Wolkenkulisse behende herabturnenden Engel einführt, gewinnt nicht nur der mit der storia nicht vertraute Betrachter den Eindruck, der Engel greife im Sinne eines antiken deus ex machina in das Geschehen ein und führe seine Wende herbei. Suggeriert wird also, hier wäre nicht das eigentliche Martyrium der Heiligen gezeigt, sondern die von ihr zuvor erlittenen Qualen, die sie noch überleben konnte. Lediglich unser textgestütztes oder durch andere Darstellungen genährtes Wissen über den Ablauf des Martyriums – Cäcilia erlitt tatsächlich das Martyrium durch Enthauptung – läßt uns diese sich aufdrängende Fehllektüre verwerfen. Es ist das forcierte knabenhafte Äußere des Engels, seine Modellabhängigkeit und ‚Leibhaftigkeit‘, die für diese unangemessene Lesart wesentlich verantwortlich sind. Tatsächlich scheint Cäcilia den ‚himmlischen‘ Boten nicht nur zu sehen, sondern mit dem ausgestreckten Zeigefinger ihrer rechten Hand ebenso

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berühren zu wollen, wie dies wohl auch der Scherge mit seiner linken Hand tut. Die Vergewisserung der physischen Realität einer himmlischen Erscheinung im Motiv des Tastens oder Tastenwollens durch eine sehende Figur ist zwar ein durchaus probates Mittel in Martyriumsdarstellungen, bekommt aber hier durch die Modellabhängigkeit der Figur eine problematische Note. Ähnliches gilt für Orazio Gentileschis frühes Altarbild mit den Heiligen Valerianus und Cäcilia vom Hochaltar in S. Cecilia in Mailand (1606/07; Abb. 58), in dem ein Engel mit Märtyrerpalme und Blumenkranz vor den im Vordergrund des Bildes knienden Märtyrern erscheint. Und auch hier will sich ein Mann, dessen Beziehung zu den Märtyrern unklar ist, der physischen Realität des schwebenden Wesens, in dessen abstehenden Ohren die Modelltreue überdeutlich markiert wird, vergewissern: Er beugt sich durch eine Art Türöffnung in der Rückwand des Raums in denselben hinein und berührt dessen Zehen.161 Meines Wissens ist in der Forschung noch nie eingehender überlegt worden, welche Seherfahrungen die zeitgenössischen Betrachter mit solchen Visualisierungsstrategien verbinden konnten. Daß diese Seherfahrungen theatrale sind, liegt in meinen Augen durch die genannten Charakteristika – insbesondere die Darstellungen der Engel auf ‚artifiziellen‘ Wolken, die wie dei ex machina weit in Bühnenräume herabschweben – sowie durch die Bedeutung entsprechender Motive in der zeitgleichen theatralen Aufführungspraxis auf der Hand. Wir sind recht gut über die visuellen und technischen Möglichkeiten in geistlichen und weltlichen Schauspielen im ausgehenden Cinque- und frühen Seicento informiert, die mit der Erfindung des veritablen Theaters samt seinen beliebten Intermedien und den Vorformen der Oper in diesen Jahrzehnten regelrecht boomten. Bereits im Quattrocento gehörten schwebende und fliegende Engel oder überhaupt auffahrende und herabschwebende Figuren zum festen Repertoire von sakralen Aufführungen im Kirchenraum und bei Umzügen. Darstellungen der Himmelfahrten Christi und Mariä sowie der Verkündigung machten entsprechende Praktiken sinnvoll.162 Architekten wie Filippo 161  350 × 218 cm; sign.; dokumentiert 1606–07; Mailand, Pinacoteca di Brera; siehe Orazio and Artemisia Gentileschi 2002 Nr. 9, S. 70–73; Roger Ward Bissell, Orazio Gentileschi and the Poetic Tradition in Caravaggesque Painting, Philadelphia 1981, Nr. 42, S. 170–172 (noch mit gänzlich abweichender Datierung des Gemäldes auf stilistischer Basis in die Jahre ­1620–21). 162 Für solche Aufführungen im Quattro- und frühen Cinquecento siehe Götz Pochat, ­Theater und bildende Kunst im Mittelalter und in der Renaissance in Italien, Graz 1990, S.  86–101, mit zahlreichen Beispielen u. a. zu Himmelfahrtsdarstellungen in der römischen Kirche S. ­Maria Maggiore, zu Paradies-Spielen in Forlì und zu Himmelfahrts- und Verkündigungsaufführungen in den Florentiner Kirchen Santa Maria del Carmine, SS.  Annunziata und S. ­Felice in Piazza; Johannes Bemmann, Die Bühnenbeleuchtung. Vom geistlichen Spiel bis zur frühen Oper als Mittel zur künstlerischen Illusion, Diss. Leipzig 1933; auch Fabrizio Cruciani, Teatro nel Rinascimento. Roma 1450–1550, Rom 1983; Helas, Lebende Bilder 1999, bes. S. 18–21; Giovanni Attolini, Teatro e spettacolo nel Rinascimento, Bari 1988, bes. S. 19 f.

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Brunelleschi widmeten sich bekanntlich intensiv der Erfindung der hierfür notwendigen Apparaturen.163 Dabei galten die Bemühungen der technischen Perfektionierung der Bühnentechnik, mit der man zweierlei beabsichtigte: die Verbesserung der Funktionsfähigkeit der machine zur Steigerung der auf die meraviglia der Betrachter zielenden Wirkung bei der Erscheinung solcher Figuren164 und die Ausweitung der visuellen Möglichkeiten bei der Erzeugung veritabler ‚Welten‘ durch hölzerne Maschinen mit Zahnrädern, die das Fliegen, Schweben und Versenken der Kulissen ermöglichten. So konnte man bei Theateraufführungen, z. B. im Rahmen großer Feste wie der Medici-Hochzeiten in Florenz in den Jahren 1565, 1589 und 1600, höchst effektvoll Berge aus dem Boden wachsen lassen, mit Göttern und Helden bevölkerte Himmelsprospekte übereinander schieben, Nymphen aus der Versenkung auftauchen lassen, das Paradies mit Engeln und Heiligen zur Erscheinung bringen und – bei Szenenwechseln auf offener Bühne – sogar einen Schiffbruch auf dem Meer visualisieren.165 Verantwortlich für viele solcher Erfindungen war Bernardo Buontalenti, und er gab sein Wissen an zahlreiche Schüler wie Alfonso Parigi, Inigo Jones und Joseph Furttenbach weiter, die im Seicento an der internationalen Verbreitung solcher Konstruktionen arbeiteten. Insgesamt haben diese technischen Errungenschaften, wie Erika Fischer-Lichte gezeigt hat, grundsätzliche Veränderungen bezüglich der Semiotik des Theaters bewirkt, weil mit der neuen Favorisierung der Vertikalen zunehmend der Himmel und gelegent163  Siehe das ausführliche Kapitel in Pochat, Theater 1990, S. 86–101, mit Überlegungen, wie sich diese Aufführungen in den zeitgleichen Kuppelausmalungen niederschlagen; auch Il ­luogo teatrale a Firenze: Brunelleschi, Vasari, Buontalenti, Parigi, hg. v. Mario Fabbri, Elvira Garbero Zorzi u. a., eingel. v. Ludovico Zorzi, Mailand 1975; Helas, Lebende Bilder 1999, S. 19. 164  Von der „maraviglia“ des Zuschauers spricht Niccola Sabbatini (Anleitung, Dekorationen und Theatermaschinen herzustellen, übers. u. mitsamt dem Urtext hg. v. Willi Flemming, Weimar 1926) in Kap. 37, S. 58. Helas, Lebende Bilder 1999, S. 20, weist auf eine Feier der „Ascensione“ im frühen Quattrocento hin, bei dem die Langsamkeit des Aufzugs das Gespött der Zuschauer erregte. 165  Siehe hierzu Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Stuttgart/Weimar 1996, Bd. 2, S. 10–15; Klaus-Dieter Reus, „Das Operntheater erfordert etwas Großes in dem Äußerlichen der Vorstellung.“ Barocke Bühnentechnik, in: Theatrum mundi. Die Welt als Bühne, (Ausst.-Kat. München, Haus der Kunst 2003), hg. v. Ulf Küster, Wolfratshausen 2003, S. 30–33 und die Kat.-Nr. 75 a/b, S. 122; Marialuisa Angiolillo, Le origini della scenografia barocca (1550–1650), Rom 1997, bes. S. 47–59; Siegfried Albrecht, Bühnenbild und Bühnentechnik, in: ders., Susanne Grötz u. a., Teatro. Eine Reise zu den oberitalienischen Theatern des 16.–19. Jahrhunderts, Marburg 1991, S. 28–48 und zum Fest von 1589 vor allem: James S.  Saslow, The Medici Wedding 1589. Florentine Festival as Theatrum Mundi, New Haven/London 1996. Vgl. auch Allardyce Nicoll, The Development of the Theatre. A Study of Theatrical Art from the Beginnings to the Present Day, London u. a. 1927, bes. ­S. 94– 104; Eduard Flechsig, Die Dekoration der modernen Bühne in Italien. Von den Anfängen bis zum Schluß des 16. Jahrhunderts, Dresden 1894, und Joseph Imorde, Präsenz und Repräsentanz. Oder: Die Kunst, den Leib Christi auszustellen, Emsdetten/Berlin 1997, S. 89–121 (über die etwas späteren Quarantore-Apparate).

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lich auch die Hölle aktive Spielorte wurden.166 Daß die vor allem in den Intermedien aufgeführten Spektakel, in denen die neuen Wundermaschinerien voll zum Einsatz kamen, in der Gunst der Zuschauer mitunter dem eigentlichen Theaterstück den Rang abliefen, wurde verständlicherweise vor allem von den Autoren beklagt. Der Architekt Nicola Sabbattini aus Pesaro wird 1638 in seiner „Prattica di fabbricar scene e macchine“ sehr erschöpfend das Wissen über die Konstruktion dieser Maschinen schriftlich niederlegen und praxisnah Anweisungen zur Einrichtung von Bühnen geben.167 Dabei hebt er insbesondere auf die Möglichkeiten ab, mittels Flaschenzügen Menschen aus dem Bühnenhimmel auf den Boden herabzulassen: „Wie man eine Wolke vom Himmel gerade auf die Bühne herunterlassen kann, mit Personen drin“, lautet eine bezeichnende Überschrift in der „Prattica“.168 Für den hier interessierenden Zusammenhang mit der Malerei ist besonders aufschlußreich, daß die Apparaturen überwiegend durch künstliche, oft von innen beleuchtete Wolken verdeckt wurden (vgl. Abb. 59). Bezeichnenderweise wurden bereits die rappresentazioni in quattrocentesken Schriften oft einfach „nuvole“ genannt.169 Diesbezüglich hochinteressante Beispiele für Konstruktionsmöglichkeiten und visuelle Erfindungen nennt der Ulmer Architekt Joseph Furttenbach in seinem 1663 in Augsburg publizierten „Mannhafften Kunst-Spiegel“, einer Anleitung zur Astronomie, Geometrie und Architektur, in der der Autor seine auf ausgedehnten Italienreisen zwischen den Jahren 1607 und 1621 gewonnenen Eindrücke schriftlich niederlegte. Bei der Behandlung der „sehr erfröliche[n] […] delectationen“, worunter er Feuerwerke, künstliche Grotten und Theaterkulissen subsumiert, beschreibt er auch detailliert den Einsatz von Engeln, die auf Wolken sitzen und in den Bühnenraum schweben; so mit Bezug auf eine 166  Erika Fischer-Lichte, Semiotik des Theaters. Eine Einführung, Tübingen 1983, Bd. 2: Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung, S. 72 f.; zu den Folgen dieser Entwicklung: „Eingespannt zwischen Himmel und Hölle […] spielt sich auf der Erde, dem Schauplatz der Sterblichkeit, das menschliche Leben ab. Der Bühnenraum, der dergestalt als ein bedeutender Raum auf alle drei Bereiche menschlicher Existenz verweist, hört auf, nur Abbild der irdischen Welt zu sein, und wird zum Sinnbild der Welt unter universellem Aspekt: der Bühnenraum repräsentiert die Welt“. 167  Erschienen in Ravenna 1638; ich zitiere nach der zweisprachigen Edition Nicola Sabbat­ tini, Anleitung. Dekorationen und Theatermaschinen herzustellen, übers. u. mitsamt dem Urtext hg. v. Willi Flemming, Weimar 1926. 168  Ebd., Kap. 43, S. 135–137 und 258 f.; im Kapitel 50 diskutiert Sabbattini die Frage, wie sich eine Person auch ohne Wolken auf die Bühne herablassen läßt, die obendrein „sofort, wenn sie auf die Bühne kommt, gehen und tanzen kann“ (S. 270); siehe zur „cloud-machine“ auch Barnard Hewitt, General Introduction. The Renaissance Stage, in: ders. (Hg.), The Renaissance Stage. Documents of Serlio, Sabbattini and Furttenbach, Coral Gables 1958, S. 1–17, hier 14. 169  Helas, Lebende Bilder 1999, S. 32. Allgemein zu den Wolken besonders: Bemmann, Die Bühnenbeleuchtung 1933, S. 47–51, 86–89.

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59 Nicola Sabbatini, Prattica di fabbicar scene e macchine (­Konstruktionszeichnung einer Wolkenmaschine), Ravenna 1638, fol. 137

Aufführung der Geburt des Jesuskindes mit anschließender Verkündigung an die Hirten: „[…] sasse auff jedem ein schöner in Engelgestalt bekleideter junger Knab / mit … umb den Leib gebundene rothe seidene Binden / und auffgesetztem krausen Haar […]. Wann nun der Actus herbey kame / daß der Hirten auf dem Felde […] vom Himmel sahen […] da wurde der […] Wolcken / […] in dem hindern Graben […] herundergelassen / die drey Engelin […] ein liebliche Musica […] / das ganze Himmlische Heer […] / das hierdurch nicht unbillich die Gemuether der Aspectoren gleichsam verzuckt / ja durch dise so anmutighe praesenz […] fast eines Schattens oder Verbildung der Himmlischen Freude / hierbey zuverspueren. Alsdann wann nun dies geschehen ist / so thut man durch den ernannten Zapffenhaspel […] disen Wolcken hernach sanfft wider hinauff ziehen / welcher also gleichsam vor der Zuseher Augen verschwindet. Dieser Verstaendige wird in weitern nachsinnen noch vil mehr Ergoetzligkeit bey dieser Machina finden.“

Weniger „sanft“ als der Auftritt dieser jungen Knaben-Engel mit krausem Haar war der eines Engels in einem Schauspiel der Opferung des Isaak: „Gleich oberhalb auff dem andern zwergen Rigel allda so sitzt ein Engel […] welcher zu beyden Seiten mit Schirmbrettern nach der Wolcken Art / also bedeckt wird / das man allein sein obere Gestalt wahrnehmen kann. Wann nun die Zeit herbey kompt / das der Engel sich praesentiert / und dem Heyl: Erzvatter Abraham in das Schwert fallen solle […] so thut sich dieser Wolcken […] erwann drey oder mehr Werkschmuck herunder begeben / also das der darob sitzende Engel / dem Heyl: Erzvatter Abraham just in das Schwert zufallen (so bald aber

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60 Joseph Furttenbach, Mannhaffter KunstSpiegel (­Illustration einer Wolkenmaschine) Augsburg 1633.

die besagte zwey Maenner das contrapeso […] sincken lassen / so begibt sich der Wolcken augenblicklich widerumben zwischen dem Himmel hinauff / nicht anderst / als ob er verschwunden waere)“ (vgl. Abb. 60).170

Daß der Themenkomplex des „ut pictura theatrum“ im Hinblick auf die Auffassung des Bildraums und die Disposition der Figuren in demselben171 von der Forschung – abgesehen von knappen Erwähnungen theatraler oder bühnenhafter Effekte in caravaggesken Gemälden –172 bislang weitgehend ausge170 Joseph Furttenbach, Mannhaffter Kunst-Spiegel oder Continuatio, und Fortsetzung aller­hand Mathematisch- und Mechanisch-hochnutzlich sowol auch sehr erfrölichen delectationen, und respective im Werck selbsten experimentirten freyen Künsten, Augsburg 1663, S. 125 f.; für Furttenbach siehe Margot Berthold, Joseph Furttenbach (1591–1667), Architektur-Theoretiker und Stadtbaumeister in Ulm, Diss. München 1952. 171  Anders verhält es sich mit der antiken Dramentheorie, speziell dem aristotelischen Tragödienkonzept, das von Rudolf Preimesberger mit der Handlungsschilderung in Caravaggios „Berufung des Matthäus“ in der Contarelli-Kapelle in Verbindung gebracht wurde (siehe ­unten, S.  379). Eine Relation dieser verschiedenen theatralen Aspekte wäre zwar attraktiv, sollte jedoch in meinen Augen nicht überbewertet werden, da sich nur in wenigen storie Caravaggios der Bezug auf Aristoteles wahrscheinlich machen läßt. 172  Silvia Danesi Squarzina hat in ihrem Aufsatz: Pittura e rappresentazione: Caravaggio e il teatro della crudeltà, in: Caravaggio. La luce 2000, S. 89–101, sehr allgemein auf die Parallele zwischen grausamen Sujets in der Malerei und dem „teatro della crudeltà“ hingewiesen. Abgesehen von knappen Bemerkungen über die drastischen Inkarnatunterschiede in Caravaggios „Hl. Hieronymos“ in Barcelona und über die posierende „Hl. Katharina von Alexandrien“ der Sammlung Thyssen setzt sie ihre Überlegung zur Bedeutung des Theaters für Caravaggios Werke aber nicht zu spezifischen Bildphänomenen in Beziehung. Interessant sind jedoch ihre Hinweise auf die Bedeutung, welche die „sacre rappresentazioni“ für die Oratorianer hatten (für die Caravaggio die „Grablegung Christi“ schuf), sowie auf die Diskrepanz der Kostüme in der „Berufung Matthäi“ zwischen den zeitgenössisch gekleideten Zöllnern sowie Christus und Petrus in all’antica-Gewändern. Sie macht auf eine Henry Peacham zugeschriebene Skizze aufmerksam, die als Darstellung einer Aufführung von Shakespeares „Titus Andronicus“ gilt, in der der Protagonist ebenfalls ein antikes Gewand, die umstehenden Soldaten jedoch zeitgenössische Rüstungen tragen (ebd., S.  93, Abb. 6). Vgl. auch Alfred Moir, Caravaggio, New York 1982, S.  196, der über den Engel in der zweiten Fassung des Altarbildes für die

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blendet wurde, hat in meinen Augen zwei Gründe. Der eine liegt darin, daß die Analogie zwischen der Malerei und dem Theater von der Forschung überwiegend mit Bezug auf die zentralperspektivisch konstruierten ‚Bildbühnen‘ mit fluchtenden kulissenartigen Hintergründen, wie etwa in Jacopo Tintorettos „Markuswunder“ für die venezianische Scuola Grande di San Marco, und für die räumlichen Perspektivbühnen der Zeit (etwa von Sebastiano Serlio) hergestellt wurde.173 Tatsächlich bieten die caravaggesken Gemälde, in denen die Angaben der Räumlichkeiten auf ein Minimum reduziert sind, und die sich darüber hinaus nicht in die Tiefe erstrecken, sondern sich vorgeblich nach vorn in die Welt des Betrachters entgrenzen, genau gegenteilige Seheindrücke, die auch in nuce Albertis Denkmodell vom Bild als Fenster zur Wirklichkeit dekonstruieren. Daß diese Bildräume bei den zeitgenössischen Betrachtern aber durchaus Assoziationen an Bühnen geweckt haben können, läßt sich mit den Veränderungen in der Theaterpraxis des ausgehenden Cinquecento insbesondere seit der Entdeckung der ‚dritten‘ Dimension und der Ablösung der zen­tralen Achse der Vertikale durch die Horizontale erklären.174 Der andere Grund für die Nichtbeachtung dieses Themas in bezug auf die Gemälde Caravaggios und der ‚Caravaggisten‘ dürfte darin liegen, daß das Erklärungs­modell eines unreflektierten ‚Naturalismus‘ im Sinne einer peniblen Schilderung der Realität durch die Maler in der Forschung derart dominant ist, daß sich der Gedanke an die genuin artifizielle Welt des Theaters von selbst zu verbieten scheint. Selbstverständlich möchte ich nicht insinuieren, die Maler hätten lediglich Bühneneffekte in Malerei übertragen oder gar auf konkrete Theateraufführungen Bezug genommen. Dies dürfte höchstens in Ausnahmefällen der Fall gewesen sein. So lassen Spadarinos auf künstlichen Wolken thronende Götter ­ ontarelli-Kapelle schreibt: „But in the whole context he is difficult to place, as if, like the C black, amorphous background, he were out of time and place. Nonethless, he is fully corporal and probably was inspired by actors in the contemporary theater, who were flown across the stage on wires.“ Vgl. auch den knappen Hinweis auf das „Matthäus-Martyrium“ durch Sebastian Schütze, Tragedia antica e pittura moderna: alla ricerca di „una certa sublime“, in: Docere 1998, S. 137–154, hier 144, und die Bemerkung von Roberto Longhi über den Engel in der ersten Fassung des Altarbilds der Contarelli-Kapelle: „[…] ragazzaccio insolente, panneggiato in un lenzuolo a strascico come in una rappresentazione sacra da teatrino parrocchiale“ (Caravaggio, Neuausg. der Edition von 1968, hg. v. Giovanni Previtali, Rom 1982, S. 60). 173 Allgemein für den Zusammenhang von Malerei und Theater in der Frühen Neuzeit: Barbara Louise Saenger Rutledge, The Theatrical Art of Italian Renaissance: Interchangeable Conventions in Painting and Theatre in the Late Fifteenth and Early Sixteenth Centuries, (Diss. University of Michigan), Ann Arbor 1973; Pochat, Theater 1990. Für den genuinen Zusammenhang zwischen bildlicher und theatraler Mimesis seit der Antike nun jüngst die gewichtige Untersuchung von Hénin, Ut pictura theatrum 2003, passim; bes. S.  40; für die Analogie zwischen dem geöffneten Fenster zur Wirklichkeit und der Bühne, ebd. S. 219 ff., für den noch in unserem Sprachgebrauch vorhandenen Zusammenhang von Bildbühne und Bühnenbild, ebd., S. 608. 174  Siehe hierzu Reus, Das Operntheater 2003, S. 30; Fischer-Lichte, Semiotik 1983, Bd. 2, S. 72 f.

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61 Giovanni Baglione, Der hl. Sebastian wird von Engeln gepflegt, Rom, S. Maria dell‘ Orto

(Abb. 37) an Darbietungen in Bernardo Buontalentis Teatro degli Uffizi in Florenz denken, in denen Flugmaschinen Planeten, Wolken und einen olympischen Götterhimmel durch den Raum bewegten.175 Doch selbst in Werken, in denen die Theateranalogien besonders offensichtlich sind, wie in Saracenis „Cäcilien-Martyrium“ (Abb. 57) oder in Giovanni Bagliones Altarbild in der römischen Kirche Madonna dell’Orto, in dem ein Engel in einer Art rückwärtigen Loge positioniert ist (Abb. 61),176 sind diese Bezüge unspezifisch, 175  Spadarino befand sich auf jeden Fall gegen Ende des 2. Jahrzehnts des Seicento in Florenz, als er für die Cappella Guicciardini in S. Felicita ein großes, heute verlorenes Altarbild schuf. Die Aufführung von Girolamo Bargalis „La Pellegrina“, auf die ich mich hier beziehe, fand zwar bereits 1589 statt, aber es ist davon auszugehen, daß solche Kulissen in einem Theater mehrfach verwendet wurden bzw. daß mit ähnlicher Technik weitergearbeitet wurde. Siehe für diese Aufführung: Brauneck, Welt als Bühne 1993, Bd. 1, S.  468; Annamaria Testaverde Matteini, L’officina delle nuvole. Il Teatro Mediceo nel 1589 e gli Intermedi del Buontalenti nel Memoriale di Girolamo Seriacopi (Musica e Teatro 11/12 1991), Mailand 1991, S. 91–98 sowie vor allem Saslow, Medici Wedding 1996. 176  290 × 185 cm; sign. und dat. 1624; Rom, S. Madonna dell’Orto; siehe Maryvelma Smith O’Neil, Giovanni Baglione. Artistic Reputation in Baroque Rome, Cambridge 2002, Nr. 79, S. 224; Renate Möller, Der römische Maler Giovanni Baglione: Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung seiner stilgeschichtlichen Stellung zwischen Manierismus und Barock, München 1991, Nr. 82a, S. 137.

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verweisen mithin sicherlich nicht auf konkrete Aufführungen, sondern wollen bei ihren Betrachtern allgemein theatrale Seherfahrungen der Zeit evozieren.

2.2 „Con modo non naturale“: Dramatisches Licht und künstliche Wirklichkeiten Nicola Sabbattini beschäftigen nicht nur Flugmaschinen und andere auf die meraviglia der Zuschauer zielende Apparate. Auch die Behandlung der Fragen, wie der künstlich erzeugte Bühnenhimmel zu kolorieren,177 und welche Vorrichtungen für Vorhänge zu basteln seien, damit die rasche Enthüllung der Szenen größtmögliche Wirkung entfalten könne,178 und wo bei der Ausmalung der Kulissen die Lichtquelle anzunehmen sei, nimmt in seiner „Prattica“ breiten Raum ein. Dabei favorisiert er eindeutig eine Beleuchtung von der Seite (Abb. 62).179 Hier folgt die Theorie der Praxis, denn im Verlauf des Cinque-

62 Nicola Sabbatini, Prattica, fol. 23. Skizze zur idealen Beleuchtungssituation einer Bühne 177  „Come si deve fare il Cielo della Scena“ und „Come di deve colorire il Cielo“; siehe Sabbatini, Prattica, Kap. 4 und 5, S. 5–7. 178  Sabbattini, Prattica/Anleitung, Kap. 37, S. 58 und 208. Vorhänge waren wahrscheinlich seit der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts allgemein in Gebrauch, siehe hierzu: Günter Schöne, Die Entwicklung der Perspektivbühne von Serlio bis Galli-Bibbiena nach den Perspektivbüchern, Leipzig 1933, S. 43. 179  Sabbattini, Prattica/Anleitung, Kap. 16 (in der italienischen Originalausgabe irrtümlich als Kap. 17 bezeichnet), S. 20 f. und 186 f., hier S. 22 bzw. 187: „Ma se si pigliarà il lume dall’vna delle bande, dalla destra, ò dalla sinistra, le Case, la Prospettiua di mezo, il piano del Palco, tutta la Scena mostrerà assai meglio, che in alcuno delli due sodetti modi, e riuscirà di gusto compito di chi la mirarà“ / „Wenn aber das Licht von einer Seite, von der rechten oder von der linken genommen wird, so werden die Häuser, der Hintergrund, der Bühnenboden, überhaupt die ganze Szene viel besser aussehen, als bei einer von den beiden vorher beschriebenen Methoden und dem Zuschauer vollkommenen Genuß gewähren.“ Dabei verweist er auf seine Abb. auf S. 23; hierzu auch May, The Artifice 2000, S. 36. Ferner weist Sabbattini in Kap. 32, S. 52 und 204 darauf hin, daß der Übergang vom Bühnenhimmel zum Theatergewölbe mittels eines „panno finto di Broccato con oro stridente“ / „imitiertem Brokatstoff, dem blanke Goldfarbe aufgespritzt ist“ hergestellt werden kann.

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und Seicento gewann das Licht als Inszenierungselement auf der Bühne immer größere Bedeutung. Gearbeitet wurde neben Kerzen, Öllampen und Fackeln auch mit bengalischen Lichtern, welche die in den Bühnenraum hinabschwebenden Wolkenkulissen geheimnisvoll farbig leuchten ließen. Erheblich intensivieren ließ sich die Lichteinstrahlung durch Spiegel, weitere reflektierende Materialien wie Metallscheiben und Glaskugeln und vor allem durch konvexe Gläser.180 Die Bühne des barocken Theaters wird daher häufig als „Lichtraum“ beschrieben.181 Vor der Folie dieser Entwicklung und der bereits beobachteten Analogien zu theatralen Effekten liegt es nahe, eine, soweit ich sehe, von der Forschung bislang nicht rezipierte, da etwas entlegen publizierte Idee von Suzanne E. May aufzugreifen. Sie sieht in den forcierten Ausleuchtungen in Caravaggios Gemälden Reflexe der Beleuchtungssituation und Lichteffekte der barocken Bühne.182 Angesichts der intensiven Analyse von Caravaggios ‚revolutio­närem‘ Bildlicht seit Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Maler, in der dieser Gedanke meines Wissens nie formuliert wurde, wirkt diese Über­ legung zunächst irritierend. Dennoch halte ich sie für sehr plausibel und möchte hierfür im folgenden einige über Mays Beobachtungen hinausgehende Argumente anführen. Es ist ein Gemeinplatz kunsthistorischer Forschung, daß sich das caravaggeske Bildlicht mit gebündeltem und gerichtetem ‚Strahl‘ markant von der Praxis der Maler seiner Generation unterscheidet, in deren Werken meist ein diffuses Tageslicht herrscht, das selten Schlagschatten erzeugt und die Lokalisierung einer Lichtquelle nicht zuläßt. Seit Roberto Longhi hat sich die Forschung darum bemüht, die Voraussetzungen dieser luminaristischen Qualitäten in der oberitalienischen, vor allem der lombardischen Malerei zu 180 Siehe hierfür Philip Butterworth, Die Books of Secrets und die Magie des Lichts im frühneuzeitlichen Theater, in: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. a., Berlin/New York 2006, S. 18–42, der die entsprechenden Anweisungen in den Traktaten über die Bühnengestaltung im ausgehenden 16. Jahrhundert in Italien (vor allem von Sebastiano Serlio) und England (Hugh Platt) zusammengestellt und ausgedeutet hat. Auch Fritz Fleeming, Die Beleuchtung als künstlerisches und technisches Mittel in der Theaterkunst des Barock, in: Die vierte Wand. Organ der deutschen Theaterausstellung (1927) Heft 21, S. 6–9 und besonders die frühe, auf die Auswertung eines großen Quellenkorpus gestützte Arbeit von Bemmann, Die Bühnenbeleuchtung 1933, S. 66–117. 181  Siehe Brauneck, Welt als Bühne 1996, S. 14 f., 20. Vgl. auch Butterworth, Die Books of Secrets 2006, passim und S. 38 f., worin er die Lichtsituationen der frühneuzeitlichen und der modernen Bühne miteinander vergleicht. Leone de’ Sommi (oder Somi), behandelt in seinen „Quattro dialoghi in materia di rappresentazioni sceniche“ von ca. 1565 ausführlich die Frage, wie sich das Licht intensivieren läßt, ohne daß vermehrter Rauch entsteht; vgl. auch May, The Artifice 2000, S. 34 f. 182  Suzanne E. May, The Artifice of Depicting Reality: Caravaggio and the Theatrical Spotlight, in: Rutgers Art Review 18 (2000), S. 27–49.

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rekonstruieren.183 In jüngerer Zeit wurde diese Überlegung allerdings von Janis Bell in detaillierten Vergleichen der Ausleuchtungen in oberitalienischen und auch römischen Gemälden überzeugend zurückgewiesen.184 Caravaggios stark mit Schlagschatten und seit den fortgeschrittenen neunziger Jahren auch mit extremer Dunkelheit operierende Gemälde müssen von seinen Zeitgenossen also als hochgradig ungewöhnlich empfunden worden sein. Genau dies bezeugt eine Formulierung von Giulio Mancini, in dessen „Considerazioni“ es über Caravaggios „Schule“ heißt: „Proprio di questa schola è di lumeggiar con lume unito che venghi da alto senza riflessi, […] nè fatto, nè pensato da altro secolo o pittori più antichi, come ­Raffaello, Titiano, Correggio et altri.“ „Für diese Schule war es charakteristisch, [die Bildwelt] mit einem einheitlichen Lichtstrahl, der von oben kommt und ohne Widerschein auftritt, zu beleuchten, wie es nie zuvor weder gemacht noch konzipiert wurde in einem anderen Zeitalter oder von älteren Malern wie Raffael, Tizian, Correggio und anderen.“185

Tatsächlich erklärt ja auch nur diese Einmaligkeit die extreme Wirkung der Bilder auf die ‚Caravaggisten‘. Theatrale Ausleuchtungen vor den Gemälden zu analogisieren, erscheint zunächst so überraschend, weil Caravaggios Bildlicht ebenso wie sein Umgang mit Modellen von der Forschung bislang meist unter ‚naturalistischem‘ zeichen gesehen wurde. Zwar haben Autoren wie Howard Hibbard Vor­ mit Bezug auf Caravaggios Gemälde für Kirchenräume vom „extreme and un­natural use of light-dark“186 gesprochen, und gelegentlich wurde hierbei auch das Adjektiv „theatrical“ verwendet –187 gegen die wirkmächtige Formel von der „luce del vero“,188 dem „Licht der Wahrheit“ oder „Wirklichkeit“, das Folge minutiöser Naturbeobachtung sei, haben sich diese sporadischen Bemerkungen jedoch nicht durchsetzen können. Allein die Pertinenz des Vorstellungsbildes vom ‚Kellerlicht‘ in Caravaggios Gemälden und dessen angebliches 183  Siehe den Katalog Caravaggio. La luce nella pittura lombarda (Ausst.-Kat. Bergamo, Accademia Carrara 2000), hg. v. Claudio Strinati & Rossella Vodret, Mailand 2000 (mit weiterer Literatur). Die vollständige Literatur wird von Bell 1995 und 1993 diskutiert; siehe dazu die folgende Anmerkung. An differenzierteren Untersuchungen des Bildlichts in Caravaggios Gemälden ist vor allem Prater, Licht und Farbe 1992, zu nennen. 184 Siehe Janis C. Bell, Light and Color in Caravaggio’s Supper in Emmaus, in: Artibus et historiae 16 (1995), Nr. 31, S.  139–170; dies., Some Seventeenth-Century Appraisals of Caravaggio’s Coloring, in: Artibus et historiae 14 (1993), Nr. 27, S. 103–130, hier 103–106. 185  Mancini, Considerazioni sulla pittura, Bd. 1, S. 108 (Hervorh. V.v.R.). 186  Hibbard, Caravaggio 1983, S. 95. 187  Siehe May, The Artifice 2000. 188  So lautet der Titel einer vor wenigen Jahren in der Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea in Bergamo gezeigten Ausstellung (La luce del vero: Caravaggio, La Tour, Rembrandt, Zurbarán (Ausst.-Kat. Bergamo, Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea 2000), hg. v. JeanRobert Armogathe, Cinisello Balsamo 2000).

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Arbeiten in einer camera rinchiusa, in die ein scharfer Lichtstrahl durch ein geöffnetes Fenster gefallen sei, macht das deutlich. Es geht auf einen bildhaften Vergleich von Giulio Mancini zurück, der damit allerdings metaphorisch die Beleuchtungsqualität von Caravaggios Bildern charakterisieren wollte, was irrtümlich als authentische Schilderung rezipiert wurde.189 Janis Bell hat in einem ebenfalls nur marginal rezipierten Aufsatz von 1993 nachweisen können, daß den ersten kunsttheoretischen Äußerungen nach zu urteilen Caravaggios Zeitgenossen die Lichtverhältnisse in seinen Gemälden keineswegs als ‚natürlich‘ oder ‚realistisch‘ wahrgenommen haben.190 Am explizitesten äußert sich diesbezüglich wiederum Giulio Mancini in seinen um 1620 verfaßten „Considerazioni sulla pittura“, in denen er vom „modo non naturale“, vom „nicht natürlichen Modus“ des Lichts spricht,191 und einige Jahrzehnte später attestiert Carlo Cesare Malvasia den Lichtverhältnissen in Caravaggios Gemälden, sie seien „artificiose tropp’ ad ogni modo, violenti, ed affettate“, „zu künstlich in jeder Weise, gewaltsam und affektiert“.192 Auch Matteo Zaccolini, der Verfasser einer wenig bekannten, bereits um das Jahr 1620 entstandenen umfangreichen theoretischen Schrift über Farbe und Perspektive, auf die Bell aufmerksam gemacht hat, wirft dem malerischen tenebrismo seiner Zeit vor, das Naturvorbild nur unzureichend imitieren zu können.193 Wenngleich Zaccolini keine Namen nennt, ist diese Bemerkung mit Sicherheit auf Caravaggio und die ‚Caravaggisten‘ zu beziehen, denn er kriti189  Siehe hierzu ausführlich Kroschewski, Vom allmählichen Verfertigen 2000, S. 43–47. Die Formulierung lautet: „come sarebbe in una stanza da una fenestra con le pariete colorite di ­negro“ (Mancini, Considerazioni sulla pittura, Bd. 1, S. 108; Hervorh. V.v.R.). Tatsächlich bezieht sich Mancini in dieser Textstelle auf die „schola“ Caravaggios, nicht eigentlich auf Caravaggio selbst. 190  Bell, Some Seventeenth-Century Appraisals 1993, Nr. 27, S. 103–130. Sie handelt ausführlich über die Frage, wann und unter welchen Voraussetzungen diese Wahrnehmung sich verändert. Erst jüngst wurde ihre Argumentation aufgenommen von Margriet van Eikema Hommes & Ernst van de Wetering, Licht und Farbe bei Caravaggio und Rembrandt – mit den Augen der Zeitgenossen gesehen, in: Rembrandt Caravaggio (Ausst.-Kat. Amsterdam, Rijksmuseum/ Van Gogh Museum 2006), hg. v. Duncan Bull, Stuttgart 2006, S. 164–179, bes. 171–173. 191  Mancini, Considerazioni sulla pittura, Bd. 1, S. 108 (Hervorh. V.v.R.) 192  Carlo Cesare Malvasia, Felsina pittrice: Vite de’ pittori bolognesi (Bologna 1678), hg. v. Giampietro Zanotti, Bologna 1841, Facs. Ed. 1974, Bd. 2, S. 59; vgl. May, The Artifice 2000, S. 39. 193  Matteo Zaccolini, Della descrittione dell’ombre prodotte da corpi opachi rettilinei (Laurentian Ashburnham MS 1212), fol. 64b–65: „perche altrimenti senza il temperamento del lume reflesso il detto spatio ombroso non sarebbe ombra ma si dimostrarebbe di dense tenebre, come di notte tempo il che non essendo buona imitatione, farebbe maniera cruda, tagliente, et inutile alla vaghezza dello sguardo essendo questa quella parte, che deve dal Pittore esser abborrita.“ (zit. nach Bell, Some Seventeenth-Century Appraisal 1993, S. 126 f., Anm. 29). Für diese Schrift siehe auch Bells Aufsätze: The Life and Works of Fra Matteo Zaccolini, in: Regnum Dei 41 (1985), Nr. 111, S. 227–258 und dies.: Zaccolini’s Theory of Color Perspective, in: The Art Bulletin 75 (1993), S. 91–112.

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siert konkret die Eliminierung der Reflexlichter aus den verschatteten Bildpartien und die hierdurch bedingte starke Dunkelheit der Gemälde. Auch die Apostrophierung von Caravaggios Arbeitsweise mit „dipignere di maniera, e con l’esempio avanti dal naturale“, „Malen mit maniera und vor dem Naturvorbild (oder: mit dem Naturvorbild gegenüber)“ durch Caravaggios wichtigen Förderer Vincenzo Giustiniani in dem berühmten, vermutlich aus dem zweiten Jahrzehnt des Seicento stammenden Brief hat vermutlich dieselbe Ursache: die Wahrnehmung der luminaristischen Qualitäten in Caravaggios Gemälden als ‚künstlich‘.194 Die sich hieraus ergebende Überlegung, daß die Zeitgenossen beim Betrachten von Caravaggios Bildern deren Beleuchtungssituationen nicht nur allgemein als artifiziell, sondern sogar als theatral wahrgenommen haben,195 läßt sich zwar mangels dezidierter Bemerkungen in kunsttheoretischen Schriften nicht beweisen, wohl aber durch die Parallelität der Neuartigkeit solcher Lichtverhältnisse auf der Bühne und in der Malerei wahrscheinlich machen. Auch Sabbattinis Anweisung, bei der Ausmalung von Kulissen den Lichteinfall unbedingt von der Seite anzunehmen, kann als diesbezügliches Indiz gewertet werden. Möglicherweise sind sogar die oben beobachteten Inkonsistenzen in der Lichtführung in vielen caravaggesken Gemälden und die nicht nachvollziehbaren Momente in der Positionierung der Schatten Indices der Evozierung theatraler Lichtsituationen. Darauf wiederum könnte Benedetto Marcellos satirische ‚Anweisung‘ der Ausleuchtung der barocken Bühne in seinem 1722 verfaßten Büchlein „Il teatro alla moda“ hinweisen: „Il Lume dovrà fingersi tutto in mezzo alla Scena, avvertendo di tener egualmente illuminati i Soffitti e i Lati. E quantunque l’Aria debba esser più luminosa d’ogn’altr’ Oggetto, non dovrà però chi si sia infastidirsi, se vedrà illuminato un Prospetto, e sopra di esso l’Aria oscura come di Notte. Imperciocché volendosi illuminar l’Aria tutta oltre il Prospetto, vi andrebbe troppa spesa di Lumi.“ „Die gesamte Beleuchtung treffe die Bühnenmitte nur andeutungsweise, erhelle statt dessen gleichmäßig Sofitten wie Seitenwände. Wenn auch der Raum an sich heller sein sollte als jeder andere Gegenstand, dürfte es doch niemanden wirklich stören, einen gleißend erleuchteten Prospekt unter nachtschwarzenem Hintergrund zu sehen. Wollte man nämlich den gesamten Bühnenraum über besagten Prospekt hinaus illuminieren, würde die Beleuchtung zu teuer.“196 194 Für diesen Brief, den Giustiniani vermutlich im 2. Jahrzehnt des Seicento an seinen Freund Dirck van Ameyden verfaßte, siehe Kroschewski, Vom allmählichen Verfertigen 2002, S. 51–54 (mit weiterer Literatur); das Zitat auf S. 52; vgl. auch Bell, Some Seventeenth-Century Appraisals 1993, S. 123. 195  May, The Artifice 2000, S. 29, weist in diesem Zusammenhang auf die Theaterliebe und -praxis im Hause wichtiger Förderer von Caravaggio, dem Kardinal del Monte, Pietro Aldo­ brandini und dem Marchese Vincenzo Giustiniani, hin. 196  Benedetto Marcello, Il teatro alla moda (Venedig 1722), hg. & eingel. v. Sergio Miceli, Rom 1993, S.  74; die deutsche Übers. aus: Benedetto Marcello, Das neumodische Theater,

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63  Guido Cagnacci, Hl. Joseph, Forlì, Oratorio di San Giuseppe

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„L’Aria oscura come di Notte“ – allein das beherrschende Dunkel auf der Bühne, das auch frühere Autoren in ihren Schriften über Theaterausstattungen erwähnen,197 wird bei den zeitgenössischen Betrachtern caravaggesker Gemälde Aussoziationen an die Bühne geweckt haben. Als ein weiteres meine Überlegung stützendes Argument sei schließlich auf die Praxis einiger ‚Caravaggisten‘ verwiesen, die in ihren Gemälden die Analogien zu theatralen Beleuchtungseffekten noch verstärken. So wird auch Spadarinos Florentiner „Götterversammlung“ (Abb. 37) scharf von der Seite ausgeleuchtet, obwohl sich die Szenerie unter freiem Himmel abspielt – woran die versatzstückartigen Wolken und der schwarze Hintergrund allerdings ohnehin begründete Zweifel aufkommen lassen. Äußerst evident ist die theatrale Beleuchtungsstrategie auch in Guido Cagnaccis Altarbild mit dem hl. Joseph im Oratorio di San Giuseppe in Forlì (Abb. 63).198 Hier bildet die exakt senkrecht oberhalb des Bildfelds anzunehmende Lichtquelle einen scharf konturierten hellen Kegel aus, der die Figur des Heiligen rahmt. Dieser steht ohne jeden Raum- oder Zeitbezug über zwei bildparallel verlaufenden Treppenstufen und stellt demonstrativ posierend seinen linken Fuß vor, der einmal mehr die ästhetische Grenze des Bildes zum Betrachter niederzulegen scheint. Läßt sich der Einsatz dieses Bildmittels auch inhaltlich als die den Heiligen bescheinende ‚grazia divina‘ deuten,199 so funktioniert dies nicht in der analogen Darstellung von Claude Vignon. Dieser inszeniert mittels eines aus der linken oberen Bildecke einfallenden Lichtkegels seinen triumphierend sitzenden „David“ theatral (Abb. 64), wobei er die aus Caravaggios Gemälden hg. & übers. v. Sabine Radermacher, S. 49. Carsten Jung hat auf die Ursachen von Marcellos Polemik hingewiesen: „Auch mit dem Licht war es einfacher gewesen, solange sich die Spielfläche noch im Saal selbst befand. Die allgemeine Beleuchtung des Raumes erhellte Zuschauer und Schauspieler zugleich. Zusätzlich konnte die Dekoration hinter den Torbögen bzw. später hinter dem einen Portalbogen separat ausgeleuchtet werden. Als aber der Portalbogen fast die gesamte Bühnenwand einnahm, die Kulissen entsprechend nach den Seiten auseinander gezogen wurden und der Sänger die dazwischen liegende Spielfläche betrat, wurde die Beleuchtung schwieriger. Die Kulissen selbst waren sehr einfach zu beleuchten: Hinter jeder einzelnen stand ein Pfosten mit übereinander angeordneten Öllampen oder Kerzen, die die folgende Kulisse anstrahlten. Doch dieses Licht reichte eben nur für die Kulissen. Zur Bühnenmitte hin nahm die Lichtstärke immer weiter ab – dort, wo sich die Sänger am meisten aufhielten“ (Carsten Jung, Wie es jetzt üblich ist. Theaterbau und Aufführungspraxis als Ausdruck ihrer Zeit, in: Theatrum mundi 2003, S. 22–24, hier 23). 197 Vgl. Leone de’ Sommi, Quattro dialoghi in materia di rappresentazioni sceniche (ca. 1565), hg. v. Ferruccio Marotti, Mailand 1968, S. 65. 198  225 × 165 cm; 1641/42; Forlì, Oratorio di S. Giuseppe; siehe Guido Cagnacci (Ausst.Kat. Rimini, Museo della Città 1993), hg. v. Daniele Benati & Marco Bona Castellotti, Mailand 1993, Nr. 22, S. 116–119; Giorgio Pasini, Guido Cagnacci. Pittore 1601–1663. Catalogo generale, Rimini 1986, Nr. 23, S. 209–211. Guido Cagnacci. Protagonista del Seicento tra Caravaggio e Reni (Ausst.-Kat. Forlì, Musei San Domenico 2008) hg. v. Daniele Benati & Antonio Paolucci, Cinisello Balsamo 2008, Nr. 56, S. 257. Für diesen Maler siehe unten, Kap. II.4.1. 199  So Giordano Viroli, in: Guido Cagnacci 2008, S. 257.

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64 Claude Vignon, David und Goliath, Austin (Texas), The Blanton Museum of Art

bekannte diagonal verlaufende scharfe Licht-Schatten-Kante entsprechend umdeutet.200 Während ihm scheinbar unabsichtlich das Untergewand von der rechten Schulter herabrutscht, blickt der Knabe, dessen aufwendige Kleidung samt fulminantem Kopfputz und blutverschmiertem Schwert ohnehin ein Kostümstück assoziieren läßt, mit leicht melancholisch geröteten Augen auf den ‚Zuschauer‘ herab, so als erwarte er mitfühlende Anteilnahme. Diese Überlegungen bezüglich der Beziehungen zwischen der Malerei und der zeitgenössischen Bühnenpraxis abschließend, stellt sich die Frage nach den Gründen für die Ausbildung einer theatralen Mimesis in diesen Jahrzehnten. Es ging den Malern Vignon, Cagnacci und Caravaggio offensichtlich um die Evozierung bestimmter Seheindrücke, die sie gerade um ihrer Alterität und Artifizialität willen schätzten. Die im Kontext der Theatralisierungseffekte im Barock häufig bemühte Metapher von der Welt als ‚Bühne‘ führt für das Verständnis dieser Bildstrategie in meinen Augen allerdings wenig 200  143 × 96 cm; um 1623; Austin, The Blanton Museum of Art; siehe Pacht Bassani, Vignon 1993, Nr. 50, S. 199.

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weiter, vielmehr die konstitutionellen Bedingungen des Theaters, seine spezifische Mimesis und Leistungsfähigkeit: Ich meine die – durch die Neuartigkeit des Mediums in ihrer Wirkung noch gesteigerte – starke Affizierung der Zuschauer infolge der Ansprache mehrerer Sinne,201 die hierdurch bedingte maximale Vergegenwärtigung des Gezeigten sowie die Illusionskraft in der Präsentation des Scheins als Wirklichkeit. Enárgeia, das lebendige und wirkmächtige ‚Vor-Augen-Stellen‘ der künstlich erzeugten Welten, ist das basale Konzept dieser Bilder, und im zeitgenössischen Sprechen über die Künste wird deutlich, daß sie durch Bildelemente wie die scheinbare Entgrenzung des Gemäldes nach vorn, die Erzeugung synästhetischer Effekte und schließlich auch durch starke Licht-Schatten-Kontraste erzeugt wird.202 Die Parallele zum Theater geht aber noch weiter: Auch in der theatralen Altarmalerei des frühen Seicento verbindet sich die Illusionskraft der Malerei beim Zuschauer mit dem alle Wahrnehmungsleistungen konditionierenden Bewußtsein der Simulation und Künstlichkeit der Welten. Genau dieses subtile Changieren zwischen der Evozierung von Wirklichkeit und der Zurschaustellung von Künstlichkeit zeichnet die gesehenen Gemälde aus. Bezeichnenderweise kulminiert es in der Figur des Engels – also in jener Figur, die eine Malerei, die vorgibt, sich auf die Schilderung der Realität zu beschränken, vor ein Problem stellt. Wenn sie den ‚Wirklichkeitscharakter‘ dieser himmlischen Erscheinungen forcieren und damit zugleich ironisch brechen, reagieren die Maler auf die genuine Aufgabe der Malerei, mit der in besonderer Weise eine Malerei im Modus al naturale konfrontiert ist, nämlich Transzendentes zur Erscheinung zu bringen. Die himmlischen Wesen werden angefaßt, wollen in die Bildhandlung eingreifen und bewahren eine überdeutliche Reminiszenz an ihre Modelle: durch anatomisch unmögliche Posen und abstehende Ohren. Ironie und Übertreibung – ‚Hyperbel‘ in der Terminologie der Rhetorik –,203 sind also die Mittel, derer sich die Maler hier bedienen, und sie zielen dabei auf ein Equilibrium: auf affiziöse wirkmächtige Malerei, der doch das Wissen der Betrachter um ihre Artfizialität eingeschrieben ist.

201  Noch anzumerken ist die Ansprache auch des Geruchssinns durch die Zerstäubung parfürmierter Düfte wie sie etwa bei der Hochzeitsfeierlichkeiten der Medici dokumentiert ist (siehe oben Anm. 165). 202  Hierfür v. Rosen, Enargeia 2000, passim. 203  Zum Konzept der Ironie allg. und in Anwendung durch Caravaggio siehe unten Kap. III.2.4.

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3. Performativität in religiösen Gemälden Daß die an Caravaggios „Bacchus“ (Abb. 22) und Spadarinos „Brindisi im Olymp“ (Abb. 37) beobachteten performativen Bildstrategien der Funktion dieser Werke in privaten Sammlungen zuarbeiteten, erklärt den Erfolg, den Caravaggios Gemälde im oft charakterisierten Ambiente seiner Förderer um den Kardinal del Monte und Vincenzo Giustiniani hatten. Wenngleich das künstlerische und intellektuelle Umfeld eines Malers wie Spadarino weitgehend unbekannt ist, wissen wir doch, daß Caravaggios Förderer auch Werke der ‚Caravaggisten‘ besaßen, deren Rezeptionskontext mithin ähnlich gewesen sein wird. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache alles andere als selbstverständlich, daß die die Performativität der Bilder generierenden forcierten Posen und Rollenspiele keineswegs auf Werke mit profanen Sujets beschränkt blieben. Wie läßt sich das Auftreten dieser Phänomene in religiösen Gemälden, und zwar sowohl in solchen für sakrale Räume als auch in solchen für private Sammlungen erklären? Warum wählten Caravaggio, Battistello Caracciolo und der Cecco del Caravaggio entsprechende Bildstrategien auch für ihre Heiligendarstellungen? Auf welche Aufnahme stießen diese Werke? Mit Bezug auf vier Gemälde möchte ich diesen Fragen nachgehen: Es sind die beiden Altarbilder von Caravaggio und Battistello Caracciolo, die „Madonna dei Palafrenieri“ für St. Peter (Abb. 50) und die „Immacolata Concezione“ für S. Maria della Stella in Neapel (Abb. 65) sowie die beiden Galeriebilder Caravaggios, die „Maria Magdalena“ der Sammlung Doria Pamphilj (Abb. 47) und die „Hl. Katharina von Alexandrien“ für den Kardinal Francesco Maria del Monte (Abb. 3).

3.1 Verkörperte Theologumena: Caravaggios „Madonna dei ­Paralafrenieri“ und Battistello Caracciolos „Immacolata ­Concezione“ Unter bildkonzeptuellen Gesichtspunkten weisen Caravaggios „Madonna dei Palafrenieri“ (Abb. 50) und Caracciolos „Immacolata Concezione con i santi Domenico und Francesca di Paola“ (Abb. 65) Gemeinsamkeiten auf: Beide lassen ihr Personal auf einem einfachen dunklen Fußboden vor tiefschwarzem, ungestaltetem Hintergrund agieren und vermeiden dabei jede Angabe eines Raumoder Zeitbezugs der visualisierten Szenen. Beide Werke sind Marien-Darstellungen, beziehen sich auf das Theologumenon der unbefleckten Empfängnis Mariens, und beide waren als Altarbilder konzipiert. Battistello Caracciolos mit 334 × 209 cm großformatiges Gemälde war für die Cappella della Santissima Concezione in der neapolitanischen Kirche der Minoriten-Brüder S.  Maria

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Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes

65 Battistello Caracciolo, Unbefleckte Empfängnis, Neapel, S. Maria della Stella

della Stella bestimmt und befindet sich heute über dem dortigen Hochaltar.204 Caravaggio schuf sein mit 292 × 211 cm etwas kleineres Werk für den Altar der hl. Anna, der Patronin der Arciconfraternita dei Palafrenieri, in St. Peter. Durch diesen Bestimmungsort im Vatikan handelt es sich zweifellos um einen 204  1607/08; Neapel, S. Maria della Stella, Cappella Santissima Concezioni; sign. „Io: Batta Caracciolus/F“; siehe Causa, Caracciolo 2000, Nr. A 14, S. 177 f. und 26; Michael ­Stoughton, in: Painting in Naples 1606–1705. From Caravaggio to Giordano (Ausst.-Kat. London, ­Royal Academy of Arts 1982), hg. v. Clovis Whitfield & Jane Martineau, London 1982, Nr. 5, S. 111– 113, mit Publikation der Zahlungsanweisung des ersten Abschlags an Caracciolo vom 20. Oktober 1607, wodurch sich der Hinweis auf die frühe Datierung des Gemäldes ergibt. Sie wird von Richard Spear unter Verweis auf die Formulierung „che si fa“ in den Dokumenten bezweifelt, da sich die Arbeit an dem Gemälde auch über viele Jahre hingezogen haben kann. Auf stili­stischer Basis hatte Prohaska, Beiträge 1978, S. 212, das Gemälde in das zweite Jahrzehnt des Seicento datiert. Siehe auch Gennaro Borrelli, Il Santuario di Santa Maria della Stella, ­Neapel 1984, S. 26–28. Von der Kontroverse um die Datierung abgesehen, hat sich die Forschung mit diesem Gemälde noch nicht beschäftigt.

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der bedeutendsten, wenn nicht überhaupt den hochrangigsten Auftrag, den der Maler je erhalten hat.205 Wie Zahlungen an den Tischler für die Anfertigung des Rahmens belegen, wurde Caravaggios Altarbild im April 1606 an seinem Bestimmungsort im Querschiff der Basilika aufgestellt, allerdings bereits nach einigen Tagen wieder von dort entfernt. Es gelangte zunächst in die Kirche der Bruderschaft im Vatikan und wurde wiederum einige Wochen später, im Juni 1606, vom Kardinalnepoten Papst Pauls V., Scipione Borghese, für seine Sammlung erworben, zu der es noch heute gehört. Dem Werk mit dieser intrikaten Vorgeschichte hat Carolyn Straughan eine profunde Studie gewidmet, die sich vor allem auf die ikonographisch ebenso ungewöhnliche wie unter bildtheologischen Gesichtspunkten komplexe Verbindung einer um die hl. Anna erweiterten Immaculata-Darstellung mit Christusknaben konzentriert; dieser Aspekt soll daher hier nicht ausgeführt werden.206 Mir geht es im folgenden vielmehr um die Art und Weise der In-Szene-Setzung des Sujets und ihrer bildkonzeptuellen Folgen. Die drei Bildfiguren, Maria mit dem Erlöserknaben und die hl. Anna, stehen in nahezu flächenparalleler Anordnung und frontal auf den Betrachter ausgerichtet in der vordersten Ebene eines nicht weiter charakterisierten tiefschwarzen Raums. Beleuchtet werden sie durch einen sehr starken, aus der linken oberen Bildecke einfallenden Lichtstrahl. Er zeichnet sich zwar kaum auf der dort anzunehmenden Wand ab, beleuchtet jedoch scharf den Christus­ knaben sowie die rechte Gesichtshälfte und das Dekolleté Mariens; die 205  Marini, Caravaggio 2005, Nr. 71, S.  499–503 (mit ausführlicher Zusammenstellung aller auf das Gemälde zu beziehenden Quellen); Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 48, S. 497–499; jüngst nun Carolyn Ashley Straughan, Hidden Artifice: Caravaggio and the Case of the Madonna of the Serpent, Ann Arbor 1998 (Diss. Cornell University). Leider ohne Kenntnis dieser Arbeit: Marcello Beltramme, La Pala dei Palafrenieri. Precisazioni storiche e ipotesi icono­grafiche su uno degli ultimi „rifiuti“ romani di caravaggio, in: Studi Romani 49 (2001), S.  72–100; vgl. auch: La Madonna dei Palafrenieri di Caravaggio nella collezione di Scipione Borghese, hg. v. Anna Coliva, Venedig 1998 (darin vor allem die Beiträge von Maurizio Calvesi „‚Tanto contenta di mirar sua figlia‘“, S. 33–49, und von Luigi Spezzaferro, „Nuove riflessioni sulla pala dei Palafrenieri“, S. 51–60); Salvatore Settis, Immagini della meditazione, dell’incertezza e del pentimento nell’arte antica, in: Prospettiva 2 (1975), S. 4–18; Luigi Spezzaferro, La Pala dei Palafrenieri, in: Colloquio sul tema Caravaggio e i caravaggeschi (Roma, Accademia dei Licei 12–14 febbraio 1973), Roma 1974, S. 125–137; Aldo Cicinelli, S. Anna dei Palafrenieri, Rom 1970, S. 80–82; Emile Mâle, La signification d’un tableau du Caravage, in: Mélanges d’archéologie ed d’histoire 47 (1930), S. 1–6 (der erstmals den Bezug auf Genesis 3, 15 hergestellt hat). Straughan, Hidden Artifice 1998, S. 260–262, argumentiert überzeugend, daß bei der Vermittlung des Auftrags an Caravaggio möglicherweise Kardinal Ascanio Colonna eine entscheidende Rolle gespielt hat. Seine Schwester war mit einem Marchese da Caravaggio verheiratet, also einem Mitglied jener Familie, für die Caravaggios Vater gearbeitet und die den jungen Maler in der Lombardei und in Rom protegiert hatte. 206  Siehe vorherige Anmerkung. Spike, Caravaggio 2001, S. 168, vermutet, daß die Bedeutung des Ortes erklärt, warum sich Caravaggio auf die vergleichsweise niedrige Bezahlung von 75 scudi eingelassen hat.

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hl. Anna ist demgegenüber nur schwach dem Licht ausgesetzt. Unter ‚realistischen‘ Vorzeichen ist diese Lichtregie zwar nicht plausibel, da sie aber die hl. Anna dem Erlöserknaben und der Jungfrau subordiniert, schafft sie innerbildlich theologisch sinnvolle Wertigkeiten. Anna steht in statuarischer Haltung207 etwas isoliert und mit kontemplativer Geste der ineinander verschränkten Hände und richtet ihren Blick auf die Handlung der Muttergottes, wobei ihr geöffneter Mund eine gewisse emotionale Regung anzeigt. Maria und der Erlöserknabe vor ihr vollführen gemeinsam eine Handlung: Sie treten jeweils mit ihrem linken entblößten Fuß auf den Kopf einer Schlange, wobei Jesus sein Füßchen auf den Fuß seiner Mutter stellt, um ihrem Tritt Nachdruck zu verleihen. Für den theologisch entsprechend gebildeten Betrachter – und angesichts der Virulenz des Themas in nachtridentinischer Zeit war dies sicherlich das Gros des Publikums in St.  Peter –, war diese Aktion höchst bedeutungshaltig. Sie verweist auf das Theologumeon der als Verheißung des Erlösers interpretierten Worte des Schöpfergotts in Genesis 3, 15. Nach der Verführung Evas durch die Schlange hatte er das Tier mit den Worten verflucht: „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen.“ Weiter heißt es in der Vulgata: „ipsa conteret caput tuum, et tu insidiaberis calcaneo eius“ – was übersetzt lautet: „Sie wird dir nach dem Kopf treten und du wirst ihr nach der Ferse schnappen.“ Um das Pronomen „ipsa“, mit dem die Vulgata vom hebräischen Urtext abweicht, entbrannte in der Reformation bekanntlich heftiger theologischer Streit. Luther las es in seinen Genesis-Kommentaren als „ipse“ und bezog es folgerichtig auf Jesus. Die katholische Seite betonte dagegen das weibliche Personalpronomen und die Rolle Mariens, der neuen Eva und Verkörperung der Kirche, als Vorkämpferin gegen die Macht des in der Schlange verkörperten Satans. Die „bolla del rosario“ von Papst Pius V. aus dem Jahre 1569 formuliert die katholische Lehrmeinung präzise, wenn sie herausstreicht, daß es die Jungfrau selbst war, die die Schlange zertrat. Allerdings bringt die Bulle einen signifikanten und für Caravaggios Verbildlichung des Theologumenons entscheidenden Zusatz, der lautet: „ac benedictu fructu eius ventris mundum primi parentis lapsu damnatum salvavit“208 – „und die gesegnete Frucht ihres Körpers befreite die Welt von der durch die Ureltern verursachten Verdammnis“.

207  Settis, Immagini 1975, S. 4–18, hat auf eine antike Demosthenes-Statue mit ähnlicher Haltung aufmerksam gemacht. Da auch der Gestus der gefalteten Hände sehr ähnlich ist, wird sie Caravaggio tatsächlich bekannt gewesen sein. Vgl. auch Lynn Federle Orr, Classical Elements in the Paintings of Caravaggio, Ann Arbor 1982 (Diss. Univ. of California, Santa Barbara), S. 56. 208  Bullarum Privilegiorum ac Diplomatum Romanorum Pontificum, Tom IV, Par. III, Rom 1746, S. 77 (zit. nach Straughan, Hidden Artifice 1998, S. 109 f.).

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66 Ambrogio Figino, Madonna del Serpe, Mailand, S. Antonio Abate, Casa Cardinale Ildefonso Schuster

Die originelle und geistreiche visuelle Umsetzung der gemeinsamen Er­lösungstat der Muttergottes und ihres Sohns durch das Motiv der übereinandergestellten Füße, das die Unterstützung der von der Jungfrau initiierten Handlung durch ihren Sohn zum Ausdruck bringt, hat Caravaggio nicht erfunden. Es findet sich bereits auf einem in den frühen achtziger Jahren des Cinquecento entstandenen Altarbild von Giovanni Antonio Figino in Mailand (Abb. 66), das, wie Roberto Longhi überzeugend argumentiert hat, Caravaggio mit Sicherheit bekannt war.209 In der Gestaltungsweise differieren die beiden 209  Roberto Longhi, Ambrogio Figino e due citazioni di Caravaggio, in: Paragone 5 (1954), S. 36–38. Zu Caravaggios Lebzeiten befand sich das Gemälde in der Kirche San Fedele (wo es Lomazzo beschreibt), heute hängt es im Ex-Konvent der Kirche S. Antonio Abate, der sog. Casa Cardinale Ildefonso Schuster; siehe hierfür Roberto Paolo Ciardi, Giovan Ambrogio ­Figino, Florenz 1968, Nr. 4, S. 93–95. Calvesi liest Caravaggios Verweis auf Figinos Gemälde

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Altarbilder allerdings erheblich. Caravaggio legt die Emphase auf eine durch die Aus­schmückung der Aktion bedingte Plausibilität der Handlung: Die Intensität und Konzentration, mit der Mutter und Sohn den Tritt auf die Schlange ausführen, ist augenfällig. Das Kind versucht auf dem Fuß Mariens zu balancieren, diese hat hierfür ihr rotes Obergewand auf der Höhe ihrer Hüfte hochgebunden und preßt ihren Sohn derart an sich, daß ihre Brüste in dem ohnehin knappen und nachlässig geschnürten Mieder hochgeschoben werden. Dies ist die delikate Folge der Größe des Knaben, den Caravaggio nicht als Baby oder Kleinkind, sondern als kleinen Jungen im Alter von etwa vier oder fünf Jahren zeigt. Er ist vollständig nackt, und sein kleines Glied wirft sogar einen Schlagschatten auf seinen Oberschenkel – ein Motiv, das ebenso wie die hochgeschobenen Brüste Mariens sicherlich nicht erst für moderne Betrachter einen Blickfang darstellt. Ganz anders Figinos Altarbild: Hier ist die Jungfrau dezent verhüllt, sie trägt einen Schleier, und ihr Fuß ist beschuht. Auch das Geschlecht des Kindes, bezeichnenderweise wesentlich jünger als der Knabe in Caravaggios Gemälde, ist bedeckt und die Schlange läßt die Genauigkeit des Naturstudiums, das Caravaggio ihr angedeihen ließ,210 vermissen. Die weiteren Unterschiede zwischen beiden Darstellungen verdeutlichen deren konzeptuelle Differenzen gerade im Hinblick auf Caravaggios performative Bildsprache. In Figinos Altarbild ist die Handlung im Freien situiert, wo das Auftauchen einer Schlange ja über eine gewisse Logik verfügt. Puttenköpfe in den oberen Bildecken indizieren die heilsgeschichtliche Bedeutung des Geschehens. Vor allem aber entsprechen Maria und der Erlöserknabe mit ihren idealisierten Gesichtszügen der Bildkonvention, vor deren Folie die Modellabhängigkeit der Protagonisten in Caravaggios Pala um so stärker ins Auge fällt. Seine Madonna hat ein breites, rundes Gesicht und tiefschwarzes, zu einem geflochtenen Kranz hochgestecktes Haar; sie trägt ein zeitgenössisches Kleid. Das Haar des pausbäckigen Knaben ist rötlich gelockt, und er hat ein Bäuchlein. Als einzige Figur im Bild verfügt er nicht über einen Heiligenschein, aber auch die Nimben der heiligen Anna und Maria wirken, wie Andreas Prater zutreffend beobachtet hat, eher wie dünne, aus Draht gebogene Reifen, die nur schwach in dem schräg einfallenden Licht wirksam werden.211 Die Modellabhängigkeit wird durch weitere frappierende Details forciert: die schmutzigen Fußnägel, das so stark dem Licht ausgesetzte Geschlecht des Knaben und die Differenzen in seinem Inkarnat, die seit der vor wenigen Jahren erfolgten Restaurierung des Gemäldes besonders deutlich ins Auge als „omaggio al ‚suo‘ arcivescovo“, Carlo Borromeo (Maurizio Calvesi, Le realtà del Caravaggio II, in: Storia dell’arte 63 [1988], S. 117–192, hier 152). 210  Siehe hierzu unten S. 143 und Anm. 216. 211  Andreas Pater, Licht und Farbe bei Caravaggio: Studien zur Ästhetik und Ikonologie des Helldunkels, Stuttgart 1992, S. 77.

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fallen.212 Daß sie Assoziationen an die Entstehung des Werks evozieren, liegt auf der Hand: Hier scheint ein römischer, nicht beschnittener Junge für die Rolle des Erlöserknabens posiert zu haben.213 Auch die physiognomische Ähnlichkeit Mariens mit der Muttergottes in Caravaggios ein oder zwei Jahre zuvor in S. Agostino installierter und kontrovers diskutierter „Madonna di Loreto“214 (Abb. 7) wird Spekulationen über die Identität des Modells zur Folge gehabt haben. Giambattista Passeri erkennt in seinen in den frühen 1670er Jahren verfaßten Künstlerbiographien in ihr eine Frau aus Caravaggios privatem Umfeld, und zwar die in den Prozeßakten des Jahres 1605 als „donna del pittore […] che sta in piedi à Piazza Navona“ bezeichnete „Lena“.215 Unabhängig davon ob dies zutrifft oder nicht, ist die Tatsache relevant, daß das Bild auf das Modell gerichtete Spekulationen ausgelöst hat. Die Dominanz der Modelle und ihre Situierung in einem nicht näher bezeichneten, tiefschwarzen Raum, in dem sie effektvoll beleuchtet werden, ist für den Eindruck des Bühnen- und Aufführungshaften verantwortlich, der eine Verbindung zu den oben gesehenen vertikal strukturierten Altarbildern mit einem in das ‚Bühnengeschehen‘ eingreifenden deus ex machina-Engel herstellt. Auch hier, in der „Madonna dei Palafrenieri“, haben wir keine Bildbühne vor uns, die sich in den Tiefenraum erstreckt, sondern eine, die sich zum ‚Zuschauer‘ nach vorn entgrenzt und diesen durch die Lichtregie in ihr Geschehen involviert. Auf ihr wird, pointiert formuliert, ein Glaubenssatz ‚aufgeführt‘, wobei eine durch die starken Windungen überaus naturgetreu anmutende Schlange als einziges (Bühnen-)Requisit dient. Was mag Caravaggio beabsichtigt haben, als er die im „Bacchus“ und den übrigen Knabenbildern erprobten performativen Bildstrukturen in einem 212  Siehe: La Madonna dei Palafrenieri 1998, S.  16 f. Die Beobachtung, daß der Penis des Knaben unbeschnitten ist, stammt von Straughan, Hidden Artifice 1998, S. 193 f. 213  Hans Belting, Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005, S.  111 f., macht darauf aufmerksam, daß entgegen der verosimilitas Christusknaben in Mittelalter und der Frühen Neuzeit immer unbeschnitten dargestellt werden. 214  Für die „Loreto Madonna“ siehe unten Kap. III.2.2. und III.2.4. 215  Siehe die Künstlerbiographien von Giovanni Battista Passeri. Nach den Handschriften des Autors hg. u. mit Anm. versehen v. Jacob Hess. Leipzig & Wien 1934, S. 347: „Vicino a lui [d.i. Caravaggio] abitava una Donna con una sua figliola zitella, la quale non era discara nelle sembianze; gente povera; ma onorata, e Michel’ Angelo procurò d’havere questa Giovinetta per esemplare della Madre di Dio, che deveva dipingere in quel suo Quadro [d.i. die ‚Madonna dei Pellegrini‘], e gli riuscì l’haverla havendogli offerta una tal ricognizione, che fu bastante, per la loro povertà, di farlo rimaner sodisfatto di questo suo desiderio come l’eseguì.“ (Zur Frage der Entstehung der Schrift ebd., S. XI f.); siehe hierzu Jacob Hess, Modelle e modelli del Caravaggio, in: Commentari 5 (1954), S. 271–289, wiederabgedruckt in: ders.: Kunstgeschichtliche Studien zu Renaissance und Barock, Rom 1967, S. 275–288, hier 275–278. Auch Straughan, Hidden Artifice 1998, S. 153 f.; beide mit ausführlicher Diskussion, was die Angabe „che sta in piedi à Piazza Navona“ zu bedeuten habe. Sie muß nicht bedeuten, diese „Lena“ sei Prostituierte gewesen, möglicherweise hatte sie auf Piazza Navona einen Verkaufsstand.

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mehrfigurigen religiösen Gemälde, dem dazu in St. Peter eine besondere Rezeptionssituation beschieden war, einsetzte? Vermutlich ging es ihm um die Entwicklung einer Bildsprache zur Erzeugung von Evidenz und damit um eine Vergegenwärtigung des Glaubenssatzes qua ‚Aufführung‘ und ‚Verkörperung‘ desselben. Hierfür wählte er die zwischen einer storia – das Zertreten der Schlange bringt ja eine narrative Dimension ins Bild – und einer nicht-szenischen Heiligendarstellung im Typus der Anna Selbdritt oszillierende Struktur. Dem Betrachter werden die Worte der Genesis in ihrer ‚richtigen‘ Bedeutung nicht nur ‚vor Augen geführt‘ (evidentia) –, sie werden vor ihm durch die zeitgenössischen Modelle sogar besonders einprägsam ‚aufgeführt‘. In diesem Zusammenhang ist auf ein frappierendes Detail hinzuweisen, auf das Carolyn Straughan aufmerksam gemacht hat: Die vermeintlich so ‚realistischen‘ Windungen der Schlange basieren keineswegs auf Naturbeobachtung. Weder kann eine Schlange überhaupt derartige Windungen vollziehen, noch gibt es in der Natur eine solche Schlangenspezies, wie Caravaggio sie darstellte –216 ihrer visuellen Evidenz in Caravaggios Darstellung tut dies jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil. Es ist gerade diese Forcierung der vermeintlichen Detailtreue auf die Ebene des Fiktiven, die Lebenswirklichkeit und mithin Evidenz und Wirkmächtigkeit verspricht. Ein ähnlicher Mechanismus wird auch in Caravaggios demonstrativem Arbeiten mit Modellen, welches die maximale Ansprache und die Involvierung des Betrachters in die Darstellung eines visuell schwer vermittelbaren Glaubenssatzes leisten soll, wirksam. Worin aber das genuine Problem dieser Bildstrategie besteht, zeigt die „Madonna dei Palafrenieri“ in unmißverständlicher Deutlichkeit: Sie droht zu scheitern, wenn die Modelle den Seheindruck dominieren, aus den verkörperten ‚Rollen‘ zu fallen scheinen,217 und damit die Evidenz der Darstellung zu einer Evidenz ihrer Modelle wird. Dies dürfte insbesondere bei jenen Betrachtern der beherrschende Seheindruck gewesen sein, denen die Modelle persönlich bekannt waren. Von um so größerem Interesse sind die zeitgenössischen Reaktionen auf das Gemälde, von dem wir ja wissen, daß es nicht nur von seinem Bestimmungsort in St. Peter, sondern auch aus der Kirche S. Anna del Vaticano entfernt wurde. So genau die Quellen den Vorgang rekonstruieren lassen, weil sie sogar die Daten der verschiedenen Transfers des Bildes nennen – die uns interessierenden Gründe für seine Entfernung aus St. Peter und S. Anna nennen sie leider ebensowenig wie die hierfür verantwortliche Institution. Wir wissen also nicht, ob die Bruderschaft selbst, die Fabbrica von St. Peter oder gar der Papst 216  Straughan, Hidden Artifice 1998, S. 227–241. 217  Vgl. die Bemerkung ebd., S. 154: „If Lena were a woman who, for whatever reason, could

be seen regularly in the Piazza Navona in 1605, the most important implication of the fact is that she was a familiar face on the streets of Rome. A recognizable model can disrupt fictive illusion.“

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für die Zurückweisung des Gemäldes primär verantwortlich waren.218 In der Forschung hat das zu zahlreichen Spekulationen geführt, bei denen vor allem drei gänzlich verschiedene Gründe für die Ablehnung postuliert wurden: 1. äußere Umstände, und zwar Umdispositionen in der Altarverteilung im Seitenschiff von St. Peter in den Monaten zwischen der Beauftragung des Gemäldes Ende 1605 und seiner Installation im darauffolgenden April,219 2. ikonologische und bildtheologische Gründe, die hauptsächlich die in der Bildtradition nicht vorgebildete Tötung der Schlange mit der hl. Anna betreffen,220 3. Gründe des Dekorums, vor allem die (partiellen) Nacktheiten und die mangelnde Dezenz betreffend, etwa auch in der Darstellung der hl. Anna als alter Frau mit geöffnetem Mund und sichtbarer Zahnreihe,221 und damit der spezifischen Gestaltungsweise der Pala.

Es ist vorab zu betonen, daß sich angesichts der Quellenlage die Gründe für die Ablehnung, die durchaus mehrschichtig sein können, nicht mit Sicherheit benennen lassen. Gegen die Annahme äußerer, die Disposition der Altäre in St. Peter betreffenden Umstände spricht das in der Forschung kaum bedachte Faktum, daß das Gemälde ja ebenfalls nicht in S. Anna del Vaticano verblieb. Hätte die Bruderschaft das Werk behalten wollen, hätte sie es kaum an Scipione Borghese verkauft – auch der dabei erzielte Gewinn von 25 scudi dürfte diese Entscheidung nicht konditioniert haben. Was die ikonographisch einmalige Verbindung des Tötens der Schlange mit der Darstellung der hl. Anna angeht, so wird die Beurteilung ihrer Adäquatheit mit den Interessen der Bruderschaft dadurch erschwert, daß wir nicht wissen, wie der an Caravaggio ergangene Auftrag lautete. Hatte er die Genesis-Worte zu verbildlichen – mög­licherweise gar unter Verweis auf die ikonographische Erfindung von Figino? –, oder lautete der Auftrag schlicht auf Darstellung einer Imma218  Für den Papst als treibende Kraft bei der Zurückweisung spricht sich dezidiert Calvesi aus (Calvesi, Le realtà II 1988, S. 153); vgl. auch ders., La realtà del Caravaggio, Turin 1990, S. 348. Baglione nennt in diesem Zusammenhang die „Signori Cardinali della fabbrica“ als Akteure; siehe unten Anm. 223. 219  So der Tenor des Aufsatzes von Beltramme, La Pala 2001. Als Argument hierfür spricht, daß die Bruderschaft in den folgenden Jahren ihren Altar in St. Peter abgeben mußte. Für die Altargestaltung in St. Peter generell sowie die Umstände dieser Umdisposition siehe Rice, The Altars, S. 44 f. und 86 f. 220  So ebenfalls Beltramme, La Pala 2001, der gegen die Argumentation der Forschung, Caravaggio habe „errori“ begangen, anzuschreiben sucht, indem er auf mögliche Sensibilitäten der Arciconfraternità und der Fabbrica von St. Peter bezüglich der Immaculata-Darstellung und der hl. Anna Selbdritt aufmerksam macht. Soweit ich sehe, ist von „errori“ Caravaggios in der Forschung nicht die Rede und seine kalkulierten Dekorum-Verstöße sind auch kaum so aufzufassen. Vgl. auch Straughan, Hidden Artifice 1998, passim und S. 263. 221  Siehe ebd., S. 71–105, und Werner Goetz, Caravaggio: vier umstrittene Bilder eines umstrittenen Malers, in: Streit um Bilder. Von Byzanz bis Duchamp, hg. v. Karl Möseneder, Berlin 1997, S. 119–140, hier 123–126.

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culata mit der hl. Anna (oder umgekehrt) und ist von ihm eigenständig um das Motiv des Tötens der Schlange erweitert worden? Aus jeder dieser Möglichkeiten ließen sich Gründe für die Ablehnung ableiten, gleichwohl ist anzunehmen, daß bezüglich der Ikonographie Absprachen zwischen der Confraternita und Caravaggio getroffen wurden, wenn dieser nicht überhaupt vorab Zeichnungen einzureichen hatte, mittels derer ein Konsens für die Anzahl der Figuren und der grundsätzlichen Interpretation des Glaubenssatzes gefunden wurde.222 So bleibt als dritter möglicher Grund für die Ablehnung des Gemäldes der Aspekt des Dekorums. Darauf, daß dies tatsächlich der entscheidende war, gibt eine Bemerkung von Gian Pietro Bellori in seinen 1672 publizierten Viten den Hinweis. Er schreibt zunächst mit Bezug auf Caravaggios für S. Maria della Scala bestimmtes Altarbild mit dem „Tod Mariens“ (Abb. 4): „Per li quali modi il Caravaggio incontrò dispiaceri, essendogli tolti li quadri da gli altari, come in San Luigi abbiamo raccontato. La medesima sorte ebbe il Transito della Madonna nella Chiesa della Scala, rimosso per avervi troppo imitato una Donna morta gonfia. L’altro quadro di Santa Anna fu tolto ancora da uno de’ minori altari della Basilica Vaticana, ritratti in esso vilmente la Vergine con Giesú fanciullo ignudo, come si vede nella Villa Borghese.“ „Für diese Vorgehensweise erntete Caravaggio Mißfallen, und seine Gemälde wurden von den Altären beseitigt, wie wir es mit Bezug auf San Luigi erzählt haben. Dasselbe Schicksal hatte der Tod der Muttergottes in der Chiesa della Scala, der entfernt wurde, weil Caravaggio zu getreu den aufgedunsenen Körper einer Toten nachgeahmt hatte. Ein anderes Gemälde mit der heiligen Anna wurde von einem der Nebenaltäre der Vatikanischen Basilika beseitigt, weil darauf in niederträchtiger Weise die Jungfrau und der nackte Jesusknabe porträtiert sind, wie man in der Villa Borghese sieht.“223

Belloris Sätze sind aufgrund der historischen Distanz von mehr als einer Generation – er verfaßte die Caravaggio-Vita in den frühen 1640er Jahren –224 zwar nicht als sichere Quelle zu werten, doch erscheint es mir nahezu ausgeschlossen, daß er Problempunkte an dem Bild formulierte, die Caravaggios Zeitgenossen nicht als solche wahrgenommen und verbalisiert haben. Tatsächlich ist es der überdeutliche Modellbezug, den Bellori implizit als Grund für die 222  Daß Caravaggio dies laut Verträgen für Altarbilder zu tun hatte und in einem Fall auch nachweislich tat, hat Maurizio Calvesi gezeigt, siehe Anm. 107. 223  Bellori, Vita di Michelangeio/Das Leben des Michelangelo, Göttingen 2018, S. 58 f. (Hervorh. V.v.R.). Giovanni Baglione berichtet in seinen Viten von 1642 ebenfalls vom Abtransport, nennt aber keine Gründe: „fece anch’egli (Caravaggio) in s. Pietro Vaticano una s. Anna con la Madonna, che ha il Putto tra le sue gambe, che con il piede schhiaccia la teste ad un serpe, opera di lui condotta per li palafrenieri di palazzo; ma fu levata d’ordine de’ Signori Cardinali della fabbrica, e poi da’ Palafrenieri donata al cardinale Scipione Borghese“. (Bd. 1, S. 137 f.). 224  Siehe meine Einleitung, Anm. 22.

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Entfernung des Bildes angibt, wenn er schreibt, daß Caravaggio die Jungfrau Maria und den (nackten) Jesusknaben „grob porträtiert“ (ritratti […] vilmente) habe. Dem von ihm benutzten Begriff ritratto ist der unmittelbare Bezug zum Vorbild inhärent, und er wurde im Sprachgebrauch der zeitgenössischen Traktate in kalkuliertem Gegensatz zum imitare, dem die Semantik des verbessernden oder idealisierenden Nachahmens zu eigen ist, verwendet.225 Es ist durchaus anzunehmen, daß Bellori hier Selbstverständlichkeiten des Bilddiskurses seiner Zeit und insbesondere der Jahre um 1600 zum Ausdruck bringt. Denn in der bildtheologischen Literatur der nachtridentinischen Zeit, vor allem in den Schriften von Johannes Molanus, Carlo Borromeo und Gabriele Paleotti, gilt die Arbeit mit Modellen, die vom Betrachter wiedererkannt werden konnten, oder auch der concubina des Malers als „lasziv“ und daher unbedingt zu meiden.226 Daß die römischen Jesuiten um 1590 Scipione Pulzones „Pala degli Angeli“ für einen Seitenaltar in ihrer Hauptkirche höchstwahrscheinlich unter Verweis auf die Wiedererkennbarkeit der Modelle abgelehnt hatten,227 wird kurz nach der Jahrhundertwende noch im kollektiven Bewußtsein des 225  Siehe hierfür Rudolf Preimesberger, in: Porträt (Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren. Bd. 2), hg. v. dems., Hannah Baader, Nicola Suthor, Berlin 1999, S. 279–282. Für das kaum gebräuchliche Adverb „vilmente“ verzeichnet das Grande dizionario della lingua italiana, hg. v. Salvatore Battaglia & Giorgio Barberi Squarotti,, Bd. 21, Turin 2002, S.  877: „In modo da denotare codardia, pavidità […] d’animo“ (zu übersetzen mit „Feigheit“, „Furchtsamkeit“) sowie „in modo grossolano, rozzo […] con atteggiamento dimesso, umile“. Es ist also deutlich negativ perspektiviert. Ich danke Cecilia Mazzetti di ­Pietralata für diesbezügliche Hinweise. 226  Molanus, De picturis et imaginibus sacris 1570, fol. 61v.; ich zitiere nach der späteren Edition, die unter dem Titel „De historia sanctarum SS. Imaginum et picturarum pro vero earum usu contra abusus“ 1617 in Antwerpen erschien (Nachdr. Paris 1996), S. 128 (Buch 2, Kap. 37): „Visae quandoque sunt in locis vbi non decuit Diuorum imagines, viuentium adhuc hominum ora vultusque referre, vt hoc vmbraico velamento illorum quos amabant effigie pascerent oculos. Hic fucus eliminari prohiberique debet, velut pestiferum illecebrosae cogitationis irramentum. Nam adhunc modum imaginibus abuti nefarium est“ (für eine franz. Übers. siehe Molanus, traité des saintes imagiges, eingel., übers. & komm. v. Francois Boespflug, Olivier Christin u. a., Paris 1996, Bd. 1, S. 228 f.). Borromeo, Instructiones fabricae, Bd. 1, Kap. 17, S. 71: „In illis autem sicut Sancti, cuius imago exprimenda est, similitudo, quoad eius fieri potest, referenda est, ita cautio sit, ut ne alterius homonis viventis, vel mortui effigies de industria repraesentetur“. Für eine von vielen zahlreichen Invektiven gegen die Maler, die ihre Geliebten als Modelle nehmen, siehe Paleotti, De imaginibus sacris et profanis 1594, Buch II, Kap. 33, S. 231; ders., Discorso intorno alle immagini, Buch II, Kap. 21 und 23, hg. v. Stefano Della Torre, Città del Vaticano 2002, S.  156–158 und 160–163; vgl. Christian Hecht, Katholische Bildertheologie im Zeitalter von Gegenreformation und Barock: Studien zu den Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen Autoren, Berlin 1997, S. 274. Wie alt dieses Thema ist, zeigt sich an Savonarolas Beschwerde darüber, daß er auf den Kirchenaltären seiner Stadt junge Stadtschönheiten als Muttergottes oder Maria Magdalena wiederfände. Siehe hierfür André Chastel, Art et humanisme à Florence au temps de Laurent le Magnifique: études sur la Renaissance et l’Humanisme platonicien, Paris 1959, S. 398 f.; gleichwohl scheint es erst im verschärften Klima der nachtridentinischen Zeit zu einem Problem stilisiert worden zu sein. 227  Siehe meine Einleitung, Anm. 50.

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Publikums von Caravaggios Bildern gewesen sein. Wahrscheinlich war sogar unmittelbar zuvor bereits sein „Marientod“ exakt deswegen von den Karmelitern von S. Maria della Scala kritisiert und schlußendlich abgelehnt worden, da man in der aufgebahrten Jungfrau eine stadtbekannte Frau wiederzuerkennen glaubte. In diesem Fall wissen wir durch Giulio Mancinis zeitgleichen Bericht, daß dies tatsächlich der Hauptkritikpunkt an dem Gemälde war.228 Andreas Prater hat darüber hinaus in anderem Zusammenhang auf den wenig bekannten Sachverhalt hingewiesen, daß es in Rom um 1600 überhaupt ungehörig war, weibliche Modelle zu nutzen –229 ganz abgesehen von der Frage, ob dieses Modellstudium noch im ausgeführten Gemälde zu erkennen war. So erließ die Accademia di San Luca im Jahre 1609 ein Verbot, nackte und bekleidete (!) weibliche Modelle zu verwenden und ahndete entsprechende Vergehen mit der hohen Strafe von zehn scudi. Unabhängig von der Frage, wie genau sich die Maler daran gehalten haben, zeigt dies doch, wie spektakulär und gleicher­ maßen problematisch ein Werk wie die „Madonna dei Palafrenieri“ auf seine Zeitgenossen gewirkt haben muß. Was Bellori nicht anspricht, ist die Nacktheit des Kindes und das pikante Detail der betonten Weiblichkeit Mariens durch das Motiv des nachlässig verrutschten Mieders. Ließe sich erstere zwar mit der unschuldigen Nacktheit des Christuskindes grundsätzlich begründen,230 so ließen die Praktiken der ‚Säuberung‘ der Kirchenräume von lasziven Werken und eine Fülle expliziter Verdikte gegen nackte Sebastians- und Magdalena-Darstellungen oder auch die Übermalungen von Michelangelos „Jüngstem Gericht“ in der Cappella Sistina hier doch wenig Interpretationsspielraum.231 Camillo Borghese hatte bezeichnenderweise als römischer Kardinalvikar etwa eineinhalb Jahre vor seiner Wahl zum Papst im November 1603 ein Edikt erlassen, das obszönen und vulgären Heiligendarstellungen in Kirchenräumen Einhalt gebieten wollte.232 Daß eine besondere Sensibilität gerade bei Darstellungen der Jungfrau Maria vorhanden war, ist mit Sicherheit anzunehmen. Mit solchen pointierten Durchbrechungen des Dekorums, sowohl was die Nacktheit der Figuren als auch was die Abhängigkeit von den Modellen angeht, mußte Caravaggios Bildstrategie der Vergegenwärtigung qua ‚Verkörperung‘ scheitern. Im religiösen Kontext konnte das Gemälde nicht akzeptiert werden, 228  Siehe hierfür Kap. III.2.2. Leider wissen wir nicht, ob der „Marientod“ bereits Ende 1605 oder erst 1606 fertiggestellt war (siehe dazu Loire, École italienne 2006, S. 61). Es ist also ebenfalls durchaus möglich, daß sich die Ablehnung des Bildes nach der Entfernung der „Pala dei Palafrenieri“ ereignete. 229  Andreas Prater, Im Spiegel der Venus: Velázquez und die Kunst, einen Akt zu malen, München 2002, S. 56 f. 230 Zur Diskursivierung der Nacktheit des Christusknaben in zeitgenössischen theologischen Schriften siehe Straughan, Hidden Artifice 1998, S. 191 f., sowie mein Kap. II.6.1. 231  Siehe hierzu unten Kap. II.7 und III.2.3. 232  Alessandro Zuccari, Arte e committenza nella Roma di Caravaggio, Turin 1984, S. 19.

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und es ist kaum vorstellbar, daß Caravaggio dies nicht bewußt gewesen ist. Wie sehr er die Ablehnung des Werks einkalkulierte oder sogar von vornherein auf dieselbe hin arbeitete – so die These von Carolyn Straughan –233, muß dahingestellt bleiben. Mit dem Verkauf der Pala an Scipione Borghese fand diese einen ihr adäquateren Ort. Sie bildete den Grundstock der umfangreichen Sammlung der Werke des Malers, die der Kardinalnepot, der sich im Sommer 1605 in Rom niedergelassen hatte, in den folgenden Jahren erwerben konnte.234 Dabei gelang Borghese auch der Erwerb des wahrscheinlich ebenfalls als Altarbild konzipierten Trinitäts-Gemäldes, das der Verfasser des Inventars seiner Sammlung einige Jahre später mit signifikanten Formulierungen beschreiben wird: „un quadro d’un vecchio e d’un giovane, con una colomba sotto […] capriccio del Caravaggio, col quale ha voluto esprimere la Trinità“. „ein Gemälde mit einem Alten und einem Jungen und einer Taube darunter […], ein capriccio Caravaggios, mit dem er die Trinität hat ausdrücken wollen“.235

Neapel ist nicht Rom, das Zentrum der katholischen Reform, und die Kirche der neapolitanischen Bruderschaft der Minoriten, S. Maria della Stella, ist nicht St. Peter. Dennoch ist es unter dem Gesichtspunkt der Frage nach der Angemessenheit performativer Bildstrukturen und ihrer Rezeption sinnvoll, Caravaggios „Madonna dei Palafrenieri“ mit Battistello Caracciolos „Immacolata Concezione“ für die genannte Kirche in Neapel (Abb. 65)236 zu vergleichen. Was der junge neapolitanische Maler in seinem wohl ersten Altarbild schuf und selbstbewußt mit „Io: Batta Caracciolus / F“ signierte, ist ein veritables tableau der Immacolata Concezione: Die Jungfrau Maria steht auf dem Kopf 233  Straughan, Hidden Artifice 1998, S. 287–327, auch S. 276: „I maintain that Caravaggio may have been aware that his painting was destined for a private client, and that its brief installation in New St. Peter’s was intended to increase publicity for the work.“ Und über die Interessen von Scipione Borghese heißt es: „Scipione Borghese purchased the Madonna of the Serpent less than a year after his election as cardinal during a period when he was still in the process of consolidating his power and position. He may well have wanted to draw attention to his new art collection by purchasing, as a conversation piece, a notorious painting by a notorious painter“ (S. 315). Ich denke nicht, daß die Ereignisse derart kalkuliert geplant waren, wie dies Straughan vermutet, wenn sie sogar postuliert, Papst Paul V. habe die ihm zugedachte Rolle der Ablehnung erfüllt, damit sein Neffe das Werk erwerben konnte. 234  Das Bild kam zunächst in den Palast von Scipione Borghese. Erstmalig beschrieben wird es dort im Inventar vom 7.4.1693. Borgheses Sammlung wuchs wesentlich durch die Konfiszierung der Bilder im Besitz des Cavalier d’Arpino, wodurch Caravaggios „Kranker Bacchus“ und der „Fruttaiuolo“ an Scipione Borghese gelangten. Etwa zeitgleich mit der „Madonna dei Palafrenieri“ erwarb er den „hl. Hieronymos“, bei dem es sich wahrscheinlich um ein Auftragswerk handelt (siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 73, S. 504; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 47, S. 496 f.). 235  Siehe hierfür oben, S. 20. 236  Für alle Daten siehe oben, Anm. 204.

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eines gewaltigen Drachens, und Gottvater hat ihre rechte Hand fest ergriffen, um ihr so Halt zu bieten. Gemeint ist hier offensichtlich eine Darstellung der Himmelfahrt Mariens, die in der Bildtradition häufig mit der Immaculata verbunden wird.237 Knabenhafte Engel mit kleinen dunklen Flügeln halten die großen marianischen Symbole, Spiegel, Lilie und dornenlose Rosen in der Hand, ein aufrecht stehendes Skelett – Symbol des Triumphes über den Tod – und der Urmensch Adam mit einem Apfel in der Hand runden das ‚Spektakel‘ ab, auf das die beiden Heiligen in Halbfigur, Dominicus und Franziskus von Paola, die in einer Raumschicht davor situiert sind, hinweisen. Es ist der neapolitanische Kunsthistoriker Bernardo De Dominici, der das Gemälde in seiner 1743 publizierten Vita des Malers signifikant beschreiben wird: „il quadro ove si vede l’Eterno Padre in atto di formare l’Immaculata Concezione, la quale posa sul dragone […]“ „ein Gemälde, in dem man den Ewigen Vater sieht, im Akt des Schaffens der unbefleckten Empfängnis, die auf einem Drachen steht.“238

Von einer Kritik an der Darstellungsweise der Pala ist nichts bekannt, und ihr Verbleib in der Kirche, ja sogar ihr zu unbekanntem Zeitpunkt erfolgter Transfer auf den Hochaltar spricht für die grundsätzliche Wertschätzung des Gemäldes – und dies, obwohl es für eine derartige Darstellungsform der Immaculata keine Vorbilder gibt, und der Seheindruck für die Zeitgenossen folglich spektakulär gewesen sein muß.239 Bei aller Vorsicht vor diesbezüg­ lichen Schlußfolgerungen – tatsächlich ist mir darüber hinaus keine Ablehnung eines Altargemäldes in Neapel in dieser Zeit bekannt –,240 lassen sich doch zwei Gründe anführen, warum dieses Werk anders als Caravaggios „Madonna dei Palafrenieri“ für geeignet erachtet wurde, ein abstraktes Theologumenon zu ver­gegenwärtigen: Der Modellbezug beschränkt sich auf die Engel, wohin237  Siehe: Una donna vestita di sole: l’Immacolata Concezione nelle opere dei grandi maestri (Ausst.-Kat. Città del Vaticano, Museo del Braccio Nuovo 2005), hg. v. Giovanni Morello, Vincenzo Francia u. a., Mailand 2005; Suzanne L. Stratton, The Immaculate Conception in Spanish Art, New York 1994. 238  Bernardo De Dominici, Vite de’ Pittori, scultori ed architetti napoletani, hg. u. komm. v. Fiorella Sricchia Santoro & Andrea Zezza, Neapel 2003, Bd. 1, S. 985 (Hervorh. V.v.R.). Seine Phantasie wurde durch das Gemälde doch etwas zu lebhaft angeregt, wenn er dem Drachen im folgenden Relativsatz sieben Köpfe zuschreibt. De Dominici ist bezüglich der Mitsprache der Modelle im Bild im übrigen sehr sensibel. Er kritisiert mehrere Werke Caracciolos dafür, daß ihr Personal wie „lavoratori de’ campi“ oder „facchini“ aussähen. 239  La Madonna nella pittura del ’600 a Napoli (Ausst.-Kat. Napoli 1954), hg. v. Raffaello Causa, Neapel 1954, S. 14. 240  Gleichfalls ist ja auch vorauszusetzen, daß die Auftragsvergabe insbesondere an einen so jungen Maler auf der Grundlage von zeichnerischen Entwürfen erfolgte. Daß Caracciolo, der auch im Medium des Freskos arbeitete, viel gezeichnet hat, ist bekannt. Für das Problem, ob auch Caravaggio für die Auftragsvergabe Zeichnungen einreichen mußte – was für die Frage der Ablehnung seiner Werke ja nicht unwichtig ist –, siehe unten.

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67 Cecco del Caravaggio, Schutzengel mit den Heiligen Ursula und Thomas, Madrid, Museo del Prado

gegen die Protagonisten Maria und Gottvater eher idealisierte Gesichtszüge aufweisen. Weiterhin gibt es keine kalkuliert indezenten Motive etwa durch forcierte Entblößungen; so bedeckt die Immaculata ihre ohnehin verhüllte Brust zusätzlich durch ihre Hand im Gestus der humilitas. Den Problemkomplex der Angemessenheit performativer Strukturen in Altarbildern abschließend, seien noch zwei Gemälde von Francesco Boneri angeführt. Diesen Maler mit dem Spitznamen „Cecco del Caravaggio“ hat die Forschung eher als Modell für Caravaggios „Amor“ in Berlin (Abb. 14) und „Johannes“ im Kapitol (Abb. 1) denn als Maler wahrgenommen. Vermutlich schuf Boneri überhaupt nur zwei Werke für sakrale Räume: einen „Schutzengel mit den Heiligen Ursula und Thomas“ im Prado (Abb. 67) und eine monumentale „Auferstehung Christi“, die heute in Chicago aufbewahrt wird (Abb. 68). Das schmale Hochformat des „Angelo custode“ weist eine horizontale Zweiteilung auf.241 Auf Bodenniveau knien die beiden Heiligen und blicken nach 241  208 × 106 cm; Madrid, Museo del Prado; siehe Papi, Cecco 2001, S. 60, Tafel IV.; für diesen Maler siehe unten Kap. II.5.5.

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links aus dem Bildfeld heraus, wobei die schmutzige Fußsohle des hl. Thomas ein ebenso kalkuliert indezentes Motiv ist wie der nach unten ‚verrutschte‘ und so die Brust der Heiligen eher betonende denn verdeckende humilitas-Gestus Ursulas. Über ihnen kniet vor einer Felsabbreviatur ein großer Schutzengel mit dunklen Flügeln, der die neben ihm kauernde „christliche Seele“ schutzbietend um die Schulter greift. Deren Abhängigkeit von einem etwas beleibten Knaben ist so wenig negiert, wie die Artifizialität der gesamten Komposition forciert ist. Sie erzeugt den Eindruck der Nachstellung eines Figurentableaus auf engstem Raum, in die schaurige Details wie die pseudo-naturalistische Durchbohrung der Kehle Ursulas eingeflochten sind, und bezeichnenderweise unterliegt die Darstellung der erhöht positionierten Figurengruppe mit dem „Angelo custode“ und der christlichen Seele keiner perspektivischen Verkürzung. Der Bestimmungsort des Gemäldes ist unbekannt, und unklar ist auch, ob der heutige Zustand des Werks der ursprüngliche ist. Denn das steile Hochformat und die Wendung aller Figuren aus dem Bild lassen vermuten, daß es beschnitten wurde oder zumindest einst über ein Pendant verfügte. Wesentlich besser informiert sind wir über das Schicksal von Ceccos „Auferstehung“ von 1619/20, die sich in einem tiefschwarzen Bühnenraum abspielt (Abb. 68).242 Auch hier ist der mit einem kunstvoll geknoteten Lendenschurz bekleidete und krasse Schlagschatten werfende auferstehende Christus ohne jede Verkürzung dargestellt. Er kniet auf zwei Wolken und hält ein an eine Prozessionsfahne gemahnendes besticktes Banner in der Hand, das noch nicht einmal den Anschein von Bewegtheit vermittelt. Soldaten mit Phantasie­ uniformen und fabelhaften Kopfbedeckungen in eigentümlichen Haltungen bevölkern die Szenerie auf dem Boden – der Soldat links vorn scheint sich gar wegschleichen zu wollen –, während ein Engel die Grabplatte emporhebt, den Betrachter mit seinem Blick aus dem Bild adressiert und mit dem gehobenen Zeigefinger seiner Linken in die falsche Richtung weist. „Non havendo hauto (sic!) sodisfatione d’essa“, „Es hat niemandem gefallen“ vermerken die Dokumente lapidar.243 Selbst einem Auftraggeber wie dem Botschafter der Medici am päpstlichen Stuhl, Piero Guicciardini, der beabsichtigt hatte, in seiner Familienkapelle im Chor von S. Felicita in Florenz die führenden ‚Caravaggisten‘ Roms für drei Werke zu gewinnen,244 ging dieses ‚­spettacolo‘, das 242  339 × 199,5 cm; 1619/20; Chicago, Art Institute; Siehe Papi, Cecco 2001, Nr. 16, S. 132– 135. 243  Zit. nach Valentina Fallani, Piero Guicciardini, il Cigoli, Gherardo Silvani e nuovi documenti sulla cappella Maggiore della chiesa di Santa Felicita di Firenze, in: Altari e committenza: episodi a Firenze nell’età della Controriforma, hg. v. Cristina De Benedictis, Florenz 1996, S. 173–191, hier 186. 244  Papi, Cecco 2001, S. 29 und 133–135; ders., Nuove considerazioni sul naturalismo caravaggesco a Firenze, in: Artemisia (Ausst.-Kat. Firenze, Casa Buonarroti/Roma, Complesso

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vermutlich von ­Caravaggios in seicentesken Quellen als „stravaganza“ und „bizzaria“ bezeichneter, leider verlorener „Auferstehung Christi“ in S. Anna dei Lombardi in Neapel inspiriert war,245 offensichtlich zu weit. Aber einmal mehr fand sich sogleich ein williger Abnehmer, der das Gemälde, bevor es überhaupt nach Florenz gelangte, erwarb, und dieser Sammler hatte eine unübersehbare Vorliebe für performativ strukturierte Bilder: es war der Kardinal Scipione Borghese.246

3.2 Eine Heilige in Pose. Caravaggios „Katharina von Alexandrien“ Der Transfer von Caravaggios „Madonna dei Palafrenieri“ (Abb. 50) und Ceccos „Auferstehung Christi“ (Abb. 68) in Bildersammlungen ist vor der Folie der beobachteten Bildstrukturen bedeutsam und wirft die Frage nach den in diesem Kontext geltenden Rezeptionsbedingungen auf. Was auch immer die Gründe für die Beseitigung von Caravaggios Pala aus St. Peter waren – die Zahl seiner Gemälde für den Kirchenraum, die ein ähnliches Schicksal hatten, nämlich das erste Altarbild für die Contarelli-Kapelle (Abb. 5), die „Bekehrung Sauli“ für die Cerasi-Kapelle, der „Marientod“ (Abb. 4) und eben die „Madonna dei Palafrenieri“ (Abb. 50), macht eines in jedem Fall deutlich: Erst in privaten Sammlungen trafen diese Gemälde auf den ihnen adäquaten Rezeptionskontext und das entsprechende Dekorum. Aber wie sahen diese konkret aus? Wurden die dekontextualisierten Altarbilder in der Sammlung nun ausschließlich ästhetisch goutiert, also unabhängig von der thematischen Vorgabe als ‚Meisterwerke‘ ihres Schöpfers betrachtet? Sicherlich nicht. Die Situation des religiösen Bildes im profanen Kontext der privaten Sammlung um und nach 1600 ist komplexer. Sie zu rekonstruieren ist Thema der beiden folgenden Abschnitte sowie der anschließenden Ausführungen zur Ambi­ guität im religiösen Galeriebild (Kap. II). di S. Michele a Ripa 1991), hg. v. Roberto Contini & Gianni Papi, Rom 1991, S. 197–211. Mit diesem von der Forschung m. W. nicht beachteten Plan Guicciardinis, den aktuellen ‚Caravaggismus‘ in Florenz einzuführen, indem er bei Spadarino, Honthorst und eben Cecco Werke in Auftrag gab, möchte ich mich an anderem Ort näher beschäftigen. Ceccos Werk gelangte zu unbekanntem Zeitpunkt wahrscheinlich in den Besitz der Familie Barberini. 245  Für das Gemälde, das sich auf dem Hochaltar der Kirche befand und beim Erdbeben 1798 zerstört wurde, siehe Marini 2005, Nr. P-28, S. 582 f. Die Zitate stammen aus Luigi P. Scaramuccia, Le finezze de pennelli italiani, ammirate, e studiate da Girupeno …, Pavia 1674, S. 75. Bernardo De Dominici schreibt in seinem Vitenwerk von 1742 über das Gemälde: „idea bassa, ed indescente al rappresentato“ (zitiert nach Marini 2005, S. 582). 246  Papi, Cecco 2001, S. 135. Das Inventar, das das Bild verzeichnet, hat Sandro Corradini, Un antico inventario della quadreria del Cardinale Borghese, in: Bernini scultore. La nascita del Barocco in casa Borghese (Ausst.-Kat. Roma, Galleria Borghese 1998), hg. v. Anna Coliva & Sebastian Schütze, Rom 1998, S. 449–456, hier 452, publiziert („Nr. 115: Un quadro della Resurettione, alto 14 largo 7 3/4, Cecco del Caravaggio“).

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Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes

68  Cecco del Caravaggio, Auferstehung Christi, Chicago, Art Institute

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Dafür ist es sinnvoll, den Blick auf solche Werke mit religiösem Sujet zu richten, die von vornherein für private Sammlungen gedacht waren, denn es ist ja anzunehmen, daß die postulierten Rezeptionsbedingungen in der Galerie ihre Bildsprache konditionierten. Für das Thema des Rollenspiels und der Pose bieten sich zwei Werke Caravaggios an: die „Hl. Maria Magdalena“ in der Galleria Doria Pamphilj (Abb. 47)247 und die „Hl. Katharina von Alexandrien“ in der Sammlung Thyssen-Bornemisza, Madrid (Abb. 3).248 Mit Entstehungsdaten um 1595 und 1597/98 gehören sie zu den frühesten religiösen Gemälden des Malers. Beide zeigen die Heiligen als einzelne Ganzfiguren in leichter Unterlebensgröße. Sie befinden sich jeweils in einem dunklen, nicht näher charakterisierten Raum vor dunkelbraunem Hintergrund. Magdalena sitzt offenbar auf einem Hocker und ist in Aufsicht gezeigt, Katharina kniet auf einem großen Kissen und ist in leichter Untersicht zu sehen. Der Affektzustand der beiden Heiligen ist gänzlich verschieden: Magdalena ist in sich gekehrt und trauert still mit geschlossenen Augen, wobei ihr eine Träne die Wange herabläuft, Katharina posiert ohne erkennbare Gemütsregung auf einem roten Kissen und blickt mit weit geöffneten Augen ernst auf ihren externen Betrachter. Es ist dieses Moment der ostentativen Pose, das das Katharinenbild von der „Magdalena-Pamphilj“ unterscheidet. In der Forschung löste es Irritationen aus, die wohl dazu führten, daß dem Gemälde vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Es stammt aus der Sammlung von Caravaggios frühem Förderer, dem Kardinal Francesco Maria del Monte, in dessen Sammlungsinventar von 1627 es als „Una Caterina della Ruota“ in der „Gallaria Piccola, che va sula loggia“, in der „Kleine[n] Galerie, die zur Loggia führt“249 verzeichnet ist.

247  122,5 × 98,5 cm; Rom, Galleria Doria Pamphilj; Marini, Caravaggio 2005, Nr. 21, S. 404– 406; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 53, S. 510–512; für das Gemälde werden von der Forschung Entstehungsdaten zwischen 1593 und 1599 genannt; überwiegend wird es um 1595 datiert. 248  173 × 133 cm; Madrid, Sammlung Thyssen-Bornemisza; Marini, Caravaggio 2005, Nr. 27, S. 418–419; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 7, S. 418–420. Caravaggio (Ausst.-Kat. Madrid, Museo de Prado/Bilbao, Museo de Bellas Artes 1999/2000), hg. v. Claudio Strinati & Rossella Vodret, Madrid 1999, S. 98–101; Mina Gregori, in: Age of Caravaggio 1985, Nr. 72, S. 246–250. Zum Aspekt der Pose der Katharina und ihrer Implikationen für die suggerierte Entstehung des Gemäldes siehe auch bereits meinen Aufsatz Arbeiten am Image 2006. 249  Inventar vom 21.2.1627; zit. nach Christoph L. Frommel, Caravaggios Frühwerk und der Kardinal Francesco Maria del Monte, in: Storia dell’arte 9/10 (1971), S. 5–52, hier 35. Bellori bezeichnet sie als „Santa Caterina ginocchione appoggiata alla rota“ (Bellori, Le Vite, S. 216 f.) Das Bild gelangte mit weiteren Werken Caravaggios 1628 in Besitz der Familie Barberini. Im Inventar der Sammlung von Antonio Barberini vom April 1644 ist es verzeichnet als: „Un quadro grande, con una S. ta Caterina inginocchione apoggiata alla ruota, di mano del detto (d.i. Caravaggio), con cornice nera rabescata d’oro“ (zitiert nach Marilyn Aronberg Lavin, Seven­ teenth Century Barberini Documents and Inventories of Art, New York 1975, S. 157–188, 167 [Nr. 261]).

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Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes

Die hl. Katharina lebte im frühen vierten Jahrhundert und wird zu den 14 Nothelfern der Kirche sowie, gemeinsam mit der hl. Barbara und der hl. Margareta von Antiochien, zu den Virgines Capitales gezählt.250 Nachdem ihr die Madonna mehrfach erschienen war, konvertierte die alexandrinische Königstochter zum Christentum und bekehrte einige Gelehrte der Gefolgschaft des römischen Königs Maxentius, der sie daraufhin hinrichten lassen wollte. Mehrere Tötungsversuche schlugen fehl, so auch die Folter mit einem gezähnten Rad, das auf die Anrufung Gottvaters durch Katharina zerbarst; den Tod erlitt die Märtyrerin wenig später durch Enthauptung. Caravaggio setzt die Heilige auf einem Kissen kniend in weitgehend frontaler Ausrichtung auf den Betrachter ins Bild, wobei sie sich auf die Achse eines sehr großen Holzrades mit Zacken stützt. Sie trägt ein Samtkleid über einer weißen Bluse und hält einen äußerst langen Degen251 in der Linken, den sie mit dem Zeigefinger und Daumen der rechten Hand sanft berührt. Auf ihrem Kissen liegt ein Palmwedel, der von der unteren Bildkante leicht überschnitten wird. Ein großes besticktes Tuch, das sich bis in die Raumtiefe erstreckt, ist hinter ihr ausgebreitet. Wie oft vermerkt wurde, wollte Caravaggio mit der Kostbarkeit der Gewandung wohl auf Katharinas königliche Herkunft anspielen, doch unterscheidet sich ihr Kleid durchaus von den perlenbesetzten, ungleich kostbareren Gewändern, welche die Heiligen in der Bildtradition für gewöhnlich tragen.252 Katharinas Haare sind an den Seiten zurückgesteckt und leicht derangiert. Ihr fehlt die Krone, die Gabriele Paleotti in seinem „Discorso intorno alle imagini“ von 1582 für unabdingbar erachtet253 und welche die Heiligen in der Bildtradition auch überwiegend tragen oder zumindest in der Hand halten. Die Lichtquelle ist rechts oberhalb des Bildes zu denken – ein Novum in Caravaggios Werken –, und sie leuchtet Gesicht und Dekolleté der Figur gleichmäßig aus. 250  Jacobus de Voragine, Die Legenda Aurea, hg. u. übers. v. Richard Benz,11Darmstadt 1996,

S. 917–927; P. Assion, s.v. Katharina von Alexandrien, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Ikonographie der Heiligen, Bd. 7, Rom u. a. 1974, S. 289–297; Roberto De Maio, Pittura e controriforma a Napoli, Bari 1982, S. 119 f. und 135, Nr. 72. 251  Desmond Macrae, Oberservations on the Sword in Caravaggio, in: The Burlington Magazine 106 (1964), S. 412–416, hier 416; Francesco Rossi, Caravaggio e le armi. Immagine descrittiva, valore segnico e valenza simbolica, in: Caravaggio. La luce 2001, S. 77–88, hier 77 f. Bezeichnenderweise ist es dasselbe Instrument, über das der Knabe in der „Wahrsagerin“ im Louvre verfügt. Vgl. die Bemerkung von Noh Seong-Doo, Übernahme und Rhetorik in der Kunst Caravaggios, Münster 1996 (Diss. Univ. Köln 1993), S. 45: „Die Länge des Degens […] ist so immens, daß sie fast das Sechseinhalbfache der Gesichtslänge oder das Fünfeinhalbfache der Kopflänge beträgt, d. h. ein Duellist müßte die Waffe in Brusthöhe angebunden mit sich führen.“ 252  Vgl. beispielsweise das Gemälde von Garofalo; siehe Anm. 266. 253  Gabriele Paleotti, Discorso intorno alle imagini sacre et profane, in: Trattati d’arte del Cinquecento fra manierismo e controriforma, hg. v. Paola Barocchi, Bd. 2, Bari 1961, S. 117– 509; hier 379 f.; vgl. Spike, Caravaggio 2001, S. 286, Anm. 246.

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Einige Elemente des Bildes lösen erhebliche Irritationen aus, die in der Literatur nur selten überhaupt vermerkt wurden.254 Sie betreffen vor allem die Gegenstände im Bild: Katharina verfügt zwar über die traditionellen Attribute der Heiligen, nämlich das gezähnte Rad, die Mordwaffe und den Palmwedel, jedoch sind diese ungewöhnlich groß, ja fast monumental im Verhältnis zur Figur ins Bild gesetzt. Folgerichtig hält die Heilige das Rad nicht in der Hand, es steht vielmehr neben ihr und dient ihr sogar als Lehne. Das irritierendste Moment im Gemälde ist sicherlich das falsche Marterinstrument, das Katharina in der rechten Hand hält und mit der linken sanft berührt. Es handelt sich definitiv nicht um ein Schwert, sondern um einen überlangen Degen,255 der zum Vorgang der Enthauptung kaum geeignet gewesen sein dürfte. Ferner ist der Palmwedel zu ihren Füßen vertrocknet, und das sie hinterfangende Tuch ist zumindest für ein Kleidungsstück viel zu groß. Auch in konzeptueller Hinsicht ist das Werk besonders. Katharina posiert mit den Gegenständen ihres Martyriums, die überdeutlich als benutzt gekennzeichnet sind: So ist das Rad gesprengt, einige Zacken sind herausgebrochen, der Degen ist blutbefleckt, und auf das bereits erfolgte Martyrium der Heiligen verweist auch der Palmzweig. Doch das Martyrium selbst ist nicht zu sehen. Im Gegenteil: Katharina zeigt sich uns lebendig und mit unversehrtem Leib, der keine Spuren durchlittener Qualen aufweist. Gerade im Vergleich mit dem Magdalenen-Bild werden die Implikationen dieser Bildauffassung deutlich: Dort ist, wenn man so will, eine Szene ins Bild gesetzt, die wir in der Vita der Heiligen annähernd verorten können. Wir sehen Magdalena im Zustand der Buße und Trauer über ihr sündiges Leben, der, wie wir wissen, zu ihrer Konversion führte. So hat das Gemälde die narrative Dimension eines „Einfigurenhistorienbildes“256, und es bietet dem Betrachter im Sinne von Albertis Historia-Begriff den Blick auf eine empirisch vorstellbare ­Wirklichkeit. Ganz anders die „Katharina“. Hier gibt es nicht einmal den Ansatz einer Narration, und das Bild ist ebenfalls nicht als Ausblick auf eine auch nur denkbare Wirklichkeit konstruiert. Der Raum, in dem Katharina mit benutzten Instrumenten, aber in körperlicher Integrität posieren könnte, ist allenfalls als 254  Ausnahmen sind Luigi Spezzaferro, La cultura del Cardinal del Monte e il primo tempo del Caravaggio, in: Storia dell’arte 9/10 (1971), S. 57–92, hier 88; Creighton E. Gilbert, Caravaggio and His Two Cardinals, University Park, PA 1995, S. 127 f.; König, Caravaggio 1997, S. 23 f.; auch Pichler, Il dubbio e il doppio 2008, S. 23. 255  Siehe oben, Anm. 251. 256  Die paradoxe, aber sinnvolle Formel hat Jennifer Montagu in ihrer unveröffentlichen Dissertation (Charles le Brun’s Conférence sur l’Expression Générale et Particulière, Masch. Diss. London 1959, S. 201) mit Bezug auf Denis Diderots Beschreibungen von Greuze’s Gemälden wie dem „Jungen Mädchen, das den Tod seines Vögelchens beweint“ (Ästhetische Schriften, hg. u. übers. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1, Nr. 110. S.  566–568) geprägt; vgl. hierzu Werner Busch, Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, Berlin 1985, S. 19 f.

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69  Giuseppe Cesari, Hl. Barbara, Rom, S. Maria in Traspontina

jenseitiger vorstellbar. Dieser unszenischen Struktur wegen steht das Bild in der Tradition jener ikonischen und für die Devotion bestimmten Heiligendarstellungen, die ihr Figurenpersonal meist in Halbfigur mit signifikanten, ihre Identifizierbarkeit leistenden Attributen und in mehr oder weniger streng frontaler Ausrichtung auf den Betrachter zeigen.257 Die Wahl dieses Typus erklärt das Urteil der Forschung, Caravaggios „Katharina“ sei „konventionell“.258 257  Vgl. Gilbert, Caravaggio 1995, S. 127f: „Catherine is perhaps the only pure icon by the artist, doing nothing. Unlike his Matthew, who might well have been such, as a single figure on an altar, she simply is there to be venerated while carrying a collection of attributes in almost comic quantity. Without emotion, she offers credentials of her sainthood like exhibits ready to be presented in a lawsuit. The combination in this case of the real and the ideal has been assigned by one critic to separate parts of the painting, the latter being limited to purely abstract space. This is traditionally iconic, as well as common in the young Caravaggio, while the objects have his special sensory intensity despite their implausible assemblage.“ 258  Held, Politik 1996, S. 65.

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70 Correggio, Hl. Katharina, Hampton Court, Royal Collection

Tatsächlich läßt sich in der religiösen Malerei der Zeit das Bemühen aus­machen, gerade in der Darstellung einzelner Heiliger das starre Schema einer posierenden Heiligenfigur mit einem Attribut in der Hand mittels Einfügungen szenischer Elemente zu beleben. So tritt in Giuseppe Cesaris etwa zeitgleich mit der „Katharina“ entstandener „Hl. Barbara“ in S. Maria in ­Traspontina (Abb. 69)259 und in Caravaggios Altarbild mit dem „Matthäus“ in S. Luigi dei Francesi (Abb. 5)260 jeweils ein Engel mit den Heiligen in Interaktion. In Cesaris Pala übergibt er der Protagonistin ein Tuch, in Caravaggios Altarbild argumentiert er mit dem sein Evangelium abfassenden Apostel, ja er scheint ihm dieses sogar zu diktieren. Hierdurch werden Ansätze einer Handlung in die originär unnarrativ strukturierten Darstellungen integriert. Das Moment der Pose der Heiligen ‚vor dem Betrachter‘ wird in Cesaris Altarbilder weiterhin dadurch abgemildert, daß Barbara ihren Blick auf den Engel und eben nicht auf den externen Betrachter richtet. Auch in einfigurigen, für den privaten Rezeptionskontext bestimmten Darstellungen lassen sich entsprechende Tendenzen ausmachen. So zeigt Correggio auf einem kleinformatigen Gemälde in Hampton Court (Abb. 70) die hl. Katharina in Halbfigur in die Lektüre eines Breviers versunken. Ihre Attribute – das Rad, auf das sie sich mit dem Unterarm stützt, und die Märtyrerpalme – sind stark fragmentiert und fallen überhaupt erst bei aufmerksamer 259  Für das Gemälde siehe Herwarth Röttgen, Il Cavalier Giuseppe Cesari D’Arpino: un grande pittore nello splendore della fama e nell’inconstanza della fortuna, Roma 2002, Nr. 70, S. 311 und 87 sowie unten Kap. III.2.4. 260  296,5 × 195 cm; Rom, S. Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 53, S. 466 f.; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 61C, S. 533–535.

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Betrachtung des Bildes ins Auge.261 Die Lektüre eines Breviers läßt sich zwar nicht als Handlung im eigentlichen Sinne bezeichnen – und sie ist kein in den Quellen belegtes Ereignis im Leben der hl. Katharina –, die Absicht dieser Bildinvention wird dennoch deutlich: Es geht um das Aufbrechen der starren Bildform des unszenischen Heiligenbildes in Halbfigur mittels Einfügung einer durchaus wahrscheinlichen Tätigkeit der Heiligen, die genrehaft ausgeschmückt wird. Del Monte besaß in seiner Sammlung mehrere Darstellungen der hl. Katharina, zu der er offensichtlich eine besondere Affinität hatte. Sie stammten von Annibale Carracci, Benvenuto da Garofalo und Padoanino (= Alessandro Varotari). Später erwarb er noch eine „Katharina“ von Guido Reni.262 Daß er der alexandrinischen Königstochter diese Wertschätzung zuerkannte, erklärt sich mit ihrer Bedeutung als Patronin der Gelehrten und Philosophen.263 Gerade im Hinblick auf Caravaggios konzeptuell ungewöhnliche, als ‚antiquiert‘ bewertete Komposition wäre es weiterführend zu erfahren, wie diese Werke aussahen. Leider hat sich aber weder von dem Gemälde Varotaris eine Spur erhalten,264 noch läßt Annibale Carraccis Figurenstudie auf einer in Windsor Castle aufbewahrten Zeichnung,265 die sich nicht einmal sicher mit dessen Gemälde für den Kardinal del Monte verbinden läßt, Rückschluß auf eine Komposition oder gar Bildkonzeption zu. Dies ist besonders bedauerlich, da es sich um del Montes einziges Werk von der Hand dieses Malers handelt, und ich halte es für möglich, daß die Gemälde von Carracci und Caravaggio daher in einem paragonalen Kontext entstanden – eine Situation also, in der die beiden ambitioniertesten der jungen Künstler in Rom wenige Jahre später in der Cappella Cerasi in S. Maria del Popolo arbeiteten. Möglicherweise ist zumindest eine im Landesmuseum in Oldenburg aufbewahrte „Hl. Katharina“ von Garofalo von 1529 (Abb. 71) als eine der Katharinen-Darstellungen del Montes zu identifizieren.266 261  64 × 52 cm; Hampton Court, Royal Collection; vgl. David Ekserdjian, Correggio, New Haven 1997, S. 172 f.; John Shearman, The Early Italian Pictures in the Collection of Her Majesty the Queen, Cambridge 1983, Nr. 73, S. 79 f. 262  Waźbiński, Il Cardinale 1994, S. 618 f.; Gilbert, Caravaggio 1995, S. 126, relativiert das Interesse des Kardinals an Katharina, das del Monte gehabt haben soll, durch seinen Nachweis, daß del Monte auch von anderen Heiligen mehrere Darstellungen besaß. Allerdings werden in seinem Inventar nur für die zahlreichen Katharina-Darstellungen die Künstlernamen vermerkt. 263  Cinotti, Caravaggio 1983, S. 419. 264  Für diesen Maler siehe Ugo Ruggeri, Il Padovanino, Soncino 1993. 265  Rudolf Wittkower, The Drawings of the Carracci in the Collection of Her Majesty the Queen at Windsor Castle, London 1952, S. 157, Nr. 433; vgl. Waźbiński, Il Cardinale 1994, S. 608. 266  Für eine solche hier vorgeschlagene Identifizierung sprechen die Maße. Das Oldenburger Gemälde mißt 61 × 40 cm (siehe hierfür Anna Maria Fioravanti Baraldi, Il Garofalo. Benvenuto Tisi. Pittore [c. 1476–1559]. Catalogo Generale, Ferrara 1993, Nr. 135, S. 205; Herbert

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71 Benvenuto da Garofalo, Hl. Katharina, Oldenburg, Landesmuseum

In konzeptueller Hinsicht bestehen zwischen Garofalos und Caravaggios Gemälde durchaus Ähnlichkeiten, denn auch Garofalo rekurriert auf die Bildform des unszenisch strukturierten ikonischen Heiligenbildes. Katharina steht in ganzer Figur und mit unversehrtem Körper an einen Sockel gelehnt ‚vor‘ dem Betrachter, blickt ihn an und weist mit dem Finger auf ein Stück des Rades, auf das sie sich mit der linken Hand, die zugleich Palme und Krone hält, stützt. Die geringen, aber in ihrer Wirkung markanten Unterschiede in konzeptueller Hinsicht zwischen Garofalos und Caravaggios Gemälde lassen die Besonderheiten des letzteren noch deutlicher werden. Da ist zum einen das forcierte Moment der Pose: Katharina steht nicht, sondern kniet vor dem Betrachter auf einem großen Kissen, wofür es m. W. in der Bildtradition keine Parallelen gibt. In Garofalos Gemälde sind die Attribute eindeutig attributiv gemeint und dienen der Charakterisierung der Heiligen; sie dominieren aber nicht die Bildwirkung. Die schiere, ja ‚hyperrealistische‘ Größe von Rad und Degen in Caravaggios Darstellung suggeriert hingegen zumindest auf den ersten Blick ihre Rolle in einem szenischen tableau einer Martyriumsdarstellung – eine SuggesWolfgang Keiser, Gemäldegalerie Oldenburg, München 21967, S.  40), del Montes Gemälde war dem Inventar zufolge 67 cm hoch. Die Abweichung von sechs Zentimetern liegt m. E. im Bereich des Möglichen, zumal das Inventar auch bei der Angabe von Caravaggios Gemälde un­genau ist. Für das Oldenburger Bild läßt sich die Provenienz nur bis 1869 zurückverfolgen (frdl. Auskunft von Axel Heinrich, Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg).

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tion, die aber mitnichten eingelöst wird, denn Katharina posiert ja lebendig auf ihrem Kissen; ihr Martyrium steht weder unmittelbar bevor noch hat es gerade stattgefunden. In Garofalos Darstellung leisten die einer Königstochter angemessene Architekturabbreviatur mit Doppelsäulen und der Ausblick in eine Landschaft eine gewisse Verortung der Heiligenfigur in Raum und Zeit. Was für den Eindruck ihrer Pose in Caravaggios Gemälde hingegen maßgeblich verantwortlich ist, ist das Arrangement des Modells in einem Innenraum, der einmal mehr das Künstler-Atelier oder einen anderen, nicht charakterisierten Innenraum assoziieren läßt. So wird uns suggeriert, hier habe eine junge Römerin mit achtlos von der Schulter rutschender Kleidung267 und nachlässiger Frisur Pose gestanden, wofür sie zuvor vom Künstler mit Kissen, Rad, Palme und Degen in dieser Weise arrangiert worden ist. Caravaggio forciert diesen Eindruck mittels verschiedener Details: durch das falsche Martyriumswerkzeug, mit dem er uns Glauben machen will, es wäre das einzige im Fundus des Ateliers vorhandene Requisit gewesen – tatsächlich nutzte der Maler ihn wohl auch für die kurz zuvor ausgeführte „Wahrsagerin“ im Louvre (Abb. 19) –268, ferner durch den etwas verzogenen Heiligenschein,269 den sein Vorbild nicht haben konnte, und durch die Palme zu Katharinas Füßen, die dem Betrachter die naiv-naturalistische Lesart aufdrängt, sie sei über der „Porträtsitzung“270 verdorrt. Was ist die Absicht dieser Bildstrategie? Zielt Caravaggio wiederum auf Evidenz und Vergegenwärtigung, wenn er statt einer Heiligen mit restituiertem Körper eine so ‚lebendig‘ anmutende Zeitgenossin ins Bild setzt? Es ist die Art und Weise der Verwendung des Schemas des ikonischen Heiligenbildes, die deutlich macht, wie spielerisch Caravaggio mit diesem Bildtypus umgeht, ja wie stark er ihn ironisch bricht.271 Denn durch die Suggestion, hier würde das genuin statische Schema des einfigurigen Heiligenbildes ‚aufgeführt‘, führt er dessen konstitutionelle Bedingungen ad absurdum. Daran haben neben der Pose eines porträthaft geschilderten Modells, dessen unversehrter Körper kaum an den restituierten Leib einer Märtyrerin denken läßt, und neben den genannten pseudorealistischen Details, wie dem Degen und der verdorrten Palme, einmal mehr gerade jene Elemente teil, die dem Eindruck der unmittelbaren Schilderung des vorgeblich vor der Leinwand erzeugten tableau vivants 267  Randolfi weist daraufhin, daß der Ausschnitt ihres Kleids zumindest für Normvorstellungen der ersten Jahrzehnte des Seicento deutlich zu groß sei (Randolfi, Manfredi 1995, S. 180). 268  Siehe oben, Anm. 251. 269  Letzteres vermerkt Seong-Doo, Übernahme 1996, S. 46 und liest es als „Demonstration der Freihändigkeit“, in der er wiederum eine Allusion auf die bekannten antiken Anekdoten bezüglich freihändig gezogener Linien sieht; dies erscheint mir überinterpretiert. 270 Vgl. Moirs Satz über die „Magdalena“: „Esso è quasi un ritratto“ (Moir, Caravaggio, 1982, S. 88). 271  Für das Moment des Ironischen bei Caravaggio und eine entsprechende Konzeptualisierung von Ironie siehe unten, Kap. II, Anm. 271.

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zuwiderlaufen.272 Nicht nur ist das Rad in der Verkürzung völlig verzeichnet, auch die Kraftlosigkeit, mit der Katharina den Degen hält, ist nicht plausibel. Ihr Unterkörper zeichnet sich nicht durch das Kleid ab, und die Pose der Heiligen ist äußerst instabil. Sie müßte eigentlich mitsamt dem Rad nach rechts kippen. Auch hier liegen also das Einnehmen und das Fallen aus der Rolle, das bereits das Equilibrium des „Bacchus“ (Abb. 22) bestimmte, dicht beieinander. Vor allem aber ist es der für den Urtyp des halbfigurigen Heiligenbildes, die Ikone, konstitutive Blick der Figur aus dem Bild,273 mit dem Caravaggio den Typus des Heiligenbildes ironisiert. Er gewinnt für die Besucher des Palazzo del Monte eine prekäre Note, die in der zu den Virgines Capitales gezählten Märtyrerin königlicher Abstammung eine stadtbekannte Kurtisane namens Fillide erkannten, von der der Freund del Montes, der Marchese Vincenzo Giustiniani, ein Porträt von der Hand Caravaggios besaß (Abb. 16).274

3.3 Die „Hl. Magdalena“ der Sammlung Pamphilj: „mezzo tra il devoto e profano“ Gern wüßte man, wie die zeitgenössischen Betrachter auf ein Gemälde wie die „Hl. Katharina“ reagiert haben. Sahen sie im Sinne von Johannes Molanus in der Wahrnehmung des Modells ‚in‘ der Figur und obendrein dieses Modells ein Dekorum-Problem? Oder sanktionierte der private Kontext solche Bildstrukturen? Wie relativ wurde die Kategorie des Dekorum ausgelegt?

272  Für den Mechanismus des Einnehmens und Fallens aus der Rolle und die konzeptuellen Implikationen der ‚Verzeichnungen‘ Caravaggios siehe oben das Kapitel I.1.5. Vgl. auch ­Pichler, Il dubbio (2007), S.  23: „Anche in questo esempio il naturalismo di Caravaggio ­acquista innanzitutto una particolare pregnanza o evidenza per il fatto di creare un contrasto tra l’autorità di ciò che ‚sta davanti agli occhi’ […] e l’appropriatezza del contenuto icono­ grafico […]. Non soltanto perché la persona raffigurata non può che fregiarsi in modo fittizio del nome di ‚Caterina‘, ma anche perché le è assegnata, come a ribadire ancora una volta il ­concetto, un’arma del tutto incoerente dal punto di vista iconografico“. 273  Vgl. König 1997, S. 24: „In der Geschichte des Heiligenbildes nehmen beide Gemälde (d.i. die Magdalena und die Katharina) eine bemerkenswerte Rolle ein. Vom Thema her handelt es sich eigentlich um Andachtsbilder, die nicht angebetet werden sollen, aber eine Vorstellung jener Gestalten geben, an die sich der Fromme wendet. Doch verweigert Magdalena dem Beter den Blickkontakt; und vor Katharina ist ein inniges Gebet nur schwer vorzustellen, weil sie den Betrachter zu unmittelbar, zu irdisch anblickt.“ 274  Zu diesem Gemälde, das wahrscheinlich von Fillide Melandronis Bewunderer, dem Protonotaro Giulio Strozzi in Auftrag gegeben wurde, siehe Silvia Danesi Squarzina, B ­ enedetto, Vincenzo, Andrea: Neue Forschungsergebnisse zur Geschichte der Sammlung Giustiniani, in: Caravaggio in Preußen (Ausst.-Kat. Roma, Palazzo Giustiniani/Berlin, Altes Museum 2001), hg. v. ders., Mailand 2001, S.  15–45, hier 31; Marini, Caravaggio 2005, Nr. 43, S.  451–453; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 2, S. 411 (66 × 53 cm; ca. 1600; ehem. Berlin, Kaiser Friedrich Museum, Kriegsverlust).

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Leider gibt es zur „Katharina“ keine verbalen und kaum bildliche Rezeptions­ zeugnisse.275 Mit letzteren meine ich Variationen des Gemäldes mit signifikanten Abweichungen im oben gesehenen Sinne, die indirekt zu erkennen geben, welche Aspekte von Caravaggios Gemälde von dem betreffenden Künstler für problematisch erachtet wurden, wie dies etwa für den provokant lasziven „Johannes den Täufer“ in der Pinacoteca Capitolina (Abb. 1 und Abb. 11) oder für das Altarbild mit Matthäus und einem Engel (Abb. 5 und 6) der Fall ist.276 Überliefert ist immerhin eine knappe und dennoch signifikante Bemerkung von Giovanni Pietro Bellori über eine andere einfigurige Heiligendarstellung Caravaggios dieser Jahre, in der das hier interessierende Moment der Pose aber ungleich weniger dominant ist. Ich meine die von Bellori zum Augenzeugenbericht stilisierte Entstehungsgeschichte der „Hl. Maria Magdalena“ der Galleria Doria Pamphilj – eines Gemäldes, das Caravaggio vermutlich für den am päpstlichen Hof das Amt des „sottoguadaroba“ ausübenden Gerolamo Vittrici schuf.277 Bellori hält sie, wie der Kontext seiner Ausführungen deutlich macht, für ungewöhnlich und daher für berichtenswert: „Dipinse [d.i. Caravaggio] una fanciulla a sedere sopra una seggiola con le mani in seno in atto di asciugarsi li capelli, la ritrasse in una camera, ed aggiungendovi in terra un vasello d’ unguenti, con monili e gemme, la finse per Maddalena.“ „Er [d.i. Caravaggio] malte ein Mädchen auf einem Stuhl sitzend mit den Händen im Schoß, das dabei ist, sich die Haare zu trocknen. Er porträtierte es in einem Zimmer, und indem er auf dem Boden ein Salbgefäß, Schmuckstücke und Perlen hinzufügte, machte er es zur Magdalena.“278 275  Eine Ausnahme bildet die von Mario Minniti stammende Kopie, die sich in einer römischen Privatsammlung befindet und von Marini im Düsseldorfer Katalog „Caravaggio. Originale und Kopien 2006“ auf S.  54 abgebildet wird. Hier hat der Kopist eine nicht in den mimetischen Kontext eingefügte goldene Krone mit Szepter auf den Hintergrund appliziert. 276  Für die Kopien und Variationen von Caravaggios „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina siehe unten Kap. II.5.2. und II.5.5. Für Massaris Gemälde nach Caravaggios erstem Altarbild der Contarelli-Kapelle siehe meine Einleitung. 277  Für Maße und Datierung siehe oben, Anm. 247. Das Gemälde gilt in der Forschung traditionell als Auftrag oder Erwerbung von Donna Olimpia Aldobrandini, der Nichte des Kardinalnepoten Pietro Aldobrandini und soll nach ihrem Tod im Jahr 1638 über ihre gleichnamige Enkelin, die Camillo Pamphilj heiratete, in Pamphilj-Besitz gelangt sein. Jüngst hat Lothar Sickel, Caravaggios Rom: Annäherungen an ein dissonantes Milieu, Emsdetten 2003, S. 54–64, eine alte Überlegung von Howard Hibbard (Hibbard, Caravaggio 1983, S. 53, Anm. 3) plausibilisiert, derzufolge das Bild gemeinsam mit der „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ und der „Wahrsagerin“ im Auftrag von Gerolamo Vittrici entstanden ist, da in dessen Inventaren von 1606 und 1612 drei Bilder mit diesen Sujets sowie eine „Wahrsagerin“ genannt werden, wobei allerdings kein Künstlername angegeben wird. Vittrici war der Schwager von Prospero Orsi, dem Maler und frühen Förderer Caravaggios. 278  Bellori, Vita di Michelangelo Merigi da Caravaggio/Das Leben des Michelangelo Merisi da Caravaggio, übers. u. komm. v. Valeska von Rosen, Göttingen 2018, S. 18 f., weiter heißt es ebd.: „Posa alquanto da un lato la faccia e s’imprime la guancia, il collo e ’l petto in una tinta pura, facile e vera, accompagnata dalla semplicità di tutta la figura, con le braccia in camicia e

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Was Bellori hier schildert, ist im Prinzip eine Porträtsituation. Caravaggio habe das in seinem Zimmer sitzende Modell „porträtiert“ (ritrasse) und erst in einem zweiten Schritt die Attribute hinzugefügt. So vorgehend, habe er aus einer „fanciulla“ eine „Magdalena“ gemacht: „La finse per Maddalena“ ist Belloris signifikante Formulierung für diesen ‚performativen‘ Akt der Bildentstehung, der in das ausgeführte Gemälde über den ostentativen Modellbezug und die hierdurch markierte ‚nachträgliche‘ Semantisierung der Figur einbeschrieben ist.279 Die Wortwahl ist kalkuliert doppeldeutig, denn in dem Wort fingere schwingt die Semantik des nur Fingierten, Vorgeblichen und der Täuschung mit. Für die Evozierung dieses Bellori so düpierenden Eindrucks sind einmal mehr vorrangig die tatsächlich porträthaften, in keiner Weise idealisierten Gesichtszüge der Figur verantwortlich. Bellori wird das Modell zwar nicht mehr gekannt haben, aber die Tatsache, daß dasselbe Mädchen für die ruhende Maria in der „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ posiert hat, muß eine entsprechend dominante Wahrnehmung des Modells im Bild konditioniert haben – zumal sich auch in der ursprünglichen Hängung in der Sammlung Vittrici beide Gemälde in demselben Raum befanden.280 Darüber hinaus wird das Kleid der Magdalena aus schwerem Brokatstoff, das sich von den unspezifischen Gewändern, welche die Heilige üblicherweise in der Bildtradition trägt, beim Betrachter Assoziationen an ein zeitgenössisches Mädchen geweckt haben.281 Auch ein Detail, wie das leicht gerötete, offenbar ‚erhitzte‘ Ohr, das den konventionellen Ausdruckswerten seelischer Erregung so wenig entspricht, indiziert eine unmittelbare, in keiner Form transzendierte Orientierung am Modell.282 Der zweite Grund für Belloris Assoziation dürfte im la veste gialla ritirata alle ginocchia dalla sottana ­bianca di damasco fiorato. Quella figura abbiamo descritta particolarmente per indicare li suoi modi naturali e l’imitazione in poche tinte sino alla verità del colore.“; „Das Gesicht ist recht weit zur Seite geneigt, und Wange, Hals und Brust sind geprägt von einer reinen, leichten und wahren Farbe, die mit Einfachheit der ganzen Figur, mit den Armen im Hemd und dem gelben, bis zu den Knien hochgezogenen Kleid über einem weißen Untergewand aus geblümtem Damast übereinkommt. Wir haben diese Figur ausführlich beschrieben, um die natürliche Art ihrer Darstellung und die Nachahmung mittels weniger Farbwerte bis hin zur Wahrheit der Farbe zu verdeutlichen.“ 279  Sie regte dabei ein wenig zu stark seine Phantasie an, so daß er der hl. Magdalena die Verrichtung einer alltäglichen Tätigkeit wie das Trocknen der Haare andichtet. 280  Nach Sickel, Caravaggios Rom 2003, S. 54–64. Für die „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 21, S.  406–408; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 54, S. 512–515. 281  Etwa weil das Kleid besonders modisch war oder eine bestimmte gesellschaftliche Schicht indizierte. Als Beispiel für eine solche – allerdings moderne – Wahrnehmung sei Hugo Wagner zitiert: „Das Mädchen, dem die kostbaren Kleider […] im einfachen Schnitt der Volkstracht nicht stehen wollen.“ (Hugo Wagner, Michelangelo da Caravaggio, Bern 1958, S. 29). 282  Zitiert sei noch einmal Wagner, ebd., S.  28: „ein Mädchen aus dem Volk, unedel, verbraucht […]. Dem Rotbraun des Haares entsprechend sind auch Ohr, Gesicht und die unschönen Hände gerötet.“

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Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes

Abweichen des Gemäldes von der Bildtradition liegen. Caravaggio zeigt die Heilige als still trauernde, in sich gekehrte Büßende, die kaum Gemeinsamkeiten mit den hoch emotionalen, den Betrachter vor dem Bild unmittelbar affektiv adressierenden späteren Magdalenen-Darstellungen hat. Verantwortlich für den von Bellori geschilderten Eindruck eines Porträts mit Genrecharakter ist schließlich auch die vergleichsweise geringe Wertigkeit der Attribute im Bild, weshalb er sie als nachträglich in dieser Weise arrangiert beschreibt. Auffällig ist in diesem Zusammenhang wiederum ein ‚falsches‘ Utensil: Magdalena hat kein Salbgefäß aus Alabaster neben sich, wie es mit Bezug auf Markus 14,3 zum ikonographischen Standard gehört, sondern eine gläserne Karaffe, die statt einer Salbe eine transparente Flüssigkeit enthält und obendrein geöffnet ist.283 Wiederum stellt sich beim Betrachter der Eindruck ein, Caravaggio habe einfach auf das zurückgegriffen, was im Atelier gerade zur Verfügung stand, und genau dies ist das Kalkül des Malers. Wenngleich durch Erfindung einer in hohem Maße anekdotischen Begründungsgeschichte und nicht im Modus theoretischer Reflexion markiert Bellori mit diesen wenigen Bemerkungen den konzeptuellen Kernpunkt des Bildes. Er besteht in einer durch das ‚Mitsprechen‘ des Modells bedingten Ambiguität des Gemäldes, in seinem Oszillieren zwischen einem sakralen und einem profanen Sujet. Auf exakt dieses Strukturmerkmal rekurriert der Kardinal Paravicino, wenn er bereits im August 1603 über Caravaggios religiöse Gemälde generell schreibt, sie seien „in quel mezzo fra il devoto, et profano“, sie hielten „die Mitte zwischen dem Frommen und dem Profanen“.284 Worin die potentielle Problematik dieser Bildkonstellation besteht, liegt auf der Hand: Anders als in der Darstellung der hl. Katharina, die durch die übergroßen Attribute unmißverständlich als die alexandrinische Königstochter und Märtyrerin bezeichnet ist, manifestiert sich in der „Maria Magdalena“ die semantische Unterdeterminiertheit und damit die mangelnde Evidenz auf der Sujetebene. Denn was läßt uns vor dieser Darstellung eines in sich versunkenen Mädchens mit abgelegtem Schmuck und einer Karaffe mit Flüssigkeit, die stark von der MagdalenenIkonographie abweicht, überhaupt an diese Heilige denken? Das hier angesprochene Phänomen der Ambiguität soll im folgenden Kapitel ausführlich interessieren; hier ist noch einmal mit Bezug auf die eingangs gestellte Frage 283  Darauf hat m. W. erstmals Laura Russo, La Maddalena penitente nella Galleria Doria Pamphilj, in: Quaderni di Palazzo Venezia 6 (1989), S. 156–161, aufmerksam gemacht. Ihrer an Maurizio Calvesi angelehnten Deutung der Magdalenenfigur als Braut des Hohelieds der Liebe vermag ich jedoch nicht zu folgen; vgl. Maurizio Calvesi, La Maddalena come „Sposa“ nei dipinti del Caravaggio, in: La Maddalena tra sacro e profano, hg. v. Marilena Mosco, F ­ lorenz 1986, S. 147–151. 284  Zitiert nach Gaetano Cozzi, Intorno al Cardinale Ottavio Paravicino, a Monsignor Paolo Gualdo e a Michelangelo da Caravaggio, in: Rivista storica italiana 73 (1961), S. 36–68, hier 44. Vgl. hierzu Bologna, L’incredulità del Caravaggio 1992, S. 54–61.

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nach den Rezeptionsbedingungen in der privaten Sammlung auf das Thema des Dekorums im religiösen Galeriebild zurückzukommen. Wie wurden solche Bilder bewertet und welche Indizien haben wir dafür, wie sie ‚funktionierten‘? Klaus Krüger hat 1999 in einem Aufsatz die postulierten Folgen der ungewöhnlichen Sujetauffassung der „Maria Magdalena“ konturiert. Anders als die hochemotionalisierten Heiligen des Secondo Cinquecento, leiste ihr „dunkler“ Affektzustand keine Übersetzung der inneren Erregung in das Äußere der Figur und ziele derart auf die emotionale Affizierung des Betrachters.285 Folge sei eine „Undurchsichtigkeit und Unausschöpfbarkeit des Sinns“, die wiederum eine gänzlich anders geartete Rezeption des Werks von seiten des Betrachters konditioniert haben müsse. Denn dieser sei „produktiv an seinem Verstehen beteiligt, im Sinne eines immer neu erfolgenden Bestimmens des von der Darstellung selbst unbestimmt Belassenen“. So fällt dem Rezipienten des Gemäldes eine „sinnkonstituierende Aktivität“ zu.286 Was das Bild nicht zeigt, stimuliert nach Krüger folglich die Imagination des Betrachters. Nicht die mehr oder weniger direkte Devotion wäre also die intendierte Rezeptionsform einer solchen Darstellung, sondern die Reflexion ihrer semantischen Offenheit und die hierdurch bedingte eigenständige Sinnstiftung. Zugespitzt formuliert bedeutet dies, daß sich die mangelnde Evidenz auf der Sujetebene im Akt der Rezeption aufhebt. Es ist durchaus anzunehmen, daß ein Teil der Rezipienten eine solche Wahrnehmungsleistung vollzog – oder zumindest zu vollziehen imstande war – und daß sich die Strukturprinzipien des Gemäldes als adäquat, und damit letztlich dem Rezeptionskontext angemessen erwiesen. Sicherlich waren jedoch nicht alle Rezipienten entsprechend konditioniert, wofür die beiden einzigen diesbezüglichen Wahrnehmungszeugnisse des Bildes sprechen, und zwar die Bemerkung von Bellori und jene knappe Charakterisierung des Kunsttheoretikers Francesco Scannelli, der an der Figur „spirito, gratia, e debita espressione“, „Geist, Anmut und angemessenen Ausdruck“ vermißt.287 Hier zeichnet sich das Problem der mangelnden Regulierbarkeit der adäquaten Rezeption und des hierdurch möglichen, auch ganz anders gearteten Blicks auf die Bilder und ihre Modelle ab. Was bereits der Fall der „Magdalena“ zeigt und was die nach285  Klaus Krüger, Innerer Blick und ästhetisches Geheimnis: Caravaggios „Magdalena“, in: Barocke Inszenierung. Akten des Internationalen Forschungscolloquiums an der Technischen Universität Berlin (20.–22. Juni 1996), hg. v. Joseph Imorde, Fritz Neumeyer u. a., Emsdetten/ Zürich 1999, S.  33–49. Für Ikonographie und Wirkungsmechanismen dieser Darstellungen siehe auch mein Kap. II.4.1. 286  Krüger, ebd., die Zitate auf S. 37, 43 und 46. Für den Kontext seiner Ausführungen siehe Krüger, Bild als Schleier 2001, S. 259–279. Er konstatiert die Reflexion des Malers über die Aussageleistung des Mediums, die gerade im religiösen Bild der Frühen Neuzeit virulent wird. Vgl. auch Schreier, Von der Darstellung 1989, S. 336 f. 287 Francesco Scannelli, Il microcosmo della pittura (Cesena 1657), Bologna 1989, S.  277 (Hervorh. V.v.R.).

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Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes

folgenden Beispiele noch bestätigen werden, ist, daß in den ersten Jahrzehnten des Seicento nicht eindeutig bestimmt ist, auf welche Rezeptionsform das religiöse Bild im profanen Kontext stieß. Was angemessen ist, und zwar sowohl in absoluter Hinsicht als auch in relativer zum Ort, ist (noch) nicht justiert, weder auf der Ebene der Rezeption noch auf der der Produktion.

3.4 Resümee: Die Performativität der Bilder Es stellt sich, die Überlegungen zur Performativität und Theatralität abschließend, die Frage nach den Bedingungen und Gründen für die Entwicklung einer performativen Ästhetik um 1600. Um sie differenzierter beantworten zu können, habe ich verschiedene Gattungen und Kontexte der Bilder separat betrachtet. So diente die Analyse der profanen Gemälde von Caravaggio, Spadarino, Manfredi u. a. der Herausarbeitung der strukturellen Merkmale bildlicher Performativität und ihrer Folgen für den Rezeptionsprozeß. Sie erweist sich in dieser Gattung als eine gezielte Alterität, die ihre Betrachter attrahieren soll und zugleich einen neuen Anspruch an diese formuliert. Er besteht im geforderten kognitiven Nachvollzug der ‚Grenzperformanzen‘ der Bilder in der Dialektik von Maskierung und Demaskierung der Figuren in ihren Rollen und im Umspielen der Gattungsgrenzen. Hier liegen auch die Bedingungen für das diletto der Betrachter an der Ambivalenz von Künstlichkeit und Natürlichkeit der Figuren in ihren Rollen, für das wiederum das Wissen um ihre ‚Figuralität‘ die Voraussetzung bietet. Die private Sammlung ist der ideale Ort solcher Werke, bietet er doch den besten Rahmen für eine intensive Betrachtung der Werke und für das Gespräch vor ihnen. Die mit der Produktion von Sammlerbildern verknüpften Marktmechanismen schaffen wiederum die Voraussetzung für die künstlerische Strategie einer dissimulatio des künstlerischen Arbeitens im Sinne einer vorgeblich ungebrochenen Gebundenheit an die Welt der Modelle und des Ateliers, wie sie Caravaggio insbesondere in der „Hl. Katharina“ inszeniert. Die diese Strategie konditionierende Alterität und Unkonventionalität des Gemäldes zielt auf die Erlangung von Aufmerksamkeit, – hohes Gut in Zeiten der Ausbildung eines (freien) Kunstmarkts. Neue Implikationen ergeben sich durch Caravaggios Übertragung dieser Bildstrategien auf Werke mit religiösem Sujet; chronologisch gesehen zunächst auf Galeriebilder wie die „Magdalena“ der Sammlung Pamphilj und die „Hl. Katharina“ für Francesco Maria del Monte, nach der Jahrhundertwende auch auf Altarbilder wie die „Madonna dei Palafrenieri“. Dieses Phänomen ist nicht zu trennen von den Tendenzen einer Theatralisierung der Malerei durch den Einsatz als ‚künstlich‘ markierter Kulissen mit deus ex machinaartig in die Bildhandlung eingreifenden Engeln, bühnenhaften Ausleuchtungen und Räumlichkeiten, die sich nach ‚vorn‘ zum Betrachter entgrenzen. Diese

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­ arallele erweist sich als Schlüssel zum Verständnis auch der Performativität P der Bilder: Hier läßt sich der Versuch der Entwicklung einer neuen religiösen Bildsprache konstatieren, die auf eine größere Intensität in der visuellen Erfahrung der Bilder und folglich der veritablen Involvierung der ‚Zuschauer‘ zielt. Gerade das Theater bot mit seinen visuellen Effekten, synästhetischen Reizen und seiner Wirkmächtigkeit ein Referenzmedium, dessen Perzeptionsbedingungen es für die Malerei im Sinne einer anzustrebenden gesteigerten Intensität abzurufen galt. Die Voraussetzungen für diese Entwicklung sind vielfältig. Neben den oben beschriebenen Forderungen nach der Ausbildung einer neuen eingängigen und wirksamen Bildsprache in den bildtheologischen Traktaten des ausgehenden Cinquecento, ferner durch die entscheidenden Veränderungen im Ordnungssystem der Malerei durch die Entstehung neuer Gattungen, die generell die Erprobung alternativer Bildstrategien nach sich ziehen, ist hier vor allem die neue Bedeutung des Theaters in der Zeit um die Jahrhundertwende zu nennen. Das Theater wird gerade auch infolge der beschriebenen Veränderungen in der Aufführungspraxis zur Volkskultur, es wird zum ‚Ereignisort‘ mit neuer Breitenwirksamkeit.288 Es verändert die Seh- und Wahrnehmungsmodi der Zeit und führt zu der mit dem Stichwort des ‚Theatrum mundi‘ oft beschriebenen allgemeinen Theatralisierung kultureller Praktiken etwa im Festwesen, in Ritualen und Zeremonien sowie im Habitus und im (höfischen) Verhalten. In diesem Sinne erweist sich also die performative Bildsprache durch das Mitsprechen des Modellkörpers als Strategie der Beglaubigung der Szenerien, die von der Frage ihren Ausgang nimmt, wie eine neue, auf den Modus al naturale verpflichtete Malerei auf ihre Betrachter wirken kann. Dies ist insbesondere dann sinnvoll, wenn es – wie in Battistello Caracciolos „Immaculata“ für S. Maria della Stella in Neapel – galt, abstrakte Theologumena in eingängiger Weise zu visualisieren. In der mit dieser Strategie verknüpften Ambivalenz von Künstlichkeit (des Modellkörpers) und Natürlichkeit (der Figur) liegt aber auch ihre Problematik und der Kern ihres potentiellen Scheiterns. Es wird dann wahrscheinlich – und hier sind Caravaggios und Ceccos Altarbilder die Exempla – wenn die Ambivalenz von Künstlichkeit und Natürlichkeit aus dem Gleichgewicht gerät, das ‚durchscheinende‘ Modell nicht mehr die Szene beglaubigt, sondern auf sich selbst verweist, aus der Evidenz des Bildes eine des Modells wird, und wenn dies darüber hinausmit inakzeptablen Dekorumsbrüchen verknüpft ist. Es charakterisiert Caravaggios Rolle in der visuellen Kultur seiner Zeit, daß er mit der Entwicklung einer neuen Bildstrategie auch forciert deren 288  Vgl. Erika Fischer-Lichte, Einleitung, in: Theatralität 2001, S. 1–19, bes. 5–12; dies., Theater als kulturelles Modell, in: Germanistik: Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994, hg. v. Ludwig Jäger, Weinheim 1994, S. 171 f.

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Posen und Rollenspiele. Die Performativität des Bildes

Möglichkeiten auslotete und durch kalkulierte Überschreitungen dessen, was darstellbar war, deren Grenzen umzudefinieren suchte. So ‚scheiterte‘ er in den gesehenen Beispielen zwar im Kirchenraum mit gewisser Folgerichtigkeit, nahm dies jedoch billigend in Kauf, weil sich ihm mit dem (religiösen) Galeriebild ein neuer, attraktiver Kontext bot, dessen Dekorum in diesen Jahren überhaupt erst ausgehandelt wurde.

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II Arbeiten an der Semantik Ambiguität im religiösen Sammlerbild

1. Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette? Antiveduto Grammaticas „Hl. Pudentiana“ und Francesco Furinis „Hl. Lucia“ 1.1 Die „Hl. Pudentiana“ von Antiveduto Grammatica in Nantes Antiveduto Grammatica, ein römischer Maler der Generation Caravaggios,1 dessen Werke vom Kardinal Francesco Maria del Monte hochgeschätzt wurden,2 zeigt in seiner „Hl. Pudentiana“ im Musée des Beaux-Arts in Nantes von ca. 1613–16163 (Abb. 72) eine knapp überlebensgroße Halbfigur vor dunklem Hintergrund in einem bis auf eine schmale Quadermauer nicht näher charakterisierten Raum. Sie füllt die Bildfläche weitgehend aus und wird durch einen konzentrierten, von links oben einfallenden Lichtstrahl beleuchtet, der ihre rechte Gesichtshälfte bescheint, die linke aber verschattet läßt. Pudentiana steht hinter einem parallel zur Bildfläche angeordneten Steintisch, auf dem sie mit beiden Händen einen schlichten Kupferkessel abstellt. Neben dem Kessel liegt als einziger weiterer Gegenstand ein Schwamm. Auffällig ist der emotionale Zustand der Heiligen: Sie richtet ihren schmerzerfüllten Blick nach unten und ist nicht nur in dieser ungewöhnlich introvertierten Form der Schmerzbekundung Caravaggios „Magdalena“ durchaus ähnlich. 1 Zu Leben und Werk dieses Malers siehe die jüngeren Werkmonographien von Helmut ­ hilipp Riedl, Antiveduto della Grammatica (1570/71–1626). Leben und Werk, München & P Berlin 1998, sowie Gianni Papi, Antiveduto Gramatica, Soncino 1995, S. 7–36, die zwar beide einen guten Werkkatalog enthalten, die Lebensdaten rekonstruieren und eine (durch lediglich zwei sicher datierte Bilder schwer zu leistende) Nachzeichnung seiner stilistischen Entwicklung versuchen, jedoch kaum Werkanalysen bringen und die hier angesprochenen Phänomene nicht einmal erwähnen. Das Geburtsdatum des Malers konnte jüngst durch einen Dokumentenfund korrigiert werden (vgl. Francesco Petrucci, L’atto di nascita di antiveduto ­Grammatica, in: Paragone 55 [2004], Nr. 57, S.  79 f.); auch Antonella Triponi, Antiveduto Grammatica. Una disputa del primo Seicento romano: nuovi documenti, in: Storia dell’ arte 103 (2003), S. 119–140. Die Schreibweise des Namens des Künstlers differiert; ich folge der gebräuchlicheren mit doppeltem ‚m‘. 2  Das Inventar von 1627 verzeichnet neun Gemälde des Malers; siehe Christoph Luitpold Frommel, Caravaggios Frühwerk und der Kardinal del Monte, in: Storia dell’arte 9/10 (1971), S. 5–52, hier 30–49 (eine „Pudentiana“ wird nicht genannt). 3  96 × 76,5 cm; Signatur- oder Bezeichnungsreste: „Antiveduto (…?)“; um 1613–1616 (Riedl), zweites Jahrzehnt des Seicento (Papi); Nantes, Musée des Beaux-Arts; Riedl, Antiveduto 1998, Nr. 14, S. 100 f.; Papi, Antiveduto 1995, Nr. 23, S. 98; Béatrice Sarrazin, Catalogue raisonné des peintures italiennes du musée des Beaux-Arts de Nantes. XIIIe –XVIIIe siècle, Paris 1994, Nr. 48, S. 200 f.; der Erhaltungszustand ist nicht gut.

Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette?

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72  Antiveduto Grammatica, Hl. Pudentiana, Nantes, Musée des Beaux-Arts

Es sind nur zwei Gegenstände, welche die Identifikation der recht selten verbildlichten Heiligen ermöglichen: der mit roter Flüssigkeit gefüllte Kessel und der Schwamm neben ihm. In dieser Kombination verweisen die Gegenstände auf die beiden Schwestern Pudentiana und Praxedis, die Töchter eines

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

römischen Senators im ersten nachchristlichen Jahrhundert. Der Legende nach bestatteten sie die Leichen von Märtyrern würdevoll und sammelten deren Blut mit Schwämmen auf.4 Da in der Bildtradition zwischen der Erscheinungsweise der beiden Schwestern nicht unterschieden wird, beruht die Bezeichnung der Nanter Heiligen als „Pudentiana“ lediglich auf einer Forschungskonvention. Was die „Pudentiana“ mit Caravaggios „Magdalena“ über die still artikulierte Trauer hinaus verbindet, ist die bildkonzeptuelle Auffassung. Grammatica wählt nicht den ikonischen Bildtypus einer aus dem Darstellungszusammenhang gelösten, frontal gesehenen und mit Attributen ausgestatteten Heiligen, die mehr oder weniger stark für uns posiert, so wie wir es in ­Correggios und Garofalos Katharinenbildern (Abb. 70 und 71) gesehen haben. Er zeigt Pudentiana vielmehr beim Abstellen eines Kessels. So integriert der Maler in das Heiligenbild ein minimales narratives Moment. Obgleich die Figur nicht mit anderen Personen in Interaktion tritt, blicken wir im Prinzip auf eine häusliche Szene. Es ist Grammaticas Entscheidung für diesen Bildtypus, die eine Frage aufwirft: Woran ist die Heilige, die selbst in Rom, dem originären Ort ihres Kults, eher selten als Einzelfigur verbildlicht wird, überhaupt zu erkennen? Durch den vergleichsweise geringen Bekanntheitsgrad der Heiligen haben die Attribute Schwamm und Kessel schließlich nicht jene Verweiskraft, über die beispielsweise das gesprengte Rad der hl. Katharina oder der Turm der hl.  Barbara verfügen. Darüber hinaus erschweren zusätzliche Entscheidungen des Malers die Lektüre des Bildes. Denn Grammatica zeigt nicht das Aus­drücken des Schwammes – eine Handlung also, die vermutlich stärker die Assoziation an die karitative Tätigkeit der beiden Schwestern geweckt hätte –, sondern allein das Abstellen des Kessels; zugleich enthält uns der Maler alle bildlichen Hinweise auf den situativen Kontext dieser Handlung vor. Ferner ist Pudentiana weder kostbar gekleidet noch sorgfältig frisiert, wie es in der Bild­ tradition üblich ist und wie es ihrem sozialen Status als Tochter eines römischen Senators auch angemessen gewesen wäre.5 Sie verfügt nicht einmal über einen Nimbus. Auch ihre von tiefer Trauer bestimmte Mimik – so nachvoll4  Zur Heiligen und ihrer Ikonographie: L. Schütz, s.v. Praxedis und Pudentiana von Rom, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, hg. v. Engelbert Kirschbaum u. a., Rom u. a., Bd. 8, Rom u. a. 1976, Sp. 224; Vollständiges Heiligen-Lexikon, hg. v. J. E. Stadler u. a., Nachdr. d. Aufl. v. 1875, Hildesheim/New York 1975, Bd. 4, S.  1005. In der um 1625–1649 verfaßten „Notitia ecclesiarum urbis Romae“ ist ein Grab der Märtyrerinnen Praxedis und Pudentiana verzeichnet, doch scheint es sich hierbei um eine falsche Überlieferung zu handeln; es gibt ­keine Hinweise darauf, daß die beiden Jungfrauen selbst den Märtyrertod erlitten. 5 Eine solche Darstellungsweise läßt sich mit dem von verschiedenen Legenden berichteten freiwilligen Armutsideal, dem die Schwestern folgten, begründen, dennoch ist sie vor dem Hintergrund der Bildtradition ungewöhnlich. So zeigen die Mosaiken in S. Prassede die ­Heiligen mit kostbaren goldenen Gewändern mit perlen- und gemmengeschmückten Kragen und Ärmelbesatz. Ferner tragen sie Nimbus, Diadem, Halsschmuck und eine Krone mit Edel­

Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette?

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73 Teodor Gallé nach Antiveduto Grammatica, Hl. Pudentiana, Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana

ziehbar sie aus dem Handlungszusammenhang heraus auch ist – entspricht nicht den standardisierten Formeln des Mitleidens für Heilige, dem himmelwärts gerichteten Blick und dem tränenüberströmten Auge. Beides hätte sich mit dem Motiv des Absetzens der Schüssel durchaus vereinbaren lassen. Der Vergleich des Gemäldes mit drei Darstellungen der Heiligen aus der ersten Hälfte des Seicento macht Grammaticas kalkulierte Wahl einer bestimmten Ausdrucksform und ihre Folgen für die Rezeption noch deutlicher. Vom Maler selbst stammt die Vorlage für einen Kupferstich von Teodor Gallé, der Teil eines Zyklus mit weiblichen Heiligendarstellungen ist (Abb. 73).6 steinen in den Händen. Vgl. Rotraut Wisskirchen, Das Mosaikprogramm von S. Prassede in Rom. Ikonographie und Ikonologie, Münster 1990, S. 28. 6  Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ott. Lat. 2977, 292d; vgl. Riedl, Antiveduto 1998, S. 30 und Abb. 74. Gallé (auch: Galle) befand sich wie Jacob Matham, der weitere Stiche nach Vorlagen Grammaticas ausführte, in den Jahren 1596/97 in Rom, weshalb dessen Zeichnungen

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

Darin drückt die Heilige, die hier nimbiert ist, den gut gefüllten Schwamm aus, wobei sich das Blut in einem dicken Strahl in eine kostbare Schale ergießt. Im Hintergrund sehen wir kleine szenische Abbreviaturen, in denen die Schwestern weitere karitative Handlungen ausführen: Sie nehmen sorgfältig Blut aus einer Lache auf, bergen einen Leichnam und geben einem Bettler ein Almosen. Vor dem Hintergrund dieser vom Bild gegebenen Informationen über das Wirken der Heiligen ist auch das Motiv des Ausdrückens des Schwammes im Vordergrund leicht lesbar. Ähnliches gilt für die Darstellung der hl. Praxedis von Simone Pignoni aus den späten dreißiger Jahren des Seicento (Abb. 74), die durch das Format und die Wahl der Halbfigur mit Grammaticas Gemälde in Nantes gut vergleichbar ist.7 Pignoni zeigt die hl. Praxedis ebenfalls beim Ausdrücken eines Schwamms. Die Kostbarkeit der Schale und des Gewandes der Heiligen indizieren deren gehobene soziale Stellung, und mit dem leicht in den Nacken gelegten Haupt und pathetisch geöffneten Mund folgt Pignoni konventionalisierten Formeln der Darstellung großer Trauer und Mitleidens. Auch Felice Ficherelli (gen. Il Riposo) präsentiert uns in seinem um die Mitte des Jahrhunderts entstandenen Gemälde der hl. Praxedis, das in einer sehr guten Kopie durch Jan Vermeer überliefert ist, die Heilige in ganzer Figur ebenfalls beim Ausdrücken des Schwamms, wobei Praxedis demütig vor einem mit Märtyrerblut gefüllten prächtigen Volutenkrater kniet (Abb. 75).8 Dabei hält sie ein kleines Kreuz in der Hand, das den unmißverständlichen Hinweis auf die Motivation und Bedeutung ihres Handelns gibt. Der verkürzt im Hintergrund liegende enthauptete Leichnam des Märtyrers dient als zusätz­ licher Hinweis auf die Identität der Heiligen. Gerade der Vergleich mit Gallés Stich, für den Grammatica selbst die Vorlage geschaffen hatte, zeigt, daß der Maler in seinem Nanter Gemälde offensichtlich absichtsvoll eine Bildform wählte, die eine rasche Lesbarkeit unterbindet. Was folgt daraus für die Betrachtung? Wie hat ein Rezipient ein solches Werk wahrgenommen? in diesen Jahren entstanden sein dürften. Das Wappen auf der Schriftleiste ist über Giovanni Sicari, Stemmi cardinalizi (secoli XV–XVII), Rom 1996, nicht zu identifizieren. 7  89 × 74 cm; Paris, Musée du Louvre; für dieses Bild siehe Florentine Baroque from American Collections (Ausst.-Kat. New York, Metropolitan Museum 1969), hg. v. Joan Nissman, eingel. v. Howard Hibbard, New York 1969, Nr. 31, S. 56 f. 8  Das schlecht erhaltene, um 1640–45 entstandene Original Ficherellis befindet sich in der Sammlung Fergnani, Ferrara; die nur minimal vom Original abweichende mit „Meer 1655“ signierte Kopie, die mittlerweile überwiegend Jan Vermeer van Delft zugeschrieben wird, in der Sammlung von Barbara Piasecka Johnson (ehem. Erna & Jacob Reeder, New York). Siehe hierfür Arthur K. Wheelock: Saint Praxedis. New Light on the Early Career of Vermeer, in: Artibus et historiae 7 (1986), No. 14, S. 71–106; Jan Vermeer van Delft (1632–1675). St. Praxedis. An Exhibition of a Painting from the Collection of Barbara Piasecka Johnson (Cracow 1991), hg. v. Józef Grabski, Krakau 1991; Vermeer. Das Gesamtwerk, hg. v. Arthur K. Wheelock Jr., Stuttgart/Zürich 1996, Nr. 2, S. 86. Die beste Abbildung des vermutlichen Originals befindet sich im genannten Warschauer Katalog, S. 11.

Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette?

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74  Simone Pignoni, Hl. Praxedis, Paris, Musée du Louvre

75  Jan Vermeer nach Felice Ficherelli, Hl. Praxedis, Princeton N.J., Barbara Piasecka Johnson Collection

Grammatica läßt es ja nicht nur an Deutlichkeit hinsichtlich der Indikatoren für eine spezifische Heilige fehlen, er minimiert auch generell die Hinweise auf eine Heiligendarstellung. So fehlt Pudentiana der Nimbus, ihre Kleidung und Frisur sind einfach und unauffällig, und ihre Attribute haben allgemein recht geringe Verweiskraft; sie gehen gewissermaßen in dem dargestellten häuslichen Ambiente auf. Ob ein zeitgenössischer Betrachter daher – analog zu Belloris Beschreibung der „Magdalena“ – zunächst glaubte, ein einfaches Mädchen, das einen Kessel abstellt, und damit eine genrehafte Küchenszene vor sich zu sehen, läßt sich mangels diesbezüglicher Quellen nicht mehr bestimmen. Tatsächlich gab es m. W. auch keine vergleichbaren Darstellungen von Küchenszenen in der Malerei des frühen Seicento.9 Dennoch ist es unabhängig von der Frage, welche Assoziationen die Rezipienten im ersten Moment der Betrachtung des Gemäldes hatten und wie schnell sie zur Benennung der Figur als Pudentiana gelangten, deutlich, daß Grammatica eine gewisse semantische Offenheit von Figur und Darstellung intendierte. Bezeichnenderweise ordnete er auch den Kessel so im Bildfeld an, daß die in ihm enthaltene, aufgrund ihrer dunklen Farbigkeit erst auf den zweiten Blick mit Blut assoziierbare Flüssigkeit erst bei näherer Betrachtung des Werks überhaupt ins Auge fällt. 9  Auf die Frage nach der genauen Hängung solcher Bilder, die das Wahrnehmungsverhalten des Betrachters konditioniert haben wird, gehe ich unten ein.

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

76  Antiveduto Grammatica, Hl. Lucia, Graz, Steiermärkisches Landesmuseum, Joanneum, Alte Galerie

77  Antiveduto Grammatica, Hl. Dorothea, London, Privatsammlung

Wie bewußt Grammatica diese Bildform entwickelt hat, zeigt der kursorische Hinweis auf andere halbfigurige Heiligendarstellungen von seiner Hand. So folgen die etwa zeitgleich mit der „Pudentiana“ entstandene „Hl. Lucia von Syrakus“ in Graz (Abb. 76)10 und die „hl. Katharina“ im rumänischen Sibiu (Hermannstadt)11 mit Krone und Nimbus bzw. attributiv gemeintem Dolch und Märtyrerpalme perfekt dem Schema des ikonischen Heiligenbildes in Halbfigur, das die Märtyrerinnen mit restituiertem Leib zeigt. Durch die Dominanz der Attribute im Bild stellt sich hier die Frage der Benennbarkeit der Heiligen nicht. Anders wiederum das Gemälde der hl. Dorothea von Cesarea in Londoner Privatbesitz (Abb. 77),12 das nicht nur in konzeptueller, sondern auch in kompositorischer Hinsicht der Pudentiana-Darstellung ähnlich ist. Im Gegensatz zur Nanter Heiligen verfügt die hl. Dorothea zwar über einen 10  98 × 77 cm; Graz, Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Alte Galerie; siehe Riedl,

Antiveduto 1998, Nr. 23, S. 121–123, Abb. 37 (um 1616); Papi, Antiveduto 1995, Nr. 21, S. 97 (um 1615); Gottfried Biedermann, in: Bilderwerke. Renaissance – Manierismus – Barock. Gemälde und Skulpturen aus der Alten Galerie des Steiermärkischen Landesmuseum Joanneum in Graz, hg. v. dems., G. Gmeiner-Hübel & Ch. Rabensteiner, Klagenfurt 1995, S. 116 f. 11  97,5 × 79 cm; Sibiu, Muzeu Brukenthal; Riedl, Antiveduto 1998, Nr. 26, S. 128 f. (um 1616– 19); Papi, Antiveduto 1995, Nr. 30, S. 102 f. (um 1615). Vgl. auch die Darstellungen der Heiligen Nr. 5 und 7 bei Papi bzw. 22 und Nr. 31 bei Riedl. 12  84  ×  68  cm; London, Privatsammlung; Riedl, Antiveduto 1998, Nr. 22, S.  119–121 (um 1616); Papi 1995, Nr. 19, S. 96 f. (ohne Dat.); es gibt eine zweite Version in Milwaukee (WI), Art Museum.

Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette?

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äußerst blassen Nimbus, ohne denselben wäre es allerdings kaum möglich, ihre Identität als Märtyrerin aus Kappadokien, die den Christenverfolgungen unter Diokletian zum Opfer fiel, überhaupt zu bestimmen. Grammatica zeigt die Heilige nämlich nicht mit einem ihrer Marterwerkzeuge – und hier hätte es viele Möglichkeiten gegeben, denn Dorothea wurde gesotten, geschlagen, mit Fackeln gequält und schließlich enthauptet –, sondern allein mit einem einfachen Körbchen mit Früchten und Blumen. Dieses hatte sie der Legende nach mitten im Winter von einem Engel auf dem Weg zu ihrer Hinrichtungsstätte erhalten, nachdem sie von dem Historiographen Theophilus verspottet worden war, sie solle sich doch in ihrer Not von ihrem himmlischen Bräutigam helfen lassen. Selbst wenn uns also durch unser Vorwissen rasch bewußt ist, daß es sich um paradiesische Früchte handeln muß, die Dorothea in den Händen hält – die Nähe des Bildes zu einem profanen Gemälde ist beabsichtigt. Tatsächlich sind die Unterschiede zu allegorischen oder genrehaften Darstellungen eines Mädchens mit Fruchtkorb oder mit Blumen, wie wir sie oben gesehen haben, sehr gering. Neben dem die allegorische Ebene der Darstellung anzeigenden Haarschmuck, über den das Marco d’Oggiono zugeschriebene „Mädchen mit Kirschen“ in New York (Abb. 26) und Francesco Melzis „Mädchen mit Blumenstrauß“ (Abb. 31),13 nicht aber Grammaticas Heilige verfügen, ist es tatsächlich nur der Ausdrucksmodus der Figur, der eine Differenz der Ebenen markiert. Je ‚leiser‘ sich der Affekt der Heiligen im religiösen Bild artikuliert, desto geringer ist dessen Differenzqualität zu einem profanen Gemälde. Dies zeigt gerade der Vergleich von Grammaticas „hl. Dorothea“ mit Marco d’Oggionos „Mädchen mit Kirschen“, das anders als Melzis allegorische Figur nicht lächelt, und auch die jeweilige Kleidung gibt hier keinen eindeutigen Hinweis auf eine religiöse, allegorische oder genrehafte Figur.14 An Grammaticas Vorgehensweise sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben: Zum einen, daß die semantische Unterdeterminiertheit der „Pudentiana“ und der „Dorothea“ nicht wie in Caravaggios „Magdalena“ vorrangig durch das forcierte Mitsprechen eines Modells generiert wird, sondern durch die Reduktion signifikanter und verweiskräftiger Attribute. Zum anderen zeigt sich im Blick auf das Œuvre des Malers, daß seine Heiligendarstellungen verschiedenen Konzepten folgen, die Grammatica wie ‚Modi‘ einsetzte. Nach welchen Kriterien er die Wahl vornahm, ob er für bestimmte Sammler und/ oder Aufstellungsorte bestimmte Darstellungskonventionen befolgte und für andere ambige Bilder wie die „Pudentiana“ und „Dorothea“ vorsah, läßt sich bedauerlicherweise nicht mehr rekonstruieren, denn es fehlen uns alle 13  Siehe oben, S. 67 f. 14  Auch dies gilt im Unterschied zu Melzis „Mädchen mit Blumenstrauß“, das ein unspe-

zifisches, antikisch anmutendes Hemd trägt, durch das sich deutlich die Brüste abzeichnen. Das Kleid der „hl. Dorothea“ ist kaum idealisierter und zeitloser als das von d’Oggionos „­Mädchen mit Kirschen“.

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Hinweise auf die ursprünglichen Kontexte der hier betrachteten Werke, was im übrigen auch für das Gros der im folgenden zu besprechenden Gemälde gilt. Nur daß es sich bei den Gemälden um „quadri di stanza“ handelt, läßt sich kaum in Zweifel ziehen.

1.2 Francesco Furinis „Hl. Lucia“ in der römischen Galleria Spada Letzteres gilt auch für das Gemälde von Francesco Furini in der römischen Galleria Spada (Abb.  78), auf das ich im folgenden das Augenmerk richten möchte. Furini lebte zeit seines Lebens in Florenz, besuchte jedoch seit 1619 mehrfach Rom und hatte dort engen Kontakt mit Bartolomeo Manfredi, dessen Schüler er zeitweise war.15 Aufgrund fehlender stilistischer Gemeinsamkeiten seiner Werke mit denen Caravaggios oder Manfredis wird er jedoch nicht zu den ‚Caravaggisten‘ gezählt.16 Wie das hier interessierende Gemälde in die römische Galleria Spada gelangte, ist nicht bekannt. Nachweislich gehörte es jedoch dem 1661 verstorbenen Kardinal Bernardino Spada, der nach seiner Rückkehr aus Paris und Bologna in den dreißiger Jahren des Seicento in Rom eine Sammlung aufzubauen begann.17 Es könnte also durchaus bei einem der Aufenthalte des Malers in Rom entstanden sein. Gerade der Reduktion der künstlerischen Mittel wegen zieht es die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich. Im Format von 66,2 × 50,3 cm zeigt das Gemälde in leichter Unterlebensgröße den schräg von hinten über die 15  Hartje, Manfredi 2004, S. 53. Zu Furini: Un’altra bellezza. Francesco Furini (Ausst.-Kat.

­ irenze, Palazzo Pitti 2007/2008), hg. v. Mina Gregori & Rodolfo Maffeis, Florenz 2007; F ­Ludwig von Buerkel, Francesco Furini, in: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 27 (1907–09), S. 55–90; vgl. auch die äußerst knappe Mono­ graphie von Elena Toesca, Francesco Furini, Rom 1950, sowie Gino Corti, Contributi alla vita e ­alle opere di Francesco Furini, in: Antichità viva 10 (1971), Nr. 2, S. 14–23. Für eine k ­ nappe ­ erdinando I a Vita Furinis Giuseppe Cantelli, in: Il seicento fiorentino. Arte a Firenze da F ­Cosimo  III. Bd. 3 Biografie (Ausst.-Kat. Firenze, Palazzo Strozzi 1986/87), Florenz 1986, S. 93 f. Sie beruht im Wesentlichen auf Filippo Baldinuccis Vita des Malers in den „Notizie dei professori del disegno da Cimabue in qua …“ (hg. u. komm. v. F. Ranalli, Nachdr. d. Aufl. ­Florenz 1845–1847, Florenz, Bd. 4, 1974, S. 629–644). Vgl. auch die von Anna Barsanti publi­ zierte Vita Furinis, die nach 1666 von dem Maler Filippo detto Sciamerone verfaßt wurde, in: Paragone 25 (1974), Nr. 289, S. 67–86 und Nr. 291, S. 79–87. Jüngst zur Vita, zu den künstlerischen und dichterischen Aktivitäten des Malers Tristan Weddigen, Lucias Augen – Zu Francesco Furinis Patronin der Kunstbetrachtung, in: Kunst und ihre Betrachter in der Frühen Neuzeit. Ansichten – Standpunkte – Perspektiven, hg. v. Sebastian Schütze, Berlin 2005, S. 93–143, bes. 105–118. 16  In konzeptueller Hinsicht bestehen durchaus Verbindungen zu deren Werken, aber es geht mir, wie einleitend ausgeführt, nicht um eine Erweiterung dieser Kategorie, die ohnehin heuristisch nur sehr begrenzten Wert hat. 17  Zur Person Bernardino Spadas vgl. Arne Karsten, Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen 2001; Weddigen, Lucias Augen 2005, S. 119.

Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette?

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78  Francesco Furini, Hl. Lucia, Rom, Galleria Spada

Schulter gesehenen Oberkörper einer weiblichen Figur vor braunem Grund; er füllt das Bildfeld in der Breite weitgehend aus.18 Furini wählt damit eine 18  Für dieses Bild siehe: Un’altra bellezza. Francesco Furini 2007, Nr. 21, S. 194; Zeri, Galleria

Spada 1954, Nr. 116, S. 82 („non prima del 1630“); auch: Le Caravage et la peinture italienne du XVIIe siècle (Ausst.-Kat. Paris, Musée du Louvre 1965), Paris 1965, Nr. 68, S. 145. Jüngst ausführlich Weddigen, Lucias Augen 2005, S. 93–143, bes. 93–104. Die beiden jüngeren Publikationen der Galerie, die Gemeinschaftspublikation von Cannatà und Vicini sowie die kleine

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Ansicht, die in der Porträtmalerei gebräuchlich, wenngleich eher selten belegt ist.19 Was in der Porträtgattung jedoch keinen Sinn ergibt, ist die Abwendung des Gesichts in eine Ansicht, die sich kaum mehr als ‚verlorenes Profil‘ klassifizieren läßt. Die Dame, die ihr Antlitz unseren Blicken entzieht, trägt ihre kastanienbraunen, sich vom dunklen Fond kaum abhebenden Haare locker geflochten, wobei sich zwei Strähnen aus der Frisur gelöst haben. Eine fällt vor ihrem Ohr herab, eine weitere, gelockte, gleitet auf ihren Rücken. Dieser ist – und dieses Motiv bildet den eigentlichen Augenreiz des Gemäldes – weitgehend unbedeckt. Das blaugrüne20 Kleid ist samt weißem Untergewand von der rechten Schulter der Dame herabgerutscht. Es gibt den Blick auf eine makellos weiße, zarte Nacken- und Rückenpartie frei, die vollständig dem Licht ausgesetzt ist. Eine funkelnde Perle im Ohr und eine kleine Haarspange in Form eines Adler-Hauptes bilden für das von der Eleganz des Rückendekolletés der Dame gefesselte Auge des Betrachters in der Nahsicht zusätzliche Anziehung. Wenngleich der Erhaltungszustand des Gemäldes nicht mehr als gut bezeichnet werden kann, weil im Bereich des Rückens und des Gewandes einige Lasuren fehlen,21 so ist seine ursprüngliche malerische Finesse doch noch immer zu erahnen. Sie ist Folge der Reduktion der Farben auf die Werte Blaugrün und Braun, die lediglich um einen helleren Blauwert im Haarband erweitert werden. Dieses ist mitsamt einer wie zufällig aus der Frisur gelösten Haarlocke auf die Schulter herabgefallen und wirft dort einen Schatten. Malerische delicatezza erzeugen auch das Inkarnat und die Frisur der Dame, deren Reiz in der scheinbaren Natürlichkeit besteht – ganz so wie Sir Philip Sidney in seiner Guida alla Galleria Spada, hg. v. Maria Lucrezia Vicini, Rom 1998, S. 70, bringen keine weiteren Informationen. Es gibt in den Uffizien eine Kohle-Zeichnung einer von schräg hinten gesehenen Frauenbüste, die zwar in der Frisur nicht exakte Übereinstimmungen mit dem SpadaBild zeigt, dennoch als Studie dafür gelten kann. Interessanterweise ist das Modell bekleidet. Vgl. Giuseppe Cantelli, Francesco Furini, 1972, Nr. 22, S. 33 f., Abb. 13 (15,3 × 17,9 cm). 19  Ich verweise auf das berühmte „Brustbild eines jungen Mannes“ in der Alten Pinakothek in München aus dem Giorgione-Tizian-Umkreis und Palma il Vecchios „Bildnis einer Dame“ im Wiener Kunsthistorischen Museum von 1525. Sinnvollerweise wenden die Porträtierten ihre Gesichter über die Schulter und blicken aus dem Bildfeld heraus; vgl. hierfür Krüger, Schleier 2001, S. 233. 20  Der heutige Eindruck ist eher grün, doch wird das Pigment im Bestandskatalog der Galleria Spada als „azzurrino“ beschrieben (Cannatà & Vicini, Galleria Spada 1998, S. 70). Zeri zufolge sei das ursprünglich blaue Gewand im 19. Jahrhundert Grün übermalt worden (Zeri, Galleria Spada 1954, S. 82). Baldinucci zufolge hat Furini häufig Ultramarin verwendet (Notizie, Bd. 4, S. 642: „Fu anche di ciò gran cagione il lungo faticare, che e’ faceva in sulle pitture: la gran quantità di azzurro oltramarino, che egli usò sempre nelle medesime […]“). Es ist also anzunehmen, daß sich der Farbwert im Laufe der Zeit verändert hat. 21  Von Zeri, Galleria Spada 1954, S. 82, noch als „cattivo“ beurteilt, gilt der Erhaltungszustand nach der Restaurierung von 1989 als „zufriedenstellend“. Siehe Roberto Cannatà, Galleria di Palazzo Spada, Rom 1995, S. 95: „Sebbene abraso in varie parti, il dipinto dopo il restauro di 1989 ha evidenziato le originali delicatezze della gamma cromatica, che contribuiscono notevolmente a creare la straordinaria suggestione di quest’opera“.

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„Arcadia“ die Frisur einer Dame im Sinne des celare artem-Konzepts mit den Worten charakterisiert: „with such careless care, & an arte so hiding arte“.22 Dieser Effekt höchster Kunst im Anschein der Natürlichkeit läßt sich auf das Arrangement der Figur im Bild, und damit auf das ganze Gemälde übertragen. Es bietet den Blick auf eine elegante Dame, deren Rücken scheinbar zufällig entblößt ist. Durch die Abwendung des Gesichts wird der Topos der sich unserem Blick entziehenden und so die Imagination des Betrachters um so mehr stimulierenden, da eine Leerstelle für das Begehren und die Imagination des Betrachters erzeugenden, Schönheit aufgerufen. So wurde in der Renaissance eine Anekdote kolportiert, derzufolge ein antiker „discreto pintore“ eine Venus in Rückenansicht malte, weil er ihre Schönheit nach eigener Aussage kaum angemessen darzustellen vermochte.23 Gerade die entblößte Schulter gilt seit der Antike als Formel für weibliche Schönheit schlechthin und ist als Motiv bezeichnenderweise überwiegend im aphrodisischen Kontext anzutreffen.24 Als Sujet des Bildes in der Galleria Spada assoziiert der heutige Betrachter – und mit Sicherheit tat dies auch der damalige – zunächst das, was auch die frühesten Beschreibungen des Gemäldes in den Inventaren der Sammlung von 1661 und 1759 vermerken: „un ritratto che volta la schiena“25 bzw. „un quadro […] rappresentante una donna con spalla nuda voltata di schiena“26 – ein Porträt also oder ein einfaches Gemälde einer „donna“, ähnlich dem insbesondere in der venezianischen Malerei verbreiteten Bildtypus der donna mit Spiegel oder anderem Gegenstand, wofür Giovanni Bellinis Darstellung im Wiener Kunsthistorischen Museum (Abb. 79) als Prototyp gilt.27 Dieser erste Eindruck wird dadurch unterstützt, daß Furinis Dame tatsächlich in der erhobenen linken Hand ein Gefäß hält, bei dem es sich, der beson22  Zitiert nach Heinrich F. Plett, Theatrum Rhetoricum. Schauspiel – Dichtung – Politik, in:

Renaissance-Rhetorik., hg. v. dems., Berlin & New York 1993, S. 328–368, hier 349. Für das Celare artem-Konzept und seine verschiedenen Realisierungsformen siehe Verf.in, Celare artem. Die Ästhetisierung eines rhetorischen Topos in der Malerei mit sichtbarer Pinselschrift, in: Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, hg. v. Ulrich Pfisterer & Max Seidel, München 2003, S. 323–350. 23  Siehe Francesco Sannazaro, Arcadia, hg. v. Francesco Erspamer, Mailand 1990, S. 78: „Ma quel ch’è un men sottile a pensare che dilettevole a vedere, era lo accorgiamento del discreto pintore, il quale avendo fatto Giunone e Minerva di tanto enorme bellezza che ad avanzarle sarebbe stato impossibile, e diffidandosi di fare Venere sí bella come bisognava, le dipinse volta di spalle, scusando il difetto con le astuzia“; vgl. Prater, Velázquez 2002, S. 52. 24  Paul Zanker, Die trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhnten, Frankfurt a. M. 1989, S. 41. 25  Zitiert nach Roberto Cannatà und Maria Lucrezia Vicini, La Galleria di Palazzo Spada. Genesi e storia di una collezione, Rom 1992, S. 29. 26 Ebd., Nr. 653, S.  172; vollständig lautet der Eintrag, der sich auf zwei Bilder bezieht: „Num. 2 quadri in tela da testa in piedi, uno con cornice rossa filettata d’oro r­ appresentante una donna con spalla nuda voltata di schiena, ed altro con cornice torchina filettata d’oro ­rappresentante San Giovanni Battista opera del Guercino, molto patito.“ 27  Vgl. Petra Schäpers, Die junge Frau bei der Toilette. Ein Bildthema im venezianischen Cinquecento, Frankfurt a. M. 1997 passim, zu Bellini S. 67–110; Prater, Velázquez 2002, S. 20–28.

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79  Giovanni Bellini, Junge Frau bei der Toilette, Wien, Kunsthistorisches Museum

80  Francesco Guarino, Hl. Lucia, Nantes, Musée des Beaux-Arts

deren Form mit abgesetztem sockelartigen Fuß nach zu urteilen, um eine kostbare Schale handelt. Erst bei intensiver und nahsichtiger Betrachtung erblickt man darauf ein uns entgegenblickendes Augenpaar. Ist der Betrachter dieser Augen einmal ansichtig geworden, assoziiert er zunächst einen Spiegel, den sich die Dame vor die Augen hält und der uns den Blick auf ihr abgewandtes Gesicht gewährt. Doch bei eingehender Betrachtung dieses Gegenstands wird er schließlich gewahr, daß er hierbei einer Täuschung unterliegt. Das Augenpaar verdankt sich nicht der mimetischen Strategie der Spiegelung, es liegt vielmehr ‚realiter‘ auf der Schale. Diese irritierende Wahrnehmungserkenntnis setzt einen Reflexionsprozeß über das Sujet, und damit über die Identität der uns abgewandten Frauengestalt in Gang, der nur zu einer Lösung führen kann: Es muß sich um eine Darstellung der hl. Lucia von Syrakus handeln. Diese aus vornehmer römischer Patrizierfamilie stammende Märtyrerin aus dem 3. nachchristlichen Jahrhundert, die sich als einziges Mitglied ihrer Familie taufen ließ, gelobte trotz bereits erfolgter Verlobung mit einem heidnischen Mann ihre Jungfräulichkeit, woraufhin dieser sie als Christin anzeigte.28 Sie wurde mehrfach gefoltert und schließlich enthauptet, weshalb sie in der Bildtradition, wie etwa in Antiveduto Grammaticas Lucia-Gemälde in Graz (Abb. 76), meist mit einem Dolch oder Schwert im Hals gezeigt wird.29 Das 28  Vgl. Vollständiges Heiligen-Lexikon 1979, Bd. 3, S. 883–885; C. Squarr, in: Lexikon der

christlichen Ikonographie, Bd. 7, Sp. 415–420. 29  Siehe auch oben, S. 173.

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weniger gebräuchliche Attribut des isolierten Augenpaars erklärt sich aus einer vermutlich erst im 14. Jahrhundert entstandenen Legende, derzufolge sich Lucia ihre Augen selbst ausriß, um sie ihrem Bräutigam gemeinsam mit der Zurückweisung des Heiratsantrags zu übersenden. Offenbar wollte sie sich auf diese radikale Weise der verführerischen Kraft ihres Blicks entledigen.30 Beispiele für Lucia-Darstellungen mit einem isolierten Augenpaar zeigen allerdings, wie anders die Märtyrerin im allgemeinen verbildlicht wurde. So zeigt ein Francesco Guarino zugeschriebenes Gemälde in Nantes (Abb. 80) eine dem Betrachter zugewandte und in einen weiten roten Umhang gehüllte Heilige mit himmelwärts gerichtetem Blick.31 Sie hält die Märtyrerpalme in der erhobenen Linken und weist mit dem Finger der rechten Hand auf ein ebenfalls isoliert gezeigtes, wohl auf einer Konsole liegendes Augenpaar. Dieses ist durch die Positionierung kaum in den darstellerischen Zusammenhang eingebunden und wurde vom Maler daher mit einer gewissen Logik in die rechte untere Bildecke verbannt, wo es das mimetische Kontinuum am wenigsten stört. Zurück zu Furinis Bildlösung: Sie ist ohne Frage als ingeniös zu bezeichnen, denn sie ist eine raffinierte und zugleich bestechend einfache Bewältigung des figurativen Problems einer Heiligen ohne Augen. Im Prinzip entspricht sie der berühmten Invention des Apelles’ für das Porträt des einäugigen Königs Antigonos als Bildnis im Profil. Dieses wurde von Plinius als Muster malerischer ‚Diskretion‘ interpretiert, weil der Mangel der Figur – ihre Einäugigkeit – in einen scheinbaren Mangel der Malerei – den Rückgriff auf die starre Form des Profilbildnisses – überführt wird.32 Entsprechend läßt sich auch Furinis „Lucia“ als Bilderfindung mit der Absicht der Wahrung des Dekorums verstehen, denn uns wird ja ihre Augenlosigkeit vorenthalten; in Rückenansicht bleibt die Figur für uns ‚intakt‘. Unabhängig davon, wie rasch dieser Prozeß der gestuften Wahrnehmung und der mit ihr verbundenen Erkenntnisleistung ablief – insbesondere, als der Zustand des Gemäldes noch besser war und sich die Augen vermut30  Sie ist daher auch die Patronin der Blinden. 31 97  ×  71  cm; Nantes, Musée des Beaux-Arts; vgl. Sarrazin, Catalogue raisonné 1994,

Nr. 149, S. 202 f.; gegen die Zuschreibung an Guarino mit dem Vorschlag der Attribution an einen Künstler aus dem Umkreis von Massimo Stanzione: Lattuada, Francesco Guarino 2000, Nr. G72, S. 283 f. Er verzeichnet unter der Nummer E 36 eine andere Darstellung der Lucia, die sich in der Cassa di Risparmio di Calabria e Lucania in Cosenza befindet. Hier liegen die blutverschmierten Augen Lucias materialiter auf einem Buch, das die Heilige in der Hand hält. Für weitere Darstellungen der Lucia mit isoliertem Augenpaar siehe Weddigen, Lucias Augen 2005, S. 99. 32  Siehe hierfür Preimesberger, Caius Plinius Secundus d. Ä., Imago, indiskret und diskret, in: Porträtmalerei 1999, S. 134–144. Für eine praktische Umsetzung dieser Geschichte in den Porträts des einäugigen Herzogs von Urbino, Federico da Montefeltre, siehe Bernd Roeck & Andreas Tönnesmann, Die Nase Italiens. Federico da Montefeltre, Herzog von Urbino, Berlin 2005, S. 12–16. Als weiteres Beispiel für malerische discretio in Furinis Umkreis siehe auch das unten erwähnte Gemälde der hl. Lucia im Palazzo Pitti (Anm. 41).

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lich deutlicher vom dunklen Fond abhoben als sie es heute tun –33 zeigt sich eines doch deutlich: Was Furini mit dieser singulären Verbildlichung einer Lucia in Rückensicht inszeniert, ist eine raffinierte Rezeptionslenkung, und damit ein Spiel mit der Neugier des Betrachters auf Gesicht und Identität der Frau, die sich unseren Blicken zunächst entzieht. Furini bietet uns ein attraktives weib­liches Rückendekolleté, das zum einen seiner typologischen Besonderheit, zum anderen der malerischen Raffinesse wegen auf Anhieb besticht, und erweckt damit gezielt die Assoziation an eine (mythologische) Toiletten­ szene, wie sie etwa Jacopo Tintoretto und Paolo Veronese in ihren VenusDarstellungen in Los Angeles und in Omaha verbildlicht haben. Sie zeigen die Schönheitsgöttin in Rückenansicht bei der Toilette, wobei ein Spiegel dem Betrachter die Sicht auch auf die ihm zunächst verborgen geglaubten Augen der Venus ermöglicht.34 Mit dieser Strategie lockt Furini den Betrachter zum nahen Herantreten,35 konfrontiert ihn dann jedoch ‚plötzlich‘ mit dem Detail, das die radikale Umbewertung des bisherigen Wahrnehmungseindrucks zur Folge hat. Denn erst in der Nahsicht bietet sich ihm der – kalkuliert überraschende – Blick auf das grauenhafte Detail des isolierten Augenpaares. Er erkennt, daß seine bisherige Wahrnehmung des Bildes irrig war und wird sich nun mittels seiner ikonographischen Kenntnisse das Sujet erschließen. Erst durch die Identifikation der Figur als hl. Lucia erschließt sich zumindest einem Teil der Betrachter auch die Bedeutung der Haarspange in Form eines AdlerHaupts, und zwar aufgrund der Assoziation des Tiers mit der Sonne bzw. dem Licht, von dem sich der Name der Heiligen etymologisch ableitet.36 Bietet Furini also eine raffinierte Bildlösung für ein darstellerisches Problem, das gerade die Würde der Figur betrifft? Will er mit dieser Strategie gar, wie es Tristan Weddigen jüngst postulierte, den Betrachter auffordern, „sich vom sinnlichen Blick ab – und zur Gottesschau hinzuwenden“,

33  Ich könnte mir gut vorstellen, daß Bernardino Spada diesem concetto des Bildes zuarbeite-

te, indem er es etwa an einen vergleichsweise schlecht beleuchteten Ort oder – wie es zumindest aus dem Settecento auch belegt ist –, nicht zwischen ausschließlich religiöse Bilder hängte. Die Bezeichnungen der benachbarten Bilder im Inventar von 1759 lauten: „un Imperatore“, „Scuola d’Astronomia“, „una testa con turbante“, „due ritratti“, „una Tempesta di mare“, „Madonna col bambino ed un Angelo“, „Madonna col Bambino“. Sicher ist zumindest, daß bereits 1661, als der Erhaltungszustand des Bildes wohl noch sehr gut war, dieses im Inventar bereits nicht mehr als Lucia-Darstellung verzeichnet ist. 34  Vgl. Schäpers, Junge Frau 1997, Kap. 3.4. und 3.5., S. 135–165; zum komplexen Thema der Gattungszugehörigkeit der Bella-Donna-Darstellungen zum Porträt, zur Allegorie oder zum Genre: ebd., S. 226–236. 35  Vgl. Weddigen, Lucias Augen 2005, S. 94. 36  Vgl. Rudolf Wittkower, Eagle and Serpent. A Study in the Migration of Symbols, in: Journal of the Warburg Institute 2 (1938/39), S. 293–323, bes. 312–323; Cannatà, Galleria di Palazzo Spada 1995, S. 95. Für weitergehende Überlegungen zum sinnbildlichen Zusammenhang der hl. Lucia und dem Adler siehe Weddigen, Lucias Augen 2005, S. 103.

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ja ihn zur „Selbstverneinung des leiblichen Sehens überhaupt“ führen?37 Was mich vorrangig zögern läßt, Furinis Darstellung der hl. Lucia sozusagen als Muster malerischer ‚Diskretion‘ mit der Absicht der Wahrung des Dekorums der Person zu lesen, ist einerseits der beschriebene erste Wahrnehmungseindruck des Bildes als elegante Toilettenszene und andererseits das von Furini initiierte Spiel um Sehen und Erkennen und die Dialektik von Verbergen und Enthüllen. Tatsächlich bildete die Augenlosigkeit Lucias in der Bildtradition nie ein Problem. Maler wie Guarino haben die Heilige sowohl mit ihren physischen Augen als auch mit einem separiertem Augenpaar gezeigt (Abb. 80) und wurden hierfür doppelt legitimiert: zum einen durch ihre Wahl des ikonischen Heiligenbildtypus, der die Darstellung einer Märtyrerin in körperlicher Integrität ermöglichte – dabei ist das isolierte Augenpaar folglich attributiv gemeint und ermöglicht die Identifikation der Figur –, zum anderen ließ sich eine solche Darstellung der Lucia durch Varianten der Legende rechtfertigen, denen zufolge die Märtyrerin von der Muttergottes nach ihrem Akt der Selbstverstümmelung umgehend ein neues, noch schöneres Augenpaar erhalten haben soll. Es sollte sie zur Gottesschau befähigen. Daß ein seicentesker Kenner der Werke Furinis dessen Heiligendarstellungen keineswegs sanktionierte, ja in ihnen – auch durch die Verwendung wiedererkennbarer Modelle – ein Dekorumproblem und eine Gefahr für die ‚guten Sitten‘ erkannte, wissen wir durch die Vita des Malers von der Hand Filippo Baldinuccis: „che però sparsasi in breve la fama di suo pennello, omai incominciava a mancargli il tempo per contentare i molti, che volevano sue pitture; e tanto più, perchè col grand’uso del naturale, egli si era fatta una maniera di colorire tenerissima e vaga: e (siamo lecito a dire ciò) che non potrà contentare gli animi de’ più prudenti, e de’ più casti, perchè egli avea fermato il suo per altro ottimo gusto in rappresentare la nudità delle femmine: cosa che, colpa di nostra malizia, è tanto 37  Ebd., passim, bes. S. 101–104; die Zitate auf S. 110 und 101. Ich halte Weddigens dialektische

und moralische Ausdeutung des Gemäldes, derzufolge uns dieses zeigen will, „daß das Sichtbare zum Unsichtbaren führen und visuelle Kunst sich selbst aufheben muß, um wahr­haftig zu sein“ (S.  103) aus mehreren Gründen für forciert und problematisch: Zum einen haben wir mit Baldinuccis Konstatierung eines Dekorumsproblem in Furinis Heiligendarstellungen ein starkes Indiz dafür, daß die zeitgenössische Lesart anders war, zum zweiten vernachlässigt Weddigen die übrigen Heiligendarstellungen des Malers, denen solche Strategien nicht unterstellt werden können, und schließlich bedenkt er zu wenig den Kontext des Werks in einer Sammlung, der in meinen Augen die Annahme einer solchen „gegenreformatorische[n], sozial diszipliniernde[n] Bildfalle“ eher unwahrscheinlich macht, wenngleich das ihr zugrunde liegende Prinzip einer ‚Wende‘ des irdischen Begehrens in himmlische Liebe in den Denkvorstellungen der Frühen Neuzeit natürlich grundsätzlich vorhanden war (ich gehe hierauf unten noch ein). Weddigens Konstatierung des Prinzips „ästhetische[r] und rhetorische[r] ­acutezza“ (S. 104) ist zuzustimmen, für ebenfalls zu weitgehend halte ich aber seine Annahme, die „­Lucia“ sei ein „sprechendes Sinnbild für Furinis notgedrungene und halbherzige Wende nach 1633, als er das Priesteramt und die Sinekure annahm […]“ (S. 111).

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dalla più parte applaudita, quanto perniciosa, per lo molto che ne patiscono i buoni costumi.“ „da sich aber innerhalb kurzer Zeit der Ruhm seines Pinsels verbreitet hatte, begann es ihm nun an der Zeit zu mangeln, die vielen zufrieden zu stellen, die seine Bilder erwerben wollten; und zwar umso mehr, da er sich durch seine vortreffliche Naturnachahmung eine überaus zarte und liebliche Art der Farbgebung erworben hatte: und (wir dürfen das sagen) da er den Sinn der Verständigsten und Sittsamsten nicht zufrieden stellen konnte, weil er seinen eigentlich besten Geschmack darauf beschränkt hatte, die Nacktheit der Frauen darzustellen: eine Sache, die – es ist die Schuld unserer Verdorbenheit – von der Mehrheit in dem Maße beklatscht wird, wie sie schädlich ist, aufgrund des hohen Maßes, indem die guten Sitten dadurch leiden.“38

Wie läßt sich diese Diskrepanz eines vermeintlich angemessenen Motivs in einem kalkuliert unangemessenen, der Darstellung einer Märtyrerin nicht adäquaten Arrangement also verstehen? Werden hier zwei semantische Facetten des Dekorum-Konzepts gegeneinander ausgespielt, nämlich das gewahrte innere Dekorum der Person – ihr bleibt die Würde der Person erhalten, wenn ihr augenloses Gesicht verhüllt ist – gegen das gebrochene äußere – also die Erscheinungsform und Ausdruckssprache des Gemäldes? Diese Frage berührt den Kern des Problems, aber ihre Beantwortung muß vorerst zurückgestellt werden, denn sie ist um einen dritten semantischen Inhalt des DekorumKonzepts zu erweitern: Was ist überhaupt das Dekorum einer Heiligenfigur in einem „quadro di stanza“?

1.3 Namenlose Märtyrerinnen und laszive Glaubenspersonifikationen: Furinis weibliche Heilige in Halbfigur Die „Lucia“ ist innerhalb von Furinis Œuvre ebensowenig einzigartig wie die „Pudentiana“ im Werk von Grammatica. Sie gehört zu einer größeren Gruppe von Darstellungen junger anmutiger Frauen in Halbfigur, die mehr oder weniger entblößt und ihrem situativen Kontext entbunden dargestellt sind. Mal werden im Profil, mal in weitgehend frontaler Ansicht gezeigt, oder

38  Baldinucci, Notizie, Bd. 4, S. 631; vgl. auch S. 629, 634 f., 642. Er erklärt sich Furinis Un-

sensibilität auf dem Gebiet des Dekorums mit dem Erbe seines Vaters, dem Maler mit dem sprechenden Namen „Pippo Sciamerone“ („der Schlamp“) und seinem Lehrer Domenico Cresti il Passignano, der bereits 1581 gemeinsam mit Federico Zuccaro wegen unangemessener Gestaltungsweisen aus Rom verbannt worden war und auch später in Florenz diesbezüglich in Konflikte geriet. Vgl. Weddigen, Lucias Augen 2005, S. 109. (Baldinuccis Vitenwerk erschien ab 1681).

Ein Mädchen bei der Hausarbeit und eine Dame bei der Toilette?

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sie richten ihren ‚blicklosen‘ Blick elegisch-verträumt nach oben bzw. auf ein unbestimmtes Ziel außerhalb des Bildfelds.39 Der Frisur und dem Dekolleté nach zu urteilen ist Furinis junge Märtyrerin in der Baltimore Walters Art Gallery (Abb. 81) der Lucia der Galleria Spada sehr ähnlich.40 Aufgrund des Palmwedels in der rechten und der Zange in ihrer linken Hand können wir in ihr die hl. Agathe erkennen, also jene sizilianische Jungfrau von vornehmer Abkunft und sprichwörtlicher Schönheit aus dem dritten Jahrhundert, die infolge der Zurückweisung eines Heiratsantrags durch den Statthalter von Sizilien als Christin verfolgt wurde und das Martyrium der Brustamputation erleidete. Auf dieses gibt uns Furini keine Hinweise, im Gegenteil: der die nahsichtige Präsentation des entblößten Frauenkörpers ermöglichende Bildausschnitt bietet uns den Blick auf einen durchaus reizvoll anzusehenden freien Oberkörper der Heiligen mit unbeschädigter Brust. Diesen Anblick stört auch keine mehr oder minder attributiv gemeinte Schale mit abgetrennten Brüsten, wie sie in der Bildtradition mehrfach begegnet.41 Ähnlich entblößt präsentiert sich die vollständig von der Seite gesehene Märtyrerin im Ringling Museum in Sarasota (Abb. 82).42 Die Identität dieser Heiligen ist nicht leicht bestimmbar. Die Attribute – ein Pfeil in ihrem Hals, der die Figur mitnichten verunstaltet, sowie ein Pfahl, an den sie gebunden ist –, lassen mehrere Möglichkeiten der Identifikation zu. Es könnte sich um die hl. Christina von Bolsena, die hl. Irene von Thessaloniki oder die hl. Ursula von Köln handeln, die alle, zumindest Teilen ihrer Legenden nach, das Martyrium durch Pfeilbeschuß erlitten. Eine Entscheidung, um wen es sich handelt, ist wohl nicht möglich, und vermutlich kommt die unspezifische Klassifizierung des Gemäldes als „a young martyr“, mit der es im Bestandskatalog des Ringling Museum geführt wird, dem beabsichtigten Effekt Furinis sogar sehr nahe. Er 39  Da über den Maler keine moderne Werkmonographie vorliegt, stütze ich mich im folgen-

den weitgehend auf das Bildmaterial der Fotothek der Bibliotheca Hertziana, wobei sich natürlich das Problem der Eigenhändigkeit der Werke ergibt. Toesca, Furini 1950, S. 13, nennt für die weiblichen Halbfiguren generell eine Entstehungszeit in den dreißiger Jahren (1633–1640). 40  64,2 × 50,3 cm; Baltimore, Walters Art Gallery, vgl. Federico Zeri, Italian Paintings in the Walters Art Gallery, Baltimore 1976, Bd. 2, Nr. 307, S. 435, Pl. 209; „after 1630“. Die Provenienz läßt sich nur bis ins 19. Jahrhundert nach Rom zurückverfolgen. 41  Vgl. die der „Lucia“ in der figürlicher Anlage sehr ähnliche Darstellung der Heiligen in der Galleria Palatina des Palazzo Pitti, in dem die Heilige von schräg hinten über die Schulter gesehen wird und ihre abgetrennten Brüste auf einem Teller hochhält, was sich ebenfalls als malerische ‚discretio‘ verstehen läßt. Vgl. die Abbildung im Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 5, S. 46, wo sie Lorenzo Lippi zugeschrieben wird und der frühere Aufstellungsort in den Uffizien angegeben ist. In das jüngste Werkverzeichnis Lippis von Chiara d’Afflitto (2002) ist das Bild nicht aufgenommen. 42  64 × 55 cm; Sarasota, The John & Mable Ringling Museum of Art; siehe für dieses Gemälde: Peter Tomory, Catalogue of the Italian Paintings before 1800. The John & Mable Ringling Museum of Art, Sarasota 1976, Nr. 15, S. 19: „The young martyr is presumably one of the early Roman Christians but she has not been identified“.

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81  Francesco Furini, Hl. Agathe, Baltimore, The Walters Art Museum

82  Francesco Furini, Junge Märtyrerin, Sarasota, The John & Mable Ringling Museum of Art

zeigt eine überaus attraktive und junge Märtyrerin, die wohl ihrem himmlischen Bräutigam einen begehrenden Blick zuwirft. Daß sie von den Rezipienten des Gemäldes möglicherweise ebenso betrachtet wird, läßt sich kaum ausschließen, und das war wohl auch Furinis Intention.43 Welchem Bildtypus der Maler hier folgt, ob er ausschnitthaft die Schilderung eines ungewöhnlich unblutig verlaufenden Martyriums zeigt oder ein ikonisches Heiligenbild, in dem Pfeil und Pfahl attributiv gemeint sind, ist bewußt offengelassen. Gänzlich offen ist schließlich das Sujet einer kleinformatigen Darstellung einer Heiligen mit himmelwärts gerichtetem Blick und weitem Dekolleté ohne jedes Attribut in Dresden (Abb. 83).44 Mit ihr entwirft Furini eine visuelle Formel für die weibliche und vermutlich jungfräuliche Heilige ‚an sich’, die durch kein die Wirkung womöglich beeinträchtigendes Attribut – wie dies ein Pfeil in ihrem Hals täte – bezeichnet wird.

43  Auf den Problemkomplex des erotischen Bildes gehe ich unten in Kap. II.2.4. ausführlicher

ein. 44 47  ×  37  cm; Dresden, Staatliche Kunstsammlungen; siehe Staatliche Kunstsammlungen

Dresden. Gemäldegalerie Alte Meister. Illustrierter Katalog in 2 Bänden, hg. v. Harald Marx, Köln 2005, Bd. 2, Nr. 750 S. 262 (Schule). Das Gemälde gelangte im 19. Jahrhundert aus Privatbesitz in die Sammlung und wird dort als „Eine Märtyrerin“ geführt.

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83 Francesco Furini, Junge Heilige, Dresden, Gemäldegalerie, Alte Meister

Furini entwickelt in seinen halbfigurigen Heiligenbildern also einen unspezifischen Bildtypus, der durch wenige Attribute oder sonstige Merkmale verschieden markiert werden kann, aber – wie im Dresdener Fall – auch nicht markiert werden muß. Wie weit er dabei geht, zeigt der Vergleich des Gemäldes in Sarasota (Abb. 82) mit einem Ovaltondo in der Florentiner Galleria Palatina (Abb. 84).45 Dieses verfügt über eine nahezu identische Figuration bei lediglich veränderten Attributen und sorgfältigerer Frisur mit eingeflochtenen Bändern und Perlen: Statt Pfeil und Pfahl hält die weibliche Figur einen kostbaren Kelch in der rechten Hand, der ihre Benennung als „Fides“ nahelegt. In der Literatur wurde allerdings auch der Vorschlag geäußert, das Gemälde sei mit einer von Filippo Baldinucci beschriebenen „Baccante col bicchiere in mano“ in ovaler Form in Verbindung zu bringen.46 Der Grund für diese konträren Bezeichnungen ist unmittelbar einsichtig: Auch wenn die Nacktheit von Schulter und Oberkörper einer Fides-Darstellung durch Cesare Ripas „Icono45  65 × 49 cm; Florenz, Galleria Palatina; vgl. Un’altra bellezza. Francesco Furini 2007, Nr.

23, S. 198; Mina Gregori, Uffizi e Pitti. I dipinti delle gallerie fiorentine, Udine 1994, Nr. 526, S. 398; La Galleria Palatina e gli Appartamenti Reali di Palazzo Pitti. Bd. 2: Catalogo dei dipinti, hg. v. Marco Chiarini & Serena Padovani, Florenz 2003, Nr. 295, S. 184 (um 1630); Toesca, Furini 1950, fig. 18. Möglicherweise ist es mit dem von Filippo Baldinucci in der Sammlung von Pier Francesco Vitelli genannten Gemälde zu identifizieren. 46  So Toesca, Furini 1950, S. 13 (Baldinucci, Notizie, Bd. 4, S. 638).

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84  Francesco Furini, Personifikation des Glaubens, Florenz, Galleria Pitti

85  Francesco Furini, Weibliche Figur mit Schale, Florenz, Museo Horne

logia“ als Ausdruck der reinen und klaren Verkündigung des Evangeliums – für die ja auch der Kelch steht – sanktioniert ist,47 so ist sie in der Bildtradition eher selten belegt.48 Und die Darstellung einer theologischen Tugend – zugleich Personifikation des Glaubens und der Treue – mit leicht erigierter Brustwarze und geöffnetem Mund dürfte ihresgleichen suchen. Fides oder Bacchantin? Das Problem der geringen Verweiskraft eines Trinkgefäßes stellt sich auch bei zwei Darstellungen halbfiguriger Frauen mit gänzlich entblößter Brust und Schale in der Hand im Wiener Kunsthistorischen Museum49 und im Florentiner Museo Horne (Abb. 85).50 Ob es sich bei 47  Die entsprechende Ausdeutung findet sich m. W. erst in der im Jahre 1645 in Venedig er-

schienen Edition, die von Giovanni Zarantino Castellini erweitert wurde: „E nuda intorno alle spalle, E’l petto, perche la predicatione Euengelica non deue essere palliata con parole, & enigmi, ò con parole oscure, & doppie, come fanno gl’Heretici, ma si deue l’Euangelio esplicare puro, & chiaramente“ (S. 199 f.). 48  Gosbert A. Schüßler, s.v. Fides II: Theologische Tugend, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 8, München 1987, Sp. 773–830, hier 782. 49  64,5 × 50 cm; Wien, Kunsthistorisches Museum; vgl. Silvia Ferino Pagden, Wolfgang Pro­ haska u. a., Die Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museum in Wien. Verzeichnis der Gemälde, Wien 1991, S. 60, Tf. 201 oben links, hier als „Büssende Heilige Magdalena (?)“ verzeichnet. 50  74 × 55 cm; Florenz, Museo Horne; im jüngsten kleinen Museumführer als „Artemisia“ verzeichnet (Il Museo Horne. Una casa fiorentina del Rinascimento, hg. v. Andrea Ulivi, ­Florenz 2001, S. 57); Toesca, Furini 1950, Abb. 50 „Donna morente“; vgl. auch die das Bildfeld

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ihnen um religiöse, allegorische, mythologische oder um Genrefiguren handelt, ist völlig unklar. Diese Übersicht über Furinis halbfigurige Frauendarstellungen zeigt in aller Deutlichkeit, wie der Maler vorging: Er entwickelte einen in hohem Maße offenen Bildtypus, der durch wenige Attribute markiert und damit auch für verschiedene Themen semantisch besetzt werden konnte. Nicht der auf eine Heilige, Bacchantin oder eine Genrefigur verweisende Habitus der Figur, ihr äußerer aspetto oder spirito gibt dem Rezipienten das Signal einer möglichen Zugehörigkeit des Bildes zum Genre, zur Mythologie oder zur religiösen Bildwelt, sondern allein sinntragende Gegenstände und Attribute in ihrer Hand. Fehlen sie – wie im Dresdner Bild – oder sind sie zu schwach semantisiert – etwa im Fall der Schale in den zuletzt genannten Werken oder beim Kelch der „Fides“ oder „Bacchantin“ –, ist die Benennung der Figur gar nicht oder nicht mit Sicherheit zu leisten. Hier zeichnet sich eine kalkulierte Offenheit des Sujets, und damit eine semantische Unterdeterminiertheit der Bilder ab, die durch den Rückgriff auf das stets gleiche weibliche Modell noch intensiviert wird.51 Leider kennen wir den Rezipientenkreis von Furinis Gemälden nicht, wir wissen aber durch Baldinucci, wie begehrt die Gemälde bei ihren Sammlern waren und kennen wiederum die überaus kritische Haltung des Theoretikers, die sich auf das aus der offenkundigen Nutzung junger Mädchen als Modelle und der Vorliebe des Malers für weibliche Nacktheit resultierende DekorumProblem stützt.52 Auch das Phänomen der schwachen Semantisierung bzw. leichten Umsemantisierung der Bilder im Rezeptionsvorgang hat Kritik erfahren, die sich allerdings nicht spezifisch gegen Furini richtet, sondern generell formuliert ist. Sie stammt von der Hand des venezianischen Kunsttheoretikers Marco Boschini und findet sich in seinem im Jahr 1660 publizierten monumentalen Lehrgedicht „Carta del navegar pittoresco“: „Vaga per certi tali, che sa far Nome meze figure, e ha tanti umori. I è tanto miserabili in dessegno, E tanto scarsi a trovar l’invencion, Che i no ha repiego, né ressolucion, Per esser grimi e grami, senza inzegno. […] E se i’ncontra int’un ato de so gusto, […] erweiternde Version in der Sammlung von Mina Gregori: Giuseppe Cantelli, Repertorio della pittura fiorentina del Seicento, Florenz 1983, Nr. 453. 51  Für die Modellfrage siehe von Buerkel, Furini 1907/09, S. 63. 52  Siehe oben, S. 188 f.

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Cento volte i lo copia per dileto, E in ogni quadro i lo reporta giusto. Per esempio i farà con pulitezza Meza figura, una Susana nuda; Col farghe do Colombe, i la tramuda In la vezzosa Dea de la Belezza. […] E se per sorte ghe vien su la vena De trasformarla in qualche altra figura, I ghe fa un vaso in man con studio e cura, E la deventa Maria Madalena. E le so teste xe tute a livrea: Ché un volto serve al zane e al pantalon; Né se distingue el savio dal bufon, Ché i xe tuti mustazzi d’una idea.“ „Geht zu solchen [Malern], die nur Halbfiguren Zu machen verstehen und viele Launen haben. Sie sind erbärmlich im disegno, und es fehlt ihnen gleichermaßen Erfindung [invenzione], sodass sie weder Ausweg, noch Lösung haben. da sie ohne Fähigkeiten, ohne Begabung [inzegno] sind. […] Und wenn sie eine Haltung nach ihrem Geschmack finden, […] kopieren sie sie aus Freude hundert Mal, und geben sie genauso in jedem Bild wieder. Zum Beispiel werden sie eine Halbfigur gut macgen, eine entblößte Susanna; indem sie dort zwei Tauben erschaffen, verwandeln sie sie in die anmutige Göttin der Schönheit. […] Und wenn sie zufällig die Laune überkommt, sie in eine andere Figur zu verwandeln, geben sie ihr mit Studium und Sorgfalt ein Gefäß in die Hand, und sie wird zu Maria Magdalena. Und ihre Köpfe sind alle gleich: denn ein Gesicht dient dem Zane und dem Pantalone; Und der Weise unterscheidet sich nicht vom Narr, Denn es sind alles Schnuten nach einer [einzigen] Idee [idea].“53 53  Marco Boschini, La carta del navegar pitoresco, hg. v. Anna Pallucchini, Venedig 1966,

S. 272; die dt. Übers. verdanke ich Anja Brug. Die Schrift ist dialogisch angelegt und fingiert die Unterhaltung einer „Eccellenza“, die die beiden ersten Verse der oben zitierten Passage

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In diesen durch die Verwendung des venezianischen Dialekts und die Reimform nicht leicht verständlichen Versen charakterisiert Boschini pointiert, wie die von ihm inkriminierten Maler von „Halbfiguren“ (mezze figure) – möglicherweise bezieht er sich konkret auf Guido Cagnacci – 54 vorgehen. Sie machen aus einer weiblichen Halbfigur durch Hinzufügung eines Attributs eine Susanna, transformieren diese mittels zweier Tauben in eine Göttin der Schönheit, und schließlich „wird“ („deventa“) aus ihr durch ein Gefäß eine Maria ­Magdalena (!). Die Wahl der Sujet-Beispiele aus dem Alten Testament, der antiken Mythologie und der sakralen Malerei erfolgt dabei natürlich gezielt. Es ist das Fehlen einer spezifischen Ausdruckssprache für diese so grundverschiedenen Themen, das der Autor auf Umwegen, aber durchaus polemisch kritisiert, wenn er die Vorgehensweise dieser Maler auf deren launenhaftes Wesen und indirekt auch auf ihre Bequemlichkeit – Mühe geben sie sich nur bei der Darstellung von Gefäßen – zurückführt. Sie ist für ihn Folge und zugleich Ausdruck der Ideenarmut der Künstler und ihres mangelnden ingenium („E tanto scarsi a trovar l’invencion“ / „senza inzegno“), doch dürfte er mit dieser Erklärung nicht nur im Fall von Furini viel zu kurz greifen. Denn nicht zufällig setzt der Maler diese visuelle Strategie gerade bei mehr oder weniger entblößten Frauendarstellungen ein. Der Reiz etwa des Dresdener Brustbilds einer Heiligen ohne Nimbus, einer Märtyrerin ohne Werkzeug oder einer einfachen donna dürfte auch für einen Betrachter des Seicento exakt in dieser thematischen Indifferenz und damit gewollten Ambiguität bestanden haben. Auch der himmelwärts gerichtete Blick läßt sich nicht als Zeichen für eine bestimmte Heilige lesen, denn auch Figuren der profanen Historie, wie Kleopatra, weisen ihn auf. Es ist diese thematische Ambiguität zwischen einer profanen und einer sakralen Darstellung, die den Assoziationen des Betrachters freien Raum gibt, und dies in doppelter Hinsicht: Sie bietet intellektuellen Anreiz im Durchspielen der Möglichkeit der Semantisierung dieser donne und

spricht, mit ihrem „Begleiter“ [Compare], der das folgendes ausführt. Diese kritisch bewertete Praxis der Maler von „Halbfiguren“, worunter Boschini meistens die von ihm kritisch gesehen „naturalisti“ versteht, bildet die Negativfolie für die im Anschluß behandelte venezianische Historienmalerei. Für diese Schrift siehe Mitchell Frank Merling, Marco Boschini’s „La carta del navegar pitoresco“: Art Theory and ‚Virtuoso‘ Culture in Seventeenth-Century Venice, Ann Arbor 1994 (Phil. Diss Providence, Brown Univ. 1992); Philip Sohm, Pittoresco. Marco Boschini, his critics, and their critiques of painterly brushwork in seventeenth- and sixteenthcentury Italy, Cambridge 1991, auch Verf.in, Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2001, S. 57–59, zu dieser Passage auch Guido Cagnacci 1993, S. 36 und 41. 54  So Daniele Benati, Guido Cagnacci, Il corpo e l’anima, in: Guido Cagnacci 2008, S. 27–53 und 283, einem Hinweis der Boschini-Editorin Anna Pallucchini folgend [ebd., S. 272]. Es ist allerdings kritisch anzumerken, daß Cagnacci in der „Carta“ nicht namentlich erwähnt wird. Am Aussagewert dieser Verse Boschinis als prägnanter Reflexion eines ubiquitären Phänomens in der Malerei des Seicento ändert dies nichts.

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zugleich sinnliches Vergnügen, wird diese Bildstrategie doch an einem hoch attraktiven Sujet erprobt. Was Boschini in seinen Versen zwar nicht expliziert, was ihn bei ihrer Abfassung aber sicherlich ebenfalls motivierte, ist die Frage der Angemessenheit solcher visuellen Strategien insbesondere für religiöse Sujets – also jene, die auch die „Lucia“ der Galleria Spada (Abb. 78) aufwirft. Sie verknüpft sich hier mit einem weiteren Aspekt des Dekorums, und zwar der offenkundigen ‚Laszivität‘ der Bilder, um es mit den Worten der Zeit zu formulieren. Welcher Art die Blicke waren, die die hl. Agathe und die namenlose Märtyrerin in Sarasota (Abb. 81 und 82) gelegentlich oder mehrheitlich auf sich gezogen haben, entzieht sich zwar unserer Kenntnis, aber de facto stimulieren die Werke kaum zur Vergegenwärtigung des von den Heiligen erlittenen Schicksals, und dies nicht nur, weil – wie im Fall des Bildes in Sarasota – die Identität der Heiligen überhaupt nicht feststeht. In diesem Verzicht auf eine Bildsprache, die uns das erlittene Schicksal der Märtyrerinnen in größtmöglicher Drastik und Grausamkeit vor Augen stellt, um sich derart unserer affektiven Teilhabe zu versichern, manifestiert sich eine offenkundige Diskrepanz zu den Vorstellungen der Zeit bezüglich der generellen Ausdruckssprache religiöser Bilder und speziell der Darstellungen von Heiligen und Märtyrern um 1600.55 Dies ist vor dem Hintergrund der Bedeutung, die man in der Nachfolge des Tridentinums dem Kult der Märtyrer zuerkannte, besonders bemerkenswert. Sie ist belegt durch eine Vielzahl vor und um 1600 entstandener Märtyrerzyklen und publizierter Märtyrerlegenden.56 Auch das vermutlich um 1596/97 von Gallé produzierte Stichwerk mit Märtyrerdarstellungen, für das Antiveduto Grammatica die Vorlagen schuf, verdankt sich dieser Tendenz.57 Grammaticas „Pudentiana“, Furinis „Lucia“ und die übrigen Heiligen des Florentiner Malers in mezza figura entbehren aber nicht nur der evidentia, sie inszenieren förmlich das Gegenteil: eine hochgradige Ambiguität, die nicht auf die emotionale Steuerung und Beeinflussung des Rezipienten im 55  Siehe hierzu unten Abschnitt 7 in diesem Kapitel. 56  Die Literatur zu diesem Themenkomplex ist sehr umfangreich; vgl. neben dem Standard-

werk von Emile Mâle, L’Art religieux après le Concile de Trente. Etude sur l’iconographie de la fin du XVI siècle, du XVII, du XVIII siècle; Italie, France, Espagne, Flandres, Paris 1932, auch Lydia Salviucci Insolera, Gli affreschi del ciclo dei martiri commissionati al Pomarancio in rapporto alla situazione religiosa ed artistica della seconda metà del Cinquecento, in: Santo Stefano Rotondo in Roma. Archeologia, storia dell’arte, restauro. Archäologie, Bauforschung, Geschichte (Akten der Internationalen Tagung Rom 1996), hg. v. Hugo Brandenburg und ­József Pál, Wiesbaden 2000, S. 129–137; David Freedberg, The Representation of Martyrdoms During the Early Counter-Reformation in Antwerp, in: The Burlington Magazine 118 (1976), S. 128–138; Alexandra Herz, Imitators of Christ: The Martyr-Cycles of Late Sixteenth Century Rome Seen in Context, in: Storia dell’arte 62 (1988), S. 53–70. 57  Siehe oben, Anm. 6. Hier ist anzumerken, daß die hll. Pudentiana und Praxedis keine Märtyrerinnen waren.

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Sinne des Mitleidens, sondern vielmehr auf seine aktive intellektuelle Sinnzuweisung und auf eine allgemeine Stimulierung der Sinne zielt. Hier zeichnet sich eine große Spannbreite ab zwischen dem, was in Traktaten und „Instructiones“ für Darstellungen im öffentlichen Raum gefordert wurde, und dem, was im privaten oder halbprivaten Raum einer Sammlung zumindest möglich war. Daß der private Raum jedoch kein ‚norm-freier‘ war, in dem jede Gestaltungsweise erlaubt war, zeigen die überaus kritischen Äußerungen von Scannelli über Caravaggios unterdeterminierte Magdalena-Darstellung und von Boschini über die weiblichen Halbfiguren der Maler seiner Generation, denen er im Prinzip das freie Flottieren der Semantik unterstellt. Wie diese Gestaltungsnormen und -möglichkeiten, die für das religiöse Galeriebild existieren, aussahen, wurde bedauerlicherweise nie normativ formuliert. Der Versuch ihrer Rekonstruktion ist aber mit Blick auf deskriptive Zeugnisse ihrer Rezeption bei gleichzeitiger Erweiterung des Bildmaterials möglich, wie ich im folgenden zeigen möchte.

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2. Unklare Gesten oder worum wird gespielt? ­Variationen über zwei petrinische Sujets An Grammaticas „Pudentiana“ und Furinis weiblichen Märtyrerinnendarstellungen haben wir bereits gesehen, wie die Betrachter durch Bildstrukturen der Ambiguität und der semantischen Unterdeterminiertheit in neuer Weise gefordert werden. Der Wahrnehmungsvorgang wird hierdurch nicht nur stark gedehnt, er kann sogar zu einem Prozeß der notwendigen aktiven Sinnstiftung werden. Wie kalkuliert von einigen Malern auf eine solche Rezeptionsweise im Sinne einer inhärenten Produktionsvorgabe hingearbeitet wird, möchte ich nun auch für solche Gemälde zeigen, die narrativ strukturiert sind und über mehrere Figuren verfügen. Zwei petrinische Sujets sollen dabei im Zentrum stehen: die Befreiung des Apostels aus dem Kerker und seine Verleugnung.

2.1 Ein ‚Close-up‘ eines Altarbildes: Filippo Vitales „Befreiung Petri“ in Nantes Dem neapolitanischen Maler Filippo Vitale58 wird ein Gemälde im Musée des Beaux-Arts in Nantes (Abb. 86) zugeschrieben,59 das zwei männliche Figuren im Halbfigurenausschnitt vor dunkelbraunem Hintergrund zeigt. Der jüngere von beiden steht frontal vor uns. Er trägt ein leuchtend weißes Gewand mit einer über der Brust gekreuzten Stola und grauem Umhang und hat den älteren weißhaarigen Mann mit Stirnglatze an der Hand gefaßt. Mit seiner ausgestreckten Rechten weist er dem Älteren den Weg. Dieser scheint sich bei dem Jüngeren über den Sinn und Zweck dieses Tuns vergewissern zu wollen, was er mit dem Gestus seiner linken Hand unterstreicht. Kein Attribut benennt ihn, lediglich der graue Bart und die Stirnglatze geben den Hinweis, daß es sich um Petrus handeln könnte. Das hell leuchtende Gewand des Jüngeren mit dem über Kreuz getragenen Küraß verweist hingegen auf die himmlische Sphäre. Bei guter Ausleuchtung des Gemäldes ist im Hintergrund ein großes dunkles 58  Ca. 1585–1650. Für das Werk dieses Malers, das noch keine monographische Behandlung

erfahren hat, siehe Stefano Causa, Note di primo naturalismo: Un contributo per F ­ ilippo ­ itale, in: Paragone 45 (1994), S.  203–211; Giuseppe De Vito, Un contributo per Filippo V ­Vitale, in: Ricerche e sul’ 600 napoletano. Bd. 6: Saggi e documenti per la storia dell’arte, Mailand 1987, S. 105–143; für seine Vita: Nicola Spinosa, in: Tra luci e ombre: la pittura a Napoli da ­Battistello Caracciolo a Luca Giordano (Ausst.-Kat. Rimini, Museo della città 1996/97) ­Neapel 1996, S. 55 f. 59  129  ×  154  cm; Nantes, Musée des Beaux-Arts; siehe Sarrazin, Catalogue raisonné 1994, Nr. 195, S. 247 f., die als Datierung „vor 1618“ angibt. Die Provenienz des Gemäldes läßt sich nur bis ins das frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen.

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86 Filippo Vitale, Befreiung Petri, ­Nantes, Musée des Beaux-Arts

Flügelpaar und der Ansatz eines Nimbus zu erkennen, die die Figur zweifelsfrei als Engel bestimmen. Mit einer gewissen ikonographischen Vorbildung läßt sich aus diesen visuellen Informationen auf das Sujet des Gemäldes schließen: Es handelt sich um die Verbildlichung der wundersamen Befreiung Petri aus dem Kerker. Sie wird in der Apostelgeschichte (12, 5–9) ausführlich geschildert: „So wurde Petrus also im Gefängnis festgehalten […]. Als nun Herodes ihn vorführen wollte, schlief Petrus in jener Nacht, an zwei Ketten gefesselt, zwischen zwei Soldaten, und Wächter bewachten vor der Tür das Gefängnis. Und siehe, ein Engel des Herrn trat ein, und Licht erstrahlte im Raum; er stieß Petrus in die Seite, weckte ihn auf und sprach: ‚Steh eilig auf!‘ Da fielen ihm die Ketten von den Händen. Und der Engel sagte zu ihm: ‚Gürte dich und ziehe deine Schuhe an!‘ Er tat so. Weiter sagte er zu ihm: ‚Leg deinen Mantel um und folge mir!‘ Er ging hinaus und folgte ihm, wußte aber nicht, daß es Wirklichkeit war, was durch den Engel geschah, sondern glaubte, ein Gesicht zu schauen.“

Vor der Folie dieses Berichts ist auffällig, wie wenig Informationen uns Vitale in seinem Gemälde gibt. Es zeigt keinen Kerker, keine Wächter, die den Ausgang bewachen, und nicht einmal die Ketten des Apostels, die auf seine Gefangennahme verweisen. Vitale konzentriert sich ausschließlich auf die physische und vor allem die psychische Interaktion der beiden Figuren. Was die Identifizierung des Sujets durch den zeitgenössischen Betrachter wesentlich beschleunigt haben dürfte, ist seine mögliche Kenntnis einer in der Figuration ähnlichen, aber eindeutigeren Darstellung des Sujets. Gehen wir davon aus, daß sich Vitales Gemälde stets in Neapel befand und seine stilistische Datierung durch Béatrice Sarrazin in die Jahre vor 1618 zutrifft, dürfte dies

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

87 Battistello Caracciolo, Befreiung Petri, Neapel, Pio Monte della Misericordia

Battistello Caracciolos Altarbild im neapolitanischen Pio Monte della Misericordia von 1615 (Abb. 87) gewesen sein.60 In ihm sind die dunklen Flügel des Engels zwar mit bloßem Auge kaum auszumachen, allerdings gibt uns Caracciolo durch seine wie selbstleuchtende Erscheinung und vor allem durch die Gruppe schlafender Soldaten im Vordergrund ausreichend Informationen über den szenischen Zusammenhang. Die Tatsache, daß es sich ja um ein Altarbild handelt, lenkt ferner den Vorgang der Wahrnehmung, was die Identifikation der Figuren angeht, von vornherein in die richtigen Bahnen. Die Affinität beider Engelfiguren mit ihrem sehr ähnlichen Weisegestus nach rechts, und damit in Richtung der auf Rettung verheißenden Lichtquelle, lässt vermuten, daß Vitale diesen Bezug auf Caracciolos Pala sehr bewußt hergestellt 60  310 × 207 cm; bezeichnet mit „GBCA“; siehe hierfür Causa, Caracciolo 2000, Nr. A33,

S. 182 f.; Battistello Caracciolo 1991, Nr. 1.7., S. 216 f.; es ist durch zwei Zahlungen aus dem Jahr 1615 sicher datiert.

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hat, um vielleicht sogar eine ‚vergleichende‘ Rezeption der beiden Werke anzuregen. Denn gewissermaßen ist sein Gemälde ein ‚Close-up‘ des Altarbildes im Querformat. Dabei verschiebt Vitale den Akzent in der Handlungserzählung in signifikanter Weise. Schildert Caracciolo den tatsächlichen Aufbruch von Petrus und dem Engel aus dem Kerker – der Apostelfürst blickt besorgt auf die Soldaten, aber seine linke ausgestreckte Hand unterstreicht bereits die Bewegungsrichtung und den -impuls der den Kerker verlassenden Figuren –, verbildlicht Vitale einen früheren Moment der Handlungssukzession: Petrus und der Engel sind noch nicht aufgebrochen, der Apostelfürst scheint sich vielmehr fragend an seinen Begleiter zu wenden. Von einer Irritation Petri, der meint, „ein Gesicht zu sehen“, berichtet die Apostelgeschichte zwar, allerdings mit Bezug auf einen späteren Zeitpunkt. Tatsächlich hat Vitale wohl auch weniger Petri Zweifel an der Realität des Engels ins Bild gesetzt – dies hätte sich ja gestisch und mimisch leicht verbildlichen lassen – als vielmehr sein erstauntes Nachfragen nach Sinn, Möglichkeit und vielleicht auch Rechtmäßigkeit dieser Flucht. Obgleich uns Vitale mit der Wendung des Kopfes Petri fast ins verlorene Profil wohl bewußt jede diesbezügliche Information entzieht, erinnert der Gestus der linken Hand an umgangssprachliche Gebärden ungeduldigen Nachfragens. Wie dem auch sei; der entscheidende Impuls für die von Vitale mit Sicherheit intendierte Bezugnahme auf Caracciolos Altarbild wird darin bestanden haben, die Szene emotional zu verdichten. Dafür bildet die durch den ‚Close-up‘-Ausschnitt bedingte Möglichkeit der ‚Naherückung‘ der Betrachter an das Geschehen bei gleichzeitiger Lebensgröße der Bildfiguren die Voraussetzung.61 Wenngleich alle Informationen über den ursprünglichen Aufbewahrungsort von Vitales Gemälde fehlen, ist doch aufgrund seines Formats anzunehmen, daß es für eine private Sammlung bestimmt war. Der Vergleich des Werks mit Battistello Caracciolos Altarbild kann daher besonders deutlich machen, welches Potential der Gattung des Sammlerbildes mit Halbfiguren inhärent war. Durch die Fokussierung auf Mimik und Gebärdensprache – tatsächlich ist die Dominanz der Gesten im Bild augenfällig – wird die Gefühlssprache intensiviert und hierdurch die psychische Dimension der Sujets akzentuiert. Daß das Thema der Befreiung Petri aus dem Kerker dies ermöglicht, ist in meinen Augen ein Grund für seinen späteren Erfolg als Sammlerbild mit Halbfiguren. Nicht zu vergessen ist natürlich der Umstand, daß das Sujet die Erscheinung eines Engels voraussetzte, der ja infolge von Caravaggios knabenhafter und hochgradig ambivalenter Darstellungen der himmlischen Wesen zu einer Lieblingsfigur der ‚Caravaggisten‘ avancierte. 61 Für das Potential des halbfigurigen Sammlerbildes, den Betrachtern die verbildlichten

Emotionen zu vergegenwärtigen, siehe nun Sandra Gianfreda, Caravaggio, Guercino, Mattia Preti. Das halbfigurige Historienbild und die Sammler des Seicento, Emsdetten/Berlin 2005 (Diss. Univ. Bern).

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

Das Interesse am Sujet der Befreiung Petri als Sammlerbild dürfte sich allerdings auch der potentiellen Ambiguität der Darstellungen verdanken. Sie wird durch die Reduktion der auf die Handlung verweisenden Gegenstände und die hierdurch bedingte Konzentration auf Mimik und Gestik als Handlungsträger generiert. Damit komme ich zurück auf den Aspekt der Lesbarkeit von Vitales Gemälde quasi nur ‚mit Hilfe‘ von Caracciolos Altarbild. Aus der historischen Distanz von vierhundert Jahren ist es heuristisch außerordentlich schwierig zu rekonstruieren, welches Bildwissen die Betrachter zu einem bestimmten Zeitpunkt hatten bzw. haben konnten und was ihnen daher zu identifizieren möglich war. Darüber hinaus dürfte die visuelle Kompetenz der Betrachter höchst verschieden ausgebildet gewesen sein. Wichtig sind in diesem Zusammenhang zwei Aspekte: Vitale reduziert offensichtlich sehr bewußt die bild­ lichen Verweiselemente auf das Sujet, wenn er uns Gegenstände wie die Ketten und sogar die Soldaten vorenthält, welche die ins Bild gesetzte Handlung verdeutlichen, wenn er ferner Petrus ohne Schlüssel zeigt und den Engel – sicherlich angeregt durch Caravaggios Altarbild im Pio Monte della Misericordia mit den „Sieben Werken der Barmherzigkeit“62 – nur mit sehr dunklen, sich vom Hintergrund kaum abzeichnenden Flügeln. Er tut dies, obwohl das Sujet der Befreiung Petri zu diesem Zeitpunkt, soweit dies rekonstruierbar ist, in der Form mit Halbfiguren wohl noch gar nicht oder zumindest mit einiger Sicherheit noch nicht in Neapel existierte.63 Für den Rezeptionsvorgang bedeutet dies folgendes: Der Betrachter liest das Gemälde, indem er es vor seinem inneren Auge mit strukturell ähnlichen, jedoch informativeren Darstellungen in Beziehung setzt, um im Vorgang der Rezeption die ‚fehlenden‘ bildlichen Daten quasi imaginativ zu ergänzen.

2.2 Mit und ohne Flügel: Antiveduto Grammaticas Variationen der „Befreiung Petri“ Daß das hier virulent werdende Thema visueller Semantisierung das vorrangige Interesse der Maler bei der Entwicklung solch potentiell ambiger Bilder war und daß dies mit ihrer Reflexion des Verweiswerts der visuellen Zeichen von Mimik und Gestik einhergeht, möchte ich mit Bezug auf zwei andere 62  Siehe für dieses Gemälde oben Kap. I, Anm. 147. 63 Vgl. die Liste bei Nicolson, The International Caravaggesque Movement 1979, S.  216.

Die Frage, welche der Darstellungen zuerst entstand und daher möglicherweise zum Prototyp für die späteren wurde, ist aufgrund der höchst ungenauen Datierungen der Gemälde der ‚Caravaggisten‘ nicht zu beantworten. Honthorsts Verbildlichung des Sujets in der Berliner Gemälde­galerie wird beispielsweise ebenso ungenau um 1616–18 datiert. So oder so wird das Gros der neapolitanischen Betrachter von Vitales Gemälde von Honthorsts Werk oder etwaigen früheren römischen Darstellungen keine Kenntnis besessen haben.

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88 Antiveduto Grammatica, Befreiung Petri, Kunsthandel

Verbildlichungen desselben Sujets von Antiveduto Grammatica, die ein noch viel offensichtlicheres Kalkül des Malers zu erkennen geben, deutlich machen. Wir haben bereits gesehen, daß Grammatica ebenso Bildkonventionen bedienen konnte, wie er mit seinen Gemälden der Heiligen Pudentiana und Dorothea (Abb. 72 und 77) alternative Möglichkeiten der Visualisierung des einfigurigen Heiligenbildes erprobte. Seine Darstellung der „Befreiung Petri“ (Abb. 88) aus dem Kerker befand sich vor einigen Jahren im Kunsthandel; ihr aktueller Aufbewahrungsort ist unbekannt.64 Mit Vitales Gemälde hat sie einige Gemeinsamkeiten; eine tatsächliche Abhängigkeit der beiden an verschiedenen Orten entstandenen Werke voneinander ist allerdings unwahrscheinlich. Grammatica zeigt Petrus und den Engel in ähnlichem Ausschnitt und analoger Anordnung im Bildfeld. Sie befinden sich vor tiefdunklem Hintergrund, und auch die Farbigkeit ihrer Gewänder ist vergleichbar, auch wenn der Engel in Grammaticas Gemälde ein einfacheres, gegürtetes und auch dunkleres Hemd 64  96,5 × 75 cm; siehe hierfür Christie’s Monaco (Monte Carlo), 2.12.1989. Importants tab-

leaux et dessins anciens et du XIXème siècle, Nr. 13, mit Bezeichnung als „École napolitaine, début XVIIème“. Siehe auch Riedl, Antiveduto 1998, S. 114, Abb. 31; Papi, Antiveduto Gramatica 1995, Nr. 46, S. 130; ders., in: Giovanni Serodine 1594/1600–1630 e i precendenti romani (Ausst.-Kat. Rancate, Pinacoteca Cantonale Giovanni Züst 1993), hg. v. Roberto Contini & dems., Lugano 1993, S.  144. Weder für dieses Gemälde noch für die Fassung in römischem Privatbesitz konnte ich den Standort ermitteln. Daher konnte ich auch nicht überprüfen, ob sie tatsächlich leicht divergierende Bildausschnitte aufweisen, oder ob die Fotografien diesbezüglich ungenau sind.

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89 Antiveduto Grammatica, Befreiung Petri, Rom, Privatsammlung

trägt und überhaupt an den caravaggesken Engel-Typus des simplen ragazzo mit porträthaften Zügen erinnert. Bezeichnenderweise verfügt er auch nicht über Flügel. Grammatica verbildlicht einen noch früheren Moment der Handlungssukzession als Vitale es tat. Hier ist der Engel offensichtlich soeben erst auf Petrus zugetreten und hat ihm seine Hände auf Schulter und Oberarm gelegt. Von einer Wendung seines Kopfes nach rechts abgesehen, reagiert Petrus jedoch ‚noch‘ äußerst verhalten. Seine Mimik scheint lediglich Aufmerksamkeit – möglicherweise auch das Nachdenken über Sinn und Bedeutung des Ereignisses – auszudrücken. Damit gibt uns Grammatica noch weniger Verweiselemente auf das Sujet des Bildes als Vitale, denn er zeigt noch nicht einmal den Ansatz einer Bewegung der beiden Figuren, durch die der Betrachter auf eine Flucht schließen könnte. Weder verfügt der jungenhafte flügellose Engel über den Habitus eines Engels, noch entspricht das Äußere Petri mit der nahezu vollständigen Glatze und dem kurzen Bart dem traditionellen Bild des Apostelfürsten. Auf seine Identität und auf das Sujet verweisen lediglich die beiden Schlüssel, die Petrus trägt. Auffällig ist, daß Grammatica sie nicht voll-

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ständig zeigt; beide Schlüsselbärte sind von den Bildrändern weitgehend bzw. vollständig überschnitten. Es dürfte deutlich sein, daß Grammatica in dieser Darstellung austestet, wie weit er in der Reduktion der sinntragenden Zeichen gehen kann, ohne die mögliche Erkennbarkeit des Sujets aufzugeben. Er ‚lotet‘ innerbildlich die Grenze zwischen einem Heiligenbild und einer einfachen Darstellung eines Mannes mit einem Knaben, bei der es sich im Prinzip um eine Genrekonfiguration handelt, aus. Es ist ein Spiel mit der Semiotizität des Bildes, denn er erprobt, wie Bildzeichen wie Mimik, Gestik, Kleidung und Habitus einer Figur zu veritablen Zeichen mit Verweiskraft werden. Damit zeigt er uns in­direkt, daß ein Signifikat nicht unabdingbar an einem bestimmten Zeichenträger – etwa den charakteristischen Merkmalen Petri – haftet, und seine Dechiffrierbarkeit überdies von der Betrachterkompetenz abhängig ist. Es ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, daß Grammatica sich dem Sujet ein zweites Mal gewidmet hat, und zwar in einem Gemälde, das sich heute in römischem Privatbesitz befindet (Abb. 89).65 In der Anordnung der Figuren im Bildfeld und der Kleidung sind beide Werke identisch, aber in der Fassung in römischem Privatbesitz wird die Identifikation der Figuren und damit auch die Benennung des Sujets dadurch erleichtert, daß Petrus hier über einen Nimbus verfügt und der Engel über zwei überdimensionierte Flügel. Ferner sehen wir auch etwas mehr von den zwei Schlüsseln Petri. Der hierdurch bedingte horror vacui spricht in meinen Augen dafür, daß dies die spätere Bildfassung ist.66 Wie auch immer man sich die Motivation für zwei derart ähnliche und zugleich signifikant verschiedene Gemälde vorzustellen hat – Auftraggeberinteressen und -geschmack sowie inhärente Bedingungen des Aufstellungsortes werden hier eine Rolle gespielt haben –, sie zeigen zunächst in kaum größer vorstellbarer Deutlichkeit die Reflexion des Malers über die Leistungskraft der Bildzeichen.

65  94 × 73 cm; Rom, Privatbesitz; siehe Riedl, Antiveduto Grammatica 1998, Nr. 19, S. 113 f.:

1613–16. Papi, Antiveduto Gramatica 1995, Nr. 47, S. 109 (o. Dat.). Es gibt eine nahezu identische Version des Bildes in der Pinacoteca Tosio Martinengo in Brescia, die Gianni Papi 2003 publiziert und für teilweise autograph hält (Gianni Papi, Aggiornamenti per Antiveduto Gramatica, in: Arte cristiana 91 [2003], S. 117–124, hier S. 118, Abb. 6). 66  Riedl äußert sich diesbezüglich nicht explizit. Da er die Bildfassung, in der der Engel nicht über Flügel verfügt, als von derjenigen in römischem Privatbesitz abgeleitete Version anführt, nehme ich an, er vermutet eher das Gegenteil.

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2.3 Klärungen und Verunklärungen einer caravaggesken Invention: Die „Verleugnung Petri“ und der „Pensionante del Saraceni“ Vitales und Grammaticas Darstellungen der Befreiung Petri rechnen mit einem spezifischen visuellen Kontext. Damit meine ich zunächst die im Bildgedächtnis der Betrachter gespeicherten Gemälde, die sie abrufen können, um sie mit solchen im Informationsgehalt reduzierten Darstellungen in Beziehung zu setzen. Dies können Werke sein, die wie Caracciolos Altarbild recht gut zugänglich waren, weshalb sie über einen vergleichsweise größeren Bekanntheitsgrad verfügten als Werke in privaten Sammlungen. Dies können aber auch Werke sein, die durch druckgraphische Reproduktion verbreitet waren oder schließlich auch kompositorisch ähnliche, aber eindeutigere Sammlungsbilder, die den Betrachtern die Identifikation eines ‚obskuren‘ Bildes erleichterten. ‚Visueller Kontext‘ meint aber noch mehr, und zwar das unmittelbare situative Umfeld der Gemälde in den Sammlungen. Es ist schließlich davon auszugehen, daß ihre jeweilige Hängung und insbesondere die Werke, die sich in ihrer unmittel­baren Nachbarschaft befanden, den Vorgang der Rezeption konditioniert haben. Wir wissen, daß die Sammlungen des Seicento in Italien häufig durch Heterogenität geprägt waren, die sich auch auf die Präsentation der Werke erstreckte. So ist belegt, daß in vielen Räumen Heiligendarstellungen unmittelbar neben Porträts, Genrebildern, Stilleben und Landschaften hingen.67 Für die Wahrnehmung der sich durch starke Ambiguität auszeichnenden Gemälde wie die „Hl. Pudentiana“, die „Hl. Dorothea“ und die „Hl. Lucia“, aber auch die auf einen Nimbus und Flügel verzichtende Darstellung der „Befreiung Petri“ von Antiveduto Grammatica, muß eine mögliche Hängung zwischen profanen Gemälden, wie sie für Furinis „Lucia“ im 18. Jahrhundert belegt ist,68 Folgen gehabt haben. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich das Augenmerk auf ein anderes petrinisches Sujet richten, und zwar auf die Verleugnung des ­Apostels. Es erfreute sich bei den ‚Caravaggisten‘ noch größerer Beliebtheit als das der Befreiung des Heiligen. Was aufgrund der verschiedenen Orte, an denen die Werke von Vitale und Grammatica entstanden, nicht möglich war – die Beantwortung der Frage, ob und wie die Werke miteinander in Bezug standen – fällt hier leichter. Denn die vergleichsweise gut datierten Gemälde erlauben sogar die – dennoch partiell hypothetische – Rekonstruktion einer ‚Bilderreihe‘, die mit Caravaggios Gemälde im Metropolitan Museum in New York von ca. 1607 (Abb. 9) einen recht sicher bestimmbaren ‚Anfang‘ hat.69 67  Siehe hierzu den Abschnitt 7 dieses Kapitels. 68  Siehe oben, Anm. 33. 69  94 × 125,5 cm, New York, Metropolitan Museum of Art; vgl. Marini, Caravaggio 2005,

Nr. 81, S. 521–523; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 67, S. 548 f.; Mina Gregori, in: Age of Caravaggio 1985, Nr. 100, S. 350; Vincenzo Pacelli, L’ultimo Caravaggio 1606–1610. Il giallo della

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Die knappe Bezeichnung des Sujets als „Verleugnung Petri“ ist leicht irreführend, denn bekanntlich ist Petrus bei der zur Passion Jesu Christi gehörenden Verleugnung der aktiv Handelnde. Er bestreitet im Hof des Hohe­ priesters gegenüber einer ihn darauf ansprechenden Magd seine Zugehörigkeit zu den Jüngern des Herrn, was sich zeitgleich mit dem Verhör Jesu durch Kaiphas ereignet. Petrus beteuert seine Aussage drei Mal, also exakt so oft, wie es ihm beim letzten Abendmahl von Jesus vorausgesagt worden war.70 Die Evangelien berichten von diesem Vorgang sehr ausführlich und nahezu gleichlautend: „Petrus aber saß draußen im Palast; und es trat zu ihm eine Magd und sprach: Und du warest auch mit dem Jesu aus Galiläa. Er leugnete aber vor ihnen allen und sprach: Ich weiß nicht, was du sagest. Als er aber zur Tür hinausging, sah ihn eine andere und sprach zu denen, die da waren: Dieser war auch mit dem Jesu von Nazareth. Und er leugnete abermals und schwur dazu: Ich kenne des Menschen nicht. Und über eine kleine Weile traten hinzu, die da stunden, und sprachen zu Petrus: Wahrlich, du bist auch einer von denen; denn deine Sprache verrät dich. Da hob er an, sich zu verfluchen und zu schwören: Ich kenne des Menschen nicht. Und alsbald krähte der Hahn. Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst Du mich dreimal verleugnen. Und ging hinaus und weinte bitterlich.“71

Caravaggio verbildlicht nicht exakt den Moment der Ansprache Petri durch die Magd, sondern vielmehr die Wiederholung ihrer Anschuldigung gegenüber einem Soldaten. Im Sinne einer Les- und Identifizierbarkeit des Sujets ist die Integration eines Soldaten insofern sinnvoll,72 als Caravaggio uns alle sinnträchtigen Attribute wie den petrinischen Schlüssel oder den Hahn, der auf die künftige Reue Petri verweist, vorenthält. Allein ein äußerst s­ chwacher Feuerschein im Hintergrund stimmt mit den Angaben der Evangelien des Lukas (22, 55) und Johannes (18, 17), die von einem (Kohlen-)Feuer im Hof des Hohe­ priesters berichten, überein, leistet aber natürlich nicht per se die Bestimmbarkeit der Szenerie oder des Sujets. Wie Eberhard König beobachtet hat, folgt Caravaggio mit dem Äußeren der Figur nicht einmal dem standardisierten morte: omicidio di Stato?, Todi 32002, S.  99 f.; Belloris Nennung eines Gemäldes mit demselben Sujet in der Sakristei der Certosa di San Martino kann sich nicht auf das New Yorker Gemälde beziehen. 70  Vgl. Mt 26, 31–35: „Da sprach Jesus zu ihnen: In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir. […] Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Wenn sie auch alle sich an dir ärgerten, so will doch mich nimmermehr ärgern. Jesus sprach zu ihm: Wahrlich ich sage dir: In dieser Nacht, ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Petrus sprach zu ihm: Und wenn ich mit dir sterben müßte, so will ich dich nicht verleugnen. Desgleichen sagten auch alle Jünger.“ 71  Mt 26, 69–75; ähnlich Mk 14, 66–72; Lk 22, 54–62; Joh 18, 16–18. 72  Soldaten, die im Hof des Hohepriesters anwesend waren, vermerkt Johannes 18, 17. Sie waren seinem Bericht zufolge allerdings nicht in das Geschehen involviert.

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petrinischen Figurentypus mit weißem Haupt- und Barthaar, sondern wählte vielmehr ein Modell, „das einem alten Satyr oder Sokrates gerecht würde“.73 Caravaggio konzentriert sich ganz auf die emotionale Dimension der Begegnung zwischen Petrus und den ihn anklagenden Personen, und damit auf den prekären Moment des moralischen Versagens des Apostelfürsten. Mittels Mienen- und Gestenspiel inszeniert er die Handlung als ein Seelendrama, das dem Betrachter durch den Bildausschnitt und das hierdurch bedingte Format mit Halbfiguren besonders nahegebracht wird. Die extreme Lichtregie forciert die dramatische Dimension des Geschehens. Dabei sind die Gesichter von Petrus und der Magd stark beleuchtet, die zum Verständnis der Handlung wichtigen Gesten aber teilweise verschattet. Daß diese Regie mitnichten empirisch möglich oder gar ‚realistisch‘ – also logische Folge der Reduktion der Lichtquelle auf einen von der linken Seite einfallenden Strahl – ist, beweist etwa das Fehlen der Lichtflecken auf dem Helm des Soldaten. Nicht nur infolge dieser arrangierten Ausleuchtung des Bildes ist die Gestensprache im Bild erstaunlich unklar – gerade weil der Verzicht auf die attributive Charakterisierung der Figuren zur Folge hat, daß sich der Betrachter die aus der Anschuldigung und darauffolgender Leugnung bestehende Handlung mit Hilfe des ins Bild gesetzten Gesten- und Mienenspiels erschließen muß. So scheint der mit einem phantastischen Prunkhelm ausgestattete Soldat seinen vollständig verschatteten rechten Zeigefinger der Magd eigentümlicherweise in den Hals zu bohren. Deren Hände sind malerisch kaum artikuliert, wirken wie verstümmelt und sind größtenteils verschattet. Darüber hinaus ist die Verdoppelung ihrer Zeigegeste eigentümlich.74 Das am stärksten irritierende Moment im Gemälde ist schließlich der Gestus Petri, der von der Forschung bereits als „ambig“ bezeichnet worden ist.75 Petri Gebärde mit fast faustartig geballten Händen, die gegen die Brust geführt werden, entspricht keinem kodifizierten Gestus für den Vorgang der Leugnung oder Zurückweisung, und ich kenne auch kein weiteres Gemälde, in dem eine ähnliche Geste eine vergleichbare Bedeutung haben könnte. Grundsätzlich ist bei einer entsprechenden Bewertung der Gestensprache in einem Gemälde natürlich Vorsicht geboten. Denn bekanntlich birgt die Rekonstruktion der ‚stummen Sprache‘ der Gesten einige heuristische Schwierigkeiten. Sie betreffen zum einen den Bedeutungswandel der Gesten in diachronischer und räumlicher Hinsicht und zum anderen die Frage der Visualisierbarkeit, da es sich bei Gesten ja im allgemeinen um eine Zeichensprache in Bewegung handelt. Nur in seltenen Fällen verfügen wir über einen ‚Schlüssel‘, 73  König, Caravaggio 1997, S. 86; und weiter heißt es: „Caravaggio hat solche Köpfe sonst

eher für Henker eingesetzt.“ 74  Mina Gregori, in: Age of Caravaggio 1985, S. 350, weist daraufhin, daß sich an dieser Stelle

ein Pentimento befindet; die linke Hand des Mädchens war zunächst geöffnet. 75  Cinotti, Caravaggio 1983, S. 549.

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der Inhalt und Bedeutung einer gemalten Geste sicher dechiffriert.76 Daß aber bereits die Zeitgenossen das Problem der Lesbarkeit der Geste Petri in Caravaggios „Verleugnung Christi“ hatten, machen die noch zu zeigenden Varia­ tionen des Gemäldes wahrscheinlich. In ihnen wird bezeichnenderweise Petri Geste mit den faustartig zur Brust geführten Händen nie wiederholt. Die Forschung hat das Problem der unklaren Semantik dieser Geste bereits erkannt und vermutet, mit ihr sei mehr als nur ein Denotat verknüpft. Caravaggio habe, so Maurizio Marini, Mia Cinotti und Catherine Puglisi, mittels dieser Geste nicht nur den Vorstellungsgehalt der Verneinung visualisieren wollen, sondern gleichzeitig auch Petri Selbstanklage und Reue.77 Angesichts des Sinngehalts der Darstellung halte ich diese Lektüre für ausgeschlossen. Wesentlich wahrscheinlicher ist in meinen Augen eine Lesart, die der noch heute in Neapel zu beobachtenden Verwendung der Geste entspricht, und zwar im Sinne eines sprachgebundenen Abgrenzungsgestus, der etwa die Bemerkung „so nicht mit mir“, oder, „ich bin nicht schuld“ zum Ausdruck bringt,78 was mit dem – von Caravaggio ja dargestelltem – Stirnrunzeln der Person einhergeht. Dabei handelt es sich eher um lokalen ‚Straßenjargon‘ als um eine kodifizierte rhetorische Gestensprache, was die schwierige Dechriffrier­barkeit in einem Heiligenbild erklärt. Trifft diese Lesart zu, hätte Caravaggio einen Moment der Handlungssukzession vor deren Höhepunkt verbildlicht – also gar nicht die eigentliche Leugnung der Anschuldigung, sondern die Konfrontation des Apostels mit der Frage, die er zunächst gestisch fragend retourniert. Der Erkennbarkeit der Verleugnungsdarstellung arbeitet dieser postulierte Ausflug in neapolitanischen Straßenjargon sicher nicht zu. Vor diesem Hintergrund ist von besonderem Interesse, wie die Zeitgenossen das Bild rezipiert haben. Zwar kennen wir keine verbalen Beschreibungen, haben aber dafür eine Reihe visueller Rezeptionszeugnisse, die uns zumindest indirekt Hinweise auf seine Wahrnehmung und Beurteilung geben. Obwohl mit einiger Sicherheit in Neapel entstanden, scheint sich das Gemälde sehr früh in römischem Besitz befunden zu haben. Hierauf gibt ein Eintrag im Inventar der Sammlung des Principe Paolo Savelli in Rom – der im übrigen 76  Zu diesem Themenkomplex jüngst Ulrich Rehm, Stumme Sprache der Bilder: Gestik als

Mittel neuzeitlicher Bilderzählung, München 2002. 77  Vgl. Marini, Caravaggio 2005, S. 522: „Il gesto di Pietro […] è […] allo stesso tempo di

negazione, autoaccusa e pentimento“; Cinotti, Caravaggio 1983, S. 549: „Il gesto di Pietro è ambiguo: esso esprime contemporaneamente la discolpa (‘io no’) e il ‘mea culpa’ del traditore“; Puglisi, Caravaggio 1998, S. 351: „The saint’s gesture apparently declares negation but his double-handed emphasis is self-accusatory at the same time“. 78  Ich verdanke den Hinweis auf die Semantik dieser Geste dem Ethnologen Thomas Hauschild, der sie aus seinen ‚Feldstudien‘ in Süditalien kennt. Kodifiziert finde ich sie weder in Andrea de Jorio, La mimica degli antichi investigata nel gestire napoletani, Neapel 1832, noch in Wilhelm Wundt, The Language of Gestures, Den Haag/Paris 1973.

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ein enger Freund von Scipione Borghese war –, den Hinweis79 und ebenso der Umstand, daß mehrere in Rom ansässige Malern ganz offensichtlich darauf rekurrierten. In dem Gemälde des Genueser Malers Bernardo Strozzi80 im Kölner Wallraf-Richartz-Museum (Abb. 10), das sich eindeutig auf Caravaggios Gemälde bezieht, zielt alles auf die Ausschmückung der Szene mit weiteren visuellen Informationen über das Sujet und die hierdurch bedingte Klärung des Ablaufs der Handlung.81 Strozzi vergrößert den Bildausschnitt leicht und ersetzt das junge Mädchen in Caravaggios Werk durch eine veritable Magd mit Wäschekorb, von der im Evangelienbericht die Rede ist. Ferner fügt er ein Kind, das an ihrem Rockschoß zieht, und zwei Soldaten in voller Montur hinzu. Der Protagonist wird durch drei signifikante Veränderungen eindeutig als Petrus markiert: durch einen Hahn, der sich – allerdings schwer erkennbar – auf dem Podest neben ihm befindet, durch das Messer an seinem Gürtel, das auf die der Verleugnung vorausgegangene Episode der Gefangennahme Christi verweist, bei der Petrus einem Soldaten das Ohr abgeschnitten hatte, und schließlich durch die Veränderung seiner Haarfarbe. Mit weißem Kopfund Barthaar entspricht Strozzis Petrusfigur wieder dem petrinischen Typus. Bezeichnender­weise verändert der Genueser Maler auch die Gestensprache: Die Magd adressiert den Apostelfiguren mit dem ausgestreckten Finger ihrer linken Hand in klar denunziatorischer Absicht. Der Angesprochene scheint

79  Im Inventar von 1650, zitiert nach Gregori, in: Age of Caravaggio 1985, S. 350: „un’ancella

con S. Pietro negante, et una altra meza figura per traverso, p. m 5 e 4 del Caravaggio, D.250“. Für die Freundschaft des Principe Paolo Savelli (1571–1632) mit Scipione Borghese siehe ­Alessandro Morandotti, Gli anni romani di Giuseppe Vermiglio, in: Giuseppe Vermiglio. Un pittore caravaggesco tra Roma e la Lombardia (Ausst.-Kat. Campione d’Italia, Galleria Civica 2000), hg. v. Daniele Pescarmona, Mailand 2000, S. 47. 80  Für Leben und Werk des Malers, der von 1581/82 bis 1644 in Genua lebte, siehe neben dem in der folgenden Anmerkung genannten Werkverzeichnis von Luisa Mortari auch: Bernardo Strozzi. Genova 1581/82 – Venezia 1644 (Ausst.-Kat. Genova, Palazzo Ducale 1995), hg. v. Giuliana Algeri, Mailand 1995. Für einen Rom-Aufenthalt Strozzis gibt es zwar keine dokumentarischen Belege, doch derart starke Indizien durch zahlreiche Bezüge des Malers auf Werke Caravaggios (und zwar in seinen Darstellungen Johannes’ des Täufers, des Ungläubigen Thomas’, des Emmaus-Mahls, und der Berufung Matthäi), daß er inzwischen als sicher gilt. Siehe hierfür Franco Renzo Pesenti, Il primo momento del caravaggismo a Genova, in: Genova nell’Età Barocca (Ausst.-Kat. Genova, Galleria Nazionale di Palazzo Spinola, Galleria di Palazzo Reale 1992), hg. v. Ezia Gavazza & Giovanna Rotondi Terminiello, Genua 1992, S. 74– 81, bes. 74 f.; Maria Clelia Galassi, Documenti figurativi per un soggiorno romano di Bernardo Strozzi, in: Bollettino dei musei civici genovesi 14 (1992), S. 45–60; auch bereits A ­ lfred Moir, The Italian Followers of Caravaggio, Cambridge (MA) 1967, Bd. 1, S. 201, Anm. 25. 81  118,5 × 180 cm, Köln, Wallraf-Richartz-Museum; siehe Mortari, Bernardo Strozzi 1995, Nr. 239, S. 135 (1633–35 oder früher); Brigitte Klesse, Katalog der italienischen, französischen und spanischen Gemälde bis 1800 im Wallraf-Richartz-Museum, Köln 1973, Nr. 1507, S. 120 (mit abweichenden Maßen: 119,5 × 170 cm).

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90 Giuseppe Vermiglio, ­Verleugnung Petri, ­Lugano, Privatsammlung

zurückzuweichen und öffnet seine rechte Hand in einer Geste, die wir unschwer als Ausdruck beteuernder Zurückweisung lesen können. Viel näher an Caravaggios Werk bleibt der aus der Lombardei oder dem Piemont stammende Maler Giuseppe Vermiglio mit seinem einige Jahre früher, vermutlich bereits im zweiten Jahrzehnt des Seicento entstandenen Gemälde (Abb. 90), das sich heute in einer Luganer Privatsammlung befindet.82 Aber auch er nimmt einige signifikante Veränderungen gegenüber Caravaggios Darstellung vor: Der Soldat, der hier eine neuzeitliche Rüstung trägt, packt Petrus am Gewand; die Magd hat ihn, wie im Evangelium geschildert, auf den Jünger Jesu aufmerksam gemacht, wobei Vermiglio ihre denunziatorische Handlung beleuchtet und dadurch gut erkennbar macht. Petrus, dessen Äußeres dem tradierten petrinischen Typus entspricht, reagiert nachvollziehbar auf diesen Vorgang: Mit der zur Brust geführten linken Hand bezieht er – allerdings wesentlich distinguierter in der Ausdrucksweise als Caravaggios „Petrus“ – die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen auf sich – so als fragte er: „meinst Du etwa mich?“, und neigt sich entsprechend leicht nach vorn – mit der rechten nach vorn ausgestreckten Hand weist er sie entschieden zurück. 82  72 × 106 cm; um 1615; Lugano, Privatsammlung; siehe Giuseppe Vermiglio 2000, Nr. 3,

S. 86 f. Der vergleichsweise wenig bekannte und erforschte Maler, der von ca. 1585 bis ca. 1635 lebte, ist dokumentarisch erstmals im Jahr 1604 in Rom belegt. Zu diesem Zeitpunkt muß er ungefähr 17 Jahre alt gewesen sein. Er stammte aus dem Piemont oder aus Mailand, wohin er gegen 1620 zurückgekehrt zu sein scheint; vgl. die einleitenden Essays im genannten Katalog, insbesondere Alessandro Morandotti, Gli anni romani di Giuseppe Vermiglio, in: Ebd., S. 41– 56; zur „Verleugnung“ ebd., S. 47–49.

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

Interessanterweise reagieren nicht alle Maler auf Caravaggios Gemälde derart, daß sie ihren Variationen das Quantum an Deutlichkeit verleihen, das jenem fehlte. Es gibt zumindest einen Künstler, der an Caravaggios concetto des Ambigen anknüpft. Bedauerlicherweise kennen wir den Namen dieses Malers nicht, obwohl das Faktum, daß sich sein Gemälde der Verleugnung Petri (Abb.  12) in mehreren als eigenhändig geltenden Fassungen erhalten hat, für seinen Erfolg und seine Bedeutung spricht. Roberto Longhi hat ihm in einem Aufsatz aus den 1940er Jahren den Notnamen „Pensionante del ­Saraceni“ gegeben; er beruht auf der stilistischen Nähe der wenigen diesem unbekannten Maler zuweisbaren Gemälde mit denjenigen Carlo Saracenis.83 Da es höchst unwahrscheinlich ist, daß ein derart angesehener Künstler nur ein solch schmales Œuvre geschaffen haben soll, halte ich die Konjektur der jüngeren Forschung, es handele sich bei diesen Gemälden um das Frühwerk eines (ausländischen) namhaften Künstlers, für plausibel. Einiges spricht dafür, in ihm den lothringischen Maler Georges de La Tour zu erkennen, der sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Jahren 1613–16 in Rom aufgehalten hat, dessen künstlerische Produktion aus dieser Zeit uns aber vollständig fehlt.84 Die „Verleugnung Petri“ des Pensionante del Saraceni – ich bleibe aufgrund des hypothetischen Charakters der Identifizierung des Malers mit de La Tour bei dieser Bezeichnung – hat sich in drei Versionen erhalten, die nur minimal hinsichtlich der Farbigkeit, Ausleuchtung und Ausschnittsetzung divergieren. Sie befinden sich im Musée de la Chartreuse in Douai (Abb. 12), in der Vatikanischen Pinakothek und in der National Gallery of Ireland in Dublin, werden um oder kurz nach 1610 datiert und können daher als zeitlich sehr naher Reflex auf Caravaggios Gemälde gelten.85 83  Roberto Longhi, Ultimi studi sul Caravaggio e la sua cerchia, in: Proporzioni 1 (1943),

S. 5–63, bes. 23 f.; vgl. Ottani Cavina, Carlo Saraceni 1968, S. 49 f.; Arnauld Brejon de Lavergnée & Jean-Pierre Cuzin, in: I Caravaggeschi francesi (Ausst.-Kat. Roma, Villa Medici 1973/74), Rom 1973, S. 75 f.; Age of Caravaggio 1985, S. 167; Jean Penent, Le temps du caravagisme: la peinture de Toulouse et du Languedoc de 1590 à 1650 (Ausst.-Kat. Toulouse, Musée Paul-Duphy 2001/02), Paris 2001, S. 74–82. 84  La Tour ist einer der Vorschläge für die Identität des „Pensionante“, der von der Forschung immer wieder vorgebracht wird (siehe die Literatur in der vorigen Anmerkung), nachdem bereits Longhi in dessen Werken „qualche venatura, qualche intonazione francese vagante“ (Longhi, Ultimi studi 1943, S. 23 f.) konstatiert hatte. Der alternative, unter anderem von Sergio Benedetti favorisierte Vorschlag, es handele sich um Carlo Saraceni selbst, erscheint mir nicht plausibel (in: Caravaggio and His Followers in the National Gallery of Ireland, Dublin 1992, S. 46, Anm. 10). 85  1.) Fassung Douai: 98 × 128 cm; vgl. Francoise Baligand, Le Musée de la Chartreuse D ­ ouai, Paris 1999, S. 25 f. (aus der Sammlung des Conte Terzi in Rom); Pierre Rosenberg, in: Age of Caravaggio 1985, Nr. 47, S.  167.2.) Fassung Vatikan: 100  ×  129  cm, aus der Sammlung des Kardinals Giulio Sachetti; vgl. Umberto Baldini u. a., Pinacoteca Vaticana nella pittura l’espressione del messaggio divino nella luce la radice della creazione pittorica, Mailand 1992, S. 315; Caravaggio & His World. Darkness & Light. (Ausst.-Kat. Sydney, Art Gallery of New South Wales/Melbourne, National Gallery of Victoria 2003/04), Sydney 2003, Nr. 41, S. 160 f.)

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Obwohl Pensionante die Anordnung der beiden Protagonisten im Bild vertauscht und den Soldaten eliminiert, rekurriert er doch eindeutig auf Caravaggios Gemälde in New York. Denn auch er situiert er die Figuren in einem unbestimmten Raum und stellt sie vor eine graue, durch unmimetische Pinselzüge belebte ‚Folie‘. Wie in vielen Gemälden Caravaggios erinnert sie tatsächlich weniger an eine Wand als vielmehr an eine Fläche, wodurch sich der Eindruck eines ‚Unraums‘ einstellt. Worin der anonyme Maler Caravaggio ebenfalls folgt, ist in der Handlungsschilderung, die ausschließlich mittels Gestik und Mimik erfolgt. Es gibt weder ein die Figuren kennzeichnendes Attribut noch irgendeinen die Situation näher bestimmenden Gegenstand; selbst der schwache Feuerschein ist eliminiert. Zwischen den Figuren liegt lediglich ein vermutlich Petrus gehörender rot-brauner Mantel, der Apostel ist wiederum in ein blaues bzw. dunkelgrünes bzw. braunes Gewand gekleidet.86 Hieraus resultiert die vollständige Konzentration allein auf die psychische Dimension der Begegnung, die aus der ‚lauten‘ Anklage – der unkonventionell weit geöffnete Mund des Mädchens indiziert ihr Sprechen im Affekt –, dem Erschrecken des Apostels und der gestischen Zurückweisung ihrer Anschuldigung besteht. Dabei ist der ambivalente Umgang des Pensionante mit Caravaggios Bildlösung aufschlußreich. Obwohl er die Gestensprache klärt, weicht er in einem entscheidenden Punkt von seinem Vorbild ab: So untermauern die ausgestreckten, geöffneten Hände des Mädchens hier ihre Ansprache Petri, die zur Brust geführte Hand des Apostels unterstreicht seine erschreckte Mimik im Sinne der Frage „Du meinst doch nicht mich?“, und mit der erhobenen Linken weist er die Anklage ängstlich zurück. In der kalkulierten Verunklärung eines wichtigen Indizes folgt hingegen der Maler Caravaggio. So zeigt er das Gesicht Petri stark verschattet,87 was nach Maßgabe der Ausleuchtung der Figur des Mädchens empirisch nicht überzeugend ist. Der Pensionante folgt also der von Caravaggios Gemälde her bekannten Strategie einer bewußten Irritation des Betrachters, dem das Seelendrama nur verzögert enthüllt wird, wobei er sich – anders als Caravaggio – ausschließlich klar denotierter Zeichen bedient. Durch die Eliminierung des Soldaten und die Konzentration auf Petrus und die Magd ist der Pensionante in gewissem Sinne noch ‚radikaler‘ als Caravaggio. Die Relation der Figuren zueinander ersetzt deren attributive CharakFassung Dublin: 104,4 × 133 cm; vgl. Benedetti, Caravaggio and His Followers 1992, Nr. 11, S. 45–47; Michael Wynne, Later Italian Paintings in the National Gallery of Ireland. The Seventeenth, Eighteenth and Nineteenth Centuries, Dublin 1986, Nr. 1178, S. 94 (gilt auch als Werkstattkopie). 86  In den Fassungen in Douai und im Vatikan ist er dunkelbraun bzw. grün gekleidet, im Gemälde in Dublin blau. 87  So in den Bildfassungen in Douai und im Vatikan, nicht im Dubliner Bild, das mir auch durch die divergierende Ausschnittsetzung nicht original zu sein scheint.

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terisierung, ohne dabei natürlich über die entsprechende Verweiskraft zu verfügen. Der Betrachter kann sich das Sujet ausschließlich über die durch Gestensprache und Mimik vermittelte Situation einer Anklage und der Reaktion auf sie erschließen. Im Prinzip muß er dafür gedanklich ‚austesten‘, welche Begebenheiten der (biblischen) Historie hier überhaupt in Frage kommen. Wie wichtig dafür sein bildgestütztes Vorwissen ist, zeigt sich indirekt am Verlauf der Forschungsgeschichte. Das Gemälde galt nämlich lange Zeit als Darstellung der alttestamentlichen Begebenheit der Verspottung des Hiob durch seine Frau.88 Erst durch die Wiederentdeckung von Caravaggios Werk Anfang der 1980er Jahre setzte sich die richtige Benennung als „Verleugnung Petri“ durch.89 So wie wir es oben am Beispiel von Grammaticas Darstellungen der Befreiung Petri gesehen haben, reizt auch Pensionante in seiner „Verleugnung Petri“ den Vorgang der visuellen Semantisierung förmlich aus. Wie Grammatica tut er dies durch das Umspielen der Grenze zum Genre. In diesem Zusammenhang ist noch der Aspekt des Performativen, den das Gemälde des Pensio­ nante aufweist, zu berücksichtigen. Denn durch den starken Modellbezug seiner Protagonisten, ihr Agieren in einem ‚Unraum‘, der eine Bühnensituation assoziieren läßt, und vor allem durch die forcierte Gestensprache stellt sich der Eindruck eines kleinen Schauspiels ein, das vor uns aufgeführt wird. Diese Wirkung dürfte sich für jene Betrachter verstärkt haben, die ein weiteres Gemälde des Malers kannten, für das sich Pensionante offensichtlich derselben Modelle bediente, und zwar die „Marktszene“ in Detroit (Abb. 15).90 Diese Beobachtung führt zu der eingangs angesprochenen Bemerkung zur Bedeutung des situativen Kontexts der Bilder zurück. Denn es ist durchaus vorstellbar, daß ein Sammler die „Verleugnung Petri“ und die „Marktszene“ besaß, oder daß sich beide Bilder zwar in verschiedenen Sammlungen befanden, deren Besitzer aber miteinander befreundet waren, so daß die Bilder von beiden vergleichend betrachtet werden konnten. Gerade in einer postulierten gemeinsamen Wahrnehmung der Werke dürfte ein besonderer Reiz für die Rezipienten gelegen haben, denn der Pensionante del Saraceni zeigt ihnen zweimal ‚dieselben‘ 88  Vgl. Benedict Nicolson & Christopher Wright, Georges de la Tour, London 1974, S. 33;

Pierre Rosenberg, France in the Golden Age. Seventeenth Century French Paintings in American Collections (Ausst.-Kat. Paris, Galeries Nationales du Grand Palais/New York, Metropolitan Museum/Chicago, The Art Institute 1982), New York 1982, S. 298. 89  Das Gemälde wurde zu diesem Zeitpunkt von H. Shickman (New York) erworben. Zuvor hatte es nur ein sehr kleiner Kreis von Caravaggio-Forschern in Schweizer Privatbesitz im Original studieren können. Walter Friedländer bildet es in seiner Caravaggio-Monographie von 1955 beispielsweise nicht ab. 90  130 × 98 cm; Detroit, The Detroit Institut of Art; siehe für dieses Bild: Il genio di Roma 2001, Nr. 15, S. 61; Art in Italy 1600–1700 (Ausst.-Kat. Detroit, The Detroit Institute of Arts 1965), hg. v. Frederick Cummings, eingel. v. Rudolf Wittkower, New York 1965, Nr. 5, S. 27 f. Die Ähnlichkeit zwischen dem Marktverkäufer und Petrus zeigt sich vor allem in der Dubliner Fassung der „Verleugnung“, da hier das Gesicht des Apostels stärker ausgeleuchtet ist.

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Figuren: einmal beim Aushandeln der Frage nach der Zugehörigkeit Petri zu den Jüngern Jesu, das andere Mal beim Feilschen um den Preis einer Melone.

2.4 Wer spielt? Worum wird gespielt? Würfeln um das Gewand Christi und andere Spielerdarstellungen der ‚Caravaggisten‘ Die Grenze zwischen dem Genre und einer religiösen Historie, die Pensionante del Saraceni in seiner „Verleugnung Petri“ umspielte, faszinierte auch die Schöpfer einer Variante dieses Sujets. Es handelt sich um ein Bildschema, das besonders bei den ausländischen ‚Caravaggisten‘ beliebt war und in großformatigen Gemälden von oft über zwei Metern Breite realisiert wurde. In ihnen wird die Verleugnungsszene mit einer Gruppe von Soldaten in phantasievollen Rüstungen mit Federbuschhelmen kombiniert. Sie sitzen um einen Tisch, spielen Karten oder würfeln. Der Blick auf den möglichen Prototyp dieses Bildschemas, Bartolomeo Manfredis um 1618 entstandenes Gemälde in Braunschweig (Abb. 91), das sich im fortgeschrittenen Seicento in der Casa Verospi in Rom befand,91 macht wahrscheinlich, daß die Genese wohl eher anders verlief. Aufgrund der Dominanz der Darstellung der Soldaten im Bild scheint hier eher eine Spielerszene mit einer „Verleugnung Petri“ kombiniert worden zu sein, die weniger als die Hälfte des Bildfelds einnimmt. Dabei bemüht sich Manfredi um eine gewisse Verknüpfung der beiden Szenen. So spricht die Magd einen der würfelspielenden Soldaten an, um ihn auf Petrus aufmerksam machen, dieser dreht allerdings seinen Kopf nur leicht und eher unwillig über die Schulter in Richtung der Magd und zeigt keinerlei Absicht, sein Spiel zu unterbrechen. Die übrigen Männer am Tisch nehmen keine Notiz von dem Geschehen. Ob die zahlreichen und wegen der wechselnden Zuschreibungen schwer zu überblickenden Verbildlichungen dieser Sujetkombination tatsächlich von Manfredis Werk ausgehen, läßt sich nicht definitiv sagen, ist aber auch im vorliegenden Zusammenhang auch nicht entscheidend. Wichtiger ist, wie die Maler die Bildformel variieren. In Valentin Boulognes Gemälde im Moskauer Puschkin Museum (Abb. 92) sitzt der in die Verleugnungsszene involvierte Soldat ebenfalls bei den würfelspielenden Soldaten, reagiert aber immerhin auf die Ansprache der Magd, und Petrus richtet sich folglich auch an ihn.92 In dem 91  166 × 232 cm; Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum; vgl. Hartje, Manfredi 2004,

Nr. A23, S. 339–341; Dopo Caravaggio 1988, Nr. 9, S. 74; Leonard J. Slatkes, in: Holländische Malerei in neuem Licht 1986, Nr. 70, S. 313–316. Bellori, Le Vite, S. 234: „Vedesi in casa de’ signori Verospi in Roma […] l’altro quadro con l’ancilla che addita San Pietro ad uno, il quale si volge dal giuoco de’ dadi“. 92  121 × 173 cm; siehe Marina Mojana, Valentin de Boulogne 1989, Nr. 16, S. 84. Für Leben und Werk des Malers (ca. 1591–1632), siehe ebd. Er stammt aus Coulommiers, kam wohl gegen 1613 nach Rom und blieb dort bis zu seinem Lebensende.

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91 Bartolomeo Manfredi, Verleugnung Petri, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum

92 Valentin Boulogne, Verleugnung Petri, Moskau, Puschkin Museum

heute in der Florentiner Fondazione Longhi aufbewahrten Werk desselben Malers nimmt hingegen nur ein Soldat von dem Geschehen um Petrus Notiz (Abb. 93).93 Dasselbe gilt für die kartenspielenden Soldaten in Gerard Seghers Gemälde in Raleigh94 und für Nicolas Tourniers Werk in Atlanta (Abb. 94),95 93  171,5 × 241 cm; Florenz, Fondazione Longhi; siehe Mojana, Valentin de Boulogne 1989,

Nr. 5, S. 62: Für das antike Relief mit der Darstellung einer Opferszene siehe Maurizio Fagiolo dell’Arco, Valentin e l’antica scultura nei „caravaggeschi“. Una nota sul quadro Longhi, in: Scritti in onore di Alessandro Marabottini, Rom 1997, S. 181–186. 94  157 × 227,7 cm; Raleigh, North Carolina Museum of Art; siehe hierfür Dorothea Bieneck, Gerard Seghers 1591–1651. Leben und Werk des Antwerpener Historienmalers, Lingen 1992, Nr. A12, S. 140 f. 95  160 × 240 cm; Atlanta, High Museum of Art; siehe Nicolas Tournier, 1590–1639. Un peintre caravagesque, (Ausst.-Kat. Toulouse, Musée des Beaux-Arts 2001), hg. v. Axel Hémery, Toulouse 2001, Nr. 12, S. 104–106. Für das Œuvre des Malers, der 1590 geboren, im südfran-

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93 Valentin Boulogne, Verleugnung Petri, Florenz, Fondazione Longhi

94 Nicolas Tournier, Verleugnung Petri, Atlanta, High Museum of Art

in dem sich wiederum nur einer der spielenden Soldaten für das Geschehen neben ihm überhaupt interessiert. Allerdings scheint auch er nicht einschreiten zu wollen, denn er nützt die Situation dazu, etwas Geld beiseite zu schaffen – ganz logisch ist dieses Motiv im Bildzusammenhang freilich nicht, denn seine Mitspieler lassen sich ja gar nicht durch die Begebenheit zwischen Petrus und der Magd, die sich unweit von ihnen ereignet, ablenken. Gerade dieses Motiv der Veruntreuung des Geldes macht deutlich, was generell für die Darstellung der um einen Tisch gruppierten Spieler mit ihren Federbuschhüten gilt, nämlich ihre formale Abhängigkeit von den Zöllnern am Schlagbaum in Carazösischen Narbonne aufgewachsen ist und dessen Rom-Aufenthalt zwischen 1619 und 1626 dokumentarisch belegt ist, siehe auch Klütsch, Caravaggio und die französische Malerei 1974, S. 67–92.

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95 Georges de La Tour, Verleugnung Petri, Nantes, Musée des Beaux-Arts

96 Nicolas Tournier, Verleugnung Petri, Madrid, Museo del Prado

vaggios „Berufung Matthäi“ in der Contarelli-Kapelle (Abb. 2). Hier nutzt ja der an der linken Schmalseite des Tisches sitzende Zöllner – wahrscheinlich handelt es sich um Levi selbst – die durch das Erscheinen Jesu evozierte Unruhe dazu, einige Münzen beiseite zu schaffen.96 Vollständig unbeteiligt geben sich hingegen die Spieler in den Verbildlichungen des Sujets in Nantes von La Tour (Abb. 95),97 weiterhin in einem Gemälde in der neapolitanischen Certosa di San Martino von der Hand eines anonymen Malers,98 in einem in der römischen Galleria Corsini aufbe96  Siehe hierzu und für das Bild unten Kap. III.1.1. 97 120 × 160  cm; sign. u. dat. 1650; Nantes, Musée des Beaux-Arts; siehe für dieses Bild:

­Nicolson & Wright, Georges de La Tour 1974, Nr. 39, S. 180 f. 98  Ich kenne von diesem Gemälde nur eine Abbildung in Mojana, Valentin de Boulogne 1989,

S. 33 unten.

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97 Valentin Boulogne, Wahrsagerin, Toledo (Ohio), Museum of Art

wahrten und dem Maestro del Giudizio di Salomone zugeschriebenen Werk99 und schließlich in einem weiteren Gemälde von Nicolas Tournier, das sich im Prado befindet (Abb. 96).100 In letzterem spielt sich das Verleugnungsgeschehen regelrecht im Hintergrund ab. Petrus, die Magd und ein Soldat mit eigentümlicher Pelzmütze scheinen hinter den Soldaten lediglich vorbeizugehen, und bezeichnenderweise wendet sich von diesen keiner zu ihnen um. Wie lassen sich diese Gemälde lesen und wie klassifizieren? Unterstellt man ihnen eine handlungslogische Kohärenz, muß es sich um Darstellungen der Verleugnung Petri mit jenen Soldaten handeln, die sich im Hof des Palasts des Hohepriesters Kaiphas aufgehalten haben, als Petrus von der Magd auf seine Zugehörigkeit zu den Jüngern Jesu angesprochen wurde. Wenngleich nur das Evangelium des Johannes einen knappen Hinweis darauf gibt, ist es ja nicht unwahrscheinlich, daß sie sich dort die Zeit vertrieben haben, indem sie Karten oder Würfel spielten oder sich an einem Feuer wärmten. Was diese formal korrekte und auch genetisch zutreffende Sujetbestimmung jedoch unterläuft, ist die Dominanz der Spielergruppe im Bild, und zwar vor dem Hintergrund des Erfolgs entsprechender ‚reiner‘ Genrebilder mit spielenden, gelegentlich auch trinkenden und oft gerüsteten Männern in der Malerei der ersten Hälfte des Seicento. Sie wird dazu geführt haben, daß das Gros der Betrachter zumindest auf den ersten Blick auch vor den Verleugnungsdarstellungen einfache Genresujets mit spielenden Soldaten vor sich zu haben glaubte. Denn auch die meist phantastischen Rüstungen der Soldaten geben keinen zwingenden Verweis auf eine Situierung der Szene im Passionsgeschehen Christi. 99  Ohne Angabe der Maße; siehe Guida alla Galleria Corsini, hg. v. Sivigliano Alloisi, Rom

2000, S. 51. 100  151 × 252 cm; Madrid, Museo del Prado; siehe Nicolas Tournier 2001, Nr. 15, S. 110–112.

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98 Valentin Boulogne, Wahrsagerin, ­(Kriegsverlust), ehem. Dresden, Gemäldegalerie, Alte Meister

Ich denke, daß genau dieser von den Bildern einberechnete Effekt einer verzögerten Identifikation der Sujets den Reiz der Werke in konzeptueller Hinsicht ausmacht und ihren großen Erfolg erklärt. Wir glauben auf den ersten Blick eine Genreszene vor uns zu haben, die sich bei eingehender Betrachtung und unter Einsatz unseres bildgestützen Wissens ‚plötzlich‘ als Verleugnungsszene entpuppt, was im Prinzip zur Umsemantisierung der Spielergruppe führt: Es sind nun keine namenlosen Soldaten mehr, sondern die ‚bestimmten‘ Soldaten, die im Hof des Palastes des Hohepriesters Kaiphas während Jesu Verhör Wache schoben und sich die Zeit mit Spielen vertrieben. Dabei besteht der Reiz weniger in einem vom Bild ausgelösten ‚Suchspiel‘, als vielmehr darin, daß die Werke ihren Betrachtern den Vorgang und die Bedingungen bildlicher Semantisierung gerade durch ihre hybride Konstitution bewußt machen. Wie groß das Interesse der Maler gerade an dieser ‚Grenzperformanz‘ war, zeigt die alternative Kombinationsmöglichkeit des Sujets, die Valentin Boulogne und ein Maler in Bartolomeo Manfredis Umkreis erprobten: Sie kombinieren die Gruppe der spielenden, und nun auch trinkenden Soldaten mit einer anderen ‚Abbreviatur‘ einer caravaggesken Bilderfindung, und zwar der „Wahrsagerin“.101 Genau wie die zur Verleugnungsszene gehörende Magd tritt auch die zingara an die sitzenden Soldaten heran. In Boulognes Gemälde in Toledo (Abb. 97) liest sie einem der spielenden Soldaten aus der Hand –102 die Szenen werden also miteinander verknüpft –, in einer Darstellung aus Manfredis Umkreis, die sich früher in Dresden befand (Abb. 98), lassen sich

101  Für dieses Bild siehe meine Einleitung, Anm. 76. 102  149,5 × 238,5 cm; Toledo (OH), Toledo Museum of Art; siehe Mojana, Valentin de Bou-

logne 1989, Nr. 4, S. 60.

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99 Valentin Boulogne, Soldaten spielen um das Gewand Christi, Kunsthandel

die Soldaten hingegen durch ihr Auftreten nicht um die Konzentration auf das Spiel bringen.103 Von Valentin Boulogne stammt eine weitere Variation der Spielerbilder, deren konzeptuelle Implikationen noch ambitionierter sind. In seinem vor wenigen Jahren aus Schweizer Privatbesitz in den Kunsthandel gelangten Gemälde mit spielenden Soldaten (Abb. 99)104 liegt im Vordergrund ein großes rotes Gewand, das durch Farbe und Präsentation an prominenter Stelle Signal-Charakter erlangt. Es ist Gegenstand des Interesses einiger Soldaten und offensichtlich der Einsatz ihres Würfelspiels. Gemeint ist hier sicherlich das Passions­gewand Christi, das in der Bildtradition mit Bezug auf Johannes 19,  23 f. meist rot dargestellt wird. Dies realisierend, wird bei den Betrachtern im Akt der Wahrnehmung vor dem Gemälde der schon beschriebene ‚Kippvorgang‘ ausgelöst. Wir haben nicht die Schilderung irgendeines Würfelspiels von beliebigen, nicht benennbaren Soldaten vor uns, sondern eines, das wir 103 Kriegsverlust; siehe Hartje, Manfredi 2004, Nr. B1, S.  370–372; vgl. auch Jean Pierre ­ uzin, Manfredi’s Fortune Teller and Some Problems of „Manfrediana Methodus“, in: BulleC tin of the Detroit Institute of Art 58 (1980), S. 15–25; hier 17. 104  175 × 238 cm; siehe: Christie’s Monaco (Monte Carlo), 2.12.1989. Importants tableaux et dessins anciens et du XIXème siècle, Nr. 26, S. 60 f.; Mojana, Valentin de Boulogne 1989, Nr. 7, S. 67; Eine Kopie (?) dieses Gemäldes befindet sich im Corridoio Vasariano der Florentiner Uffizien, siehe hierfür: Caravaggio e Caravaggeschi nelle Gallerie di Firenze, Florenz 1970, Nr. 19, S. 32 f.: 150 × 220 cm; bezeichnet als „Giocatori di dadi“. Auf der Rückseite der Leinwand befindet sich die alte Aufschrift „Gioco della veste“; vgl. auch Klára Garas, Unbekannte italienische Gemälde in Gotha. Probleme um Bigot und Manfredi, in: Acta Historiae Artium. Academiae Scientiarium Hungaricae 26 (1980), S. 265–283, hier 266.

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100 Nicolas Tournier, Würfelnde Soldaten, Shrewsbury, Attingham Park

im Passionsbericht Jesu verorten können. Die Soldaten, die der Kreuzigung Jesu beigewohnt haben, spielen um dessen Gewand; dies ist eine aus der Bildtradition vertraute Begebenheit. Sie findet hier allerdings nicht zu Füßen des Kreuzes, sondern – malerische licentia und die Gesetze des Wahrscheinlichen mögen dies rechtfertigen – in einer Schenke statt. Damit hat das Gemälde noch immer Genrecharakter – es zeigt namenlose Soldaten, und die Betonung liegt auf dem Spielgeschehen –, aber gleichzeitig ist die Welt des Genre verlassen. Es ist, zugespitzt formuliert, die rote Farbe des Kleides, welche die Soldaten benennbar werden läßt. Durch sie gewinnt das Bild einen Referenzpunkt im biblischen Passionsgeschehen und ist damit im Prinzip als biblische storia zu klassifizieren. Ob die zeitgenössischen Betrachter mit Begriffen wie ‚storia‘ und ‚scena di gioco‘ – meine Verwendung des Begriffs des ‚Genre‘ ist ja der anachronistischen Tradition geschuldet und nur aus Gründen der Verständigung gewählt – vor den Bildern operierten, sei dahingestellt. Entscheidend ist, daß ihnen wie uns durch das Gemälde bewußt gemacht wird, wie der Vorgang der bildlichen Semantisierung und Umsemantisierung durch bestimmte Gegenstände und ihre Relationen zueinander funktioniert. Dabei liegt der Reiz des Gemäldes in dem steten ‚Kippen‘ der Wahrnehmung – wir sind ja nicht gezwungen, das Gewand als Passionsmantel Christi zu lesen –, durch das es eine ambivalente Offenheit bewahrt. Wie labil durch solche kalkuliert ambigen Bilder der Vorgang der Benennung von seiten des Betrachters wird, läßt sich an einer letzten Spielerdar­ stellung zeigen. Sie befindet sich in Attingham Park in Shrewsbury und wird

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mittlerweile Nicolas Tournier zugeschrieben (Abb. 100).105 Auch hier gibt es ein Kleidungsstück, das im Bild eine gewisse Rolle zu spielen scheint, aber es ist nicht rot, sondern braun mit allenfalls leichtem Rotschimmer und überdies recht achtlos auf den Tisch geworfen. Das Wissen des Betrachters, daß es Spielerdarstellungen auch in der Variante des ‚Spielens um das Gewand Christi‘ gibt, macht es möglich, das Sujets in diesem Sinne zu identifizieren, doch gibt es kein Indiz im Bild, das uns zu dieser Lesart zwingt. „Joueurs des dés“ oder „gioco della veste“ – nicht erst die moderne Forschung wird sich über die richtige Bezeichnung des Gemäldes Gedanken gemacht haben. Es ist auf ein Equilibrium angelegt, und in dem Angebot an die Betrachter, im Akt der Wahrnehmung selbst sinnstiftend aktiv zu werden, liegt ebenso ein Reiz wie in der Bewußthaltung, wie labil die Relation von Signifikant und Signifikat sein kann.

105  125 × 173 cm; Nicolas Tournier 2001, Nr. 6, S. 90–92, mit Bezeichnung als „Joueurs de dés“; hingegen Garas, Unbekannte italienische Gemälde 1980, S. 267 f., bezeichnet es als: „Soldaten würfeln um Christi Gewand“.

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3. Spadarinos und Caravaggios religiöse ­Sujeterfindungen und ein Bildpalimpsest 3.1 Häusliche Szenen: „Maria und Anna bei der Handarbeit“ in der Galleria Spada und „Martha und Magdalena am Schminktisch“ in Detroit Wichtige Generatoren der bildlichen Ambiguität in Furinis und Grammaticas „Hl. Lucia“ und „Hl. Pudentiana“ sind die formalen Ähnlichkeiten der Bilder mit profanen Darstellungen, wie den donne allo specchio, und die weitgehende Neuartigkeit der Sujets. Letzteres trifft noch stärker auf einige mehrfigurige Verbildlichungen weiblicher Heiliger zu, für die ich im folgenden drei Werke beispielhaft anführen möchte. In ihnen gehen die Figuren weiblich konnotierten Tätigkeiten nach: Ein anonymer Maler zeigt Maria und ihre Mutter Anna bei Stickarbeiten,106 Caravaggio die Schwestern Martha und Magdalena am Schminktisch und Jacopo Vignali die hl. Cäcilie beim Musizieren im häuslichen Ambiente. Die gut sichtbaren Nimben von Maria und Anna in dem Gemälde in der Galleria Spada (Abb. 13) lassen keinen Zweifel daran aufkommen, daß der anonyme Künstler, in dem Roberto Longhi Spadarino, den Schöpfer des Florentiner „Brindisi im Olymp“ erkennen wollte, hier Personen der Heilsgeschichte zeigt. Die Kombination eines jungen Mädchens mit einer älteren Frau macht es wahrscheinlich, daß es sich um die Jungfrau Maria und ihre Mutter Anna handelt. Fehlten allerdings die Nimben, würde wohl kaum ein Betrachter überhaupt nur in Erwägung ziehen, hier wäre etwas anderes dargestellt als eine querformatige Genreszene mit einem Mädchen, das sich auf seine Stickarbeiten konzentriert und dabei von seiner Mutter angeleitet wird. Die Bedeutung der Nimben für die Erkennbarkeit der Figuren sahen wir oben bereits am Beispiel von Grammaticas Darstellung der hl. Dorothea (Abb.  77), der als einziges Attribut ein Blumenstrauß beigegeben ist. Fehlte ihr der Nimbus, wäre ihre Identifikation dennoch durch die frontale Präsentation der Figur entsprechend dem Typus des ikonischen Heiligenbildes sowie den Stimmungsgehalt der Darstellung möglich und sogar naheliegend. Für das Bild in der Galleria Spada gilt dies nicht. Sein Schöpfer setzte vielmehr 106  101  ×  131  cm; Rom, Galleria Spada; siehe Zeri, Galleria Spada 1954, Nr. 154, S.  51 f., als „anonimo seguace di Caravaggio“. Die Zuschreibung an Spadarino stammt von Longhi, ­Ultimi studi 1943, S. 52, Anm. 60. Sie wurde im Werkverzeichnis von Spadarino nicht übernommen (Papi, Spadarino 2003).

Spadarinos und Caravaggios religiöse ­Sujeterfindungen und ein Bildpalimpsest

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alles daran, eine größtmögliche Differenz zum tradierten visuellen Kanon der Darstellungen der Jungfrau Maria und ihrer Mutter Anna herzustellen: Maria hat ein breites Gesicht mit markanten Wangen- und Stirn­ knochen sowie hervor­tretenden Augen; ihre roten (!) Haare sind in fest geflochtenen Zöpfen um ihren Kopf gelegt. Annas großflächiges Gesicht mit herben Zügen, großer Nase und ebenfalls hervortretenden Augen mutet sogar etwas männlich an. Der durch die ausgeprägten Porträtzüge der beiden Modelle bedingte starke ­Kontrast zum tradierten visuellen Kanon von Darstellungen der Jungfrau Maria und ihrer Mutter wird durch die Kleidung der Madonna in den nicht marianischen Farben Türkis und Weinrot noch verstärkt. Anknüpfend an meine Bemerkung zur gemischten Hängung der Bilder in frühneuzeitlichen Sammlungen, wüßte man gern, wie man sich den originären unmittelbaren Kontext des Bildes vorzustellen hat. Worin das entscheidende Moment in Caravaggios Gemälde im Institute of Arts in Detroit (Abb. 101)107 besteht, liegt nach dem Zusammenhang, in den ich das Bild stelle, auf der Hand: Was führt uns hier eigentlich dazu, in den beiden Halbfiguren ohne Nimbus eine Darstellung Marthas zu sehen, wie sie ihre eitle Schwester Magdalena an die Vergänglichkeit der irdischen Welt erinnert, und nicht eine Toilettenszene im Typus der donna allo specchio, in der eine kostbar gekleidete und frisierte Dame die Wirkung einer Orangenblüte an ihrem Dekolleté überprüft? Alle traditionellen Attribute der hl. Magdalena, Schmuck und Salbgefäß, fehlen und sind durch Kosmetikgegenstände wie Spiegel, Kamm und Puderdose ersetzt. Es ist wohl allein die visuelle Dominanz 107  97,8 × 132,7 cm; ca. 1598/99; Detroit, Institute of Arts; vgl. Marini 2005, Nr. 28, S. 419– 421; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 10, S. 424–427; Mina Gregori, in: Age of Caravaggio 1985, Nr. 73, S. 251–255; Gianni Papi, in: Michelangelo Merisi da Caravaggio. Come nascono i capolavori 1991, Nr. 7, S. 174–182. Als Auftraggeber bzw. frühere Besitzer des Gemäldes werden von der Forschung sowohl Ottavio Costa, als auch Olimpia Aldobrandini, die Schwester des Kardinalnepoten Pietro Aldobrandini, genannt, da beide nachweislich ein Gemälde mit diesem Sujet besaßen, dessen Urheber jedoch in den jeweiligen Inventaren nicht vermerkt wird. Siehe Luigi Spezzaferro, The Documentary Findings: Ottavio Costa as a Patron of Caravaggio, in: The Burlington Magazine 116 (1974), S. 579–586 (pro Costa); Francesca Cappelletti & Laura Testa, I quadri di Caravaggio nella collezione Mattei: i nuovi documenti e i riscontri con le fonti, in: Storia dell’arte 69 (1990), S.  234–244 (pro Aldobrandini). Für letzteren Vorschlag spricht die sehr genaue Beschreibung eines Gemäldes im Inventar der Sammlung Aldobrandini vom 25.5.1606: „Un quadro di S.ta Marta e Madalena quando la convertisce con cornici messe ad oro“, welche im Inventar vom 2.7.1638 durch die Angabe „con Fiore in mano“ präzisiert wird. Es ist durchaus möglich, daß sich der Eintrag im Costa-Inventar auf eine frühe Kopie des Bildes bezog, denn das Gemälde hatte eine überaus reiche fortuna critica; siehe hierfür Alfred Moir, Caravaggio and His Copyists 1976, Nr. 56, S. 107–109; fig. 31–34; Luigi S­ alerno, The Art-Historical Implications of the Detroit „Magdalen“, in: The Burlington Magazine 116 (1974), S.  586–593 (Abb. 33–38); Katarzyna Murawska-Muthesius & Krystyna ­Secomska, ­Mary Magdalen, the Counter Reformation and the Caravaggisti. Are There Any More Paint­ ings by Antiveduto Gramatica in Poland?, in: Bulletin du Musée National de ­Varsovie 37 (1996), S. 97–136.

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

101 Caravaggio, Martha und Magdalena, Detroit, The Detroit Institute of Art

102  Bernardino Luini, Modestia und Vanità, Paris, Musée du Louvre

der Geste Magdalenas, die John Bulwer später als „Gründe darlegen“ („disputabit“) klassifizieren wird,108 die das Sujet identifizierbar macht. Denn durch sie bekommt das Gemälde eine für Genredarstellungen dieser Zeit ungewöhnliche szenisch-narrative Qualität.109 Die Frage, welches Sujet Caravaggio hier verbildlicht hat, wird sich dem Betrachter sicherlich auch deswegen stellen, weil es für eine Darstellung der Maria Magdalena, die von ihrer Schwester Martha ob ihrer Eitelkeit ermahnt wird, keine Bildtradition und auch keine konkrete Referenz in Evangelien und Legenden gibt.110 Die einzige bekannte Darstellung des Themas vor 1600, die bereits durch Frederick Cummings in die Diskussion um das Detroiter Gemälde ­ ernardino eingeführt wurde, hat sich in einem Werk des lombardischen Malers B 111 Luini erhalten (Abb. 102). Sie befand sich zu ­Caravaggios Lebzeiten in der 108  John Bulwer, Chirologia: or the Natural Language of the Hand and Chironomia: or the Art of Manual Rhetoric [London 1644], hg. v. James Cleary, eingel. v. David Potter, Carbondale/Illinois 1974, „Chirogrammatic plate“ auf S. 213, Nr. H. 109  So bereits Frederick Cummings, The Meaning of Caravaggio’s „Conversion of the Magdalen“, in: The Burlington Magazine 116 (1974), S. 572–578, hier 572: „On one level, the ­Detroit painting can be seen as a pure genre scene, similar to Venetian paintings like those by Titian or Palma Vecchio, showing two women in an interior. Nevertheless, the pregnant glances and gestures of the women immediately infer to viewers meanings beyond an everyday exchange.“ 110  Für die Bildtradition siehe M. Anstett-Janssen, s.v. Martha von Bethanien, in: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 7, Sp. 565–568. Den weiteren Referenzrahmen des Sujets bildet Lukas’ Schilderung des Besuchs Christi im Hause des Pharisäers Simon, wo sich M ­ aria Magdalena ihm zu Füßen warf, während Martha in der Küche arbeitete (7, 36–50). Diese Begebenheit gilt als exemplum für die zwei Aspekte des religiösen Lebens, die vita activa und die vita contemplativa. Vgl. auch La Maddalena tra sacro e profano. Da Giotto a De Chirico (Ausst.-Kat. Firenze, Palazzo Pitti 1986), hg. v. Marilena Mosco, Florenz 1986, S. 97–101. 111  71 × 79 cm; Paris, Musée du Louvre. Es existieren mehrere leicht derivate Bildfassungen; eine gelangte über die Sammlung del Monte in die der Familie Barberini und ist wahrschein-

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Sammlung des Kardinals del Monte und wurde für ein eigenhändiges Werk Leonardos gehalten. Caravaggio wird sie folglich gekannt haben. In der Reduktion auf zwei einander gegenübergestellte Halbfiguren im Querformat nahezu ohne räumlich-situative Angaben ist sie dem Detroiter Gemälde durchaus ähnlich, auch hier verfügen die Figuren nicht über Nimben. Durch die Einfügung eines Salbgefäßes auf dem Tisch sowie der äußeren Erscheinungsweise der beiden Frauen – Maria Magdalena ist kostbar gekleidet und geschmückt, Martha hingegen schlicht und mit verhülltem Haar gezeigt – legt Luini die richtige Benennung des Bildes jedoch nahe. Dennoch erhält die Darstellung durch die Präsentation der beiden Figuren ohne räumliche und szenische Einbindung eine allegorische Note, derentwegen das Gemälde in Ottino della Chiesas Werkverzeichnis des Malers beispielsweise als „Modestia e Vanità“ geführt wird. Eine solche allegorische Dimension, die durch die traditionelle Zuweisung der Bedeutungsgehalte der vita activa und der vita contemplativa an die beiden ungleichen Schwestern auch sinnvoll ist, zeichnet Caravaggios Gemälde nicht aus. Sie ist offenkundig zugunsten des profan-genrehaften Charakters des Bildes zurückgedrängt. Nichtsdestotrotz ist die äußere Erscheinungsweise der beiden Figuren kalkuliert gegensätzlich: Magdalena trägt über einer fein gefältelten Bluse ein kostbares Kleid mit tiefem Ausschnitt, Bordüren und leuchtend roten Ärmeln aus einem taftartigen Stoff, und ist sorgsam frisiert. Martha ist hingegen nachlässig und in ungleich gröbere Stoffe gekleidet. Das Modell für die Magdalena kennen wir. Es ist die uns durch ein Porträt bekannte Kurtisane Fillide, die auch für Caravaggios „Katharina von Alexan­ drien“ (Abb. 3) posierte. Für die Besitzer dieses Bildes und Caravaggios P ­ orträts der Dame (Abb. 16), also den Kardinal del Monte und den Marchese Vincenzo Giustiniani, mag ein besonderer Reiz bei der Betrachtung des Gemäldes in der Aldobrandini- oder Costa-Sammlung darin bestanden haben, das Modell nicht nur wiederzuerkennen, sondern auch der ungewöhnlichen Kongruenz des Lebenswandels von Rolle und Person ‚hinter‘ oder ‚im‘ Bild gewahr zu werden.112 Gerade vor dieser Folie ist ein von der Forschung kaum bemerktes Detail in Caravaggios Gemälde relevant: Nichts an der Mimik oder der Gestik lich mit dem Bild zu identifizieren, das sich in der Sammlung des Baron Rothschild im Louvre in Paris befindet. Siehe für dieses Gemälde Angela Ottino della Chiesa, Bernardino Luini, ­Novara 1956, Nr. 222, S. 132, Tf. 153 (bezeichnet als „Modestia e Vanità“); eine weitere befindet sich in der Timken Foundation in San Diego. In ihr hält Magdalena ein größeres Salbgefäß in der Hand, was ihre Identifikation erleichtert; vgl. Cummings, The Meaning 1974, S. 575; Maddalena tra sacro e profano 1986, Nr. 54, S. 158. 112  Diese Bemerkung ist einzuschränken, sollte sich das Gemälde tatsächlich in der Sammlung Olimpia Aldobrandinis befunden haben, denn dann hätte es zumindest im Jahr 1606 in der „guardaroba“ der Dame gehangen, zu der die beiden Herren gewiß keinen Zugang hatten. Für das Kurtisanenbildnis siehe Kap. 1, Anm. 274.

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

Magdalenas indiziert ihre innere Umkehr oder überhaupt irgendeine seelische Regung, die auf ihre bevorstehende Bekehrung hindeutet. Die Forschung übersieht dies, wenn sie den Seelenzustand Maria Magdalenas als „already having converted“ beschreibt.113 Zwar hört Magdalena ihrer Schwester Martha aufmerksam zu, aber Caravaggio gibt uns keinen Hinweis, daß der Vorgang ihrer Konversion bereits eingeleitet sei. Er zeigt also offensichtlich jenen Moment der Handlungssukzession, (unmittelbar?) bevor Magdalenas Konversion einsetzt. Möglicherweise läßt sich der auffällige Lichtfleck auf dem Spiegel als Zeichen des Erleuchtungsvorgangs lesen, den die Züge Magdalenas gleichwohl noch nicht zu erkennen geben. Caravaggio verbildlicht also eine Geschichte, die aufgrund der ihr inhärenten psychischen Dimension als ‚Psychodrama‘ bezeichnet werden kann, vor dem eigentlichen Umschlag des Geschehens. Dieser wird ausschließlich in den Bereich unserer Imagination verwiesen: Wir müssen das Gemälde mit Sinn aufladen und im Hinblick auf das imaginativ ‚vervollständigen‘, was es zum Ausdruck bringen sollte. Für diese Bildstrategie, deren Sinn wohl einerseits in der gewollten Alterität und Originalität sowie andererseits in der Erprobung ambitionierter ‚neuer‘ Affektmalerei und ihrer Möglichkeiten und Grenzen besteht, werden wir noch weitere Beispiele sehen.114 Für das schon mehrfach angesprochene Thema der spezifischen Verwendungsweise von Gestik und Mimik in den Werken Caravaggios und der ‚Caravaggisten‘ ist diese Bildstrategie besonders aufschlußreich. Durch das Format mit Halbfiguren im ‚Close-up‘, das uns den nahen Blick auf die Ausdrucksorte der Seele erlaubt, fordert Caravaggio, daß wir uns das Psychodrama via Mimik und Gestik erschließen. Und tatsächlich setzt er mit Magdalenas Gesicht, und insbesondere mit ihren Augen den wichtigsten Träger der Emotion auch vollständig dem Licht aus, um uns dann durch seine kalkulierte Ausdruckslosigkeit und „Unbestimmtheit“115 zu irritieren. Durch die Parallele zum unklaren Gestus Petri im New Yorker Verleugnungsbild (Abb. 9) und zum ‚dunklen‘ 113  Pamela M. Jones, The Power of Images: Paintings and Viewers in Caravaggio’s Italy, in: Saints & Sinners: Caravaggio & the Baroque Image (Ausst.-Kat. Chestnut Hill [MA], Charles and Isabella McMullen 1999), hg. v. Franco Mormando, Chicago u. a. 1999, S. 28–106, hier 38. Etwas vorsichtiger argumentiert Franco Mormando, ebd., S. 107–135, hier 109: „we witness the very moment in which Mary […] experiences the very first life transforming infusion of divine illumination, the very moment in which divine grace pierces her once-hardened heart and opens her once-blinded eyes to the truth about herself and the spiritual life […]. All of this Caravaggio communicates in the motionless, but deeply pensive expression of Mary’s face and the revealing quickening of her eyes.“ 114  Siehe Kap. III.1.1. 115  Luigi Ficacci hat mit Bezug auf Simon Vouets Frauendarstellungen vom „affetto indefinito“ gesprochen; er beobachtet ihn ebenfalls an solchen Gemälden, die den Modellbezug zu erkennen geben und verweist auf das Problem der Angemessenheit: „Con poco ‚decoro‘ si potrebbe dire, nel senso originario di ‚congruità‘ alla storia rappresentata (come Mancini insegna).“ (Luigi Ficacci, L’espressione dell’affetto indefinito, in: Docere delectare movere: affetti,

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Affektzustand der „Magdalena“ der Sammlung Pamphilj (Abb. 47) wird ein Muster in Caravaggios ‚Psychodramen‘ erkennbar: Es läßt sich als Reflexion über die Verweiskraft visueller Zeichen – im Sprachgebrauch der Zeit „insegna“ –116 werten, die gerade über die Nivellierung ihres Verweiswerts und – im Fall der Geste Petri – über die kalkulierte Uneindeutigkeit funktioniert.

3.2 Jacopo Vignalis „Konzert der hl. Cäcilie“ und die Grenzen des Akzeptablen Mehrfach habe ich bereits nach der möglichen und wahrscheinlichen Rezeption der Werke und wie sie vor allem hinsichtlich der Kategorien der Angemessenheit und des Dekorums beurteilt wurden, gefragt. Dies betrifft sowohl das innere Dekorum – die Würde der Figur und die ihr adäquate Darstellungsweise –, als auch die Bildsprache in bezug auf die Sujetwiedergabe generell. Das Problem bei der Beantwortung dieser Fragen besteht für uns darin, daß wir für Gemälde in profanen Sammlungen nur sehr wenige Rezeptionszeugnisse besitzen. Somit kennen wir die Beurteilungskriterien und Wertmaßstäbe für solche Bilder nur bedingt, wenngleich die bereits mehrfach angeführte Bemerkung von Francesco Scannelli, er vermisse an der „Magdalena“ der Sammlung Pamphilj „spirito, gratia und debita espressione“, „Seele, Grazie und angemessenen Ausdruck“ für die Existenz entsprechender Erwartungshaltungen auch im profanen Raum spricht. Allerdings zeigt das Faktum, daß ambige und in Hinblick auf das Dekorum problematische Bilder in großer Zahl existierten, ja durchaus für ihre Wertschätzung zumindest bei einem Teil ihrer Betrachter und Sammler. In diesen Zusammenhang möchte ich ein bemerkenswertes visuelles Zeugnis einer Bildkritik anführen, das der Forschung nahezu unbekannt ist. Es handelt sich um ein der National Gallery in Dublin gehörendes und im Russborough House in Blessington aufbewahrtes Gemälde des Florentiner Malers

devozione e retorica nel linguaggio artistico del primo barocco romano, hg. v. Sible de Blaauw u. a., Rom 1998, S. 89–104, hier 94). 116 Zitiert sei hierfür die diesbezüglich weiterführende Kritik von Raffaello Borghini an ­Michelangelos Statuen in der „Neuen Sakristei“ von San Lorenzo in Florenz von 1584: „[…] e come che l’Aurora, il Giorno, & il Crepuscolo sieno figure quanto all’attitudini, & al componimento della membra non solo belle, ma marauigliose, nondimeno non so io che dirmi dell’inventione, poiche elle non hanno insegna alcuna di quelle, che dauano loro gli antichi, per farle conoscere per quelle, che sono state finte; e se non fosse già diuolgato il nome di ­Michelagnolo le fece per tali, non so io vedere che alcuno, come che molto intendente, le potesse conoscere“ (Il Riposo, Florenz 1584, [Nachdr. Mailand 1967], S. 65 f. [Hervorh. V. v. R.] vgl. Raphael Rosenberg, Beschreibungen und Nachzeichnungen der Skulpturen Michelangelos: eine Geschichte der Kunstbetrachtung, München 2000, S. 33 [mit dt. Übers. der Passage]).

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103 Jacopo Vignali, Konzert der hl. Cäcilie, Dublin, National Gallery of Ireland

Jacopo Vignali, das eine Musikszene zeigt (Abb. 103).117 Den ‚Caravaggisten‘ ist der Maler nicht zuzuordnen, von einer Rom-Reise Vignalis oder etwaigen anderen Verbindungen ist nichts bekannt, und sein Dubliner Bild verfügt auch nicht über die als caravaggesk geltenden stilistischen Merkmale. Die Farbigkeit des Gemäldes ist reich, und die Figuren sind in einen deutlich als Musikzimmer charakterisierten Raum gesetz. Durch ein Fenster an der linken Seitenwand fällt helles die Szene gut und recht gleichmäßig ausleuchtendes Tageslicht herein. Die Protagonistin des Bildes sitzt am Cembalo. Mit ihren breiten Wangenknochen, der hohen Stirn, dem spitzen Kinn und der ausgeprägten Nase verfügt sie eindeutig über Porträtzüge. Sie ist elegant gekleidet und frisiert, trägt wertvollen Perlen-Schmuck am Hals, im Ohr und in die hochgesteckten Haare 117 140  ×  145  cm; siehe Wynne, Later Italian Paintings 1986, Nr. 183, S.  128–130 (ohne Datierungsvorschlag). Den Hinweis auf den aktuellen Aufbewahrungsort des Gemäldes in Blessing­ton im County Kildare verdanke ich Sergio Benedetti. Es gibt keine moderne Werk­ mono­graphie des Malers, der 1592 in Pratovecchio geboren wurde, überwiegend in Florenz tätig war und dort 1664 starb. Zu nennen ist nur das schmale, unvollständige Bändchen von ­Franca Mastropierro, Jacopo Vignali, Mailand 1973, das das Dubliner Gemälde nicht verzeichnet. Aufgrund der Lebensdaten des Florentiner Malers ergibt sich nur eine äußerst unpräzise Datierung des Bildes in das fortgeschrittene Seicento, etwa um die Jahrhundertmitte.

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104 Francesco Guarino, Konzert der hl. Cäcilie, Neapel, Museo Capodimonte

eingeflochten, und außerdem einen kostbaren Fingerring. Sie blickt freundlich lächelnd aus dem Bild, so als wolle sie sich des Beifalls ihres Publikums versichern. Begleitet wird sie von zwei jungen Damen mit gelockten Haaren. Auch sie tragen kostbare Kleider mit zart gefältelten Blusen sowie Schmuck und Blumen im Haar. Die eine der beiden singt und richtet ihren Blick dabei leicht versonnen nach oben, die andere blickt aufmerksam in die Noten und zupft die Laute. Nichts wäre an dieser Konzertszene ungewöhnlich oder gar irritierend, verfügten die beiden Begleiterinnen nicht über große Flügel, die sie als Engel ausweisen. Himmlische, nicht irdische Musik wird hier also gespielt, und auch die elegant gekleidete Dame im Vordergrund ist hierdurch eindeutig benannt: Es handelt sich um die hl. Cäcilie, die Patronin der Musik, die hier anstelle der in der Bildtradition üblichen Orgel ein Cembalo spielt.118 Und tatsächlich weist auch ein äußerst schwacher und sich vom Hintergrund kaum absetzender Nimbus auf ihre Identität als Heilige hin. Wie ungewöhnlich Vignalis Gemälde in konzeptueller Hinsicht ist, zeigt der Vergleich mit einer in der Figuration ähnlichen, aber in der Darstellungsweise divergierenden Verbildlichung desselben Sujets von Francesco Guarino im Museo Capodimonte in Neapel (Abb. 104).119 Zwischen den Engeln in der Bildmitte sitzend, läßt Cäcilia die stark porträthaften Gesichtszüge missen, ihr Kleid ist weniger kostbar, und weder sie noch ihre musikalischen Begleiter 118 Barra Boydell, Music and Paintings in the National Gallery of Ireland, Dublin 1985, S. 54 f. 119  124 × 152 cm; Lattuada, Francesco Guarino 2000, Nr. E 623, S. 242 f.

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105 Jacopo Vignali, Konzert der hl. Cäcilie (übermalter Bildzustand), Dublin, National Gallery of Ireland

tragen Schmuck. Diese verfügen über die konventionalisierte jungenhafte Erscheinungsweise von Engeln und erhalten überdies Verstärkung durch vier geflügelte Putten, die zu beiden Seiten des Cembalos stehen und mit dem Studium der Noten beschäftigt sind. Der größere der beiden Engel setzt dazu an, die Patronin der Musik zu bekränzen. Worin die tendenziell problematischen Aspekte einer Darstellung des Konzerts der hl. Cäcilia, wie Vignali sie verbildlicht, bestehen, muß ich nicht mehr ausführen. Erfreulicherweise besitzen wir für dieses Gemälde den seltenen Fall eines Rezeptionszeugnisses, das uns recht genau die als inakzeptabel erachteten Aspekte nennt. Denn der Zustand, in dem sich das Gemälde heute präsentiert, war lange Zeit verborgen, und zwar durch eine wahrscheinlich noch auf das Seicento zurückgehende Übermalung. Der Autor des Bestandskatalogs der National Gallery in Dublin, Michael Wynne, nennt Vignalis Schüler Carlo Dolci als möglichen Urheber. Die Übermalungen wurden erst vor wenigen Jahren abgenommen, dabei aber glücklicherweise dokumentiert (Abb. 105).120 Signifikanter könnten die Veränderungen, die dieser Maler an Vignalis Gemälde vorgenommen hat, kaum sein. Die Engel wurden ihres Halsschmucks und der Blumen im Haar beraubt, bekamen dafür aber mehr Locken und nahmen so ein androgynes, engelhaftes Wesen an. Noch folgenreicher waren die Eingriffe bei der Figur der hl. Cäcilia selbst: Auch sie büßte ihre Perlen an Hals und Ohr sowie ihre markanten individuellen Züge mit den hervor120  Vgl. Wynne, Later Italian Paintings 1986, S.  128 f. (fig. 168), sowie Giuseppe C ­ antelli, ­ alori simbolici e sangue nella pittura fiorentina del Seicento, in: Paradigma 8 (1988), V S. ­107–121, hier 110 f. Dolci gehörte der Werkstatt Vignalis seit dem Jahr 1625 an.

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stehenden Wangenknochen ein und bekam dafür ein weiches, etwas mandelförmiges Gesicht mit kleinem Mund. Sie richtet ihren Blick ‚himmelnd‘ nach oben, so wie es sich nicht nur für musizierende Cäcilia-Darstellungen, sondern überhaupt für jungfräuliche Märtyrerinnen auch ohne figurativen Kontext gehört. So wurde das Gemälde mit vergleichsweise geringen Eingriffen auf eine visuelle Norm hin ausgerichtet, die etwa Guarino von vornherein im Wesentlichen beachtet hat. Die Übermalungen sind in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: Zum einen lassen sie sich als ein indirekter und doch höchst deutlicher kritischer Kommentar zu Vignalis ursprünglicher Darstellung lesen. Zum anderen zeichnet sich hier in einer Präzision, wie sie wohl nur ein solcher Bild­ palimpsest haben kann, etwas ab, das im Prinzip für alle der betrachteten ambigen Heiligendarstellungen in verschiedener Weise gilt: Sie dokumentieren den Prozeß des ‚­Austestens‘ und der kalkulierten Überschreitung von Normen und Konventionen – einen Prozeß, der auch im fortgeschrittenen Seicento, als das Gemälde und möglicherweise auch die Übermalungen entstanden, offensichtlich noch im Gange war. Und damit sind die nachträglichen Eingriffe ein eminent wichtiger Baustein im zu rekonstruierenden Diskurs des religiösen Galeriebildes.121

121  Ich gehe unten ausführlicher auf das Phänomen der Sujettransformationen ein. Soweit ich sehe, hat sich bislang lediglich Cantelli, Valori simbolici 1988, S. 107–121, mit diesem Phänomen in der florentinischen Malerei – er spricht von „cinismo inventivo“ – beschäftigt. Für deren Ursache gibt er externe, vor allem ökonomische und sozialhistorische Faktoren und eine allgemeine „Krisensituation“ an, freilich ohne auszuführen, auf welchem Wege und in welcher Form sich solche Umstände in den Bildern niederschlagen. Siehe ebd., S. 107: „Così le crisi depressive dell’ economia, le pestilenze, l’ipocrisia religiosa, una dinastia senza personalità rilevanti sono i fattori determinanti per una cultura figurativa piena di contraddizioni interpretate come decadenza delle arti, ma in realtà esplicative du una situazione di disagio creativo ed intellettuale, di cinismo inventivo.“

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4. Laszive Sünderinnen und ebensolche Märtyrer: Heftige Affekte und das piacer troppo des Betrachters Die Übermalungen von Vignalis Gemälde bezeugen die Sensibilität für das, was darstellbar und wie es darstellbar ist; gleichzeitig aber zeigt die Existenz des Gemäldes auch den Versuch, die Grenzen des Möglichen auszureizen und sogar kalkuliert zu übertreten. Dieser ambivalente Mechanismus bestimmt in noch weitaus stärkerem Maße eine andere Gruppe von größtenteils für die private Rezeption geschaffenen Werken. Es handelt sich um meist einfigurige Heiligenbilder, die wir als erotisch oder erotisierend beschreiben und die im Sprachgebrauch der Zeit als „lasziv“ apostrophiert wurden. In Traktaten wurde diesem Themenkomplex äußerste Aufmerksamkeit gewidmet. Es läßt sich kein nachtridentinischer Theoretiker finden, der beim Verdammen lasziver Bilder nicht deutliche Worte fand, und wir wissen von verschiedenen ‚Säuberungs­ aktionen‘ in Kirchenräumen.122 Diesem massiven Versuch der Regelung der Bildsprache zum Trotz, gibt es in der ersten Hälfte des Seicento quantitativ und qualitativ mehr erotisch-laszive Darstellungen als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Frühen Neuzeit. Wie diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis zu erklären ist, soll die leitende Frage meiner Überlegungen zum Bilddiskurs des lasziven Heiligenbildes im Seicento sein. Zwei Heilige boten sich aufgrund ihrer Biographie oder deren legendenhafter Ausschmückung für eine Erotisierung der Darstellung regelrecht an: Maria Magdalena und Sebastian. Erstere ist bekanntlich eine Personenfiktion aus der Verbindung der sog. Schülerin Jesu (Lk 8, 1–3) mit der von Lukas (7, 36–50) erwähnten Sünderin, die im Haus des Pharisäers Jesu Füße salbte und mit ihren Tränen benetzte. Sie zog sich, ihr gottloses Leben bereuend und büßend, allein in eine Höhle bei Sainte Baume in der Provence zurück.123 Sebastian war Präfekt der Leibgarde des Kaisers Diokletian. Weil er nicht bereit war, 122  Hierzu unten, Abschnitt 7 in diesem Kapitel. Bereits im Quattrocento hat es öffentliche Bilderverbrennungen gegeben, eine davon initiierte Savonarola 1497/98; Vasari berichet von ihr; siehe unten, Anm. 153. 123  Allgemein zu Figur und Bildtradition der hl. Magdalena einschließlich des Aspekts der Erotisierung: Ingrid Maisch, Maria Magdalena, Freiburg u. a. 1996; Susan Haskins, Mary ­Magdalen, Myth and Metaphor, London 1993, bes. S. 134–191 sowie S. 229–296 (die Kapitel über „Beata Peccatrix“ und „The Weeper“); Monika Ingenhoff-Danhäuser, Maria Magdalena. Heilige und Sünderin in der italienischen Renaissance. Studien zur Ikonographie der Heiligen von Leonardo bis Tizian, Tübingen 1994; Maddalena tra sacro e profano 1986; Martin ­Seidel, Venezianische Malerei zur Zeit der Gegenreformation: kirchliche Programmschriften und künstlerische Bildkonzepte bei Tizian, Tintoretto, Veronese und Palma il Giovane, Münster 1996 (zugl. Diss. Bonn), S. 87–93.

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seinem Glauben abzuschwören, wurde er zunächst an einen Baum gebunden und mit Pfeilen gemartert und anschließend schwerstverwundet und entkleidet von seinen Peinigern allein vor den Toren der Stadt zurückgelassen.124 Dabei wurde er seit dem Secondo Quattrocento in offenkundiger Brechung des Prinzips der verosimilitas nicht als älterer und bärtiger Mann dargestellt – was seinem Rang als Präfekt entsprochen und sich auch mit den Berichten der Märtyrerakten gedeckt hätte –, sondern als Jüngling mit ‚apollinisch‘ schönem Körper. In der Bildtradition wurde diese Ikonographie bekanntlich intensiv dazu genutzt, den männlichen Akt ins Bild zu setzen. Anders als etwa der in der Bildtradition ebenfalls entkleidet dargestellte Isaak-Knabe, der aber stets gemeinsam mit seinem Vater Abraham verbildlicht wird, bietet es sich bei den Heiligen Magdalena und Sebastian zudem an, sie aus ihrem narrativem Kontext zu isolieren und den verwundeten oder – wie im Falle Magdalenas – geschundenen Körper isoliert ins Bild zu setzen. So hat das Schicksal beider Heiliger – der Rückzug der schönen, lasziven Sünderin in die Einsamkeit und der Verbleib des verwundeten attraktiven Jünglings in derselben – hohes imaginationsanregendes Potential. Ähnliches gilt für die Darstellungen des allein in der Wüste heranwachsenden Täufers, die, der Bedeutung des Sujets für Caravaggio und die ‚Caravaggisten‘ wegen, unten gesondert behandelt werden.

4.1 Die „Magdalena“ von Guido Cagnacci und die Diskursivierung des erotischen Heiligenbildes seit dem Cinquecento Nimmt man die Aufbewahrung eines Gemäldes hoher Qualität im Depot als Indiz, unterlag Guido Cagnaccis Magdalena-Darstellung in der Galleria Barberini (Abb. 106) bis vor wenigen Jahren einem Akt der Bildkontrolle. Erst kürzlich fand es Aufstellung in den Museumsräumen, wurde jedoch auch hier durch die Hängung in zweiter Reihe weit über Augenhöhe dem allzu nahsichtigen Blick des Betrachters entzogen. Das Gemälde wird in die frühen römischen Jahre des aus der Emilia Romagna stammenden Malers, und damit in das dritte Jahrzehnt des Seicento, datiert.125 Es zeigt die Heilige leicht schräg 124  Siehe hierfür unten, Anm. 152. 125  86 × 72 cm; Rom, Galleria Nazionale Palazzo Barberini. Das Bild stammt aus dem Be-

sitz der Familie Torlonia; wann es in deren Sammlung gelangte, ist unbekannt. Siehe G ­ uido ­Cagnacci 2008; Nr. 20, S.  154 f. Tommaso Strinati, in: Guercino e la pittura emiliana del ’600 dalle collezioni della Galleria Nazionale d’arte antica di Palazzo Barberini (Ausst.-Kat. Bergen, Kunstmuseum/Hong Kong, Museum of Art/Bratislava, Galéria/Padova, Fondazione Palazzo Zabarella 1999–2001), hg. v. Claudio Strinati & Rossella Vodret, Venedig 2000, Nr. 38, S.  100; Gianni Papi, La „Maddalena penitente“ di Guido Cagnacci a Palazzo Barberini, in: Paragone 44 (1993), S. 95–98. ders., Qualche riflessione sul primo tempo di Guido Cagnacci, in: Antichità viva 27 (1988), S. 19–26, hier 22 f. (nur stilistische Bewertung). Für Leben und Werk des Malers, der 1601 in Santarcangelo di Romagna geboren wurde, vermutlich zweimal nach Rom reiste (vor 1621 und 1621/22) und 1663 in Wien starb, siehe Antonio Paolucci,

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106  Guido Cagnacci, Hl. Maria Magdalena, Rom, Galleria Barberini

im Bildfeld sitzend, während sie sich weit zurücklehnt. Ihr Unterkörper ist durch ein großes grünes Tuch verhüllt, unter dem sich die geöffneten Beine nichtsdestotrotz abzeichnen. Magdalenas gänzlich entblößter Oberkörper ist Modernità di Guido Cagnacci, in: Guido Cagnacci, 2008, S.  19–25; Pasini, Guido Cagnacci 1986; Guido Cagnacci 1993; Matthias Kunze, s.v. Canlassi, in: Allgemeines Künstlerlexikon 16 (1997), S.  153–155; Alexander Perrig, Guido Cagnacci (1601–1663) – „Genio mordace“, in: Henry Keazor (Hg.), Psychische Energien bildender Kunst. Festschrift Klaus Herding, Köln 2002, S. 39–88, der erstmals auf unkonventionelle Elemente in dessen Gemälden hinweist, sie allerdings biographisch erklärt.

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vollständig dem Licht ausgesetzt, wodurch er sich vom dunklen Hintergrund, der den Ausblick in den Nachthimmel freigibt, effektvoll absetzt. Sie neigt ihren Kopf weit über das physisch angenehme Maß hinaus in den Nacken; Augen und Mund sind geschlossen. Auf ihrem Bauch liegt ein Schädel, in ihrer rechten Hand befindet sich eine Geißel zur Selbstkasteiung, womit sie aber, wie ihr unversehrter, attraktiver Oberkörper zeigt, noch nicht begonnen hat. Neben ihr liegen im Halbschatten ein Kreuz und ein Salbgefäß. Zwei Dinge sind es, die vor dem Hintergrund der Bildtradition aktiv be­reuender oder büßender Magdalenen an Cagnaccis Gemälde besonders ins Auge fallen: das Motiv der Selbstgeißelung als radikalster Form der Askese – wofür ich südlich der Alpen nur jüngere visuelle Belege kenne –126 und die geradezu extreme Sinnlichkeit der Darstellung. Sie entsteht durch die entblößten Brüste, die geöffneten Beine und den sich im Zurücklehnen des Kopfes manifestierenden heftigen Affekt, der uns das Gesicht der Heiligen fast vollständig entzieht. Dadurch werden wir in forcierter Weise mit einem Paradox konfrontiert, das im Sujet und in der Bildtradition reuender Magdalenadarstellungen angelegt ist: Ihr Körper, der Gegenstand ihrer Selbstkasteiung und Buße ist, wird uns in geradezu maximaler Präsenz und Sinnlichkeit vor Augen gestellt. Er erweckt zumindest potentiell ebenjenes Begehren ihrer Betrachter, für das Magdalena hier büßt und das sie sich geißelnd austreibt. Daß genau in dieser möglichen Wirkung der Bilder der Kern des Diskurses um das laszive Heiligenbild seit dem Cinquecento besteht, möchte ich im folgenden aufzeigen. Glücklicherweise verfügen wir über eine Reihe von Textzeugnissen in einer langen und recht heftig geführten Debatte über die Darstellung des Nackten, die es erlauben, Wertmaßstäbe und Normen der Zeit weitgehend zu rekonstruieren. Dies ist bei einem Thema, bei dem von einer Diskrepanz zwischen frühneuzeitlichen und modernen Frömmigkeitsvorstellungen auszugehen ist, in besonderer Weise angezeigt.

126  Vgl. Niklaus Largier. Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001, S. 193 f., Abb. 31 und 32; er führt eine Darstellung von Felice Ficherelli in der National Gallery of Ireland in Dublin sowie Guercinos Gemälde in einer New Yorker Privatsammlung an. Beide Gemälde haben aufgrund der Positionierung der Figur im tieferen Bildraum nicht die laszive ‚Aggressivität‘ von Cagnaccis Figur; so ist die Blöße der Magdalena in Guercinos Gemälde sogar vollständig bedeckt. Ein weiteres Beispiel ist ein Gemälde von Elisabetta Sirani im Musée des Beaux-Arts in Besançon; für ein transalpines siehe M. Anstett-Janssen, s.v. Maria Magdalena, in: Lexikon der christlichen Ikonographie Bd. 7, Sp. 516–542, hier 524. Von der Selbstkasteiung der Heiligen mittels Geißelung berichtet die Legenda Aurea: „Denn vor ihrer Bekehrung war sie schuldig, weil sie die ewige Strafe hatte verdient. In ihrer Bekehrung war sie befestigt durch die Rüstung der Buße; denn sie waffnete sich gar gut mit allen Waffen der Buße; und wieviel Lust in ihr gewesen war, soviel Opfer brachte sie nun“ (Jacobus de Voragine, Legenda aurea [1993], S. 473).

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107 Tizian, Hl. Maria Magdalena, Florenz, Galleria Pitti

Für uns greifbar ist die Diskussion seit dem Cinquecento, auch wenn mit Sicherheit anzunehmen ist, daß sie älter ist.127 Die Auseinandersetzung entzündete sich vor allem an Verbildlichungen der lasziven Sünderin Magdalena. Locus classicus ist Giorgio Vasaris Beschreibung von Tizians „Magdalena“ für 127  Allgemein zum Thema neben der oben genannten Literatur: David Freedberg, The Power of Images, Chicago und London 1989; Alessandro Nova, Il Cristo in forma Pietatis del Rosso Fiorentino fra devozione e bellezza, in: Christoph L. Frommel, Heinrich Pfeiffer & Gerhard Wolf (Hg.), L’immagine di Cristo: dall’ Acheropita alla mano d’artista, Rom 2006, S. 324–340; vgl. auch Bernard Aikema, Titian’s Mary Magdalen in the Palazzo Pitti: an Ambigious Painting and its Critics, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 57 (1994), S. 48–59, der in bewußter Abkehr von Ingenhoff-Danhäusers Interpretation sogar Tizians Magdalena der Sammlung Pitti einen moralisierenden Charakter unterstellen möchte: „[…] we should understand Titian’s Mary Magdalen […] as a moralising work for male viewers who could gain merit by overcoming the temptation of the sensous depiction“ (S. 54), und weiter heißt es: „an extremely suggestive, provocatively sensous woman is presented to the […] spectator as a warning against seduction“ (S. 55). Es mag sein, daß der eine oder andere zeitgenössische Betrachter das Gemälde so betrachtete oder – was vielleicht eher zutrifft –, sich darum bemühte, es so sehen zu können; generalisieren läßt sich eine solche Wahrnehmung sicherlich nicht. Überhaupt fehlt es der Deutung an der Präzisierung des – modernen – Moralbegriffs. Aikema stützt sich auf die Schriften überwiegend reformtheologischer Autoren und auf Synodentexte, die eben gegen solche sinnlichen nackten Darstellungen wettern. Daß solche Texte keineswegs Wirklichkeit abbilden, dürfte auf der Hand liegen; im Gegenteil, ihre Kritik beweist doch vielmehr, daß die stimulierende Fähigkeit der Bilder wahrgenommen wurde.

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Karl V. von Spanien. Das Gemälde hat sich bedauerlicherweise nicht erhalten, doch kann die vermutlich ähnliche, mit Vasaris Beschreibung weitgehend übereinstimmende Version in der Sammlung Pitti (Abb. 107)128 einen Anhaltspunkt bieten, wie man sich das für den „Re Cattolico“ bestimmte Gemälde vorzustellen hat. Vasari beschreibt: „[…] una figura da mezza coscia in su d’una Santa Maria Maddalena scapigliata, cioè con i capelli che le cascano sopra le spalle, intorno alla gola e sopra il petto; mentre ella alzando la testa con gli occhi fissi al cielo, mostra compunzione nel rossore degli occhi, e nelle lacrime dogliezza de’ peccati: onde muove questa pittura, chiunche la guarda, estremamente; e che è più, ancorchè sia bellissima, non muove a lascivia, ma a comiserazione.“ „[…] mit einer bis zu den Knien gezeigten Figur der Heiligen Maria Magdalena mit losem Haar, das über die Schultern, den Hals und über die Brust fällt, während sie mit erhobenem Kopf den Blick fest gen Himmel richtet und in den geröteten Augen ihre Reue und mit Tränen den Kummer über ihre Sünden offenbart. Und so rührt dieses Gemälde jeden, der es betrachtet, in tiefster Weise an, und was noch mehr gilt: Obwohl von höchster Schönheit, ruft sie nicht Lüsternheit, sondern Mitleid hervor.“129

Was Vasari an Tizians Darstellung der Magdalena vorrangig interessiert, ist die postulierte Wirkung des Bildes. Er bedient sich für ihre Beschreibung des Superlativs: das Bild bewege und errege seinen Betrachter „in extremer Weise“. Dieser Mechanismus wirft für ihn die Frage nach der Natur der erzeugten Affekte auf. Sind sie lasziv-anstößig („lascivia“) und mithin profaner Natur, oder bewegt Tizians reuige Magdalena den Betrachter zum Mitleiden, und damit zu ethisch-religiösen Gefühlen? Auch wenn sich Vasari für letztere Möglichkeit entscheidet, so ist seine Gegenüberstellung der Möglichkeiten doch aussagekräftig.

128  85  ×  68  cm; Florenz, Collezione Pitti; siehe für dieses Bild: Wethey, The Paintings of ­ itian 1969, Bd. 1, Nr. 120, S.  143 f.; Maddalena tra sacro e profano 1986, Nr. 68, S.  192– T 195. Es ist durchaus möglich, daß das Gemälde für Karl V. die Heilige nicht mit entblößter Brust ­zeigte. Dies machte Vasaris Bemerkung um so interessanter, da sich dann das Problem der Wirkung des Gemäldes in der Sammlung Pitti oder gar von Cagnaccis Bild entsprechend zuspitzte. Es gab sehr viele Fassungen des Sujets, die gerade in der ‚Laszivität‘ divergierten. Offen­sichtlich nahm Tizian also auf die postulierten Rezeptionsinteressen seiner Auftraggeber Rücksicht. Siehe hierfür: Wethey, The Paintings of Titian 1969, Bd. 1, Nr. 120–124. 129  Giorgio Vasari, Le vite dei più eccellenti pittori, scultori e architetti [Florenz 1568], hg. u. komm. v. Gaetano Milanesi, Florenz 1906, Bd. 7, S. 454; ders., das Leben des Tizian, hg. u. komm. v. Christina Irlenbusch, übers. v. Victoria Lorini, Berlin 2005, S. 48. Vgl. IngenhoffDanhäuser, Maria Magdalena 1984, passim; Freedberg, Power of Images 1989, S. 322; Aikema, Titian’s Mary Magdalen 1994; Seidel, Venezianische Malerei 1996, S. 89–93; Prater, Velázquez 2002, S. 82 f. Wie Vasari weiter ausführt, begeisterte das Gemälde einen nicht namentlich genannten „gentiluomo viniziano“ derart, daß Tizian es an ihn abtrat und für Karl V. ein neues Werk anfertigte.

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Daß es in der Frühen Neuzeit grundsätzlich als Selbstverständlichkeit betrachtet wurde, daß Bilder ihre Betrachter auch körperlich erregen können und dies gerade für solche Darstellungen gilt, die den entblößten weiblichen Körper zeigen, ist durch zahlreiche Textquellen belegt. David Freedberg hat sie in seiner Studie zur „Power of Images“ diskutiert.130 So wissen wir beispielsweise von Giulio Mancini, daß es Sammler gab, die in einigen Räumen sogar Bilder mit der dezidierten Absicht der sexuellen Stimulierung aufhängten.131 Für weite Teile des Publikums scheint eine solche Rezeptionsform – von pädagogischen Gesichtspunkten abgesehen – nicht als problematisch angesehen worden zu sein. Letzteres geschieht vielmehr infolge der potentiellen Stimulierung des Betrachters durch Figuren religiöser Gemälde, speziell durch Heiligenbilder. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung Leonardos. Sie findet sich in seinem Malereitraktat im Kontext der Ausführungen zum Paragone, mit denen er die höhere affektive Wirkmacht von Bildern gegenüber Texten demonstrieren will. Leonardo berichtet verblüffend explizit von einer ungewöhnlichen Bildpraxis, in der ein offenbar besonders attraktives Heiligenbild – das Sujet wird nicht genannt – von seinem Besitzer dazu benutzt wird, es in die Hand zu nehmen und zu küssen.132 Ließe sich der Kuß allein auf die kultische Verehrungspraxis der Ikone, des Urtyps des einfigurigen Heiligenbildes, beziehen, wäre dies als unproblematisch zu werten. Doch benennt 130  Freedberg, Power of Images 1989, S. 1–3, sowie die Kap. 12 („Arousal by Image“) und 13 („The Senses and Censorship“), S. 317–377; auch: Carlo Ginzburg, Tizian, Ovid und die erotischen Bilder im Cinquecento, in: ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 173–192; Mila Horký, Einführung, in: Amors Pfeil. Tizian und die Erotik in der Kunst (Ausst.-Kat. Braunschweig, Herzog Anton UlrichMuseum 2003), hg. v. dems., Braunschweig 2003, S. 16, der entsprechende Belegstellen aus der Antike zusammenstellt. Weniger bekannt ist eine signifikante Quelle, auf die Carlo Ginzburg hingewiesen hat: die Invektive von Ambrogio Catarino Politi gegen solche Prälaten, die mythologische Bilder sammelten. Die nackten Glieder von Venus und Diana sowie die unsittlichen Umtriebe der Bacchantinnen provozierten Politi zufolge die „Lust der Augen“ („libidinem […] spectantium oculos“). Die von Politi berichteten Entschuldigungen jener Prälaten, sie sammelten solche Bilder „zur Ergötzung und zur Erinnerung an die Alten“ hielt er für einen Vorwand (Ambrogio Catarino [Lancelotto de’ Politi], Disputatio de culti ed adoratione imaginum, Rom 1552, S. 142 f.; vgl. Carlo Ginzburg, Tiziano e i codici della figurazione erotica del Cinquecento, in: Paragone 29 [1978], Nr. 339, S. 3–24, hier 3 f.; ders., Tizian, Ovid 1983, S. 173–192, hier 176). 131  Siehe hierfür Anm. 177. 132  Leonardo, Das Buch von der Malerei. Nach dem Codex Vaticanus (Urbinas) 1270, hg., übers. und erl. v. Heinrich Ludwig, Wien 1882, § 25, S. 48–50/51: „e già interuenne à me fare una pittura, che rappresentaua una cosa diuina, la quale comperata dall’ amante di quella, uolle leuarne la rappresentatione di tal Deità, per poterla baciare senza sospetto. ma infine la coscientia uinse li sospiri e la libidine, e fu forza, ch’ei se la leuasse di casa.“; vgl. IngenhoffDanhäuser, Maria Magdalena 1984, S.  27; Freedberg, Power of Images 1989, S.  361; Prater, Velázquez 2002, S. 77 f.

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Leonardo in einem Zusatz die schwierigen Implikationen dieser Praxis: Der Besitzer muß zunächst „die Vorstellung der Göttlichkeit beseitigen“, um das Bild dann „ohne Scheu küssen zu können“. Daraufhin entledigt er sich desselben, um hierdurch der „sospiri“ (Seufzer) und „libidine“ (körperlichen Lust) zu entgehen – was als Erläuterung mindestens ebenso bemerkenswert ist wie die ungewöhnliche Bildpraxis an sich. Im Prinzip kreist Leonardo um denselben Punkt wie Vasari, nämlich den der Doppelkodierung der durch Bilder ausgelösten Affekte. Anders als Vasari läßt Leonardo die faktische Möglichkeit der Evozierung körperlichen Begehrens durch das Heiligenbild explizit zu. Folglich läßt sich festhalten, daß diese nicht nur für möglich gehalten wird, sondern auch indirekt ein recht schmaler Grat zwischen der affektiven ethischen Reaktion auf Bilder und der körperlichen Reaktion auf sie konzediert wird – und insofern dürfte Leonardo das Vorstellungsbild des Kusses in Analogie zur Kultpraxis der Ikone auch bewußt gewählt haben. Daß das Problem der semantisch indifferenten Gefühlsstimulierung durch Heiligenbilder in der Zeit auch ‚spielerisch‘ diskursiviert werden konnte, zeigt eine kaum bekannte, höchst anschauliche Anekdote, die eine etwas andere Perspektive auf das Thema wirft. Ein Florentiner Adliger namens Baccio Valori berichtet in einer privaten Gesprächsnotiz von einer Unterhaltung, die er mit dem bereits hochbetagten Tizian in dessen Werkstatt führte. Sie hatte sich an einer weiteren „Maddalena nel deserto“ des Malers entzündet, die sich zum Zeitpunkt der Unterhaltung noch in dessen Werkstatt befand: „Conobbi qui Tizian, quasi fermo in casa per l’età, e come che fusse stimato per ritrarre al naturale, mi mostrò una Maddalena nel deserto da piacere; anche mi ricordo hora che dicendoli che era da piacer troppo, come fresca e rugiadosa in quella penitenza. Conosciuto che io voleo dire che devesse con scarna del digiuno, mi rispose ghignando avvertisce che l’è ritratta pel primo dì che rientra, innanzi che cominciasse a digiunare, per rappresentar la pittura penitente sì, ma piacevole quanto poteva, e per certo era tale.“ „Ich lernte hier Tizian kennen, der aufgrund seines Alters fast unbeweglich in seinem Hause war, und da er geschätzt wurde für sein Abbilden nach der Natur, zeigte er mir eine Magdalena in der Wüste, gefällig gemalt; auch erinnere ich mich jetzt, daß ich ihm sagte, sie gefalle zu sehr, wie sie in jener Reue frisch und taubenetzt sei. Erkennend, daß ich sagen wollte, sie müsse in ihrem Fasten abgemagert sein, antwortete er und wies mich ironisch darauf hin, daß sie am ersten Tag ihrer Einkehr porträtiert sei, bevor sie angefangen habe zu fasten, um das Gemälde zwar reuevoll darzustellen, aber so angenehm wie er konnte, und dies war es gewiss.“133 133  In einem Ricordo aus den Jahren 1559–61; zitiert nach Haskins, Mary Magdalen 1993, S. 245. Auf welche der zahlreichen Fassungen des Sujets von Tizian dies zu beziehen ist, ist leider völlig unklar. Die Lebensdaten Baccio Valoris sind 1535–1606.

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Der Fokus des Gesprächs vor dem Bild ist die Angemessenheit der Darstellung, die Valori durch Tizians Darstellungsweise der Heiligen gefährdet sieht. Denn der Maler habe die Heilige, obwohl sie den Legenden zufolge doch in der Wüste gefastet und gebüßt habe, mitnichten hohlwangig, sondern vielmehr „frisch und taubenetzt“ und so fürs Auge „angenehm“ gemalt. Implizit konsta­ tiert Valori damit ein Problem der verosimilitas. Tizians Kommentar dazu – er habe Magdalena eben zu einem Zeitpunkt „porträtiert“ („ritratta“), als sie gerade erst zu fasten begonnen habe – ist in seiner ironischen Pragmatik brillant. Indirekt ist diese Anekdote auch für unser Thema der zweifach kodierten Wirkung erotisierter Bilder aufschlußreich, denn Valori benennt ja sehr genau, worin er das eigentliche Problem dieser Darstellungsweise der büßenden Magdalena sieht: weniger im Dekorum-Verstoß an sich als in den von ihm ausgelösten Folgen. Die attraktive Magdalena, die Tizian „nach der Natur gemalt“ habe, sei nicht nur für das Auge „angenehm“, das Problem bestehe vielmehr darin, daß sie dem Betrachter „zu sehr gefallen“ habe, „piacer troppo“. Wir dürfen davon ausgehen, daß sich bei ihm durch eine bereits abgemagerte und verhärmte Magdalena eine entsprechende erotisch-libidinöse Wirkung des Bildes – auf die er sicherlich anspielt, denn andernfalls hätte er die Wirkung ja dezidierter benannt – nicht eingestellt hätte. Damit berührt die Anekdote ziemlich exakt das oben angesprochene visuelle Paradox, das besonders die Darstellungen der Magdalena aufwerfen: Uns wird in großer Sinnlichkeit und Prägnanz der schöne Körper der Heiligen vor Augen geführt, der doch Gegenstand ihrer Selbstkasteiung und Buße ist oder sein sollte. Auch als Dokument einer relativ zwanglosen Künstlersprache, die eher zufällig in Form einer privaten Gesprächsnotiz in einem Ricordo erhalten geblieben ist, ist die Anekdote weiterführend. Dieser Aspekt verweist auf eine weitere Dimension des Problems: Das Sprechen über Erotik und über erotische Bilder unterliegt, sicherlich mehr noch als das Sprechen über Kunst generell, Regeln und Normen, die wiederum entsprechend der Textgattung, der mit ihr verbundenen Intention und dem Grad von Öffentlichkeit, an den sie sich richtet, divergieren. Man wird in einem solchen unmittelbaren Gesprächszeugnis – wie fiktiv die von Valori berichtete Begebenheit ist, ist dabei nicht relevant – immer eine andere Sicht auf eine Thematik formuliert bekommen als in einem Traktat, das sich an eine Öffentlichkeit wendet. Ich denke, daß Vasaris Reaktion, indirekt die Möglichkeit der Evozierung auch anderer als ethischer Gefühle durch eine attraktive Darstellung der hl. Magdalena zu konzedieren, um sie dann ebenso indirekt zu verwerfen, auch vor dieser Folie zu bewerten ist. Daß er in einem zwanglosen Gespräch vor dem Bild eine andere Sicht auf die Dinge formuliert hätte, erscheint mir durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich.134 134  Vgl. hierfür auch die beiden von Alessandro Nova (Il Cristo in forma Pietatis 2006) in diesen Kontext eingeführten Belegstellen aus Vasaris Viten, die die Pluralität der Meinungen

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Der Problemkomplex des erotischen Heiligenbildes spitzt sich im fortgeschrittenen Seicento zu. Im Zuge der katholischen Reform entstand das starke Bedürfnis zu regeln, wie Bilder auszusehen haben, und gleichzeitig festzulegen, welcher Art die durch sie evozierten Empfindungen sein durften. Daß in diesem Zusammenhang das Thema der Sensualität und ‚Laszivität‘ der Bilder eine extrem große Rolle spielte, liegt auf der Hand. Und bezeichnenderweise wurde Nacktheit zunehmend mit Laszivität verbunden. Entsprechend zahlreich sind die Forderungen, Darstellungen nackten Fleisches gerade in religiösen Werken unbedingt zu meiden. Dabei wurde nicht nur auf die Angemessenheit und Würde der Figuren und Darstellungen abgehoben, sondern auch die Gefahr der ‚Ergötzung‘ und die daraus resultierende Gefährdung der Betrachter zum Thema gemacht.135 Diesbezügliche Aussagen finden sich – jeweils leicht verschieden perspektiviert, aber in der Absicht weitgehend identisch – in dezidiert bildtheologischen Schriften, wie sie von Gabriele Paleotti,136 Giovanni Andrea Gilio137 und Federico Borromeo verfaßt wurden.138 Auch der zu diesem Thema sehr gut belegen können. So schreibt dieser in der Torrentina-Edition (1550) zu Beginn der Vita des Beato Angelico: „Certamente chi lavora opere ecclesiastiche e sante, doverrebbe egli ancora del continovo essere ecclesiastico e santo, perché si vede che, quando elle sono operate da persone che poco credino e manco stimino la religione, fanno spesso cadere in mente appetiti disonesti e voglie lascive; […] Ma io non vo’ già che alcuni s’ingannino, interpretando il devoto per goffo et inetto, come fanno certi che, veggendo pitture dive sia una figura o di femmina e di giovane, un poco piú vaga e piú bella e piú adorna d’ordinario, le pigliano e giudicano subito per lascive.“ (Giorgio Vasari, Le vite de’ piú eccellenti architetti, pittori, et scultori italiani, da Cimabue insino a’ tempi nostri [Florenz 1550], hg. v. Luciano Bellosi & Aldo Rossi, Turin 1986, S.  344); und an anderer Stelle berichtet er von einem Wortwechsel des Veroneser Malers Giovanni Francesco Caroto mit einem Priester, der seine Figuren auf einem Altar für „troppo lascive“ befunden hatte: „Voi state fresco, se le cose dipinte vi commuovono: pensate, come è da fidarsi di voi, dove siano persone vive e palpabili“. (Vasari, Le Vite 1906, Bd. 5, S. 285). 135  Siehe die gute Zusammenstellung der Belegstellen bei Hecht, Katholische Bildertheologie 1997, S. 266–290, mit Schwerpunkt auf Johannes Molanus; vgl. auch Seidel, Venezianische Malerei 1996, S. 74–104; auch Marcia B. Hall, Sixtus V: a Program for the Decorum of Images, in: Arte cristiana 96 (1998), S. 41–48. 136  Paleotti, Discorso, in: Barocchi, Trattati, Bd. 2, S. 266: „[…] un pittore, in vece di formare uno Cristo, formi uno Apolline, e lo scultore, in loco di comporre la statua di uno martire, compona una trasformazione favolosa; fa opra che le figure si dipingano ignude per lo più e molto lascivamente. Entra fino nei santi, e se la beata Maddalena e san Giovanni evangelista o un angelo si dipinge, fa che siano ornati et addobbati peggio che meretrici o istrioni; overo sotto coperta di una santa da fare il ritratto della concubina“. 137  Giovanni Antonio Gilio, Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’historie, in: Trattati d’arte del Cinquecento fra manierismo a controriforma, hg. v. Paola Barocchi, Bd. 2, Bari 1961, S. 80: „Tenga per fermo il pittore che far si diletta le figure de’ santi nude, che sempre gli leverà gran parte de la riverenza che se li deve.“ 138  Borromeo, De Pictura sacra 1932, S. 65 f. Kap. VI „Del nudo“: „Quindi appare ancora la sconvenienza di quelli che effigiano il divino Infante poppante in modo da mostrare denudati il seno e la gola della Beata Vergine, mentre quelle membra non si devono dipingere che con molta cautela e modestia. Non pochi poi ritraggono nude persino le gambe di Santi e di Sante e

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Bericht der Trienter Konzilssitzung vom 4. Dezember 1563 geht auf diesen Aspekt ein,139 was sicherlich als Reaktion auf die von seiten einiger Reformtheologen beschworene körperliche Stimulierung durch nackte Figuren im Kirchenraum zu werten ist.140 Entsprechende Bemerkungen finden sich schließlich auch in einem Malereitraktat wie dem 1584 publizierten „Trattato dell’ arte de la pittura“ von Giovanni Paolo Lomazzo.141 Diese Fülle von Aussagen, die oft sehr explizit die von nackten Figuren ausgehende ‚Gefahr‘ benennen, bestätigt Michel Foucaults Beobachtung, daß die angestrebte Schamhaftigkeit in Sachen Sexualität seit dem 16. Jahrhundert auf der diskursiven Ebene zu einer zunehmenden Aufmerksamkeit geführt hat.142 tra di loro li accostano in modo, tale da potersi ridestare nell’animo qualche pensiero molesto. Questa cosa così disonorò presso i posteri un artista di gran nome che fu necessario togliere dalle sue tele quello sconcio. […] Se oggi vivesse Apelle non dipingerebbe i Santi e le Sante nel costume in cui soleva rappresentare quelle false divinità, ma avrebbe riguardo al decoro, alla dignità, e alle condizioni dei tempi mutati. Qualcuno invece dei nostri artisti non avrà vergogna di vestire la Vergine con abiti così attillati da riprodurre tutte le forme del corpo, quasi fossero nascoste soltanto da un tenuissimo velo. A riprovazione di tanta impudenza val la pena di riferire qui le parole di un Concilio: ‚Proibiamo nel modo più assoluto che nelle chiese vengano esposte immagini procaci, effigiate con soverchi lenocini di arte più a scopo di mondana vanità che per eccitare la devozione‘“; vgl. Haskins, Mary Magdalen 1993, S. 93. 139  Im Sitzungsbericht vom 3./4.12.1563 „De invocatione, veneratione et reliquiis sanctorum, et de sacris imaginibus“: „Ferner soll aller Aberglaube bei […] dem heiligen Umgang mit Bildern beseitigt, […] und schließlich alles Laszive vermieden werden [lascivia vitetur], so daß keine Bilder von verführerischer Schönheit und Ornamentik gemalt werden [ut p ­ rocaci ­venustate imagines non pingantur nec ornentur].“ (Dekrete der ökumenischen Konzilien, Bd. 3: Konzilien der Neuzeit: Konzil von Trient [1545–1563], Erstes Vatikanisches Konzil [1869/70], Zweites Vatikanisches Konzil [1962–1965], übers. und hg. v. Josef Wohlmut, Paderborn u. a. 2002, S. 775 f.). Vgl. auch die Ausführungen der Synode von Torcello von 1582, die Aikema, Titian’s Mary Magdalen 1994, S. 56, zitiert. 140  So z. B. die Kritik von Zwingli an Darstellungen des Sebastian, die Frauen im Gottesdienst auf unsittliche Gedanken bringen könnten, siehe unten Anm. 153. 141  Lomazzo, Trattato dell’arte 1968, S. 364 f. (im Kapitel über das Ehrenhafte/Angemessene im Kirchenraum „Compositione dell’honestà ne’ Templi“): „Qvantunque le compositioni d’honestà conuengano in tutti i luoghi, particolarmente però si debbono introdurre ne i templi sacri, doue per incitar le menti del popolo a diuotione tutte le qualità honeste si hanno da rappresentare. E perciò si debbono fuggire per mio giudicio molte historie della sacra scrittura, le quali non si possono esprimere senza qualche parte di lasciuia e manco che honeste;“. Konkret über einzelne Sujets heißt es kurz darauf: „dico che nelle historie honeste, & massime ne’ templi si hanno dà fuggire quanto si può tutte le parti vergognose, & lasciue, non che dishoneste […] nelle martiri le mâmelle affatto scoperte, come in santa Catherina nelle ruote, […] nella Maddalena ignuda nel deserto […]. Onde conuiene usar ui grandissima destrezza nell’esprimere i suoi gesti, decori, & modi […]: faccendo che i capelli con bellissimi arti si spargauo sopra le spalle, il petto, & le poppe, accioche alquanto le coprano, come particolarmente si può fare nella Maddalena“ (ebd., S. 365 f.); ähnlich im folgenden über den hl. Sebastian; vgl. Ingenhoff-Danhäuser, Maria Magdalena 1984, S. 75. 142  Michel Foucault, Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit I), Frankfurt a. M. 1991 (Orig. Paris 1976), übers. von Ulrich Raulff &Walter Seitter, passim sowie S. 139 f. mit explizitem Bezug auf die Sattelzeit im 17. Jahrhundert und das Tridentiner Konzil.

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Es ist bekannt, daß es in der Zeit der katholischen Reform nicht bei der Forderung an prospektierte Bilder blieb, sondern daß auch nachträglich ältere Werke entsprechend ‚zugerichtet‘ wurden. Die Übermalung der Geschlechtsteile der Auferstehenden in Michelangelos „Jüngstem Gericht“ in der Cappella Sistina ist der bekannteste und wohl spektakulärste dieser Eingriffe. Aber gerade auch aus dem Pontifikat des Aldobrandini-Papstes Clemens VIII. (1592–1600) haben wir viele Hinweise auf ‚Säuberungen‘ römischer Kirchen von indezent bedeckten Kruzifixen und Magdalena-Statuen. Ihre Blößen wurden mit Tüchern verhüllt, oder die Werke wurden in der Sakristei den unkontrollierten Blicken der Gemeinde entzogen.143 Was von der Forschung, die häufig auf die Abgleichung von Theorie und Praxis bedacht ist, selten konstatiert wird, ist, daß sich diesen Reglementierungen zum Trotz die Bilder den neuen Leitlinien keineswegs fügten, im Gegenteil: der Vergleich zwischen Cagnaccis und Tizians Magdalena-Gemälden zeigt, daß nicht nur die Nacktheit, sondern auch die offenkundige Laszivität der Darstellungen im Seicento wesentlich verstärkt wurde. Dies nicht nur, weil Magdalena nun vollständig entblößt gezeigt wird, sondern auch, weil ihr emotionaler Zustand ein anderer ist. Der Affekt, den Magdalena in Cagnaccis Gemälde erleidet, ist weitaus heftiger als in allen mir bekannten Darstellungen des Sujets aus dem Cinquecento.144 Hierdurch gewinnt der Problemkomplex des lasziven Heiligenbildes eine neue Dimension. Ein Grund dafür ist die in der Frühen Neuzeit nie in Frage gestellte ‚Affektbrücke‘, derzufolge die im Bild dargestellten Affekte das Mitleiden mit der Person und die Evozierung ihrer Gefühlswelt auslösen.145 Das ist bei der eitlen Sünderin Magdalena 143  Diego Beggiao, La visita pastorale di Clemente VIII (1592–1600). Aspetti di riforma posttridentina a Roma, Rom 1978, S.  72, Anm. 13, listet ausführlich entsprechende Eingriffe in St. Peter („Imago S.ae Mariae Magdalenae […] densioribus et prolixioribus capillis contegatur“), S. Marcello, S. Maria Maggiore, S. Maria della Consolazione („imago S.mi Crucifixi velo tegatur, vel in Sacristiam trasferatur“), S. Maria in Trastevere und im Gesù („Imago B. ­Mariae Magdalenae ad speciem magis devotam et modestam redigatur“) auf; vgl. auch Hecht, Katholische Bildertheologie 1997, S.  282 und Alessandro Zuccari, Arte e committenza nella ­Roma di Caravaggio, Turin 1984, S. 9–20. Es gibt sogar einen Hinweis auf die Auspeitschung eines ­Malers von lasziven Figuren in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts; siehe hierfür J. A. F. Orbaan, Virtuosi al Pantheon. Archivalische Beiträge zur römischen Kunstgeschichte, in: Repertorium für Kunstwissenschaft 37 (1915), S. 17–52, hier 36, Anm. 48 (bezieht sich auf den Cod. Vatic. Lat. 8733, S. 504). 144  Vgl. das entsprechende Kapitel in: Maddalena tra sacro e profano 1986, S. 166–177, das auch keine ältere derartige Darstellung verzeichnet; das Motiv begegnet erst wieder im fortgeschrittenen Seicento in Werken von Francesco Cairo, Peter Paul Rubens, Francesco Rustici und Simon Vouet. 145  Ich zitiere statt der bekannten Gemeinplätze in Albertis Malereitraktat eine Passage aus Leonardos Büchern über die Malerei: „Andere [Maler] wieder malten brünstige Stellungen und Vorgänge [‚atti libidinosi e tanto lussuriosi‘], und zwar so üppig, daß sie damit die Beschauer der Bilder zur gleichen Lustbarkeit aufreizten [‚c’hanno incitati li risguardatori di quella alla medesima festa‘]“ (Leonardo, Buch von der Malerei § 25, S. 50/51).

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ohnehin ein wenig prekär, und wird es mit zunehmender Intensität der von ihr erlittenen Qualen um so mehr: Denn welche Rolle spielt in diesem konkreten Fall der büßenden, ihre Verfehlungen und Sünden bedenkenden Magdalena das Mitleiden des Betrachters? Der andere sicherlich wichtigere Grund, mit dem ich mich hier ausführlicher beschäftigen möchte, betrifft die schwere Benennbarkeit des Affektzustands, in dem sich Magdalena in Cagnaccis Gemälde und vielen weiteren seicentesken Darstellungen befindet. Was ist damit genau gemeint? Ist es der Moment der seelischen Ekstase oder der Ermattung nach derselben oder eine körperliche und seelische Erschöpfung? Das Problem, das – wie zu zeigen sein wird – von den Zeitgenossen sehr wohl gesehen wurde, besteht nicht nur in dieser gewissen Offenheit der Darstellung, sondern auch in der damit verbundenen Visualisierungsfrage. Denn der Extremzustand inneren Erlebens und die maximale Entäußerung drücken sich im Motiv des zurückgeworfenen Kopfes aus, der zugleich aber auch das Zeichen für körperliche Ekstase ist. Blicken wir vor diesem Hintergrund auf eine weitere Darstellung des Sujets, und zwar auf Caravaggios späte „Magdalena in Ekstase“ (sog. „Magdalena Klain“, Abb. 108), die sich in römischem Privatbesitz befindet.146 Sie ist im Vergleich mit dem Frühwerk des Malers in der Galleria Doria Pamphilj wenig bekannt, war aber, den zahlreichen Kopien nach zu urteilen, bei den Zeitgenossen äußerst beliebt. Wir sehen Magdalena hier in Halbfigur vor tiefschwarzem Hintergrund, der einmal mehr keinen Hinweis auf eine räumliche Situation oder ein szenisches Ambiente gibt. Wie Cagnaccis Figur lehnt sie ihren Oberkörper weit zurück, doch zeigt Caravaggio mehr von ihren Gesichtszügen: Magdalena hält ihre Augen fast geschlossen, ihr Blick wirkt wie gebrochen, der Mund ist leicht geöffnet und gibt den Blick auf die obere Zahnreihe frei. Anders als in Cagnaccis Gemälde ist die Brust der Heiligen trotz des weiten Dekolletés bedeckt, Brüste zeichnen sich nicht ab. Magdalena verfügt über kein einziges Attribut. Da auch das rote Gewand kein eindeutiges visuelles Signal für die Heilige ist, läßt sie sich nur mittels des ‚à la Tizian‘ über die Brust gelegten langen Haars, den weitgehend freien Oberkörper und den starken Affekt, der sich im Motiv des zurückgelegten Kopfes ausdrückt, überhaupt identifizieren. 146  106,5  ×  91  cm, 1606; Rom, Privatbesitz; für Marzio Colonna, Principe di Palestrina e Zagarolo siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 75, S. 506–508; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 64, S. 524–44; Mina Gregori, in: Age of Caravaggio 1985, Nr. 89, S. 313–315; Maurizio Marini, in: Visioni ed estasi. Capolavori dell’arte europea tra Seicento e Settecento (Ausst.-Kat. Città del Vaticano, Braccio del Carlo Magno 2003), hg. v. Giovanni Morello u. a., Mailand 2003, Nr. 50, S.  219 f.; Caravaggio. Originale und Kopien 2006, Nr. 35, S.  249 f.; Pacelli, L’ultimo Caravaggio 2002, S. 161–197 (mit Auflistung der Kopien). Zum Gemälde jüngst Alexandra Ziane, „Affetti amorosi spirituali“. Caravaggio e la musica spirituale del suo tempo, in: Caravaggio e il suo ambiente 2007, S. 161–179, hier 176 f. Das Gemälde wird von den Biographen oft erwähnt, jedoch ohne weitere Ausführungen.

Laszive Sünderinnen und ebensolche Märtyrer: Heftige Affekte und das piacer troppo des Betrachters

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108 Caravaggio, Magdalena in Ekstase, Rom, Privatsammlung

Avigdor Posèq hat mit Bezug auf die Kopfhaltung der Magdalena, die sich ja vom formelhaft erhobenen Blick der Heiligen im Cinquecento deutlich unterscheidet, Warburgs Begriff der Pathosformel fruchtbar gemacht. Er sieht Caravaggio hier durch antike Darstellungen rasender Mänaden angeregt. Konkret führt er einen Sarkophag mit dem Raub des Leucippus, der sich

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109  Römischer Sarkophag mit dem Raub des Leucippus

in der Sammlung Giustiniani befand (Abb. 109), als Vorbild an.147 Im Kontext meiner Ausführungen zur Ambiguität zwischen einem profanen und einem sakralen Sujet ist diese Beobachtung weiterführend. Denn der Rekurs auf eine heidnisch-antike Formel in einer religiösen Darstellung muß mit einer Verschiebung ihrer Semantik einhergehen: nämlich vom ‚lauten‘, rauschhaften Rasen der wilden Gefährtinnen des antiken Weingottes hin zum ‚leisen‘ Gefühl der Buße und Reue, das die Heilige durchlebt. Beide Gemütszustände werden jedoch mit derselben visuellen Formel ausgedrückt: dem zurückgelegten Kopf, den nahezu geschlossenen Augen und dem geöffneten Mund, der den Blick auf eine Zahnreihe freigibt. Daß dies eine potentielle und durchaus kalkulierte Offenheit des Affekts bedingt, liegt auf der Hand. Implizit ist im übrigen dieser Aspekt im originären Konzept der Pathosformel auch enthalten, weil Warburg an den „Urworten der Gebärdensprache“ ja gerade die Möglichkeit ihrer Übertragung in gänzlich andere visuelle Kontexte interessierte. Das „Wandern“ der „verdichteten“ Zeichen der Affekte und ihre Umsemantisierung ist aber im Prinzip nur möglich, wenn diesen eine gewisse Offenheit oder Ambiguität eignet.148 Damit komme ich zu dem Punkt, der mir an den seicentesken Magdalena-Darstellungen und den übrigen ‚lasziven‘ Heiligenbildern zentral zu sein scheint: Eine Formel höchsten seelischen Erlebens, die sich in der Kopfhaltung und Mimik äußert, kann sich in der Wahrnehmung quasi umkehren und den Eindruck erzeugen, die Ekstase könnte auch anders bestimmt und motiviert 147  Avigdor W. G. Posèq, The Composite „Pathosformel“ of Caravaggio’s St. Mary Magda­ lene in Ecstasy, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 44 (1991), S. 121–130; vgl. auch Bert Treffers, Immagine e predicazione nel Caravaggio, in: Michelangelo Merisi, hg. v. Stefania ­Macioce, Rom 1996, S. 270–288, hier 284 f. 148  Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt a. M. 1981, S. 327 ff., hier bes. 337 f.; Ulrich Raulff, Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, ­Göttingen 2003, S. 136.

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110  Wybrandt de Geest, Variierende Kopie nach Caravaggios Magdalena, Barcelona, Privatsammlung

111  Anonym, Variierende Kopie nach Caravaggios Magdalena, Bordeaux, Musée des Beaux Arts

sein, und zwar als körperliches Erleben oder als Ermattung nach derselben. Wie sehr es ein Maler wie Caravaggio offensichtlich darauf angelegt hat, entsprechende Imaginationen des Betrachters freizusetzen – etwa über die genauere Form der von Magdalena gebüßten Verfehlungen – suggeriert zumindest der vermutlich eine Schwangerschaft indizierende gewölbte Unterleib. Daß solche Lesarten keineswegs anachronistisch sind, legen indirekt die ‚Kopien‘ des Bildes nahe. Denn sie erlauben sich signifikante Freiheiten gegenüber dem Original mit der Absicht, die Ambiguität und Offenheit des Bildes zu verringern. Setzt Wybrandt de Geest in seiner Kopie in einer Privatsammlung in Barcelona (Abb. 110) zusätzlich zum Totenschädel unter Magdalenas rechtem Arm ein großes Salbgefäß in den Hintergrund, das zwar die Figur, aber weniger die Natur ihres Affekts näher bestimmt,149 so fügen die anonymem ‚Kopisten‘ in ihre Werke, die sich heute im Musée des Beaux-Arts

149  110 × 87 cm; sign. u. dat. 1620; Barcelona, Privatbesitz; der Maler lebte von 1592–ca. 1661; siehe hierfür Caravaggio. L’ultimo tempo 1606–1610 (Ausst.-Kat. Napoli, Museo Capodimonte/­ London, National Gallery 2004/05), hg. v. Nicola Spinosa, Neapel 2004, Nr. 25b, S. 164 f. Der Totenschädel befindet sich an der Stelle, an der in Caravaggios Original ein korb­artiges Geflecht zu erkennen ist. Interessanterweise ersetzen es alle uns bekannten Kopien durch ­einen Schädel, weshalb davon auszugehen ist, daß eine oder mehrere der Kopien desselben besser zugänglich waren als das Original.

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in Bordeaux (Abb. 111) und in der Eremitage in St. Petersburg befinden,150 in der linken oberen Bildecke ein der Magdalena zugewandtes Kreuz ein. So kodieren sie den Affektzustand unzweideutig, denn es ist nun eine Kreuzesvision der Heiligen, die zu ihrem ekstatischen Zustand geführt hat. Was sich in Caravaggios Gemälde noch im Bereich der Potentialität bewegt – die Heilige hat immerhin die Hände gefaltet, und zwei Tränen laufen ihre Wange herunter –, drängt sich bei Cagnacci förmlich auf: Daß ihr Erleben (auch) ein körperliches ist, daß hier Lust am selbst zugefügten Schmerz und Lust im Schmerz zusammenfallen – diese Imagination des Betrachters wird durch eine Darstellung angeregt, die die Heilige mit vollständig entblößter Brust, erigierten Brustwarzen, mit einer an Sinnlichkeit kaum zu übertreffenden Gestaltung des Inkarnats und mit einer metallen glänzenden Geißel in der Hand zeigt. Aus diesem Oszillieren und der im Vorgang der Betrachtung potentiellen und vielleicht auch nur temporären Umsemantisierung der Gefühlswelt der Heiligen, also dem schon mehrfach konstatierten ‚Kippen‘ im Akt der Betrachtung, bezieht Cagnaccis „Magdalena“ ebenfalls affektives Potential. Cagnacci wiederholt das Formenvokabular der „Magdalena“ in der Darstellung einer Heiligen, die im Musée Fabre in Montpellier aufbewahrt wird (Abb.  112).151 Sie zeigt eine schräg im Bildfeld hingestreckte weibliche Figur, die bis auf ihren mit einem Tuch verhüllten Schoß weitgehend unbekleidet ist. Wie bei der „Magdalena“ ist auch der Kopf dieser Heiligen in einem nicht näher bestimmbaren Affekt weit zurückgesunken. Zur ostentativen Laszivität dieser Haltung und der extremen physischen Attraktivität der Heiligen tritt als weiteres irritierendes Moment ihre uns bereits von Furinis Märtyrerinnendarstellungen bekannte ‚Namenlosigkeit‘ infolge fehlender eindeutiger Kennzeichen. Ihre Attribute, Kreuz und Geißel, geben uns keinen Hinweis darauf, um wen es sich handeln könnte, zumal mit der Bildformel der wie tot ausgestreckt liegenden Heiligen nicht an eine Bildtradition angeknüpft 150  Für die Werke in Barcelona und Bordeaux mit den Maßen 109 × 93 cm und 100 × 126 cm siehe Caravaggio. L’ultimo tempo 2004, Nr. 25a, S. 164 f., und Moir, Caravaggio and His Copyists 1976, Nr. 69b, S.  112. Ersteres wurde Nicolas Régnier, letzteres Louis Finson zugeschrieben. Für die Fassung in St. Petersburg: Caravaggio. Originale und Kopien 2006, Nr. 36, S. 250: 100 × 84,5 cm; (2. Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts). 151  95  ×  139  cm; vor 1640 während eines Aufenthalts in Bologna an den mit dem Maler befreundeten Bildhauer Giulio Cesare Conventi geliefert; Montpellier, Musée Fabre; siehe Guido Cagnacci 1993, Nr. 13, S. 92–95 (mit der These, es handele sich um die hl. Mustiola, die außergewöhnlich schöne Schwester des römischen Kaisers Claudius. Darauf gibt ein Inventareintrag in der Sammlung Conventi den Hinweis, der sich allerdings nicht sicher auf das Gemälde beziehen läßt). Vgl. auch Pasini, Guido Cagnacci 1986, Nr. 40, S. 238–240; Michel Hilaire, Le Musée Fabre, Montpellier, Paris 1995, S. 31 f. (im Text als „sans doute saint Mustiule“, in der Abbildungsunterschrift auf S. 33 aber als „Jeune martyre morte [sainte Mustiule?]“ verzeichnet; mit Abbildung nach der Restaurierung).

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112 Guido Cagnacci, Liegende Märtyrerin, Montpellier, Musée Fabre

wird. So wird die Heilige in Montpellier als ‚junge Märtyrerin‘ klassifiziert, was sich mit der gänzlichen Unversehrtheit ihres in hohem Maße reizvollen Körpers nur schlecht verträgt.

4.2 Objekt der Blicke: der „Hl. Sebastian“ von Carlo Saraceni, Giovanni Baglione und von einem anonymen ‚Caravaggisten‘ in Monticello Nach den Beispielen der Zur-Schau-Stellung und Erotisierung des weib­lichen Körpers möchte ich nun vergleichend einen männlichen Heiligen in den Blick nehmen. Hierfür bietet sich die Figur des hl. Sebastian an, die seit dem Quattro­ cento bekanntlich dazu genutzt wurde, einen männlichen Akt ins Bild zu setzen. Wie bereits erwähnt, geht dies mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der Kategorie der verosimilitas einher. Denn Sebastian hatte zum Zeitpunkt seines Martyriums bereits den militärischen Rang eines Präfekten inne, dürfte also kaum so jung gewesen sein, wie ihn die Maler in der Frühen Neuzeit ausnahmslos zeigen.152 Ich betrachte wiederum zunächst die Rezep152  Vgl. Detlev von Hadeln, Die wichtigsten Darstellungsformen des hl. Sebastian in der italienischen Malerei bis zum Ausgang des Quattrocento, Straßburg 1906; Victor Kraehling, Saint Sébastien dans l’art, Paris 1938; Daniel Arasse, Le corps fictif de Sebastien et le coup d’oeil d’Antonello, in: Le corps et ses fictions, hg. v. Claude Reichler, Paris 1983, S. 55–72; Seidel, Venezianische Malerei 1996, S.  93–104. Jacques Darriulat, Sebastien. Le Renaissant. Sur le martyre de saint Sébastien dans la deuxième moitié du Quattrocento, Paris 1998; ­Karim ­Ressouni-Demigneux, Saint-Sébastien, Paris 2000, zum erotisierten Leib bes. S.  59– 70; ­Sebastiaan. Martelaar of mythe, Zwolle 1993; darin speziell zum Sebastianskult der nach­ tridentinischen Zeit der Aufsatz von Arielle Wienk, S. 43–50; Heiliger Sebastian. A S­ plendid Readiness for Death (Ausst.-Kat. Wien, Kunsthalle Wien 2003/04), hg. v. Gerald Matt &

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tionszeugnisse der Darstellungen aus dem Cinquecento und frage vor ihrer Folie nach den Veränderungen im Seicento und ihren zu postulierenden Folgen gerade unter dem Gesichtspunkt der neuen Aufmerksamkeit für tendenziell ‚laszive‘ Bilder. Locus classicus ist auch beim Sujet des hl. Sebastian eine Schilderung Vasaris, und zwar seine berühmten Bemerkungen über Fra Bartolommeos Altarbild des Heiligen in der Florentiner Kirche S. Marco. Wollte Vasari, wie gesehen, mit Bezug auf Tizians „Magdalena“ für Kaiser Karl V. die Möglichkeit der Evozierung körperlicher Gefühle „a lascivia“ durch das Bild ausschließen, so ist ihm das mit Bezug auf Fra Bartolommeos Altarbild nicht mehr möglich. Denn dieses wurde aus der Dominikanerkirche S. Marco in Florenz entfernt, weil die Mönche in der Beichte sündhafte Gedanken der weiblichen Gläubigen zu hören bekamen: „Volse [Fra Bartolommeo] egli dunque mettersi a prova, e con fatiche mostrare ch’era attissimo ad ogni eccellente lavoro di quella arte, come alcuno altro. Laonde per prova fece in un quadro un Sebastiano ignudo, con colorito molto alla carne simile, di dolce aria, e di corrispondente bellezza alla persona parimente finito; dove infinite lode acquistò appresso agli artefici. Dicesi che stando in chiesa per mostra questa figura, avevano trovato i frati nelle confessioni donne, che nel guardarlo avevano peccato per la leggiadra e lasciva imitazione del vivo datagli dalla virtù di Fra Bartolomeo: per il che levatolo di chiesa, lo misero nel capitolo, dove non dimorò molto tempo, che da Giovan Batista della Palla comprato, fu mandato al re di Francia.“ „Er [Fra Bartolomeo] wollte sich deshalb auf die Probe stellen und mit vollem Einsatz demonstrieren, daß seine Fähigkeit sich durchaus auf alle herausragenden Aspekte dieser Kunst erstreckte. Als Beweis dafür schuf er das Bild eines nackten Heiligen Sebastian in einem Kolorit, das dem Inkarnat sehr nahe kam, und mit lieblichen, der Schönheit des Modells entsprechenden Zügen, was ihm unendliches Lob der Künstler einbrachte. Es heißt, die Brüder hätten, als diese Figur in der Kirche ausgestellt wurde, durch die Beichten herausgefunden, daß durch den Anblick der lasziven Anmut, die Fra Bartolomeos Talent ihr bei seiner Nachahmung des lebendigen Modells verliehen hatte, einige Frauen zur Sünde verleitet worden waren, weshalb sie sie aus der Kirche entfernten und in den Kapitelsaal brachten, wo sie nach kurzer Zeit von Giovan Battista della Palla erworben wurde, der sie an den französischen König sandte.“153 ­ olfgang Fetz, Bielefeld 2003; Daniela Bohde, Haut, Fleisch und Farbe. Körperlichkeit und W Materialität in den Gemälden Tizians, Emsdetten/Berlin 2002, S. 209–246; dies., Ein Heiliger der Sodomiten? Das erotische Bild des Hl. Sebastian im Cinquecento, in: Männlichkeit im Blick: Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, hg. v. Mechthild Fend & ­Marianne Koos, Köln 2004, S. 79–98; Luba Freedman, Saint Sebastian in Veneto Painting: The „Signals“ Addressed to „Learned“ Spectators, in: Venezia Cinquecento 15 (1988), S. 5–20. 153  Vasari, Le Vite, Bd. 4, S.  188; ders., Das Leben des Piero di Cosimo, Fra Bartolomeo und Mariotto Albertinelli, hg. u. komm. v. Christina Irlenbusch u. Katja Lemelsen, übers. v. ­Victoria Lorini u. Sabine Feser, Berlin 2008, S.  51 f. Bohde, Heiliger der Sodomiten? 2004,

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113 Kopie nach Fra Bartolommeo, Hl. Sebastian mit Engel, Fiesole, S. Francesco

Leider hat sich nur eine deutlich verkleinerte Kopie des, Vasari zufolge, in einer paragonalen Situation entstandenen Gemäldes erhalten, die aber in bezug auf die ‚inkriminierten‘ Stellen des Bildes – die „lascivia imitazione del vivo“  – zuverlässig zu sein scheint (Abb. 113),154 denn sie zeigt den Märtyrer nackt, S.  89, Anm. 28, macht auf eine signifikante Änderung der Wortwahl Vasaris zwischen der ­ersten und der zweiten Edition von 1550 bzw. 1568 aufmerksam. In der ersten Edition hatte er noch statt des etwas indifferenten „avevano peccato“ vermerkt, die Frauen „s’erano ­corrotte“ – ­eine Formulierung, die in Gerichtsakten die Bedeutung von „masturbieren“ haben kann. Vgl. für die Passage allg. auch Freedberg, Power of Images 1989, S. 346–349. An anderer Stelle in der Vita berichtet Vasari von einer Verbrennung von Bildern mit nackten Figuren durch Fra Girolamo Savonarola, an der sich der junge Fra Bartolommeo beteiligt hätte, indem er wohl ­eigenhändige Zeichnungen vernichtete. (ebd., Bd. 4, S. 178 f.: „fe’ sì Fra Ieronimo, che quel ­giorno si ­condusse a quel luogo tante pitture e scolture ignude, molte di mano di ­maestri eccellenti, e parimente libri, liuti e canzonieri, che fu danno grandissimo, ma parti­colare ­della pittura; dove Baccio portò tutto lo studio de’ disegni che egli aveva fatto degl’ignudi“. ­Vasaris Passage hat im übrigen eine Parallele in Zwinglis Kritik an nackten Darstellungen des hl. ­Sebastian, die die Frauen im Gottesdienst ablenkten; siehe hierfür Ingo Herklotz, Historia Sacra und mittel­alterliche Kunst während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Rom, in: Baronio e l’arte (Atti del convegno internazionale di studi, Sora 10.–13. ottobre 1984), hg. v. Romeo de Maio u. a., Sora 1985, S. 21–74, hier 70, Anm. 120. 154  147 × 96 cm; Fiesole, S. Francesco; siehe: Janet Cox-Rearick, Fra Bartolomeo’s St. Mark Evangelist and St. Sebastian with an Angel, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz 18 (1974), S.  329–354, bes. 332–338, Abb. 4. Cox-Rearick vermutet allerdings, daß nicht die Nacktheit, sondern die formale Ähnlichkeit der Figur zu Jacopo Sansovinos

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seine Blöße lediglich durch ein transparentes Lendentuch bedeckt. Tatsächlich betont dieses sein Geschlecht allerdings mehr, als daß es es verhüllt. Die ursprüngliche Wirkung des Altarbildes muß immens gewesen sein, denn der vollständig ausgeleuchtete, attraktive Körper des Heiligen, der in eine fingierte skulpturale Nische gestellt ist und sogar einen Schatten in dieselbe wirft, scheint aus ihr mit einem Schritt eine Stufe hinunter wie auf den Betrachter zuzutreten, wobei sein Fuß bezeichnenderweise die ästhetische Grenze zur Betrachterwirklichkeit tangiert. Daß solche Strategien der scheinbaren Verlebendigung der Figuren, die ihren Bildstatus, und damit ihren Zeichencharakter performativ auslöschen wollen, auf Wirkung und Affizierung zielen, wird in der Kunstliteratur der Zeit gerade mit Bezug auf Darstellungen des hl. Sebastian mehrfach reflektiert.155 Die Reaktion der Mönche, das Altarbild vorübergehend in den Kapitelsaal des Klosters zu transferieren, ist nachvollziehbar und in ihren Implikationen natürlich aufschlußreich. Denn so entzog man es unkontrollierten Blicken und Imaginationen des breiten und ‚gefährdeten‘ Publikums. Wie es zum späteren Verkauf des Werks an Franz I. von Frankreich kam,156 wissen wir nicht mit Sicherheit, gleichwohl liegt die Vermutung, daß das Gemälde auch im Kapitelsaal für die Mönche ein kontinuierlicher Stein des Anstoßes war, auf der Hand. Bezeichnenderweise ging mit diesem Verkauf ein Kontextwechsel einher, denn nun wurde das Gemälde Teil der Kunstsammlung des französischen Königs, der es für das Fünfzehnfache des Preises, zu dem die Mönche das Gemälde kurz zuvor verkauft hatten, erwarb. Wie Caravaggios spätere „Madonna dei Palafrenieri“ (Abb. 50) mutierte das unter dem Gesichtspunkt des Dekorums für problematisch erachtete Altarbild also offenbar zum Sammlungsobjekt mit ausgewähltem, kunstverständigen Publikum. Und wie dort wird das Wissen „­Bacchus“ der Grund für die Kritik an dem Gemälde gewesen sei, was in meinen Augen aufgrund der tatsächlichen Laszivität und Vasaris durchaus recht zeitnaher Bemerkung allenfalls eine sekundäre Rolle gespielt haben dürfte (S. 349 ff.). 155  So von Vasari und Dolce am Beispiel der Figur des hl. Sebastian in Tizians „Pala di San Niccolò“: „[…] San Sebastiano ignudo, ritratto dal vivo e senza artificio niuno che si veggia ­essere stato usato in ritrovare la bellezza delle gambe e del torso, non vi essendo altro che quanto vide nel naturale di maniera che tutto pare stampato dal vivo, così è carnoso e ­proprio“ (Vasari, Le Vite, Bd. 7, S. 436). Dolce schreibt: „E dall’ altro un San Sebastiano ignudo di ­bellissima forma, e con una tinta di carne cosi simile alla vera, che non par dipinto, ma vivo“ (Mark W. Roskill, Dolce’s „Aretino“ and Venetian Art Theory of the Cinquecento, New York 1968, S. 188). 156  Nach Cox-Rearick, Bartolommeo’s St. Mark Evangelist 1974, S. 334–336 verkaufte der Konvent das Gemälde an einen gewissen Tomaso Sartini für 20 Dukaten am 4. Februar 1529, und es gelangte wahrscheinlich vor dem 2. Januar 1532 in den Besitz Franz’ I. von Frankreich. Einem Brief von Antonio Mini an Michelangelo zufolge, erwarb er es von Sartini für 300  Dukaten (!). Das Gemälde taucht allerdings in den Bestandsverzeichnissen der könig­ lichen Sammlungen nicht auf, möglicherweise diente es doch in einer königlichen Kapelle als Altarbild.

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114 Carlo Saraceni, Hl. Sebastian, Prag, ­Obrazárna Prazského Hradn

um die Vorgeschichte des Bildes für die Betrachter eine zusätzliche Attraktion bedeutet haben. Blickt man vor dieser Folie auf ein sicherlich von vornherein auf private Rezeption zielendes Gemälde wie Carlo Saracenis mit 65 × 50 cm kleinforma­ tiges Werk in Prag von etwa 1610–1615 (Abb. 114),157 fällt zunächst die dezente Verhüllung des Geschlechts des Heiligens ins Auge. Den offenkundigen Bruch des Dekorums, den Fra Bartolommeo einkalkuliert haben muß, gibt es hier 157  65 × 50 cm; Prag, Obrazárna Prazského Hradn; vgl. Ottani Cavina, Carlo Saraceni 1968, Nr. 51, S. 111 und 31 f. (1610–15); Imperial Paintings from Prague. (Ausst.-Kat. Maastricht, Bonnefanten-Museum 2001) hg. v. Eliška Fučikova u. Derk H. van Wegen, Gent 2001, S. 124 f. Jaromír Neumann, Venezianische Meister in der Prager Burg, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Institutes der Universität Graz 2 (1966/67), S. 53–76, hier 69 f.; das Gemälde ist bereits im ältesten Inventar der Prager Burg aus dem Jahr 1685 verzeichnet, und zwar in der „prima galleria“. Im hier entwickelten Zusammenhang relevant sind seine Bezeichnungen in den Katalogen von 1919 als „Wunderbarer Schlaf“ und 1924 als „Ruhender Mars“. Ich kann sie mir nur so erklären, daß der Pfeil in den Lenden zu diesem Zeitpunkt übermalt war, worauf die Literatur aber keinen Hinweis gibt.

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folglich nicht. Bemerkenswert sind aber die formalen Parallelen zu Cagnaccis und Caravaggios Magdalenafiguren. Denn auch Saracenis hl. Sebastian erlebt einen starken Affekt, der in der Bildtradition des Cinquecento, in der der Heilige meist bei vollem Bewußtsein sein Martyrium erleidet, nicht vorgeprägt ist. Hier liegt er ausgestreckt und schräg im Bildfeld, sein Unterkörper ist leicht zum Betrachter hin gedreht, der Oberkörper abgestützt. Sein Kopf ist weit zurückgefallen, die Augen sind geschlossen und der Mund ist geöffnet. Der feinmalerische Modus und das starke rilievo des Körpers des Heiligen appellieren an den Tastsinn des Betrachters.158 Hätte Saraceni das befolgt, was Giovanni Andrea Gilio in seiner Schrift über die „errori di pittori circa l’historie“ mit Bezug auf die Figur des hl. Sebastian fordert, nämlich ihn „übersät mit Pfeilen wie ein Stachelschwein“159 zu zeigen – wir hätten keine Mühe, den Affektzustand der Figur als eine von extremen Schmerzen evozierte physische Ohnmacht zu lesen. Vor einem apollinischschönen,160 athletisch durchtrainierten Körper, der sich uns leicht zuwendet und sensualistisch ausgeleuchtet ist, der darüber hinaus lediglich durch einen einzigen Pfeil in Lendenhöhe ‚verunstaltet‘ ist und in enormer licentia von Bildtradition und Legende gar nicht mehr an einen Baum gebunden ist, stellt sich nicht nur das Problem der „lascivia imitazione del vivo“, sondern auch das des mehrdeutigen Effekts. Was setzte Saraceni also ins Bild? Die Grenze zwischen Tod und Leben, oder, wie Caravaggio in der „Magdalena“, eine Schmerz-Lust als Indiz einer lustvoll durchlebten Ekstase oder der erfüllten Ermattung nach derselben? Mit einer so uneindeutigen Darstellung erzeugt Saraceni – und darin besteht der Kern des Problems und zugleich der Reiz des Bildes – dieselbe emotionale Ambivalenz beim Betrachter, der ja durch den feinmalerischen Modus und die geringe Bildgröße zur nahsichtigen, ‚intimen‘ Betrachtung angeregt wird. Cesare Baronios Forderung, die Unangemessenheit der aus Gründen der Geschehenslogik entblößt zu zeigenden Sebastians158  Für den Zusammenhang zwischen rilievo und dem Appell an den Tastsinn, der in der Kunsttheorie der Renaissance reflektiert wurde, siehe oben, Kap. 1, Anm. 78. 159  Giovanni Andrea Gilio, Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’historie, in: Trattati d’arte del Cinquecento fra manierismo a controriforma, hg. v. ­Paola Barocchi, Bd. 2, Bari 1961, S.  42: „Certo sarebbe cosa nova e bella vedere […] Sebastiano ­pieno di frezze rassimigliare un estrice“; vgl. Freedman, Saint Sebastian 1988, S. 9; Arasse, Le corps 1983, S. 62. Die Forderung deckt sich im übrigen mit der „Legenda aurea“ des ­Jacobus de ­Voragine, in der es heißt: „Da schossen sie so viele Pfeile auf ihn, daß er stund gleich e­ inem Igel“ (Jacobus de Voragine, Legenda aurea [1993], S. 131). Arasse bildet eine s­ olche Darstellung von Giovanni del Biondo in der Florentiner Opera del Duomo ab (Le corps 1983, Abb. 2); ähnlich auch Giovanni di Paolos Heiligenfigur in seinem Tafelbild mit dem hl. ­Sebastian und dem hl.  Fabian in der Londoner National Gallery (ebd., Abb. 3). 160 Die Parallele zwischen Sebastian und Apoll, die Henry E. Siegrist, Sebastian-Apollo, in: Archiv für die Geschichte der Medizin 19 (1927), S.  301–317, herausgearbeitet hat, relativerend: Daniela Bohde, Haut, Fleisch und Farbe 2002, S.  210; vgl. auch Freedman, Saint ­Sebastian 1988, S. 5–20, bes. 9 f.

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115 Gian Lorenzo Bernini, Ekstase der hl. Teresa (Detail), Rom, S. Maria della Vittoria

figur dadurch zu eskamotieren, daß der Heilige entsprechend der historischen Wahrscheinlichkeit und frühen Bildtradition als Greis und mit Bart dargestellt wird,161 leuchtet vor diesem Hintergrund als radikale und unattraktive, aber wirksame Lösung ein. Wir haben gesehen, daß das Problem des lasziven Heiligenbildes im wesentlichen Folge des Einsatzes der ‚Pathosformel‘ des zurückgefallenen Hauptes ist, und zwar, weil sich dieses für eine erotische Besetzung seitens des Betrachters eignet. Ob das von den Malern intendiert ist, dürfte von Fall zu Fall verschieden sein, daß sie es zumindest einkalkulierten, scheint mir aber offensichtlich zu sein. Das gilt nicht zuletzt vor dem Hintergrund der weiteren Verwendung dieser Formel in der seicentesken Malerei und Skulptur, etwa in der profanen Figur der Kleopatra, die mit zurückgeworfenem Haupt kurz vor oder nach dem Schlangenbiß im Moment ihres Todes gezeigt ist. Rosso Fiorentino hatte hierfür um 1530 den Prototyp geschaffen.162 In ihm ist die erotische Dimension dieser Bildformel unübersehbar, und sie verträgt sich auch sehr gut mit unseren Imaginationen über die ägyptische Kaiserin und ihr Liebesleben. Als berühmteste visuelle Umsetzung des ekstatischen Affekt-Leidens im religiösen Kontext kann Gianlorenzo Berninis Statue der hl. Teresa  von Avila in  der Cappella Cornaro von S.  Maria della Vittoria von 1644–52 gelten (Abb.  115): Ein Engel mit einem Pfeil, der auf die Liegende gerichtetet ist, ver­körpert die Liebe Gottes, die Teresa intensiv durchströmt. Dieses Gefühls­erleben drückt sich in der Pathosformel des zurückgelegten Kopfes, 161  Cesare Baronio, Martyrologium Romanum, Rom 1586, S. 39 (mit Bezug auf eine wundertätige Mosaikikone aus dem 7. Jahrhundert in S. Pietro in Vincoli); vgl. Herklotz, Historia sacra 1985, S. 69 f. 162  Vgl. David Franklin, Rosso in Italy. The Italian Career of Rosso Fiorentino, New Haven & London 1994, S. 142–148.

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den nahezu geschlosse­nen Augen und dem weit geöffneten Mund der Heiligen aus. Für uns relevant ist, daß für die Zeitgenossen das Problem der religiösen und sittlichen Angemessen­heit der Darstellung – das sich ja durch den Aufstellungsort im Kirchenraum verschärft – durchaus virulent war: Weil Bernini die Heilige vollständig verhüllt zeigt, kann sich die Kritik nicht auf eine „lascivia imitazione della carne“ beziehen, sondern muß sich an der Offenheit der Ausdrucksformel und der hierdurch bedingten profan-erotischen Konnotation des Affekts entzündet haben. So schreibt ein anonymer Kritiker, hier sei „die reinste Jungfrau nicht in den dritten, sondern in einen schmutzigen Himmel versetzt“, und Bernini habe, wie er es mit einem höchst anschau­lichen Wortspiel ausdrückt, „aus ihr eine Venus [!] gemacht, nicht hingestreckt, sondern hingegeben“ – „non ­prostrata, ma prostituita“.163 Zurück zum hl. Sebastian. Es gibt eine Variante seiner Ikonographie, die sich im Seicento großer Beliebtheit erfreute, und zwar die Darstellung der Auffindung des Gemarterten durch die hl. Irene. Der Legende nach nahm sich die Witwe des Märtyrers Castulus des gemarterten Körpers des Heiligen an, befreite ihn von den Pfeilen und pflegte ihn gesund. Durch eine solche Erweiterung der Sebastians-Ikonographie wird der Kernpunkt der sich um das Sujet rankenden potentiell ‚lasziven‘ Phantasien der Betrachter direkt oder indirekt berührt: der Blick auf den schönen Körper und die (virtuelle) Berührung desselben.164 Im Prinzip wird in den um die hl. Irene erweiterten Darstellungen des Heiligen die inkriminierte Rezeptionshaltung der Bilder „a lascivia“ innerbildlich Thema. Überaus offensichtlich ist dies im Gemälde eines anonymen, vermutlich französischen ‚Caravaggisten‘ aus dem Umfeld von Nicolas Régnier, das sich in der Pfarrkirche San Sebastianu im korsischen Monticello befindet (Abb. 116).165 163  Zit. nach Rudolf Preimesberger, Berninis Cappella Cornaro. Eine Bild-Wort-­Synthese des

siebzehnten Jahrhunderts? Zu Irving Lavins Bernini-Buch, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte ­ ostantino 49 (1986), S. 190–219, hier 207; der originale Wortlaut in: Giovanni Previtali, Il C messo alla berlina o bernina su la porta di San Pietro, in: Paragone 13 (1962), Nr. 145, S. 55–58, hier 58: „[…] chi nel formar la Santa Teresa della Vittoria, tirò poi quella Vergine purissima in terra, non che nel terzo Cielo a fare una Venere non solo prostrata, ma prostituta […]“. Preimes­berger deutet das Motiv als pointierte Unangemessenheit mit dem Ziel der besonderen Gefühlserregung des Betrachters. Die Inschriften in der Kapelle hättten die richtige Lesart sichergestellt: „[…] daß hier die Auslegungsbedürftigkeit des Bildes selbst thematisiert und der pointierten Unangemessenheit des visuellen Ausdrucks die deutend verändernde Kraft des Worts kompensierend entgegengesetzt sein könnte“ (ebd., S. 215). Dies macht den Einsatz derselben Formel in solche Werke, die eben nicht verbal ‚korrigiert‘ werden und darüber hinaus auf Nahsicht angelegt sind, um so relevanter. 164  Für den Zusammenhang zwischen rilievo und dem Appell an den Tastsinn, der in der Kunsttheorie der Renaissance reflektiert wurde, siehe oben, Kap. 1, Anm. 78. 165  Siehe hierfür Papi, Cecco 2001, S. 42; er vermutet, daß das Bild um die Mitte des dritten Jahrzehnts des Seicento entstand. Papi schreibt es einem sog. „Monogrammisten MG“ zu, der allerdings schwer zu greifen ist. Deutlich sind die Bezüge zu Nicolas Régnier, und zwar zu

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116 Anonymer französischer “Caravaggist”, Hl. Sebastian von Engeln gepflegt, S. Sebastianu, Monticello (Korsika)

Bedauerlicherweise haben wir zu diesem Werk wenig Informationen. Wir kennen nicht einmal seine Größe, und damit fehlen auch die Indizien für seine ursprüngliche Funktion, wobei das bei diesem Sujet ungewöhnliche Hochformat den Hinweis gibt, daß es sich stets um ein Altarbild handelte. Der Heilige ist hier derart im Bildfeld situiert, daß wir ihn vollständig über Kopf sehen. Er liegt mit dem Rumpf etwas erhöht, kein Pfeil beeinträchtigt den Blick auf den uns nah gerückten und ausgeleuchteten hochattraktiven Oberkörper. Sebastian hält die Augen geschlossen, sein Mund ist leicht geöffnet. dessen Gemälde mit demselben Sujet im Museum von Rouen; siehe hierfür Pierre Rosenberg, Rouen, Musée des Beaux-Arts: tableaux français du XVIIème siècle et italiens des XVIIème et XVIIIème siècles, Paris 1966, Nr. 107, S. 110 f. und Lemoine, L’iter di un caravaggesco nordico 2000, S. 60, Abb. 38. Régnier schildert die Szene allerdings im Querformat; der Körper des Heiligen ist schräg gelagert, die Beine sind ebenfalls gespreizt, aber die beiden Frauen sind zu Seiten des Märtyrers angeordnet.

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Zwei Frauen treten aus der Tiefe des Bildes an ihn heran. Welche von ihnen als hl. Irene zu identifizieren ist, ist unklar. Vermutlich ist es die linke, die an Sebastians Knie greift und vorsichtig den dort steckenden Pfeil entfernt. Es ist die Handlungsrolle der jüngeren weiblichen Figur, die Irritationen hervorruft. Sie ist in starkem Affekt gezeigt. Ihr Mund ist geöffnet, die rechte Hand spontan erhoben – aber was diesen Zustand auslöst und, mehr noch, wie er beschaffen ist, beginnt man sich bei intensiverer Betrachtung der Figurenkonstellation im Gemälde zu fragen. Sehen ihre gesenkten Augen den vor ihr wie hingegossen liegenden Körper in Gänze oder nicht vielmehr nur den Rumpf? Das Problem stellt sich überhaupt nur durch das forciert kunstvolle Arrangement der Figur im Bild mit erhöht gebettetem Unterkörper, weit geöffneten Beinen und einem offenbar hochgerutschten Lendenschurz, der nur für uns externe Betrachter das Geschlecht des Heiligen dezent verhüllen dürfte. Man muß gar nicht auf Leonardos mahnende Worte an Maler, niemals Figuren mit gespreizten Beinen ins Bild zu setzen, rekurrieren,166 um hier einen Dekorum-Verstoß zu konstatieren. Es wird um so größer gewesen sein, sollte das Gemälde tatsächlich stets für einen Kirchenraum bestimmt gewesen sein. Diese Möglichkeit scheidet für Giovanni Bagliones frühes, wohl bereits aus dem Jahr 1601 stammendes Gemälde der Sammlung Harris (Abb. 117)167 mit Sicherheit aus: Das Format mit Halbfiguren, die Größe und die Sicht auf den Heiligen von der Seite deuten darauf hin, daß es aus einem privaten Kontext 166 Leonardo, Buch von der Malerei 1882, § 387, S.  382/383: „Bei Weibern und jungen Bürschlein (oder Mägdlein) dürfen keine auseinander gespreizten und zu offenen Beinstellungen [„gambe sbarlate o’ troppo aperte“] vorkommen, denn in denselben legt sich Keckheit [„audaccia“] an den Tag und gänzlicher Mangel an Schamhaftigkeit („altutto privatione di vergogna“). Eng geschlossene Beine aber beweisen Furchtsamkeit und Schamhaftigkeit [„timore di vergogna“]“; vgl. Horký, Einführung, in: Amors Pfeil 2003, S. 19; Karin Orchard, Annäherungen der Geschlechter. Androgynie in der Kunst des Cinquecento, Münster/Hamburg 1992 (Diss. Uni Hamburg 1988), S. 42. 167 95,9  ×  75,5  cm; Pennsylvania, Palmer Museum of Art; vgl. Smith O’ Neil, Giovanni ­Baglione 2002, Nr. 21, S.  203 und 75 (Abb. Nr. 39.) mit knappem Hinweis auf den „erotic ­display“ des Werks. Es stammt wahrscheinlich aus der Sammlung des Kardinals Sannesio; siehe hierfür: Il genio di Roma 1991, Nr. 104, S. 282, mit folgender Erklärung für den Austausch der hl.  ­Irene durch einen Engel: „riflette indubbiamente le letteratura devozionale che narrava di che come Cristo avesse inviato un angelo a slegare le sue ferite“; hingegen: John T. Spike, ­Italian ­Baroque Paintings from New York Private Collection (Ausst.-Kat. Princeton, The Art Museum, Princeton University), Princeton 1980, S. 22–24, hier 22: „The significance of Bagliones highly unusual substitution of an angel for St. Irene is not clear. It is noteworthy that Rubens in Italy at this very time painted a St. Sebastian Healed by Angels“. Für letzteres siehe Hans Vlieghe, Saints II (Corpus Rubenianum Ludwig Burchard), Brüssel 1973, Nr. 144, S. 147 f., hier 148: „The source of this iconography is not known; it is found in a woodcut of 1512 by Hans Baldung Grien“. Die Kenntnis des Holzschnitts wird man Baglione nicht unterstellen können. Zu Rubens’ heute im Palazzo Corsini aufbewahrtem ganzfigurigen „Sebastian“, der von mehreren herbeifliegenden Engeln versorgt wird, besteht keine formale Verbindung.

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117 Giovanni Baglione, Hl. Sebastian von Engeln gepflegt, Pennsylvania, Palmer Museum of Art of the Pennsylvania State University

stammt. Einige besondere Gestaltungselemente stützen diesen Eindruck, denn Baglione hat das Personal variiert: Wir sehen nicht die hl. Irene als weibliche Begleitung, sondern einen knabenhaften Engel, der seine Konzentration darauf richtet, einen Pfeil aus der Seite des ebenfalls knabenhaften Märtyrers zu entfernen. Es erstaunt nicht, daß es für die Ersetzung Irenes durch einen Engel keine Bildtradition gibt,168 denn es ist offensichtlich, daß hier – zeitlich parallel mit Caravaggios ersten Darstellungen lasziver Engel – eine neue Ikonographie erprobt wird. Ihr Reiz besteht in der Begegnung des jugendlichen Knaben mit einem leicht androgyn wirkenden Engel. Er zieht mit überaus zarter Geste den Pfeil aus der ansonsten gänzlich unverwundeten Seite des Märtyrers und spreizt dabei wie Caravaggios „Bacchus“ maniriert den kleinen Finger ab. Gerade diese Berührung und der uns erlaubte nahe Blick auf die attraktiv ausgeleuchtete zarte Haut des Märtyrers und seine seidenweichen braunen Locken bergen einen taktilen Reiz, der auf die Stimulierung der Sinne des Betrachters angelegt ist. Auf sie kommt es Baglione an, und hierfür nimmt er in Kauf, daß das – an einen Cupido gemahnende – Pfeilbündel in der Hand des ungewöhnlich farbig 168  Siehe die vorherige Anmerkung.

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gekleideten Engels seine geschehenslogische Verknüpfung missen läßt. Denn es stört ja keine weitere Wunde den Blick auf den makellosen jugendlichen Körper des Heiligen, der die Behandlung durch den Engel mit geschlossenen Augen, jedoch leicht geöffnetem Mund, der auch den Blick auf eine Zahnreihe ermöglicht, über sich ergehen läßt. Welcher Art sein Erleben ist, wissen wir nicht, aber welche Assoziationen beim Betrachter evoziert werden können, ist offensichtlich,169 wird man gewahr, daß auch das Lendentuch derart arrangiert ist, daß es das Gesäß des Knaben nicht gänzlich verhüllt.

4.3 Resümee: Zum Gattungsprofil des erotischen Heiligenbildes im Seicento Kaum ein zweites Thema wurde in den bildtheologischen Schriften des ausgehenden Cinquecento und frühen Seicento derart diskursiviert wie das der sittlich-angemessenen Darstellungsweise von Heiligenbildern. Folgende Frage bildet den Kern des Problems: Ist die äußere Schönheit des Körpers entsprechend der aristotelischen Relation sinnfälliger Ausdruck der Schönheit und Reinheit der Seele und stimuliert sie, wie Alessandro Nova am Beispiel von Rosso Fiorentinos nacktem „Christus in forma pietatis“ in Boston von 1526/27 argumentiert hat, den gläubigen Betrachter zur Devotion,170 oder bergen Schönheit und Nacktheit ein Darstellungsproblem in bezug auf das Dekorum? Zahlreiche Kontroversen über konkrete Werke lassen sich auf diese divergierenden Begründungsmuster zurückführen; so etwa die ambivalente Rezeption von Michelangelos „Auferstandenem Christus“ in S.  Maria sopra Minerva oder von Sebastiano del Piombos „Geißelung Christi“ in S. Pietro in Montorio. Wie Gerhard Wolf gezeigt hat, lassen sich in bezug auf das Bild Christi die Standpunkte sogar bis auf die antagonistischen alttestamentlichen Referenzquellen für das Äußere des Gottessohns zurückführen. Berichtet Psalm 44 (45),  3: „Speciosus forma prae filiis hominum“ / „Du bist der Schönste von allen Menschen“, so heißt es genau gegenteilig bei Isaias (53, 2) „Non erat species ei neque decor“ / „Es war weder Gestalt in ihm noch Schönheit.“171 169  Daß hier eine homerotische Dimension zu konstatieren ist, läßt sich nicht von der Hand weisen, auch wenn die Verbindung der Figur des hl. Sebastian mit Homsosexualität ideengeschichtlich weitaus jünger ist, wie Daniela Bohde in ihrer materialreichen Analyse aufgezeigt hat (Bohde, Haut, Fleisch und Farbe 2002, S. 221–231; dies., Heiliger der Sodomiten? 2004, passim). Sie scheint nur bis in das 19. Jahrhundert zurückzureichen. 170  Nova, Il Cristo in forma Pietatis 2006, passim. 171 Gerhard Wolf, Velaverunt faciem eius. Überlegungen zum Christusbild des Quattro­ cento, in: Kritische Berichte 19 (1991), S. 5–18; vgl. auch Dürers Bemerkung über die Darstellung Christi: „Dann zu gleicher Weis, wie sie [die antiken Maler] die schonsten Gestalt eines Menschen haben zugemessen ihrem Abgott Abblo, also wolln wir dieselb Moss brauchen zu Crysto dem Herren, der der schönste aller Welt ist“ (zit. nach Erwin Panofsky, Erasmus and the Visual Arts, in: Journal of the Warburg and Courtaulds Institutes 32 [1969], S. 200–227, hier 214, Anm. 36).

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Das in dieser Divergenz angelegte Darstellungsproblem verstärkt sich bei Verbildlichungen des leidenden Körpers – sei es eines veritablen Martyriums, wie es Christus und Sebastian zu erleiden hatten, oder der Selbstkasteiung und Buße, die sich Magdalena freiwillig auferlegte –, weil durch solche Darstellungen die Betrachter maximal affiziert werden sollen. Die Vergegenwärtigung der grausamen Leiden der Heiligen soll ihr ethisch begründetes ‚Mit-Leiden‘ auslösen. Dies ist der Grund für die vor dem Hintergrund der Bildtradition von Darstellungen des hl. Sebastian recht unrealistisch anmutende Forderung Giovanni Andrea Gilios, Sebastian „übersät mit Pfeilen wie ein Stachelschwein“172 zu zeigen. Zwar nicht mit Bezug auf Darstellungen des Märtyrers, aber auf die der Passion Christi knüpft Gilio sie an das nur auf diese Weise sicherzustellende movere der Bildbetrachter an: „Un altro abuso anco io trovo circa la persona del nostro Salvatore […]: et è questo, che non sanno, o non vogliono sapere isprimere la defformità che in lui erano al tempo de la passione: quando fu flagellato, […] quando con tanta angustia stava fitto in croce, dicendo Isaia che in lui non era più forma d’uomo. Molto più a compunzione moverebbe il vederlo sanguinolento e difformato, che non fa il vederlo bello e delicato.“ „Einen anderen Missbrauch finde ich noch die Figur unseres Heilands betreffend […]: und das ist dies, daß sie nicht wissen, oder nicht wissen wollen, wie sie die Entstellungen, die er zur Zeit der Passion aufwies, ausdrücken sollen: als er gegeißelt wurde, […], als er in so viel Not ans Kreuz angeheftet war, wo doch Isaias sagt, daß an ihm keine menschliche Gestalt mehr war. Viel mehr zur Reue würde es bewegen, wenn man ihn blutüberströmt und entstellt sähe, was nicht geschieht, wenn man ihn schön und zart sieht.“173

Und konkret mit Bezug auf Sebastiano del Piombos schönen Christus im Geißelungsfresko in S.  Pietro in Montorio heißt es noch drastischer und wiederum mit explizitem Bezug auf Isaias 53, 2: „Molto più mostrerebbe il pittore la forza de l’arte in farlo aflitto, sanguinoso, pieno di sputi, depelato, piagato, difformato, livido e brutto, di maniera che non avesse forma d’uomo. Questo sarebbe l’ingegno, questa la forza e la virtù de l’arte, questo il decoro […]“ „Sehr viel mehr würde der Maler die Macht der Kunst zeigen, wenn er ihn gequält, blutig, bespuckt, mit abgeschüfter Haut, verletzt, entstellt, blutunterlaufen und hässlich zeigte, auf eine Weise, daß er nicht mehr die Gestalt eines Menschen hätte. Das wäre das Talent, die Macht und die Fertigkeit der Kunst, das wäre das Decorum […].“174 172  Eine Ausnahme bildet Andrea Mantegnas „hl. Sebastian“ im Kunsthistorischen Museum in Wien. 173  Gilio, Dialogo, S. 39; vgl. Wolf, Velaverunt faciem eius 1991, S. 13 f. 174  Ebd., S. 40. Für das Fresko Sebastiano del Piombos siehe Michael Hirst, Sebastiano del Piombo, Oxford 1981, S. 49–53.

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Dreht man Gilios Argument um, dürfte eine weniger drastische Darstellung eines Martyriums, wie wir sie in Saracenis und Bagliones Sebastiansbildern gesehen haben, in seinen Augen nicht mehr das movere des Betrachters garantieren und wäre zugleich als Verstoß gegen das explizit angesprochene Dekorum zu werten. Was Gilio hier zwar nicht zum Thema macht, was aber seine Invektiven motiviert haben dürfte, ist noch etwas anderes: Die Minimierung der Zeichen der Qualen des Heiligen hat beim Betrachter nicht nur das Ausbleiben starken affektiven Mitleidens, das „movere a commiseratione“, zur Folge, sondern leistet auch dem Wandel der Emotionen Vorschub. Wie es bereits Vasari und Leonardo als Möglichkeit verbalisiert haben, kann es zur Sensibilisierung „a lascivia“ führen. Das Problem spitzt sich im ausgehenden Cinquecento und Seicento hochgradig zu: Zum einen durch die überdeutliche Forderung nach Vermeidung aller Nacktheiten und potentiellen ‚Laszivitäten‘ der Darstellungen. Ihre Zunahme manifestiert sich auch in der gewandelten Bewertung älterer Kunstwerke.175 Dies hat die paradoxe Folge, daß aufgrund der intensiven Thematisierung des Gegenstands für die Betrachter um 1600 ein von ‚profanen‘ Gedanken freier Blick auf die Darstellungen der Heiligen Magdalena und Sebastian kaum mehr möglich gewesen sein dürfte: Die stets lauernde Gefahr der Evozierung lasziver Gedanken wird im Bewußtsein der Rezipienten der Bilder hierfür vielzu übermächtig gewesen sein. Der andere Grund für die Zuspitzung der Problematik liegt in der sich zeitgleich manifestierenden enormen Verstärkung der Laszivität der Bilder. Wie gesehen, geschieht sie durch die unverhüllte Zurschaustellung der Geschlechtsorgane wie in Cagnaccis „Magdalena“, durch die ‚Namenlosigkeit‘ seiner und Furinis Märtyrerinnen und durch die Verwendung einer sich durch Ambivalenz auszeichnenden Affektsprache, die eine entsprechend mehrdeutige Wirkung auf die Betrachter zur Folge hat. Man kann diese Diskrepanz von Theorie und Praxis mit dem simplen Argument erklären, daß gerade starke Tabus und Verbote die Bereitschaft und den Wunsch verstärken, gegen sie zu verstoßen. Dieser anthropologische Mechanismus mag tatsächlich eine gewisse Rolle bei der Entstehung der Bilder gespielt haben, in denen quasi visuell formuliert wird, was textuell unterbunden werden soll; für relevanter halte ich jedoch etwas anderes: Die Werke zeigen einmal mehr, daß die Künstler in ihnen ausloten, was mit den Konventionen und Normen der Zeit zu vereinbaren war und wo die Grenze des Machbaren und Vertretbaren lag. Dies gilt sowohl generell, also für die Darstellungsweise von Heiligen an sich, als auch für die Relation der Bildsprache zu den verschie175 Ein sehr gutes Beispiel hierfür gibt Rosenberg, Beschreibungen und Nachzeichnungen 2000, S. 29 f., mit Bezug auf Michelangelos Aurora-Statue in der Neuen Sakristei in San ­Lorenzo in Florenz. Sie wurde im Cinquecento von Anton Francesco Doni, Giorgio Vasari und Benedetto Varchi ausschließlich positiv beschrieben, seit dem 17. Jahrhundert wurde zunehmend ihre Nacktheit kritisiert.

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denen Kontexten der Werke: für Altargemälde und sonstige Bilder im Kirchenraum, denen ein gewisser Öffentlichkeitscharakter zukam, und für die Werke für den eher privaten Raum der Sammlung. Auch wenn uns ausführliche Zeugnisse, in denen die Kategorie des Dekorums in Relation zum Ort gesetzt wird, fehlen,176 sprechen doch die Beispiele des nachträglichen Transfers von Bildern wie der „Madonna dei Palafrenieri“ und Fra Bartolommeos Sebastians-Altar in Kunstsammlungen eine diesbezüglich deutliche Sprache: Im privaten Raum galt ein anderes Dekorum. Hier trafen die Bilder auf eine andere Erwartungshaltung und auf eine andere Sehbereitschaft als im Kirchenraum, und dies schloß vermutlich sogar die Wahrnehmung der Grenzüberschreitung als solcher ein. Verblieben Werke wie Berninis „Teresa“ in der Cappella Cornaro hingegen im Kirchenraum, hatte dies eine intensive Debatte über die Angemessenheit von Figur und Darstellungsweise zur Folge. Das Problem der generellen Darstellbarkeit verlagerte sich also: Im Zentrum des Diskurses stand nicht nur die Frage, was zu zeigen erlaubt war, sondern auch, wo es sanktioniert war. Wie sehr auch innerhalb des privaten Raumes wiederum ein – selbstredend nicht kodifiziertes – Regularium der Möglichkeiten, Situationen etc. greift, zeigt eine Passage in Giulio Mancinis um 1620 verfaßten „Considerazioni sulla pittura“. Darin schreibt er über den Anbringungsort von Gemälden in der Galerie: „[…] e le cose lascive affatto si metteranno ne’ luoghi ritirati, e, se fusse padre di fameglia, le terrà coperte, e solo alle volte scoprirle quando vi anderà con la consorte o persona confidente e non scrupolosa.“ „[…] und die lasziven Dinge stelle man unbedingt an zurückgezogenen Orten auf, und, wenn man Familienoberhaupt ist, halte man sie bedeckt und enthülle sie nur von Zeit zu Zeit, wenn man mit der Gattin dorthin geht oder mit einer vertrauten und nicht skrupulösen Person.“177

Auch die weiteren Ausführungen Mancinis sind bemerkenswert, weil ihm zufolge die „pitture lascive“ dezidiert dem eccitamento und der Zeugung schöner Kinder dienen.178 So konkret ist über die körperliche Stimulierung in 176  Indirekt wird es allerdings in einer Formulierung des Malers Giovanni Maria Ciocchi von 1725 deutlich; er schreibt in „La Pittura in Parnaso“ über Michelangelos nackte allegorische Statuen in der Medici-Kapelle von San Lorenzo in Florenz: „Ma queste Bellezze […] non convengono in chiesa […] statue di femmine tutte nude […]“ (zit. nach Rosenberg, Beschreibungen und Nachzeichnungen 2000, S.  56). Für den Unterschied von Öffentlichkeit versus Privatheit bei profanen erotischen Bildern: Ginzburg, Tizian, Ovid 1983, S. 175 f. 177  Mancini, Considerazioni sulla pittura 1956, Bd. 1, S. 163; vgl. Freedberg, Power of Images 1989, S. 3, der auch eine ähnliche, knappere Bemerkung von Poggio Bracciolini zitiert; ebd., S. 360 f. 178  Ebd.: „E simil pitture lascive in simil luoghi dove si trattenga con sua consorte sono a proposito, perchè simil veduta giova assai all’eccitamento et al far figli belli, sani e gagliardi […]“; vgl. Freedberg, Power of Images 1989, S. 3 sowie 2 f., zum Topos, demzufolge sich die men-

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den bislang diskutierten Textstellen nicht gesprochen worden. In der Wahl der individuellen oder gemeinsamen Betrachtung und mehr noch im Spiel mit der Ver- und Enthüllung derartiger Bilder bestand offensichtlich ein zusätzlicher Reiz. Mancini spricht jedoch nicht explizit über religiöse Darstellungen, und damit komme ich zu dem Themenkomplex des lasziven Heiligenbildes zurück. Wie wurden diese Bilder betrachtet, funktionieren sie überhaupt noch als religiöse Darstellungen? Haben die Besitzer von Cagnaccis „Magdalena“ oder seiner ‚namenlosen‘ schönen Märtyrerin analog zu Mancinis Beschreibung die Gemälde ebenfalls allein oder mit ihren Gattinnen in einem abseitigen Raum mit der kalkulierten Absicht der körperlichen Stimulation betrachtet? Wenn ja, war dies eine Ausnahme oder die übliche Betrachtungsform, und erschöpfte sich die Rezeption darin? Die Fragen nach dem, was die einzelnen Betrachter vor diesen Bildern empfunden haben, lassen sich kaum beantworten, was sicherlich nicht nur Folge der historischen Distanz, sondern auch des Sujets der Bilder ist. Denn im Bereich der Erotik ist wohl mehr als bei allen anderen Themen die Pluralität der Wahrnehmungsformen und Maßstäbe anzunehmen. Die Schwelle dessen, was als erotisch oder gar als stimulierend empfunden wird, ist bei jedem Menschen – sicherlich auch abhängig von Situationen und der emotionalen Verfassung – verschieden, unterliegt also nicht nur diachronen, sondern auch synchronen Verschiebungen und der individuellen Disposition. Gerade die erotisierten Heiligenbilder zeigen dadurch mehr als alle bislang behandelten Werke das hybride Verhältnis von Rezeptions- und Produktionsebene. Ohne Zweifel setzen die Maler auf eine unterschiedlich stark ausgeprägte Ambiguität der Werke. Doch welcher Art deren Rezeption beschaffen ist, ob sie – mit Vasari – einmal mehr „a lascivia“, ein anderes Mal aber doch zur „commiserazione“ stimulieren, wird verschieden gewesen sein. Sie wird nicht nur mit der mentalen Disposition der Betrachter, sondern auch mit den Betrachtungssituationen und -kontexten sowie der Stimmungslage der einzelnen Rezipienten divergiert haben.179 Es mag Besitzer gegeben haben, die ein Gemälde talen und materialen Bilder, die bei der Zeugung imaginiert oder betrachtet werden, auf die Physis der gezeugten Kinder auswirkten. 179  Vgl. bereits die (auf Darstellungen der hl. Magdalena bezogenen) Sätze von IngenhoffDanhäuser, Maria Magdalena 1984, S.  30: „Man könnte sich vorstellen, daß der Reiz eines solchen [d.i. eines erotisierten] Heiligenbildes denjenigen eines profanen sogar in den Schatten zu stellen vermag: Könnte nicht die eigentümliche Mischung aus irdischer Schönheit und Frömmigkeit einen weitaus größeren Zauber auf die Phantasie des Betrachters ausüben, als das ein profanes Bild vermag? Mit anderen Worten – die Zweideutigkeit hat sich in der Zielsetzung völlig entgegengesetzter und eigentlich unvereinbarer Wunschvorstellungen auf eine andere Ebene verschoben. Religiöse Erbauung und weltliche Phantasien werden für den Betrachter zur jeweils beliebigen Auswahl verfügbar. Die Sinngebung eines solchen Bildes wird vonseiten des Beschauers dadurch von dessen ganz persönlichem geistigen Standort oder von seiner Ge-

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wie Cagnaccis „Magdalena“ mit einem Vorhang verhüllten, wie es für Caravaggios „Amor“ belegt ist,180 um dieses dann beim Enthüllen um so wirkungsvoller zu inszenieren. Es wird aber auch Rezipienten gegeben haben, bei denen die beiden Bereiche ineinandergriffen, und, wie es Andreas Prater mit Bezug auf religiöse Bilder in spanischen Sammlungen formulierte, diese „die Sinnlichkeit […] auf allen Ebenen“ stimulierten,181 ja mehr noch: die „sakrale Inbrunst die erotische stimulierte oder umgekehrt“.182 Das ist der am schwierigsten zu fassende Aspekt dieses Themenkomplexes, da ein solches Bildverständnis und eine solche Bildpraxis modernen Frömmigkeitsvorstellungen diametral entgegengesetzt sind. Doch wie bereits Vasaris und Leonardos Beschreibungen der Folgen erotischer Darstellungen indirekt den Hinweis darauf gaben, daß affektive ‚profane‘ und ‚religiöse‘ Reaktionen weniger kategorial geschieden waren als in unserer modernen Vorstellungswelt, so ist auch eine Formulierung von Erasmus, mit der er jene Bilder verurteilt, die „schneller zu Laszivität als zur Frömmigkeit provozieren“ („[…] imagines quae citius provocant ad lasciuiam ad pietatem“)183 in bezug auf die implizit postulierte Nähe von ethisch-emotionaler und profan-erotischer Reaktion aussagekräftig. Gerade beim Sujet der sich geißelnden hl. Magdalena ist offensichtlich, welch enge Verbindung Scham und Laszivität, Qual und Lust, Askese und Ekstase, und damit spirituelle und erotische Erfahrungen miteinander eingehen.184 Dies ist die Folge der Bedeutung des Körpers sowohl als Medium des Martyriums und der Selbstgeißelung als auch als Medium der Erotik.185 Daher liegt es auf der Hand, daß die im Akt der Geißelung erfolgende Erregung des Körpers und der Phantasie186 auf der Betrachterebene reiche Imaginationen freisetzt, die sich kaum kontrollieren lassen und die leicht in die Profanität ‚kippen‘ können. Um an den Rahmen dieser Ausführungen anzuknüpfen: Mit Sicherheit wird trotz eines möglichen Zusammenhangs von körperlicher und religiöser Stimulierung angesichts der starken Diskursivierung des Themas seit fühlssituation abhängig. Die Ambivalenz einer solchen Darstellung überträgt sich unmittelbar auf ihn – er wird unweigerlich mit ihr konfrontiert und kann sich ihr nicht entziehen.“ 180  Nach dem Bericht von Sandrart in der „Teutschen Academie“ 1925, S. 276 f. ­Alessandro Segni berichtet 1669 von der Galerie d’Apollon im Louvre, daß hier die lasziven Bilder in regelrechte Gehäuse in der Wand eingelassen wurde, die mit kleinen Türen („coperte“) verschlossen wurden; siehe Frank Büttner, Die Galleria Riccardiana in Florenz, Frankfurt a. M. u. a. 1972, S. 148. 181  Prater, Velázquez 2002, S. 79. 182  Ebd., S. 82. 183 Desiderius Erasmus, Modus orandi Deum, in: D. E., Opera omnia, Bd. V, 1, hg. v. S. ­Dresden & L.-E. Halkin, Amsterdam 1977, S. 136. 184  Largier, Lob der Peitsche 2001, passim, hier S. 9. 185 Hierzu Gabriele Sorgo, Martyrium und Pornographie, Düsseldorf 1997, passim, bes. S. 38–42; Georges Bataille, Die Erotik, München 1984, S. 217–221, zu den „Äquivalenzen und Vertauschungen zwischen den Ordnungen erotischer und mystischer Ergießung.“ 186  Ebd., S. 21.

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

dem ausgehenden Cinquecento bei den Betrachtern der Bilder ein Bewußtsein dafür existiert haben, daß Darstellungen wie Cagnaccis „Magdalena“, seine ‚namenlose‘ Märtyrerin und Bagliones „Sebastian“ ‚grenzwertig‘ waren oder sogar die Grenzen des ‚Darstellbaren‘ klar überschritten. Auch darin wird ihr intellektueller und vielleicht sogar physischer Reiz im Akt der Wahrnehmung und im Nachvollzug der Handlungen bestanden haben: der Ambiguität des Bildes korrespondierte die Ambiguität der Gefühle.

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5. Caravaggios ‚Ignudo‘ in der Pinacoteca ­Capitolina und andere Darstellungen Johannes’ des Täufers Vieles von dem, was in den vorangegangenen Kapiteln Thema war – die Performativität durch die suggerierte Pose des Modells vor dem Maler, die intendierte Offenheit der Sujets und die hierdurch bedingte potentielle Umsemantisierung im Akt der Wahrnehmung und schließlich die starke Körperlichkeit und lascività der Figuren – kulminiert in einem Darstellungstypus, und zwar dem des jugendlichen Johannes-Knaben in der Wüste.187 Gerade in der ersten Hälfte des Seicento äußerst beliebt, war es mit einem kaum zu überblickenden, aus mehreren hundert Darstellungen bestehenden Bildkorpus vermutlich das am häufigsten verbildlichte Heiligensujet der Zeit. Dabei wird ein seit dem frühen Cinquecento relativ feststehendes ikonographisches Schema vergleichsweise leicht, aber entscheidend modifiziert. Es bietet sich also an, auf der Grundlage der Abweichungen vom tradierten Vokabular die visuellen Strategien der Maler genauer in den Blick zu nehmen. Ins Zentrum möchte ich Caravaggios Darstellung des Täufers in der Pinacoteca Capitolina (Abb. 1) stellen,188 für die es eine ganze Reihe direkter und indirekter Rezeptionszeugnisse gibt, welche 187  Eine erste Skizze dieses Kapitels erschien unter dem Titel „Bedeutungsspiele in Caravaggios Darstellungen Johannes’ des Täufers“, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter (2003), Nr. 7/8, S. 59–72; eine nur wenig veränderte Version habe ich auf Italienisch publiziert: Ambiguità intenzionale. L’Ignudo nella Pinacoteca Capitolina e altre raffigurazioni del San Giovanni Battista di Caravaggio e dei ‚Caravaggisti‘, in: Caravaggio e il suo ambiente. Atti del convegno internazionale del 27./28. gennaio 2004 presso la Bibliotheca Hertziana, hg. v. ­Sybille Ebert-Schifferer, Julian Klieman, Valeska v. Rosen & Lothar Sickel, Cinisello Balsamo/Mailand 2007, S. 59–85. 188  Siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 58, S.  475–478; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 59, S. 521–523; sowie die Beiträge in: Identificazione di un Caravaggio. Nuove tecnologie per una rilettura del San Giovanni Battista, hg. v. Giampaolo Correale, Venedig 1990; Sergio Guarino, in: Caravaggio e la collezione Mattei, (Ausst.-Kat. Roma, Galleria Barberini 1995), hg. v. Rossella Vodret, Milano 1995, Nr. 2, S. 120–123; Bert Treffers, Caravaggio nel sangue del Battista, Roma 2000 passim (mit weiterer Bibliographie) sowie die im folgenden genannte Literatur. Belegt ist das Gemälde erstmals 1616 in einem Inventar der Sammlung im Familienpalast in der Via delle Botteghe Oscure, dem heutigen Palazzo Caetani, und es läßt sich mit zwei Zahlungsbelegen für ein (nicht näher spezifiziertes) Gemälde aus dem Jahre 1602 in Verbindung bringen. Zur Datierung und den Inventareinträgen, die unten eine Rolle spielen werden: Francesca Cappelletti & Laura Testa, Il trattenimento di virtuosi: Le collezioni secentesche di quadri nei Palazzi Mattei di Roma, Rom 1994, S. 25–52, 105 f. und 137–141, sowie die Inventare im Anhang; Cappelletti & Testa, I quadri di Caravaggio 1990, S. 234–244, bes. 239 f.; Elisabeth Schröter, Caravaggio und die Gemäldesammlung der Familie Mattei. Addenda und Corrigenda zu den jüngsten Forschungen und Funden, in: Pantheon 53 (1995), S. 62–87, hier 68. Das Bild gelangte über Ciriacos Sohn Giovanni Battista 1624 an den Kardinal del Monte, 1628 bereits an den Kardinal Emmanuele Pio di Savoia.

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die Wahrnehmung eines von starker Ambiguität geprägten Werks durch die Zeitgenossen anschaulich vorführen. Denis Mahon entdeckte das Gemälde in den 1950er Jahren im Amtszimmer des römischen Bürgermeisters und identifizierte es mit einer in zahlreichen Quellen erwähnten Darstellung des Täufers, die Caravaggio für den Marchese Ciriaco Mattei gemalt hat.189

5.1 Caravaggios nackter „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina: Hirte oder Heiliger? Wir sehen auf einer hochformatigen Leinwand mit den Maßen 129  ×  95  cm einen lebensgroß ins Bildfeld gesetzten und dieses weitgehend ausfüllenden braungelockten Jungen in leichter Untersicht von der Seite. Der vielleicht vierzehnjährige Knabe sitzt auf einem Felsen, hat das linke Bein angewinkelt, sein rechtes ruht auf dem Boden. Er lehnt sich zurück und stützt sich dabei mit dem linken Arm ab, den rechten hat er erhoben und greift um einen Widder mit krummen Hörnern, der mit seinem Maul fast das Gesicht des Knaben berührt. Die Haltung des Knaben, die sich durch besondere Labilität auszeichnet, läßt sich weder als Sitzen noch als Liegen beschreiben. Johannes hat den Kopf in fingierter Spontaneität über die Schulter gewendet, offenbar um seinen Betrachtern einen verhalten lächelnden Blick zuzuwerfen. Sein geöffneter Mund gibt den Blick auf die obere Zahnreihe frei. Der Junge ist splitternackt, sein Geschlecht ist durch die geöffnete Beinstellung sichtbar. Er verfügt zwar über Kleidung, trägt sie jedoch nicht, sondern sitzt auf ihr: ein schweres rotes Gewand, darüber ein weißes Tuch und – direkt unter seinem Gesäß und Oberschenkel – ein Fell. Ein Grund für diese – durch das ‚Abgelegtsein‘ der Kleider suggerierte – kürzlich erfolgte Entkleidung des Täufers wird innerbildlich nicht angegeben. Der Hintergrund des Gemäldes ist stark verschattet; schwach zeichnen sich Geäst und Laub ab. Infolge der Größe des nackten Knabenkörpers dominiert im Bild die Inkarnatfarbe; lediglich das große Tuch setzt einen kräftigen Rotakzent. Ein von links oben einfallender, scharf gebündelter Lichtstrahl akzentuiert Teile des Körpers effektvoll, insbesondere die Oberschenkel und den Schultergürtel; das Geschlecht bleibt jedoch im Schatten.

189  Zur Sammlung Ciriaco Matteis und dessen Beziehungen zu Caravaggio siehe: Caravaggio e la collezione Mattei 1995; darin besonders die Aufsätze von Maurizio Calvesi, Michelangelo da Caravaggio: il suo rapporto con i Mattei e con altri collezionisti a Roma, S. 17–28, und Laura Testa, La collezione di quadri di Ciriaco Mattei, S. 29–38; Cappelletti & Testa, Il trattenimento di virtuosi 1994, S. 25–52 sowie für die weiteren Bilder, S. 101–105. Sicher gehörten dem Marchese außerdem die „Gefangennahme Christi“, die sich heute in der National Gallery of Ireland in Dublin befindet (1603 bezahlt) und das „Emmaus-Mahl“ in der National Gallery in London (1602 bezahlt).

Caravaggios ‚Ignudo‘ in der Pinacoteca ­Capitolina und andere Darstellungen Johannes’ des Täufers

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Durch die Auffindung von zwei Zahlungsanweisungen an Caravaggio durch Ciriaco Mattei sind sowohl Funktion und Bestimmung des Gemäldes für eine private Bildersammlung als auch seine Entstehungszeit im Jahr 1602 gesichert.190 Es entstand also in den wohl erfolgreichsten Jahren des Malers, in denen dieser zahlreiche Werke für die Sammlungen wichtiger römischer Familien ausführte und gleichzeitig seine ersten Gemälde für Kirchenräume schuf: Die Ausstattung der Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi und der CerasiKapelle in S. Maria del Popolo waren bereits vollendet, und er erhielt prestigeträchtige Aufträge, etwa die „Grablegung Christi“ für die Chiesa Nuova und den „Tod Mariens“ für S.  Maria della Scala (Abb. 4). Wie oben ausgeführt, zielte Caravaggio mit seinen in puncto angemessener Darstellungsweise stets problematischen Altarbildern darauf, Aufmerksamkeit von seiten des Publikums zu erhalten – eine Strategie der Selbstvermarktung, die auch in bezug auf die unkonventionellen Momente des Johannes-Gemäldes in der Pinacoteca Capitolina nicht übersehen werden darf. Bezeichnenderweise bringt sein erster Biograph, Giovanni Baglione, die Fähigkeit des Malers, „romore“ bzw. „rumore“, „Krach“, zu erzeugen und von sich sprechen zu machen, explizit auch mit den Arbeiten für Ciriaco Mattei in Verbindung.191 Worin das Problem des Bildes in der Pinacoteca Capitolina für die Caravaggio-Forschung bestand und noch immer besteht, läßt sich als Frage formulieren: Woher wissen wir, daß wir es bei der Figur mit einem Johannes zu tun haben, oder, pointierter formuliert: Was macht einen splitternackten Knaben, der sich ohne erkennbaren Grund seines Gewands entledigt hat und nun einen Widder herzt, eigentlich zum Täufer? In der Bildtradition sind die proleptischen Attribute des Täufers das Lamm, das auf Christus, das „Agnus Dei“, verweist, und ein markanter, teilweise auf das Tier, teilweise in den Himmel weisender, gelegentlich auch ungerichteter Zeigegestus.192 Lamm und Gestus bringen die heilsgeschichtliche Rolle und Bedeutung des Täufers als Wegbereiter Christi, der nicht nur mit Wasser, sondern mit dem Heiligen Geist taufen wird, sinnfällig und zeichenhaft zum Ausdruck.193 Denn Johannes ist die Figur des Übergangs vom Alten 190  Siehe oben, Anm. 187. 191  Siehe unten, Anm. 209. Baglione verwendet sowohl die Schreibweise „rumore“, als auch

„romore“. 192  Zur Person und Ikonographie des Täufers: Alexandre Masseron, Saint Jean Baptiste dans l’art, Paris 1957; Jean Steinmann, Johannes der Täufer in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1960; Johannes H. Emminghaus, Johannes der Evangelist, Recklinghausen 1966; G. Kaster, s.v. Johannes der Täufer, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 7, Rom u. a. 1974, Sp. 163–205; Friedrich-August von Metzsch, Johannes der Täufer: seine Geschichte und seine Darstellung in der Kunst, München 1989. 193  Vgl. André Chastel, Le geste dans l’art, Paris 2001, S. 61–63; vgl. die vom Täufer im Johannes-Evangelium gesprochenen Worte: „Und ich habe gesehen und kann bezeugen: Dieser ist der Sohn Gottes“ (1, 34) und: „Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der

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118 Giuseppe Cesari, Johannes der Täufer, Rom, Galleria Borghese

Testament  – dessen letzter Prophet er war – zum Neuen Bund, den er bereits verkündete. Klaren Verweiswert auf den Täufer hat auch der Kreuzstab, der meist von einer Banderole mit den Worten „Ecce Agnus Dei“ umwickelt ist. Weitere Attribute des Täufers sind der rote Mantel, dem gelegentlich ein Fell beigegeben ist, und eine Schale. Giuseppe Cesaris kleine, etwa zeitgleich mit Caravaggios Gemälde entstandene Schiefertafel in der Galleria Borghese (Abb. 118) verfügt über einen Großteil dieser Attribute und markiert den ikonographischen Standard des Bildsujets in den Jahren um 1600.194 Gerade im Vergleich mit Cesaris Darstellung wird augenfällig: In Caravaggios Johannes-Gemälde in der Kapitolinischen Galerie sieht es mit den Attributen überaus dürftig aus. Der Täufer hat mit dem roten Mantel nur das am wenigsten signifikante Attribut; die für Johannes spezifischen Merkmale, nämlich der Kreuzstab mit Banderole und der Zeigegestus, fehlen. Die markanteste Abweichung von der Bildtradition ist das falsche Tier. Es ist nämlich kein Lamm – also ein junges Schaf vor seiner geschlechtlichen Reife –, sondern ein ausgewachsenes Schaf, dessen Geschlecht durch die Hörner eindeutig bestimmt ist: ein Widder. Die Transformation eines Lamms in einen Widder, der als Symbol der Wollust gilt, in Verbindung mit einem ­ostentativ nackten Welt. Er ist es, von dem ich sagte: nach mir kommt einer, der mir voraus ist, weil er eher war als ich“ (1, 29). 194  Vgl. für Cesaris Gemälde in der Galleria Borghese (34  ×  22,5  cm; Öl auf Schiefer, ca. 1603–06): Röttgen, Il Cavalier Giuseppe Cesari 2002, Nr. 122, S. 369.

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119 Raffael, Johannes der Täufer, Florenz, Uffizien

Täufer, der das Tier obendrein zärtlich umfaßt, stellt der hierdurch aufgerufenen profan-erotischen Assoziationsmöglichkeiten wegen ein Problem dar. Dieses besteht in der starken lascivia der Figur. Auch wenn es im Quattround Cinquecento zahlreiche Darstellungen des unbekleideten oder nur leicht bekleideten Täufers gab, und zwar von Domenico Veneziano,195 Daniele da Volterra,196 Pier Francesco di Jacopo Foschi197, Raffael (Abb. 119 und 120), 195  28,3 × 32,4 cm, ca. 1445–57; Washington, National Gallery of Art (Teil der Predella des Lucia-Altars), siehe Hellmut Wohl, The Paintings of Domenico Veneziano, ca. 1410–1461. A Study in Florentine Art of the Early Renaissance, New York 1980, Nr. 7, S. 128–130 (er entkleidet sich, um das Asketengewand anzuziehen). 196  Das Geschlecht der Figur ist knapp verhüllt. Datiert wird das Gemälde um 1555/56. Es gibt zwei Fassungen, die in ihrer Eigenhändigkeit verschieden beurteilt werden. Die eine wird im Depot der Alten Pinakothek in München aufbewahrt, die andere in den Musei Capitolini; sie befand sich im Seicento in der Sammlung Sacchetti; vgl. Paul Barolsky, Daniele da Volterra. A Catalogue Raisonné, New York/London 1979, Nr. 15, S. 94–97, fig. 72; Daniele da Volterra, Amico di Michelangelo (Ausst.-Kat. Firenze, Casa Buonarroti, 2003/04), hg. v. Vittoria Romani, Mandragora 2003, Nr. 37, S. 134 f. 197  Das Gemälde befindet sich in einer Privatsammlung in Rimini und ist offensichtlich von Volterras Bildern abhängig; siehe Antonio Pinelli, Pier Francesco di Jacopo Foschi, in: Gazettes des Beaux Arts 69 (1967), S. 87–108, hier 94, Tf. 10.

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120 Raffael, Johannes der Täufer, Paris, Musée du Louvre

Leonardo (Abb. 121), Bronzino (Abb. 122), Rosso Fiorentino198 und, etwa zeitgleich mit ­Caravaggios Gemälde, von Annibale Carracci,199 so ist die Nacktheit des kapitolinischen Knaben durch sein fortgeschrittenes Alter, die gute Sichtbarkeit seines Geschlechts, das Moment der offenkundigen Pose und des ‚Ausgezogenseins‘ der Figur sowie durch ihre sensualistische Wirkung infolge der dramatischen Hell-Dunkel-Kontraste und der haptischen Qualitäten von Fell und Inkarnat doch ohne Vergleich und damit der Kern des Problems. Die Frage, die sich uns aufdrängt – und die sich nachweislich auch den Zeitgenossen des Malers aufdrängte –, lautet also: Wie läßt sich ein „Johannes“, 198  55 × 38 cm; Florenz, Privatsammlung; siehe Roberto Paolo Ciardi & Alberto Mugnaini, Rosso Fiorentino. Catalogo completo dei dipinti, Florenz 1991, Nr. 7, S. 58 f. 199  Für das Gemälde Carraccis, das durch mehrere Kopien sowie einen Nachstich von ­Pietro del Po überliefert ist, siehe den kleinen Katalog: Il San Giovanni Battista ritrovato. La tradizione classica in Annibale Carracci e in Caravaggio (Ausst.-Kat. Roma, Musei Capitolini 2001/02), hg. v. Sergio Guarino u. a., Mailand 2001. In ihm wird nun auch ein Gemälde in einer Privatsammlung mit den Maßen 117 × 90,5 cm als verlorenes Original präsentiert (Nr. 1, S. 30). Siehe dazu auch: Lothar Sickel, Annibale Carraccis „Johannes der Täufer“ aus der Sammlung Orsini: ein umstrittener Fund und eine weitere Kopie; zur Ausstellung „Il San Giovanni ­Battista ritrovato. La tradizione classica in Annibale Carracci e in Caravaggio“, in: Kunst­ chronik 55 (2002), S. 162–166.

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121 Leonardo, Johannes der Täufer in der Landschaft, Paris, Musée du Louvre

der über derart wenige attributive Merkmale verfügt und ostentativ lascivo ist, mit dem Dekorum vereinbaren, das ja auch die Forderung nach Klarheit und Eindeutigkeit der künstlerischen Aussage umfaßt? Zur Lösung dieser Frage wurden in der Forschung zwei gänzlich verschiedene Wege beschritten: Ein Teil der Autoren versuchte, den Widder in eine logische Beziehung zu Johannes zu bringen, der andere – und dies sind überwiegend jüngere Vorschläge – will die Knabenfigur umdeuten, zweifelt also an ihrer Identität als Johannes. Zur Erklärung des Widders im Arm des Täufers verwies Herwarth Röttgen auf die Emblemtradition, in der das Tier als Kreuzes-Symbol, und damit als Allusion auf den Opfertod und die Auferstehung verstanden wird. In Hinblick auf die Rolle des Täufers als Vorläufer Christi leuchten diese Bezüge zwar grundsätzlich ein, bieten jedoch angesichts der starken Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Knaben samt der Zweideutigkeit der physischen Nähe zwischen Täufer

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und Tier keine Lösung des ikonographischen Problems.200 Dasselbe gilt für die Deutung von Howard Hibbard,201 der zufolge der Widder eine Allusion auf das Sternzeichen des Sohnes von Ciriaco Mattei mit Namen Giovanni Battista sei. Auch diese Lesart löst das Problem des ‚falschen‘ Tieres im Arm des Täufers letztlich nicht. Daher mehrten sich in den letzten Jahren die Vorschläge, die in dem Gemälde überhaupt keine Darstellung des Täufers, sondern vielmehr ein profanes Sujet erkennen wollen, und zwar einen Hirten, der mit seinem Tier spielt,202 oder die alttestamentarische Figur des Isaak, der im Moment seiner durch göttlichen Einspruch erfolgten Errettung vom Opfertod gezeigt sei.203

122 Agnolo Bronzino, Johannes der Täufer, Rom, Galleria Borghese 200  Herwarth Röttgen, Caravaggio-Probleme, in: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst 20 (1969), S. 143–170, hier 168, Anm. 67; siehe auch unten meinen Abschnitt „Bedeutungsspiele“ (5.4.). 201  Hibbard, Caravaggio 1983, S. 305 f. 202  Leonard J. Slatkes, Caravaggio’s „Pastor Friso“, in: Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek 23 (1972), S. 67–72; Avigdor W.G. Posèq, Caravaggio’s „Pastor Friso“, in: Source. Notes in the History of Art 8 (1988), Nr. 1, S. 13–17; ders., Caravaggio and the Antique, London 1998, S.  43–48; Gilbert, Caravaggio 1995. Jüngst auch Clovis Whitfield, Caravaggio’s Shepherd ­Corydon, in: Paragone 58 (2007), Nr. 687, S. 55–78, dessen Argumentation, Bellori könne sich nicht auf das Gemälde der Kapitolinischen Pinakothek beziehen, mir angesichts der frühen fortuna critica des Bildes nicht einleuchtet. Selbst wenn er damit recht hätte, blieben, wie ich zeige, genügend Indizien für eine frühe Lektüre des Gemäldes als Johannes-Darstellung. 203  Liliana Barroero, L’„Isacco“ di Caravaggio nella Pinacoteca Capitolina, in: Bollettino dei musei communali di Roma 11 (1997), S. 37–41; Rodolfo Papa, Il cosiddetto „San Giovannino“ di Caravaggio nella Pinacoteca Capitolina. Il sorriso di Dio, in: Art et dossier 13 (1998), Nr. 131, S.  28–32; und nun noch einmal sehr ausführlich und mit erheblichem interpretatorischen

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So wenig wie die letztere Auslegung überzeugen kann,204 so attraktiv erscheint zumindest auf den ersten Blick der Vorschlag, es handele sich um einen Hirten; denn er bietet sowohl für den Widder als auch für die Nacktheit eine Erklärung. Und dennoch sind, anknüpfend an meine einleitenden Bemerkungen zur intendierten Ambiguität, von vornherein Einwände angebracht: Jede radikale Umdeutung des Werks negiert die besondere Bildstruktur, die ja offenbar Assoziationen an einen Johannes und an einen einfachen Knaben wecken soll.

5.2 Die Sprache der Inventare und die ‚Sprache‘ der Bilder In dieser Situation eines ‚Patts‘ in der Forschung – und weil es in das Zentrum des Themenkomplexes bildlicher Ambiguität und ihrer Folgen führt – erscheint es gerechtfertigt, die Frage der Identifikation noch einmal aufzugreifen, dabei jedoch den Akzent zu verschieben. Denn ich ziehe nicht nur die zeitgenössischen und zeitnahen schriftlichen Quellen zu dem Gemälde in der Pinacoteca Capitolina heran, sondern auch die in visueller Form, vor allem die Kopien desselben durch die ‚Caravaggisten‘, ferner die Bildtradition, Caravaggios übrige Darstellungen des Täufers und schließlich die freien Variationen des Sujets durch die ‚Caravaggisten‘. Damit rekonstruiere ich einen Bilddiskurs, der es ermöglicht, die Rezeptionssituation so präzise, wie dies aus der historischen Distanz heraus möglich ist, zu bestimmen. Die schriftlichen Quellen bezeichnen das Bild im Kapitol mehrfach eindeutig als „Giovanni Battista“; so drei frühe Erwähnungen von 1616, 1623 und 1624 in Inventaren der Sammlung bzw. im Testament von Giovanni Battista Mattei, worin das Gemälde dem Kardinal del Monte vermacht wird.205 Auch in dessen Sammlungsinventar von 1627 ist es entsprechend vermerkt. Ein Jahr später aber ist es im Inventar vom 5. Mai 1628 als „Coridone“ verzeichnet, womit ein Hirte gemeint ist. Auf diesen Eintrag stützen sich Creighton Gilbert, Leonard J. Slatkes und Avigdor Posèq, welche die These vertreten, es handele sich um

Aufwand: Conrad Rudolph & Steven F. Ostrow, Isaac Laughing: Caravaggio, Non-Traditional Imagery and Traditional Identification, in: Art History 25 (2001), S. 646–681. 204  Abgesehen davon, daß das Gemälde in seicentesken Erwähnungen niemals als „Isaak“; bezeichnet wird, fügt sich die Darstellung auch nicht in die Bildtradition von Isaak-Darstellungen, denn es fehlen essentielle Elemente wie die Figuren Abrahams und des Engels sowie das Messer, die in Caravaggios Darstellung des Sujets in den Uffizien vorhanden sind. Lediglich der Widder ließe sich mit der Ikonographie des Isaak in Verbindung bringen, den dieser in der Bildtradition allerdings niemals herzt. Die Autoren attestieren Caravaggio daher einen bewußt freien Umgang mit der Bildtradition, doch stellt sich dann natürlich die Frage, warum sie diese These nicht mit Bezug auf die Johannes-Ikonographie entwickeln. 205  Siehe die gute Zusammenfassung bei Marini, Caravaggio 2005, S. 475 f., die auf den Archiv-Forschungen von Cappelletti & Testa, Il trattenimento di virtuosi 1994 und Cappelletti & Testa, I quadri di Caravaggio 1990 beruht.

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eine profane Figur.206 Bereits 1620 erwähnt Gaspare Celio in seinem Romverzeichnis einen „pastor friso“, „einen phrygischen Hirten“, womit auf eine Figur in Theokrits Idyllen angespielt wird.207 Ein Inventar von 1641 vermerkt in der Sammlung des Kardinals Emmanuele Pio di Savoia schlicht nur einen „giovine nudo“, „einen nackten Jungen“.208 Die späteren Inventare kehren jedoch wieder zur einheitlichen Bezeichnung des Werks als „Giovanni Battista“ zurück.209 Auch die Verfasser der ersten Viten des Malers, Giovanni Baglione (1642)210 und Giovanni Pietro Bellori (1672),211 sprechen durchgängig von einer Täufer-Darstellung. Dasselbe gilt für die Literaten Francesco Scannelli (1657) sowie Michel’Agnolo und Pier Vincenzo Rossi (1697).212 Dabei ist besonders die Bemerkung von Baglione von Bedeutung, der, wie bereits erwähnt, die Bilder Matteis, und unter ihnen an erster Stelle den „Johannes“, mit „romore“ in Verbindung bringt, den sie unter römischen Kunstfreunden auslösten.213 Über diese Bemerkung ist auf eine heftige und kontroverse Debatte über die Bilder sowie ihre Fähigkeit, die Betrachter zu polarisieren, zu schließen – daß Baglione unter diesen Umständen ein falsches Sujet des Gemäldes überliefert habe, ist meines Erachtens ausgeschlossen. Doch die Tatsache, daß die richtige Benennung der Figur nicht durchgängig gelang, ist natürlich auch als solche signifikant und verweist auf das hier interessierende Problemfeld. Wir haben das Phänomen bereits oben am Beispiel von Francesco Furinis „Hl. Lucia“ gesehen, die in den Inventaren lediglich als „donna“ verzeichnet ist. 206  Zitiert nach Marini, Caravaggio 2005, S. 475: „Per il Coridone e Zingara di Caravaggio […]“. 207  Gaspare Celio, Memoria delli nomi dell’ artefici delle pitture che sono in alcune chiese, facciate e palazzi di Roma, Napoli 1638, S. 134 (Facs. Milano 1967, S. 41). (Das Manuskript war bereits 1620 fertiggestellt). 208  Cappelletti & Testa, Il trattenimento di virtuosi 1990, S. 240: „Un quadro con un giovine nudo à sedere mezzo calco, quale tiene col braccio dritto abbracciato un’agnello“. 209  Siehe Marini, Caravaggio 2005, S. 475 f. 210  Baglione, Le Vite 1935, S. 137: „Anzi fe cadere al romore anche il Signor Ciriaco ­Matthei, a cui il Carauaggio hauea dipinto vn s. Gio, Battista, e quando N. Signore andò in Emaus, & all’hora che s. Thomasso toccò co’l dito il costato del Saluadore; & intaccò quel di molte ­centinaia di scudi.“ 211  Bellori, Le Vite 1976, S. 217: „Dipinse San Giovanni nel deserto, che è un giovinetto ignudo a sedere, il quale sporgendo la testa avanti, abbraccia un agnello […]“. 212  Scannelli, Il microcosmo 1989, S. 199: „[…] nella Galeria dell’Eminentissimo Pio alcuni Quadretti, ed in particolare vna figura di S. Gio. Battista ignudo, che non potria dimostrare più vera carne quando fosse viuo, sicome l’Amoretto, che si ritroua appresso al Prencipe Giustiniani, che frà i dipinti priuati di Michelangelo da Carrauaggio sarà forsi il più degno“. M. & P. V. Rossi, Descrizione di Roma moderna, Roma 1697, S. 275: „E presentemente abitato dà Signori Pij, li quali trà molti mobili di valore, vi hanno alcuni Quadri superbi, cioè due Veneri dipinte dà Tiziano, […] S.  Gio. Battista fanciullo, che scherza con l’Agnellino, di Michel’Angelo dà Carauaggio“. 213  Siehe Anm. 209. „Romore“ bzw. „romore“ erzeugt, haben, Baglione zufolge, auch die ­Werke Caravaggios für die Contarelli-Kapelle, insbesondere das abgelehnte, von V ­ incenzo Giustiniani übernommene erste Altarbild mit Matthäus und einem Engel, sowie dessen „Amor“.

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123 Matthias Stomer (?), Zeichnung nach Caravaggios Johannes der Täufer, London, Oppé Collection

Wenn die Textquellen keine ganz einheitliche Sprache sprechen und verschiedene Lesarten des Bildes belegen – obwohl den frühesten Inventareinträgen und vor allem den Kunsttheoretikern sicherlich das größte Gewicht beizumessen ist –, sind, wie angekündigt, noch die bildlichen Rekurse zu berücksichtigen, vor allem die Kopien und Variationen des Gemäldes durch die ‚Caravaggisten‘. Sie wurden in der Debatte um die richtige Identifikation der Knabenfigur bislang weitgehend vernachlässigt,214 was durchaus erstaunlich ist. Denn es gibt von Caravaggio eine ganze Reihe von Gemälden, die bereits von den Zeitgenossen, aber auch von der modernen Forschung kontrovers diskutiert wurden, und – wie der „Johannes“ – heute noch werden, und von vielen gibt es variierende Kopien. Sie werden aber äußerst selten als Rezeptionsdokumente oder Kommentare in visueller Form zu Caravaggios Werken ernst genommen. Der Griff zum Text ist offenkundig selbst für Kunsthistoriker manchmal näher als der zum Bild. Dabei ist davon auszugehen, daß ein Maler, der eine Zeichnung oder ein Gemälde nach einem Werk anfertigte, sich mit diesem zuvor intensiver auseinandergesetzt hat, als dies ein möglicherweise zügig arbeitender Inventar-Schreiber getan hat. Daß sich die Verfasser der Inventare mit der Identifikation der Sujets der Bilder gelegentlich schwer tun, ist schließlich ein durchaus bekanntes Phänomen, und im Falle des bar seiner spezifischen Attribute posierenden Johannes-Knaben im Kapitol auch keineswegs verwunderlich. Zwei Darstellungen lassen sich als Kopien nach Caravaggio mit simplen, aber signifikanten Veränderungen identifizieren: Alfred Moir publizierte 1976 eine Matthias Stomer zugeschriebene Zeichnung in der Londoner Oppé 214  Mit Ausnahme einer Erwähnung von Held, Politik 1996, S. 146.

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­ ollection (Abb. 123).215 Sie geht eindeutig auf den Knaben in der Pinacoteca C Capitolina zurück, ordnet diesem aber ein Kreuz zu und fügt eine Schale hinzu, wodurch bezüglich seiner Identität keine Zweifel mehr aufkommen können. Außerdem transformiert der Zeichner den Widder in ein Lamm, das seinen Kopf in Richtung des Betrachters lenkt. Dies tut auch der Täufer, der dabei allerdings den etwas provokativ lächelnden, auf den Betrachter gerichteten Blick von Caravaggios Vorbild einbüßt. Ein in den Maßen gegenüber dem Original verkleinertes Gemälde eines unbekannten Malers in Glasgow (Abb. 11), das vielleicht nach dieser Zeichnung entstanden ist, bekleidet den Jungen sogar noch mit einem Fellgewand und nimmt ihm hierdurch jede lascivia.216 Aus zwei Gründen sind beide Darstellungen bedeutsam: Zum einen belegen sie, daß die Uneindeutigkeit und Sinnlichkeit von Caravaggios Gemälde für die beiden Künstler – bzw. den Schöpfer der Zeichnung, sollte der Maler des Glasgower Gemäldes nur dieselbe gekannt haben – problematisch und daher zu ‚verbessern‘ war, zum anderen zeigen sie aber auch, daß diese das Gemälde in der Pinacoteca Capitolina als JohannesDarstellung rezipierten. Ein weiteres Gemälde, das als Variation des Bildes im Kapitol anzusprechen ist, ist Bernardo Strozzis „Johannes“ in einer Genueser Privatsammlung (Abb. 124).217 Durch die Haltung und Ausleuchtung der Figur ist der Bezug zu Caravaggios „Johannes“ unübersehbar. Strozzi tilgt aber durch die Einfügung eines Kreuzes mit Banderole, den Zeigegestus und den Nimbus sowie durch die Verhüllung des Geschlechts bei gleichzeitiger Eliminierung des problematischen Tieres eigentlich alles Markante der Figur Caravaggios, und bezeichnenderweise lächelt dieser „Johannes“ weder, noch räkelt er sich. Die direkten visuellen Kommentare ‚sprechen‘ also ebenso deutlich, wie dies eine Beschreibung tun könnte, von dem Bild in der Pinacoteca Capitolina als einem „Johannes“, gleichzeitig weisen sie aber mit unmißverständlicher Deutlichkeit auf dessen irritierende konstitutive Merkmale hin. 215 172  ×  210  cm (!); London, Oppé Collection; vgl. Alfred Moir, Caravaggio and His ­ opyists 1976, Nr. 16a, S.  87; für die Vita, insbesondere den Rom-Aufenthalt von ­Matthias C Stomer um 1630, siehe Franziska Fischbacher, Matthias Stomer. Die sizilianischen Nacht­stücke, Frankfurt a. M. 1993, S. 17–37. 216  115,4 × 85,9 cm; Glasgow, Glasgow Museums Resource Centre; siehe Moir, Caravaggio and His Copyists 1976, Nr. 16g, S. 87, Abb. 62; Art Gallery and Museum Glasgow. Catalogue of Italian Paintings, Bd. 2. Illustrations, Glasgow 1970, Nr. 140, S. 40 (verzeichnet als „Roman School“ nach Caravaggio; der angekündigte Textband zu diesem Band mit Illustrationen, der vermutlich einen Katalogeintrag enthalten hätte, ist m. W. nie erschienen). 217  170 × 121 cm; Genua, Privatsammlung, ehem. Genua, Palazzo Centurione; vgl. B ­ ernardo Strozzi. Genova 1581/82 – Venezia 1644 (Ausst.-Kat. Genova, Palazzo Ducale 1995), hg. v. Giuliana Algeri, Mailand 1995, Nr. 22, S.  140; Mortari, Bernardo Strozzi 1995, Nr. 108, S. 106 f.; für eine leicht variante Fassung, die sich ebenfalls in Genueser Privatbesitz befindet, siehe: Mostra dei pittori genovesi a Genova nel ’600 e nel ’700 (Ausst.-Kat. Genova, Palazzo Bianco 1969), hg. v. Caterina Marcenaro, Mailand 1969, Nr. 6, S. 14 f.

Caravaggios ‚Ignudo‘ in der Pinacoteca ­Capitolina und andere Darstellungen Johannes’ des Täufers

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124 Bernardo Strozzi, Johannes der Täufer, Genua, Privatsammlung

5.3 „Vn’ ignudo di S. Gio. Battista“: Caravaggios übrige TäuferDarstellungen Das Sujet des jugendlichen Täufers in der Wüste ist das von Caravaggio mit Abstand am häufigsten verbildlichte Sujet, und war, wie bereits erwähnt, überhaupt eines der beliebtesten Themen der ersten Hälfte des Seicento. Dabei entstand der Großteil der Bilder für private Kunstsammlungen. Es gibt drei unbestritten originale Johannes-Darstellungen Caravaggios in Halb- oder Ganzfigur, bei weiteren Gemälden wird die Eigenhändigkeit kontrovers diskutiert;218 darüber hinaus sind einige Darstellungen nur dokumentarisch belegt.219 218  Ich erwähne nur das Gemälde in der Kathedrale von Toledo, für dessen Zuschreibung an Caravaggio sich Mina Gregori ausspricht (Il Sacrificio di Isacco: un inedito e considerazioni su una fase savoldesca del Caravaggio, in: Artibus et historiae, 10 [1989], Nr. 20, S. 99–142). Es handelt sich um eine simplifizierende Variation des Gemäldes in Kansas City. Die alte Zuschreibung Longhis an Bartolomeo Cavarozzi verträgt sich mit dieser Beobachtung besser. (Ich danke Marieke von Bernstorff für diesbezügliche Hinweise und Diskussionen). Zu nennen ist ferner das Gemälde in Münchner Privatbesitz (Marini, Caravaggio 2005, Nr. 111, S. 574 f.; Caravaggio. Originale und Kopien 2006, Nr. 26, S. 234–236), das mir im Original nicht bekannt ist, jedoch stark übermalt zu sein scheint. 219  Siehe die Liste von Spike, Caravaggio 2001, der unter den Nummern L35, L39, L80, L93 die Hinweise auf weitere dokumentarisch belegte Darstellungen des Täufers verzeichnet, die allerdings keine eigenhändigen Gemälde gewesen sein müssen. Hervorzuheben ist das (zerstörte) Gemälde für die Seitenwand der Fenaroli-Kapelle in S. Anna dei Lombardi in Neapel; vgl. hierzu auch Marini, Caravaggio 2005, Nr. P28, S. 582 f.

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Das etwa zwei Jahre nach dem Gemälde für Mattei entstandene, hochformatige Bild mit den Maßen 172,2  ×  132,1  cm, das heute im Nelson-Atkins Museum in Kansas City aufbewahrt wird und den Heiligen in ganzer Figur zeigt (Abb. 48), hat eine signifikante fortuna critica. Ottavio Costa gab es bei Caravaggio als Altarbild für das Oratorio di San Giovanni Battista im ligurischen Conscente in Auftrag, das von der Familie Costa gefördert wurde, weil sie dort Ländereien besaß. Offensichtlich gefiel dem Auftraggeber das Gemälde nach seiner Fertigstellung jedoch so gut, daß er es, anstatt es dem Bestimmungsort zuzuführen, in seine Sammlung integrierte und für Conscente eine Kopie anfertigen ließ220 – so leicht konnte im frühen Seicento aus einem Altarbild ein Sammlerbild werden! Es zeigt Johannes halbnackt, wobei sein Geschlecht und der linke Oberschenkel durch ein etwas überdimensioniertes rotes Tuch und ein Fell verdeckt sind. Zwar fehlen Lamm oder Widder, aber für seine Identität als Johannes spricht neben dem roten Tuch das große Kreuz, das er sich, wie uns suggeriert wird, aus zwei Schilfrohren selbst zusammengebunden hat. Das Modell, das für die Figur posierte, ist deutlich älter als der kapitolinische Knabe, und auch im Wesen sind die beiden grundverschieden: Dort sehen wir einen fröhlichen Jungen, der seinen Betrachter verhalten lächelnd und leicht provozierend fixiert, hier einen in sich gekehrten, nach unten blickenden jungen Mann mit verschatteten Augen und düster-melancholischem Wesen – ein Eindruck, der durch die dramatischen Hell-DunkelKontraste im Gemälde noch forciert wird.221 Nur kurze Zeit später entstand das Werk in der römischen Galleria Nazionale im Palazzo Corsini (Abb. 125).222 Hier hat der Johannes eine dem Knaben 220 Ca. 1604/05; Kansas City, Nelson-Atkins Museum; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 62, S. 483–485; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 21, S. 443 f.; Roger Ward, Caravaggio and His „St. John the Baptist“ for Ottavio Costa, in: Caravaggio & Tanzio. The Theme of St. John the Baptist (Ausst.-Kat. Tulsa, The Philbrook Museum of Art 1995), hg. v. Richard P. Townsend & dems., Tulsa 1995, S. 6–19, und vor allem Eliot W. Rowlands, Kansas City Art Museum. Italian Paintings, 1300–1800, Kansas City 1996, Nr. 25, S. 215–226, der die frühe Geschichte des Gemäldes rekonstruiert hat. Belegt ist das Gemälde 1639 in Costas Anwesen in der römischen Via Gregoriana als: „un quadro con l’imagine di S. Gio Batta. nel deserto fatto dall’istesso Caravaggio“. Möglich ist natürlich auch, daß das Gemälde zunächst ein paar Jahre als Altarbild im genannten Oratorium diente, dann jedoch von Costa zurückgefordert wurde und in seine Sammlung transferiert wurde, was an der Beurteilung des Vorgangs wenig ändert. Die Existenz mehrerer seicentesker Kopien könnte allerdings als Indiz dafür gewertet werden, daß es Rom nie verließ. Die Kopie für Conscente befindet sich heute im Museo Diocesano in Albenga (Abbildung ebd., S. 216, fig. 25c). 221  Ward, Caravaggio and His „St. John the Baptist“ 1995 führt das düstere Wesen des Johannes auf den Umstand zurück, daß das Bild für eine Laienbruderschaft „della Misericordia“ bestimmt war, die zum Tode Verurteilte auf ihrem letzten Gang begleitete und Pestkranke betreute. Dies ist zwar nicht auszuschließen, gegen eine zu eindeutige Ausdeutung des Bildes in diesem Sinne spricht allerdings, daß der Johannes-Corsini ähnlich düster ist. 222  94 × 131 cm; um 1605/06; Rom, Galleria Nazionale Palazzo Corsini;siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 72, S. 503; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 56, S. 517 f.; Sivigliano Alloisi, in:

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125 Caravaggio, Johannes der Täufer, Rom, Galleria Corsini

in Kansas vergleichbare Haltung. Sein Gesicht ist jedoch noch verschatteter, sein Charakter damit noch obskurer. Er ist in Halbfigur gezeigt und eigentümlich dezentriert im querformatigen Bildfeld situiert. Durch diese ungewöhnliche Positionierung einer einzelnen Figur im Querformat und durch den Umstand, daß Johannes seinen Blick auf etwas richtet, das außerhalb des Bildfelds liegt, wirkt er wie in eine Handlung eingebunden, die sich uns jedoch nicht erschließt.223 Auch ihm fehlt ein Lamm, doch verfügt dieser Täufer immerhin über eine Schale. Ein klares Indiz für seine Identität scheint mit dem Kreuz gegeben zu sein, auf das er sich mit der rechten Hand stützt. Allerdings ist es derart vom Bildrand überschnitten, daß nur einer der beiden Querbalken überhaupt zu erahnen ist. Eindeutig kein Kreuz ist der Stab, den der in Caravaggios letzten Lebensjahren entstandene „Johannes“ (Abb. 49) hält. Um den Erwerb des Bildes aus dem Nachlaß des Malers bemühte sich unmittelbar nach dessen Tod der römische Kardinal Scipione Borghese.224 Hier ist der Täufer nun wieder in ganzer Caravaggio e i Suoi. Percorsi caravaggeschi in Palazzo Barberini (Ausst.-Kat. Roma, Galleria Barberini 1999), hg. v. Claudio Strinati & Rossella Vodret, Neapel 1999, S.  142 f.; Roberta Lapucci, in: Michelangelo Merisi da Caravaggio. Come nascono i capolavori 1991, Nr. 41, S. 262–273; es läßt sich nur bis in das Jahr 1784 zurückverfolgen. Vgl. für dieses Gemälde auch Marc Fumaroli, L’école du silence: le sentiment des images au XVIIe siècle, Paris 1994, S. 243 f. 223  Vgl. Lapucci, in: Michelangelo Merisi da Caravaggio: Come nascono i capolavori 2001, S. 263: „Il modello è visto in un momento di tensione come per un improvviso richiamo“. 224  159 × 140 cm; 1609/10; Rom, Galleria Borghese; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 109, S. 569 f.; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 50, S. 501 f.; Pacelli, L’ ultimo Caravaggio 2002, S. 130– 136. Für die Beziehungen zwischen Caravaggio und Scipione Borghese siehe Maurizio Calvesi,

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126  Giuseppe Vermiglio, Johannes der Täufer, Mailand, Istituzioni Pubbliche de Assistenza e Benificenza

127  Giuseppe Vermiglio, Johannes der Täufer, Pavia, Museo della Certosa

Figur gezeigt und weitgehend nackt, seine Blöße ist jedoch verhüllt. Das Modell ist deutlich jünger als die übrigen Täufer des Malers, und es blickt wie der kapitolinische Knabe aus dem Bild heraus auf den Betrachter, allerdings ohne dabei zu lächeln. Markant sind vor allem zwei Dinge: Es handelt sich bei dem Stab des Täufers augenfällig nicht um ein Kreuz, denn es fehlt der Querbalken, und ihm ist wieder ein Widder beigegeben.225 Er sucht allerdings nicht die Nähe zum Knaben, sondern knabbert im verschatteten Hintergrund an einem Weinstrauch. Daß auch diese Figur trotz des ‚falschen‘ Tieres und bloßen Stocks als „Johannes“ rezipiert wurde, belegen neben mehreren seicentesken Benennungen – eine bereits aus dem Jahr 1613 –226 auch zwei Variationen des Gemäldes Michelangelo da Caravaggio: il suo rapporto con i Mattei e con altri collezionisti a Roma, in: Caravaggio e la collezione Mattei 1995, S. 17–28, hier 20–27. 225  Rudolph & Ostrow, Isaac Laughing 2001, S. 660 f., weisen daraufhin, daß es Lämmer mit solchen Krummhörnern gibt, wie sie das Tier im Borghese-Bild hat. Daß ein Betrachter um 1600 solche zoologischen Detailkenntnisse hatte, so daß er das Tier als Lamm rezipierte, bezweifle ich allerdings. Selbst wenn es so gewesen wäre, wäre Caravaggios Absicht der gezielten Abweichung von der visuellen Norm auch hier zu konstatieren. 226  In einem „poemetto“ in „La Galleria dell’ Illustrissimo e Reverendissimo Signor Scipione Cardinal Borghese cantata in versi da S. F.“ (publiziert 1647 in Arezzo) von Scipione Francucci als „Johannes“ bezeichnet: „Emulo a Rafaello il Caravaggio / Anzi emulo gentil della Natura / Sopra d’un masso, e sott’un ampio faggio / Giovinetto il Battista anco figura / […] / Ha piuttosto gentil che scarno il volto / E più che magre ancor gracili membre […]“ (canto IV, Verse

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von der Hand Giuseppe Vermiglios in Mailand227 und Pavia (Abb. 126 und 127).228 Wie wir es bei den Kopien und Variationen nach dem „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina gesehen haben, ‚verbessert‘ auch Vermiglio die problematischen Stellen des Bildes, transformiert also den Widder in ein Lamm und verlängert den Hirtenstab zu einem Kreuz mit Banderole. In dem großformatigen Gemälde in der Certosa di Pavia, das vermutlich als Altarbild fungierte, weist der über einen Nimbus verfügende und angemessen verhüllte Heilige sogar ostentativ auf dieses Kreuz hin. Nicht in die Bilderreihe posierender Knaben mit und ohne Widder – Lämmer gibt es in Caravaggios Johannes-Darstellungen ebenso wie Nimben nie – 229 fügt sich der „Trinkende Johannes“ im Brustausschnitt (Abb. 128). Bei diesem Sujet handelt es sich um eine ikonographische Neuerfindung, die offensichtlich Caravaggio zuzuschreiben ist und in zwei Bildfassungen in Malteser und römischem Privatbesitz überliefert ist; welche davon eigenhändig ist, ist unklar.230 Die hinter einem Felsvorsprung stehende noch sehr kindliche Figur beugt sich derart über den Stein zu einer Wasserquelle, daß nur ihr nackter Oberkörper zu erkennen ist. Erst bei nahsichtiger Betrachtung des Gemäldes wird auf dem Rücken des Jungen ein Fell erkennbar, das ihm von der Schulter 266–268), zit. nach Marini, Caravaggio 2005, S. 569. 1657 beschreibt es Francesco Scannelli, Il microcosmo 1657, S. 198 f., im Palazzo Borghese: „[…] nel Palazzo de’ Borghesi […] & vn’ ignudo di S. Gio. Battista, […]“. 227  136 × 105 cm; Mailand, Istituzioni Pubbliche di Assistenza e Beneficenza; siehe G ­ iuseppe Vermiglio 2000, Nr. 5, S.  20; vgl. auch Federico Cavalieri, Giuseppe Vermiglio e il San ­Giovanni Borghese di Caravaggio, in: Nuovi studi. Rivista d’arte antica e moderna 2 (1997), Nr. 3, S. ­53–57. Vermiglio korrigiert auch die auffälligen Deformationen der Figur an den Beinen und dem linken Arm. 228  168 × 132 cm; Pavia, Museo della Certosa; siehe Vermiglio 2000, Nr. 21, S. 122 f. 229  Ich folge dem überwiegenden Teil der Forschung, die das Gemälde in der Kathedrale von Toledo nicht für ein Werk Caravaggios hält (siehe oben, Anm. 217). 230  Bei dem Gemälde in der Sammlung Bonello in Valletta handelt es sich um ein Hochformat mit den Maßen 100 × 73 cm; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 94, S. 544 f.; bei dem Gemälde in einer römischen Privatsammlung um ein wesentlich kleineres Querformat (45,5 × 65,5 cm); siehe Mina Gregori, in: Caravaggio. L’ultimo tempo 2004, Nr. 21, S. 153 f. und Mina Gregori, Il „San Giovannino alla sorgente“ del Caravaggio, in: Paragone 44 (1993), S. 3–20. Von der römischen Fassung gibt es zwei Kopien, darüber hinaus eine derivate Bildfassung in einer Privatsammlung (127 × 95 cm) mit einem Johannes in ganzer Figur und einem Lamm (siehe Caravaggio. L’ultimo tempo 2004, Nr. 24, S. 160–162). Auch wenn dieses Gemälde mit Sicherheit nicht als original gelten kann, ist es angesichts der Tatsache, daß das Sujet in dieser Form mehrfach von jüngeren Malern aufgegriffen wurde (siehe die Zusammenstellung in Gregori, Il „San Giovannino alla sorgente 1993, Abb. 20–24), durchaus möglich, daß es auf ein weiteres Original Caravaggios zurückgeht, oder aber, daß die beiden Darstellungen, welche die Figur in einem kleineren Bildausschnitt zeigen, von diesem postulierten Gemälde abzuleiten wären. Für eine ausführliche und gut illustrierte Diskussion der Fassungen und des möglichen Proto­ typs siehe Julian Kliemann, L’ Amore al fonte di Cecco del Caravaggio e l’ultimo ­quadro del Merisi: omaggio al maestro o pittura ambigua?, in: Caravaggio e il suo ambiente 2007, S. 181– 215, hier S. 187–192, zur Deutung ebd., passim.

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128 Caravaggio, Trinkender Johannes der Täufer, Valletta (Malta), Sammlung Bonello

129  Giuseppe Vermiglio, Trinkender Johannes der Täufer, London, The National Gallery

gerutscht zu sein scheint. Der Knabe stützt sich auf ein ‚Kreuz‘, das durch das Ineinanderstecken eines halben röhrenförmigen Querstabs in einen Bambusstab wieder selbstgefertigt zu sein scheint und sowohl ein Kreuz als auch einen Hirtenstab assoziieren läßt. Auch dieses Detail wurde in einem Gemälde in der National Gallery in London (Abb. 129), das möglicherweise wiederum Giuseppe Vermiglio zuzuschreiben ist, ‚korrigiert‘: Der Maler gibt dem Jungen ein als solches auf den ersten Blick erkennbares Kreuz in die Hand, das derart im Bildfeld positioniert ist, daß es uns sofort ins Auge fällt. Auch dem mit der Ikonographie des trinkenden Johannes noch nicht vertrauten Betrachter dürfte so die Identität der Figur auf den ersten Blick deutlich geworden sein.231 Daß angesichts Caravaggios stark genrehafter Darstellung des trinkenden Täufers die Sujeterfindung also solche kritisiert wurde, verwundert nicht: Der spanische Theo-

231  77,8 × 62,3 cm; London, National Gallery; siehe Gianni Papi, Brevi note al Vermiglio caravaggesco, in: Paragone 51 (2000), Nr. 29, S. 26–37, hier 33 f., mit Zuschreibung an Giuseppe Vermiglio. Ihr hat sich der Bestandskatalog der National Gallery von 2001 nicht angeschlossen; dort heißt es: „mid-seventeenth century, probably in Rome“ (Christopher Baker & Tom Henry, The National Gallery. Complete Illustrated Catalogue with a Supplement of New Acquisitions and Loans 1995–2000, London 2001, S. 332).

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retiker Francisco Pacheco wird sie in den vierziger Jahren des Seicento als­ „­licensiosamente“, und damit als unangemessen verurteilen.232

5.4 Bedeutungsspiele: Ambiguität und der diletto des Betrachters Was für Schlüsse lassen sich nun aus dieser Bildersequenz ziehen? Sie zeigt meines Erachtens in wünschenswerter Deutlichkeit, daß der kapitolinische Junge (Abb. 1) ihr zuzuordnen ist, daß seine konstitutiven Merkmale, nämlich die Ambiguität und die semantische Offenheit, über die alle Darstellungen in verschiedenen Graden verfügen, in ihm lediglich forciert sind. Das, was einigen modernen und – wie die variierenden Kopien der Bilder zeigen – auch bereits einigen Zeitgenossen zum Problem geworden ist – nämlich das Oszillieren des Gemäldes zwischen einem religiösen und einem profanen Sujet – war von Caravaggio beabsichtigt, denn er minimiert in ihm und in den weiteren Johannes-Darstellungen die Attribute in sehr kalkulierter Weise. So würde der Stab des Täufers in der Galleria Corsini (Abb. 125) in einem anderen Kontext niemals als Kreuz gelesen werden, hier tut es der Betrachter seiner Sehgewohnheiten und Erwartungshaltung wegen jedoch unwillkürlich. Entsprechendes gilt für die kalkuliert verschatteten und rohen Stäbe der Johannes­figuren in Kansas und in der Darstellung des trinkenden Johannes (Abb. 48 und 128). Und bezeichnenderweise erkennen manche Betrachter wie der Verfasser des Inventars der Sammlung del Monte im kapitolinischen Gemälde auch ein Lamm, also ein ‚falsches‘, und damit letztlich ‚richtiges‘ Tier.233 Alle Darstellungen verlangen ein ikonographisches Vorwissen eines entsprechend gebildeten Rezipienten, um überhaupt identifiziert werden zu können, gleichzeitig zielen sie aber darauf, ihm die gegebenen Informationen wieder zu entziehen, da sie mit der Uneindeutigkeit ebenso wie mit den erotisch-lasziven Konnotationen der Figuren spielen. Caravaggio zeigt uns einmal einen rätselhaft düsteren, ein andermal einen verschmitzt lächelnden ragazzo, in maximaler Präsenz und Sinnlichkeit, der ein ‚Dazwischen‘ verkörpert – nicht mehr Kind und noch nicht Mann –, der weder sitzt noch liegt und der das falsche Tier umarmt. Für wen man ihn hält, ob für einen entkleideten Johannes oder einen „verkleideten“ Knaben, liegt letztlich im Ermessen der Betrachter, denn das Bild umspielt ikonographische Muster und erweckt ganz gezielt die Assozia232  Er fordert in seinem Traktat von 1649, der Täufer sei als exemplum für Abstinenz entweder im Zustand der Meditation oder betend darzustellen, nicht „comiendo, no descompuesto, no bebiendo de un peñasco tendido de pechos, como lo pintó, alguni licensiosamente“, „nicht bäuchlings hingestreckt aus einem Felsen trinkend“ (Francisco Pacheco, Arte de la pintura, hg. & komm. v. Bonaventura Bassegoda i Hugas, Madrid 1990); vgl. Gregori, Il „San Giovannino alla sorgente 1993, S. 13 f. Ein Beispiel vermag die Semantik von „licensiosamente“ im Spanischen zu veranschaulichen: eine „mujer licenciosa“ ist eine Prostituierte. 233  Siehe oben, Anm. 207; auch Bellori (Anm. 210).

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tion an andere Figuren: an einen Hirten, eine Isaak-Figur oder, wie von Marc Fumaroli vorgeschlagen, an einen Bacchus.234 Wie der Knabe mit seinem Tier spielt, ‚spielt‘ er auch mit seiner Identität und dem Symbolgehalt der verschiedenen Attribute. Wer dies beabsichtigt, kann das Bild durchaus ‚religiös retten‘ und mit Herwarth Röttgen in dem Widder einen Verweis auf den Opfertod Christi sehen, mit Maurizio Calvesi235 eine Allegorie der göttlichen Liebe, mit Irving Lavin eine Aufforderung an den Betrachter zur Reue236 oder mit Bert Treffers „un invito a vita salvifica e positiva“, „eine Einladung zu einem heilbringenden und positiven Leben“, die den „fervore devozionale“, „den frommen Eifer“ anregt und das Feuer der Liebe entzündet.237 Wer von seinen ersten Betrachtern und zu 234  Fumaroli, L’école du silence 1994, S. 244 (zunächst mit Bezug auf das Gemälde in der Galleria Borghese): „Cette quasi photographie sans retouches d’une composition d’atelier pourrait aussi bien figurer un Bacchus qu’un Baptiste. Mais un Bacchus privé de joie et à plus forte raison d’ivresse. Le même malaise se retrouve dans le fameux Baptiste-Bacchus de la Galerie nationale à Rome, prenant la pose de la joie avec un bélier. Au spectateur d’interpréter. Cette ambiguïté provocante prévient toute velléité de confondre ce que l’on voit sur la toile avec l’ ‘être’ de saint Jean-Baptiste.“ 235  Für die Deutungen von Röttgen und Calvesi siehe oben, S. 175 und Anm. 188. 236 Irving Lavin, Caravaggio Revolutionary or the Impossibility of Seeing, in: Opere e ­giorni. Studi su mille anni di arte europea dedicati a Max Seidel, hg. v. Klaus Bergdolt & ­Giorgio Bonsanti, Venedig 2001, S. 625–644, bes. 625–631, hier 628: „The substitution of the he-sheep, symbol of lust, for the lamb, symbol of innocence, is a provocative as the figure of John himself, and it has a specific connotation: John the herald of repentance, embraces sin, and the animal responds, literally, in kind. The love that unites our lascivious St. John and the animal of carnality can be understood only in the sense of admonition to penitence.“ Vgl. die erhellende Passage von Alfred Moir, Caravaggio 1982, S. 114: „La difficoltà risiede nel fatto che questo giovane non è accettabile come figura cristiana. Non è androgino, come il Bacco […], ma è altrettanto provocatorio e perfino più palesemente erotico. E basta immaginare di sostituire l’ariete con un vecchio lascivo, per rendersi conto della potenziale indecenza del dipinto. […] Recentemente alcuni studiosi hanno compiuto ricerche nella letteratura del sedicesimo secolo cercando di trovare il mezzo di espurgare l’immagine traducendo l’ariete in un simbolo – della croce o del divino amore – e lo stesso potrebbe aver fatto il Cardinal del Monte. Ma l’ariete può anche simbolizzare la lascività, e la curiosa posizione del ragazzo, chinato in avanti, con le gambe divaricate come Leda che aspetta le attenzioni del suo cigno, l’espressione del viso discretamente velato nell’ombra ma con un’espressione canzonatoria, la luce che gli accarezza così amorosamente il corpo – per non parlare del pennello dell’artista – tutto è contro la decenza. E nonostante sia stato accettato come San Giovanni, egli non è che un monello pagano, non toccato dal sentimento religioso.“ 237  Treffers, Caravaggio nel sangue 2000, passim, hier besonders S. 28 und 103. Dabei räumt Treffers durchaus ein, daß man das Gemälde auch anders lesen kann (S. 21: „La nudità poteva essere sì letta come l’invito ad accoppiarsi in un abbraccio sibariticamente soddisfacente […]“), er unterscheidet jedoch scharf diese ‚falsche‘ Lesart von der postulierten ‚richtigen‘: „La sua immagine potremmo leggerla, per non dire usarla, in almeno due modi: nel modo sbagliato, malefico, impudico, lascivo, e nel modo corretto, giusto, cioè come invito a una vita salvifica e positiva.“ Treffers Lektüre des Gemäldes (und aller weiteren Täufer-Darstellungen Caravaggios) beruht auf der Interpretation der Figur des Täufers in Predigt- und Meditationsschriften, die oft einen mystischen Hintergrund haben, wie etwa die Schriften von Aelredo di

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welcher Gelegenheit welche Lektüre des Bildes favorisierte, läßt sich aus der historischen Distanz schwer entscheiden. Auch eine divergierende Rezeption entsprechend verschiedener Gelegenheiten, wie ich sie oben bereits mit Bezug auf die lasziven Magdalena- und Sebastians-Gemälde postuliert habe, ist vorstellbar. Letztlich sind wir als Betrachter aufgefordert zu bestimmen, wo die Grenze dessen liegt, was wir als Johannes-Darstellung akzeptieren können und ab wann für uns aus dem Täufer in der Wüste ein Hirte, und damit eine profane Figur wird – oder ob er schlicht ein „giovine(tto) nudo“ bleibt.238 Die Rezeptionszeugnisse, die darauf hinweisen, daß die Identifikation gelegentlich mißlang – oder nicht gelingen wollte –, sprechen unter diesem Vorzeichen eine ebenso deutliche Sprache wie die Variationen des Gemäldes in den Kapitolinischen Museen, die dessen provokantes Potential nivellieren. Was Caravaggio also durch ein quasi haarscharfes Entlanggleiten an der Grenze des ‚Möglichen‘ und ‚Machbaren‘ auslotet, ist die Benennbarkeit als solche. Er fokussiert den Prozeß der Semantisierung, die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem, und vor allem ihr potentielles Auseinanderbrechen. Dies nachzuvollziehen, und damit aktiv sinnstiftend tätig zu werden – darin dürfte auch für die Betrachter um 1600 der besondere Reiz des Bildes im Sinne des diletto intellettuale gelegen haben.239 Die Offenheit und Ambiguität des Knaben im Kapitol bilden einen maximalen Kontrast zur Präsenz, Intensität und (homo-)erotischen Ausstrahlung des scharf beleuchteten und in seiner plastischen Wirkung immens attraktiven ­ ievaulx aus dem 12. Jahrhundert. Auch wenn Treffers dabei auf bestimmte Elemente der BilR der Bezug nimmt (wie das Lächeln der Figur oder das Motiv des Trinkens), negiert er doch die spezifische Gestaltungsweise der Gemälde, und erst recht ihren spezifischen Rezeptionskontext. Und entsprechend schreibt er ebd.: „Proprio l’immagine di quel Santo eccezionale aiuta a non desistere. Dobbiamo tenerlo sempre nel nostro cuore. Ogni dipinto, ogni immagine materiale e mentale, può aiutare a non smarrire la strada e a non dimenticare lo scopo della nostra vita“ (Hervorh. V.v.R.). Eine solche Vorgehensweise, die ich in methodischer Hinsicht für problematisch halte, hat ihre Logik in sich, und bezeichnenderweise liest Treffers in den Bildern – Duktus und Zielrichtung der von ihm herangezogenen Predigten und Exegesen entsprechend – Aufforderungen und sogar Prüfungen ihrer gläubigen Betrachter: „La nudità era una prova tangibile di uno stato di perfezione, spirituale, un segno biblico, pauperistico, francescano.“ (S. 21), oder: „Ignorare o, peggio, rifiutare questa lezione [!], far finta di non capirla, poteva avere conseguenze devastanti per l’anima. Il corpo del giovane Santo, la sua carne, magari ­dolce, tenera, era prima di tutto un vaso pieno di spirito. E quel suo spirito doveva riempire anche il nostro vaso, il nostro corpo. Tutti coloro che guardavano il dipinto di Caravaggio ­dovevano annegarsi nell’io del Santo per non oscurarsi mai più. Se il Giovanni dipinto iniziasse a parlare esaudirebbe anche la preghiera di Marchant: lasciaci sentire la tua voce […]“ (S. 36 f.). 238  Siehe Anm. 207 und 210. 239 Für die Aufspaltung der diletto-Kategorie in diletto dei sensi und diletto ­intellettuale durch Sperone Speroni siehe meinen Aufsatz: Verf.in, „Diletto dei sensi“ und „diletto dell’intelletto“. Bellinis und Tizians „Bacchanalien“ für Alfonso d’Este in ihrem Rezeptionskontext, in: Städel-­Jahrbuch 18 (2001), S. 81–112.

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Jungenkörpers: „non potria dimmostrare più vera carne quando fosse viuo“, „man könnte kein wahrhaftigeres Fleisch darstellen, wenn es lebendig wäre“240 bringt Francesco Scannelli die Wirkung des Knaben, dessen Inkarnat und Fell haptische Qualitäten haben und dessen Lächeln als verschmitzt auffordernd gelesen werden kann, auf den Punkt. Die Elemente sind in ihrer Zielrichtung eindeutig. Sie bergen einen virtuellen Appell an den Tastsinn, denn die Kategorie des rilievo war im Kunstgespräch der Zeit mit dem Tastsinn (tatto) verknüpft.241 Damit zielen sie auf die Berührung und das Besitzen-Wollen des Knaben und stehen in kalkuliertem Kontrast zu seiner metaphorischen ‚Ungreifbarkeit‘ auf der Ebene der Semantik. Möglich war eine solche Darstellung wohl nur innerhalb eines Rezipientenkreises, der genau diese Qualitäten des Bildes schätzte und der am Prozeß des Deutens wie am Merkmal des Uneindeutigen und Lasziven sinnliches wie intellektuelles Vergnügen fand. Damit ist die Voraussetzung und Bedingung für ambige und erotische Werke der spezifische Rezeptionskontext einer Kunstsammlung. In ihm ist das Prinzip der varietas gerade auch in Verknüpfung mit dem diletto, der Sinnenfreude,242 ebenso bestimmend wie der Paragone, der Bildervergleich und Wettbewerb. Denn es ist ja anzunehmen, daß die verschiedenen römischen Sammler ihre Johannes-Darstellungen wechselseitig kannten und miteinander verglichen. Das semantische Oszillieren ist zu verstehen als eine Form des frühneuzeitlichen Konzepts des ‚Spielernsts‘, des „serio ludere“,243 als ein Spiel um Bilder, die ihre Bedeutungen generieren und verhüllen und sicherlich nicht zuletzt auch als ein Spiel um den ‚Besitz‘ von attraktiven Jungen.

5.5 Hirten- oder Kreuzstäbe? Die Johannes-Darstellungen der ‚Caravaggisten‘ Es gibt einige Indizien dafür, daß das Bild in der Pinacoteca Capitolina positiv aufgenommen wurde. Caravaggio konnte offensichtlich genau einschätzen, was in welchem Rezeptionskontext und für welche Auftraggeber möglich war. Mit Sicherheit gefiel es seinem ersten Betrachter, dem Marchese Ciriaco Mattei, der den Maler wahrscheinlich sogar mit einer finanziellen Sonderaufwendung

240  Scannelli, Il microcosmo 1657, S. 199. 241  Vgl. zu diesem Aspekt sowie allgemein zum Konzept der Wirkungsabsicht durch Lebens­

ähnlichkeit meinen Aufsatz: Verf.in, Die Enargeia 2000, S. 171–208, bes. 185. 242  Für den Zusammenhang von diletto und varietas siehe Verf.in, „Diletto dei sensi“ 2001, S. 81–112, bes. 91 f. 243  Zu diesem Konzept siehe unten Anm. 409.

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130  Giovanni Antonio Spadarino, Johannes der Täufer, Privatsammlung

131 Bartolomeo Manfredi, Johannes der Täufer, Mailand, Collezione Koelliker

„gratis e amore“ entlohnte.244 Es gefiel ebenfalls einem uns unbekannten Sammler, den Caravaggio mit einer Replik bedachte.245 Und auch zahlreiche ‚Caravaggisten‘ und andere Maler der ersten Jahrzehnte des Seicento nahmen das Konzept des Gemäldes auf und entwickelten es spielerisch weiter. Sie begnügten sich also mitnichten damit, Caravaggios unkonventionelle Gemälde zu imitieren, dabei aber ihres provokanten Potentials zu berauben, wie ein gängiges Vorurteil der Forschung über die Maler der Nachfolge Caravaggios lautet. Caravaggios Bildidee der kalkulierten Überschneidung des Kreuzstabes durch den Bildrand, der sich folglich als einfacher Hirtenstab lesen läßt, nehmen mehrere Maler auf; so Giovanni Antonio Spadarino in seiner seitenverkehrten Variation des Corsini-Gemäldes (Abb. 130),246 in dem der Stab nun durch den oberen Bildrand fragmentiert wird, weiterhin Bartolomeo Manfredi in seinem stehenden, an einen Felsen gelehnten „Johannes“, der aus einer Quelle Wasser 244  Dies trifft zu, wenn die Verbuchung von 25 scudi an Caravaggio am 5.12.1602 „p(er) tanti prestati(g)li gratis e amore dico 25 sc(udi) 25“ (zit. nach Schröter, Caravaggio und die Gemälde­sammlung 1995, S. 68) tatsächlich auf dieses Gemälde zu beziehen ist, was naheliegt, da die Bezahlungen der anderen beiden Gemälde Caravaggios im Besitz Matteis ein ganzes Jahr früher bzw. später erfolgten. 245  132 × 98,5 cm; Rom, Galleria Doria Pamphilj; vgl. Marini, Caravaggio 2005, Nr. Q-58, S.  577 f.; Caravaggio. Originale und Kopien 2006, Nr. 21, S.  230 f.; sie gelangte 1644 in die Sammlung von Camillo Pamphilj. 246  78 × 113; um 1610; Privatsammlung; vgl. Gianni Papi, Spadarino 2003, Nr. 3, S. 115 f.; Taf. XIV und XV.

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132  Battistello Caracciolo, Johannes der Täufer, ehem. Neapel, S. Maria della Scorziata

133  Battistello Caracciolo, Johannes der Täufer, London, Privatsammlung

schöpft und dessen Stab diagonal im Gemälde verläuft (Abb. 131),247 und schließlich Battistello Caracciolo in zwei hochformatigen Darstellungen. In dem Altarbild für S. Maria della Scorziata in Neapel (Abb. 132)248 ist der Stab ähnlich wie in Manfredis Werk diagonal im Bildfeld angeordnet, im Gemälde einer Londoner Privatsammlung249 könnte er seines gespaltenen Endes wegen einen Querbalken getragen haben oder noch aufnehmen (Abb. 133). Gerade mit Bezug auf die umfangreiche Produktion von Johannes-Darstellungen durch die neapolitanischen ‚Caravaggisten‘ ist es bedauerlich, daß Caravaggios Gemälde für die dortige Kirche S. Anna dei Lombardi nicht überliefert ist. Auch der Umgang des Täufers mit dem Tier, das gelegentlich vom Lamm zum ausgewachsenen Schaf mutiert, ist variabel: So zieht Theodor Rombouts’ leicht süffisant herabblickender Junge in Saratow, der über keinerlei Kreuz, Schale oder Zeigegestus verfügt, ein auffällig großes Tier auf seinen Schoß 247  137 × 96,5 cm; Mailand, Sammlung Koelliker; siehe Darkness & Light 2003, Nr. 36, S. 150; Hartje, Manfredi 2004, Nr. A16, S. 347–349; Morselli, Bartolomeo Manfredi 1993, S. 30 f. 248  150 × 118 cm; ehem. Neapel, S. Maria della Scorziata (gestohlen); siehe Causa, Caracciolo 2000, Nr. A20, S. 179, fig. 181; Pacelli, L’ultimo Caravaggio 2002, S. 136–139, geht davon aus, daß es sich um eine Kopie nach einem verlorenen Gemälde von Caravaggio handelt. 249 152,5  ×  125  cm; um 1618; London, Privatsammlung; siehe Causa, Caracciolo 2000, Nr. A55, S. 188, fig. 236.

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134  Theodor Rombouts, Johannes der Täufer, ­Saratow, Radistschew Kunstmuseum

135  Jusepe de Ribera (Werkstatt), Johannes der Täufer, Amiens, Musée de Picardie

136 Salvator Rosa, Johannes der Täufer, Rom, Galleria Colonna

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137 Battistello Caracciolo, Johannes der Täufer mit Schaf, verschollen

(Abb.  134).250 Lieblicher sind die gelockten Johannesknaben von Giuseppe Ribera und seinem Umkreis, in denen das Tier am Täufer hochspringt, offenbar um mit seinem Maul den Mund des Täufers zu berühren, oder wie ein Säugling im Arm gewogen wird (Abb. 135).251 Und schließlich ist es die Nacktheit des Täufers, die einige Maler in der Nachfolge Caravaggios zu Varia­tionen reizte: In Salvator Rosas deutlich gealtertem „Johannes“ mit Bauchansatz wird lediglich das Geschlecht durch das artifizielle Arrangement des Tuchs unseren Blicken entzogen (Abb. 136).252 Ganz anders präsentiert sich Caracciolos 250  123  ×  100  cm (mit Anstückungen); Saratow, Radistschew-Kunstmuseum; siehe Vsevolozhskaya, Caravaggio und seine Nachfolger 1993, Nr. 178; eine gute Zusammenfassung der bekannten Daten über Rombouts’ Italien-Aufenthalt in den frühen zwanziger Jahren des Seicento gibt Gianni Papi, Sul soggiorno fiorentino di Theodor Rombouts, in: Paragone 49 (1998), S. 26–38. 251  Für das originale Gemälde von Ribera, das sich in einer Privatsammlung in Barcelona befindet (205 × 155 cm; sign. und dat. auf das Jahr 1638): siehe Nicola Spinoza, Ribera, N ­ eapel 2003, A215, S.  315; Ribera: 1591–1652, hg. v. Alfonso E. Pérez Sánchez & Nicola Spinosa, Madrid 1992, Nr. 89, S.  328 f.; für das Bild aus Riberas Umkreis im Museum von A ­ miens (126,8  ×  97,9  cm; um 1630), siehe Matthieu Pinette, Couleurs d’Italie, couleur du Nord. ­Peintures étrangères des musées d’Amiens, Paris 2001, S. 70. 252  243 × 160 cm; Rom, Galleria Colonna; siehe Luigi Salerno, L’opera completa di Salvator Rosa, Mailand 1975, Nr. 13, S. 85. Er vermutet, es handele sich um ein Frühwerk; es könnte also bei Rosas erstem Aufenthalt in Rom ab 1635 entstanden sein; vgl. auch Catalogo sommario della Galleria Colonna in Roma. Bd. 1 Dipinti, hg. v. Eduard A. Safarik, Varese 1981, Nr. 62, S. 116.

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138  Battistello Caracciolo, Johannes der Täufer, Mailand, ehem. Sammlung De Vito

139  Giovanni Antonio Spadarino, Johannes der Täufer, Rom, Chiesa Nuova, Stanza di Filippo Neri

liegender „fanciullo“ mit Schaf (sic!; Abb. 137).253 Für ihn gilt, was auch für das Brustbild eines lieblichen Johannes desselben Malers in der Fondazione De Vito (Abb. 138)254 und für ein weiteres Gemälde von der Hand Spadarinos in der Stanza di S. Filippo Neri in Rom, das den Täufer mit freiem Oberkörper, gefalteten Händen und kalkuliert vom Bildrand überschnittenen (Kreuz-)Stab zeigt (Abb. 139), zu konstatieren ist:255 Ohne die Kenntnis ikonographisch ‚vollständigerer‘ Darstellungen desselben Sujets ist es für uns wie auch für die zeitgenössischen Betrachter kaum möglich (gewesen), die Jungen zweifelsfrei als Johannesfiguren zu identifizieren. Erst das Wissen um ein in der Nachfolge Caravaggios beliebtes Vorgehen, signifikante Attribute zu minimieren oder zu 253  Siehe Causa, Caracciolo 2000, Nr. A37, S. 184, fig. 212 (ohne irgendwelche Angaben, der Aufbewahrungsort des Gemäldes ist leider unbekannt). 254  62,5 × 50 cm; Vaglia, Fondazione de Vito; siehe Dopo Caravaggio. Il Seicento napoletano nelle collezioni di palazzo Pretorio e della Fondazione de Vito, hg. v. Nadia Bastogi & Rita Iacopino, Prato 2019, S. 106-109 (Nadia Bastogi); Causa, Caracciolo 2000, Nr. A101, S. 201, fig. 304, mit Datierung um 1622 oder Anfang der dreißiger Jahre; Battistello Caracciolo 1991, hg. v. Ferdinando Bologna, Neapel 1991, Nr. 1.23, S. 235 (1620–22). 255  75 × 45 cm; Rom, Santa Maria in Vallicella, Stanze di Filippo Neri, vgl. Papi, Spadarino 2003, Nr. 28, S. 148.

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140  Anonymer französischer (?) „Caravaggist“, ­Johannes der Täufer, Paris, Musée du Louvre

141  Cecco del Caravaggio, Trinkender Johannes der Täufer, Venedig, Collezione Pizzi

eliminieren, macht dies letztlich möglich. Insbesondere die zuletzt angeführten Gemälde machen deutlich, daß der Reiz für die Betrachter der Werke in der Wahrnehmung der Differenz zu konventionellen Darstellungen und dem hierdurch verlängerten und aufgeladenen Vorgang der Wahrnehmung bestanden haben muß. Auf seiten der Künstler lag er darin, den Bezeichnungswert der Bilder derart zu minimieren, daß sie zwischen profanen und religiösen Darstellungen oszillieren und einen gewissen Genrecharakter erhalten. In diesem Zusammenhang ist noch auf eine vierte Variation des kapitolinischen „Johannes“ hinzuweisen, und zwar auf ein anonymes, möglicherweise von einem französischen ‚Caravaggisten‘ stammendes Gemälde im Louvre (Abb.  140).256 Zwar verhüllt auch dieser Maler das Geschlecht des Knaben, allerdings spielt der Täufer noch immer – wenn auch weitaus weniger lasziv – 256  148  ×  114  cm; Paris, Musée du Louvre; siehe Nicolson, Caravaggism in Europe 1990, Bd. 2, Nr. 21 („after Caravaggio“); inv. 174. Nach Zuschreibungen an Carlo Bononi, Carlo Saraceni und Guido Cagnacci wird es im Louvre jetzt als Werk Bartolomeo Manfredis geführt (Loire, École italienne 2006, S. 209–212), was Hartje im Werkverzeichnis nicht übernommen hat (Hartje, Manfredi 2004). Die Tatsache, daß zwei Kopien des Gemäldes in Frankreich belegt sind (im Musée des Beaux-Arts in Rouen und in der Kirche von Marly-le-Roy) sprechen für einen frühen Aufbewahrungsort dort und für einen französischen ‚Caravaggisten‘ als Urheber.

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142  Cecco del Caravaggio, Amor, Rom, Privatsammlung

mit dem Tier. Der einmal mehr überschnittene Stab ohne Banderole und der Austausch des ikonographisch tradierten roten Tuchs durch ein blaues erzeugt die Ambiguität des Bildes, das hier nun eine deutlich pastorale Note hat. Die Assoziation der Figur an einen Hirten ist in ihm wohl noch mehr als in Caravaggios Darstellung beabsichtigt. Abschließen möchte ich diese Übersicht, die lediglich einen Bruchteil der relevanten Bildproduktion dokumentiert, mit einem Gemälde eines trinkenden Johannes, das die Ambiguität in extremer Weise pointiert: Trüge der splitternackte „Johannes“ der Sammlung Pizzi (Abb. 141),257 dem die übergroße Modellabhängigkeit nicht unbedingt zum Vorteil gereicht, keinen Nimbus – niemand würde diesen vollständig entkleideten, dunkelgelockten Mann, der sich über eine Quelle beugt und kein einziges der gängigen Attribute bei sich hat, als Johannes identifizieren, abgesehen von demjenigen, der Caravaggios Gemälde mit dem Täufer an der Quelle kannte. Für einen solchen Betrachter ist die Darstellung bestimmt, denn es ist gerade die Relation zu diesem Gemälde, durch die dem Wahrnehmungsvorgang ein überraschendes semanti257  80 × 55 cm; Venedig, Sammlung Pier Luigi Pizzi; vgl. Papi, Cecco 2001, Nr. 9, S. 123 f.; La Collezione Pizzi. Una Quadreria del Seicento, (Ausst.-Kat. Parma, Fondazione Cassa di Risparmio di Parma 1998), hg. v. Giovanni Godi u. a., Parma 1998, Nr. 6, S. 38 (noch mit der auf J-P. Cuzin zurückgehenden Zuschreibung an Valentin de Boulogne). Wie so häufig bei den Werken der ‚Caravaggisten‘ haben wir keine Kenntnis über den Auftraggeber oder die frühen Besitzer des Bildes.

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sches Surplus erwächst. Daß der Maler des Werks die nahezu identische Figur für die eines Amor verwendet – nun mit überdimensionierten dunklen Flügeln statt eines Nimbus (Abb. 142) –,258 ist nur das eine Kuriosum; das andere ergibt sich aus seiner Identität. Denn der Schöpfer des Bildes war Francesco Boneri, der sogenannte Cecco del Caravaggio, der Caravaggio höchstwahrscheinlich Modell nicht nur für den „Amor“ von Vincenzo Giustiniani (Abb. 14), sondern auch für den „Johannes“ von Ciriaco Mattei (Abb. 1) gestanden hatte.259

5.6 Voraussetzungen der Ambiguität: Leonardos „Johannes-Bacchus“ in seinem Kontext Die Frage, die sich angesichts dieser vielfältigen Variationen auf die Figur durch Caravaggio und die ‚Caravaggisten‘ stellt, lautet: Warum war das Thema des Täufers in der Wüste überhaupt so erfolgreich? Ein Grund dafür dürfte sein, daß das Sujet den Malern große Gestaltungsmöglichkeiten bot, gerade weil es keine präzise Referenz in den Evangelien oder Legenden hat. In ihnen heißt es lediglich in lapidarer Kürze: „Der Knabe aber wuchs heran, wurde stark im Geist und lebte in der Wüste bis zum Tag seines Auftretens vor Israel“ (Lk 1, 80). Sein Aufenthalt in der Wüste wird weder näher beschrieben noch in der Vita des Täufers genauer präzisiert, was zu den großen Unterschieden in den Verbildlichungen bezüglich seines Alters geführt haben wird. Wenngleich die Einsamkeit des Knaben natürlich ‚Wüste‘ und ‚Ödnis‘ indizieren soll, so deutet doch in den gesehenen Werken nichts an Johannes’ Äußerem auf Askese, Entbehrung und Zurückgezogenheit oder gar auf den späteren großen Bußprediger hin, wie wir ihn etwa aus einem Gemälde von Jacopo Bassano kennen,260 in dem der Täufer über einen zotteligen Fell­umhang oder einen Kamelhaarrock und langes wirres Haar verfügt. Im Gegenteil: Wir sehen durchgängig einen meist muskulösen, durchaus gepflegt wirkenden Knaben in heranwachsendem Alter, der ein ebenso wohlgenährtes Tier bei sich hat.261 Offensichtlich bot gerade die geringe Textrefe258  119  ×  170  cm; Privatsammlung; siehe Papi, Cecco 2001, Nr. 17, S.  135–137; Herwarth Röttgen, Caravaggio. Der irdische Amor oder der Sieg der fleischlichen Liebe, Frankfurt a. M. ­ liemann, 1992, S. 55 f.; Krüger, Schleier 2001, S. 245 f., sowie jüngst die profunde Analyse von K L’ Amore al fonte 2007, S. 181–215. 259  Siehe hierzu den Abschnitt 5.7. dieses Kapitels. 260  114 × 151 cm; 1558; Bassano del Grappa, Museo Civico; ehem. S. Francesco in ­Bassano; siehe Jacopo Bassano c. 1510–1592 (Ausst.-Kat. Bassano del Grappa, Museo Civico/Fort Worth, Kimbell Art Museum 1992/93), hg. v. Beverly Louise Brown & Paola Marini, Bologna 1992, Nr. 29, S. 81 f. 261  Das Problem wird in der ikonographischen Literatur m. W. nicht berührt, und es werden auch nur vereinzelte Bildbeispiele abgebildet; so fehlt etwa bei Masseron, Saint Jean Baptiste 1957, ein entsprechendes Kapitel. Bei von Metzsch, Johannes der Täufer 1989, S. 122, heißt es

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renz des Sujets die Möglichkeit, einen Knaben in reizvollem heranwachsenden Alter ins Bild zu setzen, der im Zustand ‚unschuldiger‘ Nacktheit leicht oder gar nicht bekleidet ist. Ein weiterer Grund für die Bedeutung des Sujets, der insbesondere für Caravaggio eine Rolle gespielt haben dürfte, kommt hinzu: So war nämlich spätestens in der ersten Hälfte des Cinquecento die Figur des jugendlichen Täufers in der Wüste bereits zu einer ambigen geworden, was sich sowohl im spielerischen Aufrufen von Assoziationen an eine Genrefiguration als auch in ihrer Verbindung oder Überblendung mit der Gestalt und Ikonographie des Bacchus mit den Attributen des Weinlaub- oder Efeukranzes und des Pantherfells262 manifestiert.263 In der Bildtradition des Seicento blieb hiervon lediglich das Fell, das allerdings nicht mehr eindeutig als das eines Panthers gezeichnet ist. Erstmals für uns greifbar wird diese Konjektur, die bis in das Quattrocento zurückreichen muß,264 in Werken Leonardos und Raffaels. Das Schlüsselbild ist, gerade auch seiner signifikanten Rezeption wegen, Leonardos enigmatischer „Johannes-Bacchus“ in freier Landschaft (Abb. 121).265 Ferner zu nennen ist sein androgyner, lächelnder „Johannes“ in Halbfigur mit Pantherfell und (stark verschattetem) Kreuz, der sich ebenso wie das erstgenannte Gemälde heute im Louvre befindet (Abb. 143).266 Insbesondere der „Johannes-Bacchus“, sogar: „In Barock und Rokoko wird Johannes der Täufer selten außerhalb von Taufgruppen dargestellt“. 262  Zur Frage ‚Panther, Tiger oder Leopard‘ siehe Orchard, Annäherungen der Geschlechter 1992, S. 72 und 140, Anm. 64. 263  Zur Verbindung von Bacchus und Täufer siehe Sidney J. Freedberg, A Recovered Work of Andrea del Sarto with Some Notes on a Leonardesque Connection, in: The Burlington Magazine 124 (1982), S. 281–288, bes. 287 f.; Marilyn Aronberg Lavin, Andrea del Sarto’s „St. John the Baptist“, in: The Burlington Magazine 125 (1983), S. 157–169, hier 162; Regina Shoolman Slatkin, Francois Boucher: St. John Baptist: A Study in Religious Imagery, in: Minneapolis Institute of Arts Bulletin 62 (1975), S. 4–27, bes. 8–14; Orchard, Annäherungen der Geschlechter 1992, S. 69–74, Kliemann, L’ Amore al fonte 2007, S. 181–215, sowie die Literatur zu den beiden Gemälden von Leonardo. Ich danke Julian Kliemann für ausführliche Gespräche und Hinweise auf die Voraussetzungen und Spielarten dieser ‚Subidentität‘ des Täufers. 264  Sie wird im Jahre 1492 von Ugolino Verino kritisiert, siehe Anm. 271. 265  177 × 115 cm; um 1513–19 (?);; Paris, Musée du Louvre. Es befindet sich in schlechtem Erhaltungszustand; siehe Frank Zöllner, Leonardo da Vinci 1452–1519. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen, Köln u. a. 2003, Nr. 31, S. 249; Pietro C. Marani. Leonardo Catalogo completo, Florenz 1989, Nr. 25, S. 119–121; Rolf Fritz, Zur Ikonographie von Leonardos BacchusJohannes, in: Mouseion. Studien aus Kunst und Geschichte für Otto H. Förster, hg. v. Heinz Ladendorf, Köln 1960, S. 98–101; Orchard, Annäherungen der Geschlechter 1992, S. 72 f.; und besonders Daniel Arasse, Leonardo da Vinci, Köln 1999, S. 471–473. Er ist möglicherweise mit jenem „Johannes“ identisch, der sich Antonio de Beatis zufolge im Jahr 1517 in Leonardos Werkstatt befand. 266 69  ×  57  cm; um 1513–16 (?); Paris, Musée du Louvre; vgl. Zöllner, Leonardo 2003, Nr. 30, S. 248; Marani, Leonardo 1989, Nr. 24, S. 115–118; vgl. Edoardo Villata, Ancora sul San ­Giovanni Battista di Leonardo, in: Raccolta Vinciana 28 (1999), S. 123–158; ders., Il San Giovanni Battista di Leonardo: Un’ipotesi per la cronologia e la committenza, ebd., 27 (1997),

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143 Leonardo, Trinkender Johannes der Täufer in Halbfigur, Paris, Musée du Louvre

der in der Gemäldesammlung Franz’ I. von Frankreich dokumentiert ist, hat eine für den hier entwickelten Kontext höchst signifikante Rezeptionsgeschichte: Die die Figur auszeichnende Ambiguität zwischen dem Täufer und dem heidnischen Weingott – er verfügt über ein Pantherfell, Efeukranz oder Weinlaub im Haar sowie einen bloßen Stab, der mit etwas Weinlaub um­wickelt ist – stieß nämlich auf offene Kritik von seiten ihrer Rezipienten. Greifbar ist sie für uns in Cassiano dal Pozzos Beschreibung der königlichen Kunstsammlungen in Fontaineblau im Jahre 1625, in der er dem Bild mangelndes Dekorum und gänzlich fehlende „devozione“ – zu übersetzen wohl mit „Würde“ resp. „Frömmigkeit“ – attestiert.267 Da das Gemälde in einem Inventar von 1695 als „Baccus dans un paisage“ bezeichnet wird, wobei bemerkenswerterweise eine S.  187–236; Andreas Kreul, Leonardo da Vinci. Hl. Johannes der Täufer. Sinnliche Gelehrsamkeit oder androgynes Ärgernis?, Osterholz-Scharmbeck 1992, und besonders Arasse, ­Leonardo 1999, S.  461–469 (mit Bezug auf Leonardos verschollenen „Engel der Verkündigung“), wobei er auf „le charme ambigu de son regard, associé à un sourire iconographiquement exceptionnel et même incongru dans la tradition du thème“, welches die Figur „proche de l’Éros païen – au point qu’on a pu y voir ‚une sorte d’ange du mal‘“, abhebt (ebd., S. 462 mit Bezug auf eine Formulierung von Marani). 267  Cassiano dal Pozzo 1625, Bibl. Vat ms Barberiniano latino 5688, zit. nach Mario Pomillo, Angela Ottino della Chiesa, Leonardo pittore. Mailand 1967, S.  109: „[…] s.Giovanni nel deserto. La figura, minore di un terzo del vero, è opera delicatissima ma non piace molto perché non rende punto di devozione né ha decoro ovvero similitudine: è assiso a sedere, vi si vede sasso e verdura di paesi con aria“.

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erste Benennung als „Saint Jean au désert“ durchgestrichen und überschrieben wurde,268 nimmt die Forschung an, es sei nach dem Besuch dal Pozzos (und wohl auch als Reaktion auf denselben) mit der Absicht übermalt worden, Johannes in einen Bacchus zu transformieren. Dies ist zwar nicht auszuschließen, angesichts der im folgenden anzuführenden cinquecentesken Darstellungen des Täufers mit bloßem Stab, Pantherfell und Weinlaub aber keineswegs sicher. Selbst der von Weinlaub umwickelte Thyrsosstab ist zumindest in späteren Darstellungen des Täufers belegt.269 Die Frage, über wieviel ‚Bacchus-Potential‘ die originale Johannes-Figur Leonardos verfügte –270 und schließlich empfand dal Pozzo sie ja als kritikwürdig –, ist mit der These der Übermalung jedenfalls nicht beantwortet. Die Verbindung der Ikonographien, deren Voraussetzungen im heidnisch-­ christlichen Synkretismus des Humanismus liegen, beruht auf mehreren Gemeinsamkeiten der beiden Figuren: auf ihrem Leben in der freien Natur, ihrem Festtag am 6. Januar, an dem Bacchus Wasser in Wein verwandelt und Johannes den Gottessohn im Jordan getauft haben soll, sowie – vermittelt über die Themenkomplexe von Wein, Eucharistie und Opfer – auf der Verbindung von Bacchus und Christus, als dessen Vorläufer Johannes gilt.271 Sie war also, trotz gelegentlicher Kritik, wie sie in einem Brief „zur Verteidigung der wahren christlichen Poesie“ des Florentiner Literaten Ugolino Verino an Savonarola von 1492 manifest wird,272 exegetisch abgesichert, doch wird in den cinquecentesken Darstellungen deutlich, daß in dem Vorgang der Entwicklung einer ambigen, zum Profanen und Androgynen tendierenden Figur ein besonderer 268  Siehe Freedberg, A Recovered Work 1982, S. 285, Anm. 16. Zuvor wurde sie noch zweimal als „Johannes“ bezeichnet, und zwar 1642 von Pére Dan und 1683 von Charles Le Brun. 269  So beispielsweise in einem kleinformatigen Gemälde von Alessandro Allori in der Glasgow Art Gallery and Museum, siehe: Simona Lecchini Giovannoni, Alessandro Allori, Torino 1991, Nr. 106, S. 268 (53 × 41 cm; Art Gallery and Museum Glasgow 1970), Abb. 67. 270  Die radiographischen Untersuchungen des Gemäldes ergaben offensichtlich keinen klaren Hinweis auf ein Kreuz, das sich unter dem Thyrsos verborgen habe; siehe Jean Rudel, Bacco e San Giovanni Battista, in: Leonardo. La pittura, Florenz 1977, S. 175–186, bes. 182. Er weist auf Übermalungen in den Haaren sowie dem Zeigegestus hin. Die Existenz früherer Kopien des Gemäldes (z. B. von Cesare da Sesto in einer Privatsammlung) ohne Pantherfell und mit Nimbus, Kreuzstab und Banderole werden oft als Beleg für postulierte Übermalungen angenommen. M. E. ist dies nicht stichhaltig, bedenkt man die konventionalisierenden Variationen von Caravaggios Gemälde im Kapitol. 271  Siehe die Literatur in Anm. 262. In Petrus Berchorius’ Ovid-Auslegung (1340/42) wird Bacchus mit Christus verglichen. In einer wenig bekannten Zeichnung in der Biblioteca R ­ eale (inv. 15587 D. C.) von der Hand Boltraffios, das das Brustbild eine Knaben mit Efeu und Dornenkrone zeigt, ist ein entsprechender Reflex zu beobachten; siehe Maria Teresa Fiorio, Giovanni Antonio Boltraffio: un pittore milanese nel lume di Leonardo, Mailand 2000, S. 147. 272  Er prangert darin die Gleichstellung von Bacchusstab und Kreuz als Fehler an, gegen den vorgegangen werden müsse. Siehe Stanley Meltzoff, Botticelli, Signorelli e Savonarola. Theologia Poetica and Painting from Bocaccio to Poliziano, Firenze 1987, S. 38–41, bes. 41; vgl. Arasse, Leonardo 1999, S. 469.

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144  Andrea del Sarto, Johannes der Täufer, ­Florenz, Galleria Pitti

145  Pier Francesco Mola, Bacchus, Rom, Galleria Spada

Reiz lag, der sich kaum darin erschöpft haben dürfte, ein Theologumenon angemessen visuell umzusetzen. Zu nennen sind Raffaels nackter „­Giovannino“ in der Tribuna der Uffizien (Abb. 119) und im Louvre (Abb. 120), die beide über ein Pantherfell verfügen,273 Andrea del Sartos lieb­ reizende, sinnliche „Johannes-Knaben“ in Halbfigur, die mal efeubekränzt sind (Abb. 144), mal eine Trinkschale in der Hand halten,274 und schließlich Bronzinos nackter 273  Zu den Gemälden in den Florentiner Uffizien (165  ×  147  cm) und im Pariser Louvre (135 × 142 cm), die beide um 1516/17 datiert werden, jüngst vermehrt als eigenhändig gelten und den Täufer weitgehend nackt zeigen, siehe Mina Gregori, Raffaello a Firenze. Dipinti e disegni delle collezioni fiorentine (Ausst.-Kat. Firenze, Palazzo Pitti 1984), Mailand 1984, Nr. 19, S. 222–228; Sylvia Ferino, in: Giulio Romano (Ausst.-Kat. Mantova, Palazzo Te, Palazzo Ducale 1989), Mailand 1989, S. 266 f.; Luitpold Dussler, Raffael. Kritisches Verzeichnis der Gemälde, Wandbilder und Bildteppiche, München 1966, Nr. 27, S. 26 und Nr. 100, S. 58; Sylvie Béguin, Les peintures de Raphael au Louvre, Paris 1984, S. 39–41; Hommage à Raphael. Raphael dans les collections francaises (Ausst.-Kat. Paris, Grand Palais 1983/84), Paris 1983, S. 88 f. 274  94 × 68 cm; Florenz, Galleria Pitti; siehe John Shearman, Andrea del Sarto, Oxford 1965, Bd. 2, Nr. 67, S. 259; 71,1 × 51,1 cm; Worcester Art Museum, Worcester (MA); siehe Freedberg, A Recovered Work 1982, S. 281–288; auch James A. Welu, The Worcester Andrea del Sarto: The Ups and Downs of Saint John, in: Worcester Art Museum Journal 7 (1983–84), S. 3–17 (mit Abbildung einer Kopie des Gemäldes von Il Bacchiacca in einer Privatsammlung, die den Täufer zusätzlich noch in ein Pantherfell kleidet).

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„Johannes“ in ganzer Figur, dessen Attribute – Kreuzstab, Trinkschale und Banderole – derart kalkuliert vom Täufer selbst verdeckt, verschattet oder vom Bildrand überschnitten sind, daß sie erst bei intensiverer Betrachtung des Gemäldes überhaupt erkennbar sind (Abb. 122).275 Welche originalen Kontexte und Funktionen diese Bilder hatten, ist weitgehend unklar und bedürfte intensiverer Studien – man wüßte dies besonders gern für Leonardos Gemälde des „Johannes-Bacchus“, das mit einer Höhe von 177  cm durchaus AltarbildFormat hat. Zumindest Bronzinos „Johannes“ ist seit 1610 in der Sammlung von Scipione Borghese belegt276 und dürfte von Caravaggio dort betrachtet worden sein. In dieser Sammlung befand sich im übrigen auch eine Kopie von Raffaels Tribuna-Gemälde.277 Abschließen möchte ich diese Untersuchung ambiger und effimierter Johannes-Bacchus-Darstellungen mit einem Werk aus dem fortgeschrittenen Seicento: Pier Francesco Molas „Bacchus“ in der römischen Galleria Spada (Abb. 145)278 identifizieren Weinlaub und Thyrsosstab zwar eindeutig als heidnischen Weingott, doch birgt er mit dem roten Mantel und vor allem dem Zeigegestus noch eine ferne Reminiszenz an dessen ‚Subidentität‘ als Johannes.

5.7 Posen eines ‚Michelangelo-Knaben‘ Ein mir wichtig erscheinender Aspekt, der alle Johannes-Darstellungen Caravaggios in verschiedenem Maße und auch zahlreiche der ‚Caravaggisten‘, wie etwa Ceccos und Caracciolos Gemälde (Abb. 141 und Abb. 132), auszeichnet, sei abschließend angesprochen, und zwar ihre performative Qualität. Sie entsteht durch die Modellabhängigkeit der Bildfiguren, die sich nicht nur in den Gesichtszügen der Figuren äußert, sondern auch in den Unterschieden in ihrem Inkarnat. Hierdurch präsentieren sie sich überdeutlich als entkleidet. Wir haben also – so wird es uns zumindest suggeriert – in ihnen keinen Täufer vor uns, der im Zustand ‚unschuldiger‘ Nacktheit in der Wüste lebt, sondern einen Knaben, der sich für eine Rolle entkleidet hat und nun, wie in Caravaggios Kapitolinischem Gemälde, mit dem ‚falschen‘ Tier posiert. Dieses performatives Potential des Gemäldes für Ciriaco Mattei bringt Bellori präzise auf den Punkt, wenn er über die Figur schreibt: „che è un giovinetto ignudo“, 275  120  ×  92  cm; Rom, Galleria Borghese; um 1556 oder 1560–61; siehe Charles McCorquodale, Bronzino, London 1981, S. 123; Maurizia Tazartes, Bronzino, Mailand 2003, S. 188 („Ritratto di Giovanni de’ Medici come san Giovanni Battista“). Weder Bestimmungsperson noch -ort sind bekannt. 276  Paolo Moreno & Chiara Stefani, Galleria Borghese, Milano 2000, S. 240. 277  Gregori, in: Raffaello a Firenze 1984, S. 226 (sie listet allein vier Kopien des Gemäldes, die sich in Rom befinden, auf). 278  97,3  ×  73,7  cm; Rom, Galleria Spada; siehe Cocke, Pier Francesco Mola 1972, Nr. 51, S. 59.

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daß sie „ein nackter Knabe“ sei.279 Auf die Spitze getrieben ist das Potential im Motiv der Nacktheit des Knaben, das entsprechende Phantasien anregt: Er hat sich entkleidet und weist so metaphorisch auf sein Rollenspiel hin: ein Junge, der zu Johannes wird oder zu Johannes werden kann. Bedenkt man, daß die Modelle vermutlich aus Caravaggios Entourage stammten,280 ist anzunehmen, daß sie auch seinem engsten Kreis von Sammlern und Förderern bekannt waren. Wir haben dies bereits für die „Katharina von Alexandrien“ gesehen, für die Caravaggio eine stadtbekannte Kurtisane namens Fillide posieren ließ. Für die Bildwirkung hat dieses Vorgehen auch und gerade dann besondere Folgen, wenn Caravaggio für seine Werke ganz unterschied­ licher Thematik auf dasselbe Modell zurückgriff, wie er es bekanntlich für den „Johannes“ in der Pinacoteca Capitolina (Abb. 1) und für den triumphierenden Berliner „Amor“ für Vincenzo Giustiniani (Abb. 14) tat.281 Beide Gemälde verbindet mehr als nur das Modell: Es sind die einzigen Aktdarstellungen in Caravaggios Œuvre, beide zeigen ihre Protagonisten in ganzer Figur und beide nehmen sich wenig in ihrer erotisch-lasziven Ausstrahlung. Glaubt man dem bekannten Zeugnis des englischen Rom-Reisenden Richard Symonds aus der Jahrhundertmitte, kannte man das Modell für den Amor, und damit auch für den Johannes: Es war „his owne boy […] that laid with him“.282 Ob das zutrifft, muß dahingestellt bleiben und ist auch nur bedingt relevant; entscheidend ist vielmehr, daß Caravaggios Werke solche Geschichten erzeugten, weil sie sie offensichtlich erzeugen wollten. Ein Reiz in ihrer Rezeption bestand also für die Zeitgenossen darin, daß man das Modell wiedererkannte und sich ­erinnerte,

279  Siehe Anm. 210. Ich verweise nur auf die ungleich bekannteren und vielzitierten Schilderungen Belloris der Entstehungsgeschichte der „Wahrsagerin“ in den Kapitolinischen Museen und der hl. Maria Magdalena in der Galleria Doria Pamphili (ebd., S. 214 f.). 280  Siehe Frommel, Caravaggio und seine Modelle 1971, passim; Hess, Modelle e modelli 1954, passim. 281  Marini, Caravaggio 2005, Nr. 54, S. 467–470; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 1, S. 409–411; Röttgen, Caravaggio. Der irdische Amor 1992, passim; Preimesberger, Michelangelo da Caravaggio 2003. 282  Gianni Papi, Caravaggio and Cecco, in: Come dipingeva Caravaggio. Atti della giornata di studio (Firenze 28.1.1992), hg. v. Mina Gregori, Mailand 1996, S.  123–134, hier 123 (mit ­einer Diskussion der Beziehung zwischen Caravaggio und dem Maler Francesco Buoneri, gen. „Cecco“); Michael Wiemers, Caravaggios „Amore Vincitore“ im Urteil eines Romfahrers um 1650, in: Pantheon 44 (1986), S. 59–61. Symonds hielt sich zwischen 1649 und 1651 in Rom auf; hierzu: Mary Beal, A Study of Richard Symonds. His Italian Notebooks and Their Relevance to Seventeenth-Century Painting Techniques, New York & London 1984, S. 27 f. Er besichtigte neben Kirchen zahlreiche private Sammlungen in Palästen und Villen wie die der ­Farnese, Barberini und Medici, Montalto, Ludovisi, Borghese und die am meisten bewunderte der Giustiniani und vermerkt, daß Besucher in ihnen willkommen waren: „A Generall observation all over Rome in all Pallaces where […] ye matt coverd wth Callico is drawne up & ye dore open, one may freely enter. But where shutt tis uncivill unles buisines & p[er]s[ons] acquainted by sernames“ (zit. nach ebd., S. 37)

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es an einem anderen Ort schon einmal gesehen zu haben: beim Marchese Giustiniani als „Amor“ und beim Marchese Mattei als „Johannes“. Ich wechsle die Argumentationsebene und beschreibe Caravaggios Ver­­ fahren auf der kunsttheoretischen und diskursiven Ebene: Caravaggio galt einigen seiner Zeitgenossen als ‚naturalista‘ (Marco Boschini), als ein Maler, dem nichts als die ungeschönte Wirklichkeit nachahmenswert erschien und der mit Normen und Regeln künstlerischer Produktivität brach. Setzt man dies mit der beschriebenen performativen Qualität seiner Bilder in Beziehung, stellt sich seine Vorgehensweise anders dar: Caravaggio scheint tatsächlich dem vermutlich wichtigsten Postulat frühneuzeitlicher Kunstproduktion, der Nachahmung der Natur, zu folgen.283 Er macht dies aber so genau und nimmt die Forderung durch das (vorgebliche) Posieren der Modelle so wörtlich, daß er es zugleich unterläuft und ironisiert.284 Caravaggio bricht also nicht einfach Normen, sondern er spielt mit ihnen, indem er sie befolgt und sich zugleich von ihnen distanziert. Dieses spielerische Verfahren ist noch in bezug auf einen anderen Aspekt des Bildes in der Pinacoteca Capitolina zu beobachten, und zwar Caravaggios Rekurs auf ein anderes Kunstwerk. Es wird in der Forschung immer wieder zu Recht betont, daß der „Johannes“ auf eine Figur Michelangelos Bezug nimmt, und zwar auf einen der „Ignudi“ der Sixtinischen Decke (Abb. 146).285 Denkt man dieses Zitat mit der performativen Qualität der Bilder zusammen, erhält es ebenfalls intrikates Potential, denn hierdurch wird ja suggeriert, Caravaggios Modell hätte eine Figur Michelangelos nachgestellt. Im Prinzip ist auch das nichts anderes als ein Akt der imitatio, nun aber des anderen Aspekts dieser Norm: nicht mehr der Nachahmung der Wirklichkeit, also der imitatio naturae, sondern der Nachahmung künstlerischer Vorbilder, also der imitatio veterum, die seit Alberti Postulat für die künstlerische Ausbildung und Tätigkeit ist.286 Doch folgt Caravaggio auch diesem Prinzip derart wörtlich, daß er es raffiniert unterläuft. Zielte das Studium der Figuren Michelangelos im Manierismus auf die Ausbildung eines kultivierten Formideals, so läßt Caravaggio die Figur des ignudo einfach durch einen Jungen im heranwachsenden Alter, der einen kecken Blick auf seinen Betrachter wirft, nachstellen. Das ist die spielerischste, ambitionierteste und zugleich wieder ironischste Form der 283  Hierzu jüngst Götz Pochat, Imitatio und Superatio in der bildenden Kunst, in: Imitatio. Von der Produktivität künstlerischer Anspielungen und Mißverständnisse, hg. v. Paul NairediRainer, Berlin 2001, S. 11–47. 284 Zum vorgeblichen Charakter der Pose siehe oben Kap. I.1.5. Zu Begriff und Konzept des Ironischen allgemein und mit Bezug auf Caravaggio siehe unten, Kap. III.2.4. 285  Erstmals hat diesen Bezug Ernst Benkard, Caravaggio-Studien, Berlin 1928, S.  163 ff., beobachtet, die Forschung hat sich ihm weitgehend angeschlossen. 286  Vgl. hierfür Klaus Irle, Der Ruhm der Bienen. Das Nachahmungsprinzip der italienischen Malerei von Raffael bis Rubens, Münster 1997.

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146 Michelangelo, Ignudo, Rom, Palazzo Vaticano, Cappella Sistina, Deckenfresko

­ ichelangelo-Imitatio, die vorstellbar ist.287 Denn gleichzeitig zeigt Caravaggio M mit seinem „Johannes“, dessen Modellabhängigkeit so überdeutlich ist, das, was auch Michelangelos „Ignudo“ ist: ein nackter Junge in forciert künstlicher Haltung, dessen Identität und Sinnbestimmung im heiligsten Raum des Vatikanischen Palasts bereits Michelangelos Zeitgenossen zum Problem geworden war,288 weshalb sie die Figuren einfach „Ignudi“ nannten.289 Es sind die besonderen Rezeptions- und damit auch die besonderen Produktionsbedingungen eines Galeriebildes, die solche Vorgehensweisen 287  Zu dieser Form der Imitatio und ihren Implikationen: Preimesberger, Michelangelo da Caravaggio 2003, S.  251: „[…] daß er also in einem oft geübten synthetisierenden Verfahren sein mutmaßliches Modell die Pose des vorbildlichen Kunstwerks einnehmen ließe, daß er auf diesem Wege der einfachen Naturnachahmung das Moment idealisierender Auswahl oder ­electio hinzufügte, der eigenen Farbe einen fremden disegno. Nur der Kenner konnte be­merken, daß Caravaggio auf diesem Wege der Aneignung älterer vorbildlicher Kunst sehr hohen Rangs den Kunstcharakter seiner eigenen Naturnachahmung gesichert und gesteigert habe […].“ In meinen Augen dürfte das Moment spielerischer Ironie in diesem Nachahmungsverfahren mindestens ebenso hoch anzusetzen sein. 288  Vgl. für diese Diskussion Patricia Emison, The Ignudo as Proto-Capriccio, in: Word & Image 14 (1998), S.  281–295; Charles de Tolnay, Michelangelo. Bd. 2: The Sistine Ceiling, Princeton 1945, S. 63–71 (mit weiterer Literatur). 289  Zu dem hier angesprochenen Themenkomplex visueller Intertextualität siehe meinen Beitrag samt Literaturangaben zum Stichwort „Interpikturalität“, in: Metzler-Lexikon für Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2003, S. 161–164 mit Bezug auf Caravaggio siehe mein Kap. III.2.4 sowie unten III.2.4.

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ermöglichen. Caravaggio entwickelt Bilder, die den Prozeß der Wahrnehmung ins Bewußtsein rücken, indem sie die Bedeutungsgenerierung im visuellen Medium quasi vorführen. Sie zeigen, wie Gemälde und ihre Bedeutungen entstehen oder – genauer – wie sie vermeintlich entstehen. Sie orientieren sich an einem Norm-Künstler der Renaissance wie Michelangelo und formulieren damit per se höchsten Anspruch, und „schlagen“ diesen dann mit seinen eigenen Bildmitteln: mit einem lebensgroßen und sein Vorbild an Sinnlichkeit und Präsenz ausstechenden ignudo.

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6. Die Waffen des Liebesgotts und die Arma ­Christi – Cupidi und Christuskinder im Schlaf: Transformationen einer Figur 6.1 Ceccos „Bambino Gesù“ in Budapest und die Nacktheit des Christuskindes Dem uns bereits von seinem ambitionierten Altarbild für S. Felicita in Florenz und dem enigmatischen „Amor an der Quelle“ in der Sammlung Pizzi bekannten Cecco del Caravaggio wird ein Gemälde in einer Budapester Privatsammlung zugeschrieben, das einige der im Kontext der ambigen Darstellungen angesprochenen Themen und Fragenkomplexe noch einmal berührt, sie zugleich aber in eine neue Perspektive stellt. Es ist eine Darstellung des schlafenden „Bambino Gesù“ mit den Arma Christi (Abb. 147).290 Wir sehen in schräger Aufsicht das splitternackte Jesuskind in Lebensgröße, wie es auf seinem späteren Marterinstrument, dem Kreuz, mit angewinkelten und über Kreuz gelegten Beinen und leicht geöffnetem Mund entspannt schläft. Der rechte Arm des Kindes ist erhoben und am Kopf entlang ausgestreckt; seine Haltung weicht also deutlich von der des Gekreuzigten ab. Das Kreuz liegt auf dem leicht bewachsenen Erdboden und wird von weiteren Symbolen der Passion umgeben: der Lanze, dem Essigschwamm, der Dornenkrone und den Nägeln. Durch die forcierte Beleuchtung von einer im Bildhintergrund zu lokalisierenden Lichtquelle hebt sich die kindliche Figur von diesen weiteren Passionssymbolen ab, wobei der kräftigste Schlagschatten im Bild von seinem Geschlecht geworfen wird, welches hierdurch betont wird. Dieses Detail berührt einmal mehr den Themenkomplex des Nackten und tendenziell Lasziven – diesmal nun mit Bezug auf den Körper Christi.

290  61,5 × 81,5 cm; ca. 1619–20; Budapest, Privatsammlung. Das Gemälde wurde publiziert von Anna Ottani Cavina, Un dipinto di Cecco del Caravaggio, in: Studi di storia dell’arte in onore di Mina Gregori, Cinisello Balsamo 1994, S. 158–160. Sie hatte von dem Gemälde durch eine Abbildung Kenntnis, welche die Zuschreibung an Manfredi, aber keine Provenienzangabe trägt. Die Zuschreibung an Cecco wurde von dem Verfasser des Werkverzeichnisses, Gianni Papi, nicht übernommen, gleichwohl auch gar nicht diskutiert. Bereits Ottani Cavina konstatiert knapp eine „ambiguità fra soggetto religioso e profano“ (S. 159), die sie allerdings durch den Bezug auf Caravaggios „Amor Vincitore“ in Berlin, für den Cecco ja vermutlich als das Modell figurierte, sowie allgemein durch die Darstellungsweise des nackten Knaben generiert sieht.

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147 Cecco del Caravaggio, Bambino Gesù, Budapest, Privatsammlung

In der Forschungsdiskussion war die Nacktheit Christi, angeregt durch Leo Steinbergs Studie zur „Sexuality of Christ“, mehrfach Thema.291 Steinberg hat bekanntlich in der ostentativen Entblößung des Geschlechts des Jesusknaben einen visuellen Hinweis auf die Fleischwerdung Gottes in Christus gesehen. Die Debatten, die sein Buch mit dem durchaus provozierenden Titel anregte, führten allerdings zu wichtigen Differenzierungen seiner Thesen. So hat etwa Caroline Walker Bynum Steinberg einen „ahistorischen“ Blick auf das Thema der Geschlechtlichkeit unterstellt. Denn diese sei nicht identisch mit „Sexualität“, und überhaupt verweise nach Bynum zumindest in der Vorstellungswelt des Mittelalters der nackte Körper Christi nicht notwendigerweise auf seine Geschlechtlichkeit oder gar seine Sexualität, noch werde das Glied des Kindes überhaupt als Sexualorgan wahrgenommen. Er ließe bei seinen Betrachtern vielmehr auch ganz andere Bedeutungsfelder, wie etwa Leiden und Erlösung, assoziieren.292 Es sei das ganze Corpus Christi, das auf die Inkarnation verweist. Die oben skizzierten Debatten um nackte Darstellungen der Magdalena und des hl. Sebastian haben jedoch gezeigt, daß zumindest seit dem fortge291  Leo Steinberg, The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion, New York 1983. 292  Caroline Walker Bynum, Der Leib Christi im Spätmittelalter – eine Erwiderung auf Leo Steinberg, in: dies., Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1996, S. 61–108, bes. S. 68 und 95. Vgl. auch André Chastel, A Long-Suppressed Episode, in: The New York Review of Books, 22.11.1995, S. 25–27; JeanClaude Schmitt & Jérôme Baschet, „La Sexualité“ du Christ, in: Annales. Èconomies, Sociétés, Civilisations 46 (1991), Heft 2, S. 337–346; Belting, Das echte Bild 2005, S. 111 f.

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schrittenen 16. Jahrhundert gerade im Zuge der katholischen Reform vor allem aus zwei Gründen in der Nacktheit von Heiligen durchaus ein Problem gesehen wird: zum einen aufgrund der Bindung der Nacktheit an die Kategorie des Dekorums der Figur und zum anderen aufgrund der letztlich nicht kontrollierbaren Empfindungswelt und Imaginationen des ‚breiten Volkes‘ vor diesen Bildern, die eben auch zu inadäquaten Assoziationen stimulieren können. Es liegt auf der Hand, daß dies für den entblößten Körper Christi in besonderer Weise gelten mußte – völlig unabhängig von der Frage, ob damit Christus eine Geschlechtlichkeit oder Sexualität zugewiesen wird. Die berühmte Verhüllung des Geschlechts von Michelangelos 1514 beauftragtem „Auferstandenen Christus“ in S.  Maria sopra Minerva durch ein Lendentuch spricht diesbezüglich eine überaus deutliche Sprache. Und tatsächlich arbeitet Johannes Molanus in seinem Bildertraktat von 1570 diese doppelte Problematik gerade am Gegenstand des nackten Jesuskindes heraus. Er erkennt – analog zu den oben zitierten Textzeugnissen wie Vasaris Beschreibung von Tizians „Magdalena“ – in Darstellungen des entblößten Erlöserknaben das Problem der Stimulierung der körperlichen Libido statt der Devotion auf seiten der Betrachter, diagnostiziert also ein Rezeptionsproblem. Folgerichtig fordert er, den nackten Jesusknaben entsprechend der alten, selbstredend positiv bewerteten Praxis mit verhülltem Geschlecht, und damit „decentur et honeste“293 zu zeigen. Auch der spanische Bildtheologe Juan Interián de Ayala wird wenige Jahre später 293  Ich zitiere die gesamte Passage nach David Freedberg, Johannes Molanus on Provocative Paintings. „De historia sanctarum imaginum et picturarum“, Book II, Chapter 42, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 34 (1971), S. 229–245; Text und Übers. S. 238–245, hier S. 238 f.: „Notum est pictores saepe infantem IESUM nudum sculpere aut pingere: sed ob hoc male audiunt a multis non exiguae pietatis & prudentiae viris. Quid enim in hac nuditate esse potest aedificationis? Atque utinam nulla hinc oriretur in parvulis destructio, nullum in pusillis scandalum? Viderint ergo pictores ne suo malo discant quid sit quod Dominus ait, Qui scandalizaverit unum de pusillis istis qui in me credunt, expedit ei ut suspendatur mola asinaria in collo eius & demergatur in profundum maris. Vae homini illi per quem scandalum venit. Certe si antiquas picturas consulere velint, facile advertent in eis puerum IESUM decentur & honeste depictum esse, ac sese multum a maiorum simplicitate degenerasse“ / „It is well known that artists often paint or sculpt the infant Jesus naked; but for this they are widely criticized by men of no little piety and wisdom. For what sort of edification can there be in this nakedness? All one can hope is that children are not endangered by this or little ones brought to harm. Painters should therefore beware: they may discover to their cost what our Lord meant by saying: ‚Whoso shall offend one of these little ones which believe in me, it were better for him that a millstone were hanged round his neck and that he were drowned in the sea […] woe to that man by whom the offence cometh!‘ Certainly if these painters should look at the work of past time, they would soon observe that the boy Jesus was decently and modestly portrayed then, and realize how far they have degenerated from the simplicity of their ancestors.“ (Molanus kann sich nicht auf das hier interessierende Sujet des isoliert schlafenden Jesuskindes beziehen, das es in dieser Form im Jahre 1570 offenkundig noch nicht gab; seine Überlegungen sind sicherlich von Darstellungen der Muttergottes mit dem schlafenden Kind im Schoß angeregt).

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explizit mit Bezug auf das Sujet des auf den Passionswerkzeugen schlafenden Jesuskindes diese nicht in der religiösen „Historia“ verankerte Ikonographie zwar grundsätzlich akzeptieren, dabei jedoch nachdrücklich von den Malern fordern, in solchen Darstellungen „Anstößiges“ wie eine allzu weitgehende Entblößung des Kindes zu vermeiden, ohne dabei die Frage eines möglichen visuellen Hinweises auf die Inkarnation überhaupt nur zu berühren.294 Unabhängig von der Frage nach dem Potential erotisch-libidinöser Sensibilisierung durch ein noch kindliches unentwickeltes Geschlecht, dürfte zumindest ein Teil der zeitgenössischen Betrachter vor dem Hintergrund dieser Diskursivierung des nackten Leibes Jesu in Ceccos Darstellung vielleicht keinen eindeutigen Verstoß gegen das Dekorum erkannt haben, wohl aber ein unkonventionelles und tendenziell problematisches Moment.

6.2 Die Erfindung des Sujets und das Durchspielen der Analogien: Der Bambino Gesù und der Cupido dormiente Für seine Betrachter irritierend war Ceccos Gemälde zunächst einmal wohl auch deswegen, weil für sie das Sujet neu gewesen sein muß. Zum Zeitpunkt seiner Entstehung im frühen Seicento existierten wenige Verbildlichungen des Themas, die von Malern aus dem Umkreis von Guido Reni und Francesco Albani stammen. Es ist dabei gerade die Genese des Sujets, die für meinen Kontext ambiger, zwischen profanen und sakralen Sujets oszillierender Darstellungen weiterführt. Denn es handelt sich um eine nahezu295 vorläuferfreie ‚Ad hoc-Erfindung‘, für die ein profaner Bildtypus das Modell bildete. Welches das erste Gemälde eines auf seinen Passionssymbolen isoliert schlafenden Bambino 294 Juan Interián de Ayala, Pictor christianus eruditus sive de erroribus, qui passim admittuntur circa pingendas atque effingendas sacras imagines, Madrid 1630. Ich zitiere nach der 1730 in Madrid erschienenen Edition, S. 99: „Relinquuntur ergo Imagines aliae infantiae atque pueritiae Christi Domini, quae non tam ad historiam pertinent, quam ad expressionem piorum cogitatuum. Huius modi sunt: quòd depingitur super Crucem dormiens, subjecto pro pulvinari humano cranio […]. Itaque hae omnes libenter amplectendae, si tamen nihil contra praejactas regulas admittatur; ut esset nimia corpusculi nuditas, aut vel levis etiam in momenti tanti rebus absurditas major.“ (Der Hinweis auf die Schrift bei Friedrich Zoepfl, Das schlafende Jesuskind mit Totenkopf und Leidenswerkzeugen. Ein volkstümliches Bildmotiv und seine Herkunft, in: Volk und Volkstum. Jahrbuch für Volkskunde 1 [1936], S. 147–164, hier S. 148). 295 Es gibt einen Kupferstich von Jacopo Francia (vor 1486–1557), welcher das auf dem Kreuz schlafende Jesuskind unter einem Zelt zeigt; zwei Putti lüften einen Vorhang und weisen auf das Kind, Schriftbänder und Tafel („In sommo meo requies“ und „Ego dormio et cor meum vigilat“) kommentieren den Sinngehalt der Darstellung. Siehe hierfür Nina Gockerell, Das Passionskind und schlafende Jesulein, in: Il Bambino Gesù. Italienische Jesuskindfiguren aus drei Jahrhunderten. Sammlung Hiky Mayr (Ausst.-Kat. Nürnberg, Bayerisches National­ museum 1997/98), bearb. v. ders., München 1997, S. 50–55, hier 51, Abb. 38. Zu nennen ist außerdem das Gemälde von Luca Cambiaso (1527–1585) im Museo degli Ospedali Civili in Genua, welches das – hier sitzende – Kind mit Nimbus, Lamm und Schriftband sowie verdecktem Geschlecht zeigt.

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Gesù war und welchem Künstler folglich die Invention dieser Ikonographie zu verdanken ist, läßt sich leider nicht mehr rekonstruieren. Aus der Zuschreibung des Budapester Bildes an Cecco ergibt sich für dessen Entstehungsdatum lediglich ein terminus ante quem im Jahre 1620. Alle anderen Verbildlichungen dieses Sujets werden von der Forschung sehr verschieden datiert und sind in ihrer Eigenhändigkeit oft umstritten; darüber hinaus wissen wir von zahlreichen Verlusten.296 Trotz des Fehlens jüngerer Untersuchungen zu diesem ikonographischen Typus297 läßt sich aber mit einiger Sicherheit erschließen, daß die Ikonographie im 2. oder 3. Jahrzehnt des Seicento entstand, vor allem im Umkreis von Guido Reni eine Zeitlang regelrecht ‚boomte‘, dabei auch in druckgraphischer Form verbreitet wurde und dann zumindest in der italienischen Malerei recht bald wieder an Bedeutung verlor. Stephen Pepper hält ein von ihm als Original Guido Renis bewertetes Gemälde in der Washingtoner Osuna Gallery (Abb. 148) für den Prototyp.298 Es zeigt in weiter Landschaft ein auf der Seite eher ruhendes als schlafendes puttohaftes Kind, das seinen Kopf auf den angewinkelten Arm aufstützt. Die Unterschiede zu Ceccos Gemälde sind augenfällig: das Kind liegt in der freien Natur, sein Geschlecht ist in keiner Weise betont, und das Kreuz wird durch ein weißes Tuch bedeckt. Nicht auszuschließen ist allerdings, daß der Prototyp der Bilder gar nicht in diesem Werk, sondern in Francesco Albanis Darstellung des Jesusknaben mit hervorgehobenen Passionssymbolen zu erkennen ist

296 Siehe allein Peppers divergierende Angaben bezüglich eines Gemäldes in Washington (Anm. 297), von dem ebenfalls unklar ist, ob es sich um ein Original von Guido Reni oder eine Kopie handelt. 297  Siehe Zoepfl, Das schlafende Jesuskind 1936 (zur Verbreitung des Motivs in der süddeutschen Volkskunst des 18. und 19. Jahrhunderts); Reiner Haussherr, s.v. „Jesuskind“, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Rom u. a. 1970, Sp. 400–406, hier 406; vgl. auch die in den Zuschreibungen der Gemälde allerdings veraltete Liste bei Andor Pigler, Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts, Budapest 1956, Bd. 1, S. 507 f.; Emile Mâle, L’arte religiosa nel ’600. Italia, Francia, Spagna, Fiandra, Mailand 1984, S. 287 f.; Gockerell, Das Passionskind 1997. Für meine Fragestellung nicht weiter hilft die anthroposophische Perspektive Rudolf Steiners, mit der Wolfgang Schad, Das Kind auf dem Kreuz, in: Die drei: Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und soziales Leben 12 (1983), S. 865–875, die Bilder betrachtet. 298  23,75 × 30 cm; Pepper, Guido Reni 1988, Nr. 17, S. 330 f., fig. 11; ders., in: Osuna Gallery. Wealth of Cities. Italian Painting in the 17th and 18th Centuries, hg. v. dems. Washington 1987, Nr. 22, o. Pag.; er datiert es (ohne dokumentarischen Beleg, allein auf stilistischer Basis) in die ersten sechs Monate des Jahres 1614, und zwar in zeitliche Nähe zur Ausführung des Aurora-Freskos; nach einer im Christie’s Katalog New York vom 8.12.1989 referierten mündlichen Bemerkung jedoch in die 1. Hälfte der zwanziger Jahre. Für die Frage nach der Originalität der Sujeterfindung hat die unsichere Datierung natürlich Folgen. Die Eigenhändigkeit des Osuna-Bildes wird entschieden bestritten von Ottani Cavina, Un dipinto di Cecco 1994, S. 158, Anm. 2.

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148 Guido Reni, Bambino Gesù, Washington, Osuna Gallery

(Abb. 149).299 Hier liegt der Bambino Gesù dornengekrönt auf dem Kreuz und hält trotz seines tiefen Schlafs einen großen Nagel in der Hand. Verbildlichungen des im Schoß seiner Mutter Maria schlafenden Jesuskindes gelten durch die Analogie von Schlaf und Todesschlaf als visuelle Präfigurationen des Todes Christi. Durch die Kombination des liegenden Kindes mit seinen Leidenswerkzeugen300 wird das Moment der Allusion auf die Passion Christi und die Betonung des Opfergedankens noch deutlicher markiert. Der Erfolg des Sujets erklärt sich mit dem besonderen Interesse der nachtridenti-

299  Die Komposition wird nur durch einen Stich überliefert, den Oreste Ferrari, Sul tema del presagio della Passione, e su altri connessi, principalmente nell’età della ‚riforma cattolica‘, in: Storia dell’arte 61 (1987), S.  201–224, fig. 20, abbildet. Es gibt keine Hinweise auf sein Entstehungsdatum (Albani lebte von 1578 bis 1660). Catherine Puglisi verzeichnet in ihrem Werkverzeichnis unter der Nummer 72 (L) ein Gemälde, das im Jahre 1929 bei Christie’s in London versteigert wurde und ihr (nach der Abbildung beurteilt) eigenhändig zu sein scheint (ca. 1633). Auf der winzigen Abbildung, die sie publiziert, sind keine Leidenswerkzeuge zu erkennen, wohl aber ein Schriftband mit der Inschrift „Ego dormio“ (Catherine R. Puglisi, Francesco Albani, New Haven & London 1999, S. 160). 300  Sie ist im übrigen in Einzelbeispielen auch in der Bildform des stehenden Kindes mit dem Kreuz belegt. Vgl. Ferrari, Sul tema del presagio 1987; Angelo Lodi, Il Bambin Gesù p ­ ortacroce con gli strumenti del martirio. Una proposta di indagine conoscitiva, in: Fare storia dell’arte. Studi offerti a Liana Castelfranchi, hg. v. Maria Grazia Balzarini & Roberto ­Cassanelli, Mailand 2000, S.  103–114 (mit weiterer Lit.); Gizella Firestone, The Sleeping Christ-Child in ­Italian Renaissance Representations of the Madonna, in: Marsyas 2 (1942), S. 43–62.

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149 Nach Francesco Albani, Bambino Gesù, Rom, Calcografia Nazionale

nischen Zeit am Kult des Jesuskindes,301 doch wird dadurch das ‚plötzliche‘ Auftreten des isoliert auf seinem Kreuz liegenden Kindes natürlich noch nicht plausibel. Seine Entstehung verdankt sich wohl weniger einem Prozeß der Isolierung oder Partialisierung, nämlich aus der gängigen Ikonographie der Madonna mit dem in ihrem Schoß liegenden Kind; 302 vielmehr bildeten offenkundig antike Skulpturen des liegenden Cupido das Modell für das neue Bildschema.303 Diese Cupidi erfreuten sich insbesondere im Hellenismus großer Beliebtheit und waren in der Frühen Neuzeit begehrte Sammlerstücke. Zahlreiche solcher Skulpturen sind in römischen und mittelitalienischen Sammlungen dokumentiert.304 Ebenso, wie es Darstellungen des Bambino Gesù in 301 Siehe hierfür Irénée Noye, s.v. „Enfance de Jésus“, in: Dictionnaire de spiritualité, Bd. IV.1., Paris 1960, Sp. 652–682, bes. 663–677. 302  So die knapp formulierte Vermutung von Haussherr, Jesuskind 1970, Sp. 406. Als Beispiel für eine solche Darstellung kann Piero della Francescas „Sacra Conversazione“ von 1472–74 in Mailand gelten. Siehe Marilyn Aronberg Lavin, Piero della Francesca, London 2002, S. 266– 284. 303  Gockerell, Passionskind 1997, S. 51; Haussherr, Jesuskind 1970, Sp. 406; Pepper, Guido Reni 1988, S. 331; Ottani Cavina, Un dipinto di Cecco 1994, S. 158, Anm. 2; Avigdor W. G. Posèq, A Note on Caravaggio’s Sleeping Amor, in: Source 6 (1987), Nr. 4, S. 27–31, hier 27; Zoepfl, Das schlafende Jesuskind 1936, S. 154. 304 Siehe für eine umfassende Analyse der antiken Eros- bzw. Cupido-Statuen: Magdalene Söldner, Untersuchungen zu liegenden Eroten in der hellenistischen und römischen Kunst, 2 Bde., Frankfurt a. M. u. a. 1986. Im Katalogteil listet sie sehr viele Werke in römischem Besitz auf, weshalb es wenig Sinn machte, zu fragen, welche Skulpturen vorbildhaft auf die be­sprochenen Bilder gewirkt haben könnte. Vgl. auch Bernard Andreae, Skulptur des

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150 Hellenistischer Bronzeeros, New York, Metropolitan Museum

variierenden Stellungen gibt – nämlich auf der Seite liegend, mit dem Arm über der Brust (wie in Albanis Stich), mit über den Kopf geführtem Arm (wie in Ceccos Gemälde) oder gar mit aufgestütztem Arm (wie in Renis Gemälde in Washington) –, variieren auch die antiken Darstellungen die Lage des schlafenden Liebesgottes.305 Der formale Bezug zwischen dem auf seinen ‚Waffen‘, Bogen und Köcher, ausgestreckt liegenden antiken Liebesgott, der sein Unwesen bekanntlich ohne jede Verantwortung für sein Handeln trieb und dafür von seiner Mutter Venus gescholten wurde, und dem im Schlaf seine Passion präfigurierenden Jesuskind ist in den genannten Darstellungen in der Tat frappierend. Darüber hinaus läßt sich eine inhaltliche Verbindung der Sujets konstruieren. Sie besteht in der sepulkralen Funktion einiger antiker Cupido-Darstellungen und der gleichzeitigen Verwandtschaft des Bambino-Sujets mit einem neuzeitlichen Darstellungstypus mit überdeutlichem Vanitas-Bezug, und zwar dem ­Hellenismus, München 2001, Nr. 68/69, S. 104 f. (mit Bezug auf die originale hellenistische Bronzefigur aus Rhodos im New Yorker Metropolitan Museum, von der es eine römische Marmorkopie gab, die sich heute in den römischen Musei Communali, Palazzo dei Conservatori befindet); Antoine Hermay, s.v. „Eros“, in: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae Bd. III 1, Zürich & München 1986, S. 850–942, hier 916 f. („H: Eros endormie“). 305  So beispielsweise der „Eros dormiente“ in den Uffizien, der 1589 erstmals in der Tribuna belegt ist; siehe Guido Mansurelli, Galleria degli Uffizi. Le sculture. Parte I, Rom 1958, Nr. 107, S. 140, Abb. 109; Söldner, Untersuchungen zu liegenden Eroten 1986, Bd. 2, Nr. 61, S. 630.

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151 Annibale Carracci, Johannes der Täufer, ­Privatsammlung

Putto mit Totenschädel und Sanduhr.306 Allerdings dürfte diese Konjektur bei der Erfindung des Sujets des schlafenden Erlöserknaben allenfalls eine marginale Rolle gespielt haben. Denn zum einen zeigen die Darstellungen aus dem 16. Jahrhundert den Putto mit Totenschädel nur äußerst selten liegend,307 und zum anderen ist der sepulkrale Kontext der antiken Amor-Figuren nur einer unter mehreren, und es ist auch durchaus fraglich, ob er in der Frühen Neuzeit überhaupt bekannt war. Die Felsen, auf denen etwa der originale hellenistische Bronze-Eros in New York (Abb. 150) ruht, sprechen eher für einen dionysischen Sinnzusammenhang der Skulptur. Sie befand sich vermutlich ursprünglich in einem Garten und war Teil einer Brunnenanlage.308 Auch die zahlreichen römischen Skulpturen des liegenden Cupido haben Genrecharakter, dürften also eher zur Ausstattung von Villen gehört haben und werden in der Frühen Neuzeit auch unter diesem Vorzeichen rezipiert worden sein. Die zeitgenössische sakrale Lyrik gibt, ganz in der Tradition des Synkretismus zwischen heidnischer Antike und Christentum und konkret im Zusammenhang der Ikonographien von himmlischer und irdischer Liebe stehend, einen anderen Hinweis auf einen Bezug zwischen dem Jesuskind und dem antiken Liebesgott. So übernehmen Dichter wie Giambattista Marino und 306  Vgl. hierfür Horst W. Janson, The Putto with the Death’s Head, in: The Art Bulletin 19 (1937), S. 423–449. 307  Vgl. ebd. 308  Vgl. hierfür Söldner, Untersuchungen zu liegenden Eroten 1986, passim; zur Funktion der New Yorker Skulptur bes. Bd. 1, S. 295.

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der Franziskaner Matteo Baccelini in ihren Gedichten auf das Jesuskind Elemente der profanen Liebeslyrik. Sie identifizieren sogar das Jesuskind mit Amor, wenn es seine ‚geistlichen‘ Pfeile abschießt, damit jedoch nicht wie der antike Liebesgott andere, sondern allein sich selbst verletzt.309 Wie dominant diese synkretistische Traditionslinie der Analogie von himmlischer und irdischer Liebe bei der Erfindung des Bildschemas des liegenden Bambino Gesù im frühen Seicento gewesen sein mag, ist allerdings schwer zu beurteilen. Die kürzliche Wiederentdeckung eines durch seine frühe Datierung in die Jahre 1607/08 die Bambino Gesù-Darstellungen antizipierenden Gemäldes von Annibale Carracci (Abb. 151) stimmt mich diesbezüglich skeptisch.310 Denn dieses rekurriert ebenfalls auf die Bildformel antiker Cupido-Skulpturen, überträgt sie aber auf die Täufer-Ikonographie. So zeigt Carracci ein mit geöffneten Beinen und über den Kopf gelegtem Arm in felsiger Landschaft schlafendes Kleinkind, das aber analog zur Bildtradition des kleinen Täuferknaben in der Wüste über ein Tierfell und einen Kreuzstab samt Banderole mit den Worten „Ecce Agnus Dei“ verfügt. In dieser meines Wissens einzigartigen Verbildlichung wurde ganz offensichtlich eine Ikonographie in forcierter Analogie zu einer antiken Figuration regelrecht erfunden und zugleich erprobt, für welche christliche Figur sie sich eignet – wobei das Sujet des Täufers in der Wüste offenkundig sogleich wieder aufgegeben wurde.

309  Giambattista Marino, Madrigal CXLVI „Christo Amore“: „Ingrati mortali,/ Tanto v’ama il Signore,/ Ch’ebro per voi d’amor, s’è fatto Amore,/ Ecco ignudo il mirate/ Con le luci bendate:/ Per morir mette l’ali:/ D’arco hà in vece una câna: e i propri strali/ Volti contro se stesso,/ Porta per suo dolore/I laci ne le man, le faci al core.“ (Giambattista Marino, La Lira. Rime del Cavalier Marino …, Venedig 1675, parte seconda, S.  368); vgl. hierfür Marc Föcking, Rime sacre und die Genese des barocken Stils. Untersuchungen zur Stilgeschichte geistlicher Lyrik in Italien 1536–1614, Stuttgart 1994 (Diss. FU Berlin 1992), S. 226; Matteo Baccellini, Teatro Christiano overo Rime spirituali sopra alli principali Misteri della Passione di N. Sig. Giesù Christo […], in: Seconda parte delle rime spirituali di diversi Autori […] raccolte da Fra Silvestre da Poppi, Florenz 1608, S. 10, zitiert nach Föcking, Rime sacre 1994, S. 227: „Venite anime punte/ Dai sacri strali del divino Amore,/ Che vostro feritore/ Quasi novel Cupido/ Soggiorna hora in Sion, e non in Gnido,/ Ecco gl’ occhi bendati,/ E i polverosi cini inghirlandati:/ Ond’ ei d’acute spine incoronato/ Sembra Amor saettante, e faretrato:/ Ma pargoletti amori/ Sputi, e guanciate son, strazi, & horrori.“ 310  100 × 71 cm; ca. 1607/08; Privatbesitz. In der Landschaft im Hintergrund sieht man den betenden älteren Johannesknaben mit Nimbus. Für das Gemälde, auf das mich freundlicherweise Lothar Sickel aufmerksam machte, siehe Patrizia Masini, in: Il San Giovanni Battista ritrovato 2001, Nr. 6, S. 42 f. Sein Aufbewahrungsort wurde jüngst durch Luigi Salerno und Denis Mahon ermittelt; es läßt sich bis in die Sammlungen des Herzogs von Orléans im Palais de Royal in Paris zurückführen, wo es 1727 ausführlich beschrieben wird. Zur Frage der Eigenhändigkeit siehe Denis Mahon, Il San Giovanni Battista di Annibale Carracci dipinto per Corradino Orsini, ebd., S. 17–27, hier 23 f., mit Hinweis auf Carraccis verwandte Darstellung des von Maria und Joseph verehrten Jesuskindes in der Galleria Borghese; siehe hierfür ebd., Nr. 7, S. 44 (Sergio Guarini).

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Die formale Analogisierung des Cupido mit dem Bambino Gesù geschah in meinen Augen wohl eher trotz des Bedeutungsfeldes des antiken Liebesgottes, der der Renaissance bezeichnenderweise vor allem als Honigdieb und als listenreicher Sohn der Venus bekannt war. Tatsächlich wurde auch in griechischen Epigrammen das Sujet des liegenden Amor explizit meist mit dem concetto der planvollen Täuschung des Betrachters verbunden. Ausgangspunkt ist in ihnen die vermeintliche Harmlosigkeit des ruhig schlafenden Liebesgottes: Der sich in Sicherheit wähnende Betrachter wird Opfer übermächtiger Liebesgefühle und unversehens der Täuschung durch den Liebesgott.311 Nur die Nivellierung dieser mit der Figur des Cupido verknüpften Semantik machte also die Analogisierung von Cupido und Bambino Gesù in der Frühen Neuzeit möglich. Auf formaler Ebene wird sie nichtsdestotrotz phantasievoll durchgespielt: So sind beispielsweise die mit dem Dekorum des Jesuskindes nur schwer zu vereinbarenden Motive der geöffneten Beine und der als Nymphengestus kodifizierten Haltung des nach oben gestreckten und abgewinkelten Arms in Ceccos Budapester „Bambino“ in einer antiken Cupido-Skulptur belegt, die sich zu Lebzeiten des Malers in Medici-Besitz befand und ihm bekannt gewesen sein dürfte (Abb. 152).312 Renis „Jesuskind“ in einer englischen Privatsammlung bedeckt sogar mit dem Gestus der „Venus Pudica“ seine Scham (Abb. 153),313 und signifikant ist auch die Variante der Bambino Gesù-Darstellungen, in der das Jesuskind nicht auf steinigem Boden über seinem Kreuz schläft, sondern in einem Innenraum auf einem Prachtbett mit Blumenbou311 Söldner, Untersuchungen zu liegenden Eroten 1986, Bd. 1, S.  307–309, mit folgender Zusammenfassung: „Eros verweilt also nur in einem fingierten Schlaf. Es ist kein gelöster Seinsmoment des Gottes gemeint, sondern gewissermaßen eine versteckte Handlung, die die Wesens­züge des Knaben offenbart. Der Schlaf dient als Metapher und ist mit einem für Eros spezifischen Inhalt, der erzählerisch darstellbar ist, verbunden. Zudem steht das Motiv des Eros-Schlafes in einer reizvollen Antithese zur Schlaf- und Ruhelosigkeit des Menschen, die durch Eros bereitet wird, und unterstreicht dadurch in bildhafter Weise die Wirkung des Gottes“ [S.  309]; vgl. auch von Flemming, Arma Amoris 1996, S.  77 f. Ich zitiere aus den von Söldner genannten Epigrammen der Anthologia graeca auszugsweise: „Schläfst Du, der du den Menschen die schlaflosen Sorgen bereitest? / […] / Mögen dir andere trauen! Ich fürchte, dir kommt noch im Schlafe, / wilder Geselle, ein Traum, wie du ein Leides mir tust“ (Statius ­Flaccus, Anthologia Graeca. Griech.-Deutsch, hg. u. übers. v. Hermann Beckby, Buch XII– XVI, Bd. 4, München 21965, S. 417 [XVI, 211]); „Eros […] wüßt ich, du schliefest auch wirklich, du Feuergeburt, und den Menschen / wär für ein Weilchen dadurch Ruh vor den Pfeilen gegönnt. / Aber ich fürchte dich so noch: du führst was im Schilde, Verschlagner / und du siehst noch im Traum, wie du ein Leides mir tust.“ (Alpheios, ebd. [XVI, 212]). 312  Mansurelli, Galleria degli Uffizi 1958, Nr. 109, S. 140 ff., Inv. Nr. 626; Söldner, Unter­ suchungen zu liegenden Eroten 1986, Bd. 2, Nr. 50, S. 623 f. „(spät-)antoninische Zeit“. Der Bezug stützt die von Ottani Cavina, Un dipinto di Cecco 1994, S. 160, vorgenommene Datierung des Gemäldes in Ceccos letzte Lebensjahre 1619/20, während derer der Maler das Altarbild für S. Felicita in Florenz ausführte (siehe hierzu Kap. 1.3.1). 313  Siehe hierfür unten, Anm. 332. Soweit ich sehe, gibt es bei Söldner, Untersuchungen zu liegenden Eroten 1986, keine vergleichbare Darstellung.

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152 Schlafender Eros, Florenz, Uffizien

quet liegt, wobei die Aufteilung des Raums und das Arrangement der Figur im Bild Tizians Venus-Darstellungen assoziieren lassen.314 Nicht etwa Cupido ersetzt hier seine Mutter Venus, sondern das schlafende, seine Passion präfigurierende Jesuskind. Der Transfer profan-antiker Ikonographien, Figurationen und Motive in christlich-religiöse Kunst ist selbstverständlich keineswegs einzigartig. Von jeher wurde diese Übertragung in der kunsthistorischen Forschung zum Nachwirken der Antike in der christlichen Bildsprache in Verbindung mit dem Renaissanceprogramm einer Integration und Übersetzung der antiken Mythologie in die christliche Theologie auf der Basis von deren allegorisch-moralischer Interpretation intensiv bedacht. Ich weise beispielhaft auf zwei zentrale Ikonographien der frühchristlichen Kunst hin, für die antik-profane Vorbilder prägend waren: den Bildtypus der Muttergottes mit Kind in Analogie zu Verbildlichungen der ägyptischen Muttergöttin Isis mit dem Horusknaben und den des thronenden Christus in Analogie zu Verbildlichungen des thronenden Göttervaters Jupiter. Auch in der Frühen Neuzeit hat es solche Figurentransfers und Transformationen immer wieder gegeben. Eine der wichtigsten ist sicherlich der von antiken Genien und Eroten abgeleitete Putto, der vor allem barocke Altarensembles und sonstige Dekorationssysteme schmückt. Forschungsgeschichtlich gesehen besonders wichtige Motivwanderungen sind die bewegten Frauengestalten in quattrocentesken Fresken, wie die tanzende Salome, die einer griechischen Mänade entspricht und die fruchtkorbtragende Dienerin in Domenico Ghirlandaios Fresken in S. Trinità in Florenz. Warburg konstatierte in ihnen bekanntlich „Vorprägungen“ oder „Engramme leiden-

314  So in dem Gemälde in einer englischen Privatsammlung und der Bologneser Collezione Lauro. Siehe unten Anm. 332 und 333. Für entsprechende Cupido-Darstellungen, und zwar ein Gemälde in einer New Yorker Privatsammlung sowie das vormals Reni zugeschriebene Gemälde der Sammlung Corsini siehe unten, Anm. 340 und 320.

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153 Guido Reni, Bambino Gesù, England, Privatsammlung

schaftlicher Erfahrung“, die als „gedächtnisbewahrtes Erbgut“ die Antike überlebten und in den christlich-religiösen Kontext integriert wurden.315 Die hier interessierende Filiation des christlichen Bambino Gesù aus dem antik-mythologischen Cupido ist also nicht einmalig. Wie angedeutet, funktio­ niert sie in meinen Augen allerdings anders als die genannten Beispiele und ist gerade deswegen signifikant. Denn hier werden weder Ikonographien schrittweise assimiliert noch einzelne Figuren wie Warburgs berühmte „Ninfa“ in einen neuen Bildzusammenhang eingeblendet. Es wird vielmehr quasi ad hoc eine vollständige Figuration in Analogie zu einer bestehenden antiken ent­wickelt und diese fortlaufend durch die Veränderung der Attribute variiert. Diese Bildschöpfung erfolgte m. E. zwar durchaus in dem Bewußtsein einer möglichen Vergleichbarkeit der Figuren durch inhaltliche Konjekturen im Sinne einer sich im Akt der Rezeption ergebenden ‚spielerischen‘316 Bedeutungsstiftung und im Sinne einer Angebotsstruktur durch das in der Renaissancekultur etablierte Rezeptionsmuster einer allegorischen Interpretation der Mythen und des Zusammenhangs von himmlischer und irdischer Liebe. Sie geschah jedoch sicherlich zugleich in dem Bewußtsein der grundsätz­ lichen Alterität der Sujets. Gerade diese Alterität machte wohl einen großen Teil des Reizes der neuen Bildformel aus. Nicht zuletzt dürfte die interpretatio ­christiana antiker Formeln und Figuren in Zeiten einer Diskursivierung des religiösen Bildes, weiterhin der Kritik an solchen Übetragungen und des Plädoyers für die Trennung der Bildsprachen um 1600 so ‚unbedarft‘, wie sie – von Erwin Panofsky glänzend analysiert –317 vor allem in der Frührenaissance

315  Die Zitate aus Warburgs Einleitung zum Bilderatlas Mnemosyne, in: Gesammelte Schriften. Abteilung 2, Bd. 1, hg. v. Martin Warnke & Claudia Brink, Berlin 2000, S. 3–6, hier 3 und 4 mit Hinweisen auf die grundlegenden Texte für diesen Themenkomplex von Erwin Panofsky, Edgar Wind und Jean Seznec. 316  Zum hier gemeinten Konzept des ‚serio ludere‘ siehe unten Anm. 410. 317  Siehe vor allem Erwin Panofsky, Renaissance und „Renaissancen“, in: ders. Die Renaissancen der europäischen Kunst (Orig. 1960), Frankfurt a. M. 1979, S. 55–117, bes. 88–117.

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gegeben war, gerade auch nach der Kritik Luthers an solchen Phänomenen318 kaum mehr möglich gewesen sein – es sei denn, es handelt sich um längst kanonische Parallelen. Zu diesen können die des Bambino Gesù und des Cupido dormiente allerdings nicht zählen. Wie bewußt die Künstler bei ihrer gezielten Transfers vorgingen, zeigt sich daran, wie nachhaltig sie durch die Variation der Arm- und Beinstellungen und des Arrangements der Figuren die Bezüge zwischen den konträren Sujets ausreizten, ja geradewegs durchspielten – als erprobten sie das, was die Verbindungen und Transformationen hergeben und was ihnen möglich und machbar erschien. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Dadurch werden die BambinoDarstellungen nicht ‚profan‘ – sie funktionieren ja durchaus als Figurationen im beschriebenen Sinne des Verweises auf den Opfertod Jesu. Gleichwohl bekommen sie für jene Betrachter, die sich die Genese des Sujets und damit analoge Cupido-Darstellungen vor dem inneren Auge evozieren oder sich gar durch den Besitz eines „Cupido“ und eines „Bambino“ die Prozesse der Vertauschungen materialiter vergegenwärtigen konnten – ein gewisses ‚inversives‘ und wohl auch ‚subversives‘ Potential, das bei entsprechender Disposition ihrer Betrachter aktiviert werden konnte, aber nicht mußte.

6.3 Spielformen der Ambiguität: Heranwachsende Cupidi und ­ebensolche Christuskinder Der Transfer der Formen vollzog sich nicht nur in eine Richtung. Von einem veritablen ‚Spiel‘ der Umkehrung und Vertauschung läßt sich erst sprechen, zieht man eine weitere Gruppe von Bildern hinzu, und zwar die neuzeitlichen Darstellungen liegender Cupidi. Sie werden bezeichnenderweise von jenen Malern mit erkennbarer Freude an der Variation der Figur und ihrer Attribute geschaffen, die auch als Produzenten von Bambino Gesù-Darstellungen hervorgetreten sind: Guido Reni319 sowie einige italienische ‚Caravaggisten‘. So ruht Renis New Yorker „Cupido“ (Abb. 154)320 auf einem samtenen Bett in nahezu derselben Haltung mit aufgestützen Arm wie sein Washingtoner „Bambino“ (Abb. 148), und die Haltung des Liebesgotts in der leicht derivaten, 318  Hierzu Jean Seznec, Das Fortleben der antiken Götter: die mythologische Tradition im Humanismus und in der Renaissance, München 1990, S. 75, Anm. 5 (über Luthers Attacken gegen die „Allegorisierer“, die aus Apoll Christus und aus Daphne die Jungfrau Maria machten). 319 Siehe die Liste in der englischen Edition von Peppers Werkverzeichnis des Malers (D. ­Stephen Pepper, Guido Reni: A Complete Catalogue of His Works with an Introductory Text, Oxford 1984) unter Nr. B8, S. 296. 320 105,5  ×  138,5  cm; 1626–27; New York, Privatsammlung; Zuschreibung von Pepper, ­Guido Reni 1988, Nr. N25, S. 333 f.

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154  Guido Reni, Liegender Cupido, New York, Privatsammlung

156  Guido Reni, Bambino Gesù, Vaduz, Sammlung Liechtenstein

155  Guido Reni (Umkreis), Bambino Gesù, Rom, Galleria Corsini (aufbewahrt in der Camera dei Deputati)

157  Guido Reni, Schlafender Putto, Rom, Galleria Barberini

möglicherweise aus seinem Umkreis stammenden Bildfassung der Galleria Corsini (Abb. 155),321 in welcher der antike Liebesgott im Nymphengestus den Arm über seinen Kopf gelegt hat, ähnelt der des ihm zugeschriebenen „Bambino Gesù“ in der Sammlung Liechtenstein in Vaduz (Abb. 156).322 Und 321  95 × 137 cm; Rom, Galleria di Palazzo Corsini; inv. 184; aufbewahrt in der Camera dei Deputati; für diese Information danke ich Michele di Monte [nicht bei Pepper, Guido Reni 1988; siehe die Abbildung in Max von Boehn, Guido Reni, Bielefeld 1910, Nr. 90, S. 97]. 322  47,3 × 60,5 cm, Vaduz, Sammlung Liechtenstein; Inv. GE 26. Als Werk von Guido Reni in: von Boehn, Guido Reni 1910, S. 108, fig. 88; mit dieser Zuschreibung abgebildet in: Gockerell, Passionskind 1997, S. 52, Abb. 39. Als „studio version“, aber auf eine originale Erfindung von Reni zurückgehend, aufgelistet in der englischen Edition von Pepper, Guido Reni 1984, Nr. B8, CI, S. 296. Ich verdanke den Hinweis auf den aktuellen Standort sowie die Maße des

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158  Guido Reni, Maria mit schlafendem Jesuskind, Rom, Galleria Doria Pamphilj

159  Guido Reni (Umkreis), Bambino Gesù, ­Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle

auch sein schlafender Putto in der Galleria Barberini (Abb. 157)323 präsentiert sich uns schließlich ganz ähnlich wie das „schlafende Jesuskind“ der Galleria Doria Pamphilj, das von seiner Mutter Maria verehrt wird (Abb. 158).324 Bereits erwähnt habe ich eine Variation des Sujets, in der Cupido nicht auf einem kargen Felsen, und der Bambino Gesù nicht über dem Kreuz auf der bloßen Erde, sondern jeweils in einer prachtvollen Bettstatt ruhen. Zu letzteren zählt das Bambino Gesù-Gemälde in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, das als Werk eines „Nachahmers“ von Reni gilt (Abb. 159).325 Wie die etwas eigentümlich fragmentiert wirkende, auf den Rumpf gelegte rechte Hand des Jesuskindes zeigt, hat sich der anonyme Maler hier offensichtlich einen besonders berühmten „Cupido“ zum Vorbild genommen, und zwar Caravaggio Spätwerk in der Galleria Pitti (Abb. 160).326 Gemäldes in Vaduz dem Registrar des Liechtenstein-Museums in Wien, Herrn Mag. Michael Schweller. 323 57  ×  56  cm; Fresko; 1627; Rom, Galleria Nazionale Palazzo Barberini; siehe Pepper, ­Guido Reni 1988, Nr. 106, S. 264 f.; Abb. 98. 324  92 × 110 cm; 1627; Rom, Galleria Doria Pamphilj; siehe Pepper, Guido Reni 1988, Nr. 105, S. 264, Abb. 96; für die verschiedenen Versionen des überaus beliebten Sujets: Robert Enggass, Variations on a Theme by Guido Reni, in: The Art Quarterly 25 (1962), S. 113–122. Ent­wickelt wurde es aus einem (verlorenen) Altargemälde für Santa Maria Maggiore, auf dem Maria einen Schleier über das Jesuskind hält. Siehe Pepper, Guido Reni 1988, Nr. 107, S. 265, Tf. 98. 325  74 × 99 cm; Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, inv. 1764; siehe Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Katalog Alte Meister bis 1800, bearb. v. Jan Lauts, Karlsruhe 1966, S. 249, mit Hinweis auf eine frühere Zuschreibung des Gemäldes an Francesco Albani. 326  Für das Gemälde mit den Maßen 72 × 105 cm, das eine alte Aufschrift auf der Rückseite in die Malteser Zeit 1608 datiert, siehe: Caravaggio. L’ultimo tempo 2004, Nr. 8, S. 116–118; Marini, Caravaggio 2005, Nr. 93, S. 542–544; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 14, S. 433 f.; David M. Stone, In Praise of Caravaggio’s Sleeping Cupid: New Documents for Francesco dell’Antella in Malta and Florence, in: Melita Historica. A Scientific Review of Maltese History 12 (1997),

324

Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

160  Caravaggio, Schlafender Cupido, Florenz, Galleria Pitti

Caravaggios „Cupido“ und der „Liebesgott“ der Galleria Corsini aus Renis Umfeld machen eines deutlich: in den Verbildlichungen des ruhenden Bambino Gesù wird nicht nur auf antike Cupido-Skulpturen, sondern auch auf neuzeitliche Gemälde rekurriert. Dabei ist eine Tendenz besonders auffällig: In der hellenistischen und römischen Antike waren die Cupidi, wie gesehen, kleine Putti. In der Frühen Neuzeit wird hieran zwar zunächst festgehalten – so von Michelangelo in seinem nur zeichnerisch überlieferten Cupido, den er bezeichnenderweise als antik ausgab und der in der berühmten Grotta von Isabella d’Este neben einem für ein Werk von Praxiteles gehaltenen Cupido aufgestellt war –;327 im Seicento verändern die Cupidi aber ihre Physis: Sie entwachsen dem Babyalter, werden Kleinkinder oder gar reizvolle Knaben in heranwachsendem Alter. Zu nennen sind etwa Battistello Caracciolos „Amore dormiente“ in Hampton Court, der über einen riesigen Bogen und große dunkle Flügel verfügt und dessen Modell auf etwa sechs bis acht Jahre zu schätzen ist

Heft 2, S.  165–177; Caravaggio da Malta a Firenze (Ausst.-Kat. Firenze, Palazzo Vecchio 1996), hg. v. Giorgio Bonsanti & Mina Gregori, Mailand 1996, S. 40–44. 327  Siehe hierfür Michelangelo e l’arte classica (Ausst.-Kat. Firenze, Casa Buonarroti 1987), hg. v. Giovanni Agosti & Vincenzo Farinella, Florenz 1987, Nr. 14, S. 43–47; Alessandro Parronchi, Il Cupido dormente di Michelangelo, Florenz 1971, jeweils mit Publikationen von Skulpturen in Turin bzw. Bologna als Originale; und nun jüngst: Stephen Campbell, The Cabinet of Eros. Renaissance Mythological Painting and the Studiolo of Isabella d’Este, New Haven & London 2004, S.  91–102. Vgl. für die verschiedenen Überlieferungsquellen: Ruth Rubinstein, Michelangelo’s Lost Cupid and Fetti’s Vertumnus und Pomona, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 49 (1986), S. 257–259; Anchise Tempestini, Il „Cupido dormiente“ di Michelangelo e un dipinto veneto dei primi del Cinquecento, in: Musagetes. Festschrift für Wolfram Prinz zu seinem 60. Geburtstag am 5. Februar 1989, hg. v. Ronald G. Kecks, Berlin 1991, S. 287–298.

Die Waffen des Liebesgotts und die Arma ­Christi – Cupidi und Christuskinder im Schlaf

325

161 Battistello Caracciolo, Schlafender Amor, ­Hampton Court, Royal Collection

(Abb. 161),328 weiterhin ein ebenso großer „Cupido“ ohne Flügel, der als Werk eines Malers aus Caracciolo Umkreis gilt,329 inmitten der Attribute der Freien Künste ruht und sein Haupt auf einen Stapel Bücher bettet und schließlich – als attraktivstes Beispiel – der bereits jugendliche, lockige „Amore dormiente“ in einer Privatsammlung in Venedig, der wohl von Battistello Caracciolo stammt (Abb. 162).330 Er liegt nicht auf dem steinigen Boden, sondern auf einem satten dunkelroten Tuch mit dickem Kissen. Der schlanke Körper des Knaben ist subtil ausgeleuchtet, seine Flügel sind groß und dunkel, und sein Geschlecht ist seit der jüngst erfolgten Restaurierung des Gemäldes gänzlich unverhüllt. Hier ist die Synthese des antiken Cupido mit dem caravaggesken Engel im ragazzoTypus erreicht: Der Knabe ‚in ihm‘ wird dominant, und bezeichnenderweise weist er die caravaggesken Inkarnatunterschiede zwischen den stets der Sonne ausgesetzten Kopf und Händen sowie dem Rumpf auf. Auch diese ‚Entwicklung‘ der Knaben in doppeltem Sinne macht vor den Bambino-Darstellungen nicht halt. Ähnlich lieblich wie Caracciolos pracht-

328 92,1  ×  126,4  cm; London, Hampton Court; siehe Causa, Caracciolo 2000, Nr. A41, S. 184; Michael Levey, The Later Italian Pictures in the Collection of Her Majesty the Queen, ­Cambridge 1991, Nr. 422, S. 51 f.; es befand sich 1627 in der Sammlung Gonzaga in Mantua, aus der es Karl I. als vermeintliches Original von Caravaggio erwarb. 329  90,3 × 127,6 cm; ehem. London, Heim Gallery; mit als fraglich markierter Zuschreibung an Pietro Paolini bei Moir, Caravaggio and His Copyists 1976, Fig. 107, an Caracciolo bei Nicolson, Caravaggism in Europe, Bd. 1, 1989, Nr. 529, S. 74. 330  75 × 140 cm; ca. 1617/18 (möglicherweise während Caracciolos Florenz-Aufenthalt entstanden); Venedig, Sammlung Pier Luigi Pizzi. Den Bildzustand vor der Abnahme des (transparenten) Lendentuchs dokumentiert Papi (Papi, Cecco 2001, Tf. 47 „Pittore prossimo a ­Cecco del Caravaggio [Monogrammista RG?]“, ohne Katalogeintrag). Siehe auch Caracciolo 1991, Abb. 60, S. 71 („Filippo Vitale“); Nicolson, Caravaggism in Europe 1989, Bd. 1, Nr. 545, S. 74 (Caracciolo). Ich danke Wolfgang Prohaska für den Hinweis auf den aktuellen Aufbewahrungsort des Gemäldes sowie Clovis Whitfield für sein Entgegenkommen.

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

162 Battistello Caracciolo, ­Schlafender Amor, Venedig, Sammlung Pier Luigi Pizzi

163 Bartolomeo Cavarozzi (?), Schlafender Jesusknabe, Madrid, Museo del Prado

voller Londoner „Cupido“ ist der „Bambino“ im Prado, der möglicherweise von Bartolomeo Cavarozzi stammt (Abb. 163).331 Er ruht vor ungestaltetem 331  75 × 100 cm (im Depot); stark übermalt, insbesondere im Bereich des Gewandes; siehe Moir, Italian Followers 1967, Bd. 1, S. 114 f.; das Gemälde läßt sich bis 1767 in die Sammlung des Marqués de la Ensenada zurückverfolgen. Für die traditionelle Zuschreibung des Gemäldes an den aus Viterbo stammenden und zunächst in Rom tätigen Malers Cavarozzi (um 1586– 1625) spricht der Umstand, daß dieser im Umkreis des Marchese Giovanni Battista ­Crescenzi an den Hof von Philipp III. nach Spanien ging. Das Bild könnte demnach in C ­ avarozzis spanischer Zeit, zwischen 1617 und Frühjahr 1619, entstanden sein, ebenso jedoch auch davor oder danach, da Cavarozzi, Mancini zufolge, zahlreiche Bilder nach Spanien sandte. Für diesen Hinweis sowie eine Diskussion über die Autorschaft danke ich Marieke von Bernstorff, die 2008 ihre Dissertation über Cavarozzi und Crescenzi abgeschlossen hat (Agent und Maler als Akteure im Kunstbetrieb des frühen 17. Jahrhunderts. Giovan ­Battista ­Crescenzi und ­Bartolomeo Cavarozzi, München 2010). Für die alternative, auf Hermann Voss zurückgehen-

Die Waffen des Liebesgotts und die Arma ­Christi – Cupidi und Christuskinder im Schlaf

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Hintergrund auf kargem Boden über einem braunen Kreuz. Sein Alter läßt sich auf etwa zwölf bis vierzehn Jahre schätzen, und genau in diesem ‚transitorischen‘ Alter liegt seine Attraktivität: Er ist nicht mehr Kind und noch nicht Mann und hat darüber hinaus leicht androgynen Charakter. Seine Blöße ist mit einem großen roten Tuch bedeckt – anderes wäre es angesichts des fortgeschrittenen Alters des Knaben auch kaum möglich gewesen –, wodurch sich ein reizvolles Farbspiel mit den rötlich-braunen Haaren und dem roten Mund des Knaben, dessen nackter Oberkörper durch eine starke Lichtquelle akzentuiert wird, ergibt. Er ist ein schlafender ragazzo, dessen Reiz in seiner Lieblichkeit und altersbedingten ‚Labilität‘ liegt, der zwar als Bambino Gesù identifizierbar ist, dem jedoch zugleich deutlich eine ‚profane‘ Subidentität als kleiner Liebesgott eingeschrieben ist.

6.4 Zwischen antiker Mythologie und christlicher Heilsgeschichte: Schlafende Kinder und ein weiterer Bildpalimpsest Gerade im Kontext meiner Ausführungen zur Ambiguität ist ein durchaus kurios anmutendes Phänomen bei den Christus-Cupido-Vertauschungen von besonderem Interesse: Es gibt eine von der Forschung, soweit ich sehe, nie kommentierte Gruppe von Darstellungen schlafender Knaben, die gänzlich ohne Attribute auskommen. Sie lassen sich weder den Bambino Gesù- noch den Cupido-Darstellungen sicher zuordnen, da zum Beispiel in der Bildtradition durchaus auch Cupido-Darstellungen ohne Flügel belegt sind.332 Zu nennen ist de Zuschreibung des Bildes an Orazio Gentileschi siehe Roger Ward Bissel, Orazio Gentileschi and the Poetic Tradition in Caravaggesque Painting, Philadelphia 1981, Nr. X-3, S. 200 f.; sowie Museo del Prado. Pintura italiana del siglo XVII, Madrid 1970, Nr. 84, S. 276. Für Leben und Werk Cavarozzis siehe Susanne Christine Martin, s.v. Bartolomeo Cavarozzi, in: Allgemeines Künstlerlexikon Bd. 17, 1997, S. 382 f.; Pierre Curie, Bartolomeo Cavarozzi. Un exemple problématique de diffusion du caravagisme en France et en Espagne, in: Nicolas Tournier et la peinture caravagesque en Italie, en France et en Espagne. Colloque international organisé par le Département d’Histoire de l’Art et d’Archéologie de l’Université de Toulouse-Le Mirail 7.–9. Juni 2001, hg. v. Pascal-Francois Bertrand, Paris 2003, S. 207–216; Gianni Papi, Indagini sulla fase matura di Bartolomeo Cavarozzi, in: Arte cristiana 89 (2001), S. 427–438; ders., Riflessioni sul percorso caravaggesco di Bartolomeo Cavarozzi, in: Paragone 47 (1996), S. 85–96. 332  Bekannt sind mir das erwähnte Gemälde, das sich in der Heim Gallery befand (siehe Anm. 328), sowie ein kurioser „Cupido“ bzw. „Sonno“ in einer Neapolitanischen Privatsammlung, der von seinem Prachtkissen auf einen Totenschädel und eine Sanduhr krabbelt. Die im ­Caracciolo-Katalog von 1991, Nr. 2.60, S. 303, vorgenommene Zuschreibung des Gemäldes an Massimo Stanzione haben Sebastian Schütze & Thomas Willette, Massimo S­ tanzione. L’opera completa, Neapel 1992, nicht übernommen. Es muß sich um ein im Seicento sehr bekanntes Gemälde gehandelt haben, denn es existierte davon eine druckgraphische Reproduktion in Form eines Holzschnitts, der in Janson, The Putto 1937, S.  447 f., fig. 18, abgebildet ist (­ohne Bezug auf das Gemälde in Neapel). Er wiederum diente als Vorbild für ein Gemälde von ­Pieter Moninckx (La Haye, um 1606–ebd. 1686?) im Statens Museum for Kunst in Kopen­ hagen (­siehe: L’or et l’ombre. Catalogue critique et raisonné des peintures hollandaises du dix-­

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

164 Guido Reni, Bambino Gesù, Bologna, Sammlung Roberto Lauro

das oben bereits erwähnte, Guido Reni zugeschriebene Gemälde in einer englischen Privatsammlung, das ein kleines, dem Babyalter vor nicht allzu langer Zeit entwachsenes Kind zeigt (Abb. 153).333 Es liegt bildparallel auf der Seite und zum Betrachter ausgerichtet in einem Bett und bedeckt mit dem Gestus der „Venus Pudica“ sein Geschlecht. Weitere Beispiele sind ein von der Forschung als „Jesuskind“ bezeichnetes Gemälde Renis in der Sammlung von Roberto Lauro in Bologna (Abb. 164), in dem wiederum ein Kleinkind im Bett liegt und durch einen Vorhang gerahmt ist,334 sowie der bereits erwähnte „Bambino“ im Prachtbett in der Staatlichen Kunstsammlung in Karlsruhe (Abb. 159). Am attraktivsten, weil uns hier wiederum ein lebensgroßer, intensiv ausgeleuchteter und entspannt schlafender Junge im reizvollen ‚ambigen‘ Alter gezeigt wird, ist ein Battistello Caracciolo zugeschriebenes Gemälde in der Galleria Regionale della Sicilia in Palermo (Abb. 165): Das den Knaben umgebende tiefe Schwarz des Hintergrunds gibt nur bei guter Ausleuchtung des Gemäldes und nahsichtiger Betrachtung die auf seine Identität als Cupido verweisenden Flügel und einen Totenschädel unter seinem Haupt zu erkennen.335 Aber letzteres identifiseptième et du dix-huitième siècles, conservées au Musée des Beaux-Arts de Bordeaux, bearb. v. Olivier Le Bihan, Bordeaux 1990, S. 206; 43,5 × 33 cm). Auch im Kopenhagener Gemälde hat das Kind keine Flügel. Vgl. auch das unten angeführte Gemälde in Palermo. Möglicherweise gab es auch bereits in der Antike Darstellungen Cupidos ohne Flügel, worauf die „Statue eines schlafenden Knäbchens“ (28 × 61,5 cm) in den Musei Vaticani den Hinweis gibt; siehe hierfür Georg Lippold, Die Skulpturen des Vatikanischen Museums, Bd. III, 2. Text, Berlin 1956, Nr. 107, S. 364, Tf. 155. 333  86  ×  110; 1634/35; England, Privatsammlung; siehe Pepper, Guido Reni 1988, Nr. 35, S. 338 f.; er vermerkt lakonisch: „È l’esemplare autografo. Non sono presenti simboli cristologici“ (S. 338). 334  60 × 75 cm; ca. 1640; Bologna, Collezione Lauro; Pepper, Guido Reni 1988, Nr. 57, S. 342; Stanze bolognesi. La Collezione Lauro, hg. v. Daniele Benati & Pierluigi Giordano, Bologna 1994, Nr. 23, S. 72: mit Hinweis auf die fehlenden Attribute. 335  72,5 × 96,5 cm; wohl vor 1617; ehem. Tabularium di Monreale; Palermo, Palazzo ­Abatellis; Causa, Caracciolo 2000, Nr. A40, S. 184 („Amore dormiente“); Maria Giulia Aurigemma, in: Pittori del Seicento a Palazzo Abatellis (Ausst.-Kat. Palermo, Galleria Regionale della ­Sicilia

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165 Battistello Caracciolo, Schlafender Cupido, P­alermo, Palazzo Abatellis

ziert den Jungen keineswegs eindeutig, denn auf einem Totenschädel ruhen in der Bildtradition kleine Liebesgötter ebenso wie Jesuskinder.336 Daß angesichts der schlechten Erkennbarkeit der Flügel auch eine allegorische Benennung des Knaben als Verkörperung des Schlafes möglich wäre, liegt auf der Hand.337 Es liegt im Kalkül des Malers uns diesbezügliche Eindeutigkeit vorzuenthalten. 1990), hg. v. Vincenzo Abate, Mailand 1990, Nr. 3, S. 76–79 („Amore dormiente“). Ihre Bemerkung, es könne sich auch um einen „Bacchino“ oder einen „San Giovanni Battista“ handeln (S. 78), ist im Kontext meiner Ausführungen natürlich interessant, allerdings dürften diese Benennungen aufgrund des Totenschädels ausgeschlossen sein; dies., in: Soprintendenza per i ­Beni Artistici e Storici della Sicilia Occidentale Palermo. XII Catalogo di opere d’arte restaurate (1978–1981), Palermo 1984, S. 161–164. Soweit ich sehe, ist das Problem der fehlenden Flügel nie vermerkt worden; lediglich Michael William Stoughton, The Paintings of Giovanni Battista Caracciolo, Ann Arbor 1975 (Diss. Univ. of Michigan 1973), Nr. 31, S. 105, bezeichnet wohl seinetwegen das Gemälde als „Sleeping Boy“. 336  Vgl. den „Putto con teschio“ in einer Neapolitanischen Privatsammlung (siehe Anm. 331). Wie oben angedeutet, hat die Figuration mittels einer druckgraphischen R ­ eproduktion ­Verbreitung gefunden; davon angeregt sind die beiden Gemälde von Pieter Moninckx in Kopen­hagen (siehe Anm. 331) und im Musée des Beaux-Arts in Bordeaux (L’or et l’ombre 1990, Nr. 57, S. 204–208: 33 × 53 cm; sign.) mit deutlichem Vanitas-Bezug. (Den Hinweis auf Moninckx’ Gemälde bei Ottani Cavina, Un dipinto di Cecco 1994, S. 158, Anm. 2; der Maler war in den Jahren 1625–39 in Rom). Albanis verlorener, nur im Stich überlieferter Putto schläft auf einem Kreuz, das wiederum über einem Schädel liegt (siehe Anm. 298). Vgl. auch die zahlreichen Bildbespiele aus der süddeutschen Volkskunst, die Zoepfl, Das schlafende Jesuskind 1936, passim, auflistet und teilweise abbildet. 337  Es handelt sich um einen Bildtypus, der vor allem in der Skulptur der Neuzeit wieder aktiviert wird, dabei offensichtlich aber später auftritt als die Cupido- bzw. Bambino GesùDarstellungen. Vgl. etwa Algardis Werk in der Galleria Borghese aus „pietra di paragone“, sowie die Skulpturen im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (1625–30); siehe hierfür Liselotte Möller, Schlaf und Tod. Überlegungen zu zwei Liegefiguren des 17. Jahrhunderts, in: Festschrift für Erich Meyer zum 60. Geburtstag, 29.10.1957. Studien zu den Wer-

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Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

166 Caravaggio, Schlafender Cupido, ­Indianapolis, Museum of Art

Daß der Reiz des Sujets mit dem liegenden Bambino Gesù tatsächlich in seinem Potential der semantischen Umbesetzung der Figur liegt, zeigt die Geschichte eines Gemäldes im Indianapolis Museum of Art (Abb. 166) in größtmöglicher Deutlichkeit. Wir sehen in ihm einen schlafenden Cupido mit Flügeln, Pfeil und Bogen, der Caravaggios forciert häßlichem Liebesgott in der Galleria Pitti (Abb. 160)338 sehr ähnlich ist. Vermutlich handelt es sich um eine leicht abweichende Kopie des Bildes oder um eine derivate, möglicherweise sogar eigenhändige, frühere Fassung desselben.339 Leider wissen wir nicht, zu ken des ­Museums für Kunst und Gewerbe, Hamburg 1959, S. 237–248. Bei den unter Anm. 331 genannten Cupidi ohne Flügel dürfte die Grenze, welche Werke als ‚Cupido‘ und welche als ‚Sonno‘ zu klassifizieren sind, schwer bestimmbar sein – vergleiche etwa den „Cupido ­dormiente su un teschio“ in einer neapolitanischen Privatsammlung –, aber genau darin bestand die Absicht der betreffenden Künstler. Im übrigen gab es das Sujet bereits in der Antike, wobei es nach Söldner, Untersuchungen zu liegenden Eroten 1986, weniger die Attribute waren, die einen Hypnos von einem Eros deutlich unterschieden (v. a. die Mohnkapsel), als die Physis: Hypnos war älter, kein babyhaftes Kind, sondern ein Jüngling. Dies erklärt die Vermischung gerade in dem Moment, in dem die Kinder älter werden. Die Darstellungen haben häufig einen Vanitas­aspekt, wenn die entsprechende Figur aus einem Grabkontext stammte. 338 Den Aspekt des Häßlichen arbeitet besonders scharf Prater, Licht und Farbe 1992, S. 141–149, für Caravaggios Florentiner Gemälde heraus. 339  65,4 × 105,4 cm; Indianapolis Museum of Art, The Clowes Fund Collection; siehe Federica Gasparrini, in: Caravaggio. Originale und Kopien 2006, Nr. 2, S. 206 f.; Maurizio Marini, in: Il Cinquecento lombardo. Da Leonardo a Caravaggio (Ausst.-Kat. Milano, Palazzo Reale 2000/01), hg. v. Flavio Caroli, Mailand 2000, Nr. IX. 4, S.  480 f. Er hält das Gemälde, eine Idee von Friedländer aufgreifend, für ein eigenhändiges Werk aus der Zeit um 1600–02, mit der Begründung, daß es das Vorbild für ein vermutlich 1600–1602 verfaßtes, 1604 publiziertes Madrigal von Gaspare Murtola (Nr. 471), in dem (allerdings ohne Angabe eines Künstlers!) ein „[Amore] che in dolci forme / Languidetto […] dorme“ besungen wird und vermutet, das Bild sei für Benedetto Giustiniani bestimmt gewesen; Caravaggio hätte es in seinem Spätwerk folg-

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welchem Zeitpunkt ein uns unbekannter Maler auf die Idee kam, diesen dem Babyalter längst entwachsenen nackten Jungen mittels gezielter Übermalungen in einen schlafenden Bambino Gesù zu transformieren.340 Hierzu wurden ihm Flügel und Waffen genommen, das Holzbrett, auf dem er liegt, wurde zu einem Kreuz erweitert, und ihm wurde eine Dornenkrone unter den Lockenkopf gelegt.341 Für solche Bildinversionen gibt es weitere Beispiele. Ich erinnere an die oben angeführte Transformation von Vignalis Konzertdarstellung (Abb. 103 und 105). Aber auch Kurtisanenbildnisse konnten durch die einfache Zugabe eines Attributs in eine „Hl. Lucia“ und Venusfiguren in büßende Magdalenen und viceversa verwandelt werden:342 ein Reiz wird für die Besitzer gerade in der Palimpseststruktur der Bilder bestanden haben. Beim Beispiel des CupidoBambino in Indianapolis ist unübersehbar, daß diese kuriose fortuna critica eines Gemäldes letztlich nur die Konsequenz aus der Erfindung des Sujets mit der Absicht der Analogie und hierdurch bedingten Ambiguität zwischen einem profanen und einem religiösen Sujet ist – eine Konsequenz, die sich hier in die Bildstruktur im Sinne eines Palimpsests eingeschrieben hat.

lich weitgehend wiederholt. Die Pentimenti sowie die Zusammenfügung der Leinwand aus zwei Stücken sind, anders als von ihm und seiner Schülerin, Federica Gasparrini, behauptet, zwar durchaus ein Indiz für eine eigenhändige Ausführung, keineswegs aber ein untrügliches Indiz für dieselbe. Vgl. auch A. Ian Fraser, A Catalogue of the Clowes Collection. Indianapolis Museum of Art (= Bulletin Indianapolis Museum of Art N. S. 2 [1973]), H. 1/2, S. 42; Friedländer, Caravaggio-Studies 1955, Nr. 38B, S. 212. Die überwiegende Anzahl der Autoren hält das Gemälde für eine Kopie nach dem Pitti-Gemälde von Gentileschi, Caroselli oder Pietro Paolini. 340  Es gibt vom übermalten Zustand bedauerlicherweise keine Abbildung; das von Marini, Caravaggio 2005, S. 314, abgebildete Detail der Röntgenaufnahme gibt wenig zu erkennen. 341  Das Gemälde läßt sich bis in die 1830er Jahre in eine Privatsammlung in Dublin verfolgen, aus der es in den 1950er Jahren ein New Yorker Kunsthändler, der die Übermalungen abnehmen ließ, erwarb. Dokumentiert ist diese Rezeptionsgeschichte bei Friedländer, Caravaggio Studies 1955, S. 212: „When this painting was recently discovered in the possession of a New York art dealer, it was thinly but completely overpainted with the figure of a Christ-Child ­sleeping, his head upon a crown with thorns. Thorough cleaning revealed a sleeping C ­ upid under this Christ-child, and the Cupid corresponds in almost every detail to the painting in the Pitti. With the removal of the overpainting two wings appeared, one in the background with a curved light streak, the other spread out before the figure; also the bow with its loose string, and arrows in the boy’s hand, as well as the quiver with arrows under his head, in the place of the crown of thorns. Only the wooden board on which Cupid lies, which was later changed into the stem of the Cross, cannot be discovered in the Pitti painting“. 342  So Giovanni Domenico Ottonelli & Pietro Berettini, Trattato della pittura, e scultura, uso, et abuso loro, Florenz 1652, S. 328 f. Von den Magdalena-Venus-Transformationen berichtet Jan Vos in seinem „Zeege der Schilderkunst“ mit Bezug auf Govert Flinck und einen anonymen Maler; siehe hierfür Gregor J. M. Weber, Der Lobtopos des „lebenden“ Bildes. Jan Vos und sein „Zeege der Schilderkunst“ von 1654, (Diss. RWTH Aachen 1987), Hildesheim u. a. 1991, S. 168 f.; vgl. Weddigen, Lucias Augen 2005, S. 102.

332

Arbeiten an der Semantik. Ambiguität im religiösen Sammlerbild

6.5 „L’invito al bambino“: Parallele Phänomene in der zeitgenössischen sakralen Lyrik Abschließend sei im Sinne eines Ausblicks auf die weitere Dimension des Themas ein paralleles Phänomen in der Literatur der Zeit angeführt. Bezeichnenderweise lässt sich auch in der Lyrik um 1600 eine kalkulierte Ambiguität zwischen profanen und sakralen Sujets beobachten, und dies sogar bei solchen Themen, die eine entsprechende Mehrdeutigkeit in der Malerei konditioniert haben: beim Jesuskind und der hl. Magdalena. Ulrich Schulz-Buschhaus und Marc Föcking haben in ihren Studien zu den barocken „rime sacre“ auf das Phänomen „tendenzieller Indifferenz von Thematik und ‚verità delle cose‘“ in der religiösen Lyrik der Zeit aufmerksam gemacht, das sich ihnen zufolge in den Werken zahlreicher bekannter Autoren manifestiert.343 So besingt etwa Giambattista Marino die zu Füßen des Kreuzes Christi weinende Maria Magdalena, ohne die Person oder den Ort explizit zu nennen, und bedient sich dabei auch keiner ausschließlich für religiöse Literatur spezifischen Stilistik oder Metaphorik.344 Es ist also allein der Kontext des Gedichts – in diesem Fall seine Einbindung in eine Gedichtfolge zu demselben Thema –, der die Identifikation des Sujets und der besungenen Figur ermöglicht. Rezipierte man das Gedicht hingegen von seinem Kontext isoliert, ließe es sich problemlos als ein amouröses Madrigal auf eine beliebige donna lesen. Diese Assimilation und Konvergenz mit lexikalischen und stilistischen Verfahren profaner Lyrik und die kalkulierte Einsetzung polysemen Sprachmaterials zeigt Föcking auch an Gedichten über das Jesuskind auf; so an Antonio Grillos 1608 publiziertem, mit der unspezifischen Überschrift „Invito al bambino“ versehenem Madrigal: „Vien, pargoletto, vieni In questo petto, tù se pur mio core, Tù se pur lo mio amore. Vieni, caro, caretto; Che per capire in me sei pargoletto.“

343  Ulrich Schulz-Buschhaus, Barocke „Rime sacre“ und konzeptistische Gattungsnivellierung, in: Die religiöse Literatur in der Romania (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 13), hg. v. K.-H. Körner & H. Mattauch, München 1981, S.  179–190; Föcking, Rime sacre 1994, bes. S. 260–270. 344  „Dalla testa e da’ lumi / e di chiome e di lagrime confonde, / sparse in lucide stille e ‘n tepid’ onde, / costei, torrenti e fiumi. / Oh ricchezza, oh tesoro! / Due piogge: una d’argento e l’altra d’oro.“ (G. M., Poesie varie, hg. v. Benedetto Croce, Bari 1913, S. 371), vgl. SchulzBuschhaus, Barocke „Rime sacre“ 1981, S.  187; relativierend hingegen Föcking, Rime sacre 1994, S. 260 f.

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„Komm, Knäblein, komm, in diese Brust, du bist doch mein Herz, du bist doch meine Liebe. Komm, Lieber, lieber Kleiner; das zu begreifen bist du in mir, Knäblein.“345

Wäre das Madrigal Teil einer Anthologie italienischer Lyrik ohne Angabe von Verfasser und Quelle und nicht der „Poesie sacre“ Grillos, ließe sich sein Protagonist kaum als das Jesuskind identifizieren, denn „das Fehlen göttlicher Attribute und Namen sowie die dem melischen Madrigal entsprechende Verniedlichung durch Diminutive vermeidet“ nach Föcking „die Markierung des Sakralen“.346 Ähnliches gilt für folgendes Gedicht von Marino: „Finto non è, ma spira Il diuin pargoletto, Ch’ala Vergine madre in grembo posa. Mira i dolci atti, mira Con qual pietoso affetto Le ride, e scherza. E ben mouer vedresti I bei membri celesti Ma non vuole, o non osa (Sì lo stringe d’Amor tenace laccio) Ala gran genitrice uscir di braccio.“ „Vorgetäuscht ist es nicht, sondern es atmet, das göttliche Kind, das im Schoß der jungfräulichen Mutter ruht. Sieh die sanften Gebärden, sieh, mit welch barmherzigen Gefühl es ihr zulächelt und mit ihr scherzt. Und du würdest wohl die göttlichen Glieder sich bewegen sehen, doch es will oder wagt nicht (so sehr bindet es das feste Band der Liebe), die Umarmung der hohen Mutter zu verlassen.“347

Es ist die paradoxe Formulierung „Vergine madre“ sowie natürlich die Position des Gedichts innerhalb der sakralen Abteilung von Marinos „Rime“, die 345  Poesie sacre del molto R. P. Abbate D. Angelo Grillo. Comprese sotto questi capi: ­Pietosi Affetti, Lagrime del penitente, I flagelli di Christo […], Venedig 1608, parte prima Mad. CCXC, S. 228 (es ist Teil der „Pietosi affetti“); vgl. Föcking, Rime sacre 1994, S. 261. 346  Ebd., S. 262. 347  Giambattista Marino, La Galeria. Zweisprachige Auswahl (Italienisch–Deutsch), hg. & übers. v. Christiane Kruse & Rainer Stillers unter Mitarbeit von Christine Ott, Mainz 2009, Nr. 25, S. 126 f. Das Gedicht erschien zuerst in den „Rime“ von 1602, S. 137, wurde aber in dessen späteren Ausgaben gestrichen und in die „Galeria“ eingeführt, worin es mit „Madonna del Correggio“ überschrieben ist. Dies dürfte den Lesern dieser Edition ebenfalls ein Indiz für die adäquate Lesart gegeben haben.

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darauf hindeuten, daß der Dichter hier das Jesuskind im Schoße der Muttergottes besingt. Tilgte man „Vergine“, könnte das Madrigal „einzeln stehend ohne weiteres zur damals beliebten Dichtung auf den ‚Amore pargoletto‘ gehören“,348 die Marino selbst gepflegt hat. Wie Föcking weiter ausführt, ließen sich Marinos Amor-Madrigale ihrer dezidiert erotischen Konnotationen wegen zwar nicht als geistliche Gesänge auf Christus und Maria lesen, wohl aber umgekehrt die geistlichen Madrigale von Grillo und Marino als Gedichte auf den kindlichen Amor, da sie sich derselben Motiv-Felder, Metaphoriken und stilistischen Eigenheiten bedienen.349 Und auch die Publikationsform von Marinos „Rime“ ist bedeutsam. In ihnen sind hinter einem Frontispiz mit einer auf einem Delphin reitenden unbekleideten Wassernymphe „Rime Amorose, Marittime, Boscherecce, Heroiche, Lugubri, Morali, Sacre & Varie“ miteinander vereint. Die „rime sacre“, denen das zitierte Gedicht über das Jesuskind entnommen ist, werden also weder als etwas kategorial anderes behandelt, noch sind sie den weltlichen Gedichten übergeordnet. Im Gegenteil, sie erscheinen in der letzten Sparte hinter den „maritimen“ und den „schaurigen“ Gedichten, lediglich gefolgt von den „varie“.350 Was ist aus diesem parallelen Befund zu schließen? Sicherlich bestehen zwischen der religiösen Lyrik und der religiösen Malerei in verschiedener Hinsicht Unterschiede. So ist die für die Produktions- und Rezeptionsbedingungen ambiger Malerei wichtige Unterscheidung von privaten und öffentlichen Räumen in dieser Weise in der Poesie nicht gegeben. Gleichwohl ist die verblüffende Parallele der Phänomene nicht zu übersehen: die kalkulierte und pointierte Desemantisierung von Bildsprache und lyrischer Sprache, der Versuch, klare Markierungen und Zeichen zu meiden, und das ‚Auskosten‘ des Transfers von Sprach- und Bildformeln. Sie beweisen den Reiz des Ambivalenten sowohl auf der Produktions- als auch auf der Rezeptionsseite in Lyrik und Malerei. Wie in diesem Medium wird auch in der Poesie durch solche Vertextungsstrukturen das Problem des Dekorums berührt, die Unangemes-

348  Föcking, Rime sacre 1994, S.  262, er verweist auf folgendes Gedicht über den Amor: „Fanciullo in braccio alla madre. Vago bambin, che’n due mammelle intatto [sic!] / Suggi latte da latte, Dimmi, qual de gli Dei / Se’tu, che trasformato/Godi quel, che si nega à i desir miei? / Certo, fanciul beato, Se Venere è costei, / Altri non se’, ch’Amor, se’l figlio sei“ (G. M., La Lira 1675, parte seconda, Mad. VII, S. 246). 349  Föcking, Rime sacre 1994, S. 263. 350  Schulz-Buschhaus, Barocke „Rime sacre“ 1981, S.  181 f.: „Eine solche Ausdifferenzierung verschiedener Themenbereiche, zumal von ‚Rime amorose‘ und ‚Rime sacre‘, war der petrarkistischen Tradition fremd. In ihr wurden das Amouröse und das Sakrale nicht als von vornherein getrennte Genera nebeneinandergestellt, sondern beides wirkte – wenigstens der Prätention nach – in einer Figur autobiographisch gestalteter Erfahrung zusammen“; vgl. auch ebd., S. 183.

Die Waffen des Liebesgotts und die Arma ­Christi – Cupidi und Christuskinder im Schlaf

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senheit einkalkuliert oder sogar auf sie hingearbeitet,351 und zugleich wird die Norm der Stiltrennung ad absurdum geführt.352 Wodurch diese Phänomene generiert werden, ist für die Gattungen verschieden zu beantworten. Die Tatsache, daß es sich – ebensowenig wie in der Malerei – nicht um ein beschränktes Phänomen von begrenzter Reichweite handelt, das im kleinen Kreis um Caravaggios Freund Marino erprobt wird, sondern – wie das Beispiel des Genueser Dichters Angelo Grillo zeigt – die Lyrik der Zeit generell auszeichnet, indiziert ihre epistemologische Perspektive. Um 1600 wird also in verschiedenen Medien virulent, wie sich Religiöses ausdrücken läßt.

351  Ebd., bes. S. 189, sowie Föcking, Rime sacre 1994, passim. 352  Ebd., S. 270.

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7. Resümee: Zum Gattungsprofil des religiösen Sammlerbildes um 1600 Nahezu alle der in den vorangegangenen Kapiteln besprochenen religiösen Werke, der visuellen wie auch der poetischen, haben eine Gemeinsamkeit: Sie korrespondieren nicht mit den um 1600 etablierten Vorstellungen, wie religiöse (Bild-)Sprache auszusehen hat. Ihre Strukturmerkmale, die Ambiguität und die Performativität, und die in vielen Heiligendarstellungen unübersehbare lascività laufen exakt jenen Kriterien zuwider, die in der Kunst- und Bildtheorie seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert als maßgebliche und bindende propagiert wurden.353 Was die Vorstellungen bezüglich der Ausdrucksweise und Sprachform des religiösen Bildes angeht, bestehen zwischen den Schriften der katholischen Reformtheoretiker – zu nennen sind vor allem Gabriele Paleotti und Giovanni Andrea Gilio sowie Roberto Bellarmino, Johannes Molanus und Federico Borromeo –, und kunsttheoretischen Texten wie Giovanni Paolos Lomazzos Malereitraktat weitgehende Übereinstimmungen. Sie fordern Deutlichkeit in der Benennbarkeit der Bildfiguren und -aussage, die notfalls sogar durch die Anbringung der Namen der Heiligen im Gemälde zu gewährleisten sei,354 sowie das klare und eindeutige ‚Vor-Augen-Führen‘ ihrer Inhalte, das vorrangig die Gefühle der gläubigen Betrachter stimulieren soll.355 Die Heilswahrheiten sollen ihnen via emotionaler Beeinflussung und Lenkung mit dem Zweck der Überzeugung vermittelt werden – commovere und persua353  Zur nachtridentinischen Bildtheorie: Hecht, Katholische Bildertheologie 1997; Norbert Michels, Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunst­ theorie des 15. und 16. Jahrhunderts, Münster 1988, S. 66–158 (zu Paleotti); Baumgarten, Konfession, Bild und Macht 2004; ders., Wirkungsästhetik und Wechselwirkungen: Kunst und Rhetorik in den Traktaten Carlo Borromeos, Gabriele Paleottis und Roberto Bellarminos, in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit, hg. v. Hartmut Laufhütte, Wiesbaden 2000, S.  515–534; Prodi, Ricerche 1962; allg. zum Zusammenhang von Reformbestrebungen und den Künsten: Giovanni Scavizzi, Controversy on Images. From Calvin to ­Baronius (T­oronto Studies in Religion 14), New York u. a. 1992, bes. S. 93–148; ders., Pittura e controri­forma nel secolo XVI: verso una nuova definizione del problema, in: Annali Accademici ­Canadesi 2 (1986), S. 43–59; Steven F. Ostrow, Art and Spirituality in Counter Reformation Rome. The Sistine and Pauline Chapels in S. Maria Maggiore, Cambridge 1996; Luise Lein­weber, Bologna nach dem Tridentinum. Private Stiftungen und Kunstaufträge im Kontext der katholischen Konfessionalisierung; das Beispiel San Giacomo Maggiore, Hildesheim 2000 (Diss. FU Berlin 1998); Seidel, Venezianische Malerei 1996; Stefania Macioce, Undique ­splendent. Aspetti della pittura sacra nella Roma di Clemente VIII. Aldobrandini (1592–1605), Rom 1990. 354  So Carlo Borromeo, Instructiones fabricae 2000, Bd. 1, Kap. 17, S. 74 (siehe das vollständige Zitat in meiner Einleitung). 355  Siehe Anm. 357.

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dere sind die rhetorisch-poetischen Termini, derer sich vor allem Paleotti in seinem „Discorso intorno alle imagine sacre e profane“ von 1582 bedient.356 Und gerade er setzt sich intensiv mit den Stilmitteln der oscurità und der ambiguità auseinander.357 Wenn Paleotti auch anerkennt, daß den Kategorien in der Antike und im Mittelalter im philosophischen und theologischen Diskurs ein gewisser Stellen­wert zukam, so lehnt er sie für die Malerei doch entschieden ab.358 356  Vgl. besonders Michels, Bewegung 1988, S. 127–155; auch Scavizzi, Pittura 1986, S. 47, zu Gilios Forderung in seinem „Dialogo nel quale si ragiona degli errori e degli abusi de’ pittori circa l’historie“ nach einer klaren und gut verständlichen Bildsprache im Sinne einer „purità primiera“ (mit weiteren Belegen); vgl. auch Anton Willem Adriaan Boschloo, Annibale ­Carracci in Bologna. Visible Reality in Art After the Council of Trent, Den Haag 1974, Bd. 1, S. 125; Marc Fumaroli, L’Âge de l’Éloquence. Rhétorique et „res literaria“ de la Renaissance au seuil de l’époque classique, Genf 1980, S. 147–150. 357  Paleotti, Discorso 2002, Buch II, Kap. 33, S.  202: „[…] occorre [nella pittura] sempre parlare in modo aperto e chiaro. Ma poiché questo costume non è da tutti sempre osservato, accade spesso di vedere in molti luoghi, e soprattutto nelle chiese, dipinti così oscuri e ambigui nel significato che, invece di illuminare l’intelletto e suscitare al contempo la devozione e stimolare il cuore, non fanno altro che confondere la mente, tanto da distrarla in mille direzioni diverse, da occuparla tutta quanta nel ragionamento continuo sull’interpretazione di una determinata figura, e tutto questo a danno della devozione. Così si perde quel poco di buona intenzione con cui si era entrati in chiesa, e molto spesso si scambia una cosa per un’altra, al punto che, invece di essere ammaestrati, si rimane confusi, se non addirittura ingannati“. 358  Ebd., S. 202–205. Recht ausführlich über die obscuritas in der Hl. Schrift handelt ­Erasmus in seinem „Hyperaspistes“; darin heißt es: „Nicht wir also haben die Schrift dunkel gemacht, sondern Gott selbst wollte, daß es eine gewisse Dunkelheit darin gebe, so daß dennoch ­alle Licht genug zur Erlangung des ewigen Heils hätten, wenn man die Augen anstrengt und die helfende Gnade nicht fehlt. Niemand leugnet, daß die sicherste Wahrheit in der Heiligen Schrift liegt, aber sie ist manchmal von den Vorhängen der Bilder und Rätsel verdeckt, so daß sie einer Erforschung und eines Auslegers bedarf, sei es, weil Gott auf diese Weise uns Träge zugleich beschäftigen und aufwecken wollte, wie Augustinus sagt; sei es, weil die Wahrheit mehr Freude macht und die Menschen heftiger erregt, wenn sie ausgegraben wurde und uns durch die Dunkelheiten der Bilder aufleuchtete, als wenn sie aller Augen ausgesetzt wäre; sei es, weil Gott nicht wollte, daß jener Schatz der Wahrheit allen preisgegeben sei.“ / „Nos igitur non fecimus eas obscuras, sed ipse Deus sic aliquam obscuritatem illis inesse voluit, ut tamen esset omnibus satis lucis ad salutem aeternam, si quis intendat oculos, nec desit adjutrix gratia. Nemo negat certissimam veritatem in sacris Libris, sed ea nonnunquam figurarum et aenigmatum involucris obtecta est, ut egeat scrutinio et interprete, sive quod Deus sic voluerit exercere simul et excitare nostram tarditatem, quemadmodum ait Augustinus: sive quod jucundior est veritas et acrius afficit animos hominum, cum eruta fuerit, et per tenebras involucrorum nobis eluxerit, quam si fuisset oculis quorumlibet exposita: sive quod thesaurum illum sapien­tiae nolueirt quibuslibet prostitutum“ (Erasmus von Rotterdam, Hyperaspistes, in: ders., Ausgewählte Schriften. Lat. u. dt., hg. v. Werner Welting, Bd. 4, Darmstadt 1969, S.  488–491). Allgemein zur obscuritas als dichtungsästhetischer, theologischer und rhetorischer Kategorie u. a: Manfred Fuhrmann, Obscuritas. Das Problem der Dunkelheit in der rhetorischen und literästhetischen Theorie der Antike, in: Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (= Poetik und Hermeneutik 2), hg. v. Wolfgang Iser, München 1966, S. 47–72; Walter Haug, Geheimnis und dunkler Stil, in: Schleier und Schwelle. Bd. 2: Geheimnis und Offenbarung, hg. v. Aleida & Jan Assmann, München 1998, S. 203–217.

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Die Zielsetzung der emotionalen Lenkung basiert auf dem Bewußtsein der Macht und Intensität des Gesichtssinns, was auch die für Texte wie Bilder gleichermaßen geltende Formel des ‚Vor-Augen-Führens‘ und das mit ihr verknüpfte wirkungsorientierte Konzept der enargeia/evidentia unmißverständlich indizieren.359 Mit der Formel von der „ecclesia visibilis“360 bringt Roberto Bellarmin dieses Programm auf den Punkt. Wie die Konfessionalisierungsforschung der letzten Jahre herausgearbeitet hat, ist mit solchen Forderungen auch ein religionspädagogisches Interesse verknüpft. Hier wurden die Grundlagen der modernen Disziplingesellschaft geschaffen, die auf die Affektbeherrschung und -lenkung ihrer Mitglieder hinarbeitet.361 Die Schriften der genannten Autoren sind folglich keine Produkte ‚akademischer‘ Gelehrsamkeit mit allenfalls eingeschränkter praktischer Relevanz, sondern haben tatsächlich den Anspruch, zum Zweck der Reformierung der Kirche die Bildsprache zu normieren. Mehrfach erwähnt habe ich, daß den in Texten fomulierten Forderungen nach der ‚Säuberung‘ der Kirchenräume von Bildern, die diesen Normen nicht entsprachen, durchaus auch Taten folgen konnten. Die sich bei dem hier vorgestellten Bildkorpus manifestierende Diskrepanz zwischen theoretischer Forderung und praktischer Umsetzung machte bereits der Problemkomplex des im Cinque- und Seicento intensiv diskursivierten ‚lasziven‘ Heiligenbildes transparent. Besonders deutlich wird sie, führt man sich den Stellenwert vor Augen, der im Zuge der tridentinischen Reformbestrebungen den Verbildlichungen eines oder einer Heiligen und speziell Bild und Kult der (frühchristlichen) Märtyrer beigemessen wurde. Abhandlungen wie Antonio Gallonios „Trattato de gli Instrumenti di martirio e delle varie maniere di martoriare“ von 1591, seine Schriften „De SS. Martyrum Cruciatibus“ von 1594 und die „Historia delle sante vergini romane“ von 1591 sowie das „Martyrologium Romanum“ des Oratorianers Cesare Baronio von 1582362 geben ebensosehr das Bestreben dieser Autoren zu erkennen, die Ideale des 359  Vgl. hierfür Verf.in, Die Enargeia 2000, S. 171–208 (mit weiterer Literatur). 360  Siehe hierfür Adriana Valerio, La verità luogo teologico in Bellarmino, in: Bellarmino e

la controriforma. Atti del simposio internazionale di studi (Sora 15.–18. Oktober 1986), hg. v. Romeo De Maio, Agostino Borromeo u. a., Sora 1990, S. 49–87, bes. 53; Baumgarten, Wirkungsästhetik 2000, S. 515 f. 361  Die diesbezügliche Forschung ist kaum mehr zu überblicken; vorrangig zu nennen sind die Arbeiten von Wolfgang Reinhard, Gerhard Oestreich und Heinz Schilling; hierzu ausführlich mit der Frage nach der Umsetzung in den Künsten: Jens Baumgarten, Konfession, Bild und Macht 2004; auch: ders., Wirkungsästhetik 2000, bes. S. 525–534; vgl. auch das mit „Aspekte der Gegenreformation“ betitelte Sonderheft 3/4 von Band 1 (1997) der Zeitschrift „Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit“. 362  Der Erscheinungsort aller Titel ist Rom; vgl. hierzu Brad S. Gregory, Salvation at S ­ take. Christian Martyrdom in Early Modern Europe, Cambridge MA & London 22001; Peter ­Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004.

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frühen Christentums zu propagieren, wie die in dieser Zeit ausgeführten umfangreichen Freskenzyklen u. a. in S. Stefano Rotondo, SS. Nero ed Achilleo und S.  Vitale.363 Auch Antiveduto Grammaticas bereits erwähnte Stichvorlagen mit Darstellungen frühchristlicher Märtyrerinnen364 sind Ausdruck des gerade in diesem Zeitraum forcierten Programms, mittels der Vergegenwärtigung dieser Exempla den Glaubenseifer ihrer Rezipienten zu erhöhen und deren Seelen- und Lebensführung anzuleiten. „Wen freut das nicht, wen treibt dies nicht zur Frömmigkeit an“ / „quem non delectet? quem non excitet ad pietatem“, fragt Pier Paolo Crescenzi in diesem Sinne rhetorisch in seinem Vorwort zu Antonio Gallonios Märtyrertraktat.365 Auch der Untertitel dieser Schrift ist sprechend, denn er indiziert das bewußte Kalkül der Affekterzeugung mittels der Erregung von Grauen: „quo potissimum instrumenta, & modi, quibus ijdem Christi martyres olim torquebantur, accuratissime tabellis expressa [sic!] describuntur“. Die hier programmatisch formulierte detailreiche Schilderung der grausamen Umstände der von den Märtyrern erlittenen Folterqualen soll die größtmögliche Vergegenwärtigung und Wirkung beim lesenden Publikum nach sich ziehen. Auf eine solche dezidierte Ästhetik des Schreckens verweist ja auch Gilios Forderung, den hl. Sebastian bespickt mit Pfeilen „wie ein Stachelschwein“ oder den hl.  Laurentius auf dem Rost „verbrannt, gekocht, aufgeplatzt, zerfetzt und deformiert“ darzustellen,366 und Paleotti reflektiert, daß gerade „pitture fiere et orrende“, die „heftigen und grausamen Malereien“ die Betrachter erschüttern und zur Tugend zu bekehren vermögen.367 Auch der Rektor des Collegium Germanicum und Auftraggeber der Fresken in S.  Stefano Rotondo schreibt explizit, wie die Reaktion auf diese Bilder aussehen soll: „molti non la possono 363  Siehe hierzu Leif Holm Monssen, The Martyrdom Cycle in Santo Stefano Rotondo, in: Acta ad archaeologiam et atrium historiam pertinentia II (1982), S. 175–317, und III (1983), S.  11–106; Herz, Imitators of Christ 1988; Gregory, Salvation at Stake 2001, S.  250–314; ­Burschel, Sterben und Unsterblichkeit 2004, S. 202–210 und nun jüngst Bailey, Between Renaissance and Baroque 2003, S. 129–152. Für zahlreiche Sach- und Literaturhinweise zu diesem Themenkomplex danke ich Claudia Gerken. 364  Vgl. hierfür Helmut Philipp Riedl, Antiveduto della Grammatica (1570/71–1626). Leben und Werk, München & Berlin 1998, S. 29 f. und Anm. 91. Mindestens sieben Darstellungen dieser Serie sind bekannt, die von Theodor Galle, Jacob Matham und Charles de Mallery gestochen wurden. Ich hatte oben bereits erwähnt, daß bezüglich der Frage, ob die Schwestern Pudentiana und Praxedis Märtyrerinnen waren, um 1600 Unklarheit herrschte. 365  Zitiert nach Oberli, Schauder und Sensation 2001, S. 152; vgl. auch Hecht, Katholische Bildertheologie 1997, S. 168. 366  Gilio, in: Barocchi, Trattati 1961, S. 97 und 42: „Lorenzo ne la graticola, arso, incotto, crepato, lacero e difformato“; für „Sebastian“ siehe auch oben; vgl. dazu auch Oberli, Schauder und Sensation 2001, S. 152 (dem die dt. Übers. entnommen ist). 367  Paleotti, in: Barocchi, Trattati 1961, S.  416–418; vgl. Christine Göttler, Die Kunst des Fege­feuers nach der Reformation: kirchliche Schenkungen, Ablass und Almosen in ­Antwerpen und Bologna um 1600, Mainz 1996, S. 110.

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vedere senza lagrime“; „viele können sie nicht betrachten ohne zu weinen“.368 Und tatsächlich soll mit Papst Sixtus V. ein prominenter Besucher der Kirche in dieser Weise reagiert haben: Er sei beim Anblick der Fresken in Tränen ausgebrochen.369 Blickt man vor diesem Hintergrund auf Caravaggios „Katharina von Alexan­ drien“, Grammaticas „Pudentiana“, Furinis „Lucia“ und dessen zahlreiche ‚namenlose‘ Märtyrerinnen, ist eine analoge Rezeption kaum vorstellbar. Dem in lyrischen Texten eng mit orrore verknüpften diletto370 leisten diese Werke durchaus Vorschub, nur eben weitgehend ohne das komplementäre Entsetzen oder Grauen der Betrachter. Wie bereits angedeutet, wird diese Diskrepanz der Werke zu den Normen und Konventionen ihrer Zeit dafür verantwortlich zu machen sein, daß dieser Teil der religiösen Bildproduktion im frühen Seicento von der im allgemeinen stärker an der Kongruenz von Theorie und Praxis interessierten kunsthistorischen Forschung weitgehend ausgeblendet wurde. Den posttridentinischen Theologen und Bildtheoretikern ging es um das religiöse Bild sui generis, also unabhängig von dessen spezifischer Funktion und von dessen konkretem Aufstellungsort. Was normiert werden sollte, war die religiöse Bildsprache, ja im Prinzip sogar die Bildsprache an sich, bedenkt man ihre Invektiven selbst gegen mythologische ‚laszive‘ Gemälde.371 Ich habe in meinen Ausführungen stets implizit und explizit darauf hingewiesen, daß es sich bei den besprochenen Gemälden größtenteils um Werke für den privaten Kontext, und zwar für die private oder halbprivate Bildergalerie handelt.372 Damit habe ich suggeriert, daß dies der den Bildern adäquate und zugleich der ideale kommunikative Rahmen für sie ist. Dies gilt es noch zu vertiefen, denn die Konturen des religiösen Sammlerbildes um 1600 sind mitnichten klar. Wie gesehen, werfen die Werke eine Reihe von Fragen auf: Welche Maßstäbe gelten für die Gemälde im profanen Kontext? Welchen Vorstellungen von Dekorum folgen sie – oder eben nicht? Damit eng verknüpft ist auch die Frage nach der idealen und intendierten Rezeptionshaltung, und das heißt letzt368  Zitiert nach Burschel, Sterben und Unsterblichkeit 2004, S. 202 f. 369  Ludwig v. Pastor, Geschichte der Päpste im Zeitalter der katholischen Reformation und

Restauration. Bd. 10: Sixtus V., Urban VII., Gregor XIV. und Innozenz IX (1585–91), Freiburg 1926, S. 45. 370  Vgl. Giambattista Marino, La Galleria (Venedig 1620), in: ders., Opere, hg. v. A. A. Rosa, Mailand 1967, S. 390: „[…] spesso l’orror va col diletto“. 371  Vgl. die Kritik von Ambrogio Catarino Politi an Prälaten, die solche Bilder sammelten, siehe oben, Anm. 130. 372  Ich verwende den Begriff der Galerie hier nicht zur Kennzeichnung eines architektonischen Typus (eine langgestreckte Halle, die über gewisse Merkmale verfügt), sondern als Syno­ nym für das unschöne Wort ‚Sammlungsraum‘, was durch die Verwendung des Terminus in seicentesken Schriften gerechtfertigt ist. In ihnen wird der Begriff oft als Äquivalent zu ‚sala‘ gebraucht. Vgl. auch Elizabeth Cropper & Charles Dempsey, Poussin. Friendship and the Love of Painting, Princeton 1996, S. 74. Für den Bautypus der Galerie in Italien und Frankreich siehe Büttner, Galleria Riccardiana 1972, passim und bes. 117–125.

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lich auch: Wie stellte sich die beobachtete Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis für die zeitgenössischen Betrachter dar? Hat sie sich auch für sie derart scharf abgezeichnet, oder wurde sie gar von ihnen reflektiert? Und schließlich: Wie unterscheiden sich die ‚neuen‘ Sammlungsbilder von jenen Werken, die wie beispielsweise die Devotionsbilder ‚immer schon‘ im privaten Kontext vorhanden waren? Die Beantwortung dieser Fragen ist deswegen nicht leicht, weil in dem ‚Boom‘, der sich in der Forschung der letzten Jahre auf dem Gebiet des Sammlungswesens der Frühen Neuzeit verzeichnen läßt, die Entstehung der mehr oder weniger reinen Kunstsammlungen mit (transportablen) Gemälden vernachlässigt wurde. Worauf sich die Forschung konzentrierte, waren ‚gemischte‘ Sammlungen, wie sie im Studiolo oder in den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance mit ihrem enzyklopädischen Anspruch anzutreffen waren. Hier wurden bekanntlich Artificialia mit Naturalia373 oder Kunstwerke mit dem, was wir unter Kunsthandwerk subsumieren, mit Gemmen, Vasen, Exotica oder auch Münzen, kombiniert. Ungleich geringere Aufmerksamkeit wurde jenen Sammlungen, welche die Studioli und Wunderkammern zumindest teilweise beerbten, zuteil.374 Das sind die nach Ausweis der überlieferten 373  Zu nennen sind hier vor allem: Julius von Schlosser, Kunst- und Wunderkammer der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens, Braunschweig 21978; Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 22000; Krzystof Pomian, Der Ursprung des Museums: vom Sammeln, Berlin 1988, Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, hg. v. Robert Felfe & Angelika Lozar, Berlin 2006 sowie besonders Wolfgang Liebenwein, Das ­Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600, Berlin 1977. 374  Es gibt von Galileo Galilei eine anschaulich pointierte Kontrastierung der Entwicklung vom Studiolo zur reinen Kunstsammlung in der Galerie in seiner gegen Ende des Cinquecento verfaßten Schrift „Considerazioni al Tasso“. Darin vergleicht er das „studietto eines sonder­ lichen Männleins, das sich daran erfreut, es mit Dingen zu schmücken, die wegen ihres Alters, ihrer Schönheit, oder aus sonstigen Gründen fremdartig sind“, wie etwa ein „versteinerter Krebs, ein getrocknetes Chamäleon“, dem auf dem Gebiet der Künste „kleine Skizzen von Baccio Bandinelli oder Parmigianino“ entsprechen, mit einer „Guardaroba, Tribuna oder gar eine[r] königliche[n] Galerie, […] die mit Hunderten von antiken Statuen der berühmtesten Bildhauer geschmückt ist, mit zahllosen Historiengemälden der größten und angesehensten Maler und vielen Vasen aus Kristall, Achat, Lapislazuli und anderen Edelsteinen […] in aller Vollkommenheit“ (zit. nach Liebenwein, Studiolo 1977, S. 164). Der Kontext dieser Ausführungen ist der Vergleich der in den Augen Galileos antiquierten Schreibweise von Torquato Tasso (die er mit dem überlebten Studiolo analogisiert) mit der fortschrittlicheren Dichtung von Lodovico Ariost, der die neue Galerie vertritt. Das vollständige Zitat lautet im Original: „Mi è sempre parso e pare, che questa poeta [d.i. Tasso] sia nelle sue invenzioni oltre tutti i termini gretto, povero e miserabile; e all’ opposito l’Ariosto magnifico ricco e mirabile: e quando mi volgo a considerare i cavalieri con le loro azzioni e avvenimenti, come anche tutte l’altre favolette di questo poema, parmi giusto d’entrare in uno studietto di qualche ometto curioso che si sia dilettato di adornarlo di cose che abbiano, o per antichità o per rarità o per altro, del pellegrino, ma che però siano in effetti coselline avendovi, come saria a dire, un granchio petri­ ficato, un camaleonte secco, una mosca e un ragno in gelatina in un pezo d’ambra, alcuni di

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Inventare375 weitgehend auf Gemälde und Statuen konzentrierten Kunstsammlungen. Sie erhielten gerade im Venedig des frühen und im Rom des späten Cinquecento enorme Bedeutung. In ihnen haben lediglich wiederum die ‚besonderen‘ Phänomene, wie die Integration und Präsentation von Antiken oder nicht-italienischen Werke, das Interesse der Sammlungsforschung auf sich gezogen.376 Vernachlässigt wurde eine systematische und zugleich analytische Beschäftigung mit der Struktur und der Genese der Bildersammlungen. Sie hat sich auch die Frage nach den Kriterien der Ordnung der Werke – insbesondere der Mischung von profanen und sakralen Gemälden in einzelnen Räumen –377 zu stellen, und dabei das Augenmerk auf die religiösen Bilder zu richten. Wie auch Victor I. Stoichita konstatiert hat,378 steht eine „Gattungssemiotik“ des

quei fantoccini di terra che dicono trovarsi ne i sepolchri antichi in Egitto, e così in materia di pittura, qualche schizzetto di Baccio Bandinello e del Parmigianino, e simili altre cosette; ma all’incontro, quando entro nel Furioso, veggo aprirsi una guardaroba, una tribuna, una galleria regia, ornata di cento statue antiche de’ più celebri scultori, con infinite storie intere e le migliori, di pittori illustri, con numero grandi di vasi, di cristalli, d’agate, di lapislazari e d’altre gioie, e finalmente ripiena di cose rare, preziose, meravigliose e di tutta eccellenza“ (Galileo Galilei, Considerazioni al Tasso, in: ders., Le Opere, hg. v. Antonio Favaro Bd. 9, Florenz 1968, S. 59– 148, hier 69) zu dieser Passage jüngst Bredekamp, Galilei 2007, S. 53–58. 375  Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß in den Inventaren möglicherweise vorhandenes „Kunsthandwerk“ lediglich nicht verzeichnet ist. Doch wird man aus der Fülle der in ihnen genannten Gemälde schließen können, daß sie es waren, die diese Sammlungen dominierten. 376 An Untersuchungen sind zu nennen: Jacob Burckhardt, Die Sammler, in: ders., Das Altar­bild. Das Porträt in der Malerei. Die Sammler. Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien, hg. v. Stella von Boch, Johannes Hartau u. a. (Werke, Bd. 6), München/Basel 2000, S.  283– 471; Michael Rohlmann, Auftragskunst und Sammlerbild: altniederländische Tafelmalerei im ­Florenz des Quattrocento, Alfter 1994 (Diss. Univ. Köln 1993); ferner die Kapitel zum 16. und 17.  Jahrhundert bei Joseph Alsop, The Rare Art Traditions. The History of Art Collection and Its Linked Phenomena Wherever These Have Appeared, London 1982, S. 411–473. Klaus Minges, Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung, Münster 1998 (zugl. Diss. Freiburg 1993), Kap. 3–5, S. 51–116, interessiert sich, anders als es der Buchtitel erwarten läßt, stärker für Sammlungsräume als für die Herkunft der Gegenstände und die Strukturen von Sammlungen. Einige interessante Beobachtungen bezüglich letzteren gibt Luigi Spezzaferro, Le collezioni di „alcuni gentilhuomini particolari“ e il mercato: appunti su Lelio Guidiccioni e Francesco Angeloni, in: Poussin et Rome. Actes du colloque á l’Académie de France à Rome (16–18 novembre 1994), hg. v. Olivier Bonfait u. a., Rom 1996, S. 241–254. 377  Es fehlt vor allem an einer Untersuchung der Frage, ob sich hier diachronische Veränderungen beobachten lassen, also, ob gemischte Hängungen im Verlauf des Sei- und auch Settecento zugunsten thematisch sortierter Hängungen aufgegeben wurden. 378 Victor I. Stoichita, Zurbaráns Veronika, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 54 (1991), S. 190–206, bes. 206; und vor allem: ders., Zur Stellung des sakralen Bildes in der neuzeitlichen Kunstsammlung, in: Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube; zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, hg. v. Andreas Grote, Opladen 1994, S. 417–436 (das Zitat auf S. 421). Stoichita fokussiert darin den Wandel des sakralen Bildes in der neuzeitlichen Privatsammlung und konzentriert sich dabei auf die Entstehung einer neuen Ikonographie wie der Blumenkranzmadonna, die er durch diese Situation generiert sieht. Vgl. auch ders., Das selbstbewußte

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sakralen Bildes im „nicht-sakralen Milieu“ noch aus; meine Überlegungen hierzu können folglich den Problemhorizont nur abstecken. Zwei Gruppen von Werken sind dabei sinnvollerweise zu unterscheiden: jene, die ursprünglich für eine andere Funktion gedacht waren und nachträglich in Sammlungen verbracht wurden, von solchen, die von vornherein für den privaten Kontext entstanden. Beispiele für ‚dekontextualisierte‘ Werke haben wir bereits gesehen: Caravaggios für St. Peter geschaffene „Madonna dei Palafrenieri“ (Abb. 50) und Ceccos für S.  Felicita in Florenz bestimmte „Auferstehung Christi“ (Abb. 68), die beide der Kardinalnepot Scipione Borghese für seine Sammlung erwarb; ferner den „Johannes“ in Kansas City, den Caravaggio für das Oratorium in Conscente schuf, der von Ottavio Costa aber in Rom behalten wurde.379 Caravaggios erstes Altarbild für die französische Nationalkirche in Rom wird mit seiner kontroversen frühen Rezeptions­ geschichte noch ausführlich zur Sprache kommen (Abb. 5). Nachdem es von der Priesterschaft von S.  Luigi dei Francesi aufgrund mangelnder Dezenz der Figuren und der Darstellungsweise für ungeeignet erachtet worden war, erwarb es der Marchese Vincenzo Giustiniani.380 Im Kontext meiner Argumentation ist bezeichnend, daß wir in diesem Fall genaue Informationen darüber haben, wohin es gelangte. Wie ein Inventar der Sammlung Giustiniani von 1638 belegt, befand es sich zu diesem Zeitpunkt in derselben „Stanza grande de quadri antichi“, im „großen Saal mit alten Gemälden“, wie der „Amore Vincitore“ (Abb. 14). Es hing also in der Nähe jenes provokant-lasziven „Cupido del Caravaggio“,381 den Vincenzo Giustiniani etwa zum Zeitpunkt der Ausführung des Matthäus-Bildes bei Caravaggio in Auftrag gegeben hatte. Mit ihm inszenierte er bekanntlich einen Paragone mit einem „Amor“ von der Hand Giovanni Bagliones, der sich in der Sammlung seines Bruders, des Kardinals Benedetto Giustiniani, befand. Grundsätzlich läßt sich in den zeitnahen normativ argumentierenden Kunsttheorien, wie Giulio Mancinis „Considerazioni sulla pittura“ und Gio­vanni Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, München 1998, bes. S. 97–109; und schließlich Prater, Velázquez 2002, S. 77–84. 379  Siehe oben, Anm. 219; wahrscheinlich ließ Costa eine Kopie des Gemäldes für Conscente anfertigen. 380  Siehe Kap. III.2.1. 381  Salerno, The Picture Gallery 1960, S.  135–148, hier 135, Nr. 1 („Un quadro grande di S. Matteo con l’Angelo che l’insegna figure intiere dipinto in tela […] di mano di Michelang.o da Caravaggio […]“) und Nr. 9 („Un quadro con un Amore ridente, in atto di dispregiar il mondo, che tiene sotto con diversi stromenti Corone, Scettri, et armature chiamato per fama il Cupido del Caravaggio dipinto in tela […]“; zum Paragone mit Bagliones Gemälde vor allem: Ulrike Müller Hofstede, Künstlerischer Witz und verborgene Ironie: zu Berninis Aeneas- und Anchisesgruppe und Bagliones Cupido cruciatur, in: Diletto e Maraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis zum Barock. Rudolf Preimesberger zum 60. Geburtstag, hg. v. Christine Göttler, ders. u. a., Emsdetten 1998, S. 102–127.

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Battista Armeninis „De’ veri precetti della pittura“ belegen, daß es auch im privaten Kontext ein Bewußtsein dafür gab, welche Bildsujets für welche Räume geeignet waren.382 Die Inventare zahlreicher Sammlungen zeigen allerdings, daß die Praxis oft anders aussah. So hingen in Vincenzo Giustinianis „Stanza grande“ sowohl Werke mit profan-mythologischen als auch solche mit religiösen Sujets nebeneinander, denn neben Caravaggios Altarbild und dem „Cupido“ ist hier auch sein „Lautenspieler“ (Abb. 17) und das bereits mehrfach erwähnte Porträt der Kurtisane Fillide (Abb. 16) dokumentiert.383 Zwar gab es in den weiteren Sammlungsräumen des Palastes und auch in denen des Kardinals del Monte, der Familien Barberini und Mattei jeweils Räume, die ausschließlich mythologischen oder religiösen Gemälden vorbehalten waren; für gewöhnlich wurden aber anscheinend völlig beliebig Werke mit Themen der Heilsgeschichte mit solchen des Alten Testaments, mit Porträts, Genrebildern, Landschaften und Stilleben kombiniert.384 Auch die etwa zeitgleich 382  In den Galerien seien „paesaggi e cosmografie“, in größeren Sälen und stark frequentierten Vorzimmern „attioni civili, o di pace o di guerra“ und Porträts berühmter Persönlichkeiten zu hängen; die „lascivi“ – er differenziert hier nicht – möchte er hingegen auf den Gartentrakt und Räume des Erdgeschosses beschränkt sehen. (Giulio Mancini, Alcune Considerationi appartenenti alla pittura come di diletto di un gentilhuomo nobile e come introduttione a quello si deve dire, in: ders., Considerazioni sulla pittura 1956, S. 141–143: „[…] chè le cose di devozione si metteranno nella camera, le cose allegre e profane nella sala“ (S. 141); „Dopo si consideranno le pitture, che per i paesaggi e cosmografie si metteranno nelle gallarie a dove puol andar ognuno; le lascive, come Veneri, Marte, tempi d’anno e donne ignude, nelle gallarie di giardini e camare terrene ritirate; le deità nelle camare più terrene, ma più communi, e le cose lascive affatto si metteranno ne’ luoghi ritirati, e, se fusse padre di fameglia, le terrà coperte, e solo alle volte scoprirle quando vi anderà con la consorte o persona confidente e non scrupolosa. E simil pitture lascive in simil luoghi dove si trattenga con sua consorte sono a proposito, perchè simil veduta giova assai all’eccitamento et al far figli belli, sani e gagliardi  […]“ (S.  143). Vgl. für diese Passage auch Ingo Herklotz’ Rezension von Klaus Minges, Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit, in: Kunstchronik 54 (1001), S. 68–73, hier 71, und Prater, Licht und Farbe 1992, S. 131 f. Exakt die Mischung von profanen und religiösen Darstellungen in Schlafzimmern ist für venezianische Sammlungen belegt; vgl. Norbert Huse, Malerei, in: ders. & Wolfgang Wolters, Venedig. Die Kunst der Renaissance. Architektur, Skulptur, Malerei. 1460–1590, München 1986, S.  205–387, hier S.  221. Armenini, De’ veri precetti 1988, S. 198–227, äußert sich im dritten Buch, Kap. 8–13 eher zur Ausstattung der verschiedenen Räume eines Palastes, kaum aber zu transportablen Kunstwerken. 383  Salerno, The Picture Gallery 1960, Nr. 8, S. 135 (heute in St. Petersburg, Eremitage), und Nr. 12, S. 136 (für das zerstörte Kurtisanenbildnis). 384  So z. B. im 1627 verfaßten Inventar der Sammlung von Caravaggios wichtigem Förderer, dem Kardinal Francesco Maria del Monte, in dessen, auf eine „Gallaria Nova“ angrenzende, „Galleria“ einfigurige („quadro di S. Pavolo“) und mehrfigurige („quadro di Nostro Signore con S. Tommaso“) Heiligenbilder neben antik-mythologischen („quadretto piccolo copia d’un Palmo di Psiche“), alttestamentlichen Bildern („Quadro di Herodiade“), Porträts („Dodici teste di Rafaello“), Landschaften („un paese di mano di Guglielmo“), Stilleben („Quadretto nel quale vi è una Caraffa di mano del Caravaggio“) und Genrebildern („Una Zingara del Caravaggio“) hingen (zitiert nach Frommel, Caravaggios Frühwerk 1971, S. 5–49, Appendix, S. 30–49, hier 30 f.). Frommel weist daraufhin, daß del Monte ungewöhnlich viele Landschaf-

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entstehenden flämischen „Cabinet d’Amateur“-Bilder deuten auf dasselbe Phänomen einer flexiblen und vor allem heterogenen Hängung der Bilder hin.385 Die genannten Umstände der Hängung sowie der Vorgang der Dekontextualisierung der in Sammlungen überführten Altarbilder suggerieren, daß diese in ihrem neuen Umfeld ausschließlich unter ästhetischen und repräsentativen Gesichtspunkten wahrgenommen wurden – also als Werke von der Hand eines bestimmten Künstlers, die womöglich durch ihre intrikate Vorgeschichte, wie Ablehnungen etc., noch zusätzlichen Reiz erhielten. Eine solche Annahme deckte sich mit der in der Forschung postulierten linearen Entwicklung des frühneuzeitlichen Gemäldes vom Kultbild zum „Kunstprodukt“ (Belting).386 Demnach hätte die Überführung der Bilder aus dem kultiten und Genrebilder besaß, nämlich 55 bzw. 17 (S.  12). Zahlreiche Räume mit gemischten Hängungen sind auch im Palazzo des Kardinals Antonio Barberini belegt, dessen Inventar von 1644 diesbezüglich genaue Auskunft gibt. So hing Caravaggios „Katharina“ in einer „Stanza di parnasso“ gemeinsam mit einer „Herodias“ mit dem Haupt des Täufers von Tizian, Caravaggios „Lautenspieler“ und den „Kartenspielern“ (Aronberg Lavin, Seventeenth Century Barberini Documents 1975, S. 167). In einer „Sala accanto dove si facevano le comedie“ wurden fünf Gemälde aufbewahrt: Eine „Flora“, neben „David und Abigail in der Wüste“, neben „Lot und seinen Töchtern“, der Darstellung eines Umzugs auf Piazza Navona und schließlich „[…] S. ­Sebastiano sopra le nuvole con tre putti“ (ebd., S. 157). In der „Navicella“, der ­Villa der Familie Mattei auf dem Celio, ist im Inventar von 1614 beispielsweise ein „camerino“ verzeichnet, in dem Landschaften mit Figuren aus dem Alten Testament neben Philosophen­ porträts, einem Gemälde mit Martha und ihrer Schwester Magdalena, einem „quadro di pesche con alcuni pescatori“, einem „Quadro piccolo di N. Sig.re Giesu xpo con doi figure et con la gloria“ und einem „quadro della Maddalena“ hingen. (Cappelletti & Testa, Il trattenimento di virtuosi 1994, S. 172; die Nummern 84–87, 90–96). Auch im Inventar der Sammlung des Kardinal Carlo Emanuele Pio di Savoia von 1641, das eine weitgehend nach Sujets geordnete Sammlung dokumentiert, gibt es immerhin eine „Stanza“, in der eine Verkündigungsszene, eine Darstellung von Tarquinius und Lucretia, eine kniende „Madonna“, eine „Judith“, ein schlafender Putto und eine „Hl. Monika“, die von einem Engel mit Rosen gekrönt wird, gemeinsam mit mehreren Porträts zu sehen ist (siehe Francesca Cappelletti & Laura Testa, Appendice documentaria, in: Identificazione di un Caravaggio 1990, S. 85–92, hier 90 f.). 385 Andreas Prater bezeichnete dies als „flexiblen Sammlerstil“ (Prater, Licht und Farbe 1992, S.  131–133, hier 133). Über Giustiniani schreibt er: „Ein so feinsinniger Kenner wie der Marchese Giustiniani […] besaß in überwiegendem Maße Gemälde religiösen Inhalts. Mit einer auffallenden Vorliebe scheint er in Räume, die eine Vielzahl von Madonnen- und Heiligendarstellungen beherbergten, einzelne Bilder jener Kategorien eingestreut zu haben, die Mancini unter die Kategorien ‚sinnlich‘ und ‚erotisch‘ rubriziert haben würde. In einer fast sakralen Umgebung hat sich offenbar auch Caravaggios Amor befunden […]“ (ebd., S. 132 f.); vgl. auch ders., Velázquez 2002, S.  81. Siehe hierfür auch Stoichita, Das selbstbewußte Bild 1998, S.  97–109. Sie können sicherlich nicht als getreues Abbild zeitgenössischer Sammlungen gelten, doch dürften sie zeitspezifische Sammlungsstrukturen zumindest in diesem Punkt einiger­maßen zuverlässig spiegeln. 386  Hans Belting, Das Bild und sein Publikum im Mittelalter: Form und Funktion früher Bildtafeln der Passion, Berlin 1981, passim, explizit S. 278, sowie auch ders., Bild und Kult: eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 1990, passim; ders. Giovanni Bellini, Pietà. Ikone und Bilderzählung in der venezianischen Malerei, Frankfurt a. M. 1985.

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schen Zusammenhang in die private Sammlung ihre „Säkularisation“387zur Folge gehabt. Daß die Entwicklung aber auch in der frühneuzeitlichen Bildersammlung sicherlich nicht so schematisch und linear verlaufen ist, wie dieses Modell verspricht, belegt eine ganze Reihe von Indizien. Ich erinnere an die oben zitierten Beispiele von Kritiken an Werken wie Caravaggios „Magdalena“ und Leonardos „Johannes“, die implizit oder explizit mangelhaftes Dekorum der Darstellungsweise konstatieren, und auch der direkte ‚Eingriff‘ in Jacopo Vignalis allzu genrehaftes Arrangement des „Konzerts der hl. Cäcilie“ ist diesbezüglich aussagekräftig. Gerade diese Hinweise auf eine ungleich komplexere Gemengelage machen das Phänomen der Sammlungen und die Integration religiöser Bilder in dieselben überhaupt erst interessant. Daß die Situation zumindest in den Jahren um 1600 und im frühen Seicento komplexer war, zeichnet sich allein in dem Faktum ab, daß es sich bei den nachträglich in die Galerie transferierten Bildern um eine vergleichsweise kleine Werkgruppe handelt. Ungleich größeres Gewicht hatten in den Sammlungen solche Gemälde, die von vornherein für den privaten Kontext bestimmt waren. Sie machen die Frage nach der Gattungssemiotik des religiösen Galeriebildes komplex, weil ja anzunehmen ist, daß die Rezeptionsbedingungen des sakralen Bildes im profanen Kontext immanente Produktionsvorgaben für die Künstler darstellten. Das ist besonders relevant bei Werken wie Caravaggios „Katharina von Alexandrien“ (Abb. 3) oder Grammaticas „Pudentiana“ (Abb. 72), weil diese aufgrund ihres Bildtyps des ‚ikonischen‘ Heiligenbildes auf formaler Ebene im Traditionszusammenhang mit der die Präsenz der Heiligen suggerierenden Ikone stehen und aufgrund der (weitgehend) frontalen Präsentation der Heiligen im Bild für die Devotion durch die gläubigen Betrachter besonders geeignet waren. Aber genau dies führt zum Kernpunkt des Problems: Haben solche Gemälde – insbesondere wenn sie wie die „Katharina“ im Palast des Kardinals del Monte in einer „Gallaria che va sulla loggia“ hingen – überhaupt noch eine verehrende Haltung auf sich gezogen, und – was noch erheblich schwieriger zu beantworten ist – war dies intendiert? Unterschieden also die Betrachter des frühen Seicento diese „quadri di stanza“ überhaupt kategorial von solchen Gemälden, die es im privaten Kontext sozusagen ‚immer

387  Von einer „Säkularisation des Andachtsbildes“ spricht Prater, Velázquez 2002, S. 77–84, bes. 82, der allerdings sehr viel nuancierter argumentiert, wenn er (mit Bezug auf Spanien) schreibt: „Der Befund einer unerhört breiten Sammeltätigkeit privilegierter Kreise in Spanien bedeutet nicht, daß die alteingeübten Rezeptionsstrukturen des Mediums Bild verabschiedet worden wären. Im Gegenteil, die geradezu zwanghaft wirkende Anhäufung von Bildern […] besitzt fetischhafte Züge, man könnte sogar von einer Säkularisation der Ikone oder des Bildes […] sprechen“. (S. 81).

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schon‘ gab und auch weiter gegeben haben wird, nämlich von Bildern, die für die private Devotion bestimmt waren?388 Man kann sich der Frage nach der adäquaten und intendierten Rezeptionsform der religiösen Sammlerbilder – und nach ihrer Unterscheidbarkeit von Devotionsbildern – dadurch elegant entziehen, daß man sie ausschließlich auf die Ebene der Rezeption verlagert. Man fragt also gar nicht nach den immanenten Produktionsbedingungen der Bilder, sondern konzentriert sich auf die Erwartungs- und Kommunikationshaltungen ihrer Rezipienten.389 Mit dem Verweis auf die naturgemäß zu postulierende Pluralität in den Wahrnehmungsformen läßt sich das Problem dann leicht eskamotieren. Denn diese divergierten sicherlich nicht nur von Betrachter zu Betrachter – sowohl in synchroner als selbstredend auch in diachroner Perspektive –, sondern auch der Situation und dem Kontext der Betrachtungen entsprechend: Was den einen zur Devotion anregte, mag für den anderen eine verstärkt oder auch ausschließlich repräsentative Dimension besessen haben und für den dritten vorrangig ästhetisch relevant gewesen sein. Was ein Rezipient um 1600 mit einem religiösen Bild im privaten Kontext tat und wie er es wahrnahm, lag folglich allein in seinem Ermessen. Mit dieser Verlagerung des Problems auf die Rezeptionsebene entledigt man sich indirekt auch der Frage nach dem kategorialen Unterschied zwischen einem ‚Devotionsbild‘ und einem privaten ‚Sammlerbild‘ und schreibt alle Versuche der Bestimmung von Distinktionskriterien ‚modernem‘ Kategorisierungswillen zu. Im Prinzip geht auch die Tendenz der Forschung zum Devotionsbild – bekanntlich eines der am intensivsten und kontroversesten diskutierten Themen der kunsthistorischen Mediävistik – in diese Richtung. In der Forschung wird zunehmend nicht mehr nach distinkten formalen und inhaltlichen Charakteristika gefragt, die das Andachtsbild auszeichneten – wie beispielsweise die frontale, halbfigurige Präsentation der Heiligen im ‚Close-up‘ –, vielmehr wird mit dem Terminus all das bezeichnet, was der Funktion dienen kann, verehrt zu werden.390 Und wie im Prinzip also eigentlich alles 388 Davon geht implizit Belting aus, wenn er Giovanni Bellinis „Pietà“ in der Mailänder Brera aufgrund des Formats und der Künstlerinschrift zum ‚Kunstwerk‘ erklärt: „Trotz ihres religiösen Sujets ist sie ein frühes Beispiel des gerade entstehenden Sammlerbildes, das dem Kunstkenner dient.“ (Belting, Giovanni Bellini 1985, S. 81 f.). 389 Vgl. beispielsweise Christiane Kruse, Andachtsbild – Kultbild – Sammlerbild? Früh­ nieder­ländische Gemälde in privatem Besitz, in: Sammler – Bibliophile – Exzentriker, hg. v. ­Aleida Assmann, Monika Gomille & Gabriele Rippl, Tübingen 1998, S. 299–314. 390  Vgl. etwa Robert Suckale, Arma Christi. Überlegungen zur Zeichenhaftigkeit mittelalterlicher Andachtsbilder; wiederabgedruckt und um neue Literaturhinweise erweitert in: ders., Stil und Funktion. Ausgewählte Schriften zur Kunst des Mittelalters, München & Berlin 2003, S. 15–58; Belting, Das Bild 1981. Ausführlich zum gesamten Problemkomplex: Karl ­Schade, Andachtsbild. Die Geschichte eines kunsthistorischen Begriffs, Weimar 1996; vgl. auch die Besprechung von Hans Beltings „Bild und Publikum“ durch Sixten Ringbom in: The Art ­Bulletin 65 (1983), S. 339 f., bes. 340. Eine differenzierte und vermittelnde Position, was die Frage nach bestimmten Kriterien der Werke angeht, die der Funktion eines Devotionsbildes

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zur Devotion stimulieren kann, so können die Werke auch alle anderen Interessen ihrer Betrachter, also auch diejenigen ästhetischer, intellektueller oder repräsentativer Natur, bedienen. Eine solche Forschungshaltung ist natürlich keineswegs ‚falsch‘. Daß Rezeptionsformen divergierten und überhaupt plural waren, ist unbestritten und daß der Blick auf Bilder nicht zu determinieren oder gar kontrollieren ist, ebenso. Zugleich ist diese Haltung, die die Frage nach den Produktionsbedingungen und der intendierten oder einkalkulierten Rezeption ausblendet, aber auch ‚bequem‘ und trägt, wie ich zeigen möchte, der Komplexität der Ge­menge­ lage des religiösen Bildes im profanen Kontext nur bedingt ­Rechnung. Jacob Burckhardt hat sich in seiner 1893 verfaßten, zu Lebzeiten unpubliziert gebliebenen und von der Forschung viel zu wenig rezipierten Schrift über „die Sammler“ – es handelt sich nach wie vor um die grundlegende Beschäftigung mit der Kunstsammlung der Frühen Neuzeit – mit der Frage der adäquaten Rezeptionshaltung der Bilder auseinandergesetzt. Seine Herangehensweise ist gerade vor der Folie der skizzierten Problematik weiterführend. Denn Burckhardt hat – allerdings leider nur indirekt und in bedauer­ licher Kürze – die strukturellen Unterschiede zwischen den religiösen Bildern in Sammlungen auf deren verschiedene Funktionen zurückführen wollen. So wies er die „erzählenden Kniefigurenbilder“, wie etwa Darstellungen der Ehe­brecherin vor Christus, „eher nur dem Haus als der eigentlichen Andacht“ zu,391 und zugleich hat er über das Kriterium von „religiösem Ernst“ in Darstellungen des gemarterten hl. Sebastian darauf schließen wollen, ob sie für einen dezidiert religiösen oder einen profanen Ort im privaten Haus bestimmt waren.392 So willkürlich und problematisch uns solche Überlegungen erscheinen, weil sie historisierbare Kriterien missen lassen – was als „religiöser Ernst“ empfunden wurde, wird sich zwischen 1500 und 1850 gewandelt haben – so ist an Burckhardts Ausführungen sehr zu begrüßen, daß er sich die Frage der zuarbeiten: Thomas Noll, Zu Begriff, Gestalt und Funktion des Andachtsbildes im späten Mittelalter, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 67 (2004), S. 297–328. 391 Burckhardt, Die Sammler 2000, S.  283–471, hier 302. Zur Genese und Struktur von Burckhardts Schrift nun Stella von Boch, Jacob Burckhardts „Die Sammler“. Kommentar und Kritik, München & Berlin 2004, passim. 392 Burckhardt, Die Sammler 2000, S.  350. Ich zitiere die Passage vollständig: „Das Bild Sandro’s [d.i. Botticelli] […] war wohl eine Bestellung des Lorenzo, aber als Kirchenbild […] gemalt, und in seiner Strenge und Zurückhaltung begehrt es nichts Anderes zu sein; dagegen wird der berühmte Antonello da Messina […] bei der Gleichgültigkeit des Ausdrucks wohl nur für ein meisterhaftes, auf alle Fälle merkwürdiges und als solches […] entstandenes Actbild gelten können. Ganz anders Mantegna, als er in dem kleinen Bilde der Galerie von Wien vor Allem und in vollem religiösem Ernst die Wirklichkeit des Leidens aussprach; […] Dann aber möchte der majestätische Sebastian des Liberale da Verona […] für den weltlichen Besitz entstanden sein, so edel schmerzlich auch der Ausdruck des Hauptes und so ideal der ganze Umriß wirkt“.

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intendierten Rezeptionshaltung der Bilder mit religiösem Sujet in der Sammlung überhaupt gestellt hat. Seine Vorgehensweise, diese Werke nach Sujets und Formaten zu unterscheiden, erscheint mir wichtig. Tatsächlich bestehen ja – ich nenne die Extreme – zwischen einem kleinformatigen Gemälde eines einzelnen Heiligen im Brustoder Halbfigurenausschnitt und in weitgehend frontaler Präsentation im Bild auf der einen Seite, und einer mehrfigurigen storia mit ganzen Figuren und einem Sujet wie dem von Burckhardt beispielhaft angeführten „Christus und die Ehebrecherin“ oder der um spielende Soldaten erweiterten „Verleugnung Petri“ auf der anderen Seite, deutliche Unterschiede, die auch die Rezeption der Bilder konditioniert haben werden. Es ist also sinnvoll, die einzelnen Rezeptionsdokumente konkret daraufhin zu überprüfen, worauf sie sich eigentlich beziehen. Für die letztere Gruppe, nämlich für mehrfigurige Darstellungen mit reli­ giö­sem Sujet, gibt es ein signifikantes Rezeptionszeugnis, das sich zwar nicht auf eine italienische Sammlung bezieht, wohl aber den Blick eines Römers dokumentiert. Ich meine Paul Fréart de Chantelous „Journal de voyage du cavalier Bernin“, das ausführlich von Gian Lorenzo Berninis Besichtigung der Kunstsammlung Chantelous am 25. Juli 1665 berichtet.393 Gegenstand der gemeinsamen Betrachtung ist Nicolas Poussins Zyklus mit den sieben katholischen Sakramenten, die der Maler zwischen 1644 und 1648 für Chantelou geschaffen hatte. Bernini konzentriert sich zunächst auf die „Firmung“, anschließend auf die „Hochzeit“, die „Beichte“, und schließlich wird ihm durch den Hausherrn die „Letzte Ölung“394 enthüllt. Ich zitiere den Bericht auszugsweise: „Il est passé après dans la salle où sont Les Sept Sacrements, où il n’y avait de tableau découvert que La Confirmation. Il l’a regardé avec grande attache et a dit après: Ha imitato il colorito di Rafaello in quel quadro; c’è un bel istoriare. Che divozione! Che silenzio! Che bellezza ha quella putta! […] Cependant j’ai fait descendre L’Extrême-Onction, et l’ai fait mettre près de la lumière, afin que le Cavalier la pût mieux voir. Il l’a (regardée) debout quelque temps, puis il s’est mis à genoux, pour la mieux voir, changeant de fois à autre de lunettes et montrant son étonnement sans rien dire. À la fin il s’est relevé et a dit que cela faisait le même (effet) qu’une belle prédication qu’on écoute avec attention fort grande et dont on sort après sans rien dire […] mais que l’effet s’en ressent au-dedans.“ „Danach ging er in den Saal, in dem sich Die Sieben Sakramente befanden. Nur das Gemälde Die Firmung war unbedeckt. Er betrachtete es eingehend und sagte danach: In diesem Gemälde hat er den Kolorit des Raffael nachgeahmt; Welch 393  Paul Fréart de Chantelou, Journal de voyage du cavalier Bernin en France, hg. v. Milovan Staníc, Paris 2001, S. 87–90. Den Hinweis auf diese Passage verdanke ich Katharina Krauses Vortrag auf der Tagung über Europäische Galerien im Februar 2005 an der Bibliotheca Hertziana. 394  Ebd., S. 88 f.

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Frömmigkeit! Welch Stille! Von welcher Schönheit ist dieser Putto! […] Währenddessen ließ ich Die Letzte Ölung abnehmen und ließ das Gemälde ins Licht bringen, damit der edle Herr es besser sehen konnte. Er betrachtete es für einige Zeit, dann kniete er nieder, um es noch besser betrachten zu können. Von Zeit zu Zeit wechselte er seine Sehhilfen und zeigte sein Erstaunen, ohne etwas zu sagen. Am Ende erhob er sich wieder und sagte, daß das den gleichen Effekt wie eine gute Predigt habe, die man mit großer Aufmerksamkeit hört und die man verläßt, ohne etwas zu sagen, […] aber den Effekt verspürt man im Innersten.“395

Die Besichtigung endet in einem großen Lob für den Schöpfer der Bilder, das Chantelou in indirekter Rede wiedergibt: „C’est un grand génie et avec cela il a fait sa principale étude sur l’antique“, womit Bernini seine frühere geringe Wertschätzung des Malers korrigieren möchte – und in dieser quasi nachträglichen ‚Rehabilitierung‘ des französischen Malers, der in Rom nicht Berninis Unterstützung bekommen hatte, besteht Chantelous Absicht bei der Schilderung dieser Begebenheit. Es sind zunächst ästhetische Kriterien, die Bernini in bezug auf die Bilder anführt. So lobt er die Lichtführung, die Farbgebung und die Schönheit einer einzelnen Figur wie der des Kindes in der „Firmung“. Doch nicht diese allein begründen seine große Wertschätzung. Was er ebenfalls hervorhebt und sozusagen habituell unterstreicht, ist die „devozione“ der „Firmung“, was sich wohl annähernd mit „Frömmigkeit“, „Ernst“ und „Würde“ übersetzen läßt. Sie übt auf ihn eine derart starke Wirkung („effet“) aus, daß er das Bild mit einer Predigt vergleicht. In dieser Wortwahl besteht das markante Moment. Die Bilder evozieren durchaus Emotionen und stimulieren ihre Betrachter, aber diese Anregung besteht nicht (mehr) in einem unmittelbaren und ungebrochenen religiösen Erleben, sondern vielmehr in einer Sensibilisierung oder Emotionalisierung, in der die Anrührung durch das Sujet und die ästhetische Wertschätzung des Gemäldes eine wohl kaum mehr unterscheidbare Verbindung eingehen. Habituell auf die Spitze getrieben wird dies im Motiv des Niederkniens vor dem Bild, oder, zugespitzt formuliert, vor der ‚modernen Ikone‘ des „grand génie“, das für den bewirkten „effet“ verantwortlich gemacht wird: Die Devotionshaltung wird ästhetisch transformiert, und damit werden zugleich, wenn man so will, die semantischen Grenzen des Religiösen verrückt. Ob eine solche Haltung den ‚Endpunkt‘ einer Entwicklung des religiö­sen Sammlerbildes krönt, soll hier dahingestellt bleiben. Wichtig ist, daß die von mir ausführlich besprochene Gruppe von caravaggesken Bildern andere, nämlich ungleich negativere Reaktionen hervorrief. So wurde, wie gesehen, Vignalis 395  Ebd. (Übersetzung Barbara Thönnes). Für diese Bilder im Format 117 × 178 cm, die sich heute in der National Gallery of Scotland in Edinburgh befinden: Nicolas Poussin 1594–1665 (Ausst.-Kat Paris, Galeries nationales du Grand Palais 1994/95), hg. v. Pierre Rosenberg, Paris 1994, S. 312–338. Eine erste Serie, die wahrscheinlich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre entstand, besaß Cassiano dal Pozzo.

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mehrfiguriges Konzertbild Anlaß einer konventionalisierenden Überarbeitung, und besonders explizite Urteile sind gegen Bilder mit einzelnen Heiligenfiguren dokumentiert. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Burckhardtschen Unterscheidung von Bildtypen relevant. Pacheco äußert generelle Kritik an dem Sujet des trinkenden Johannes, das er als „licensiosamente“, als „anstößig“ und damit unangemessen abqualifiziert;396 Scannelli vermißt an Caravaggios „Magdalena“ „spirito, gratia, e debita espressione“, „Geist, Anmut und angemessenen Ausdruck“, und Cassiano dal Pozzo beklagt an Leonardos „Johannes“ in der königlichen Gemäldesammlung in Fontainebleau mangelndes Dekorum und fehlende „devozione“.397 Sie verfügten also nicht nur über eine Norm von dem, was in einer Galerie möglich und machbar war, sondern sahen durch solche Darstellungen wohl auch die affektive Haltung bedroht, die sie folglich auch von einem Gemälde in einem dezidierten Sammlungskontext einforderten. Wie komplex die Situation speziell des einfigurigen Heiligenbildes tatsächlich war, sei an einem letzten, ebenfalls bereits oben erwähnten Beispiel verdeutlicht, und zwar an Spadarinos lebensgroßem „Johannes“ in Halbfigur (Abb. 139). Hierbei handelt es sich um eines der wenigen Bilder der ‚Caravaggisten‘, für die sich die seicenteske Aufbewahrungssituation noch relativ gut rekons­ truieren läßt. Es gehört zu jenen Johannes-Darstellungen, in denen das ambige Potential von Caravaggios Variationen der Figur weiter ausgereizt wird: Dem mit nacktem Oberkörper ins hochformatige Bildfeld gesetzten Knaben ist zwar ein Lamm beigegeben, doch dieses ist ebenso kalkuliert vom Bildrand überschnitten wie das Kreuz, dessen Querstab quasi auf der unteren Bildkante aufliegt und nur bei konzentrierter Betrachtung des Bildes als solches überhaupt wahrgenommen werden kann.398 Trotz dieser sicherlich als problematisch zu wertenden Motive befindet sich das Gemälde in einem ‚semisakralen‘ Kontext, und zwar dem Santuario von Filippo Neri neben der Chiesa Nuova, genauer in der Anticamera der Kapelle, die jedoch ebenfalls einen Altar enthält.399 Bedauerlicherweise wissen wir nicht, wann das Bild dorthin gelangte. Die vergleichsweise homogene Ausstattung des Raums mit seicen396  Siehe oben, Anm. 231. 397  Siehe oben, Anm. 266. 398  Siehe oben, Anm. 254. 399  Für die Geschichte der Kapelle des S. Filippo Neri, die 1620 zerstört und 1634 an an-

derem Ort, nämlich über den Konventsgebäuden, wiederaufgebaut wurde, siehe: Claudia Gerken, Der frühe Bildkult um San Filippo Neri in der Zeit vom Tode bis zur Kanonisation (1595–1622). Ein Modell der nachtridentinischen Heiligenverehrung, unveröff. Diplomarbeit (Universität Wien) 2000, S. 23. Ich danke der Autorin, die mir Einblick in ihren Text sowie zahlreiche weitere Hinweise gegeben hat. Es gibt, soweit ich sehe, keine Inventare, die sichere Auskunft über den Bestand des Raums im Seicento geben. Die Liste von Giovanni Incisa della Rocchetta, L’anticamera del Santo e la cappelletta privata di s. Filippo, in: Oratorium 3 (1972), S. 74–85, ist unvollständig.

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tesken und älteren Werken spricht aber dafür, daß dies bereits im Jahrhundert seiner Entstehung geschah – vermutlich im Rahmen einer Stiftung an die Kongregation von einem Privatmann.400 D. h., es war zu einem uns leider nicht genau bekannten Zeitpunkt, aber vermutlich noch im Seicento, einem Angehörigen der Kongregation offensichtlich möglich, das Werk in einen ausschließlich mit sakralen Gemälden bestückten und auch religiös genutzten Raum zu integrieren. Allerdings hängt es dort in der dritten und obersten Bildreihe, womit eine dezidierte Devotionshaltung wohl ausgeschlossen war bzw. ist.401 Was all diese Zeugnisse indirekt sehr deutlich machen, ist folgendes: Zweifelsfreie Kriterien, was ein privates Devotions- von einem ‚reinen‘ Sammlerbild unterscheidet, wo die Werke zu hängen hatten und wie mit ihnen umzugehen war, lassen sich zumindest in der ersten Hälfte des Seicento für religiöse Gemälde im privaten Kontext nicht festmachen, ja es scheint sie in der Tat nicht gegeben zu haben. Wenn ich auch unter Verweis auf Mancini und Armenini daran festhalten möchte, daß es grundsätzlich ein Bewußtsein für die Adäquatheit bestimmter Sujets und Gestaltungsweisen für bestimmte Räume gegeben hat, so hatte dies doch offensichtlich keine absolute Wertigkeit, sondern war vielmehr auch eine Frage des Geschmacks und der Vorlieben der einzelnen Besitzer, mithin plural und wandelbar. Dabei spielte wohl auch die Bereitschaft der einzelnen Sammler eine Rolle, in dieser frühen Zeit einer regen Sammlertätigkeit in Rom, die möglichen Konstellationen ‚auszutesten‘ und neue zu erproben. Es ist genau diese Situation erst in Ausbildung begriffener Parameter und Maßstäbe für die relativ neue Bildaufgabe, die sich meines Erachtens in den Werken selbst widerspiegelt. Wenn Caravaggio seine „Hl. Katharina von Alexan­drien“ ihre Betrachter, die ‚sie‘ möglicherweise viel zu gut kannten, anblicken läßt und damit das Charakteristikum einer Ikone perpetuiert und dieses durch das übertriebene Posieren des überaus lebendigen Modells auf einem Kissen zugleich ins Extrem übersteigert, reagiert er auf die Situation der impliziten ‚Dekontextualisierung‘ des Devotionsbildes und bricht dessen Strukturmerkmale durch Übertreibung (Hyperbel) in ironischer Weise.402 Ironie und Übertreibung sind also eine Folge der wohl auch den Künstlern unklaren Rezeptionsbedingungen und damit der unklaren Produktionsvorgaben für diese Bilder. Somit sind sie Ausdruck der sich gerade auch den Malern in dieser Zeit stellenden Frage nach der Darstellbarkeit religiöser Sujets einerseits speziell für das neue Ambiente der privaten Sammlung und andererseits generell in bezug auf so sensible Themen wie den Synkretismus, etwa, was 400  Vgl. für solche Transfers: Burckhardt, Die Sammler 2000, S. 291 f. 401 Diese erhöhte Hängung hat es mit dem einzigen anderen caravaggesken Gemälde im

Raum, nämlich Cecco del Caravaggios „Hl. Laurentius“ gemein. 402  Für eine entsprechende Konzeptualisierung von Ironie siehe Kap. III.2.4.

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die Frage der „Bacchischen Subidentität“ des Johannesknaben angeht, oder wie die stark diskursivierte Nacktheit. Verweist das sichtbare Geschlecht des Jesuskindes auf die Inkarnation des Gottessohns oder stellt es einen Verstoß gegen das Dekorum dar? Schriften und Bildtradition sprechen hier verschiedene Sprachen, und diese Situation unklarer Parameter in einer Zeit maximaler Diskursivierung der religiösen Malerei zeigt sich in den Werken. Ähnliches gilt für das Phänomen der Ambiguität: Das anonyme Gemälde „Maria und Anna bei der Handarbeit“ in der Galleria Spada (Abb. 13), Furinis „Lucia“ mit elegantem Rückendekolleté (Abb. 78) und die „Verleugnung Petri“ des Pensionante del Saraceni (Abb. 12), die die Verwechslung mit einer Genrekonstellation riskieren und nur über die Kenntnis anderer Darstellungen desselben Sujets identifiziert werden können, werfen nicht zufällig die Frage nach dem Dekorum, also nach der Angemessenheit solcher Gestaltungsweisen auf. Genau diese Frage nach der adäquaten Bildsprache für religiöse Sujets im neuen, profanen Kontext wird sich auch den Künstlern als Thema und als Problem gestellt haben. Sie reagieren darauf, indem sie in den Bildern selbst die Grenzen und Möglichkeiten des Darstellbaren ausloten – entweder durch ‚extreme‘ Bildlösungen oder dadurch, daß sie wie Antiveduto Grammatica mit der „Befreiung Petri“ zwei Versionen eines Sujets anbieten (Abb. 88 und Abb. 89). Diese nehmen auf die Geschmacksvorlieben ihrer Sammler Rücksicht und waren darüber hinaus in bestimmten Hängungen variabel einsetzbar. Die ‚Krise der Zeichen‘ manifestiert sich hier als eine in den Bildern selbst verhandelte Frage danach, was in Zeiten einer Pluralisierung des religiösen Bildes darstellbar ist, wo es darstellbar ist und welche Normen für die Bildaufgaben bestehen. Daß mit solchen visuellen Strategien allerdings gelegentlich die Grenzen dessen, was machbar war, überschritten wurde, zeigt die fortuna critica von Jacopo Vignalis „Cäcilie“. Ambiguität und Ironie sind also keine Akzidentien der Bilder; sie sind ihr Gegenstand und ihre ‚Substanz‘. Sie sind Folge der impliziten ‚Dekontextualisierung‘ des religiösen Galeriebildes und der unklaren Bewertungsmaßstäbe sowie der Pluralisierung des religiö­sen Bildes, und zugleich sind sie Produkte von deren Bewältigung und deren ‚Ventil‘. Diese Überlegungen lassen sich dadurch stützen, daß die hier betrachteten Phänomene, wenn auch in quantitativ und qualitativ weitaus geringerem Maße, schon früher gerade dort in der Malerei zu beobachten sind, wo gesammelt wird und wo das Sammeln neue Bildsujets generiert; so im Cinquecento in Venedig bzw. in Oberitalien.403 Ohne daß ich dies an dieser Stelle ausführen könnte,404 sei in diesem Zusammenhang auf Giorgiones „Knabe mit Pfeil“ 403  Vgl. Burckhardt, Sammler 2000, passim. 404  Hierzu ausführlicher Verf. in, Res et signa. Formen der Ambiguität in der Malerei des

Cinquecento, in: Kann das Denken malen? Philosophie und Malerei in der Renaissance (­Akten

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im Wiener Kunsthistorischen Museum (Abb. 167) hingewiesen, in dem man ebenso den hl. Sebastian oder einen jungen Mann als Sebastian gesehen hat wie einen Apollo oder Eros.405 Zu nennen sind auch Correggios anmutig liegende lesende „Magdalena“406 und Savoldos verhüllte „Magdalena“ in Halbfigur, die ihren Blick auf den Betrachter richtet. Von ihr existieren mehrere als original geltende Fassungen, darunter auch eine, welche die Heilige ohne Salbgefäß und damit ohne jedes Attribut zeigt (Abb. 168). Dies hat zu ihrer Benennung als „Figura femminile ammantata“, „weibliche Figur mit Schleier“, oder schlicht als „La veneziana“ geführt.407 Weitere ambige Darstellungen insbesondere aus der Tagung der Uni Hildesheim 24.–27. November 2005), hg. v. Inigo Bocken und Tilman Borsche, München 2010. 405  48 × 42 cm; Wien, Kunsthistorisches Museum; für dieses Bild: Terisio Pignatti & ­Filippo Pedrocco, Giorgione, Mailand 1999, Nr. 15, S.  132 und 193; Enrico Guidoni, Giorgione. ­Opere e significati, Rom 1999, Nr. 11, S. 217 f. und nun ausführlich Marianne Koos, G ­ iorgione da Castelfranco. Knabe mit Pfeil, in: Sylvia Ferino-Pagden & Giovanna Nepi Scirè (Hg.), ­Giorgione. Mythos und Enigma (Ausst.-Kat. Wien, Kunsthistorisches Museum/Venedig, Gallerie dell’Accademia 2004), Mailand 2004, 184–187; dies., „Amore dolce-amaro“. Giorgione und das ideale Knabenbildnis der venezianischen Renaissancemalerei, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 33 (2006), S. 113–174, die dafür plädiert, das Gemälde der Gruppe lyrisch-­melancholischer Männerbilder einzureihen, ihm also gar keine ‚Identität‘ mehr zuzuschreiben. Siehe hierfür auch meinen in der vorherigen Anmerkung genannten Aufsatz. 406  Für dieses überaus beliebte, unzählige Male rezipierte und abgewandelte Gemälde siehe: Maddalena Spagnolo, Correggio’s Reclining Magdalen. Isabella d’Este and the Cult of St ­Mary Magdalen, in: Apollo 157 (2003), Nr. 496, S. 37–45; Gaetano Ghiraldi, Il mito della „Madda­ lena leggente“ del Correggio nella storia delle Collezioni Estensi, in: Sovrane passioni. Le ­raccolte d’arte della Ducale Galleria Estense (Ausst.-Kat. Modena, Galleria Estense, Palazzo dei Musei 1998), hg. v. Jadranka Bentini, Mailand 1998, S. 106–115. David Ekserdjian, Correggio, Mailand 1997, S. 172, Abb. 196. 407 Zu den Gemälden: Renata Stradiotti, in: Sybille Ebert-Schifferer (Hg.), Giovanni ­Gerolamo Savoldo und die Renaissance zwischen Lombardei und Venetien. Von Foppa und Giorgione bis Caravaggio (Ausst.-Kat. Frankfurt a. M., Schirn-Kunsthalle 1990), Mailand 1990, S. 140–147. Als original gelten inzwischen folgende vier Fassungen:1.) 89,1 × 82,4 cm; London, National Gallery; Stradiotti, in: Ebert-Schifferer, Giovanni Gerolamo Savoldo 1990, Nr. I 13, S. 140–143 (ca. 1528–1530); Nicholas Penny, National Gallery Catalogues. The Sixteenth Century Italian Paintings. I Paintings from Bergamo, Brescia and Cremona, London 2004, 346–353, Nr. 1031 (1535–40); Cecil Gould, National Gallery Catalogues. The SixteenthCentury Italian Schools, London 1975, 236 f. Nr. 1031.2.) 94,1 × 75,3 cm; ca. 1528–1531; Berlin, Gemäldegalerie SMPK; Stradiotti, in: Ebert-Schifferer, Giovanni Gerolamo Savoldo 1990, Nr. I 14, S. 144 f. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Gemäldegalerie. Katalog der ausgestellten Werke des 13.–18. Jahrhunderts, Berlin 1975, Nr. 307, S.  391 („Die Venezianerin“).3.) 99  ×  80  cm; 1530er Jahre; Los Angeles, J. Paul Getty Museum (ehem. Zürich Privat­sammlung/Warwick Castle); Stradiotti, in: Ebert-Schifferer, Giovanni Gerolamo Savoldo 1990, Nr. I 15, S. 146 f.4.) 84 × 77,5 cm; Florenz, Sammlung Contini Bonacossi, ausgestellt in der Galleria Palatina/Palazzo Pitti, Gli Uffizi. Catalogo Generale, Florenz 1979, Nr. P1423, S.  472. Die Datierung der verschiedenen Fassungen schwankt in der Forschung stark; vgl. auch Creighton E. Gilbert, The Works of G. Savoldo, Diss. 1955, S. 164, 172 und 176 sowie ders., The Works of Girolamo Savoldo. The 1955 Dissertation with a Review of Research 1955–1985, New York/London 1986, S. 555 f.; Erich Schleier, Savoldos Magdalena in der Berliner Gemäldegalerie, in: Jahrbuch der Berliner Museen 33 (1991), S. 135–147. Ich folge

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167 Giorgione, Knabe mit Pfeil, Wien, ­Kunsthistorisches Museum

168  Giovanni Gerolamo Savoldo, Hl. Magdalena, Berlin, SMPK, Gemäldegalerie

dem oberitalienischen Raum ließen sich anführen.408 In ihnen werden Gestaltungsweisen antizipiert und Probleme formuliert, die in dem Moment, in dem diese Sammlungen quantitativ zunehmen, in neuer Intensität virulent werden. Es ist signifikant, daß das Phänomen der Ambiguität zwischen einem profanen und einem sakralen Sujet und die damit einhergehende Reflexion über die Kraft der visuellen Zeichen in jenem Moment auftritt, in dem die Gattung des Genrebildes entsteht und in dem diese Werke in den Sammlungen in dieselben Räume wie die religiösen Gemälde gehängt werden. Erst in dieser Kombination entfalten Gemälde wie die „Verleugnung Petri“ (Abb. 12) und das Marktbild des sog. Pensionante del Saraceni (Abb. 15), für die dem Maler offensichtlich dieselben Personen Modell gestanden haben, ihr vollständiges performatives und ambiges Potential und damit ihren Reiz als Sammlerbilder.409 Gerade die hier zu beobachtende Verbindung ambiger mit performativen Bildstrukturen macht die inszenierte Dimension solcher Strategien deutlich: Hier wird die Grenze zwischen einem profanen und einem sakralen Sujet Stradiotti und Schleier in der oben angegebenen Reihenfolge. 408  Ich nenne z. B. Parmigianinos um 1523 entstandene „Hl. Barbara“ im Prado, Madrid, oder Bartolomeo Venetos „Santa Suonatrice“ von 1526 in der Brera. Aus dem nicht-italienischen Bereich ist die „Hofdame beim Lautenspiel“ oder auch die „Hl. Magdalena“ des ­Meisters der weiblichen Halbfiguren in der Hamburger Kunsthalle zu nennen; vgl. Martina Sitt, Alte Rahmen – neue Hinsicht (Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2000), Hamburg 2000, o. Pag. 409  Siehe oben, S. 36.

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bewußt umspielt – wobei ‚Spiel‘ einmal mehr im Sinne des frühneuzeitlichen, mit dem Konzept des Paradoxen verknüpften serio ludere, dem intellektuellen Spiel, zu verstehen ist.410 Es geht in den Bildern also nicht darum, den Betrachter ernsthaft und dauerhaft über das verbildlichte Sujet zu täuschen – ein solcher concetto hätte sich ja auch rasch erschöpft –, entscheidend ist vielmehr das unausgesetzte ‚Kreisen‘ um diese Grenze, das die Betrachter gedanklich nachvollziehen sollen. Daß gerade im Vorgang der Identifikation und Bennenung eines semantisch etwas unscharf determinierten Kunstwerks für die Rezipienten ein Reiz erkannt wurde, wissen wir beispielsweise aus dem berühmten Brief Giambolognas an Ottavio Farnese vom 13. Juni 1579, in dem dieser seine unmittelbar zuvor fertiggestellte zweifigurige bronzene Raptusgruppe dem Herzog mit folgenden Worten empfiehlt: „Le due predette figure che possono inferire il rapto d’Elena, et forse di Proserpina o, d’una delle Sabine: eletto per dar campo alla sagezza, et studio dell’arte […]“ „Die beiden vorgenannten Figuren können den Raub der Helena, oder vielleicht der Proserpina oder einer der Sabinerinnen darstellen: [sie wurden] ausgewählt, um der Weisheit und dem Studium der Kunst Gelegenheit zu geben.“411 410  Allg. zum Konzept des ‚serio ludere‘, das von mir auf die performative Bedeutungsgenerierung im Bild bezogen wird: Rosalie L. Colie, Paradoxia Epidemica. The Renaissance Tradi­ tion of Paradox, Princeton 1966, hier S. 5: „[…] paradoxes were undertaken serio ludere as exer­ cises of wit designed to amuse an audience suffciently sophisticated in the arts of language to understand them“; (mit ausführlicher Nennung der relevanten theoretischen Schriften); Marc Föcking, Serio ludere: Epistemologie, Spiel und Dialog in Nicolaus Cusanus’ De ludo globi, in: Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, hg. v. Klaus W. Hempfer & ­Helmut Pfeiffer, Stuttgart 2002, S. 1–18, sowie auch die weiteren Beiträge in diesem Band. Mit Bezug auf visuelle Medien verwendet Thomas DaCosta Kaufmann, Arcimboldo’s S­ erious ­Jokes: „Mysterious but Long Meaning“, in: The Verbal and the Visual: Essays in Honor of ­William Sebastian Heckscher, hg. v. Karl-Ludwig Selig & Elizabeth Sears, New York 1990, S. 59–86, Begriff und Konzept, nämlich mit Bezug auf Arcimboldos bizarre Köpfe, die sich beim Umdrehen des Gemäldes in ein Stilleben ‚verwandeln‘. Für die Bedeutung des Konzepts um 1600 siehe etwa die Schriften mit dem bezeichnenden Titeln: Michael Maier(us), Lusus S­ erius, Oppen­heim 1616; ders., Jocus Severus, Frankfurt a. M. 1617. Vgl. hierzu auch Johan ­Huizinga, Homo ­Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur, Basel 1939, und die Bemerkungen hierzu von Leonid Batkin, Die italienische Renaissance. Versuch einer Charakterisierung eines Kulturtyps, Frankfurt a. M. 1981, S. 222, Anm. 61; Frank J. ­Warnke, Sacred Play: Baroque Poetic Style, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 22 (1964), No. 4, S. 455–464; Bernd Häsner, Leonardo Brunis Dialogus ad Petrum Paulum Histrum, in: Möglichkeiten des Dialogs: Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien, hg. v. Klaus W. Hempfer, Stuttgart 2002, S. 115–161, hier 151. 411  Zitiert nach: Antonio Filangieri di Candida, Due bronzi di Giovan Bologna nel Museo Nazionale di Napoli, in: Napoli nobilissima. Rivista di topografia ed arte napoletana 6 (1969), Heft 2, S. 20–24, hier 21. Zu der 99,5 cm großen Gruppe (mit Basis), die sich heute im Museo Capodimonte in Neapel befindet: Giambologna 1529–1608. Ein Wendepunkt der europäischen Plastik (Ausst.-Kat. Edinburgh, Royal Scottish Museum/London, Victoria & Albert Museum/Wien, Kunsthistorisches Museum und Österreichisches Kulturzentrum 1978/79),

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Es ist also „serio ludere“ auf der Ebene der Semantik, das Spielen mit ‚Bedeutung‘, das zur Aktivierung der Betrachter wird und ihr „diletto intellettuale“ erzeugt, welches das „diletto sensuale“ an den ästhetisch oft hoch attraktiven Werken komplementiert.412 Die Ambiguität hat noch weitere Folgen für den Rezeptionsprozeß: Die Betrachter müssen – in gewissen Grenzen natürlich – vor diesen Bildern selbst sinnstiftend tätig werden. Dadurch, daß ihnen die Selbstverständlichkeit ihrer Benennung unmöglich gemacht wird, führt ihre Rezeption zur Bewußtwerdung des Wahrnehmungsvorgangs und damit zur Erkenntnis, wie elementar der Akt der Konstitution von Bedeutung an die Wahrnehmung gekoppelt ist.413 Letztendlich sind es in vielen Darstellungen ja die Betrachter, die mit Hilfe ihres visuellen Gedächtnisses, in dem vergleichbare Darstellungen gespeichert sind, die Relation von Zeichen und bezeichnetem Gegenstand herstellen. So wird ihnen auf einer Metaebene vor Augen geführt, daß es kein stabiles Verhältnis von Signifikat und Signifikant gibt, sondern daß es vielmehr ihr individuelles Bildgedächtnis und ihr Erfahrungshorizont sind, welche die Wahrnehmungen der Bilder steuern. Mit den genannten Bedingungen der gemischten Hängung der Werke und der Möglichkeit der konzentrierten Bildbetrachtung ist die Galerie sicherlich auch deswegen der ideale Ort für diese Strategien kalkulierter struktureller Offenheit und der Reflexion über die Semiotizität der Bilder. Diese zielen auf intellektuellen Genuß und auf die aktive Teilhabe der Betrachter am Vorgang der Semantisierung, die um so stärker herausgefordert ist, je ambiger die Struktur der Bilder ist. Eingedenk der Bedeutung des ungeregelten oder auch geregelten gesellschaftlichen Gesprächs für die Kultur der Frühen Neuzeit generell und speziell des Gesprächs vor Kunstwerken – man denke nur an das originär dialogische Phänomen des Paragone –,414 dürfte diese Aktivität von seiten der Betrachter gerade auch im Rahmen des gemeinsamen hg. v. Charles Avery u. a., Wien 1978, Nr. 56, S. 139 f. mit deutscher Übersetzung der Passage: „Die beiden oben erwähnten Figuren können als Raub der Helena oder vielleicht der Proserpina oder einer der Sabinerinnen interpretiert werden; das Motiv wurde gewählt, um der Kenntnis und dem Studium der Kunst eine Gelegenheit zu geben.“ (S. 140). Den Hinweis auf diesen Brief gab mir freundlicherweise Christiane Kruse. 412  In dieser begrifflichen Fassung ist die Formel belegt in zwei Schriften von Sperone Speroni (1500–1588), seinem „Trattatello dei Sensi“ und seinem Paragonetraktat „Discorso in lode della pittura“ (Sperone Speroni, Opere, Venedig 1740, Bd. 5, S. 399 f., und Bd. 4, S. 441–446, hier 445); sie geht zurück auf die „Summa“ von Thomas von Aquin und begegnet beispielsweise auch in den Schriften von Gabriele Paleotti und Romano Alberti. Zu den Kategorien in Verbindung mit dem idealtypischen Wahrnehmungsverhalten in frühneuzeitlichen Sammlungen siehe auch Verf.in, „Diletto dei sensi“ 2001, S. 81–112. 413  Ich verweise für eine Darlegung dieses Zusammenhangs auf Erika Fischer-Lichte, Bedeutung – Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik, München 1979, passim. 414  Für den Zusammenhang speziell der venezianischen Gesprächskultur der Frühen Neuzeit mit Kunstthemen wie z. B. dem Paragone, verweise ich auf meine Studie: Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2001, S. 81–139.

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Gesprächs vor den Werken eingelöst worden sein.415 Mit Valoris und Tizians Konversation über die „zu frische Magdalena“ in der Werkstatt des Malers haben wir dafür ein Beispiel gesehen. Die Galerie wird zum Erprobungsfeld, in dem die Normen und Möglichkeiten der Visualisierung nicht nur, aber in besonderer Weise im religiösen Bild ausgelotet und diskursiviert werden. Diese wurden durch die oben beschriebenen Veränderungen, die das Bild um 1600 erfährt, virulent. Das, wofür die Zeichen stehen und wo die semantischen Grenzen des Religiösen liegen, wird von den Malern im Modus des Ambigen, Performativen und Ironischen zum Thema gemacht und von den Betrachtern mit intellektuellem und sinnlichen diletto nachvollzogen.

415  In diese Richtung geht Stoichita, Zur Stellung des sakralen Bildes 1994, S. 432, wenn er darauf hinweist, daß das Gespräch das Hauptthema vieler Cabinet d’amateur-Bilder ist, was dem externen Bildbetrachter suggeriert, sich ebenso zu verhalten; vgl. mit Bezug auf diesen Bildtyp auch Barbara Welzel, Galerien und Kunstkabinette als Orte des Gesprächs, in: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, hg. v. Wolfgang Adam unter Mitwirkung v. Knut Kiesant u. a., Wiesbaden 1997, Bd. 1, S. 495–504; sowie mit Bezug auf Bildstrukturen in Sammlungsbildern generell Verf.in, „Diletto dei sensi“ 2001, S. 81–112. In gewissem Sinn läßt sich dies als eine Fortsetzung der alten Rezeptionsform von Sammlungen im Studiolo, nämlich des Gesprächs über Studienobjekte, verstehen.

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III Ironisches Spielen mit Normen Caravaggios Werke im ­‚öffentlichen‘ Raum

Avantpropos: Voraussetzungen eines Auftrags an Caravaggio. Die Contarelli-Kapelle in S. Luigi dei Francesi Bedenkt man die konstitutiven Merkmale von Caravaggios Sammlerbildern mit religiösem Sujet – die obscuritas der „Magdalena“ für Girolamo Vittrici (Abb. 47), die Subversion des Bildtypus des ikonischen Heiligenbildes in der „Katharina“ für den Kardinal del Monte (Abb. 3) und die gezielte Ambiguität in „Martha und Magdalena“ für Pietro Aldobrandini (Abb. 101) – dann muß es als äußerst bemerkenswertes und durchaus erstaunliches Ereignis in seiner Karriere gelten, daß der Maler gegen Ende der neunziger Jahre den Auftrag für eine Kapellenausstattung erhielt. Zwei Faktoren mögen zusammengewirkt haben, daß ihm dieser für seine künstlerische Profilierung notwendige Schritt gelang: zum einen seine mittlerweile exzellenten Kontakte zu wichtigen römischen Sammlern, die offensichtlich ab einem bestimmten Zeitpunkt selbst gesteigertes Interesse daran hatten, daß der von ihnen protegierte Maler ein größeres Publikum für sich gewann. Zum anderen bot sich in engster Nachbarschaft des Künstlers – er wohnte in dieser Zeit im Palazzo Madama des Kardinals del Monte – eine hervorragende Gelegenheit für den Sprung in den ‚öffentlichen‘1 Raum: Die Ausstattung der Grabkapelle des französischen Kardinals Matthieu Cointrel in der französischen Nationalkirche S. Luigi dei Francesi unweit Piazza Navona war schon seit mehreren Jahrzehnten ins Stocken geraten, sollte nun aber zügig zu Ende gebracht werden, wofür ein neuer Maler gesucht wurde.2 Aufgrund der besonderen Stellung dieser Werke in Caravaggios Œuvre ist es sinnvoll, für die Frage nach den Änderungen der Produktions- und Rezep1  Für die Kategorien von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ in der Frühen Neuzeit siehe oben, S. 44. 2 Für die wechselvolle und komplizierte Ausstattungsgeschichte der Contarelli-Kapelle siehe

nach wie vor Herwarth Röttgen, Giuseppe Cesari, die Contarelli-Kapelle und Caravaggio, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 27 (1964), S. 201–227 und ders., Die Stellung der Contarelli-­ Kapelle in Caravaggios Werk, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 28 (1965), S. 47–68, der basierend auf den von Denis Mahon Anfang der fünfziger Jahre publizierten Dokumenten und eigenen Archivfunden die Ausstattungsgeschichte der Kapelle rekonstruiert. Sie wurde in jüngerer Zeit um einige Details ergänzt; siehe hierfür Gilbert, Caravaggio 1995, S. 159–166; Marco Pupillo, I Crescenzi, Francesco Contarelli e Michelangelo da Caravaggio: contesti e documenti per la commissione in S. Luigi dei Francesi, in: Caravaggio. La vita e le opere 1996, S. 148–166; ­ atteo Sickel, Caravaggios Rom 2003, S. 89–131; Sandro Corradini, Il testamento del cardinale M Contarelli e la sua quadreria, in: Caravaggio nel IV centenario della cappella ­Contarelli. Convegno internazionale di studi, Roma 24–26 maggio 2001, hg. v. Caterina Volpi, Città di Castello 2002, S. 51–62. Alle relevanten Dokumente sind zusammengestellt in: La cappella Contarelli in San Luigi dei Francesi. Arte e committenza nella Roma del Caravaggio, hg. v. N ­ atalia Gozzano & Patrizia Tosini, mit e. Einf. v. Silvia Danesi Squazina, Rom 2005, S. 109–153.



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tionsbedingungen bei diesem Kontextwechsel die Contarelli-Kapelle exemplarisch zu betrachten. Dabei liegt der Fokus meines Interesses auf der Frage, ob Caravaggio die in den Sammlerbildern beobachteten Strategien und Muster beibehält und auf welchen kommunikativen Rahmen hin er die Bilder konzipiert. Was verändert er? Wie werden seine Bilder von der Öffentlichkeit rezipiert, und welche Schlüsse lassen sich daraus umgekehrt für die Werke im privaten Raum ziehen? Da sich Caravaggio in den beiden Seitenbildern und im Altargemälde verschiedene Aufgaben und Anforderungen stellten, behandele ich sie getrennt voneinander. Ich beginne mit den zuerst ausgeführten Seitengemälden Abb. 2 und Abb. 21), die den Maler vor eine für ihn neue Aufgabe als Erzähler großer, mehrfiguriger und dramatischer Historien stellten. Vermutlich erhöhte das unmittelbar bevorstehende Heilige Jahr 1600, in dem man in Rom über eine Million Pilger aus ganz Europa, darunter auch den erst kürzlich konvertierten französischen König Heinrich IV. erwartete, den Druck auf die Rektoren von S. Luigi, eine Lösung für die Ausstattung der Kapelle zu finden.3 Denn obwohl Kardinal Cointrel (italienisch: Contarelli) bereits im Jahre 1565 dem Brescianer Maler Girolamo Muziano den Auftrag für einen sechsteiligen Zyklus mit Fresken zum Leben des Apostelevangelisten erteilt hatte, war die Kapelle gegen Ende des Jahrhunderts noch immer ohne Schmuck. Muziano wurde aus unbekannten Gründen nicht aktiv, und so erbte beim Ableben des französischen Kardinals dessen Nachlaßverwalter, der römische Patrizier Virgilio Crescenzi, auch das Problem der verschleppten Kapellenausstattung. Er beauftragte zwar den aufstrebenden Maler Giuseppe Cesari mit der Dekoration, aber auch dieser führte zwischen 1591 und 1593 lediglich die Fresken an der Decke aus; die Seitenwände blieben nach wie vor ungeschmückt.4 Mit den ehrgeizigen Projekten Papst Clemens’ VIII. für das Heilige Jahr vertrug sich diese Situation schlecht. Der Papst ließ die den frühchristlichen Märtyrern geweihten Kirchen Roms umfassend restaurieren und die oben erwähnten Gemäldezyklen in Auftrag geben, darüber hinaus wies er die römischen Kardinäle an, ihre Titularkirchen in der Stadt instand zu setzen. Vor diesem Hintergrund verwundert seine Entscheidung nicht, der Familie Crescenzi im Anschluß an eine Visitation der französischen Nationalkirche im Sommer 1597 die Verantwortung für die Vollendung der Kapelle zu entziehen und sie der Fabbrica di San Pietro zu übertragen. Gleichzeitig war damit ein langer und komplizierter Rechtsstreit um das durch zahlreiche Pfründe als bedeutend einzuschätzende Erbe des französischen Kardinals beendet.5 3  Den Zusammenhang zwischen der Auftragsvergabe und dem Anno Santo 1600 bzw. der Konversion Heinrichs IV. stellen besonders Spike, Caravaggio 2001, S. 92 f., und Calvesi, La realtà 1990, S. 279–310, her. 4  Siehe hierfür Röttgen, Il Cavalier Giuseppe Cesari 2002, Nr. 29, S. 249–253. 5  Siehe zu allem Sickel, Caravaggios Rom 2003, S. 89–108, der ausführlich die langwierigen und komplizierten Rechtsstreitigkeiten um das Contarelli-Erbe rekonstruiert.

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Mit einer Fortsetzung der Arbeiten in der Contarelli-Kapelle durch Cesari, den Cavaliere d’Arpino, war allerdings nun nicht mehr zu rechnen. Denn dieser hatte in der Zwischenzeit nicht nur den Auftrag für die Freskierung des großen Saals der Konservatoren auf dem Kapitol erhalten, sondern war vom Papst auch mit der für das Heilige Jahr terminierten Neugestaltung des Querschiffs von S. Giovanni in Laterano betraut worden – ein Auftrag, der ungleich prestigeträchtiger war als der für die Seitenkapelle in der französischen Nationalkirche. Die Rektoren von S. Luigi bemühten sich daher um die Auflösung des Vertrags mit Cesari, was im Sommer 1599 auch gelang. Es liegt auf der Hand, daß diese Situation außerordentlich günstig war, um einen Maler wie Caravaggio zu lancieren, der den Rektoren der Kirche offensichtlich in Aussicht stellte, die Werke binnen weniger Monate auszuführen. Wer bei der Vermittlung des Auftrags an ihn federführend war, ist nicht ganz eindeutig. In der frühen Literatur werden in diesem Zusammenhang mehrere Namen genannt, aber es ist auch nicht ausgeschlossen, daß es sich um eine gemeinschaftliche Initiative verschiedener Förderer des Malers handelt. Baglione nennt in seiner Caravaggio-Vita in diesem Zusammenhang einen „suo Cardinale“ (und meint damit del Monte), in dessen der Kirche unmittelbar benachbartem Palast der Maler in dieser Zeit ja wohnte.6 Bellori gibt den Hinweis auf den Dichter Giambattista Marino, der die Crescenzi angeregt habe, eine regelrechte Konkurrenz zwischen Cesari und Caravaggio zu inszenieren.7 Es ist gut möglich, daß es sich hierbei um eine spätere Projektion handelt, gleichwohl ist der Hinweis auf eine Rolle des neapolitanischen Dichters in dieser Angelegenheit sicherlich nicht zu überschätzen.8 Auch Cesari, in dessen Werkstatt Caravaggio unmittelbar nach seiner Ankunft in Rom gearbeitet hatte und mit dem ihn auch in den folgenden Jahren ein recht gutes Verhältnis verband, könnte zu dieser Lösung geraten haben.9 Schließlich ist es 6  Baglione, Le Vite 1935, S. 136: „Per opera del suo Cardinale hebbe in s. Luigi de’ Francesi la

cappella de’ Contarelli […]“ 7 Ebd., S. 218 f.: „Tantoché il Marino, per una grandissima benevolenza e ­compiacimento

dell’operare del Caravaggio, l’introdusse seco in casa di monsignor Melchiorre Crescenzi chierico di camera: colorí Michele il ritratto di questo dottissimo prelato e l’altro del signor Virgilio Crescenzi, il quale, restato erede del cardinale Contarelli, lo elesse a concorrenza di Giuseppino alle pitture della cappella in San Luigi de Francesi. Cosí il Marino, che era amico di ­ gure questi due pittori, consigliò che a Giuseppe pratichissimo del fresco si distribuissero le fi di sopra nel muro, ed a Michele li quadri a olio.“ Ähnlich Baldinucci, Notizie 1974, S. 684. Vgl. hierzu Maurizio Marini, Marino e Caravaggio: un ritratto nel contesto della Contarelli, in: ­Caravaggio nel IV centenario della Cappella Contarelli 2002, S. 233–242. 8  Zu Caravaggio und Marino siehe meinen Aufsatz: Caravaggio, Marino und ihre „wahren Regeln“. Zum Dialog der Malerei und Literatur um 1600, in: Barocke Bildkulturen: Dialog der Künste in Giovan Battista Marinos Galeria, hg. v. Christiane Kruse & Rainer Stillers, Wiesbaden 2013. 9 So Röttgen, Il Cavalier Giuseppe Cesari 2002, S. 43–45; Sickel, Caravaggios Rom 2003, S. 106.



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durchaus möglich, daß Caravaggio während seiner Zugehörigkeit zu dessen Werkstatt Anfang der neunziger Jahre an den Arbeiten in der Kapelle bereits in irgendeiner Form beteiligt war.10 Noch am Tag der Auflösung des Vertrags mit Cesari erhielt Caravaggio von den Rektoren von S. Luigi den Auftrag für die beiden Seitengemälde, der kurz darauf von der Fabbrica di S. Pietro bestätigt wurde. An der Evangelienseite der Kapelle sollte die Berufung des Zöllners Levi zum Apostel Matthäus und an der Epistelseite dessen Martyrium verbildlicht werden. Sicherlich auf Wunsch oder Drängen des Malers waren die Werke in Öl auf Leinwand auszuführen. Daß in der Tat ein Zusammenhang zwischen der Auftrags­vergabe an Caravaggio und dem bevorstehenden Heiligen Jahr bestand, bestätigt die Vertragsklausel, derzufolge die Werke innerhalb der äußerst kurzen Frist von sechs Monaten, also bis zum Jahresende 1599, auszuführen waren. Für den ebenfalls noch ungeschmückten Altar der Kapelle war zu jenem Zeitpunkt noch die Statuengruppe des flämischen Bildhauers und Protegé Contarellis, Jacob Cobaert, vorgesehen. Tatsächlich dauerte die Ausführung der beiden Gemälde länger. Sie waren im Juni 1600 fertiggestellt und wurden im Dezember 1600 installiert. Direkt und indirekt berichten die Quellen von großem Aufsehen, das die beiden Werke (Abb. 2 und Abb. 21) bei ihrer Enthüllung erregten. Unmittel­bar nach ihrer Fertigstellung verfaßte der Dichter Marzio Milesi eine Eloge in Form eines fünfzigzeiligen (!) Gedichts mit dem Titel „Selva per le historie di S. Mattheo dipinte da Michel Angiol da Caravaggio“, das mit den Versen beginnt: „Cedano a voi gl’antichi, et i più illustri pittor del secol nostro, Angiol Michele e siano immortali, e gl’anni, e i lustri, i color vostri, e le pregiate tele.“ „Zurückweichen sollen vor euch die alten Maler und die berühmtesten unseres Jahrhunderts, Michelangelo [Caravaggio], und es seien unsterblich eure Lebensjahre und -jahrzehnte, eure Farben und hochgeschätzten Bilder.“11

10  So bereits Hibbard, Caravaggio 1983, S. 93; dagegen Maurizio Marini, Bernardino Cesari e Caravaggio. Un’amicizia da definire, in: Colloqui del Sodalizio 7–8 (1980–84), S. 71–79, hier 76, der vermutet, daß Caravaggio erst im Juni 1593 in die Werkstatt Cesaris eingetreten sei, also zu einem Zeitpunkt, als dieser die Arbeiten in der Contarelli-Kapelle bereits abgebrochen hatte. Zu erwähnen ist auch, daß Bellori vermerkt, Caravaggio habe ein Porträt von Virgilio Crescenzi ausgeführt. Das müßte unmittelbar nach seiner Ankunft in Rom geschehen sein, da Crescenzi bereits im Dezember 1592 starb (Sickel, Caravaggios Rom 2003, S. 105). 11  Marzio Milesi, Monumenta Ingenii Aliquot. Biblioteca della Rubiconia Accademia die Filopatridi, Savignano sul Rubicone, ms. 59, publiziert in: Giorgio Fulco, „Ammirate l’altissimo

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169  Cristoforo Roncalli, Berufung Matthäi, Rom, Palazzo Caetani

Besonders aufschlußreich bezüglich der Reaktion auf Caravaggios erste Gemälde für einen Kirchenraum sind die Sätze von Giovanni Baglione. Er schreibt, sie seien von einigen „Schuften“ („maligni“) mit der Absicht gelobt worden, Cesari zu kränken – eine Bemerkung, die Bellori in seinem Exemplar der Viten mit der Annotation „Baglione bestia“, „Baglione Vieh“, versieht.12 Und weiter heißt es: „Pur venendoui a vederla Federico Zucchero, mentre io era presente, disse. Che rumore è questo? e guardando il tutto diligentemente, soggiunse. Io non ci vedo altro, che il pensiero di Giorgione nella tauola del Santo, quando Christo il chiamò all’ Apostolato; e sogghignando, e marauigliandosi di tanto rumore, voltò le spalle, & andossene con Dio.“ „Es kam nun Federico Zuccari, um sie anzusehen, während ich anwesend war, und sagte. Was für ein Lärm ist das? und alles sorgfältig betrachtend, erklärte er. Ich sehe hier nichts anderes als den Bildgedanken Giorgiones in der Darstellung des Heiligen, als Christus ihn zu seinen Jüngern berief; und grinsend, und verwundert über so viel Lärm, wandte er uns den Rücken zu und ging mit Gott.“13

Es ist weniger die Bemerkung einer wie auch immer gearteten Nähe der „Berufung Matthäi“ zur Malerei Giorgiones, die hier interessieren soll, als der gleich doppelt attestierte „rumore“, den die Bilder erzeugten und der einen Maler wie Federico Zuccari dazu veranlaßt hatte, sich persönlich in die Kapelle in der französischen Nationalkirche zu bemühen. Auch Belloris Bemerkung „Baglione bestia“ sowie das Ende von Milesis Eloge, in der von „odio“, „Haß“ und pittore“. Caravaggio nelle rime inedite di Marzio Milesi, in: Ricerche di storia dell’arte 10 (1980), S. 65–89, hier 88. 12  Siehe den 1995 mit den Annotationen publizierten Reprint der Viten Bagliones von 1642, S. 137. 13  Baglione, Le Vite, S. 137.



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„invidia“, „Neid“ die Rede ist,14 spricht nicht nur für die überaus große Beachtung, die den Gemälden zuteil wurde, sondern auch für heftige und kontro­ verse Reaktionen der Zeitgenossen. Sie manifestiert sich, wie zu zeigen sein wird, indirekt auch in den visuellen Transformationen der Gemälde. Unterstellt man Caravaggio eine diesbezügliche Absicht, ist seine Strategie aufgegangen: Nach der provisorischen Installation von Cobaerts Statuengruppe auf dem Altar und ihrer umgehenden Ablehnung erging im Jahr 1602 auch der Auftrag für das Altarbild (Abb. 5) an ihn. Damit hatte Caravaggio binnen weniger Jahre ein Ausstattungsensemble geschaffen, das breiteste Aufmerksamkeit auf sich zog und ihm den Weg für weitere Aufträge im öffentlichen Raum ebnete.

14  Milesi, Selva per le historie (1600/01), in: Fulco, „Ammirate l’altissimo pittore“ 1980, S. 88:

„Voi note mie, già che canzon non sete,/ né cosa ch’ammirar altri vi deggia, / non perciò dubitate palesarvi; / e s’odio o pur se invidia di qualch’uno/dirà ch’altri v’è uguale a le sue lodi, dite ch’unico il tempo esser farallo“.

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1. Verschobene Peripetien und dunkle ­Handlungen in Caravaggios ersten storie für einen sakralen Raum: die Seitenbilder der Contarelli-Kapelle 1.1 Die amphibolia der Erzählung in der „Berufung Matthäi“ und die ambivalenten Reaktionen der ‚Caravaggisten‘ Vermutlich ist die „Berufung des Zöllners Levi zum Apostel Matthäus“ (Abb. 2) dasjenige Gemälde, das den größten Rezeptionserfolg aller Werke Caravaggios hatte.15 Ohne die jungen Männer im Bravo-Kostüm am Tisch der Zöllner mit ihren enganliegenden weißen Hosen, mit ihren Degen und Federbaretten, ist die Genese des Genrebildes der Frühen Neuzeit in Italien und Holland kaum vorstellbar. Insbesondere der uns seinen Rücken zuwendende junge Mann und der ihm gegenübersitzende Junge wurden dabei aus dem Erzählzusammenhang isoliert und zu Protagonisten einer kaum übersehbaren Fülle von Spieler- und Trinkerdarstellungen.16 Als solche waren sie mindestens ebenso wirkmächtig wie das Personal von Caravaggios eigentlichen Genrebildern, den „Kartenspielern“ im texanischen Fort Worth und der „Wahrsagerin“ in den Kapitolinischen Museen und im Louvre (Abb. 19). Der Erfolg dieser Figuren, der für die extreme Popularität des Berufungsbildes bereits bei den Zeitgenossen und den nachfolgenden Generationen spricht, steht in einem denkbar großen Kontrast zu seinen problematischen Aspekten im Hinblick auf die Lesbarkeit der verbildlichten Narration. Sie wurden in der Forschung in den 1980er und 1990er Jahren intensiv und kontrovers diskutiert und sollen hier im Zentrum stehen, weil sie zu den hier interessierenden Themen der Auseinandersetzung des Malers mit den Konstitutionsbedingungen des frühneuzeitlichen Gemäldes und dem Normensystem der Malerei hinführen. Hierfür müssen einige der von der Forschung bereits intensiver betrachteten Themen noch einmal aufgerollt werden.

15  322 × 340 cm; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 36, S. 441 f.; Cinotti, Caravaggio 1983,

Nr. 61B, S. 528–530, sowie die in den folgenden Anmerkungen genannte Literatur. 16  Vgl. auch die oben gesehenen Darstellungen der Verleugnung Petri, die um spielende Sol-

daten erweitert werden und die häufig exakt auf diese Figuren in der „Berufung“ rekurrieren. Allgemein für das Thema siehe nun Marcus Dekiert, Musikanten in der Malerei der niederländischen Caravaggio-Nachfolge: Vorstufen, Ikonographie und Bedeutungsgehalt der Musik­ szene in der niederländischen Bildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Münster 2003 (mit weiterer Literatur).

Verschobene Peripetien und dunkle ­Handlungen in Caravaggios ersten storie für einen sakralen Raum

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Unklar ist bereits die räumliche Situation im Bild. Suggeriert der konzen­ trierte Lichteinfall von rechts oben, die Zollstation befinde sich in einem Innenraum, oder spielt sich das Geschehen im Freien ab? Auf letzteres deuten die die Figurengruppe streng parallel hinterfangende Mauer, die in der linken Bildhälfte nach hinten umknickt, und das in sie eingelassene Fenster mit einem wohl nach außen geöffneten Fensterladen hin.17 Ebenfalls unklar ist, woher Christus den Ort des Geschehens betreten hat. Seine Fußstellung suggeriert, er sei aus der Bildtiefe geradewegs auf den Betrachter zugekommen; allerdings befindet sich an dieser Stelle eine Mauer.18 Da seine Füße gut sichtbar sind, scheint hier kein – etwa durch mangelndes zeichnerisches Können bedingter – ‚Fehler‘ des Malers vorzuliegen, sondern ein bewußtes Kalkül. Noch mehr als diese Unklarheiten beschäftigte die Forschung eine andere Frage, und zwar die nach der Identität des Protagonisten im Bild. „Wo ist Matthäus?“, lautet der Titel eines Aufsatzes von Andreas Prater aus dem Jahr 1985,19 der überwiegend im deutschen Sprachraum eine vor allem von Praters Kontrahenten Herwarth Röttgen polemisch geführte Diskussion ausgelöst hat.20 Dabei war Prater gar nicht der erste, der vor dem Bild ein die Identität des Apostelevangelisten betreffendes Problem konstatierte. Die Frage, wer eigentlich Matthäus sei, war bereits in einem entlegen publizierten kurzen Aufsatz von Nicholas de Marco zum Thema gemacht worden,21 und sie hat sich, wie zu zeigen sein wird, nachweislich auch bereits den Zeitgenossen gestellt. De Marco und Prater formulierten unabhängig voneinander erstmals die Überlegung, daß sich das nach den drei synoptischen Evangelien von Jesus

17  Vgl. Andreas Prater, Wo ist Matthäus? Beobachtungen zu Caravaggios Anfängen als Mo-

numentalmaler in der Contarelli-Kapelle, in: Pantheon 43 (1985), S. 70–74, hier 72; ders., Matthäus und kein Ende? Eine Entgegnung, in: Pantheon 53 (1995), S. 53–61, besonders 58; Burgard, Art of Dissimulation 1998, S. 98, weist darauf hin, daß auch der unten zitierte Programmentwurf von Contarelli diesbezüglich widersprüchliche Angaben macht. Ausführlich zu den verschiedenen Argumenten: Raabe, Der imaginierte Betrachter 1996, S. 78–80. 18  Vgl. Prater, Wo ist Matthäus 1985, S. 72; Burgard, Art of Dissimulation 1998, S. 98. 19  Prater, Wo ist Matthäus 1985, S. 70–74. Ebenso ohne Kenntnis von Praters Aufsatz wenige Jahre später: Angela Hass, Caravaggio’s Calling of St. Matthew Reconsidered, in: Journal of Warburg and Courtauld Institutes 51 (1988), S. 245–250. 20  Hildegard Kretschmer, Zu Caravaggios Berufung des Matthäus in der Cappella Contarelli, in: Pantheon 46 (1988), S. 63–66; Bert Treffers, Dogma, esegi e pittura: Caravaggio nella cappella Contarelli in San Luigi dei Francesi, in: Storia dell’arte 67 (1989), S. 241–255; Herwarth Röttgen, Da ist Matthäus, in: Pantheon 49 (1991), S. 97–99; Irving Lavin, Caravaggio’s Calling of Saint Matthew: The Identity of the Protagonist, in: ders., Past-Present. Essays on Historicism in Art From Donatello to Picasso, Berkeley u. a. 1993, S. 85–99; Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 53–61; Raabe, Der imaginierte Betrachter 1996, S. 84; Thomas Puttfarken, Caravaggio’s „Story of St Matthew“: A Challenge to the Conventions of Painting, in: Art History 21 (1998), S. 163–181; Burgard, Art of Dissimulation 1998, S. 95–102. 21  Nicholas De Marco, Caravaggio’s Calling of Saint Matthew, in: Iris. Notes on the History of Art 1 (1982), S. 5–7.

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gesprochene Wort „Folge mir nach“22 nicht – wovon die Forschung bis dato ausgegangen war – auf den bärtigen Mann an der Längsseite des Tisches bezieht, der auf Petrus und Jesus blickt, mit der rechten Hand Münzen zählt und seine linke Hand zu einem Zeigegestus erhoben hat. Als der von Jesus angesprochene Zöllner Levi sei vielmehr der junge Mann mit verschattetem Gesicht zu identifizieren, der an der linken Schmalseite des Tisches auf einem großen Stuhl sitzt und offensichtlich nicht auf Christi Worte reagiert – oder nur insofern, als er die durch dessen Auftreten bedingte Ablenkung geschickt dazu nutzt, ein paar Münzen beiseite zu schaffen. Was in der Diskussion dieser These bis zum Erscheinen des Aufsatzes von Peter J. Burgard 199823 weitgehend aus dem Blickfeld der Forschung geriet, sind die Ursachen der diskrepanten Lektüren des Bildes. Nach der Beschäftigung mit der Ambiguität, der obscuritas und der unklaren Zeichensprache in der Malerei Caravaggios und der einiger ‚Caravaggisten‘ ist es diese Frage, die hier vorrangig interessieren soll. Läßt sich also auch in Caravaggios erstem Gemälde für einen sakralen Raum von einer kalkulierten Durchkreuzung der visuellen Evidenz ausgehen? Wie stellt sich diese vor der Folie des historischen Normensystems einer storia im sakralen Kontext dar, und worauf zielt sie? Für die Beantwortung dieser Fragen ist es unabdingbar, die Argumente, die für oder gegen die Identität der beiden genannten Figuren als Levi-Matthäus sprechen, gebündelt gegeneinander abzuwägen. So wurde von der Forschung für den traditionell als Matthäus identifizierten älteren, bärtigen Mann geltend gemacht, daß dieser auf Jesu Worte reagiere, weil er mit seiner linken Hand auf sich zeige und sich folglich angesprochen fühle. Auch die Tatsache, daß sein Gesicht vollständig dem Licht ausgesetzt ist, wurde als ein visueller Hinweis auf seine bevorstehende ‚Erleuchtung‘ und Konversion zum Apostel gewertet. Allerdings ist das wichtigste Indiz hierfür, die Zeigegeste, nicht eindeutig. Denn weder ist sie – auch nicht bei einer Betrachtung des Gemäldes in Schrägsicht vom Eingang der Kapelle aus – eindeutig auf ihn selbst gerichtet, noch hat sie – anders als etwa der in Berufungsdarstellungen oft verwendete humilitas-Gestus – ein klares Denotat. Sie läßt sich ebenfalls so verstehen, als wolle der bärtige Mann leicht verwundert zurückfragen, ob tatsächlich er oder nicht doch ein anderer gemeint sei. Mit den weit und wie fragend aufgerissenen 22  Matthäus 9, 10–13; Markus 2, 14; Lukas 5, 27–38. 23  Peter Burgard, Art of Dissimulation 1998. Im Ansatz zuvor bereits Pamela Askew, Ca-

ravaggio. Outward Action, Inward Vision, in: Michelangelo Merisi da Caravaggio: la vita e le opere attraverso i documenti, hg. v. Stefania Macioce, Rom 1996, S. 248–259, hier 249 f. Ihre Deutung, im Gemälde seien zwei Bekehrungen dargestellt, und zwar eine „historische“ und eine „zeitgenössische“ oder „private“ mit dem Jungen an der Stirnseite als Bekehrten, erscheint mir abwegig. Tatsächlich ist ja auch eher unwahrscheinlich, daß die ersten Betrachter Caravaggios Bildpersonal in der Berufungsdarstellung überhaupt als zeitgenössisch wahrgenommen haben, denn die Kleidung entsprach wahrscheinlich nicht einer zu der Zeit noch getragenen Mode. Siehe hierfür meine Einleitung, Anm. 79.

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Augen des Mannes ließe sich diese Lektüre vereinbaren.24 Schließlich ist auch aus dem Faktum, daß er überhaupt reagiert und die Worte Jesu – fragend? – auf sich bezieht, nicht unbedingt abzuleiten, daß er tatsächlich Levi ist. Gegen seine Identität als Zöllner Levi spricht die Beobachtung, daß er offensichtlich gerade dabei ist, Geld auf den Tisch zu legen, folglich Zoll entrichtet und nicht einnimmt.25 Trifft dies zu, bedeutet das, daß er gar kein Zöllner ist, sondern ein Reisender, der, wie Thomas Puttfarken vermutet hat, möglicherweise von den beiden Jungen im Bravo-Kostüm begleitet wird.26 Tatsächlich tragen allein diese drei Personen eine Kopfbedeckung und unterscheiden sich so von dem Jungen am Tischende und dem bebrillten alten Mann schräg hinter ihm.27 Gegen den Bärtigen als Matthäus spricht weiterhin seine mangelnde Ähnlichkeit mit dem Apostelevangelisten im Martyriumsbild (Abb. 21) sowie in der ersten Fassung des Altarbildes (Abb. 5). Denn diese beiden Figuren haben einen deutlich breiteren Schädel und derbere Gesichtszüge. Mit dem Jungen am Tischende wären ihre Physiognomien einfacher zu vereinbaren, nicht etwa, weil zwischen ihnen eine Ähnlichkeit besteht – die Züge des nach unten blickenden Zöllners im Berufungsbild sind ja kaum zu erkennen –, sondern weil er noch jung ist und folglich ein entsprechendes Aussehen annehmen könnte. Dafür, daß es sich bei dieser Figur um den von Jesus angesprochenen Zöllner Levi handelt, spricht seine prominente Position an der Schmalseite des Tisches auf einem großen Scherenstuhl sowie die Beobachtung, daß er offensichtlich Geld einnimmt und nicht zahlt – samt dem kuriosen Detail, daß er dabei ist, es zu veruntreuen. Schließlich impliziert das Lukas-Evangelium die Gleichsetzung von Zöllnern und Sündern, auf die sich wiederum Jesu, den 24  So die Beobachtung von Hermann Bauer, die Prater referiert; vgl. Prater, Wo ist ­Matthäus

1985, S. 72; vgl. auch bereits Friedländer, Caravaggio Studies 1955, S. 108 f., der über den Gesichtsausdruck des Bärtigen schreibt: „The expression of Matthew is one of embarrassed ­astonishment; he looks thoughtfully in the direction of Christ and points to himself as if to say, ‘Do you mean me’?“ 25  So Prater, Wo ist Matthäus 1985, S. 72 f. Askew, Outward Action 1996, S. 249 (ohne allerdings daraus den sicheren Schluß zu ziehen, es könne sich nicht um Levi handeln). Röttgen, Da ist Matthäus 1991, S. 98, hat demgegenüber eingewandt, die Handhaltung sei als geldforderndes Klopfen zu verstehen, was ich nicht nachvollziehen kann. Dagegen mit guten Argumenten auch: Burgard, Dissimulation of Art 1998, S. 100 f., und Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 55 f. (mit Hinweis auf die gleiche Geste in einem Gemälde von Georges de la Tour in Lwow, wo sie eindeutig den Vorgang des Bezahlens visualisiert). Vgl. auch ebd., S. 55; sowie zu den medienspezifischen Implikationen dieser konträren Lektüre von Gesten: Irene Schütze, Zeigefinger – Fingerzeige. Konzepte der Geste in der Debatte um Caravaggios Berufung des Matthäus, in: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, hg. v. Margreth Egidi & Oliver Schneider, Tübingen 2000, S. 185–199, bes. 190 f. 26  Puttfarken, Caravaggio’s „Story of St Matthew“ 1998, S. 172. 27  Die Münze an seinem Barett gibt keinen sicheren Hinweis auf seine Identität; siehe hierfür Praters Entgegnung auf Röttgen (Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 57).

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Ironisches Spielen mit Normen. Caravaggios Werke im ­‚öffentlichen‘ Raum

Bericht der Berufung Matthäi abschließende Worte beziehen: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu berufen, sondern Sünder zu Umkehr“ (Lk 5, 32). Nimmt man dies ernst, so ist auch der Umstand, daß der Zöllner betont nachlässig gekleidet ist, als Indiz für seine Identität als Levi zu werten. Denn sie läßt sich mit einer Formulierung im Programmentwurf, in dem es über den Zöllner heißt „vestito secondo che parera convenirsi“,28 in Übereinstimmung bringen. In der Ungepflegtheit seines Äußeren manifestierte sich folglich die Niedrigkeit seines Ethos.29 Für die Identität des Jungen als Levi-Matthäus spricht ferner die Tatsache, daß er auf dem gleichen Scherenstuhl wie der Apostel im (späteren) Altarbild (Abb. 183) sitzt.30 Dies wäre für die Besucher der Kapelle ein starkes visuelles Indiz für eine Beziehung der beiden Figuren gewesen, wäre das Altarbild nicht kurz nach seiner Aufstellung entfernt und durch ein Gemälde ersetzt worden, auf dem Matthäus auf einem Hocker kniet. Und schließlich ist als Argument für die Identität des Jungen als Levi-Matthäus auch seine Position links außen im Bild, durch die sich der Spannungsbogen zwischen Christus und ihm entscheidend vergrößert, zu werten.31 Weshalb die Forschung teilweise vehement bestreitet, in dem Jungen an der Schmalseite des Tisches den Zöllner Levi zu erkennen, liegt an seiner fehlenden Reaktion auf das sich vor ihm ereignende Geschehen. Er scheint gänzlich ungerührt vom Erscheinen und von den Worten Jesu, obwohl doch, wie besonders Hildegard Kretschmer und Bert Treffers betont haben,32 der Konversion Levi ein aktiver Willensentschluß vorausgegangen sein muß. Anders als der bebrillte Alte neben ihm, den wohl physisches Unvermögen daran hindert, die Vorbeikommenden überhaupt zu bemerken, reagiert er offenbar absichtlich nicht. Er will Jesu Worten nicht – oder noch nicht – Gehör schenken – eine Reaktion, die so oder so, sei er nun der künftige Matthäus oder irgendein Zöllner, im narrativen Gefüge der storia ungewöhnlich ist. Denn in der Bildtradition blicken mit wenigen Ausnahmen alle Zöllner auf den vorbeikommenden und

28  Siehe hierfür unten, S. 376. 29  So auch Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 54. 30  Vgl. Lavin, Caravaggio’s Calling 1993, S. 87. 31  Vgl. Prater, Wo ist Matthäus 1985, S. 73; Hass, Caravaggios Calling 1988, S. 249, weist auf

das analoge Kompositionsprinzip in Caravaggios späterer „Auferweckung des Lazarus“ in Messina hin. 32  Kretschmer, Zu Caravaggios Berufung 1988, S. 63–66; Treffers, Dogma 1989, S. 245–249; vgl. auch Lavin, Caravaggio’s Calling 1993, S. 90: „[…] would contradicte the essential point of the episode, the pubblican’s response […] to the call“. Eine Formulierung von Treffers bezüglich Friedländers Interpretation des Fragegestus des Bärtigen macht besonders deutlich, wie stark der Autor das Gemälde auf theologische Wahrheiten hin liest, unabhängig davon, was im Bild tatsächlich dargestellt ist: „Tuttavia questa lettura, per quanto suggestiva, non è teologicamente giustificata. Matteo fu immediatamente convertita“ (Treffers, Dogma 1989, S. 247, Hervorh. V.v.R.).

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Matthäus ansprechenden Christus,33 was unter handlungslogischem Gesichtspunkt auch sinnvoll ist. Es dürfte deutlich geworden sein, daß es in der Frage der Identität des Protagonisten starke Argumente für beide ‚Kandidaten‘ gibt und daß durch das Fehlen eindeutiger visueller Signale eine Entscheidung, wer tatsächlich als Levi-Matthäus zu identifizieren ist, nicht mit Sicherheit zu treffen ist. In meinen Augen sprechen die geschehens- und raumlogischen Argumente dafür, in dem Jüngeren den künftigen Apostelevangelisten zu erkennen, doch wichtiger ist, was bereits Peter Burgard betont hat, daß nämlich von einer von Caravaggio kalkulierten Ambiguität im Bild auszugehen ist: „The painting is composed in such a way as to prelude final decisions in interpretation, even about such basic issues as the identity of St. Matthew or the location of the scene. However, Caravaggio not only makes it impossible to decide who is who or what is where, he also prepares this final undecidability by articulating numerous other moments of ambiguity.“34

Das sich hier abzeichnende Darstellungsmuster kennen wir bereits von zahlreichen ambigen Sammlerbildern, und es hat die bereits mehrfach beschriebenen Folgen: Es ist der Betrachter, der hier Sinn stiften muß. Weil ihm im Prinzip zwei Figuren als mögliche Protagonisten ‚angeboten‘ werden, fällt ihm die Aufgabe zu, im Wahrnehmungsvorgang eine Entscheidung für eine Lesart des Bildes zu fällen. Das wiederum bedeutet, daß er das Gemälde entsprechend seiner Sehgewohnheiten und vor der Folie seines visuellen Erfahrungswissens betrachtet. So werden einem eiligen Besucher der Kapelle wahrscheinlich weniger Zweifel an der Identität des bärtigen und dem Licht ausgesetzten Mannes als Matthäus gekommen sein als einem konzentrierten Betrachter, der überdies mit den Visualisierungsmustern in Caravaggios ambigen religiösen Sammlerbildern vertraut war.35 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, warum Caravaggio auch in für den Kirchenraum bestimmten Gemälden so vorgeht. Angesichts seines Kalküls und der offenkundigen Parallele der Phänomene 33  Eine Ausnahme liegt mit dem unten erwähnten Fresko von Roncalli im Palazzo Caetani

vor, in dem der ebenfalls an der linken Schmalseite sitzende Junge seine Konzentration auf den Tisch richtet. Die Nähe zwischen beiden Darstellungen ist so groß, daß ohnehin davon auszugehen ist, daß sie aufeinander Bezug nehmen. Allerdings ist durch die unsichere Datierung von Roncallis Fresko unklar, wie sie voneinander abhängig sind. 34  Burgard, Art of Dissimulation 1998, S. 97 (Hervorh. V.v.R.). 35  Vgl. Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 60, der seinen Aufsatz mit folgender Überlegung schließt: „Es ist, als habe Caravaggio bei der Konzeption seiner ‚Matthäusberufung‘ mit zwei Sorten von Betrachtern gerechnet, mit solchen, die in Levi-Matthäus die kühne Neuinterpretation dieser Gestalt akzeptieren können, und solchen, die lieber von der Möglichkeit einer konventionellen Bildlektüre und dem Angebot einer Alibifigur Gebrauch machen, die die revolutionäre Auffassung des wahren Apostels gleichsam in ihren Schutz nimmt, indem sie hilft, ihn zu ignorieren.“ Siehe dazu auch die folgende Anmerkung.

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zu den religiösen Galeriebildern sind die gelegentlich von der Forschung angestellten Überlegungen, die Ambiguität des Bildes sei Folge mangelnder Übung oder der Maler habe hier einfach Erzählmuster aus der Genremalerei übertragen,36 nicht wirklich befriedigend, und gerade letztere verträgt sich nicht mit seiner „pictorial intelligence“.37 Was in meinen Augen weiterführt, ist die Beschäftigung mit der Frage, wodurch die Unklarheit im Bild generiert ist. Sie ist m. E. die Folge von Caravaggios Verstoß gegen bestimmte Konventionen der Handlungsschilderung im Bild, und zwar sowohl generell auf gattungstheoretischer Ebene als auch konkret in Hinblick auf konventionelle Darstellungen der Berufung Matthäi. Wichtig ist, daß dieser Verstoß selbst dann zu konstatieren ist, wenn man an der traditionellen Identifikation des bärtigen Mannes als Matthäus festhält. Denn in der Bildtradition liegt der Akzent stets auf der umgehenden Reaktion des Zöllners auf Jesu Ruf. Dies deckt sich mit den Quellen und Legenden wie der Legenda Aurea, in der von einer „schnellen Bekehrung“ des Zöllners die Rede ist.38 Sie wird bildlich durch den Gestus der humilitas der auf die Brust gelegten Hand zum Ausdruck gebracht, mit dem der Zöllner seine Überantwortung an Jesus zeichenhaft formuliert.39 So stellen es Giuseppe Cesari in einer Vorzeichnung für sein nicht ausgeführtes Fresko für die Contarelli-Kapelle, die sich in der Albertina befindet und die Caravaggio als ehemaligem Mitarbeiter der Werkstatt wahrscheinlich bekannt war (Abb. 170),40 und Cristoforo Roncalli in einem vermutlich etwa zeitgleich mit Caravaggios Gemälde entstandenen Fresko im Palazzo Caetani dar (Abb.  169).41 Cesari signalisiert die Unmittelbarkeit und Entschiedenheit in der Reaktion des künftigen Apostels weiterhin dadurch, daß dieser mit einem weiten Ausfallschritt auf Jesus zugeht. Diese Bildlösungen folgen auch den Gattungskonventionen des cinquecentesken Erzählbildes, die ja verlangen, den Höhepunkt einer Handlung ins Bild zu setzen, da nur auf diese Weise für den Betrachter 36  So Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 59 und ders., Wo ist Matthäus 1985, S. 74. 37  Ich entlehne diese Formel dem von Svetlana Alpers und Michael Baxandall verfaßten Buch

„Tiepolo and the Pictorial Intelligence“ (New Haven 1994). 38  Voragine, Legenda aurea (1993), S. 723. Siehe hierzu ausführlich: Treffers, Dogma 1989,

S. 246. 39  Vgl. besonders Puttfarken, Caravaggio’s „Story of St Matthew“ 1998, S. 168. 40  223 × 264 mm; Wien, Graphische Sammlung Albertina, inv. 612; siehe hierfür Röttgen, Il

Cavaliere Giuseppe Cesari 2002, S. 250–253; Abb. 29g. Das Blatt wurde früher Federico Zuccari zugeschrieben; Konrad Oberhuber erkannte in ihm die Handschrift Cesaris, und Röttgen stellte den Bezug zu dessen nicht ausgeführtem Fresko für die Contarelli-Kapelle her. In einer Detailstudie für die Figur in Holkham Hall unterstreicht die weit nach vorn ausgestreckte Hand des Apostels darüber hinaus den Bewegungsimpuls der Figur. Dafür ist der humilitas-Gestus aufgegeben (267 × 205 mm; Holkham Hall, Lord Leicester; siehe ebd., S. 250–253, Abb. 29h). 41  Vgl. Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, S. 159 f., auch zur Frage der unklaren Datierung und hierdurch bedingten Unsicherheit bezüglich der Relation des Freskos zu Caravaggios Gemälde.

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170 Giuseppe Cesari, Studie für die „Berufung Matthäi“, Wien, Graphische Sammlung Albertina

das auf den verbildlichten Moment folgende vorstellbar wird.42 Genau das ist die entscheidende Motivation für Cesaris und Roncallis Vorgehen: Sie führen uns den künftigen Apostel und Evangelisten Matthäus vor Augen, der seine Berufung annimmt und so seinen aktiven Willensentschluß, Jesus zu folgen, bekundet. Exakt dies sah auch Matteo Contarellis ursprünglicher Programmentwurf für die Bilder seiner Kapelle vor: „Al lato destro dell’altare […] si facci un quadro […] nel quale sia medesimam(en) te dipinto San Matteo dentro un magazeno, o ver, salone ad uso di gabella con diverse robbe che convengono a tal officio con un banco come usano i gabellieri con libri, et danari in atto d’haver riscosso qualche somma o, come meglio parera. Dal qual banco San Matteo vestito secondo che parera convenirsi a quell’arte si levi con desiderio per venire a N.S.re che passando lungo la strada con i suoi discepoli lo chiama all’apostolato; et nell’atto di San Matteo si ha da mostrare l’artificio del pittore come anco del resto.“ „Auf der rechten Seite vom Altar […] ist ein Bild zu machen […]. In der Mitte soll der Hl. Matthäus in einem Lagerraum sein oder vielmehr in einer Zollstube mit den verschiedenen Gegenständen, die zu so einem Amt gehören, mit einem Tisch, wie ihn die Zöllner benutzen, mit Büchern und Geld, das er soeben eingenommen hat, oder wie es sonst besser erscheinen mag. Von diesem Tisch erhebt sich der Hl. Matthäus, der so gekleidet ist, wie es diesem Gewerbe zukommt, mit dem Verlangen, zu unserem Herrn zu gehen, der mit seinen Jüngern die Straße entlang kommt und ihn zum Apostolat beruft. Und in dem Ausdruck des Matthäus hat sich das Kunstgeschick des Malers zu erweisen, wie in allem übrigen auch.“43

42  Hierzu Verf.in, Die Enargeia 2000 (mit weiterer Literatur). 43  Zitiert nach Röttgen, Giuseppe Cesari 1964, S. 208 (Hervorh. V.v.R., übersetzt von A ­ ndreas

Prater).

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Matthäus sollte also mit dem „Wunsch“ oder, noch stärker, dem „Verlangen“ („desiderio“), dem Herrn zu folgen, gezeigt werden. Contarelli formuliert ebenfalls, wie der Maler diesen Gefühlszustand zu visualisieren habe: Es sei der „atto“ des Apostels, in dem sich das entsprechende Verlangen des Bekehrten unmißverständlich ausdrücke. In der Leistung, dem Betrachter dieses deutlich zu machen, manifestiert sich wiederum die Meisterschaft („artificio“) des Künstlers. Tatsächlich sind es ja die Körperzeichen Mimik, Gestik oder überhaupt die körperliche Bewegung, die in der Vorstellung der Frühen Neuzeit emotionale Zustände und Vorgänge zum Ausdruck bringen, wodurch eben auch das innere Erleben einer Person im Akt der Konversion im Bild sichtbar wird. Gerade vor der Folie dieser allgemeinen und für Berufungsdarstellungen spezifischen Visualisierungsnormen wird deutlich, woraus die Ambiguität in der „Berufung Matthäi“ tatsächlich resultiert: Caravaggio setzt einen zu frühen Zeitpunkt der Handlungssukzession ins Bild.44 Anders als Cesari zeigt er nicht jenen Moment, in dem Levi-Matthäus durch seine Geste und Bewegung den innerbildlich Anwesenden ebenso wie uns externen Bildbetrachtern signalisiert, daß er im Prinzip bereits bekehrt und zum Jünger Jesu geworden ist, sondern einen Moment davor. Was Caravaggio also fokussiert, ist eine offenkundige Verwirrung unmittelbar im Anschluß an die Worte Jesu, die dem Evangelienbericht zufolge ja ohne Nennung eines Namens erfolgten. Einer der Anwesenden ist mit weit aufgerissenen Augen geneigt, die Aufforderung auf sich zu beziehen, fragt mit der Geste seiner linken Hand jedoch vorsichtshalber nach, ob nicht vielleicht doch ein anderer gemeint sei, ein anderer reagiert hingegen erst einmal gar nicht. Die Folgen sind allein der Imagination der Betrachter überantwortet. Da sie ja wissen, wie die Handlung weiterzugehen hat, können und werden sie das Bild in der einen oder der anderen Weise imaginativ ‚vervollständigen‘. Auf ein Detail, das für die innerbildlich Anwesenden ebenso wie für uns ein wesentlicher Generator der Unklarheit ist, bin ich bislang noch nicht eingegangen, und zwar auf die offensichtlich nicht kodierte und daher in ihrer Semantik etwas unklare Geste Christi.45 Sie hat dennoch eine Referenz. Wie oft ­ ichelangelos bemerkt wurde, handelt es sich bei ihr um ein Formzitat nach M Fresko mit der Erschaffung Adams in der Sixtinischen Decke (Abb. 171). Trotz dieser klar bestimmbaren Herkunft läßt sich der Geste kein Denotat zuweisen. Anders als gelegentlich von der Forschung vermutet, kann sie durch diesen Rekurs nicht als Zeichen für eine dem Vorgang der Berufung analoge g­ öttliche 44  Prater, Wo ist Matthäus 1985, S. 73; Burgard, Dissimulation of Art 1998, S. 100 f.; Putt­ farken, Caravaggio’s „Story of St Matthew“ 1998, S. 171 f. 45  Ein Pentimento exakt an dieser Stelle bezeugt, daß Caravaggio die Geste nachträglich entsprechend verändert hat.

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171 Michelangelo, Erschaffung Adams, Rom, Palazzo Vaticano, Cappella Sistina, Deckenfresko

„Beseelung“ gedeutet werden,46 da es sich um die Geste Adams und nicht um diejenige Gottvaters handelt. Wie Peter Burgard betont hat, bezeugt gerade diese als Formzitat mit hohem Wiedererkennungsfaktor vermeintlich hoch kodifizierte Geste an relevanter Stelle im Gemälde die absichtsvolle Verun­ klärung der Narration durch den Maler.47 Die genuine Aufgabe bildlicher Gesten, als visuelles Äquivalent zur nicht visualisierbaren gesprochenen Sprache zu dienen, wird von Caravaggio nicht nur nicht eingelöst, sondern sogar gezielt unterlaufen. Hier zeichnet sich exakt das Vorgehen ab, das wir bereits in der „Verleugnung Petri“ im Metropolitan Museum (Abb. 9) beobachtet haben.48 Caravaggio überträgt also die Visualisierungsstrategien seiner Galeriebilder – das kalkulierte Brechen der Evidenz und die damit einhergehende gezielte Differenz von der Bildtradition – auf seine erste storia im sakralen Raum. Wie läßt sich dieses Vorgehen begründen? Ich denke, daß Caravaggios Bildentscheidung auf einer Metaebene durchaus sinnvoll ist. Wenn er uns nicht den Moment des Umschlagens der Handlung, die bereits deutlich zu erkennen gibt, wie die Narration weitergeht, zeigt, sondern einen Augenblick davor, in dem Levi noch nicht ‚angemessen‘ reagiert, fokussiert Caravaggio im Prinzip den spannungsvolleren Moment der Handlung, nämlich den der tatsächlichen Peripetie: Christus spricht seine berufenden Worte, die Zöllner und die übrigen Anwesenden reagieren in je verschiedener Weise, doch die Folgen zeichnen sich für uns noch nicht ab. Mit dieser ungewöhnlichen Bildlösung fokussiert Caravaggio das medienspezifische Problem der Umsetzung eines ‚fruchtbaren Höhepunkts‘ einer Narration in die Simultaneität des Bildes, wie sie im Cinque46  So liest sie Prater, Wo ist Matthäus 1985, S. 74. Bezeichnenderweise irrte sich Friedländer, Caravaggio-Studies 1955, S. 108, der die Geste in Michelangelos Fresko Gottvater zuordnete. Siehe auch den Hinweis von Hibbard, Caravaggio 1983, S. 100, auf die Deutung von Christus als neuer Adam entsprechend 1 Korinter 15, 22; allerdings führt er für das Verständnis der Geste in diesem Kontext nicht weiter. 47  Burgard, Art of Dissimulation 1988, S. 97. 48  Siehe oben, Kap. II.2.3.

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cento durch die Adaption des aristotelischen Peripetiekonzept für das Erzählbild indirekt zur Grundlage für das Historienbild gemacht wurde.49 Eine Handlung, die anzeigt, wie sie sich entwickeln wird – Levi steht auf oder geht bereits auf Christus zu – ist im Prinzip nicht mehr ‚dramatisch‘, denn der Wandel ist vollzogen, und die Folgen liegen offen zutage. Nur eine Handlung, die in einem Moment unmittelbar vor dem Umbruch erfaßt ist – eine amphibolia in der Terminologie von Pomponio Gaurico –,50 die eben (noch) nicht zu erkennen gibt, was passieren wird, kann dieses Moment der Dramatik halten. Wenn Caravaggio also eine ‚richtige‘ Peripetie ins Bild setzt, macht er nicht nur indirekt auf die Erzählkonventionen der Malerei des Cinquecento aufmerksam, sondern auch auf das medienspezifische Problem, wonach sich visuelle Evidenz, Dramatik und Peripetie im simultanen Medium des Bildes im Prinzip ausschließen. Daß sich hier tatsächlich ein Muster seiner Bilderzählungen abzeichnet, zeigt das Detroiter Gemälde mit „Martha und Magdalena“ (Abb. 101).51 Auch hier gibt die Angesprochene noch keine Anzeichen ihrer Bekehrung durch ihre Schwester Martha zu erkennen. Ihre Konversion hat sich offensichtlich noch nicht vollzogen, sie ist allenfalls eingeleitet. Ähnliches gilt, wie gesehen, für die „Verleugnung Petri“, in der uns Caravaggio mit der Anschuldigung des Apostelfürsten durch eine Magd, aber nicht mit der eigentlichen Leugnung konfrontiert,52 und einen minimal zu frühen Moment der Handlungssukzession fokussiert Caravaggio schließlich auch im Potsdamer „Ungläubigen Thomas“ (Abb. 172).53 Zwar reagiert hier der Apostel mit den Anzeichen maximalen Erstaunens auf das Ertasten der Seitenwunde Christi, aber (noch) nicht mit der verbalen bzw. gestischen Affirmation seiner Erkenntnis. Er hat das, was er erspürt, nämlich die leibhaftige Anwesenheit Christi, allem Anschein nach noch nicht in das Wissen um die Auferstehung des Herrn von den Toten übersetzt.54 49  Siehe hierfür Rudolf Preimesberger, Tragische Motive in Raffaels „Transfiguration“, in:

Zeitschrift für Kunstgeschichte 50 (1987), S. 89–115, bes. 110 ff.; Verf.in; Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2003, S. 176–187. Mit Bezug auf Caravaggio: Preimesberger, Caravaggio im „Matthäusmartyrium“ 1998, S. 135–149, zur Aristoteles-Rezeption auch ders., Un doppio ­diletto 2007, S. 87–97, hier, S. 96 f. 50  Pomponius Gauricus, De sculptura (Florenz 1504), hg. u. übers. v. Heinrich Brockhaus, Leipzig 1886, S. 214–217; jeweils mit Textbeispielen aus Vergils Aeneis. Amphibolia ist synonym mit ambiguitas; hierzu Iréne Rosier, Introduction, sowie die Beiträge von Sten Ebbesen, Jean Lallot und Françoise Desbordes, in: dies. (Hg.), L’ambïguité. Cinq études historiques, Lille 1988, S. 9–13, 15–32, 33–49 und 51–102; für Gaurico: Michels, Bewegung 1988, S. 78–80. 51  Siehe oben, Kap. II.3.1. 52  Siehe oben, Kap. II.2.3. 53  107 × 146  cm; Potsdam, Schloß Sanssouci, Bildergalerie; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 50, S. 460 f.; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 44, S. 489–491; jüngst Glenn W. Most, Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas, München 2007, S. 206–212 und 233–258. 54  Einen etwas späteren Moment der Handlung sieht Krüger, Schleier 2001, S. 259–261, im Bild umgesetzt: „Gegeben ist der genaue Moment der Gotteserkenntnis, jener Moment also,

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172 Caravaggio, Ungläubiger Thomas, Potsdam, Staatliche Schlösser und Gärten

Caravaggios Strategie der gezielten Durchbrechung der Evidenz in der „Berufung“ verdankt sich m. E. aber nicht ausschließlich einem gattungsreflexiven Kalkül. Wenn er dem Betrachter den Hinweis auf die bereits erfolgte Reaktion vorenthält, verstößt er zwar gegen die Bildkonventionen, weil er in dem Thomas mit dem Ausruf ‚Dominus meus et Deus meus‘ in Jesus den Gott und wahrhaft Auferstandenen erkennt“ (S. 259). Dagegen Nicola Suthor, Bad touch?: zum Körpereinsatz in Michelangelo/Pontormos „Noli me tangere“ und Caravaggios „Ungläubigem Thomas“, in: Der stumme Diskurs der Bilder 2003, S. 261–281, hier 272: „In ihrer intimen Eindringlichkeit stellt Caravaggios religiöse Historie den Thomaszweifel als körperliches Ereignis aus. Sein Verzicht auf jedwede, über eine ästhetische Verklärung in Aussicht gestellte, erlösende Reaktion im Sinne einer Glaubensbekundung, auf die ja die Thomasgeschichte hinausläuft – man mag das beleuchtete Ohr Christi in diesem Sinne als Erwartung des Bekenntnisses lesen –, reduziert jedoch die religiöse Historie auf die bloße physische Handlung, die ein exzessiver Akt des Ein-Sehens ist. Die Zuspitzung der Historie auf den unmittelbar bevorstehenden Moment der Einsicht Thomas’ in die göttliche Natur Christi, die sich im Augenblick des Bildes allein in den weit geöffneten Augen des Thomas ankündigt […]“. Prater, Licht und Farbe 1992, S. 85, weist bei der Besprechung der Werke für die Cerasi-Kapelle auf einen weitgehend analogen Fall in Caravaggios Erstfassung der „Bekehrung Sauls“ hin: „Physischer Schmerz der geblendeten Augen beherrschen den Gestürzten. Noch ist er zu betäubt, um die Gegenfrage an Christus zu richten, noch ist Saulus zu keiner Reaktion fähig. Er ist hier noch Saulus und noch nicht der Bekehrte, der sich Paulus nennen wird.“ Der Unterschied besteht allerdings darin, daß in der Bildtradition der Bekehrung Sauli oft jener Moment verbildlicht wird, weshalb die Zeitgenossen diese Bildlösung nicht als derart unkonventionell empfunden haben werden wie in der „Berufung Matthäi“.

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das Postulat einer spontanen Reaktion des künftigen Apostels nicht erfüllt. Zugleich fokussiert er damit aber das eigentlich Bedeutsame der Handlung, nämlich den Vorgang des mentalen Wandels eines Sünders zum Jünger Jesu.55 Aus dem Zöllner Levi wird der Apostel Matthäus – es ist dieses ‚Werden‘, das uns Caravaggio ‚zeigt‘, jedoch mit der wohl ironisch zu nennenden Volte, daß er die traditionellen Orte der Gefühlsmanifestation verdunkelt und das seelische Erleben den mentalen Bildern der Imagination der Betrachter überantwortet. Eine derart suggerierte verzögerte Reaktion des künftigen Apostels ist in der Tat nicht nur durchaus wahrscheinlich, Caravaggio rückt mit ihr auch die Ungeheuerlichkeit des Handelns Jesu in den Blick: die Berufung eines gesellschaftlich schlecht beleumundeten Zöllners zu seinem Jünger, der ihm erstaunlicherweise tatsächlich folgt und dabei, wie es bei Lukas heißt, „alles verläßt“.56 Caravaggio betont diese heilsgeschichtliche Dimension der Handlung, wenn er den rittlings auf seinem Stuhl sitzenden und uns seinen Rücken zuwendenden Jungen die ärmlich gekleideten und barfüßigen Vorbeikommenden verspotten läßt, was Petrus wiederum mit mahnend erhobenem Zeigefinger kommentiert. In diesem Vorgehen läßt sich eine für Caravaggio typische Strategie festmachen, die auch die weiteren, noch zu besprechenden Werke für den öffentlichen Raum zu erkennen geben:57 das ‚Umspielen‘ von Normen, die zugleich befolgt und gebrochen werden. Die forcierte Unkonventionalität seiner ersten storia unter dem Gesichtspunkt ihrer Handlungslogik und der Angemessenheit der innerbildlichen Reaktionen läßt sich, wie gesehen, durch bildkonzeptuelle und -theologische Überlegungen durchaus sanktionieren. So wendet sich die pointierte Unangemessenheit durch fehlende Zeichen einer Bekehrung und der Bekundung der humilitas des künftigen Apostels durch die semantische Vertiefung des heilsgeschichtlichen Ereignisses in eine Angemessenheit auf höherer Ebene. Und dennoch inszeniert Caravaggio den Konventionsbruch förmlich, wenn er uns innerbildliche Merkmale vorenthält, welche der Personen am Tisch denn nun demnächst aufstehen wird, um Christus zu folgen, und – einmal mehr – die Ausleuchtung der Szenerie zu Irritationen und zur Verzögerung ihrer Lesbarkeit führt.58 Wer also wird Matthäus? 55  Vgl. Prater, Wo ist Matthäus 1985, S. 73. 56  Diesen Aspekt betont besonders Lukas 5, 27–38: „Und er verließ alles, stand auf und folgte

ihm nach. Und Levi richtete ihm ein großes Mahl zu in seinem Hause, und viele Zöllner und andere saßen mit ihm zu Tisch. Und die Schriftgelehrten und Pharisäer murrten wider seine Jünger und sprachen: Warum esst und trinkt ihr mit den Zöllnern und Sündern? Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten.“ 57  Siehe hierfür auch meine Aufsätze: Der Stratege des Hässlichen 2004; Inszenierte Unkonventionalität 2006 und Caravaggio, Marino 2007. 58  Vgl. Burgard, Art of Dissimulation 1998, S. 97: „[…] he uses the light of his chiaroscuro playfully“; Puttfarken, Caravaggios „Story of St Matthew“, S. 171.

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173 Anonymer südniederländischer „Caravaggist“, ­Berufung Matthäi, New York, J.T. Duesberry ­Collection

In der Debatte um die Identifikation des Protagonisten blieb mit der Frage, wie die Zeitgenossen das Bild eigentlich gelesen haben, ein wichtiger Aspekt bislang zu wenig beachtet. Verbale Belege gibt es nur zwei: Joachim von Sandrart59 und Giovanni Pietro Bellori60 haben offensichtlich keinen Zweifel daran, daß der Bärtige unter den Zöllnern der künftige Apostel ist. Heuristisch erhellender sind jedoch die zahlreicheren visuellen Transformationen des Gemäldes durch die ‚Caravaggisten‘, denen ja ein intensives Studium des Bildes vorausgegangen sein muß. Daß sie ebenfalls signifikante Rezeptionsdokumente darstellen, hat bisher lediglich Andreas Prater erkannt. Das von ihm angeführte Bildmaterial läßt sich allerdings erheblich erweitern und so eine kontroverse Rezeption des Berufungs-Bildes bereits im frühen Seicento rekonstruieren.61 Dabei zeichnen sich zwei Transformationsweisen ab, die beide im Hinblick auf die Frage nach der Art und Weise der Lektüre des Bildes durch die Zeitgenossen aufschlußreich sind. Die einen, die bereits von Prater in die Diskus59  Sandrart erinnert sich allerdings nur schwach an das Gemälde, da er auch irrtümlicher-

weise berichtet, die Zöllner am Tisch spielten Karten: „[…] noch verwunderlicher aber ist das ander Blat, worinnen vorgestellt, wie Christus in ein finster Zimmer mit zween [!] der seinen eingetreten und den Zöllner Matthaeum bey einer Rott Spitzbuben mit Karten und Würflen spielend und trinkend [!] sitzen findet. Matthaeus, als furchtsam, verbirgt, die Karten in der einen Hand, die andre legt er auf seine Brust und gibt in seinem Angesicht den Schrecken und die Schamhaftigkeit zu erkennen, die er darüber gefast, daß er als unwürdig von Christo zum Apostelamt beruffen wird; einer streicht mit der einen Hand sein Geld vom Tisch in die andere und machet sich ganz schamhaft davon [!], welches alles dem Leben und der Natur selbst gleichet“ (Sandrart, Teutsche Academie 1925, S. 276). 60  Bellori, Le Vite 1976, S. 220: „[…] Christo, che chiama San Matteo all’ apostolato, ritrattevi alcune teste al naturale, tra le quali il Santo lasciando contar le monete, con una mano al petto, si volge al Signore, […] un giovine che tira a sé quelle monete assiso nell’ angolo della tavola.“ 61  Vgl. Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 58; auch Lavin, Caravaggio’s Calling 1993, S. 93, weist knapp auf Terbrugghens Gemälde hin.

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174 Jan van Bijlert, Berufung Matthäi, Utrecht, Museum Catharijneconvent

sion eingeführt wurden, ‚klären‘ das Gemälde in bezug auf die Identität des Protagonisten, die Handlungsrollen der Figuren und die räumliche Situation. Die anderen, von der Forschung weitgehend übersehenen und in ihrer Bedeutung gar nicht erkannten Werke betreiben das Spiel der Uneindeutigkeit weiter oder forcieren es sogar. Sie erkennen also gerade im kalkulierten Brechen der Bildevidenz den eigentlichen Reiz von Caravaggios Gemälde und sind damit in meinen Augen mindestens ebenso signifikant. Zur ersten Gruppe gehört ein Gemälde eines anonymen südniederländischen Malers in der New Yorker Jocelyn T. Duesberry Collection mit Halbfiguren (Abb. 173).62 Es beseitigt jede Unklarheit bezüglich der Identität des Protagonisten: Jesus tritt sehr nah an den Tisch der Zöllner heran und weist mit ausgestrecktem Arm und ‚richtigem‘ Zeigegestus auf einen bärtigen Mann, der Geld zählt und der dem Bärtigen in Caravaggios Bild ähnlich ist. Durch das vor ihm liegende Buch ist er hier eindeutig als Zöllner gekennzeichnet. Er reagiert – als einziger – auf Jesu Worte, indem er auf sich selbst weist. Zwar ist er noch nicht aufgestanden, aber die Intensität seines Blicks erlaubt keinen Zweifel daran, wie die Handlung in unmittelbarer Zukunft verlaufen wird. Jan van Bijlert erzählt in seinem Gemälde aus der Oud-Katholieke Kerk in Utrecht (Abb. 174) die Handlung ganz ähnlich:63 Christus tritt nahe an den Tisch der Zöllner heran, blickt einem von ihnen in die Augen und adressiert 62 120,6 × 195,6  cm; New York, Jocelyn T. Duesberry Collection; siehe Nicolson, Cara-

vaggism in Europe 1990, Bd. 3, Nr. 928. 63 144 × 199,5  cm; signiert auf der Tischkante „Jv bijlert fc.“. Das Gemälde befindet sich

heute leihweise im Museum Catharijneconvent; siehe hierfür: Holländische Malerei in neuem Licht 1986, Nr. 40, S. 200; Paul Janssen, Jan van Bijlert 1998, Nr. 20, S. 101 f. In der Kirche ist es seit 1645 bezeugt und entstand vermutlich kurz nach Bijlerts Rückkehr aus Rom nach ­Utrecht nach 1625. Vgl. Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 58.

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175 Hendrick Ter Brugghen, Berufung Matthäi, Utrecht, Centraal Museum

ihn unmißverständlich mit seiner Rechten. Dieser reagiert ‚angemessen‘ auf die Ansprache mit dem Gestus der humilitas, und auch hier sind keinerlei Mißverständnisse der Betrachter über etwaige Reaktionen anderer Zöllner angelegt. Prater hat bereits darauf hingewiesen, daß Bijlert den künftigen Apostel an der Christus gegenüberliegenden Schmalseite des Tisches plaziert hat – offensichtlich erkannte der Maler, daß diese Position im Bild die ungleich spannungsvollere ist. Anders in Hendrick Ter Brugghens Halbfigurenbild im Centraal Museum in Utrecht (Abb. 175),64 in dem Jesus vom Bildrand überschnitten und leicht von hinten zu sehen ist: Zwar kommen auch hier bezüglich der Identität des Zöllners Levi keine Zweifel auf, denn dieser befindet sich im Bildzentrum, fühlt sich als einziger angesprochen und Jesu Zeigefinder ist ebenso eindeutig auf ihn gerichtet wie sein eigener. Was Ter Brugghen aber von Caravaggio übernimmt, ist die emotionale Indifferenz: Sein Protagonist zeigt sich zwar massiv verwundert über das Ansinnen Christi, was sich im fragenden Blick und in den tiefen Falten auf seiner Stirn abzeichnet. Von einer ‚schnellen Bekehrung‘ des Apostels ist also auch hier keine Spur. Was die Frage der Identität Matthäi angeht, stellen die drei niederländischen Maler die visuelle Evidenz auch durch die Eliminierung einer zweiten 64  102,3 × 136,9 cm; bez. „HTBrugghen fecit 1621“; Utrecht, Centraal Museum; siehe dafür:

Holländische Malerei in neuem Licht 1986, Nr. 5, S. 90–92; Slatkes/Franits 2007, Nr. A34, S. 123–126. Es gibt außerdem ein ganzfiguriges Gemälde von Ter Brugghen mit demselben Sujet im Musée des Beaux-Arts in Le Havre, in dem die Bezüge zu Caravaggios Gemälde noch offenkundiger sind. Siehe hierfür ebd., Nr. A33, S. 122 f. (ca. 1618–19). Vgl. Prater, Matthäus und kein Ende 1995, S. 58.

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Ironisches Spielen mit Normen. Caravaggios Werke im ­‚öffentlichen‘ Raum

176 Bernardo Strozzi, Berufung Matthäi, Worcester, Art Museum

potentiell als Protagonisten in Frage kommenden Figur sicher. Matthäus ist stets der einzig mögliche Adressat am Tisch, und er wird uns in bereits fortgeschrittenem Alter gezeigt. Dabei hat er nicht unbedingt physiognomische Ähnlichkeit mit dem Bärtigen in Caravaggios Gemälde, sondern eher, wie bei Ter Brugghen, mit dem Apostel des ersten Altarbildes für die Kapelle (Abb. 5). Eine Ausnahme bildet Bernardo Strozzis Gemälde im Worcester Art Museum (Abb. 176).65 In ihm ist die Gruppe der am Tisch sitzenden Männer auf die beiden relevanten Figuren in Caravaggios Gemälde reduziert, wodurch die Figur des Jungen am schmalen Tischende innerbildlich aufgewertet wird. Daß Christus den Bärtigen anspricht, ist unmißverständlich, obgleich dieser wiederum mit seiner Hand auf einen anderen weist. Was sich in diesem Motiv andeutet – die Nachfrage, ob nicht vielleicht doch der andere gemeint sei –, wird von Battistello Caracciolo in einem Gemälde im New Yorker Metropolitan Museum (Abb. 177) aufgegriffen und verstärkt:66 Christus, der hier nahezu frontal auf den Betrachter ausgerichtet ist, scheint den Bärtigen zu fokussieren, weist aber mit dem ausgestreckten Finger seiner rechten Hand in eine gänzlich andere Richtung außerhalb des Bildfelds. Ob der von schräg hinten gezeigte Zöllner – wenn er es denn ist – die Worte nicht auf

65  139 × 188,5 cm; Worcester, Art Museum; siehe für das Gemälde: Mortari, Bernardo Strozzi

1995, Nr. 343, S. 156; Saints and Sinners 1999, Pl. 13. 66  128 × 154 cm, ca. 1625–30; New York, Metropolitan Museum; urspr. aus der Sammlung

Doria in Genua; siehe Causa, Caracciolo 2000, Nr. A103, S. 305 (noch mit Lokalisation in der Londoner Matthiesen Gallery, aus der das Gemälde 2016 an das Metropolitan Museum gelangte).

Verschobene Peripetien und dunkle ­Handlungen in Caravaggios ersten storie für einen sakralen Raum

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177 Battistello Caracciolo, Berufung Matthäi, New York, Metropolitan Museum

sich beziehen kann oder ob er das nicht will, bleibt unklar. Er fragt z­ umindest gestisch nach, ob nicht doch der ihm gegenüber sitzende Junge gemeint sei. Diesbezügliche Unklarheit beherrscht auch die Szene in Matthias Stomers Gemälde mit Ganzfiguren, das sich im Fine Arts Museum in San Francisco befindet (Abb. 178).67 Beide Männer, die hier als Protagonisten in Frage kommen und durch ihre Kleidung sowie ihr Alter eindeutig auf die beiden relevanten Figuren in Caravaggios Gemälde Bezug nehmen, reagieren mit Erstaunen auf die Worte und die unklare Geste des vorbeieilenden Jesus, und keiner scheint zu wissen, wer tatsächlich gemeint ist. Von einer ‚angemessenen‘ Reaktion durch eine spontane Erkenntnis oder gar die Bekundung von Demut fehlt jede Spur. Daß Jesus wohl den Jungen an der Schmalseite des Tisches (!) mit Federbarett angesprochen hat, wird erst bei eingehenderem Studium der Blickbeziehungen deutlich. Und in der Tat ist hier auch der bärtige Alte eindeutig als Reisender charakterisiert. Welche Verwirrung das Erscheinen und die Rede Jesu am Tisch der Zöllner auslöst, macht schließlich der Sieneser Maler Niccolò Tornioli regelrecht zum Thema. Seine „Berufung Matthäi“ im Musée des Beaux-Arts in Rouen

67  175 × 224 cm; ca. 1629; San Francisco, Fine Arts Museum, Legion of Honor museum; siehe

Sinners and Saints. Darkness & Light. Caravaggio and His Dutch & Flemish Followers (Aust.Kat. Raleigh, North Carolina Museum of Art/Milwaukee, Milwaukee Art Museum/Dayton, Dayton Art Institute 1998/99), hg. v. Dennis P. Weller, Raleigh 1998, Nr. 36, S. 194.

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Ironisches Spielen mit Normen. Caravaggios Werke im ­‚öffentlichen‘ Raum

178 Matthias Stomer,­ Berufung Matthäi, San Francisco, Fine Arts Museum

(Abb.  179) hing vermutlich in der Zollstation der Heimatstadt des Malers.68 Geste und Blick Christi scheinen sich hier auf den Bärtigen hinter dem Tisch zu richten, der durch ein Buch in der Hand eindeutig als Zöllner gekennzeichnet ist und darüber hinaus auch angemessen mit dem Demutsgestus reagiert. Die Umsitzenden aber scheinen von dieser Wahl nicht recht überzeugt, sonst würden sie nicht kontrovers zu ihr Stellung beziehen. Während ein stehender Junge Jesu Worte offensichtlich richtig interpretiert, aber vorsichtshalber nachfragend auf den Bärtigen weist, ist der Reisende am Tisch überzeugt, daß Jesus einen ganz anderen meine, und zwar den Jungen im Bravo-Kostüm mit Federbarett, der sich ebenfalls zu Christus umwendet und ebenso wie sein Vorbild – der an der Schmalseite des Tisches sitzende junge Zöllner in der ContarelliKapelle – dabei ist, Geld zu veruntreuen. 68  217 × 329 cm; 1635–37; Rouen, Musée des Beaux-Arts; siehe Rosenberg, Rouen, Musée

des Beaux-Arts 1966, Nr. 232, S. 206 f.; für den Maler (Siena 1598 – Rom 1651/52), der in Rom Virgilio Spada nahestand, siehe: Marco Ciampolini, Niccolò Tornioli, in: Bernardino Mei e la pittura barocca a Siena (Ausst.-Kat. Siena, Palazzo Chigi Saraceni 1987), hg. v. Fabio Bisogni & dems., Florenz 1987, S. 109–121; ders., Integrazioni al catalogo di Niccolò Tornioli, in: Antichità viva 34 (1995), Nr. 4, S. 26–34; Rita Randolfi, Alcune precisazioni sull’attività romana di Niccolò Tornioli, in: Studi di storia dell’arte 7 (1996), S. 347–355. Für die Erwähnung des Gemäldes in der Zollstation siehe: Giovacchino Faluschi, Breve relazione delle cose notabile della città di Siena, Siena 1815, S. 152: „Palazzo della Dogana […] ha in una Stanza il bellissimo quadro del S. Matteo, opera del Sanese Niccolò Tornioli“; vgl. Rosenberg, Rouen, Musée des Beaux-Arts 1966, S. 207, sowie mit Quellennachweis: Ciampolini, Bernardino Mei 1987, S. 109–111, 114.

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179 Niccolò Tornioli, Berufung Matthäi, Rouen, Musée des Beaux-Arts

Wie kontrovers die Diskussionen vor Caravaggios Gemälde in der Contarelli-Kapelle unter den Malern verliefen und wie sehr vermutlich gerade in der gezielten Uneindeutigkeit ein Reiz des Bildes erkannt wurde, beweist auch ein letztes Beispiel, in dem die Frage- und Antwortsituation ironisch zugespitzt wird. Was uns nämlich Jacob van Oost der Ältere in seinem Gemälde in der Vrouwekerk in Brügge (Abb. 180)69 vorführt, ist, daß sich der bärtige Alte schlicht irrt, wenn er die Worte Jesu auf sich bezieht und dabei sogar angemessen mit der Bekundung von humilitas reagiert. Denn Blick- und Minenspiel lenken die Lektüre des Bildes für die aufmerksamen Betrachter in eine andere Richtung: Der Junge an der Schmalseite des Tisches, der seinen Kopf zu Jesus hinter sich wendet und ihm dabei tief in die Augen blickt, wird dessen neuer Jünger – ebenjener Zöllner also, der sein Vorbild in Caravaggios trotzigem Sünder Levi hat. Stomer, Tornioli und van Oost inszenieren in ihren Bildern ein höchst subtiles interpikturales ‚Spiel‘ mit Caravaggios Vorbild. Es ist dessen Ambiguität und obscurità, das sie zur Übertrumpfung, zum Ausspielen der Blickund gestischen Bezüge und zu einem Verwirrspiel mit dem Betrachter reizt. Aber wer dies möchte, kann gerade vor Oosts Gemälde wie bei Caravaggio das Geschehen auch anders visuell rekonstruieren und in dem Bärtigen im Bildzentrum den künftigen Apostel erkennen.

69  156 × 237 cm; siehe für dieses Gemälde: Jean Luc Meulemeester, Jacob van Oost de Oude-

re en het zeventiende – eeuwse Brugge, Brügge 1984, Nr. B23, S. 314 f.; für den Italienaufenthalt des Malers: Gianni Papi, Un’apertura sul soggiorno italiano di Jacob van Oost il Vecchio, in: Studi di storia dell’arte 1 (1990), S. 171–201, hier 172. Van Oost wurde 1603 in Brügge geboren und starb dort im Jahr 1671; acht Jahre, nämlich von 1621 bis 1628, ist er nicht in Brügge dokumentiert, vermutlich hielt er sich in dieser Zeit in Italien auf.

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180 Jacob van Oost, Berufung Matthäi, Brügge, Vrouwekerk

1.2 Ironisierung der perspicuitas in der Dunkelheit des „Matthäus-Martyriums“ Um das in der „Berufung Matthäi“ initiierte Spiel mit der bildlichen Evidenz angemessen beurteilen zu können, ist es notwendig, das Gemälde in seinem Kontext zu betrachten und es vor allem mit seinem Pendant an der gegenüberliegenden Wand zu vergleichen. Dieses verbildlicht mit dem Martyrium des hl. Matthäus (Abb. 21) eine noch ungleich dramatischere Handlung als die „Berufung“.70 Die „Acta Sanctorum“ berichten ausführlich über den Tod des A ­ postels in Äthiopien.71 Auf seiner Missionsreise nach Nordafrika bekehrte er den dortigen König Egippus und dessen Tochter Iphigenia zum Christentum. Nach Egippus’ Tod beabsichtigte sein Nachfolger Hirtacus, Iphigenia zu heiraten, die aber Jungfräulichkeit gelobt hatte. Um gegen den nichtsdestotrotz von Hirtacus verfolgten Plan vorzugehen, lud ihn Matthäus zu einer Meßfeier, bei der auch Iphigenia zugegen war, und predigte gegen die geplante Eheschließung. Umgehend schickte der König daraufhin seine Soldaten in die Kirche, um Matthäus noch am Altar umbringen zu lassen. Contarellis Programmentwurf für den Ausstattungszyklus gibt folgende Anweisungen für die Verbildlichung des Sujets auf der Epistelseite der Kapelle:

70  323 × 343  cm; Rom, S. Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli; siehe Marini, Caravaggio

2005, Nr. 35 u. 37, S. 440 f. und 442–444; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 61B, S. 530–533; vgl. auch Hibbard, Caravaggio 1983, S. 102–113; Röttgen, Mein Haus 1992; Franca Trinchieri ­Camiz, Death and Rebirth in Caravaggio’s Martyrdom of St. Matthew, in: Artibus et h ­ istoriae 11 (1990), Nr. 22, S. 89–105, sowie die in den folgenden Anmerkungen genannte Literatur. 71  Acta Sanctorum, Sep VI, Dies 21, S. Matthaeo Apostolo & Euangelista in Aethiopia, Commentarius Praevius, Cambridge 1999, S. 194–198.

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„[…] nel q[u]ale sia depinto un luogo lungo et largo quasi in forma di tempio et nella parte di sopra un altare in isola elevato con tre quattro cinque più o meno gradi: ove San Matteo celebrando la messa vestito in quel modo che poi si dar da intendere sia ammazzato da una mano di soldati et si crede sara più secondo l’arte farlo nell’atto dell’ammazzare pero che habbi ricevuta q[u]alche ferita et gia sia cascato o in atto di cadere ma non ancor morto et nel detto tempio sia moltitudine d’huomini et donne giovani vecchi putti et d’ogni sorte in oratione per la maggior parte et seconda le qualità loro et nobilta vestiti et sopra banchi et tappetti et altri apparati et per il più spaventati dal caso mostrando in altri sdegno in altri compassione.“ „[…] in dem ein Ort dargestellt werden soll in Länge und Breite wie die Form eines Tempels und oben ein isolierter Altar, erhöht mit drei, vier, fünf, mehr oder weniger Stufen: wo der hl. Matthäus während der Messfeier, bekleidet auf jene Weise, die noch zu verstehen gegeben werden wird, von einer Schar Soldaten getötet werden soll und man glaubt, es wird mehr der Kunst ent­sprechend sein, ihn darzustellen im Moment des Totschlags, aber so daß er die eine oder andere Wunde habe und schon gestürzt sei oder im Moment des Stürzens, aber noch nicht tot, und in besagtem Tempel sei eine Vielzahl von Männern und Frauen, Jungen, Alten, Kindern, größtenteils im Gebet und ihren Eigenschaften und ihrem noblen Stand gemäß bekleidet, und auf Bänken und Teppichen und anderen Gerätschaften, und zum Großteil erschreckt von dem Vorkommnis, wobei sich bei den einen Zorn, bei den anderen Mitleid zeige.“72

Was den zu verbildlichenden Moment aus der narrativen Sequenz des Martyriumsgeschehens angeht, ließ das Programm also die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Darzustellen war entweder die Handlung vor der Ermordung – während Matthäus noch die Messe zelebriert –, oder der Beginn des eigentlichen Martyriums, wenn der Märtyrer bereits gestürzt und verwundet, aber seiner Verletzung noch nicht erlegen ist. In einem wenige Jahre zuvor, zwischen 1586 und 1589 entstandenen Fresko in der Cappella Mattei in S. Maria in Aracoeli wählt Girolamo Muziano (Abb. 181) einen Moment zwischen diesen beiden Optionen: Matthäus kniet am Altar, ist also noch nicht gestürzt, der Soldat neben ihm hat aber bereits sein Schwert, das den Heiligen im nächsten Moment töten wird, auf ihn gerichtet.73 Die umstehenden Gläubigen reagieren mit Gesten des Mitleidens auf das grausame Tun 72  Zitiert nach Marini, Caravaggio 2005, S. 432. 73  Vgl. Hibbard, Caravaggio 1983, S. 103; auch Rhoda Eitel Porter, The Decoration of the

Mattei Chapel in S. Maria in Aracoeli, Rome, 1586–1589, in: Festschrift für Konrad Oberhuber, hg. v. Achim Gnann, Heinz Widauer u. a., Mailand 2000, S. 155–164; vgl. auch die drei von ihr publizierten Studien von Cesare Nebbia, einem Mitarbeiter Muzianos, die das Thema variieren, jedoch durchgängig den Moment wählen, in dem der Soldat das Schwert bereits auf die Kehle des Märtyrers gerichtet hat bzw. hoch erhoben hält. Warum Muziano die Cappella Mattei mit einem Matthäuszyklus ausstattete, nicht aber die Contarelli-Kapelle, für die er ja früher beauftragt war, ist unklar.

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Ironisches Spielen mit Normen. Caravaggios Werke im ­‚öffentlichen‘ Raum

181 Girolamo Muziano, ­Martyrium des Matthäus, Rom, S. Maria in Aracoeli, Cappella Mattei

des Soldaten. So auch die Königstochter Iphigenia, deren Anwesenheit bei der Zeremonie von den „Acta Sanctorum“ vermerkt ist, in Contarellis Programmentwurf jedoch nicht explizit erwähnt wird. Caravaggio hat sich – so scheint es zumindest auf den ersten Blick – für die zweite der im Programmentwurf angebotenen Möglichkeiten entschieden: Matthäus im Priesterhabit ist in der Nähe des Altars, auf dem eine brennende Kerze auf die Meßzeremonie verweist, gestürzt; der Mörder steht mit gezücktem Schwert über ihm, und ein leichtes Blutrinnsal an seiner Brust zeigt an, daß der Apostel tatsächlich bereits verwundet ist, aber nun erst – wie man sich die unmittelbare Fortsetzung der Handlung imaginieren wird – die tödliche Verletzung erhalten wird. Zwei Figuren in Caravaggios Gemälde lassen sich auf die prototypische Verbildlichung eines Martyriums im Cinquecento zurückführen, das von der Forschung schon oft als kompositorisches Vorbild für Caravaggio genannt wurde:74 Tizians berühmtes und häufig druckgraphisch reproduziertes „Martyrium des Petrus Martyr“ in der venezianischen Kirche S. Giovanni e Paolo von 1528–30 (Abb. 182). Es sind der Ministrant, der analog zur Figur des Begleiters in Tizians Pala mit ‚laut‘ schreiend geöffnetem Mund vom Geschehen wegläuft und damit die auch von Contarelli gewünschte emotionale Reaktion zum Ausdruck bringt, sowie ein Engel auf Wolken, der die Märtyrerpalme in der Hand hält. Er ersetzt die beiden Putti in Tizians Gemälde, die aus dem aufgerissenen Himmel herabschweben. Ihr Erscheinen während des Martyriums ist 74  Vgl. Baumgart, Caravaggio 1955, S. 8, und Hibbard, Caravaggio 1983, S. 261.

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182 Nach Tizian, Martyrium des Petrus Martyr, New York, Metropolitan Museum

doppelt motiviert. Durch sie wird der Gemarterte kurz vor seinem Ableben eines himmlischen Zeichens gewahr, das ihm verkündet, daß sein Blutopfer angenommen wird. Zugleich signalisieren die Engel dem gläubigen Betrachter die heilsgeschichtliche Bedeutung der brutalen Tat.75 Bis vor wenigen Jahren wurde das Gemälde durch die Forschung exakt in der Weise gelesen,76 wie Contarellis Programmtext den Ablauf der Handlung entwirft und wie auch Giovanni Pietro Bellori das Bild beschreibt: „il martirio del Santo istesso in abito sacerdotale disteso sopra una banca; e ’l manigoldo incontro brandisce la spada per ferirlo, figura ignuda, ed altre si ritirano con orrore. Il componimento e li moti però non sono sufficienti all’ istoria, ancorché egli la rifacesse due volte; e l’oscurità della cappella e del colore tolgono questi due quadri alla vista.“

75  Siehe für die Bedeutung des Gemäldes als Prototyp von Martyriums-Darstellungen: Verf.

in, Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2001, S. 141–203; Patricia Mahnken Meilman, Titian and the Altarpiece in Renaissance Venice, Cambridge 2000. 76  Siehe die in den vorigen Anmerkungen genannte Literatur einschließlich Röttgens Aufsatz von 1992.

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„[…] ist das Martyrium des Heiligen selbst [dargestellt], der im Priesterhabit ausgestreckt auf einer Bank liegt. Ihm gegenüber zieht der Scherge, eine entblößte Figur, den Degen, um ihn zu verwunden, und weitere [Figuren] ziehen sich voller Entsetzen zurück. Die Komposition und die Bewegungen sind allerdings der Bilderzählung nicht angemessen, obgleich er sie zweimal malte;“77

Aus Belloris Worten spricht deutliche Kritik über ein nicht unerhebliches Detail im Bild, das bei intensiverer Betrachtung des Gemäldes in der Tat irritiert: Zahlreiche Figuren verhalten sich nicht in einer der verbildlichten Handlung angemessenen Weise; „li moti però non sono sufficienti all’istoria“, „die Bewegungen sind allerdings der [verbildlichten] Geschichte nicht angemessen“, schreibt Bellori. Denn nur zwei Figuren, der Ministrant und ein gut gekleideter Besucher auf der linken Bildseite,78 reagieren mit deutlichen Zeichen des Entsetzens auf die sich unmittelbar vor ihnen ereignende grausame Ermordung des Priesters zu Füßen des Altars. Völlig unbeteiligt hingegen scheinen die beiden nur mit einem Lendenschurz bekleideten Männer, die vorn rechts im Bild in beckenartigen Vertiefungen stehen, zu sein und auch die vier Männer im Bravo-Kostüm, die links im Hintergrund den Kirchenraum verlassen. Die fehlenden Reaktionen dieser Messebesucher sind nicht das einzige irritierende Moment des Bildes. So finden auch die von hinten gezeigten nackten Männer und die erwähnten Vertiefungen keine Erklärung in Contarellis Programmentwurf und werden auch von Bellori nicht kommentiert. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1990 konnte Franca Trinchieri Camiz zwar nicht das Problem der fehlenden emotionalen Reaktion der Messebesucher lösen, wohl aber die Existenz der nackten Figuren im Vordergrund erklären.79 Es sind Täuflinge, die in großen Taufbecken stehen.80 Die Meßfeier, in deren Verlauf Matthäus ermordet wurde, war also mit einer Taufe von erwachsenen Konvertiten verbunden. Auch wenn diese Erweiterung der Handlung nicht vom Martyriumsbericht in den „Acta Sanctorum“ gedeckt wird, so ist sie doch überzeugend. Denn es ist ja durchaus wahrscheinlich, daß die Missionstätig77  Bellori, Vita di Michelangelo/Das Leben des Michelangelo, Göttingen 2018, S. 32 f.; zur

Bemerkung, er habe das Bild zweimal gemalt, siehe unten. 78  Gilbert, Caravaggio and the Cardinals 1995, S. 168, hat auf eine vergleichbare Geste in

­ onatellos „Gastmahl des Herodes“ aufmerksam gemacht; seine Überlegung, es handele sich D bei der Figur um König Hirtacus, kann ich nicht nachvollziehen. 79  Trinchieri Camiz, Death and Rebirth 1990, S. 80–105. 80  Ebd.; auch die ältere Literatur sprach gelegentlich von „Täuflingen“, ohne jedoch den Planwechsel zum Thema zu machen, so Giovanni Urbani, Il restauro delle tele del Caravaggio in S. Luigi dei Francesi a Roma, in: Bollettino dell’istituto centrale del restauro 17 (1966), S. 35– 80, hier 57; Marini, Io 1974, S. 29; Moir, Caravaggio 1982, S. 94. Meist wurde ihre Existenz jedoch negiert, oder sie wurden für Soldaten, Totengräber oder einfache Repoussoirfiguren gehalten. Gilbert, Caravaggio and the Cardinals 1995, S. 165–172, kehrt zur Bezeichnung der Figuren als Soldaten zurück, allerdings ohne Trinchieri Camiz’ Aufsatz zur Kenntnis genommen zu haben.

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keit des Apostels in Ägypten mit der Taufe erwachsener Heiden oder Juden einherging.81 Da auch der Programmentwurf nichts über die Integration einer Taufszene verlauten läßt, muß man einen Planwechsel von seiten der Rektoren von S. Luigi annehmen. Darauf weist auch die Tatsache hin, daß unter den sichtbaren Malschichten des Gemäldes eine signifikant abweichende Bildfassung liegt, in der es offensichtlich keine Täuflinge gibt.82 Daß Caravaggio das Gemälde „zweimal ausgeführt habe“, wußte ja auch noch Bellori.83 Es liegt auf der Hand, daß durch die Änderung und Erweiterung der Handlung ein aktueller Bezug zu den gerade in den Jahren vor dem Anno Santo von Papst Clemens VIII. mit kalkulierter Visibilität betriebenen Taufen von Juden und Moslems beabsichtigt war. Wie Trinchieri Camiz nachweisen konnte, fanden die Erwachsenentaufen auch in S. Luigi dei Francesi statt, wo es wahrscheinlich sogar ein tief in den Boden eingelassenes Taufbecken gab.84 Leider gewinnt durch diesen Verweis auf die Integration einer Nebenhandlung das uns von Caravaggio geschilderte Martyriumsgeschehen keineswegs an Plausibilität. Was bestehen bleibt, ist die mangelnde Stringenz in der Verknüpfung der Handlungsstränge. So verwundert nach wie vor die Reglosigkeit der Figuren im Vordergrund. Sie läßt sich zwar mit Rudolf Preimesberger als Ausdruck des „noch unerlöste(n) […] Status“85 der Männer als Katechumen erklären, gleichwohl irritierte sie bereits Bellori. Lediglich der auf dem linken Beckenrand sitzende Täufling läßt emotionale Regungen erkennen; die beiden Männer auf der rechten Seite folgen hingegen dem sich unmittelbar vor ihnen abspielenden Geschehen mit fast demonstrativer emotionaler Unbeteiligtheit. Aber noch mehr als diese fehlenden Reaktionen irritiert etwas anderes: Wenn ihre Nacktheit die Figuren vorn im Bild als Täuflinge kennzeichnet, warum teilt dann der Scherge in der Bildmitte mit ihnen diesen Zustand? Warum wird er durch den bloßen Lendenschurz explizit ihnen, und nicht der Gruppe bewaffneter Bravi zugeordnet, die im linken Bildhintergrund dabei sind, die Kirche zu verlassen? Es ist bisher selten vermerkt worden, daß sich in der Gruppe der Soldaten des Königs Hirtacus auch ein Mann befindet, der gerade sein Schwert wegsteckt. Es ist der Jüngling in der vorderen Gruppe, der ein Barett mit Federbusch trägt 81  Rudolf Preimesberger, Caravaggio im „Matthäusmartyrium“ 1998, S. 135–149, hier 137. 82  Siehe hierfür Lionello Venturi & Giovanni Urbani, Studi radiografici sul Caravaggio, in:

Atti dell’ accademia nazionale die lincei 349, Classe di scienze morali, storiche e filologiche, ser. VIII, Bd. V, Rom 1952, S. 37–46. Für eine Diskussion der Erstfassung siehe Calvesi, La realtà 1990, S. 297 f., und Treffers, Dogma 1989, S. 244 f. 83  Siehe Anm. 77. 84  Trinchieri Camiz, Death and Rebirth 1990, S. 96–99. Die Taufen in San Luigi sind für die Jahre 1604 und 1605 bezeugt. Vgl. hierzu auch Adrienne von Lates, Caravaggio, Montaigne and the Conversion of the Jews at San Luigi dei Francesi, in: Gazette des Beaux-Arts 124 (1994), S. 107–115, hier 109 und Anm. 13 auf S. 124. 85  Preimesberger, Caravaggio im „Matthäusmartyrium“ 1998, S. 138.

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und sich zum Geschehen im Bildzentrum zurückwendet.86 Es ist in der Tat sehr wahrscheinlich, daß er es war, der dem gestürzten Matthäus die blutende Seitenwunde zugefügt hat. Allerdings generiert diese Identifikation ein Folgeproblem, und zwar die von Thomas Puttfarken aufgeworfene Frage,87 wer dann der nackte Mann im Zentrum des Bildes ist. Ist er, wie Rudolf Preimesberger vermutet, ein weiterer Täter, der die Vollendung des Mordes besorgt?88 Doch woher hat er das Schwert, für das er kein Futteral besitzt? Und warum wird er wie die Täuflinge dargestellt? Ist er, wovon Puttfarken auszugehen scheint, ein Täufling, der dem Verwundeten zu Hilfe eilt?89 Aber warum packt er das Handgelenk des Evangelisten so heftig, als wolle er diesen an der Entgegennahme der Palme hindern, wie es Caravaggio suggeriert – wobei er, wie oben gesehen, die Rolle dieses Symbols im Handlungszusammenhang eines Martyriums entschieden zu wörtlich nimmt?90 Oder ist er ein Täufling und vollendet die Tat, da er womöglich kein freiwilliger Konvertit war –, was im übrigen für die Mehrzahl der in den Jahren vor dem Anno Santo getauften Erwachsenen gilt?91 Was zeigt sich also in seinem Gesicht: maximales Entsetzen über die Tat oder brutale Grausamkeit? Und – einmal mehr – warum reagieren die Täuflinge nicht auf das sich vor ihnen abspielende Drama, in das offensichtlich sogar einer von ihnen verwickelt ist?

86  Ebd., S. 139, mit der Beobachtung, daß beide Waffen auf der Malfläche so überschnit-

ten sind als ob sie einander berührten; Puttfarken, Caravaggio’s „Story of St Matthew“ 1998, S. 175–179; der Autor legt sich allerdings nicht auf einen der vier Soldaten fest, der den ersten Schwertstreich ausgeführt habe. Raabe, Der imaginierte Betrachter 1996, S. 97. 87 Puttfarken, Caravaggio’s „Story of St Matthew“ 1998, S. 175: „[…] why the assassin himself is no longer depicted as a soldier but as another nearly nude figure?“ Vgl. auch die knappe Bemerkung von Sergio Rossi, L’autoritratto del Caravaggio in S. Luigi dei Francesi, in: Strenna dei romanisti 52 (1991), S. 445–449, hier 447: „Quest’ultimo è nudo anch’egli e quindi si era confuso con gli altri neofiti per poter meglio compiere il suo gesto omicida.“ 88  Preimesberger, Caravaggio im „Matthäusmartyrium“ 1998, S. 139: „Den Mord am ­Altar hat ein anderer schon vor ihm begangen. Er wird ihn nur vollenden.“ Vgl. auch Rossi, L’autoritratto del Caravaggio 1991, S. 447: „Matteo è colto nel dipinto già a terra sanguinante, ai bordi della vasca lustrale, ma ancora vivo ed in atto di ricevere il colpo di grazia dal suo assassino.“ 89  Puttfarken, Caravaggio’s „Story of St Matthew“ 1998, S. 179: „[…] whose sword was then in some way retrieved by the avenging catechumen now standing over the body of the victim. His wild, if not furious appearance, and the fact that he is now armed, are the reasons for their sudden flight.“ Die Überlegung ist m. E. nicht plausibel; nicht nur würde ein Soldat wohl kaum sein Schwert zurücklassen, noch ist anzunehmen, daß vier Soldaten vor einem nackten Täufling die Flucht ergreifen. Vgl. auch Raabe, Der imaginierte Betrachter 1996, S. 94: „[…] die Zentralfigur nimmt das Schwert weg; genauer, sie hat es dem Märtyrer gerade aus der Wunde gezogen […]“. 90  Siehe hierzu auch oben, Kap. I.2.1. 91  Für die Taufen in den Jahren unmittelbar vor dem Anno Santo siehe Trinchieri Camiz, Death and Rebirth 1990, S. 99.

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An der Figur des vollständig dem Licht ausgesetzten „maningoldo“ (Bellori) muß eine auf Handlungsstringenz abzielende Lektüre des Bildes scheitern.92 Selbst wenn man in ihm wie Trinchieri Camiz einen Täufling erkennt,93 der als noch nicht Konvertierter die grausame Tat vollendet – die Tatsache der diskrepanten Lektüren auch dieses Bildes bezeugt eine vom Maler kalkulierte Uneindeutigkeit. Denn der „Bravo“, der die Kirche verläßt, ist stark verschattet, seine Hand, die das Schwert wegsteckt, ist kaum auszumachen, und vor allem führt uns Caravaggio mit dem hochemotionalisierten Mann mit Schwert im Zentrum des Bildes eine Figur vor Augen, in der wir aufgrund unserer Sehgewohnheiten auf den ersten Blick den (einzigen) Mörder des Heiligen erkennen wollen. Noch weit mehr als im Berufungsbild arbeitet die Dunkelheit der Szene der visuellen Evidenz entgegen, ja mehr noch: die Lichtregie führt kalkuliert in die Irre, weil ja die Gruppe der Schergen in der Dunkelheit kaum auszumachen ist. Und anders als im Berufungsbild, in dem sich ja der Konventionsbruch sanktionieren ließ, scheitern wohl entsprechende Versuche im „Martyrium“ an der faktischen wie metaphorischen obscurità des Bildes in der überdies auch äußerst dunklen Kapelle. Wie sehr gerade diese Dunkelheit die Zeitgenossen irritiert hat, bezeugt eine Bemerkung Francesco Scannellis: „[…] essendo in tal luogo, quasi del tutto mancante il lume, in modo che opera tale per disgratia de’ virtuosi, e dello stesso Autore non si può vedere, che imperfettamente.“ „[…] an diesem Ort befindlich, dem fast gänzlich das Licht fehlt, so daß man dieses Werk zum Verdruß der Kunstkenner und des Malers selbst nur unvollständig sehen kann.“94

Vermutlich läßt sich auch mit der Dunkelheit des Bildes erklären, daß das „Martyrium“, anders als sein Pendant, kaum einen ‚Caravaggisten‘ zu gemalten Paraphrasen angeregt hat. Lediglich Claude Vignon nimmt in seinem Martyri92  Zu erwähnen ist die Deutung von Alessandro Zuccari, der einen Bezug auf tagespoliti-

sche Ereignisse vorgeschlagen hat (Zuccari, Un carteggio di Francesco M. del Monte e alcune notazioni sul „Martirio di San Matteo“ del Caravaggio, in: Storia dell’ arte, Nr. 93/94 [1998], S. 292–302, bes. 295–297): Es gab im Jahre 1600 in der nach Giordano Brunos Ermordung aufgeheizten Stimmung in Rom eine Drohung eines „Heretico“, einen Priester am Altar bei der Meßfeier umzubringen, was sich aber wohl nicht ereignet hat. Auch deswegen halte ich es für sehr unwahrscheinlich, daß das Gemälde darauf alludieren sollte. 93  Trinchieri Camiz, Death and Rebirth 1990, S. 101: „It seems more likely that Caravaggio intended his murderer as a pagan, belonging to the same non Christian world from which neophytes are summoned to receive Christian baptism. The possibility that the murderer could be both a recipient of baptism and the instrument of Matthew’s death, while disturbing, could ­also be instrumental in the contracting and combining of two separate moments of the apostle’s life into one intense compositional focus […]“. 94 Scannelli, Il Microcosmo 1989, S. 197 f., allerdings mit Bezug auf die „Berufung“; das „Martyrium“ wird von ihm nicht erwähnt.

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umsgemälde in Arras (Abb. 52)95 darauf Bezug, wobei er bezeichnenderweise die Figuration radikal vereinfacht. Er schildert das Martyrium des Apostels mit nur drei Personen, die auf engstem Raum agieren. Der nackte Mann im Zentrum ist hier eindeutig der Mörder, der sein Schwert in den Leib des Märtyrers rammt. Seine Nacktheit ist ebenso wie die Derbheit seiner Züge sinnträchtiger Ausdruck der Schlechtigkeit seines Charakters. Der Engel ist dem Geschehen noch näher als in Caravaggios Gemälde und drückt Matthäus hier nun tatsächlich die Palme in die gespreizte Hand. Während die Unklarheit in der Handlungsschilderung der „Berufung“ aus der Wahl eines minimal zu frühen Moments der Erzählungsabfolge resultierte, so ist sie im Martyriumsbild im Prinzip die Folge der Fokussierung eines zu späten Zeitpunkts: Matthäus wurde bereits verletzt, wie bei eingehender Betrachtung des Bildes, der Wahrnehmung der Wunde sowie des Schwerts in der Hand des Jünglings mit Federbarett deutlich wird. Die Soldaten des Königs verlassen daraufhin die Kirche, und ein Täufling (?) tritt auf – doch was dieser mit dem Schwert in seiner Hand wirklich zu tun beabsichtigt, muß einmal mehr der Betrachter für sich entscheiden. Daß Caravaggio die Durchbrechung der Evidenz als eine kalkulierte Inversion einer Norm anlegt, wird deutlich, betrachtet man das Gemälde ein weiteres Mal vor der Folie seines kompositorischen Vorbilds, nämlich Tizians Altarbild für SS. Giovanni e Paolo in Venedig (Abb. 182).96 Caravaggios Bezug auf dieses Werk ist durch die zentrale Figurengruppe gesichert. Sie besteht aus dem gestürzten Märtyrer, dem über ihn steigenden Schergen, der Affektfigur des Ministranten und dem Engel mit der Märtyrerpalme. Auch die Zeitgenossen werden diesen Bezug wahrgenommen haben, denn das Gemälde war durch zahlreiche graphische Reproduktionen bekannt97 und galt, wie erwähnt, als Prototyp für die Verbildlichung eines Martyriums. Folglich ist ein rezeptionsorientiertes Interesse dieses Rekurses möglich und wahrscheinlich. Wie bewußt Caravaggio diesbezüglich bei der Ausstattung der Kapelle generell vorging, 95  Für dieses Gemälde siehe Kap. 1, Anm. 156. 96  Siehe oben, S. 262 f. Herwarth Röttgen hat 1992 auf ein thematisch gänzlich verschiede-

nes, in der Komposition grob verwandtes Gemälde von Palma il Giovane aus den Staatlichen Kunstsammlungen in Kassel als Vorbild für das Gemälde hingewiesen. Es verbildlicht C ­ hristus, der die Wechsler aus dem Tempel vertreibt. Röttgen konstruiert eine „Vergleichbarkeit beider Themen“ über das Motiv des „Einbruch[s] in einen geordneten Kreis‘“, die er darauf stützt, daß Sandrart irrtümlich als Thema des Gemäldes „Die Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel“ angibt (Röttgen, Mein Haus 1992, hier S. 59). Mich überzeugt weder die postulierte Nähe der Bilder, noch Röttgens Konjektur, wie Caravaggio dieses venezianische Gemälde gekannt haben könnte. Vor allem aber marginalisiert Röttgen die Rezeptions­perspektive. Schließlich kann nur eine verschwindend geringe Anzahl von Betrachtern das Gemälde gekannt haben. 97 Siehe hierfür: Incisioni da Tiziano. Catalogo del fondo grafico a stampa del Museo ­Correr, hg. v. Maria Agnese Chiari, Venedig 1982, Nr. 73, 88, 168, 178, 181, 238, 264, 322 und 336; ­Immagini da Tiziano (Ausst.-Kat. Roma, Villa della Farnesina. Gabinetto delle stampe 1976/77), Rom 1976, Nr. 55.

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zeigt die Wahl der Künstler, auf deren Werke er sich bezieht: Neben Tizian im „Martyrium“ und Michelangelo in der „Berufung“ wird er mit Raffael im späteren Altarbild noch auf das Werk des dritten Künstlers im „Triumvirat der Malerei“ der Hochrenaissance (Ludovico Dolce)98 rekurrieren.99 Wie unkonventionell Caravaggio dabei sein Vorbild transformiert hat, habe ich bereits oben erwähnt:100 Nicht kleine Putti erscheinen im aufgerissenen Himmel in weiter Entfernung zum Geschehen und signalisieren dem Gemarterten himmlischen Lohn für seine Leiden, vielmehr will ein ‚leibhaftiger‘ Engel mit mysteriösen großen dunklen Flügeln dem Märtyrer die Palme in die Hand drücken, als wäre es für das Seelenheil eines Märtyrers unabdingbar, sie noch vor Eintritt des Todes in der Hand zu halten. Für diese eigentümliche Umdeutung eines Motivs posiert der Engel in artifizieller und gänzlich unnötiger Verdrehung, wodurch die Szenerie den Charakter eines nicht gelungenen Auftritts eines „deus ex macchina“101 mit geringer göttlicher Aura erhält. Rudolf Preimesberger hat mit Bezug auf das inserierte Selbstbildnis des Malers in einer negativ konnotierten Handlungsrolle unter den die Kirche verlassenden Bravi bereits das Konzept der Ironie für das Bild stark gemacht: Caravaggio bezichtigt sich hier der Tat und präsentiert sich uns dadurch ganz im Sinne des frühneuzeitlichen Inhalts von Ironie als dissimulatio, des ‚So-tunals-ob-nicht‘, als moralischer Tiefstapler.102 Konzept und Bedeutung der Ironie 98 Lodovico Dolce, Dialogo della pittura (Venedig 1557), in: Mark W. Roskill, Dolce’s

„­Aretino“ and Venetian Art Theory of the Cinquecento, New York 1968, S. 83–195, hier 194. 99  So die Beobachtung von Raabe, Der imaginierte Betrachter 1996, S. 106. 100  Siehe Kap. I.2.1. 101 Vom Effekt eines „deus ex macchina“ spricht bereits Preimesberger, Caravaggio im

„Matthäus­martyrium“ 1998, S. 139. 102  Ebd., bes. S. 140: „Es ist nicht schwer, in dieser Pose des Malers, die man mit dem banalen Satz ‚Auch ich bin ein bravo; auch ich gehöre zur schlechten Gesellschaft der Messerstecher‘ verbalisieren könnte, die literarische Figur der ironischen Selbstbezichtigung im Gemälde zu entdecken, wie sie auch an anderen Stellen seines Gesamtwerks sichtbar wird.“ Es handelt sich um den zuhinterst stehenden Mann, der ein Bravokostüm mit weißer Hose und schwarzen Schuhen trägt und seinen Blick zum Geschehen zurückwendet – ein ‚Mitläufer‘ im klassischen Sinn. Er ist allerdings auch der einzige der die Kirche verlassenden Männer, der zugleich auch Mitleid empfindet und dieses gestisch zum Ausdruck bringt, wodurch er zum moralischen Vermittler wird. Siehe auch ebd., S. 144 f.: „Zweifellos zielt auch Caravaggio wie der tiefstapelnde Ironiker der Rhetorik mit der pointierten Verkleinerung seiner selbst auf die Betonung seiner Bedeutung. Auch in seinem Gemälde enthüllt sich der funktionale Kern ironischer Selbstverkleinerung und Selbstverhüllung sehr deutlich: Überlegenheit und vorweggenommener Sieg des Ironikers im Streit der Parteien, die überragende Kompetenz des Malers.“ Vgl. auch Preimesbergers Deutung der inserierten Selbstbildnisse in „David und Goliath“ und in der „Gefangennahme Christi“ (ders., Golia e Davide 1998, S. 61–70, bes. 67; ders., Un doppio diletto nell’imitazione? Qualche riflessione sulla Cattura di Cristo di Caravaggio, in: Caravaggio e il suo ambiente 2007, S. 87–98). Das inserierte Selbstbildnis im „Martyrium des Matthäus“ hat erstmals Matteo Marangoni, Il Caravaggio, Florenz 1922, S. 29 f., identifiziert.

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scheinen mir auch Caravaggios Bezugnahme auf Tizians Gemälde zu motivieren. Es war vermutlich dessen Diskursivierung, also die Rolle und Bedeutung, die ihm im Kunstdiskurs der Zeit zugesprochen wurde, die den Ausschlag für die Wahl dieses Rekursobjekts gab. Im Cinquecento galt es als Muster einer dramatischen Handlung gerade unter dem Aspekt von Evidenz und perspicuitas, der notwendigen Klarheit oder ‚Transparenz‘ der Handlung. Die Wahl ausgerechnet dieses Vorbilds für Caravaggios zweites Gemälde im öffent­ lichen Raum, das sich durch das genaue Gegenteil auszeichnet, nämlich eine kalkulierte metaphorische wie faktische obscuritas, kann kaum zufällig sein. Denn so verstößt Caravaggio exakt vor der Folie ihrer prototypischen Realisierung gegen die Norm, wodurch sein Vorgehen dem entsprechend gebildeten Betrachter um so stärker bewußt wird. Daß Caravaggio mit dieser Strategie erfolgreich war, also die Werke installiert blieben und er sogar den Auftrag für ein weiteres Werk in der Kapelle erhielt, mag verschiedene Gründe gehabt haben: So erschließt sich das problematische Potential der Bilder nur bei sehr genauem Studium und unter Zuhilfenahme zusätzlicher Beleuchtungsmittel – bezeichnenderweise hat ein Betrachter wie Bellori keine Zweifel an einem konventionellen Ablauf des Berufungsgeschehens –, und dort ließ es sich ja sogar theologisch rechtfertigen. Um so wichtiger ist es zu sehen, wie Caravaggio in der Kapelle weiterarbeitete und welche Folgen dies hatte.

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2. Dekorum und Ironie im Matthäus-Altarbild für die Contarelli-Kapelle Um in Caravaggios gezielter Problematisierung der Konstitutionsbedingungen der Malerei ein Muster oder gar eine ironische Strategie zu erkennen, wie ich es mit Bezug auf seine beiden Historiengemälde in der Contarelli-Kapelle postuliert habe, ist sein Vorgehen im Hinblick auf andere Konventionen zu überprüfen. Hierfür bietet sich die zentrale Norm des kunst- und bildtheologischen Diskurses der Zeit an, und zwar das Dekorum. Es war hier bereits mehrfach Thema und soll nun mit Bezug auf Caravaggios römische Altarbilder im Mittelpunkt stehen. Gerade auch durch die Ranghöhe der Gattung des Altarbildes wird im Hinblick auf diese Kategorie das Rahmenthema meiner Untersuchung bezüglich der Grenzen des ‚Darstellbaren‘ im Sinne des Akzeptablen und Bildwürdigen besonders virulent. Wir haben zahlreiche Hinweise darauf, daß von den fünf Altargemälden, die Caravaggio für römische Kirchen schuf, drei unter Hinweis auf das mangelhafte Dekorum der Figuren zurückgewiesen wurden: die „Madonna dei Palafrenieri“ für St. Peter (Abb. 50), der „Marientod“ für S. Maria della Scala (Abb. 4) und das erste Altarbild für die Contarelli-Kapelle mit Matthäus und einem Engel (Abb. 5). Möglicherweise gilt dies auch für ein viertes, die Trinität verbildlichendes Werk, das sich in der Sammlung Borghese befand. Denn es ist dokumentiert, daß die Confraternita dei Pellegrini der römischen Kirche SS. Trinità dei Pellegrini beabsichtigte, sich mit einem entsprechenden Auftrag an Caravaggio zu wenden.103 Wie erwähnt, wird es in der Sammlung Borghese denkwürdig beschrieben, nämlich als „capriccio […], mit dem Cara103  Das Gemälde hat sich nicht erhalten. Es ist unklar, ob die Confraternità von ihrer Absicht, Caravaggio mit einem „quadro della SMA Trinità con qualche bel capriccio“ zu beauftragen, wieder Abstand nahm oder der Maler den Auftrag ablehnte. Zur Aufstellung gelangte ein Gemälde von Cesari, das sich heute in Mexiko-Stadt befindet. Die Tatsache jedoch, daß im Inventar der Sammlung von Scipione Borghese aus dem Jahr 1634 ein Bild mit diesem (selten verbildlichten!) Sujet belegt ist, ist ein Indiz dafür, daß Caravaggio es tatsächlich ausführte, es aber abgelehnt wurde. Dafür spricht auch, daß das Gemälde im späteren, von Iacomo ­Manilli verfaßten Inventar von 1650 interessanterweise ähnlich beschrieben wird, und zwar – wie bereits oben zitiert – als „un quadro d’un vecchio e d’un giovane, con una colomba sotto […] capriccio del Caravaggio, col quale ha voluto esprimere la Trinità“ (zitiert nach Cinotti, Caravaggio 1983, S. 575 [Hervorh. V. v. R.]). Die Beschreibung legt nahe, daß das Gemälde auch in Hinsicht auf performative Phänomene interessant gewesen ist. Für dieses Bild und besonders das Dokument, das die Absicht bekundet, Caravaggio zu beauftragen, siehe Roberto Cannatà & Herwarth Röttgen, Un quadro per la SS. Trinità dei Pellegrini affidato al Caravaggio, ma eseguito dal Cavalier d’Arpino, in: Michelangelo Merisi Caravaggio. La vita e le opere attraverso i documenti 1995, S. 80–93. Möglich ist, daß es noch ein siebtes, ebenfalls abgelehntes römisches Altarbild gab, und zwar die „Rosenkranzmadonna“ im Wiener Kunsthistorischen

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vaggio die Trinität habe ausdrücken wollen“.104 Ein weiteres Altargemälde, die „Madonna di Loreto“ (Abb. 7), verblieb zwar an seinem Aufstellungsort in der Cappella von Ermete Cavalletti in Sant’Agostino, wurde aber nachweislich unter dem Gesichtspunkt des Dekorums kritisiert.105 Lediglich die „Grablegung Christi“ für die Chiesa Nuova scheint von den Zeitgenossen für unproblematisch erachtet worden zu sein. Bemerkenswerterweise ist dies das einzige Altarbild, von dem wir wissen, daß Caravaggio der Priesterschaft vorab eine Zeichnung eingereicht hat.106 Trotz dieser sehr deutlichen Tendenz – es gibt in der Frühen Neuzeit wohl keinen weiteren Künstler, von dem derart viele Gemälde nicht akzeptiert wurden –, hat die Forschung in den letzten Jahren immer wieder in Zweifel gezogen, daß es tatsächlich Gründe des Dekorums waren, welche die Ablehnung der Gemälde zur Folge hatten, ja teilweise sogar, daß es sich überhaupt um Ablehnungen handelte.107 Diese Tendenz macht eine erneute Beschäftigung mit den Altarbildern des Malers notwendig.

Museum, die von Wolfgang Prohaska mittlerweile in die römischen Jahre des Malers (1602/03) (vor-)datiert wird. (Freundlicher Hinweis von Wolfgang Prohaska) 104  Siehe die vorherige Anmerkung. 105 Scannelli, Il microcosmo 1989, S. 198: „Nella Chiesa di S. Agostino compare subito nell’entrare a mano sinistra nella prima Capella vna Tauola doue intese di rappresentare dalla parte destra la B. Vergine in piedi col Santo Bambino in collo, & alla sinistra inginocchiati vn Pellegrino insieme con vna Vecchia in atto di diuotione, e chi viene ad osseruarli non può anco, se non confessare il lor’ animo ben disposto, ed assai confirmato egualmente nella fede, come nella pura semplicità di cuore per orare ad immagine, che in vece di contenere il douuto decoro, con gratia, e diuotione si riconosce per ogni parte priua, hauendo in fatti i soli primi capi, e maggiori Maestri dimostrato in vn’epilogato a marauiglia il tutto.“ 106  So bezieht sich der Vertrag vom 5. April 1600 für ein Altargemälde, das wahrscheinlich als die „Grablegung Christi“ zu identifizieren ist, auf einen bereits existierenden „sbozzo per esso signor Michelangelo fatto per detto signor Fabio“. Siehe hierfür Maurizio Calvesi, Uno „sbozzo“ del Caravaggio e la „Deposizione“ di Santa Maria in Vallicella, in: Studi di storia dell’arte in onore di Mina Gregori, Mailand 1994, S. 148–157, hier 149 f. Das hier angesprochene Problem, wie es trotz der üblichen Praxis, daß Künstler für die Auftragsvergabe Zeichnungen einzureichen hatten, zu den Ablehnungen kommen konnte, ist vielschichtig. Möglich ist sowohl, daß er sich dieser Praxis, die unserer Kenntnis nach nur ein weiteres Mal, und zwar für die Werke in der Cerasi-Kapelle Bestandteil des Vertrags wurde, (überwiegend) verweigerte, als auch, daß möglicherweise doch von ihm angefertigte Zeichnungen gerade in den problematischen Punkten von der späteren Ausführung abwichen. So könnte die Fußstellung des Apostels im ersten Contarelli-Altarbild wesentlich weniger demonstrativ ‚ungehobelt‘, das Dekolléte der Muttergottes in der „Madonna dei Palafrenieri“ bedeckt etc. gewesen sein. Für den Zusammenhang der Zeichnungsfrage und Caravaggios Selbststilisierung siehe meinen Aufsatz, Arbeiten am Image 2006 sowie die Anm. 106 in Kap. 1. 107  Sie hierzu auch meine in der Einleitung angestellten Überlegungen. Für die Diskussion der Thesen von Gilbert und Spezzaferro, siehe unten. Jüngst zum Thema, allerdings ohne Kenntnis der einschlägigen (fremdsprachlichen) Literatur und ohne jede Kontextualisierung des Problems Thomas Schauerte, Ein erfundener Skandal. Caravaggios „Matthäus Giustiniani“ und „Matthäus Contarelli“, in: BilderStreit. Theologie auf Augenhöhe, hg. v. Erich Garhammer, Würzburg 2007, S. 245–270.

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Eines der drei nicht angenommenen Werke, die „Madonna dei Pala­frenieri“ (Abb. 50), war oben bereits Thema.108 Caravaggio schuf sie im Jahr 1606 für einen Altar der Bruderschaft der Palafrenieri in St. Peter. Auch wenn die Quellen diesbezüglich keine Auskunft geben, läßt sich doch, wie gezeigt, mit einiger Sicherheit davon ausgehen, daß es die indezente Schilderung der Figuren war, die in einem Kirchenraum für untragbar gehalten wurde. Die Kritik dürfte sich an dem weiten Dekolleté der Gottesmutter, für die eine den Zeitgenossen wohl recht bekannte junge Frau Modell stand, sowie an der Darstellung des Erlöser­ knabens, der trotz fortgeschrittenen Alters ostentativ nackt ist, entzündet haben. Bezeichnenderweise verblieb das Gemälde auch nicht in der Kirche der Bruderschaft S. Anna dei Palafrenieri, in die es sofort nach der Abnahme vom Altar von St. Peter verbracht wurde, sondern wurde von der Confraternita – mit finanziellem Gewinn – an einen prominenten Sammler, den Kardinalnepoten Scipione Borghese, verkauft. Daß Caravaggio diesen ‚Mißerfolg‘ seines Werks in Kauf genommen, ja wahrscheinlich sogar im Bewußtsein der Inadäquatheit des Gemäldes einkalkuliert habe, ist die oben referierte These von Carolyn Straughan.109 Sie läßt sich plausibilisieren, nimmt man auch die beiden anderen Altarbilder des Malers, die unmittelbar nach ihrer Aufstellung aus den jeweiligen Kapellen wieder entfernt wurden, in den Blick. Besondere Aufmerksamkeit gebührt dabei natürlich Caravaggios erstem Altarbild überhaupt, das der Maler für die Cappella Contarelli schuf.

2.1 „Un uomo dozzinalissimo e plebeo“: noch einmal zum Dekorum des „Matthäus-Giustiniani“ Caravaggio bekam den Auftrag für das Altarbild (Abb. 5) ein gutes Jahr nach der Anbringung der Seitenbilder in der Kapelle Anfang Februar 1602. Wie erwähnt, war dies von den Rektoren der Kirche zunächst nicht vorgesehen. Die Möglichkeit für die Vervollständigung des Zyklus von seiner Hand ergab sich erst durch einen weiteren, für Caravaggio glücklichen Umstand: Der einst von Matteo Contarelli geförderte und zwei Jahre nach dessen Tod von Virgilio Crescenzi beauftragte flämische Bildhauer Jacob Cobaert hatte in den ersten Tagen des Jahres 1602 von der ursprünglich geplanten marmornen Skulpturengruppe mit Matthäus und einem Engel lediglich die Statue des Evangelisten vollendet. Sie wurde in der Kapelle installiert, jedoch umgehend vom Rektor der Kirche, einem Neffen des Kardinals mit Namen Francesco Contarelli, abgelehnt.110 Die Gründe hierfür sind nicht überliefert. Vorstellbar sind 108  Siehe oben, Kap. I.3.1. 109 Ebd. 110  Für die Geschichte um Cobaerts Auftrag für die Contarelli-Kapelle siehe die drei ge-

nannten Aufsätze von Röttgen von 1964, 1965 und 1969; ferner Luigi Spezzaferro, Caravaggio rifiutato? 1. Il problema della prima versione del „San Matteo“, in: Ricerche di storia dell’arte

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nicht nur ästhetische als auch pragmatische Gründe, denn angesichts des Zeitraums von vierzehn Jahren, den Cobaert für die Ausführung der Evangelistenstatue benötigt hatte, war mit der Vollendung der Engelfigur in absehbarer Zeit nicht mehr zu rechnen.111 Caravaggio versprach offensichtlich auch in diesem Fall, sein Gemälde binnen weniger Monate, und zwar bis zum Pfingstfest Ende Mai 1602, auszuführen. Das Sujet wurde beibehalten; es sollte den Evangelisten Matthäus beim Abfassen seines Evangeliums mit einem Engel zeigen.112 In der Forschung besteht weitgehender Konsens dahingehend, daß Caravaggio das Gemälde, das später in der Sammlung Giustiniani belegt ist, tatsächlich zum vereinbarten Zeitpunkt lieferte.113 Es gelangte mit dem Verkauf der Sammlung im frühen 19. Jahrhundert in die preußische Hauptstadt und wurde in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in einem Depot mit den ausgelagerten Beständen des Kaiser-Friedrich-Museums zerstört.114 Das oft beschriebene Gemälde, das nur durch eine Schwarz-Weiß-Abbildung dokumentiert ist, zeigte vor gänzlich ungestaltetem, tiefdunklem Hintergrund den Apostel Matthäus in leichter Aufsicht, wie er mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Scherenstuhl sitzt und an seinem Evangelium schreibt. Sein kurzes, von der frühen Forschung als dunkelgrün beschriebenes Gewand115 entblößt seine Beine bis weit über die Knie, die auch durch den hell10 (1980), S. 49–64; sowie den Katalogeintrag von Sergio Lombardi, in: Roma di Sisto V. Le arti e la cultura (Ausst.-Kat. Rom, Palazzo Venezia 1993), hg. v. Maria Luisa Madonna, Rom 1993, Nr. 13, S. 432 f. Das Inventar der Besitztümer von Francesco Contarelli vom 15.11.1625 verzeichnet die Marmorstatue des Evangelisten am Fuß der Treppenanlage in seinem Privathaus; sie wurde der Bruderschaft von SS. Trinità dei Pellegrini übereignet. Ergänzt um einen Engel von Pompeo Ferrucci fand sie in der Kirche der Bruderschaft ihre endgültige Aufstellung auf dem Altar im rechten Querhaus. 111  Er war daher bereits vertraglich davon entbunden worden und mußte einen Teil der geleisteten Anzahlung zurückgeben. Tatsächlich arbeitete Cobaert sogar noch länger an dem Werk, da aus dem Vertrag mit ihm hervorgeht, daß die Figuren 1587 schon „abbozzate“ waren; siehe hierfür Lombardi 1993, S. 432. 112  Die Beschreibung Contarellis, die in Hinblick auf eine skulpturale Gruppe verfaßt ist, an die sich Caravaggio aber dennoch hält, lautet: „[…] la figura di san Matteo in sedia con un libro o, volume, come meglio parera, nel quale mostri o di scrivere o di voler scrivere il vangelio et a canto a lui l’angelo in piedi maggior del naturale in atto che paia di ragionare o in altra attitudine a proposito per q[ues]to effetto“ (zitiert nach Röttgen, Giuseppe Cesari 1964, S. 208). 113 Eine Ausnahme bildet Sickel, Caravaggios Rom 2003, S. 109 und 128, Anm. 77; für Spezzaferros These, der zufolge das Gemälde bereits früher in die Kapelle gelangte, siehe unten. Bezüglich der Datierung des Bildes abweichend: Howard Hibbard, Caravaggio’s Two St. Matthews, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 20 (1983), S. 183–191; siehe hierfür unten. 114  223 × 183 cm; siehe hierfür Marini, Caravaggio 2005, Nr. 52, S. 463–466; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 4, S. 412–416; Röttgen, Giuseppe Cesari 1964, S. 201–227; ders., CaravaggioProbleme 1969, S. 143–155, sowie die in den folgenden Anmerkungen genannte Literatur. Für die Umstände der Zerstörung siehe Christopher Norris, The Disaster at Flakturm Friedrichshain. A Chronicle and List of Paintings, in: The Burlington Magazine 94 (1952), S. 337–347. 115  Ludwig Schudt, Caravaggio, Wien 1942, S. 14.

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roten, über dem Stuhl liegenden Umhang nicht bedeckt sind. Auf Matthäus’ linkem Oberschenkel liegt ein Foliant, in den er in hebräischen Lettern den Evangelientext schreibt. Zu lesen ist der erste Satz, der die königliche Abstammung Jesu betont: „Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“.116 Beim Abfassen des Textes assistiert ihm ein dicht neben ihm stehender Engel, der mit sanftem Druck die rechte Hand des Evangelisten führt. Beide sind von dieser Tätigkeit maximal absorbiert: Die Stirn des Evangelisten ist in starke Falten gelegt, und er starrt mit weit aufgerissenen Augen auf die Buchstaben, so als sei er von ihrem Erscheinen äußerst überrascht. Der androgyn wirkende Engel mit langen gelockten Haaren hat die Augen halb geschlossen und seinen Mund, in dem sich die Zunge abzeichnet, leicht geöffnet. Sein Äußeres steht zum eher grobschlächtigen Apostelevangelisten in maximalem Kontrast: Er ist zartgliedrig und in ein helles transparentes Tuch gehüllt, das infolge eines unmotivierten Knotens auf der Höhe der Brust das linke Bein bis weit über die Hüfte entblößt und den Blick auf den Bauchnabel freigibt. Sein blütenweißes großes Flügelpaar hinterfängt beide Figuren. Was unmittelbar im Anschluß an die Aufstellung des Gemäldes in der Contarelli-Kapelle von S. Luigi geschah, wissen wir leider nicht aus Dokumenten, sondern nur durch drei spätere kunsttheoretische Äußerungen. So berichtet Caravaggios Zeitgenosse und Kontrahent Giovanni Baglione denkbar knapp und etwas bissig im Rahmen seiner Beschreibung der Gemälde in Vincenzo Giustinianis Besitz: „[…] & il quadro d’un certo s. Matteo che prima havea fatto per quell’altare di s. Luigi, e non era a veruno piacciuto, egli per esser’ opera di Michelagnolo, se’ l prese; & in questa opinione entrò il Marchese per li gran schiamazzi, che del Caravaggio, da per tutto, faceva Prosperino delle grottesche, turcimanno di Michelagnolo.“ „[…] und das Gemälde mit dem hl. Matthäus, das er zunächst für den Altar in San Luigi ausgeführt hatte und das niemandem gefallen hatte. Er nahm es zu sich, weil es ein Werk des Michelangelo war. Hierzu wurde der Marchese bewogen durch das große Gerede, das Prosperino delle grottesche, der Agent von Michelangelo, verursachte.“117

Baglione gibt also den Hinweis, daß das Gemälde abgelehnt und von Vincenzo Giustiniani übernommen wurde. Als Grund für die Ablehnung erwähnt er lediglich, es habe „niemandem gefallen“, was natürlich in Widerspruch zu Giustinianis Verhalten steht. Relevant ist auch sein Hinweis auf das große

116  Siehe hierfür Lavin, Divine Inspiration 1974, S. 66, der sogar das Vorbild benannt hat; dagegen: Troy Thomas, Expressive Aspects of Caravaggio’s First Inspiration of Saint Matthew, in: The Art Bulletin 67 (1985), S. 636–652, hier 639, Anm. 12. 117  Baglione, Le Vite 1935, S. 137.

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„Gerede“ über diesen Vorfall, als dessen Quelle Baglione Caravaggios ange­ blichen „Agenten“ („turcimanno“) Prospero Orsi benennt.118 Wesentlich ausführlicher bei der Angabe von Gründen für die Ablehnung des Bildes ist Bellori in seinem 1672 publizierten Vitenwerk. Er ist allerdings kein Augenzeuge, muß also für seine Viten, an denen er aber bereits in den frühen 1640er Jahren arbeitete,119 auf tradiertes Wissen zurückgegriffen haben. Er berichtet folgendes: „Qui avenne cosa che pose in grandissimo disturbo e quasi fece disperare il Caravaggio in riguardo della sua riputazione; poiché, avendo egli terminato il quadro di mezzo di San Matteo e postolo su l’altare fu tolto via da i preti con dire che quella figura non aveva decoro né aspetto di Santo, stando a sedere con le gambe incavalcate e co’ piedi rozzamente esposti al popolo. Si disperava il Caravaggio per tale affronto nella prima opera da esso publicata in chiesa, quando il marchese Vincenzo Giustiniani si mosse a favorirlo a liberollo da questa pena; poiché, interpostosi con quei sacerdoti, si prese per sé il quadro e gliene fece fare un altro diverso, che è quello si vede ora su l’altare; e per onorare maggiormente il primo, portatolo a casa, l’accompagnò poi con gli altri tre Vangelisti di mano di Guido, di Domenichino e dell’Albano, tre li piú celebri pittori che in quell tempo avessero fama […]“ „Dabei geschah etwas, das Caravaggio größte Schwierigkeiten bereitete und ihn aus Sorge um sein Ansehen beinahe verzweifeln ließ. Als er nämlich das Gemälde in der Mitte mit dem heiligen Matthäus vollendet und es auf dem Altar aufgestellt hatte, wurde es von den Priestern entfernt, weil sie sagten, jene Figur habe weder Dekorum noch das Äußere eines Heiligen; denn er sitzt mit überschlagenen Beinen und streckt seine Füße ungehobelt dem Volk entgegen. Caravaggio war über diesen Affront gegen sein erstes öffentlich in einer Kirche zugäng­ liches Werk verzweifelt, als sich Marchese Vincenzo Giustiniani anschickte, ihn zu unterstützen und von dieser Sorge zu befreien; denn er griff bei den Priestern ein, nahm das Gemälde an sich und ließ ihn [Caravaggio] ein weiteres, davon verschiedenes machen, das heißt jenes, das man heutzutage über dem Altar sieht. Und um das erste aufs Höchste zu ehren, brachte er es in sein Haus und fügte ihm drei weitere Evangelisten von der Hand Guidos, Domenichinos und Albanos, der drei berühmtesten Maler jener Zeit, hinzu. “120

Bellori zufolge hat also mangelhaftes Dekorum, konkret die Darstellungsweise des Apostelevangelisten Matthäus, zur Ablehnung des Gemäldes geführt, und auch er erwähnt, das Gemälde sei von Vincenzo Giustiniani in seinen der Kirche benachbarten Palast transferiert worden. Dort traf es auf eine zeit­ typische Paragonesituation: Die Besucher der Sammlung Giustiniani konnten 118  Für diesen auf Grotesken spezialisierten Maler, der seit 1594 nachweislich Kontakt mit Caravaggio hatte und sich tatsächlich mehrfach als dessen Mittelsmann betätigte, siehe Sickel, Caravaggios Rom 2003, S. 50–54. 119  Siehe zur Frühdatierung der Caravaggio-Vita meine Einleitung, Anm. 22. 120  Bellori, Vita di Michelangelo/Das Leben des Michelangelo, Göttingen 2018, S. 28–31.

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es mit drei Evangelistenbildern von Domenichino, Guido Reni und Francesco Albani vergleichend betrachten, um zu beurteilen, wie die vier so verschiedenen Künstler jeweils diese spezifische Bildaufgabe erfüllt haben.121 Selten Beachtung findet das noch etwas jüngere dritte Zeugnis für die Umstände der Ablehnung, und zwar Filippo Baldinuccis „Notizie dei professori del disegno“, in denen des über den Vorgang in S. Luigi heißt: „[…] avendo egli posto a suo luogo il quadro del s. Matteo apostolo bello sì in pittura, ma senza alcun decoro, della sola imitazione del naturale in isconcertata attitudine accomodato nè più, nè meno, come se egli non un santo, ma un qualche uomo dozzinalissimo e plebeo avesse dovuto rappresentare, fu il quadro da’ preti di quella chiesa levato via con smacco del pittore, che ne fu per impazzire di vergogna, e tanto più che fu questa la prima pittura che egli avesse fatta vedere in pubblica chiesa; e non poca fortunata fu la sua, che il marchese Vincenzio Giustiniani avendo preso per sè il quadro del san Matteo, operasse poi, che glie ne fusse dato a fare un altro, che poi fu posto sopra il maggiore altare, e non riuscì punto inferiore in bontà ad un altro, che pure per quel luogo condusse il pennello di lui.“ „[…] nachdem er das Bild des hl. Apostels Matthäus an seine Stelle gesetzt hatte, das zwar in seiner Malweise schön war, aber ohne jegliches Dekorum, allein aus der Nachahmung der Natur heraus, in einer verwirrten Haltung und nicht mehr, nicht weniger zurechtgemacht, als ob er nicht einen Heiligen, sondern irgendeinen gewöhnlichen und plebejischen Mann hätte darstellen sollen, wurde das Bild von den Priestern jener Kirche entfernt, zur Schmach des Malers, der vor Scham verrückt wurde, und zwar umso mehr als dies das erste Gemälde war, das er von sich in einer öffentlichen Kirche hatte sehen lassen; und er hatte nicht wenig Glück, daß der Marchese Vincenzo Giustiniani das Bild des hl. Matthäus an sich genommen hatte, und daraufhin dafür sorgte, daß ihm der Auftrag gegeben wurde, ein anderes zu machen, das dann auf dem Hauptaltar angebracht wurde, und es gelang ihm wahrlich nicht schlechter in seiner Qualität als einem anderen, der ebenfalls für jenen Ort seinen Pinsel führte.“122

Wenngleich Baldinucci sicherlich durch Belloris Bericht angeregt war, gibt doch seine konkretere Beschreibung des inkriminierten Äußeren des Apostels den Hinweis darauf, daß ihm noch weitere Quellen zur Verfügung standen. Bellori und Baldinucci zufolge entzündete sich die Kritik also an der Erscheinungsweise des Apostels Matthäus, an seinem „Allerweltsgesicht“ („dozzinalissimo“) und an seinem „plebejischen“ Charakter. „Non aveva decoro né aspetto di Santo“, „Er hatte weder Dekorum noch die äußere Erscheinungsweise des Heiligen“ schreibt Bellori, und benennt konkret ein besonders in­dezentes Motiv: die überkreuzten Füße des Apostels, die „rozzamente 121  Soweit mir bekannt, läßt sich keine der drei Evangelistendarstellungen mehr identifizieren. 122  Filippo Baldinucci, Notizie 1974, Bd. 3, S. 684 f. Die „Notizie“ erschienen ab 1681.

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183 Caravaggio, Matthäus und Engel, Rom, S. Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli

esposti al popolo“, „ungehobelt dem Volk entgegengestreckt“ seien. Exakt dieses Motiv in Verbindung mit der ohnehin problematischen weitgehenden Ent­blößung der Beine muß bei der erhöhten Aufstellung des Gemäldes im originalen Kontext, nur knapp über der Augenhöhe des Priesters am Altar, in der Tat störend gewesen sein.123 Denn die Füße des Evangelisten mit schmutzigen Sohlen und verdreckten Zehennägeln negieren die ästhetische Grenze und scheinen so in die Betrachterwelt einzudringen. Was von beiden Autoren nicht explizit erwähnt wird, über Belloris Beschreibung der zweiten Pala des Malers für die Kapelle (Abb. 183) aber als weitere Kritik erschlossen werden kann,124 sind die Verbildlichung der Inspiration – der Engel führt ja dem Evangelisten die Hand „wie einem Analphabeten, der die Schriftzeichen anstarrt, ohne

123 Siehe die Rekonstruktion von Herwarth Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, S. 149, fig. 5. 124  Siehe unten, S. 277.

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ihren Sinn zu begreifen“ –125 und die Figur des Engels: sein durchsichtiges und kaum verhüllendes Gewand, durch das sich das Knie des manieriert abgewinkelten rechten Beins abzeichnet, der geöffnete Mund und die sichtbare Zunge – kurz: seine lascività, die durch das Motiv des Anschmiegens an den Apostel in der Wirkung noch verstärkt wird. Obwohl die von Bellori und Baldinucci geübte Kritik am Dekorum der Figur sehr konkret und durchaus einleuchtend ist, so ist doch zu fragen, ob zwei Kunsttheoretiker, die aus einer Distanz von ein bis drei Generationen von dem Vorfall berichten, als seriöse Quellen gelten können. Es sind in der Forschung vor allem zwei Autoren, die den Zeugniswert von Belloris Bericht – die Passage in den „Notizie“ von Baldinucci erwähnen sie nicht – bestreiten: Creighton Gilbert und Luigi Spezzaferro. Für Gilbert ist der Vorwurf, die Figur des Matthäus entspräche nicht den Normen des Dekorums, nicht haltbar, weil es eine Reihe älterer Verbildlichungen des Apostels gibt, die diesen mit überkreuzten Füßen bzw. mit sichtbarer Fußsohle zeigen, aber offensichtlich keine entsprechende Kritik erfahren haben. Er nennt Agostino Venezianos Stich nach Raffaels Jupiter-Figur in der Farnesina (Abb. 184)126 und dessen spätes Altarbild der „Transfigurazione“, ferner Simone Peterzanos „Matthäus und Engel“ in der Certosa di Garegnano in Mailand sowie Carraccis unmittelbar zuvor vollendete „Himmelfahrt Mariens“ in der Cerasi-Kapelle in S. Maria del Popolo: Hier sei es der hl. Paulus, der eine ähnliche Haltung wie Caravaggios Matthäus einnehme.127 Was Gilbert dabei allerdings übersieht, ist, daß in keinem der von ihm angeführten Beispiele die anschauliche Verletzung der Bildoberfläche mit der Sicht auf die Fußsohle und die schmutzigen Fußnägel einhergeht, das Motiv also niemals derart forciert wie in Caravaggios Pala auftritt. Gilbert 125  Prater, Licht und Farbe 1992, S. 159. Die Unhaltbarkeit dieser Interpretation des Inspirationsvorgangs in theologischer Hinsicht betont vor allem Treffers, Dogma 1989, S. 253. Troy Thomas, Expressive Aspects 1985, S. 636–652, hier 640, hat sie als Ausdruck erstaunter Erkenntnis gelesen und daran folgende Interpretation geknüpft: „The message is clear: even the humblest and simplest of men may comprehend through divine revelation.“ 126  Hierzu unten, S. 257 f. 127  Gilbert, Caravaggio and His Two Cardinals 1995, S. 172 f. Peterzanos Gemälde nennt er nicht explizit, verweist aber auf Hibbards Nennung dieses Vorbilds. Im folgenden versucht Gilbert Belloris Bericht dadurch zu entkräften, daß er dessen Dekorum-Vorstellungen als nicht zutreffend charakterisiert. Dabei stützt er sich ausschließlich auf die entsprechenden Ausführungen in Emile Mâles und Anthony Blunts Studien zur „L’art religieux“ bzw. zur „Kunsttheorie in Italien“, was methodisch problematisch ist. Völlig übertrieben erscheint mir Gilberts Argument, Bellori habe sich als Quelle dadurch desavouiert, daß er angibt, es handele sich um Caravaggios erstes Werk für einen öffentlichen Raum, wo doch die Cerasi-Bilder zwischen den Seitenbildern für die Kapelle und dem Altarbild entstanden seien. Insgesamt ist für ihn ganz in dem Sinne, wie ich es in meiner Einleitung dargestellt habe, die Annahme der Dekorum-Mängel der Bilder und der auf sie folgenden Ablehnungen eine Projektion des modernen Mythos vom unverstandenen Genie, wobei er offen läßt, ob dieser bereits von Bellori geschaffen worden sei oder erst von der modernen Forschung.

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184  Agostino Veneziano nach Raffael,­ Matthäus und Engel, New York, Metropolitan Museum

übersieht ebenfalls, daß die überkreuzten Füße nicht die einzigen kritikwürdigen Aspekte an dem Gemälde waren und daß sich die Maßstäbe der Beurteilung insbesondere in den gut achtzig Jahren, die zwischen Raffaels und Caravaggios Gemälde liegen, nachweislich enorm verändert haben, wobei gerade die Sensibilitäten in bezug auf die Kategorie des Dekorums zugenommen haben. Luigi Spezzaferro äußert sich nur indirekt zur Frage des Dekorums des Bildes; seine bereits 1980 formulierten, von der Forschung aber kaum rezipierten Überlegungen sind dennoch in diesem Zusammenhang zu referieren, da sie darauf angelegt sind, Bagliones und Belloris Berichten die Grundlage entziehen.128 Spezzaferro zufolge ist das Giustiniani-Gemälde nicht erst im Jahr 1602 in die Kapelle gelangt, sondern bereits einige Jahre vor den Seitenbildern um das Jahr 1596. Es sei als Provisorium gedacht gewesen, um die durch Cobaerts Arbeitsverzug bedingte Lücke auf dem Altar temporär zu schließen; zugleich habe sich Caravaggio damit als Maler für den gesamten Zyklus empfehlen wollen. Die Entfernung des Bildes vom Altar der Contarelli-Kapelle (und seine Überführung in eine Kunstsammlung) wäre demnach nicht aus Gründen mangelhaften Dekorums von Figur und Darstellung erfolgt, 128  Spezzaferro, Caravaggio rifiutato 1980. Vgl. auch ders., Caravaggio accettato: dal rifiuto al mercato, in: Caravaggio nel IV centenario della Cappella Contarelli: convegno internazionale di studi, Roma 24–26 maggio 2001, hg. v. Caterina Volpi, Città di Castello 2002, S. 23–43, bes. 23.

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sondern von Anfang an intendiert gewesen.129 Spezzaferro stützt seine Überlegung auf zwei Indizien: ein Dokument von 1599, das nachweist, das am 1. Mai dieses Jahres in der Kapelle bereits eine Messe gelesen wurde, und die divergierenden Maße zwischen dem Giustiniani-Bild in dem Zustand, in dem es im Berliner Kaiser-Friedrich-Museum dokumentiert ist, und der späteren auf dem Altar installierten Pala Caravaggios (Abb. 183). Denn diese ist immerhin gut siebzig Zentimeter höher als die erste Version.130 Gegen Spezzaferros Konjektur spricht allerdings eine Reihe von Argumenten. So läßt sich aus der Tatsache, daß bereits im Jahr 1599 in der Kapelle eine Messe gelesen wurde, keineswegs zwingend ableiten, daß es ein Gemälde in der Kapelle gab und schon gar nicht, daß dieses von Caravaggio stammte.131 Es ist durchaus vorstellbar, daß man für solche Anlässe lediglich beispielsweise ein (leicht transportables) Kruzifix aufstellte. Die divergierenden Maße der beiden Bilder lassen sich, Herwarth Röttgen folgend,132 auch damit erklären, daß das Gemälde bei der Überführung in die Sammlung Giustiniani beschnitten wurde. Auch wenn die Reduzierung des Bildes um gut siebzig Zentimeter in der Höhe in der Tat ein großer Eingriff war, ließ er sich doch damit rechtfertigen, daß ihm ohnehin nur tiefschwarzer Hintergrund zum Opfer fiel.133 Wie nonchalant nach unserem Empfinden in der Frühen Neuzeit bei der Reduzierung und Erweiterung von Leinwänden vorgegangen wurde, wissen wir aus zahlreichen Fällen. Als Beispiel sei Tizians „Letztes Abendmahl“ für das Refektorium im Escorial genannt, das vor der Aufstellung um mehr als die Hälfte in der Höhe sowie um einige Zentimeter in der Breite verkürzt wurde. Dem Eingriff fiel nicht nur der gesamte architektonische Rahmen der Szene, sondern auch eine ganze Figur zum Opfer.134 So suggestiv Spezzaferros These ist, beweisbar oder gar bewiesen, wie der Autor meint, ist sie nicht. Denn ohne das Original läßt sich nicht verifizieren, ob seine Malkanten tatsächlich ursprünglich waren, wie es Röttgen von einem Foto her beurteilen zu können glaubt,135 oder ob es Indizien für eine Beschnei129  Vgl. Spezzaferro, Caravaggio rifiutato 1980, S. 58: „[…] che il Caravaggio dipinse il suo primo San Matteo ben sapendo che esso non sarebbe andato definitivamente sull’altare della cappella“ (Hervorh. V.v.R.). 130  Zusätzlich nennt er Kriterien wie die stilistische Datierung, was allerdings angesichts der Tatsache, daß uns nur eine Schwarz-weiß-Abbildung aus der Vorkriegszeit erhalten ist, problematisch ist. 131  So auch bereits Cinotti, Caravaggio 1983, S. 414. 132  Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, passim. 133  Siehe Röttgens in meinen Augen ästhetisch durchaus überzeugende Rekonstruktion des Bildes in Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, S. 150, Abb. 6, die gleichwohl auch anders aussehen könnte; siehe hierfür Raabe, Der imaginierte Betrachter 1996, S. 104 f. 134  Siehe hierfür Wethey, The Paintings of Titian 1969, Bd. 1, Nr. 46, S. 96 f., Pl. 118; das ursprüngliche Aussehen der Leinwand dokumentiert eine im Depot der Brera in Mailand aufbewahrte Kopie; siehe ebd., S. 97 (Nr. 4 unter „copies“), Pl. 229. 135 Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, S. 166, Anm. 23 (mit Bezug auf die Abb. 7 auf S. 151).

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dung der Leinwand gibt. Nicht zuletzt sind meines Wissens auch keine derartigen Bild-Provisorien auf römischen Altären belegt, und auch Spezzaferro führt keinen vergleichbaren Fall an. Völlig auszuschließen ist die Idee gleichwohl nicht. Allerdings wäre der Vorgang, hätte er sich denn ereignet, in meinen Augen anders zu interpretieren als Spezzaferro dies tut. Will er daraus den Schluß ziehen, daß die Hinweise über den Dekorum-Mangel des Bildes unzutreffend seien, spräche in meinen Augen der dann offensichtlich von vornherein geplante spätere Transfer des Werks in eine Kunstsammlung dafür, daß Caravaggio hier eine Situation der Erprobung erkannte, die ihm das ‚Austesten‘ des Machbaren und Akzeptablen ermöglichte. Entsprechend fiel dann die Zweitfassung des Bildes wesentlich konventioneller aus.136 Es gibt zwei weitere Aspekte, die von der Forschung in Hinblick auf die Bewertung des Gemäldes durch die Zeitgenossen ebenfalls kontrovers beurteilt wurden: zum einen die Abfassung des Evangeliums in hebräischer Sprache und zum anderen Caravaggios Rekurs auf die charakteristische Physiognomie des Sokrates. Die Implikationen beider Motive hat Irving Lavin rekonstruiert.137 Ohne sie in aller Ausführlichkeit darlegen zu können, soll hier nur die Frage interessieren, ob auch sie als Argumente für eine Ablehnung des Bildes geltend gemacht werden konnten, also ob in ihnen möglicherweise ein Dekorum-Verstoß erkannt wurde. Für beide Punkte ist dies zu bejahen. Auch wenn sich die sokratische Physiognomie des Apostels – für die Caravaggio im übrigen wahrscheinlich eine für antik gehaltene Büste aus Vincenzo Giustinianis Antiken­sammlung zum Vorbild nahm –138 über die Denktradition eines christlichen Sokrates begründen ließ,139 könnte die starke Ähnlichkeit des Evangelisten mit dem (unattraktiven) Bild eines heidnischen Philosophen doch 136  In diesem Zusammenhang ist noch eine Überlegung von Claudio Strinati zu referieren, die dieser in der Einführung des Düsseldorfer Kataloges „Caravaggio. Originale und Kopien 2006“ angestellt hat, und zwar ob aus der Tatsache, daß Caravaggio – anders als beim „Marien­ tod“ – eine Zweitfassung erstellen durfte, nicht eher abzuleiten sei, daß „Caravaggio unter bestimmten Umständen von ein und demselben Sujet unterschiedliche Fassungen für verschiedene Auftraggeber angefertigt hat, und dies in relativer kurzer Zeit“. (Claudio Strinati, Was wissen wir über Caravaggio und seine frühe Gefolgschaft?, in: ebd., S. 36–43, hier 36). Nicht nur haben wir keine Hinweise auf solche anderen Bestimmungspersonen, wohl aber mit Bagliones Aussage einen zeitgenössischen Bericht über die Ablehnung, auch Strinatis Argument, es sei unwahrscheinlich, daß der Maler eines abgelehnten Gemäldes noch eine ‚zweite Chance‘ erhalten hätte, läßt sich dadurch entkräften, daß dies beispielsweise auch für Carlo Saraceni galt, dessen erstes Altarbild für die Cappella Cherubini in S. Maria della Scala ebenfalls zurückgewiesen wurde. Siehe hierfür unten, Anm. 160. 137  Irving Lavin, Caravaggio’s Two St. Matthews, in: The Art Bulletin 56 (1974), S. 59–81, ders., A Further Note on the Ancestry of Caravaggio’s First Saint Matthew, in: The Art Bulletin 62 (1980), S. 113 f.; ders., Caravaggio’s Calling 1993, S. 97–99. 138  Siehe hierfür Günther Grimm, Caravaggios Evangelist Matthäus und der Sokrates Giustiniani, in: Antike Welt 30 (1999), S. 253–262. 139  Lavin, Divine Inspiration 1974, S. 71 ff.

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auch für problematisch erachtet worden sein.140 Ähnlich verhält es sich mit der hebräischen Schrift. Zwar entsprach es der (katholischen) Lehrmeinung der Zeit, daß das Evangelium in Hebräisch verfaßt worden war und Hieronymos die Vulgata nach diesem Urtext erstellt hatte,141 in einem Klima zunehmender Judenfeindlichkeit, wie sie sich auch in den um 1600 belegten Zwangstaufen abzeichnet, könnte diese visuelle Manifestation der Wurzeln des christlichen Glaubens dennoch auf massives Mißfallen gestoßen sein. Die Argumente dürften gezeigt haben, daß es äußerst unwahrscheinlich ist, daß Bellori – womöglich motiviert durch seine ambivalente Einstellung zu Caravaggio – die Kritikpunkte an dessen erstem Altarbild schlicht erfunden hat oder daß er einer falschen Überlieferungstradition Glauben schenkte. Hierfür sprechen einmal mehr auch die visuellen Indizien, insbesondere Caravaggios zweite Fassung des Gemäldes (Abb. 183), in der er bezeichnenderweise alle postulierten Problempunkte eliminierte, wodurch wir auf die entsprechenden Diskussionen der Erstfassung schließen können. Caravaggio begann die Arbeit an der zweiten Fassung unmittelbar nach der Überführung des abgelehnten Gemäldes in die Sammlung Giustiniani und erhielt dafür am 22. September 1602 die ursprünglich vereinbarte Zahlung von 150 scudi abzüglich der bereits gezahlten 50 scudi.142 Hier hat Caravaggio nun das von Bellori und Baldinucci inkriminierte derbe Äußere des Apostels und das Sitzmotiv mit den übereinandergeschlagenen Beinen ebenso eliminiert, wie er auch die Handlung an Inspirationsdarstellungen angepasst hat. Folgerichtig schreibt Bellori: „Usò il Caravaggio ogni sforzo per riuscire in questo secondo quadro: e nell’accomodare al naturale la figura del Santo, che scrive il Vangelo, egli la dispose con un ginocchio piegato sopra lo scabello e con le mani al tavolino, intingendo la penna nel calamaio sopra il libro. In questo atto volge la faccia dal lato sinistro verso l’Angelo, il quale sospeso su l’ali in aria gli parla, e gli accenna, 140  Siehe hierzu auch von Lates, Caravaggio 1994, S. 107–115, 111–113, die darin Ambigui-

täts-Potential erkennt. 141  Ebd., S. 109, vermutet, eine derart prominente Zurschaustellung ließe sich darüber hin-

aus durch die Möglichkeit der besonderen Ansprache konversionsbereiter Juden rechtfertigen. Caravaggio habe hier auf Anweisung eines Priesters von S. Luigi gehandelt, der sich stark dahingehend engagierte, Juden den Katechismus nahezubringen. Dieser Padre Pierre Pichot war es auch, der die oben erwähnten für S. Luigi dokumentierten Taufen im Jahre 1604 und 1605 durchführte. 142 296,5 × 195  cm; Rom, S. Luigi dei Francesi, Cappella Contarelli; Marini, Caravaggio 2005, Nr. 53, S. 466 f.; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 61C, S. 533–535; das Gemälde wurde, wie Tischlerrechnungen belegen, im Oktober installiert. Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, S. 143, betont, daß sich diese Dokumente tatsächlich auf die zweite Fassung beziehen. Ein Teil der Forschung, allen voran Hibbard, Caravaggio’s Two „St. Matthews“ 1983, bezieht die Zahlung sowie die erste Tischlerrechnung auf die erste Fassung des Bildes, und eine zweite Rechnung vom 3. Februar des Folgejahres auf die zweite Fassung. Da die Frage für meine Themenstellung keine Rolle spielt, kann eine Diskussion der Argumentationen unterbleiben.

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toccando con la destra l’indice della mano sinistra. Sembra l’angelo lontano da color finto, e sta sospeso su l’ali verso il Santo, ignude le braccia, e’l petto, con lo svolazzo d’un velo bianco che lo cinge nell’oscurità del campo.“ „Caravaggio scheute keine Mühe, um mit dem zweiten Gemälde Erfolg zu haben. Er gestaltete die Figur des Heiligen, der sein Evangelium schreibt, nach dem Leben und ordnete sie mit auf den Hocker gebeugtem Knie an; mit den Händen auf dem Tisch taucht er [Matthäus] die Feder in das Tintenfaß auf dem Buch. In dieser Haltung wendet er das Gesicht nach links dem Engel zu, der auf Flügeln in den Lüften schwebt, mit ihm spricht und ihm ein Zeichen gibt, indem er mit der Rechten den Zeigefinger der linken Hand berührt. Der Engel scheint fern jeder künstlichen Farbe und ist dem Heiligen auf seinen Flügeln schwebend zugewandt, Arme und Brust entblößt, mit einem weißen, sich bauschenden Schleier, der ihn vor dem Dunkel des Hintergrunds umfängt.“143

Caravaggio verzichtet also auf das problematische körperliche Näheverhältnis zwischen Evangelist und Engel. Dieser schwebt heran, kommuniziert aber lediglich ‚verbal‘ mit Matthäus mittels eines argumentativen Gestus144 und läßt überhaupt jedwede Laszivität missen, wenngleich Bellori seine nach wie vor bestehende Körperlichkeit betont („Sembra l’Angelo lontano da color finto, e sta sospeso su l’ali verso il Santo“). In welcher Sprache der Apostel sein Evangelium verfaßt, wird nicht mehr gezeigt. Ähnliches gilt für die Variationen des ersten Matthäus-Bildes, das ja in der Sammlung Giustiniani recht gut zugänglich war,145 von seiten der ‚Caravaggisten‘. Diese geben ja konkret zu erkennen, was ihren Produzenten an Caravaggios Gemälde für nicht wiederholbar und mithin wohl als problematisch galt und sind daher ebenfalls exzellente visuelle Rezeptionszeugnisse von Caravaggios Altarbild.146 Von besonderem Interesse ist Lucio Massaris bereits 143  Bellori, Vita di Michelangelo/Leben des Michelangelo, Göttingen 2018, S. 30 f. 144  Nahezu identisch ‚argumentiert‘ der (nicht identifizierbare) Philosoph im Philosophen-

bildnis des „Maestro del Suonatore del liuto“, das sich ehemals in einer Privatsammlung in Torella dei Lombardi befand und von Bologna, L’incredulità del Caravaggio 1992, fig. 104, abgebildet wird. 145  Für Symonds diesbezügliche Bemerkung, siehe oben S. 199. 146  Spezzaferro, Caravaggio rifiutato 1980, S. 54, verweist auf ein 1606 datiertes Gemälde in der Galleria Sabauda in Turin, welches von der Forschung Giovanni Baglione zugeschrieben wird, das er aber für ein Werk eines anonymen Bologneser Malers hält. Es zeigt den hl. Petrus ebenfalls mit ungewöhnlicher Beinstellung. Daraus schließt Spezzaferro, daß die Beinstellung des Matthäus in der Erstfassung des Altarbildes nicht als indezent bewertet worden sein kann. Allerdings erweist er damit seiner Argumentation einen Bärendienst, weil der Maler des Turiner Bildes, worauf auch bereits Ferdinando Bologna hingewiesen hat (Bologna, L’incredulità del Caravaggio 1992, S. 66 f.) exakt auf das verzichtet, was die Fußstellung in Caravaggios Gemälde problematisch gemacht hat, und zwar den uns entgegengestreckten Fuß samt sichtbarer Fußsohle. Außerdem folgt die Figur dem tradierten petrinischen Typus und blickt im klassischen Gestus der Inspiration himmelwärts. Wenn das Bild überhaupt etwas beweist, dann genau das Gegenteil von dem, was Spezzaferro damit zeigen möchte. Für das Gemälde siehe Smith O’Neil, Giovanni Baglione 2002, Nr. 33, S. 208.

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185 Juan Bautista Maino, Büßender hl. Petrus, Barcelona, Privatsammlung

oben angeführtes Gemälde mit dem hl. Matthäus (Abb. 6), da es ebenfalls für einen Kirchenraum bestimmt war; es befindet sich noch heute im Chor der Chiesa dei Cappuccini.147 Auch Massari kombiniert einen sitzenden Evangelisten mit einem stehenden Engel, der diesem beim Schreiben assistiert. Sein Engel läßt allerdings jede laszive Ausstrahlung missen – lediglich ein Knie und ein Stück seiner Brust sind unbedeckt –, und der Evangelist verfügt ebenfalls nicht über das als „plebejisch“ beschriebene Äußere seines Vorbilds. Ihm wird auch nicht die Hand geführt, der Engel assistiert ihm lediglich durch das Halten der Schriftrolle und kommuniziert dabei verbal mit dem Apostel. Auch das Motiv der übereinandergeschlagenen Beine wird von Massari signifikant variiert, denn er verzichtet auf die scheinbare Durchstoßung der Bildoberfläche, und schließlich geben auch die Fußnägel des Apostels zumindest keine Schmutzränder zu erkennen. Juan Bautista Mainos jüngst publizierter „Büßender hl. Petrus“ in Barcelona (Abb. 185) sprengt zwar durch die Dominanz des entblößten Unterschenkels und des kahlen Apostelschädels im Bild Konventionen der Heiligendarstellung,148 durch die Abknickung des Fußes, 147  Für das Gemälde siehe S. 7. Für das Œuvre des Malers siehe Carlo Volpe, Lucio M ­ assari, in: Paragone 71 (1955), S. 3–18, wiederabgedruckt in: ders., La pittura nell’ Emilia e n ­ ella ­Romagna. Raccolta di scritti sul Cinque, Sei e Settecento, hg. v. Daniele Benati & Lucia ­Peruzzi, Modena 1994, S. 86–100. 148  141 × 109 cm; wahrscheinlich vor 1611–13; Privatsammlung, Barcelona; siehe Caravaggio y la pintura realista europea (Ausst.-Kat. Barcelona, Museu Nacional d’Art de Catalunya), hg. v. José Milicua & María Margarita Cuyàs, Barcelona 2005, Nr. 43, S. 198–201 (José Milicua).

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186 Anonym, Matthäus und Engel, Rom, ehem. Sammlung Fiano

dessen Sohle uns folglich verborgen bleibt, verbleiben diese aber wohl im Bereich des Akzeptablen. Zwei weitere Gemälde, die sich eindeutig auf Caravaggios „Matthäus“ beziehen, sind aufgrund ihrer geringeren Größe und wegen des Formats mit Halbfiguren eher im privaten Kontext zu lokalisieren. Der anonyme Schöpfer eines Bildes in der römischen Sammlung Fiano (Abb. 186) behält zwar – wenngleich in diskreterer Form – das Motiv der physischen Anleitung des Evangelisten durch die Führung der Hand bei, doch läßt die Berührung der beiden Figuren jegliche Indezenz vermissen:149 Schutzengelhaft legt der Engel seine Hand auf die Schulter des Apostels, dessen Physis dem konventionellen Äußeren eines Apostels entspricht. In welcher Sprache er das Evangelium verfaßt, ist nicht zu erkennen, allerdings kann es sich der SchreibrichEs gibt ein sehr ähnliches Gemälde von Luis Tristán, das Milicua zufolge aber von Mainos ­Gemälde angeregt ist, das wiederum auf Caravaggios Matthäus-Altarbild Bezug nimmt. Trifft eine von Jusepe Martínez (1600–1662) in seinem (erst im 19. Jahrhundert publizierten) „Discursos praticables“ gemachte Bemerkung über Mainos Kontakte zu Annibale Carracci und Guido Reni zu, muß sich Maino in den Jahren 1600–1605/06 in Rom aufgehalten haben; siehe hierfür Jonathan Brown, Painting in Spain. 1500–1700, New Haven 1998, S. 88, allerdings wäre angesichts des regen Austauschs zwischen italienischen ‚Caravaggisten‘ und spanischen Malern in den ersten Jahren nach 1600 Mainos Kenntnis des Bildes auch auf anderem Wege möglich. Ich danke Margit Kern für diesen Hinweis. 149  100 × 126,5 cm; der Verbleib des Gemäldes nach der Auflösung der Sammlung Fiano ist unklar; siehe für das Gemälde: Richard Spear, Renaissance and Baroque Paintings from the Sciarra and Fiano Collections, Rom 1972, Nr. 13, S. 32.

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187 Nicolas Régnier, Matthäus und Engel, Sarasota, The John & Mable Ringling Museum of Art

tung von links nach rechts wegen nicht um Hebräisch handeln. Ganz ähnlich ist Nicolas Régniers Gemälde im John & Mable Ringling Museum of Art in Sarasota/Florida (Abb. 187), in dem die Distanz zwischen Protagonisten und Publikum durch die Einfügung eines Tisches, hinter bzw. neben dem die Protagonisten sitzen, gewahrt bleibt. Hier weist der Engel sogar nur auf die zu beschreibenden Textzeilen hin, ohne in irgendeiner Form in das Verfassen des Textes einzugreifen.150 150  106,3 × 122  cm, ca. 1625; Sarasota, John & Mable Ringling Museum of Art; siehe für das Gemälde: Saints and Sinners 1999, Pl. 14; Spear, Caravaggio and His Followers 1971, Nr. 80, S. 199. Die beiden Gemälde dürften voneinander abhängig sein. Die höhere Qualität von ­Régniers Gemälde spricht dafür, daß dies der Prototyp war, allerdings hätte dann der anonyme Maler des Werks in der Sammlung Fiano noch weitere Rekurse auf Caravaggios Gemälde hinzugefügt. Für das Gemälde siehe bereits Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, S. 150, und Thomas, Expressive Aspects 1985, S. 648 (mit weiteren Beispielen aus der holländischen Malerei, für die in meinen Augen jedoch der direkte Bezug auf Caravaggio nicht sicher ist). Ebenfalls unklar ist die Abhängigkeit des Gemäldes von einem Hochformat, das Teil eines Apostel­zyklus in einer Florentiner Privatsammlung ist, der von Marini versuchsweise Bartolomeo Manfredi zugeschrieben wurde. Das Gemälde in Sarasota ist ein Close-up im Querformat dieses Werks. (Maurizio Marini, Equivoci del caravaggismo 2: A) Appunti sulla tecnica del ‘naturalismo‘ secentesco, tra Caravaggio e „Manfrediana methodus“; b. Caravaggio e i suoi ‘doppi’; il problema della possibili collaborazioni, in: Artibus et historiae 4 [1983], Nr. 8, S. 119–154, hier 121 f., Abb. 3). Hartje hat in ihrem Werkverzeichnis die Zuschreibung an Manfredi nicht übernommen. Jüngst wurde von Nicola Spinoza ein weiteres verwandtes Gemälde publiziert, Caracciolo zugeschrieben und in die Jahre um 1615 datiert. Es handelt sich

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Gerade vor der Folie dieser Variationen und Caravaggios zweiter Bildfassung manifestiert sich die visuelle Sprengkraft des ursprünglichen Altarbildes. Sie läßt auf den Versuch des Malers schließen, nach der Akzeptanz seiner Seitenbilder die Grenzen dessen, was tolerierbar war und toleriert wurde, (weiter) auszureizen. Dies bedeutet, daß er die Kritik und selbst die mögliche Ablehnung des Bildes einberechnet haben muß. Caravaggio überschreitet also auch hier kalkuliert Grenzen, um das, was als ‚darstellbar‘ im normativen Sinne galt, durch forcierte Übertretungen indirekt zu definieren. Das Resultat war eindeutig: Das Gemälde wurde nicht akzeptiert und umgehend in den privaten Kontext überführt. Es läßt sich nur darüber spekulieren, welche Rolle hierbei Caravaggios neuer Förderer, der Bankier Vincenzo Giustiniani, der seit Mitte 1601 dem Kardinal del Monte in der Bedeutung für den Maler den Rang abgelaufen hatte, spielte.151 Die Tatsache, daß Giustiniani nachweislich in die Beauftragung des Malers auch für die Werke in der Cerasi-Kapelle eingebunden war, sowie ­ aravaggio wahrder Umstand, daß ihm die Sokrates-Büste gehörte, die sich C scheinlich im „Matthäus“ zum Vorbild nahm, sprechen dafür, daß der Maler mit ihm in engem Austausch stand. Möglicherweise signalisierte ­Giustiniani sogar Caravaggio von vornherein seine Bereitschaft, das Gemälde im Fall seiner Ablehnung – vermutlich gegen entsprechende Entlohnung – zu übernehmen, um ihm in der Stanza seines Palastes, in der sich bereits der „Lautenspieler“, das Porträt der Kurtisane Fillide und – als besonderes Schmuckstück – der „Amor Vincitore“ des Malers befanden, einen angemessenen Ort zu geben. Was zu klären bleibt, ist die Frage, weshalb Caravaggio nach diesem Vorfall in S. Luigi überhaupt noch als Maler für Kapellenausstattungen bzw. Altarbilder herangezogen wurde.152 Die Gründe hierfür dürften vielschichtig und darüber hinaus sicherlich von Fall zu Fall anders gelagert sein. Zum einen stellte er mit der Zweitfassung des Matthäus-Altars ja unter Beweis, daß er ­exzellente Malerei ohne Verstöße gegen das Dekorum rasch zu liefern imstande um ein Hoch­format, allerdings werden die Unterkörper von Apostel und Engel durch einen großen Tisch verdeckt. Sollten sich Zuschreibung und Datierung durchsetzen, wäre wohl in diesem Gemälde der Prototyp für die Darstellungen von Régnier und des Anonymos zu sehen (165 × 141,5 cm; Mailand, Sammlung Koelliker; siehe Caravaggism and the Baroque in Europe (Ausst.-Kat. London, Robilant & Voena 2007), hg. v. Angelica Poggi & Marco Voena, London 2007, S. 20). 151  Hibbard, Caravaggio 1983, S. 119. Für Giustiniani als Sammler von antiker und zeitgenössischer Kunst siehe: Caravaggio in Preussen 2001; für seinen wichtigen, wohl im 2. Jahrzehnt des Seicento verfaßten Brief über die aktuellen Tendenzen in der römischen Malerei siehe: Kroschewski, Vom allmählichen Verfertigen 2002, S. 51–54 (mit weiterer Literatur). 152 Tatsächlich ist Caravaggios Erfolg in den Jahren nach 1600 impliziter und expliziter Grund für einige Autoren, an den Ablehnungen zu zweifeln; so etwa Spezzaferro, Caravaggio accettato 2002, S. 23.

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war, also über ein hohes Maß an Flexibilität verfügte. Zum anderen handelt es sich bei seinen Auftraggebern zum größeren Teil um die Besitzer von Familien­kapellen, die vermutlich die Aufmerksamkeit, die mit der Installation und kontroversen Diskussion um eine Pala Caravaggios einherging, durchaus zu schätzen wußten. Der Mechanismus des gegenseitigen Ausstechens nicht nur durch Prachtentfaltung, sondern auch durch das Neue und Ungewöhnliche gerade auf diesem Gebiet ist schließlich nicht nur in den römischen Aktivitäten auf diesem Gebiet oft zu beobachten. Was Tibero Cerasis Verpflichtung des Malers für seine Kapelle in S. Maria del Popolo angeht, läßt sich ja durch den dort intendierten Paragone zwischen den beiden ‚Newcomern‘ auf dem römischen Kunstmarkt, eben Caravaggio und Annibale Carracci, beobachten, daß genau dieses Moment im Interesse des Auftraggebers lag, dieser zugleich aber mit der Verpflichtung Caravaggios (nur) für die Seitenbilder, Carraccis hingegen für das Altarbild in puncto Dekorum auf der ‚sicheren Seite‘ bleiben wollte. Wie gut dieses Spiel der Interessen zwischen Caravaggio, seinen Auftraggebern von kirchlicher Seite und seinen privaten Sammlern, die – sicherlich auch angetrieben von einer starken Konkurrenzsituation untereinander – seine Gemälde unverzüglich übernahmen und in ihre Sammlungen integrierten, funktionierte, läßt sich schließlich auch indirekt daran ablesen, wann es beendet war. Dies war der Fall, als der Maler Rom verlassen mußte und damit seine privilegierte Arbeitssituation, die sich als ‚Hochseilakt über starkem Netz‘ beschreiben läßt, verlor: Wir haben bezeichnenderweise nicht einen einzigen Hinweis auf eine Diskussion des Dekorums in seinen neapolitanischen, sizilianischen oder maltesischen Altarbildern, und diese bieten hierfür auch keine Veranlassung.

2.2 „Gran schiamazzi“: Caravaggios Selbststilisierung Es liegt auf der Hand, daß Bellori in einem Punkt irrte: Die Zurückweisung seines Gemäldes durch die Priester von S. Luigi dei Francesi bedeutete für Caravaggio mitnichten ein Unglück. Wie im Fall der späteren „Madonna dei Palafrenieri“, die infolge der Ablehnung binnen weniger Wochen um ein Drittel im Wert stieg, fand sich für sie umgehend ein Interessent. Zusätzlich generierte die Zurückweisung des Altarbilds für S. Luigi ja, wenn man so will, einen ‚Folgeauftrag‘ für den Maler in Gestalt der zweiten Fassung. Dasselbe war wahrscheinlich auch bei Caravaggios kurz zuvor vollendetem Seitengemälde der Cerasi-Kapelle mit der „Konversion des Saul“ und möglicherweise auch bei der „Kreuzigung Petri“ der Fall. Denn die erste Fassung des Saulusbildes behielt der Erbe des Kardinals Tiberio Cerasi zurück, und erst die zweite wurde in der Kapelle in S. Maria del Popolo installiert. Ob das „Mißfallen“, von dem Bellori berichtet („non piacquero al Padrone“), lediglich ästhetisch motiviert war, oder ob auch hier Gründe der Angemessenheit oder

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ganz andere Faktoren eine Rolle spielten, ist ungewiß.153 Wenn auch keinen Folgeauftrag, brachte Caravaggio die leider nicht erhaltene „Trinità“ doch die Gunst eines bedeutenden Sammlers ein, wenn das im Besitz Scipione Borgheses dokumentierte Gemälde tatsächlich zunächst als Altarbild für SS. Trinità dei Pellegrini bestimmt war.154 Für ungleich wichtiger aber als die neuen Aufträge dürfte das symbolische Kapital einzuschätzen sein, das Caravaggio auf diese Weise erlangte. Die zahlreichen Hinweise auf die „gran schiamazzi“ und den „rumore“, die mit diesen Kritiken einhergingen, machen deutlich, daß Caravaggio durch diese Vorfälle ins Gespräch kam – exakt das, was Baglione in seinem Bericht der Ablehnung des Matthäusbildes hervorhebt. Wie gut Caravaggio sich zu vermarkten verstand, haben vor allem Elizabeth Cropper und Carolyn Straughan betont,155 und es liegt auf der Hand, auch hier auf eine Strategie des Malers zu schließen. Sie war auf Öffentlichkeitswirksamkeit und die Erlangung von Aufmerksamkeit ausgerichtet und funktionierte über die Aneignung eines bestimmten ‚Image‘ eines Malers, der es offensichtlich darauf anlegte, als das „cervello stravagantissimo“ apostrophiert zu werden, als das ihn sein Publikum, seines ungewöhnlichen Umgangs mit ranghohen Aufträgen wegen bezeichnete –156 eine Selbststilisierung oder ein „Self-fashioning“ im ‚klassischen‘ Sinne.157 Caravaggio war mit ihr tatsächlich erfolgreich, denn er erhielt weitere Aufträge für Altarbilder: von den Oratorianern für die „Grab­ legung Christi“ und für die „Madonna dei Palafrenieri“ immerhin für den Altar

153  Das erste Gemälde befindet sich in der Sammlung Odescalchi und ist anders als die späteren Werke auf Holz ausgeführt, was ebenfalls ein Grund dafür gewesen sein könnte, daß es nicht installiert wurde. Traditionell hält man ein Gemälde eines anonymen Caravaggisten in der St. Peterburger Eremitage für einen Reflex der nicht erhaltenen „Kreuzigung Petri“; siehe hierfür Marini, Caravaggio 2005, Nr. 39, 41, 42, S. 447–451; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 62 A und B, Nr. 63, S. 535–542; siehe für die Kapellenausstattung auch: D. Stephen P­epper, ­Caravaggio, Carracci and the Cerasi Chapel, in: Studi di storia dell’arte in onore di Denis ­Mahon, hg. v. Maria Grazia Bernardini, Mailand 2000, S. 109–122; Bert Treffers, Caravaggio: La Cappella Cerasi in: Studi di storia dell’arte 104/105 (2003), S. 65–100; Caravaggio, Carracci, Maderno: la Cappella Cerasi in Santa Maria del Popolo a Roma, hg. v. Maria Grazia Bernardini u. a., Mailand 2001. Darin vor allem der Aufsatz von Spezzaferro. 154  Siehe oben, S. 20, 400. 155  Cropper, „The Petrifying Art 1991, S. 194, die darin eine Parallele zwischen Giambattista Marino und Caravaggio erkennt; auch Straughan, Hidden Artifice 1998, bes. S. 323 ff. 156  So Fabio Masetti, Botschafter der Este in Rom, am 24. August 1605 über Caravaggio, weil dieser es abgelehnt hatte, für den Fürsten Doria in Genua für die enorme Summe von 6000 scudi eine Loggia zu freskieren; siehe Macioce, Michelangelo Merisi da Caravaggio 2003, II Doc. 215, S. 172. 157  Zum Konzept des ‚Renaissance Self-fashioning‘ siehe die nach wie vor grundlegende Studie von Stephen Greenblatt, Renaissance Self-fashioning: From More to Shakespeare, Chicago u. a. 92001. Siehe auch meinen Beitrag im Ausstellungskatalog der Düsseldorfer CaravaggioAusstellung 2006, in dem ich ausführlicher auf Caravaggios entsprechende Strategie eingehe.

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einer Bruderschaft in St. Peter.158 Solche Strategien einer Selbstvermarktung, die über den Erwerb von Publicity funktionieren, gewannen gerade in einer Zeit der zunehmenden Relevanz eines freien Kunstmarkts, in dem ein immer größerer Teil der Produktion keine Auftragswerke mehr waren, sondern vom Künstler direkt oder über einen Kunsthändler erworben wurden,159 erheblich an Bedeutung, und Caravaggio reagierte auch hier rasch und hellsichtig auf die veränderten Bedingungen künstlerischer Produktion. In keinem Fall sind die Umstände der Ablehnung und ihre Folgen für uns derart transparent und zugleich signifikant wie beim „Marientod“ (Abb. 4). Von Laerzio Cherubini bereits 1601 für seine Familienkapelle in S. Maria della Scala in Auftrag gegeben, wurde das Gemälde erst in den Jahren 1605/06 von Caravaggio ausgeführt und unmittelbar nach seiner Aufstellung zurückgewiesen.160 Die Kritikpunkte der Unbeschuhten Karmeliter sind durch mehrere Briefe von Giulio Mancini aus diesen Jahren sehr gut dokumentiert. In ihnen berät sich der Sieneser Arzt und spätere Verfasser der wohl wichtigsten kunst158  Nach Jutta Held habe Caravaggio keine Aufträge von seiten der ‚offiziellen‘ Kirche, also für die großen Papstkirchen, S. Giovanni in Laterano und S. Maria Maggiore, oder für Bauten der Jesuiten erhalten, sondern nur von Kongregationen, die dem Armutsideal verpflichtet waren (Held, Politik 1996, bes. S. 222 f.) In meinen Augen überzeichnet Held diese Tendenz stark, weil sie beispielsweise Caravaggios Altarbild für St. Peter unterbewertet; gleichfalls schätzt sie auch die Bedeutung seiner Protektoren wie den Kardinal del Monte, den Marchese Vincenzo Giustiniani und den Kardinalnepoten Scipione Borghese als zu niedrig ein. 159 Hierzu neben den grundlegenden Studien von Francis Haskell, Maler und Auftrag­ geber. Kunst und Gesellschaft im italienischen Barock, Köln 1996, bes. S. 176–181 und The Market 1959, auch Loredana Lorizzo, People and Practices in the Paintings Trade of Seventeenth-Century Rome, in: Mapping Markets for Paintings in Europe 1450–1750, hg. v. Neil De ­Marchi & Hans J. Van Miegroet, Turnhout 2006, S. 343–358 (allerdings mit Schwerpunkt auf dem fortgeschrittenen Seicento, für das die Quellenlage besser ist) auch Reinhardt, Roman Art Market 1998; mit Bezug auf die Arbeitssituationen der „Caravaggisten“: Hartje, Manfredi 2004, S. 88–90; sowie auch Luigi Spezzaferro, Le contraddizioni del pittore. Note sulle trasformazioni del lavoro artistico nella prima metà del ’600, in: Marcanti di quadri, hg. v. dems., Bologna 2004, S. 329–351. 160  369 × 245  cm; Paris, Musée du Louvre; siehe Marini, Caravaggio 2005, Nr. 69, S. 493– 496; Cinotti, Caravaggio 1983, Nr. 41, S. 482–484; N. Randolph Parks, On Caravaggio’s Dormitions of the Virgin and Its Setting, in: The Burlington Magazine 127 (1985), S. 43–85; Pamela Askew, Caravaggio’s Death of the Virgin, Princeton 1990; Stéphane Loire & Arnauld Brejon De Lavergnée, Caravage: la mort de la Vierge; une Madone sans dignité, Paris 1990; Avigdor W. G. Posèq, Pathosformels, Decorum and the „Art of Gestures“ in Caravaggio’s Death of the Virgin, in: Konsthistorisk Tidsskrift 61 (192), S. 27–44. In diesem Fall wurde Caravaggio nicht die Möglichkeit, eine zweite Fassung auszuführen, zugestanden. Der Auftrag für ein neues Gemälde ging an Carlo Saraceni, das ebenfalls abgelehnt wurde. Es gehört der Ampleforth Abbey, Yorkshire, und befindet sich als Leihgabe im Art Institute of Chicago. Saracenis zweite Fassung befindet sich noch in situ. Zu den Umständen und möglichen Gründen für die erneute Ablehnung eines Gemäldes durch die Priesterschaft von S. Maria della Scala siehe Maria Giulia Aurigemma, Carlo Saraceni, un Veneziano a Roma, in: Caravaggio e il Caravaggismo 1995, S. 117–139, und Keith Christiansen in der Rezension von P. Askew, The Death of the Virgin (1990), in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 55 (1992), S. 297–302, hier 300 f.

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theoretischen Schrift des frühen Seicento, der „Considerazioni sulla pittura“, ausführlich mit seinem Bruder bezüglich seiner Absicht, das abgelehnte Altarbild zu erwerben. Dabei nennt er auch den Grund für die Ablehnung des Bildes: Es sei entfernt worden, weil die Madonna „esser stata spropositata di lascivia e decoro“.161 In seinen um 1620 verfaßten „Considerazioni“ äußert sich Mancini diesbezüglich noch ausführlicher: „[…] la morte della Madonna nella Scala […] fatta levar di detta chiesa da quei padri perché in persona della Madonna havea ritratto una Cortigiana.“ „[…] der Marientod in der Scala […] wurde aus besagter Kirche von diesen Patres entfernt, weil er in der Figur der Madonna eine Kurtisane porträtiert hatte.“

Und an anderer Stelle heißt es über das angebliche Modell für die Muttergottes: „[…] qualche meretrice sozza degli ortacci da lui amata e così scrupulosa e senza devozione.“ „[…] irgendeine widerliche Dirne aus den Ortacci, die er liebte, so gewissenlos und ohne Frömmigkeit.“162

Ob Mancini damit Recht hat, ob also das Modell für die tote Jungfrau tatsächlich eine „Dirne“ („meretrice“) war, die in einem stadtbekannten Freudenhaus in den „Ortacci“ wohnte und mit der Caravaggio verkehrte, kann dahingestellt bleiben. Wichtig ist aber, daß sich die Kritik auf die äußere Erscheinungsweise der Madonna richtete und ihre Modellähnlichkeit und forcierte humilitas als inakzeptabel erachtet wurden. Auch Baglione schreibt über die Darstellung Mariens konkret, sie habe „poco decoro“, „wenig Dekorum“, weil sie „gonfia“ (wörtlich: „aufgequollen“, „angeschwollen“) sei, und der Maler sie mit „unverhüllten Beinen“163 dargestellt habe. Bellori wiederum berichtet, das Gemälde sei „rimosso per avervi troppo imitato una Donna morta gonfia“, „weil Caravaggio zu getreu den geschwollenen Körper einer Toten imitiert hatte“.164 Daß das Modell für die Muttergottes eine Leiche war, entspricht vermutlich nicht den Tatsachen, sonst hätte Mancini das wohl ebenfalls erwähnt. Aber einmal mehr ist es aussagekräftig, daß das Gemälde solche Legenden erzeugte – und exakt darin bestand das Problem des Bildes, dessen sich Caravaggio bewußt gewesen sein muß. Mancinis Absicht, den „Marientod“ von den Unbeschuhten Karmelitern zu erwerben, wurde von Peter Paul Rubens’ zeitgleichem Engagement durchkreuzt. Er suchte außerhalb Roms einen Käufer für das Gemälde und war damit tatsächlich erfolgreich, denn im Frühjahr 1607 kaufte es Vincenzo Gonzaga, 161  Zitiert nach Marini, Caravaggio 2005, S. 493. 162  Mancini, Considerazioni sulla pittura 1956, S. 120 und 224. 163  Baglione, Le Vite 1935, S. 138. 164  Ebd., S. 231.

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der Herzog von Mantua. Aber nicht nur das Interesse an dem ehemaligen Altarbild von seiten eines wichtigen oberitalienischen Mäzens und Sammlers – das bezeichnenderweise alle genannten Kunsttheoretiker bei der Schilderung des Vorfalls herausstreichen –, und die Tatsache, daß es zwanzig Jahre später von Karl I. von England erworben wurde, sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen, sondern auch die seinem Transport nach Mantua unmittelbar vorausgegangene öffentliche Zurschaustellung. Sie wurde von der „l’università delli pittori“ organisiert und dauerte, einem Brief des Mantuaner Botschafters Giovanni Magni an den Herzog vom 7. April 1607 zufolge, eine Woche lang: „Mi è stato necessario per soddisfar all’università delli pittori lasciar veder per tutta questa settimana il quadro comperato, essendovi concorsi molti et delli più famosi con molta curiosità, attesoché era in molto grido essa tavola.“ „Um die Allgemeinheit der Maler zufriedenzustellen, war es für mich erforderlich, diese ganze Woche lang das gekaufte Bild zur Schau zu stellen, wobei viele und einige der berühmtesten mit großer Neugier zusammengelaufen sind, in Anbetracht dessen, daß dieses Gemälde Stadtgespräch war.“165

Ein ‚Ausstellungsbild‘ avant la lettre also, ein Bild, das „Geschrei“ („grido“) verursacht hatte und nicht nur zum Gespräch über den Maler einlud, der die Stadt nach einem Totschlag im Sommer 1606 bereits verlassen hatte, sondern sicherlich auch zur Diskussion über das, was hier und in allen weiteren römischen Altarbildern des Malers Thema war: die fragilen Grenzen der Darstellbarkeit und des Bildwürdigen auf einem Altar.

2.3 Ambivalenzen einer Kategorie Trotz der Evidenz seiner Strategie, sich durch sehr originelle und potentiell inakzeptable Bildlösungen ins Gespräch zu bringen, wird sich Caravaggios Absicht nicht im Versuch der Erlangung und Sicherung einer Marktmacht erschöpft haben. In diesem Impuls möchte ich nur eine Motivation seines Vorgehens des kalkulierten ‚Austestens‘ der Regeln und ihrer pointierten Durchbrechung in den Altarbildern erkennen. Die andere besteht m. E. in der Problematisierung der Kategorie des Dekorums, der mit ihr verknüpften Zielvorgaben an die Malerei und der Fokussierung ihrer genuinen Ambivalenz. Was alle genannten Bildbeispiele auszeichnet, ist, daß sie zumindest die Möglichkeit einer konträren Beurteilung unter dem Gesichtspunkt des Angemessenen zulassen. Sie dürfte der wesentlicher Grund dafür sein, daß sich Teile der Forschung in den letzten Jahren darum bemühten, die postulierten Dekorum-Verstöße in Caravaggios Altargemälden in den Bereich der Legende 165  Zitiert nach Marini, Caravaggio 2005, S. 494. Zum Phänomen der ‚Kunstausstellung‘ in

Rom im Seicento: Haskell, Maler und Auftraggeber 1996, S. 181–191.

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zu verweisen – was sich aber, wie gesehen, entkräften läßt. Im Fall der „Berufung Matthäi“ habe ich bereits auf eine Ursache für die ambivalente Beurteilbarkeit der fehlenden visuellen Evidenz des Bildes hingewiesen: Caravaggios Zöllner Levi – wer auch immer es im Bild ist – verhält sich nicht so, wie man es vom künftigen Apostel Matthäus erwartet. Anders als in der Bildtradition üblich, gibt er keine eindeutigen Zeichen seiner bereits erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Bekehrung zu erkennen. Ich habe dies als Kalkül des Malers gewertet, die Reflexion der gläubigen Betrachter über die Besonderheit des Ereignisses und ihre Folgen in Gang zu setzen. Mit ihr zielt Caravaggio sogar indirekt auf eine Vertiefung der heilsgeschichtlichen Bedeutung der Berufung eines schlecht beleumundeten Zöllners zum künftigen Apostelevangelisten. Auch die Verstöße gegen das Dekorum im ersten Matthäus-Altarbild und im „Marientod“ lassen sich zumindest bedingt rechtfertigen. Wie vor allem Troy Thomas herausgestellt hat, betont das „plebeische“ Äußere der Figuren und ihre Barfüßigkeit die humilitas der Heiligen,166 wodurch der Erlösungsaspekt der christlichen Heilslehre akzentuiert wird. Ohne daß dies notwendigerweise mit den Idealen der jungen römischen Kongregationen wie der Oratorianer in Verbindung gebracht werden muß, wie dies schon früh Walter Friedländer und seit den 1970er Jahren auch Maurizio Calvesi und seine Schüler getan haben,167 ließ sich eine solche Bildsprache über die ihr zugrunde­liegende Intention rechtfertigen, das Publikum, speziell das viel zitierte ‚einfache Volk‘, in besonderer Weise zu adressieren. Schließlich wird die Involvierung der gläubigen Betrachter in und durch Bilder in allen reformtheologischen Programmschriften implizit wie explizit zum Thema gemacht. Im Fall des „Marientods“ hat Pamela Askew in diesem Sinne auf eine Verbindung der Darstellungsweise der Muttergottes mit der karitativen Tätigkeit des Bettelordens,168 der eine „Casa Pia“ speziell für notleidende Frauen (mißhandelte Ehefrauen und Prostituierte) unterhielt, hingewiesen. Auch generell ist die starke Modellabhängigkeit von Caravaggios Bildfiguren mit ihren hierdurch bedingten unidealisierten und zeitgenössischen Physio­ 166  Thomas, Expressive Aspects 1985, S. 636–652; wie bereits zitiert, heißt es auf S. 640: „The message is clear: even the humblest and simplest of men may comprehend through divine ­revelation.“ 167  Diese Überlegung wurde in den letzten Jahren von der Forschung stark relativiert. Siehe hierfür zusammenfassend Bologna, L’incredulità del Caravaggio 1992, S. 107–112 und jüngst Sickel, Caravaggios Rom 2003, passim, der nachweist, daß die Verbindung zwischen den Oratorianern und Caravaggio bzw. seinen wichtigsten Förderern nicht so eng wie ursprünglich angenommen war; zuvor Röttgen (in den genannten Aufsätzen) und Ferdinando Bologna, Il Caravaggio nella cultura e nella società del suo tempo, in: Colloquio sul tema Caravaggio e i Caravaggeschi, organizzato d’intesa con le Accademie di Spagna e di Olanda (Roma, ­12.–14.  febbraio 1973), Rom 1974, S. 149–187. Mit Bezug auf das Altarbild der ContarelliKapelle dagegen vermittelnd: Thomas, Expressiv Aspects 1985, passim. 168  Askew, Caravaggio’s Death of the Virgin 1990, S. 84–107.

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gnomien mit der durch sie möglichen Ansprache und Vergegenwärtigung der heilgeschichtlichen Ereignisse begründbar. Im Prinzip sogar notwendig ist eine solche Bildsprache bei einem Werk wie der „Madonna dei Palafrenieri“ durch die Abstraktheit des verbildlichten Glaubenssatzes, der eine Strategie des ‚Eingängig-Machens‘ erfordert. Ob Caravaggio damit erfolgreich war, ob also auch das ‚breite Volk‘ durch solche Bilder tatsächlich verstärkt angesprochen wurde, kann und muß angesichts fehlender Rezeptionszeugnisse allerdings dahingestellt bleiben. Es ist also die postulierte Wirkung der Bilder, die Caravaggios Strategien zumindest teilweise hätte rechtfertigen können oder, wie im Fall der in situ gebliebenen Werke, wohl auch tatsächlich rechtfertigte. Dieser Punkt führt zum Kern des Problemkomplexes des Dekorums und seiner sich abzeichnenden Ambivalenz, die sich auch auf der diskursiven Ebene gut analytisch fassen läßt. Es ist unbestritten, daß der genuin antik-rhetorischen Kategorie des Dekorums (griech. prepon) im Kunstdiskurs seit dem Quattrocento große Bedeutung zukam,169 die im Verlauf des Cinquecento durch die besondere Sensibilität, welche die posttridentinischen Reformtheologen gerade den visuellen Medien entgegenbrachten, massiv zunahm.170 Dies zeigt sich in den normativ argumentierenden Texten ebenso wie in den überlieferten Zeugnissen der Bildkritik, die bis zum veritablen Eingriff, der Entfernung der Werke aus dem Kirchenraum oder ihrer partiellen Übermalung, führen konnten. Von der Forschung wird in diesem Zusammenhang stets betont, daß bei der Fülle der Ausführungen zum Dekorum bzw. zu seinen Synonymen convenienza oder convenevolezza nicht nur in bildtheologischen, sondern auch in kunsttheoretischen Schriften trotz des normativen Anspruchs dieser Texte nie ein festes Regelwerk etabliert wurde, das den Künstlern klare Anhaltspunkte für die ‚richtige‘ Gestaltungs169 Hierzu siehe Luigi Grassi, s.v. Decoro, in: Dizionario d’arte, Turin 1995, S. 204–206 (zuerst 1978); Ursula Mildner, Das Decorum: Herkunft, Wesen und Wirkung des Sujetstils am Beispiel Nicolas Poussins, Sankt Augustin 1983; Robert Suckale, Rezension von Reiner Haussherr, „Convenevolezza … 1984“, in: Kritische Berichte 13 (1985), S. 72–77; Decorum in Renaissance Narrative Art: Papers Delivered at the Annual Conference of the Association of Art Historians, London, April 1991, hg. v. Francis Ames-Lewis & Anka Bednarek, London 1992 (mit weiterer Literatur); Ursula Mildner, s.v. Decorum, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gerhard Ueding, Tübingen 1994, Sp. 434–452; Barbara Bauer, s.v. Aptum, Dekorum, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin 1997, S. 115–119; Verf.in; Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2001, S. 245–254; Hénin, Ut pictura theatrum 2003, S. 433–445; Michael Thimann, s.v. Decorum, in: Metzler-Lexikon der Kunstwissenschaft 2003, S. 64–68 (mit weiterer Literatur). 170 Hierzu vor allem Hecht, Katholische Bildtheologie 1997; Seidel, Venezianische Malerei 1996; Scavizzi, Controversy on Images 1992; Hall, Sixtus V 1998, und nun jüngst ­Holger Steine­ mann, Eine Bildtheorie zwischen Repräsentation und Wirkung. Kardinal G ­ abriele ­Paleottis „Discorso intorno alle imagini sacre e profane“ (1582) Hildesheim/Zürich/New York 2006 (Diss. Stuttgart 2004), S. 172–193.

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weise der Bilder geliefert habe. Völlig zu Recht wird dies mit der Vielschichtigkeit der Kategorie begründet,171 doch dürfte meines Erachtens der Hauptgrund für die diesbezügliche Unklarheit noch weitaus mehr in der gewissen Widersprüchlichkeit liegen, die dem Dekorum seiner weiten Semantik wegen inhärent ist. Denn dieses umfaßt nicht nur den Aspekt des Würdevollen, Guten und Schönen, also die „dignitas“ Albertis,172 sondern seit dem Quattrocento zunehmend auch die Semantik des ‚Angemessenen‘. Sie hat also sowohl einen absoluten als auch einen relationalen Inhalt. Letzterer meint mit den Termini der Zeit die proportione, corrispondenza oder conformità von Ausdrucksweise und Sujet, also das Verhältnis von ‚res‘ und ‚verba‘.173 Diese beiden Semantiken – und das ist in meinen Augen das Entscheidende – müssen nicht, können aber miteinander in Konflikt geraten. Denn nicht zwangsläufig resultiert aus der Angemessenheit von (Bild-)Sprache und Inhalt die Schönheit und Dezenz der Darstellung.174 Zahlreiche berühmte Streitfälle in puncto ‚Angemessenheit der Darstellung‘ lassen sich tatsächlich damit erklären, daß vom Schöpfer des Werks ein anderer semantischer Aspekt des Dekorums für wichtiger erachtet wurde als vom beurteilenden Publikum. So ließ sich – um das berühmteste Beispiel zu nennen – Michelangelos Entscheidung, die auferstehenden Seelen im „Jüngsten Gericht“ nackt darzustellen, durchaus damit rechtfertigen, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Zustand erlöst wurden oder werden. Michelangelos Kritiker führten hingegen in erster Linie den absoluten Aspekt der Dezenz ins Feld. Es ‚gezieme‘ sich nicht, die auferstehenden Seelen nackt zu zeigen,175 und dies vor allem nicht in der päpstlichen Kapelle im Vatikanischen Palast: „In un bagno delizioso, non in un coro supremo si conveniva il far vostro“ „In einem hübschen Badezimmer, nicht in einer höchsten Kapelle geziemte es sich, das Eurige zu tun“.176

171  Jüngst von Michael Thimann, s.v. Decorum, in: Metzler-Lexikon der Kunstwissenschaft 2003, S. 64–68, bes. 64. 172  Leon Battista Alberti, De pictura, in: ders., Das Standbild, die Malkunst, Grundlagen der Malerei = De statua, de pictura, elementa picturae, hg., eingel., übers. u. komm. v. Oskar Bätschmann & Christoph Schäublin, Darmstadt 2000, S. 193–333, hier 262 (Buch 2, § 38). 173  In dieser Präzision formuliert von Giovanni Andrea Gilio, Topica poetica, Venedig 1580, S. 10. 174  Ähnlich nun jüngst Steinemann, Bildtheorie 2006, S. 172–193 über den potentiellen Konflikt zwischen verisimilitudo und Dekorum. 175  Siehe für die Diskussionen: Bernardine Barnes, Michelangelo’s Last Judgement: The Renaissance Response, Berkely u. a. 1998, S. 71–101. 176  Zitiert nach: Giorgio Vasari, la vita di Michelangelo nelle redazioni del 1550 e del 1568, hg. u. komm. v. Paola Barocchi, Mailand /Neapel 1962, Bd. 3, S. 1262.

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– mit dieser an den Maler gerichteten Kritik verbindet Pietro Aretino die absolute Semantik des Begriffs mit einem weiteren relationalen Aspekt desselben, nämlich dem Dekorum des Ortes. Die oben geschilderten Debatten um potentiell laszive Figuren berühren dasselbe Problem: Gebührt es den Heiligen Magdalena und Sebastian mehr, sie vom Fasten gezeichnet oder „gespickt mit Pfeilen wie ein Stachelschwein“ (Gilio) –177 also mit deutlichen Spuren ihres freiwilligen Leidens oder ihres Martyriums zu zeigen –, oder laufen solche Darstellungen der Würde der Person zuwider? Das Problem verschärft sich bei Fragen der Darstellbarkeit des Gottessohns: Ist die Schönheit und Unversehrtheit seines Körpers Ausdruck der Reinheit seiner Seele, oder ist sie im visuellen Kontext seiner Passion ein Verstoß gegen die Relation von Form und Inhalt? Auch mit Bezug auf die Figur der hl. Lucia wird die Frage sehr konkret: Ist ihre Augenlosigkeit, die ja indirekt mit ihrem Martyrium in Zusammenhang steht, darstellbar? Gilio hätte dies in Analogie zu seinen Forderungen bezüglich der Verbildlichung des hl. Sebastian bejahen müssen – tatsächlich beschäftigt er sich mit der Heiligen nicht –, aber Federico Borromeo hält eine entsprechende Darstellung für nicht akzeptabel und votiert entschieden für Mäßigung.178 Diese latente oder potentielle Widersprüchlichkeit der Kategorie wird noch verstärkt durch die sogenannten äußeren Aspekte des Dekorums: Sie betreffen zum einen die Zielgerichtetheit einer Darstellung (auch in Hinsicht auf ein bestimmtes Publikum), die bestimmte – absolut betrachtet – inakzeptable Ausdrucksweisen etwa durch die Absicht der emotionalen Ansprache der Betrachter sanktionieren kann.179 Zum anderen betreffen sie die Frage des Ortes. So läßt sich für den „Marientod“ und auch für das erste Altarbild der Contarelli-Kapelle postulieren, daß das Vermögen der Vergegenwärtigung die forcierte humilitas der Muttergottes im „Marientod“ und auch die Abfassung des Evangeliums in Hebräisch sanktionieren läßt. Hingegen sind die entblößten Geschlechtsteile der am Jüngsten Tag auferstehenden Seelen zwar durch die Kategorie der Wahrscheinlichkeit gerechtfertigt, verletzen aber das (relationale) Dekorum des Ortes. Ihre Darstellung an der Altarwand in der zentralen Kapelle des Vatikanischen Palasts ist folglich nicht angemessen. Diese Abstufungen der Ausdruckssprache entsprechend der Ranghöhe des Ortes und der 177  Siehe oben, Kap. 2, S. 340 und Anm. 365. 178  Entsprechend der Aufgabenstellung: „Si è dubitato se, pingendosi santa Lucia con gl’occhi

propri in mano, ella debba esser fatta con gl’occhi chiusi nel volto, overo con gl’ occhi guasti, e privi di luce come cieca. Al che si risponde che ciò fare non si dee, salvo però quando non si dipingesse il suo martirio, poiché alora sarà ben fatto il dimostrare come i carnefici gli cavarono gl’occhi. Ma quando poi non si esprime questo misterio, alora si dipinge come gloriosa, e non come paziente e martirizata. E ella aver dee gl’occhi bellissimi“ (Federico Borromeo, De pictura sacra, S. 59, Hervorh. V.v.R.). 179  Siehe Verf.in, Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2001, S. 252–254.

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Bildaufgabe waren sicherlich nicht zuletzt auch ein Grund dafür, warum Caravaggios erstes Altarbild in der Contarelli-Kapelle für untragbar erachtet wurde, während seine vermutlich von Teilen ihrer Rezipienten in S. Luigi ebenfalls als problematisch bewerteten Seitenbilder hängen blieben: Offensichtlich wurde ihnen aufgrund der geringeren Ranghöhe der Seitenwände der Kapelle eine gewisse licentia zugebilligt. Je stärker in kunst- und bildtheoretischen Schriften die relationalen Aspekte des Dekorums betont wurden – und dies ist indirekt der Fall, wenn Gilio Darstellungen der durch ihr Leiden „deformierten“ Heiligen fordert und dies mit der stärkeren Wirkmächtigkeit solcher Bilder begründet –, desto intensiver stellt sich auch für die Maler die Frage nach den Normen der Bewertung. Für zusätzliche Sensibilität auf diesem Gebiet sorgten die Streitfälle wie Michelangelos „Jüngstes Gericht“, Veroneses „Gastmahl im Hause des Levi“ oder El Grecos „Martyrium des hl. Mauritius“ für Philipp II. von Spanien. Die oben zitierte Anfrage der römischen Familie Baldini an Gabriele Paleotti bezüglich der ikonographischen Korrektheit der geplanten Darstellung der Himmelfahrt Mariens zeugt von einer gerade in den Jahren vor der Jahrhundertwende zu beobachtenden Verunsicherung bei Künstlern und ihrem Publikum und zugleich von dem Bedürfnis, sich korrekt zu verhalten.180 Hinzu kam die Diversifizierung von Aufgaben und Gattungen, die ein entsprechendes Reglement komplizierter werden ließ. Im Zusammenhang mit den Werken im privaten Kontext habe ich dies bereits zum Thema gemacht, denn gerade das Heiligenbild in einer Sammlung wirft die Frage nach dem ihm adäquaten Dekorum auf. Es wird die Intensität der Diskursivierung des Dekorums in Verbindung mit der proportional anwachsenden Pluralität der Meinungen in bezug auf dieses Thema gewesen sein, welche die Voraussetzungen für das Vorgehen Caravaggios und aller weiteren Schöpfer ambiger Bilder bildeten: Sie machten das hierdurch ungleich virulenter gewordene Problem der Angemessenheit der Bildsprache für divergierende Kontexte, Aufgaben oder Wirkungsabsichten innerbildlich zum Thema. Wenn uns Francesco Furini eine hl. Lucia präsentiert, die zwar die Dezenz wahrt, weil uns ihre Augenlosigkeit vorenthalten wird, dabei aber ansonsten kaum adäquat gestaltet ist, erprobt er innerbildlich die Möglichkeiten eines Heiligenbildes im Sammlungskontext. Entsprechendes tut Caravaggio im öffentlichen Raum. Denn ich halte es sowohl für ausgeschlossen, daß ihm die Inakzeptabilität seiner Madonnendarstellung im „Marientod“ auf einem Altar nicht bewußt war, als auch, daß er solche Bild­ lösungen nur um des Übertretens von Normen willen wählte. Vielmehr macht er mit solchen Bildern indirekt auf die inhärenten Widersprüche der Kategorie aufmerksam und fordert so die ambivalenten Beurteilungsmöglich180  Siehe oben meine Einleitung, S. 15 f.

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keiten quasi heraus. Einmal mehr tut er dies mittels Pointierung und Forcierung der malerischen Mittel, was zur Folge hat, daß er die Grenzen des (noch) Akzeptablen einreißt. Denn selbstverständlich rechtfertigte auch keine humilitas-Ästhetik einen Apostelevangelisten mit übereinandergeschlagenen, die Bildfläche scheinbar durchstoßenden Beinen, einen lasziven Engel oder das durch den zu großen Erlöserknaben bedingte Hochschieben der Brüste der „Madonna dei Palafrenieri“ (Abb. 50) in ihrem ohnehin zu weiten Dekolleté. So vorgehend legen Caravaggio und mit ihm eine Reihe von Malern strukturell ambiger Bilder den Finger in die ‚Schwachstelle‘ des Diskurses, nämlich die immanente Widersprüchlichkeit einer zentralen Kategorie nachtridentinischer Bildtheologie bei gleichzeitig formuliertem höchsten normativen Anspruch an die Bilder wie an ihre Schöpfer.

2.4 Ironische Imitationen: Caravaggio, Raffael und der Cavalier d’Arpino Roberto Longhi hat wohl als erster gesehen, daß Caravaggio in seinem Altarbild für die Contarelli-Kapelle recht deutlich auf ein Werk von Raffael Bezug genommen hat,181 nämlich auf das Fresko von Jupiter und Cupido in der Loggia di Psiche der Villa Farnesina (Abb. 188).182 In ihm tritt Cupido vor Jupiter, um den Göttervater um Beistand für Psyche zu bitten und vor allem, um die Genehmigung zur Hochzeit mit ihr zu erwirken. Wie Apuleius in seinem Psyche-Märchen detailliert schildert, greift auf diese Bitte hin der Göttervater „nach Cupidos Pausbäcklein, führt es mit der Hand zu seinem Mund, küßt es ab und spricht zu ihm […]“183 – ein Motiv, das in Raffaels Verbildlichung den Eindruck einer durch gewisse Zugeständnisse von seiten Cupidos erkauften Genehmigung erweckt. Drei trotz der spiegelverkehrten Darstellung in der Tat sehr ähnliche Motive zwischen Raffaels Fresko und Caravaggios Pala belegen diesen Rekurs: der 181  Roberto Longhi, Precisioni nelle gallerie italiane. I. R. Galleria Borghese. Michelangelo da Caravaggio, in: Vita artistica 11 (1927), S. 28–35, hier 29. 182  Für die Fresken siehe: Raffaello. La loggia di Amore e Psiche alla Farnesina, hg. v. Rosalia Varoli-Piazza, Rom 2002 (mit älterer Literatur); Hubertus Günther, Amor und Psyche. Raffaels Freskenzyklus in der Gartenloggia der Villa des Agostino Chigi und die Fabel von Amor und Psyche in der Malerei der italienischen Renaissance, in: Artibus et historiae 22 (2001), Nr. 44, S. 149–166; Michael Rohlmann, Von allen Seiten gleich nackt: Raffaels Kompositionskunst in der Loggia di Psiche der Villa Farnesina, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 63 (2002), S. 71–92; Sonia Cavicchioli, Il ciclo di Psiche alla Farnesina e le prime traduzioni italiane di Apuleio, in: Fontes 2 (1999), Nr. 3–4, S. 79–95; Michaela Marek, Raffaels Loggia di Psiche in der Farnesina: Überlegungen zu Rekonstruktion und Deutung, in: Jahrbuch der Berliner Museen 26 (1984), S. 257–290. Die Frage der Eigenhändigkeit der Ausführung braucht hier nicht zu interessieren; entscheidend ist, daß sie als Werke Raffaels galten. 183  Lucius Apuleius Madaurensis, Amor und Psyche, VI, 22, 2–3. Lat.-dt., hg. und übers. v. Ewald Brandt, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 83–85.

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188 Raffael, Jupiter und Cupido, Rom, Villa Farnesina, Loggia di Psiche

enge physische Kontakt zwischen beiden Figuren, die ungewöhnlich großen Flügel von Cupido bzw. dem Engel, die sich nur in der Farbe unterscheiden, und das Motiv der übereinandergeschlagenen Beine des Evangelisten bzw. Jupiters, die die ästhetische Grenze zu verletzen scheinen und uns Betrachtern den Blick auf die (nicht sauberen) Fußsohlen der Figuren ermöglichen. Insbesondere der markante Fuß des Evangelisten wird bei den entsprechend gebildeten Betrachtern um 1600 – also jenen, die entweder das gut zugängliche Fresko oder druckgraphische Reproduktionen von ihm kannten –184 sehr rasch 184  Daß neben ‚gewöhnlichen‘ Kunstinteressierten auch junge Maler in den Jahren um 1600 Zutritt zur Villa hatten, um die Fresken zu zeichnen, geht aus dem Bericht eines Brescianer ­Archäologen hervor, der eine Zeichnung nach Raffael von der Hand eines jungen Malers erwarb und sie mit folgenden Worten einem befreundeten Maler nach Brescia sandte: „Hieri fu a veder il palazzo de’ Signori Farnesi di là dal Testevere, dove divinamente dipinse Raffael d’Urbino, & ne comperai da un giovane, che per imparar disegna in quelle loggie il disegno, che vi mando con questa lettera; perché vediate, che li Maestri voglion esser gran tempo scolari […]“ (zitiert nach Luigi Spezzaferro, Il recupero del Rinascimento, in: Storia dell’arte italiana, Turin 1981, Bd. 1, S. 185–274, hier 274). Für die Stiche nach den Fresken von Marcantonio Raimondi oder Cherubino Alberti siehe: Raphael invenit. Stampe da Raffaello nelle Collezioni

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die Assoziation an Raffaels „Jupiter“ geweckt haben. Es sind also gerade die in Caravaggios Gemälde für problematisch erachteten Motive, die sich gar nicht der buchstäblichen Bezugnahme auf die Wirklichkeit, sondern dem Rekurs auf ein künstlerisches Vorbild verdanken. Daß Caravaggios „Erfindungskraft alles andere als in einem unmittelbaren Verhältnis zur Wirklichkeit steht“, ja daß „in der reflektierenden Umformung von Werken, die ihn anregten, seine Invention am stärksten ist“,185 war bereits im Jahr 1969 die These von Herwarth Röttgen. Ihn interessierte an Caravaggios „aktiver Apperzeption“ seiner Vorbilder deren inhaltliche Umdeutung im neuen figurativen Kontext, was er etwa am Beispiel des „Amor Vincitore“ und des „Matthäus-Martyriums“ ausführte.186 Darin folgt ihm Noh SeongDoo in seiner kurzen Studie zu Caravaggios Bezugnahmen auf ältere Werke, in der er einige neue Beobachtungen präsentieren kann.187 In jüngerer Zeit wurde das Thema vor allem von Rudolf Preimesberger und Victoria von Flemming aufgegriffen. Ersterer konstatiert mit Bezug auf die Abhängigkeit des Berliner „Amor“ vom hl. Bartholomäus in Michelangelos „Jüngstem Gericht“ der Sixtinischen Kapelle eine „imitatio, der das Moment des Übertreffen-Wollens […] inhärent“ ist und versteht sie als Teil einer Selbststilisierung des Malers zum „andere[n] Michelangelo“.188 Dabei habe er im Motiv der forcierten Nacktheit seines Cupido auf Themen der Michelangelo-Kritik seiner Zeit Bezug genommen und sie, „Michelangelo korrigierend und übertreffend, in seiner Figur verarbeitet […]“189. Preimesberger postuliert also, Caravaggio habe mit einem Betrachter gerechnet, der die von ihm ins Bild gesetzten Rekurse auf andere Kunstwerke wahrnahm und über deren Stellenwert im Bilddiskurs seiner Zeit reflektierte. Ähnlich hat Victoria von Flemming die kommunikative Dimension frühneuzeitlicher Formzitate betont und konkret Caravaggios „Amor“, dessen Vorbild sie allerdings in Michelangelos Florentiner Siegerstatue erkennt, als „Dechiffrierung“ von Michelangelos androgynem Männerdell’istituto nazionale per la grafica, hg. v. Maria Grazia Pezzini u. a., Rom 1985, S. 152. Letzterer ist inschriftlich in das Jahr 1580 datiert. 185  Röttgen, Caravaggio-Probleme 1969, S. 155 und 157. 186  Ebd.; ders., Der irdische Amor 1992; ders., Mein Haus 1992, passim; gerade mit seinen frühen Überlegungen hob Röttgen die Caravaggio-Forschung, die solche Bildzitate bis dato nahezu ausschließend unter dem Gesichtspunkt von ‚Quellen‘ und ‚Einflüssen‘ behandelt hatte, auf ein neues Niveau. In seinem Aufsatz von 1969 überlegt er, ob Caravaggios Rekurs auf Raffael „ironisch“ zu verstehen sei, verwirft diesen Gedanken jedoch wieder (ebd., S. 155). 187  Seong-Doo, Übernahme 1996. An der Studie irritiert, daß sie nahezu ohne alle methodische und thematische Kontextualisierung des Gegenstands der künstlerischen Bezugnahme auskommt; die Kategorien des Autors bleiben daher – trotz mancher sehr guter Einzelbeobachtungen – unscharf. 188  Preimesberger, Michelangelo da Caravaggio 2003, S. 242–260; die Zitate auf S. 243 und 251. 189  Ebd., S. 255.

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189 “Vetturia” oder “Thusnelda”, Florenz, Loggia dei Lanzi

jüngling gedeutet, für die er „Details der Pathosformel ‚Sieg‘ mit Gesten einer obszönen Selbstinszenierung überblendet[e]“.190 Der semiotisch-kommunikative Aspekt der Bildzitate oder -allusionen ist auch für meine folgenden Ausführungen grundlegend,191 in denen ich zugleich 190  Victoria von Flemming, Der Sieg der Knaben oder von freiwilliger und unfreiwilliger Knechtschaft: Michelangelo, Caravaggio, Guido Reni und ein stummer Streit der Bilder, in: Männlichkeit im Blick: Visuelle Inszenierungen in der Kunst seit der Frühen Neuzeit, hg. v. Mechthild Fend & Marianne Koos, Köln u. a. 2004, S. 99–119, das Zitat auf S. 111. 191  Für methodische Überlegungen einer entsprechenden Konzeptualisierung von Bildrekursen, die auf den kunsthistorischen Studien von Donate de Chaperouge, Wandel und Konstanz in der Bedeutung entlehnter Motive, Wiesbaden 1974, und Werner Busch, Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei Hogarth und in seiner Nachfolge, Hildesheim/New York 1977, basiert und diese mit literaturwissenschaftlichen Ansätzen zu einem kommunikativ-semiotischen Intertextualitätsbegriff verknüpft, wie er vor allem von Klaus W. Hempfer sowie Ulrich Broich & Manfred Pfister entwickelt wurde, siehe meinen Artikel „Interpikturalität“, in: Metzler-Lexikon der Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriff, hg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2003, S. 161–164 (mit weiterer Literatur). Dieser mich vorrangig interessierenden kommunikativen Funktion der Verweise wegen, beziehe ich mich hier nur auf solche von der Forschung genannten Vorbilder für das Altargemälde, die die Be-

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190 „Sterbender Gallier“, Rom, Kapitolinische Museen

zeige, in welcher Weise Caravaggio mit einer anderen zentralen Kategorie des Kunstdiskurses seiner Zeit, eben der imitatio (artis), verfährt. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe,192 nimmt er sich beispielsweise in seinen Rekursen auf die Antike nicht solche Werke zum Vorbild, die im Antiken­ diskurs der Zeit zur Norm erhoben, sondern gerade solche, die nie als imitationswürdig erachtet worden waren: So dient ihm die Statue einer trauern­den Barbarin (Abb. 189) als Vorbild für das Standmotiv der Muttergottes in der „Madonna di Loreto“ (Abb. 7), ein gefallener gallischer Krieger (Abb. 190) für den „Johannes“ der Sammlung Corsini (Abb. 125), die hellenistische Sitzstatue der „Trunkenen Alten“ bildet das Modell für die alte Frau unter dem Kreuz im „Martyrium des hl. Andreas“ in Cleveland und ein messerschleifender Skythe („Arrotino“) für einen der Schergen in seinem neapolitanischem Altarbild der „Geißelung Christi“. Keines dieser skulpturalen Vorbilder folgt den klassischen Idealen ruhigen ponderierten Stehens oder schlicht der körperlichen Schönheit, die im Antikendiskurs der Frühen Neuzeit für besonders wichtig erachtet wurden, ja im Prinzip verkehren sie sie sogar in ihr Gegenteil. So überkreuzt die von den Zeitgenossen als „Vetturia“ oder „Thusnelda“ bezeichnete Statue der Frau des Cheruskerfürsten Arminius ihre Füße, der „Sterbende Gallier“ ist gestürzt, und die in ihrer Häßlichkeit frappierende „Trunkene Alte“ zeigt sich trachter um 1600 auch tatsächlich gekannt haben können und bei denen der Bezug mit einiger Sicherheit intendiert ist. Darüber hinaus wurde von der Forschung, insbesondere von Roberto Longhi, auf oberitalienische Werke aufmerksam gemacht, die für Caravaggio in der einen oder anderen Form anregend gewirkt haben mögen. 192  Verf.in, Inszenierte Unkonventionalität 2006.

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uns schamlos in weinseligem Delirium. Durch die Vielzahl solcher Beispiele wird Caravaggios Kalkül in der Wahl seiner Vorbilder offenkundig: Er zeigt uns mit ihnen eine ‚andere Seite‘ der antiken Skulptur, also solche Werke, die im Antikendiskurs nicht normiert worden waren, die es aber ebenso gab wie den „Apoll vom Belvedere“ oder den „Laokoon“.193 Und auch hier erwächst gerade durch die Rekurse den zitierenden Werken intrikates Potential: So werden der Gemütszustand und die Handlungsrolle des ‚Johannes-Corsini‘ durch die Haltung des Knaben mit gesenktem Kopf verdunkelt, und die „Madonna di Loreto“ kommt durch ihre einer Mutter­gottes­darstellung nicht angemessene Haltung mit überkreuzten Füßen in Konflikt mit dem Dekorum. Als Vorbild für den „Matthäus“ wählt Caravaggio zwar wie in den übrigen Werken für die Contarelli-Kapelle keine unkonventionelle Darstellung, sondern sogar ein außerordentlich berühmtes Werk von Raffael, gleichwohl bestehen hier methodische Parallelen sowohl zu seiner Vorgehensweise in den genannten Gemälden als auch zu seinem oben rekonstruierten ambitio­ nierten Umgang mit der Kategorie des Dekorums. Indem er so deutlich im Bild markiert, woher seine problematischen Motive ‚stammen‘ – nämlich von einem Fresko, das sich seines mythologischen und vor allem (homo-)erotischen Charakters wegen denkbar schlecht als Vorbild für ein Altarbild mit Matthäus und dem Engel eignet –, rückt er dem Betrachter nicht nur die Relation von ‚res‘ und ‚verba‘, sondern auch die Relation der Angemessenheit der Bildsprache vom Ort ihrer Realisation ins Bewußtsein. Wenn man so will, ist es die Relativität der Kategorie des Dekorums selbst, die er uns auf diese Weise vor Augen führt: Was dem Göttervater Jupiter erlaubt ist – seine Haltung und das Suchen physischer Nähe zu Cupido – und was in einem Fresko in der Gartenloggia einer Villa möglich, ja dem Dekorum des Orts sogar angemessen ist, gebührt Matthäus und dem Engel beim Abfassen des Evangeliums generell nicht, und schon gar nicht in einem Altargemälde. Es wird vermutlich kein Zufall sein, daß Caravaggio mit Raffaels Fresko in der Loggia di Psiche ein Vorbild wählte, das schon früh Objekt einer Verarbeitung geworden war. Bereits Agostino Veneziano hatte nämlich in seiner druckgraphischen Reproduktion des Werks sozusagen das Personal ausgetauscht und Jupiter und Cupido in die Figuren Matthäus und Engel verwandelt (Abb. 55). In ähnlicher Haltung wie Raffaels olympische Götter sitzen sie auf einer Wolkenbank, wobei der Evangelist allerdings den Engel in gebührender Distanz hält und die veränderte Haltung seines Fußes den Blick auf seine Sohle nicht ermöglicht.194 Durch diese ‚Vorarbeit‘ ließ sich Caravaggios Verstoß gegen die Form-Inhalt-Relation also scheinbar legitimieren – er stellt 193 Ebd. 194  Zuerst beobachtet von E. Maselli, Da una cartella romana del Caravaggio, in: Spazio 2

(1951), H. 5, S. 9–14, hier 11.

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sich ja vorgeblich lediglich in eine Tradition –, doch macht er tatsächlich dem Kenner von Agostino Venezianos Druck durch die Intensivierung der Beziehung zwischen dem Evangelisten und dem Engel sowie durch den Ort seines Werks auf einem Altar die Unangemessenheit des Transfers nur um so deutlicher bewußt. Wie Herwarth Röttgen gezeigt hat, ist Raffaels Fresko nicht das einzige Werk, auf das sich Caravaggio in seinem Altarbild bezieht: Für die Haltung des Engels konnte er den Rekurs auf Giuseppe Cesaris „Hl. Barbara“ in S. Maria in Traspontina (Abb. 70) plausibel machen.195 Sie befand sich seit 1597 auf dem Altar der auf Betreiben des Kardinalnepoten Pietro Aldobrandini errichteten Kapelle der Bombardieri di Castello in der Kirche unweit St. Peter. Nimmt man die Fülle von teilweise sehr ausführlichen Erwähnungen dieses Gemäldes in den römischen Guiden sowie die Erstellung von Kopien hierfür als Indiz, muß Cesaris Pala bei ihrer Aufstellung erhebliches Aufsehen erregt haben.196 Caravaggios nur fünf Jahre später erfolgte (teils seitenverkehrte) ­Allusion auf das Gemälde seines ehemaligen Meisters manifestiert sich in der manierierten und unmotivierten Haltung des Engels mit seinem abgewinkelten rechten Unterschenkel, dessen Knie sich attraktiv durch das Gewand abzeichnet, sowie im Verlauf und in der Transluzidität des Engelgewands, das bei ihm wie bei der hl. Barbara derart transparent ist, daß es den Bauchnabel zu erkennen gibt. Letzteres ist ein Motiv, das in der antiken Skulptur vor allem bei Venus-Darstellungen beobachtet werden kann, bei Engeln und Heiligen hingegen nicht ohne Grund nicht belegt ist. Abgesehen davon, daß es sich um ein sehr beachtetes Gemälde des Cavaliere d’Arpino handelt, stellt sich natürlich die Frage, wie Caravaggios Bezug auf das Altarbild mit der hl. Barbara motiviert ist. Anders als beim „Martyrium des Matthäus“, für das sich der Maler, wie gesehen, auf die prototypische Martyriumsdarstellung aus dem Cinquecento bezog, steht das Sujet des Apostelevangelisten Matthäus in keinem Verhältnis zu dem der hl. Barbara. Was Cesaris Gemälde allerdings Caravaggios Altarbild vergleichbar macht, ist, daß es bereits über das problematische Potential verfügt, das in der Folgezeit auch 195  Röttgen, Giuseppe Cesari 1964, S. 219–222; für das Gemälde mit den Maßen 255 × 145 cm (Rom, S. Maria in Traspontina, Cappella S. Barbara): Röttgen, Il Cavalier Giuseppe Cesari 2002, Nr. 70, S. 311 und 87; Caravaggio e il genio di Roma 1592–1623 (Ausst.-Kat. Roma, Palazzo Venezia 2001; Supplementband), hg. v. Claudio Strinati & Rossella Vodret, Mailand 2001, Nr. 49, S. 92. Die hl. Barbara empfängt von einem Engel das himmlische Gewand, das sie dezent bedeckt, nachdem sie der Legende nach nackt in die Stadt Heliopolis gebracht worden war. Eine Reihe von Attributen verweisen auf das Patrozinium des Altars; so die Kanone im Hintergrund. 196  So von Panciroli 1625, Celio 1638, Titi 1638, de Rossi 1645, Mola 1663, Alveri 1664. Von der Ausführung zahlreicher Kopien des Gemäldes durch viele von weit her gereiste Maler berichtet die „Relatio Conventus S. Mariae Transpontinae de Urbe“ von 1662 (?); siehe Röttgen, Il Cavalier Giuseppe Cesari 2002, S. 311.

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Kritikpunkt an Caravaggios „Matthäus“ werden wird, nämlich die Indezenz. So ist die offenkundige Laszivität der hl. Barbara mit dem transluziden hellen Gewand und der entblößten Brust keiner Heiligen angemessen; sie ist es schon gar nicht einer Märtyrerin, die ihrer behüteten Jungfräulichkeit wegen den Tod erlitt und deren wundersame dezente Bedeckung durch einen Engel hier obendrein Bildthema ist.197 In der Tat erkannte man im Seicento das Problem der Figur, denn zu einem unbekannten Zeitpunkt wurde die entblößte Brust der Heiligen vollständig bedeckt, und erst bei der jüngst erfolgten Restaurierung des Gemäldes wurde diese Übermalung wieder abgenommen.198 Sie ist ein exzellenter Beleg für eine Diskussion über das Dekorum der Figur und des Bildes, die mit Sicherheit bereits bei seiner Enthüllung einsetzte und Caravaggio daher gut bekannt war. Wenn er auf Werke wie Cesaris „Barbara“ und Raffaels „Jupiter und Cupido“ anspielt, macht Caravaggio also auf das subversive Potential solcher Bilder aufmerksam, deren Produzenten im Kunstgespräch der Zeit normativer Charakter zugesprochen wurde. So weist er auf die homoerotische Gestaltung im Fresko des Malerfürsten Raffael hin, das bereits Vorbild für einen „Matthäus“ geworden war, und auf die – ungleich problematischere – laszive Verbildlichung einer jungfräulichen Märtyrerin in einem prominenten Altargemälde in der gut einsehbaren ersten Kapelle des rechten Seitenschiffs einer von vielen Pilgern auf dem Weg zu St. Peter besuchten Kirche. Sie stammt obendrein von einem Maler, der zum Zeitpunkt der Enthüllung von Caravaggios Gemälde mit den wichtigsten päpstlichen Ausstattungsprojekten betraut war. Indem Caravaggio auf gerade diese Werke alludiert, zerrt er ihre konstitutiven Widersprüche ans Licht und ‚verstärkt‘ sie – auch dies ist eine „Dekonstruktion“ im eingeschränkten Sinn des Begriffs, wie sie Bartolomeo Manfredis Bezug auf Caravaggios Florentiner „Bacchus“ und dessen Rekurs auf M ­ ichelangelos „Ignudo“ im kapitolinischen „Johannesknaben“ auszeichnet.199 Daß Caravaggio seine Vorbilder parodiert oder auch ironisiert habe, hat die Forschung seit Walter Friedländer gelegentlich konstatiert.200 In meinen Augen ist sein Vorgehen allerdings komplexer und läßt sich weniger als Parodierung 197  Der Legenda Aurea zufolge begann Barbaras Martyrium mit ihrer Entkleidung durch Soldaten. Sie richtete daraufhin ihren Blick zum Himmel und betete zum Herrn, er möge ihr Wolken senden, damit ihre Blöße den Blicken der Männer entzogen würde. Darauf erschien ein Engel, der sie mit einem weißen Gewand bekleidete. (Voragine, Legenda aurea, hg. v. ­Johann G. Th. Grässe, Leipzig 1846, S. 901; die Vita der hl. Barbara fehlt in der Edition der Legenden von Richard Benz). 198  Röttgen, Il Cavalier Giuseppe Cesari 2002, S. 311. Daß der übermalte Zustand nicht der originale des Bildes war, wußte man durch die Cesaris Sohn Bernardino zugeschriebene Kopie des Bildes, die sich in SS. Cosma e Damiano befindet und die Heilige mit entblößter Brust zeigt. 199  Siehe hierfür Kap. II.5.7. 200  Friedländer, Caravaggio-Studies 1955, S. 91.

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oder Ironisierung eines (einzelnen) Kunstwerks oder auch eines besonderen Künstlers beschreiben, es ist vielmehr eine auf mehreren Ebenen wirksame Ironie – ein Begriff, den ich nun schon mehrfach verwandt habe, und der hier abschließend noch prägnanter umrissen werden soll.201 Bekanntlich handelt es sich dabei um ein originär in der griechischen Antike wurzelndes, vor allem in der römischen Rhetorik entwickeltes Konzept, dessen semantischer Inhalt von der uns vertrauteren romantischen und modernen Ironie durchaus verschieden ist.202 Das griechische eironia bedeutet ursprünglich so viel wie „Verstellung“, wobei die Art und Weise der Verstellungsmöglichkeiten, wie sie in der griechischen Komödie faßbar werden, grundlegend ist für die spätere römische und frühneuzeitliche Konzeptualisierung der Ironie: Dort steht nämlich dem eiron, dem ‚Kleintuer‘, der alazon, der ‚Großtuer‘, gegenüber.203 Genau diese Aufspaltung des Konzepts in einen positiven Aspekt, das „Vorspiegeln des Falschen“ und einen negativen, das „Verbergen des Wahren“,204 wird in der Folgezeit wichtig und tritt in Ciceros begrifflich scharfer Unterscheidung von „simulatio“ und „dissimulatio“ hervor.205 Der eiron, also der Ironiker, ist folglich der „Dissimulator […], der sich selbst herabsetzt“ und „seinen wahren Charakter und seine wahre Meinung verbirgt“, der alazon hingegen der „Simulator […], der aufschneidet“ und „mehr scheinen will, als er ist“.206 Diese präzise Zuordnung der Semantiken zu den beiden Begriffen ist grundsätzlich gültig bis hin zu Carl G. Ittigs Schrift „De similatione et dissimulatione“ von 1709, in der dieser die Simulation als die „vorge201  Siehe oben, S. 23, 59, 76, 199 f., 234 f., samt dem Hinweis, daß Rudolf Preimesberger das Konzept im Sinne der tiefstapelnden dissimulatio für Caravaggios Selbstbildnisse in schlechten Handlungsrollen fruchtbar gemacht hat. 202  Uwe Japp, Theorie der Ironie, Frankfurt a. M. 1983; Dilwyn Knox, Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony, Leiden u. a. 1989; Jan Papiór, Ironie. Diachronische Begriffs­ entwicklung, Posen 1989; Wolfgang G. Müller: Ironie, Lüge, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini, in: Terminologie der Literaturwissenschaft, hg. v. Christian Wagenknecht, Stuttgart 1989, S. 189–201; Heinrich F. Plett, Ironie als stilrhetorisches Paradigma, in: Kodikas/Code. Ars semeiotica 4/5 (1982), S. 75–83; Marika Müller, Die Ironie: Kulturgeschichte und Textgestalt, Würzburg 1995 (zugl. Diss. Saarbrücken 1994); Ernst Behler, Klassische Ironie – Romantische Ironie – Tragische Ironie, Darmstadt 1972; Norman Knox, The word irony and its context. 1500–1755, Durham 1961 und bereits Verf.in: Celare artem 2003. 203  Leif Bergson, Eiron and Eironia, in: Hermes 99 (1971), S. 409–422, hier 416; vgl. Müller, Ironie 1988, S. 2000. 204 Müller, Ironie 1989, S. 193; vgl. auch Ulrich Schulz-Buschhaus, Über die Verstellung und die ersten „Primores“ des „Héroe“ von Gracian, in: Romanische Forschungen 91 (1979), S. 411–430, hier 416. 205  Marcus Tullius Cicero, De officiis III, 15, 61; hier heißt es: „Quod si Aquiliana definitio vera est, ex omni vita simulatio dissimulatioque tollenda est“ / „Wenn aber die Definition des Aquilius zutreffend ist, dann muß man jede Verstellung und Heuchelei aus seinem Leben verbannen“ (Von den Pflichten. Lat. und dt., hg. u. übers. v. Harald Merklin, Frankfurt a. M. 1991, S. 292 f.; im folgenden Satz auch in den Verbformen „simulare“ und „dissimulare“ belegt). 206  Müller, Ironie 1998, S. 200.

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spiegelte Präsenz dessen […], was nicht existiert“ („ejus quod non adest praetexta praesentia“) und die Dissimulation als das „Verbergen dessen […], was existiert“ („ejus quod adest negata praesentia“) definiert.207 Heinrich F. Plett hat beide Aspekte auf die prägnante Formel von „So-tun-als-ob“ (simulatio) und „So-tun-als-ob-nicht“ (dissimulatio) gebracht.208 Für unseren Zusammenhang wichtig ist die ebenfalls bereits in der Antike erfolgte Übertragung des Ironie-Konzepts auf die Künste generell, und zwar gerade des dissimulatio-Aspekts. Denn in der Rhetorik meint das ‚Verbergen‘ die strategisch wichtige Verhüllung des Kunstcharakters einer Rede. Dies wird wiederum Erasmus von Rotterdam in „Ecclesiastes sive de ratione concionandi“ von 1535 auf den Punkt bringen, wenn er schreibt: „caput artis esse, artem dissimulare“, es sei „Hauptaufgabe der Kunst, Kunst zu verbergen“.209 Es ist dieses Paradox, das die Anschlußfähigkeit des Konzepts an die Literatur, die bildende Kunst, die politische Kultur und auch das (höfische) Verhalten möglich und sinnvoll macht; für letzteres sei nur an den Zusammenhang von dissimulatio und sprezzatura, das Verhaltensideal des Höflings, erinnert.210 Das „paradox of the artless artist“211 ist nun wiederum exakt das Muster, dessen sich Caravaggio in bezug auf seinen Umgang mit künstlerischen Vorbildern und Leitkategorien des künstlerischen Diskurses bedient. Wenn er uns einen Matthäus demonstrativ seine verschmutzten Fußsohlen entgegenstrecken läßt und uns eine Madonna mit überkreuzten Füßen sowie einen simplen nackten ignudo vor Augen führt, die wir auf den ersten Blick als Produkte eines zu einfachen Nachahmungsverständnisses klassifizieren wollen, um dann auf den zweiten Blick ihre eigentliche Kunst in der Anspielung auf die NormKünstler Raffael und Michelangelo sowie die Antike zu erkennen, dann zeigt 207  Carl G. Ittig, De simulatione et dissimulatione, Leipzig 1709, S. 8; zitiert nach Müller,

Ironie 1998, S. 195. 208  Heinrich F. Plett, Ironie als stilrhetorisches Paradigma, in: Kodikas/Code. Ars ­semeiotica 4/5

(1982), S. 75–83, hier 79. 209 Erasmus von Rotterdam, Ecclesiastes sive de ratione concionandi, Buch II, in: ders., ­Opera omnia, Bd. 5, Leiden 1704, S. 847–1100, hier 849; vgl. Heinrich F. Plett, Rhetorik der Affekte. Englische Wirkungsästhetik im Zeitalter der Renaissance, Tübingen 1975, S. 37. 210  Hierzu Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992; Dorothee Rölli-Alkemper, Höfische Poetik in der Renaissance: George Puttenhams The arte of English Poesie, München 1996, bes. 253–266; Manfred Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992; Klaus W. Hempfer, Rhetorik als Gesellschaftstheorie. Castigliones Il Libro del Cortegiano, in: Literarhistorische Begegnungen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard König, hg. v. Andreas Kablitz & Ulrich Schulz-Buschhaus, Tübingen 1993, S. 103–121; Verf. in, Celare artem 2003 (mit weiterer Literatur); zuletzt Christiane Kruse, Ars latet arte sua. Zur Kunst des Kunstverbergens im Barock, in: Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, hg. v. Ulrich Pfisterer & Anja Zimmermann, Berlin 2005, S. 95–113, bes. S. 105–109. 211  Alvin B. Kernan, The Cantankered Muse. Satire of the English Renaissance, New Haven 1959, S. 4; vgl. Müller, Ironie 1988, S. 197.

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sich in dieser Vorgehensweise eine eminent rhetorische Absicht, nämlich die der Wirkung auf sein Publikum mittels der gezielten Irritation – und sei dieses Publikum noch so exklusiv. Bereits in der Antike wurde der Gedanke formuliert, daß die semantische Inversion der ironischen Verstellung für ausgesuchte Rezipienten transparent sein muß, damit sie funktionieren kann: „Si latet ars, prodest“, „Es ist nützlich, wenn die Kunst verborgen bleibt“, schreibt Ovid in seiner „Ars amatoria“.212 Prägnanter läßt sich Caravaggios Strategie einer gestuften und verzögerten Wahrnehmung der Bezüglichkeiten seiner Werke, in denen dann – hat man sie einmal durchschaut –, die zunächst verborgene Kunst um so größer aufscheint, nicht charakterisieren. Hier wird auch deutlich, warum ich Caravaggio nicht die Ironisierung eines Gegenstands oder einer Künstlerpersönlichkeit unterstelle, sondern die von Normen, Werten oder von Kategorien, die im künstlerischen Diskurs eine eminent wichtige Rolle spielen, wie denen der Imitation, des Dekorums oder auch der perspicuitas.213 Wie vielfältig er dabei vorgeht, haben die genannten Beispiele gezeigt: Er macht auf die unausgesprochenen Implikate der normierten Verfahren aufmerksam, wenn er zeigt, welche Werke im Antikendiskurs seiner Zeit keine Rolle spielten, ja sogar dezidiert den Idealen, die man mit der antiken Skulptur verband, zuwiderliefen. Dabei bedient er sich des Verfahrens der imitatio, tut dies aber, zugespitzt formuliert, in ‚falscher‘ Weise, weil er sich gerade das zum Vorbild nimmt, was in den Augen seiner Zeitgenossen eben nicht als nachahmungswürdig galt. Ähnliches gilt im Prinzip auch für die Wahl der Vorbilder für seinen „Matthäus“ und den „Johannes“. Mit der hl. Barbara bezieht er sich auf ein capolavoro des in seiner Zeit hochgeschätzten Cavalier d’Arpino, das gleichwohl problematisch war und von seinen Zeitgenossen auch so wahrgenommen wurde, mit „Jupiter und Amor“ auf ein Fresko mit einem Sujet, das seinen Schöpfer offensichtlich gerade seines lasziven und homo-erotischen Potentials wegen zur Verbildlichung reizte, und schließlich mit dem „Ignudo“ der Sixtinischen Decke auf ein Werk des ‚Michelangelo Divino‘, das in der Transformation in einen „Johannes“ dem Betrachter sein intrikates Potential im Deckenfresko des heiligsten Ortes des Vatikanischen Palastes um so stärker bewußt machte. Gerade in seinen religiösen Gemälden verbindet sich diese subversive Form der imitatio mit einem 212  Ovid, Ars amatoria II, 313; hg. u. übers. v. M. v. Albrecht, Stuttgart 1992, S. 78 f.; vgl. Paolo D’ Angelo, Celare l’arte. Per una storia del precetto Ars est celare artem, in: Intersezioni 6 (1986), S. 321–341, bes. 329; Müller, Ironie 1988, S. 196 f. und zur Transparenz der Verstellung: ebd., S. 191. 213  Methodisch grundlegend waren hierfür vor allem folgende Schriften: Franz Penzenstadler, Die Parodie des humanistischen Diskurses in Teofilo Folengos Maccheronee, in: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst, hg. v. Klaus W. Hempfer, Stuttgart 1993, S. 95–124 und Hempfer, Probleme traditioneller Bestimmungen 1993, S. 9–45.

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gleichermaßen forcierten Umgang mit dem Dekorum, denn Caravaggio zeigt auch die potentielle oder latente Unvereinbarkeit der die künstlerische Tätigkeit der Renaissance regelnden Diskurse auf. So verhält er sich in bezug auf das normierte Verfahren der Nachahmung korrekt, wenn er auf Werke von Raffael, Tizian, Michelangelo, dem Cavalier d’Arpino und auf Antiken rekurriert, er spielt aber den Dekorum-Diskurs dagegen aus, wenn er die zitierten Motive in unangemessene Kontexte überträgt: so vom pädophilen Göttervater Jupiter auf einen Evangelisten und aus einem mythologischen Freskenzyklus in der Gartenloggia einer Villa in ein Altarbild. Die Voraussetzung dieser Strategien sind m. E. in der neuen Qualität der Historisierung der Künste im ausgehenden Cinquecento zu suchen. Die imitatio, sowohl in ihrem Aspekt der Wirklichkeitsnachahmung als auch in dem des Künstlerstudiums, ist die Leitkategorie des Opus magnum Giorgio Vasaris, und zwar gerade in ihrer Relation zueinander.214 War das unausgesetzte Studium der Natur (und der Antike) Leitmaxime für alle Künstler des ersten und zweiten Zeitalters, so gelingt es Michelangelo im Zenit des dritten Zeitalters mit seinen Werken sowohl die Natur als auch die Antike zu überwinden, und sie sind es, auf die von Vasari nun die jüngeren Künstler verpflichtet werden.215 Die Normgebung verbindet sich in seiner Schrift also mit der Entwicklung eines linearen, ja teleologischen Geschichtsmodells, das allen Phänomenen in einem entwicklungsgeschichtlichen Ablauf eine Funktionsstelle zuweist: „mettere le cose a’ luoghi loro, ed a dirle come stanno veramente“, „die Dinge an ihren Ort stellen und sagen, wie sie sich wirklich verhalten“, definiert Vasari als Ziel seines historiographischen Schreibens.216 Hier liegt wohl die Voraussetzung von Caravaggios Strategie, der sich nicht nur in dissimulierender Weise einem vermeintlich ungeschönten Wirklichkeitsstudium verschrieb, sondern bezeichnenderweise auch genau Vasaris drei künstlerische Normgrößen zum ‚Vorbild‘ nahm: Raffael, die Antike und insbesondere Michelangelo, in dessen 214 Vasari entwickelt seine Nachahmungslehre im Proemio seines Vitenwerks (Vasari, Le Vite, Bd. 1, S. 91–106), im disegno-Kapitel seiner theoretischen Ausführungen zur Malerei (ebd., Bd. 1, S. 168–174), in den jeweiligen Proömien der verschiedenden „età“ und vor allem – ex negativo – in der Vita Tizians (ebd., Bd. 7, S. 425–469), was gerade für die oberitalienischen Maler von Bedeutung gewesen sein muß. 215  Hierzu im Proömium des dritten Teils: Vasari, Le Vite, Bd. 4, S. 13 und für die Frage, wie für die Künstler nach Michelangelo weiterzuarbeiten war, besonders die Vita von Francesco Salviati; ebd., Bd. 7, bes. S. 3 und 16; siehe hierzu auch Verf. in, Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2001, S. 42–45. 216  Vasari, Le Vite, Bd. 7, S. 682; für Vasaris teleologisches Geschichtsmodell vor allem Ursula Link-Heer, Giorgio Vasari oder der Übergang von einer Biographiensammlung zur Geschichte einer Epoche, in: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht & ders., Frankfurt a. M. 1985, S. 73–88, bes. 76–80; Hans Belting, Vasari und die Folgen. Die Geschichte der Kunst als Prozeß?, in: ders., Das Ende der Kunstgeschichte?, München 1983, S. 63–91; Verf. in, Mimesis und Selbstbezüglichkeit 2001, S. 32–46, bes. 42 f.

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Kunst sich für Vasari die Geschichte bekanntlich erfüllt hatte. Nicht nur für die nächste Historiographengeneration wie Giovanni Pietro Bellori, der in seinem Vitenwerk im Prinzip da ansetzt, wo Vasari aufgehört hat, und dabei dessen biologisches Geschichtsmodell, bestehend aus den Phasen des Wachsens, Blühens und Verderbens, übernimmt, um es durch die Annahme eines erneuten Aufblühens der Kunst in der Malerei Annibale Carraccis weiterzuführen und damit indirekt zu bestätigen – auch die Künstler selbst hatten sich zu dieser historiographischen Setzung zu verhalten und ein Modell für eine ‚Kunst nach dem Ende der Geschichte‘ zu entwickeln. Der Sinn von Caravaggios ironischer Problematisierung der Normen besteht also in dem, was von Bärbel Frischmann als das Potential des IronieKonzepts postuliert wurde: die „Distanzierung“ und „Relativierung von Ansichten, Grundeinstellungen und Wahrheitsansprüchen“,217 wenn „die bisherigen Normen ihre orientierende Kraft verloren haben“218. So ist die Ironie die Folge von „Kontingenzerfahrungen“ und „Telosverlust“.219 Die vielzitierte Unkonventionalität Caravaggios ist also auch hier kein ‚Über-Bord-Werfen‘ der Regeln, sie ist vielmehr deren ironisch-spielerische Subversion. Sie richtet sich an ein ausgesuchtes Publikum, das fähig ist, die ironische Verstellung zu durchschauen und die Werke genau in ihrer vermeintlichen Kunstlosigkeit, die sich im Rezeptionsprozeß in um so größere Kunst wandelt, zu schätzen.

217 Bärbel Frischmann, s.v. Ironie, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. Hans Jörg Sand­ kühler, Hamburg 1999, S. 665. 218 Ebd. 219 Ebd.

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Schluß Ob Caravaggio wie in den frühen Sammlerbildern den Eindruck erzeugt, ‚unkünstlerisch‘ seine Modelle abgemalt zu haben und erst dem aufmerksamen Betrachter zu erkennen gibt, daß ihr tableau vivant-Charakter ein kalkuliert erzeugter Effekt ist, ob sich in der scheinbaren Kunstlosigkeit seiner vermeintlich allein auf die Wirklichkeit verpflichteten Werke bei näherer Betrachtung die Rekurse zu erkennen geben, ob er uns wie im „Johannes“ im Kapitol Glauben machen will, er habe eine Figur Michelangelos ‚nachgestellt‘, oder ob er wie im „Martyrium des hl. Matthäus“ eine ‚dunkle‘ Historie gerade vor der Folie des Prototyps für erzählerische perspicuitas entwirft – sein Vorgehen folgt stets demselben Muster: Er arbeitet mit der Diskrepanz zwischen dem, was seine Gemälde zu sein vorgeben und ihrer tatsächlichen Struktur, also mit dem Kontrast zwischen ‚Schein‘ und ‚Sein‘. Er ist Folge seines ironischen und im Sinne des serio ludere spielerisch-intellektuellen und hoch ambitionierten Umgangs mit Normen. Die vielzitierte Unkonventionalität und ‚Originalität‘ Caravaggios ist demnach das Resultat kalkulierter, auf Wirkung bedachter Effekte. Sie ist eine Alterität, deren Inszeniertheit wahrzunehmen ist, weil der Betrachter erkennen soll, mit welchen Konventionen gespielt wird. Caravaggios Strategem ist – wie sollte es anders sein – Produkt seiner Zeit. Es ist die Reaktion auf grundlegende Veränderungen der künstlerischen Produktion, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend akuter werden. Zu zeigen, daß er dabei aber keineswegs der Solitär war, zu dem ihn die kunsthistorische Forschung mit ihrer Bedienung des Mythos vom unverstandenen Originalgenie, in dem Leben und Werk eine einander wechselseitig erhellende Verbindung eingehen, machte, war mein Anliegen. Caravaggio reagierte nur früher auf diese Veränderungen; die epochale Bedeutung der beobachteten Phänomene manifestiert sich aber gerade in ihrer Virulenz auch in den Werken vieler anderer Maler, darunter auch solcher, die völlig unabhängig von ihm arbeiteten. So sind die ‚Spiele‘ um Simulation und Authentizität, um Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Darstellung die Konsequenz einer Malerei, die sich der Aufgabe zu stellen hatte, wie sich im neuen, auf maximale Vergegenwärtigung zielenden Modus al naturale Transzendentes zur Erscheinung bringen läßt, und sie kulminieren nicht zufällig in der Figur des deus ex macchina-artigen Engels, der uns in seiner ‚Leibhaftigkeit‘ zwangsläufig mit dem Mechanismus von visueller Evidenz und deren Brechung konfrontiert. Mangelhafte oder mißverständliche Kodierungen in den erzählten Geschichten indizieren die fundamentale Reflexion über den Gebrauch der (Bild-)Zeichen und der medienspezifischen Bedingungen des frühneuzeitlichen Bildes – ich erinnere etwa an die ‚verschobene‘ Peripetie in

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Caravaggios Berufungsbild –, und die demonstrativ zum Thema gemachten Prozesse der Signifikation sind die Folgen innerbildlicher Verhandlungen über die Wertigkeit und Gattungszugehörigkeit der Gemälde. Was generell für die Kultur um 1600 als „Krise der Repäsentation“ beschrieben wird, in der das Verhältnis zwischen ‚res‘ und ‚verba‘ in neuer Weise Thema wird, ist also auch in der Malerei zu konstatieren, und es lassen sich eine ganze Reihe von Ursachen hierfür benennen: Es ist das Brüchig-Werden der Normen und deren manifeste Pluralität, die paradoxerweise gerade dadurch entsteht, daß in dieser Zeit in quantitativer und qualitativer Hinsicht versucht wird, die Bildsprache zu regeln; es sind die durch die Erweiterung des Gattungsspektrums bedingten grundlegenden Veränderungen dessen, was bildwürdig ist, weiterhin die neuen Produktionsbedingungen durch das Entstehen des Sammlungsbildes, das gerade für religiöse Gemälde die Frage nach deren Profil und Status aufwarf und wiederum neue Rezeptions- und Kommunikationsweisen vor allem in Form von Gesprächen vor den Werken generierte. In ihnen wird nicht zuletzt auch die Frage verhandelt worden sein, wie man sich eigentlich angemessen zu den neuen religiösen Bildern im profanen Kontext zu verhalten habe. Ursache der hier behandelten Phänomene sind schließlich auch die Veränderungen in den Marktmechanismen gerade infolge der Etablierung des Sammlerbildes, die wiederum Strategien der Aufmerksamkeitserlangung, wie sie vor allem Caravaggio entwickelte, notwendig machten. Was alle behandelten Werke zeigen, ist folgendes: Sie kreisen um das, was nach einem Jahrhundert ungekannter und maximaler Normierung und Historisierung des künstlerischen Regelwerks in Traktaten, „Instructiones“ und historiographischen Schriften darstellbar war und erproben dies gerade mittels der Erarbeitung eines Spielraums, in dem justiert wurde, was nun unter den neuen Bedingungen angemessen war. Ob Cecco del Caravaggio und Guido Reni eine Ikonographie für einen Bambino Gesù analog zu der des liegenden Cupido erfinden, die wohl gerade auf dem Bewußtsein einer nicht mehr möglichen synkretistischen Tradition von Antike und Christentum funktioniert, oder ob sie das Christuskind in demonstrativer Geschlechtlichkeit darstellen – es sind immer offene oder kontrovers diskutierte Themen, auf die sich die Künstler beziehen: Verweist die Nacktheit des Christuskindes auf seine Menschlichkeit, und damit auf das Theologumenon der Inkarnation und ist damit gerechtfertigt, oder stellt sie gerade vor der Folie des Dekorums ein Problem dar? Kann die körperliche Attraktion der Betrachter durch erotische Malerei auch einer religiösen Affizierung zuarbeiten und ist sie damit für religiöse Darstellungen legitimierbar, oder stellen Furinis namenlose Märtyrerinnen unausgesetzte Tabuüberschreitungen dar, die man besser mittels Vorhängen unkontrollierbaren Blicken entzog? Wenn etwas generell methodisch Relevantes an diesem ungerechtfertigerweise so wenig analysierten Bildkorpus der sog. ‚Caravaggisten‘ gelernt

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werden kann, dann ist das folgendes: Bilder reagieren eher selten in entweder affirmativer oder sich distanzierender Weise auf textuelle Vorgaben; sie ‚verhandeln‘ vielmehr über sie, erproben und erobern Spielräume – und das mit oft erkennbarem Vergnügen an der Auslotung der Grenzen des ‚Mach‘und Darstellbaren. Das ist es, was sie auch für den Kreis hochgestellter und intellektueller Sammler so attraktiv machte, die sich die Werke als Reflexionsund Gesprächsstimulanzien in ihre Sammlungen hängten. Im Prinzip kreisten in ihren verbalen oder visuellen Äußerungen Bild-Theoretiker wie Künstler, Rezipienten im öffentlichen Raum wie im privaten um dieselben Fragen, die sie mitunter aber sehr verschieden beantworteten: Was ist darstellbar und vor allem: Wie ist es darstellbar? Die gerade um 1600 nachweisbare Sensibilität gegenüber diesen Fragen geben alle Faktoren in diesem Beziehungsnetz zu erkennen: die Schriften, die Gemälde und das Publikum in dem uns dokumentierten „rumore“.

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Literaturverzeichnis

Namensregister A Aertsen, Pieter  63 Agucchi, Giovanni Battista  47 Albani, Francesco  312, 313, 314, 316, 330, 406, Abb. 149 Alberti, Romano  358 Aldobrandini, Olimpia  163, 226, 228 Aldobrandini, Ippolito, Papst Clemens VIII.  38, 39, 246, 364, 394 Aldobrandini, Pietro  163, 226, 353, 434 Allori, Alessandro  302 Alveri, Gasparo  434 Ameyden, Dirck van  131 Anguissola, Lucia  69 Anguissola, Sofonisba  64, 69 Antigonos 186 Antinous 70 Antoniano, Silvio  39 Apelles 168 Apuleius 428f. Aquin, Thomas von  358 Arcadelt, Jacques  61 Arcimboldo, Giuseppe  357 Aretino, Pietro  426 Ariost, Lodovico  342 Aristoteles 124 Armenini, Giovanni Battista  21, 44, 96, 345, 353 B Baccelini, Matteo  318 Baglione, Giovanni  5, 15f., 39, 71, 74, 75, 87, 126, 144, 145, 252, 261f., 265, 269, 272, 279, 344, 365, 367, 404f., 409, 413, 419, 421, Abb. 61, 117 Baldini, Piero Antonio  39 Baldinucci, Filippo  27, 85, 181, 183, 188, 189, 192, 194, 365, 406, 408, 412 Bandini, Piero Antonio  39 Barberini, Antonio  154, 346 Barberini, Maffeo, Papst Urban VIII  83 Bargali, Girolamo  126 Baronio, Cesare  257, 339 Bassano, Jacopo  299 Bellarmino, Roberto  337 Bellini, Giovanni  184, 346, 348, Abb. 79

Bellori, Giovanni Pietro  25, 27, 44, 47, 107, 145–147, 154, 163–166, 178, 208, 216, 277, 279, 268, 304, 305, 365–367, 382, 392–394, 396, 399, 405–409, 412, 413, 418, 421, 440 Berchorius, Petrus  302 Bernini, Gian Lorenzo  258f., 266, 350, 351, Abb. 115 Beuckelaer, Joachim de  63 Bijlert, Jan van  83, 383f., Abb. 174 Biondo, Giovanni del  257 Boneri, Francesco („Cecco del Caravaggio“)  78, 136, 150, 168, 298, 299, 304, 309, 344, 353, 419, 420, 442, Abb. 67f., 141f., 147 Bononi, Carlo  116, 297 Bor, Paulus  73f., Abb. 33 Borghese, Camillo, Papst Paul V.  147 Borghese, Scipione  47, 67, 71, 138, 144, 145, 148, 152, 211, 284, 285, 304, 344, 400, 402, 419, 420 Borghini, Raffaello  230 Borgianni, Orazio  90 Borromeo, Carlo  146, 337 Borromeo, Federico  37, 337, 426, 244 Boschini, Marco  194, 196f., 198, 306 Boulogne, Valentin  115–116, 216, 221, 222, 298, Abb. 56, 92f., 97–99 Bracciolini, Poggio  266 Bronzino, Agnolo  275, 303, 304, Abb. 122 Brunelleschi, Filippo  121 Bruno, Giordano  100 Bulwer, John  227 Buontalenti, Bernardo  121, 126 C Cagnacci, Guido  5, 33,133, 196, 236, 251, 297, Abb. 63, 106, 112 Cairo, Franceso  246 Cambiaso, Luca  312 Campanella, Tommaso  100 Campi, Vincenzo  64 Caracciolo, Battistello  4, 106, 136, 148, 149, 168, 201, 202, 203, 207, 293, 295, 304, 325, 326, 329, 385, 416, Abb. 65, 87, 132f., 137f., 161f. 165, 177 Carducho, Vicente  69 Caroto, Giovanni Francesco  244

Namensregister

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Carracci, Annibale  44, 48, 62–66, 159, 275, 318, 408, 415, 418, 440, Abb. 18, 28, 151 Castellini, Giovanni Zarantino  193 Cavarozzi, Bartolomeo  282, 327, 328, Abb. 163 Cecco del Caravaggio siehe Boneri, Francesco Celio, Gaspare  279, 442 Cerasi, Tiberio  418 Cesari, Bernardino  366 Cesari, Giuseppe, Il Cavalier d’Arpino  71, 158, 273, 364–367, 375, 376, 377, 400, 434, 435, Abb. 69, 118, 170 Chantelou, Paul Fréart de  350, 251 Cherubini, Laerzio  420 Cicero, Marcus Tullius  436 Ciocchi, Giovanni Maria  266 Clemens VIII., siehe Aldobrandini, Ippolito Cobaert, Jacob  266, 368, 402, 403, 409 Cointrel, Matthieu siehe Contarelli, Matteo Colonna, Ascanio  138 Colonna, Marzio  247 Contarelli, Francesco  403 Contarelli, Matteo (= Cointrel, Matthieu)  363, 364, 376, 402 Conventi, Giulio Cesare  251 Correggio, Antonio da  129, 158, 175, 355, Abb. 70 Costa, Ottavio  226, 283, 344 Crescenzi, Paolo Pier  340 Crescenzi, Virgilio  364–366, 402 Cresti il Passignano, Domenico  189 D De La Tour, Georges siehe auch Pensionante del Saraceni  30, 213, 219, 372, Abb. 12, 15, 95 Diderot, Denis  156 D’ Oggiono, Marco  63, 68, 180, Abb. 26 Dolce, Ludovico  255, 398 Dolci, Carlo  233 Domenichino  25, 405, 406 Dominici, Bernardo De  152 Donatello 393 Doni, Anton Francesco  265 Dossi, Dosso  63, 64, Abb. 27 Ducamps, Jean  82 Dürer, Albrecht  283 E El Greco  427 Erasmus, Desiderius  (Erasmus von Rotter­ d ­ am)  268, 338, 437

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Namensregister

F Fabriano, Gilio da  37 Farnese, Ottavio  357 Ferrucci, Pompeo  403 Ficherelli, Felice („Il Riposo“)  177, 238, Abb. 75 Figino, Giovanni Antonio  140, 141, 144, Abb. 66 Fillide siehe Melandroni, Fillide  36, 48, 162, 228, 305, 345, 417 Finson, Louis  251 Fiorentino, Rosso  258, 263, 275 Foschi, Pier Francesco di Jacopo  274 Fra Bartolommeo  253–256, 266, Abb. 113 Francucci, Scipione  285 Frangipane, Niccolò  76 Franz I., König von Frankreich  301 Furini, Francesco  5, 33, 51, 173, 181–199, 207, 225, 251, 265, 279, 341, 354, 427, 442, Abb. 78, 81–85 Furttenbach, Joseph  121, 122, 124, Abb. 60 G Galilei, Galileo  100, 342 Gallé, Teodor  176, Abb. 73 Gallonio, Antonio  38, 339, 340 Garofalo, Benvenuto da  159, 160, 161, 175, Abb. 71 Gaurico, Pomponio  379 Geest, Wybrandt de  250, Abb. 110 Gentileschi, Orazio  32, 87, 95, 106, 120, 328, 332, Abb. 58 Ghirlandaio, Domenico  320 Ghislieri, Antonio Michele, Papst Pius V.   139 Giambologna 357 Giglio, Giulio Cesare  72 Gilio, Giovanni Andrea  37, 244, 257, 264, 337, 425 Giorgione da Castelfranco  183, 354, 355, 367, Abb. 167 Giustiniani, Benedetto  331, 344 Giustiniani, Vincenzo  131, 162, 344 Gonzaga, Silvio Valenti  75 Gonzaga, Vincenzo  421f. Grado (auch: Grasso), Gaetano  68 Grammatica, Antiveduto  5, 173, 176, 179, 185, 197, 203, 204–207, 340, 354, Abb. 72, 76f., 88f., 176 Grillo, Antonio  333–336 Guarino, Francesco  114, 186, 232, Abb. 52, 80, 104 Guicciardini, Piero  151

H Hals, Frans  108 Heinrich IV., König von Frankreich  364 Hockney, David  96 Honthorst, Gerrit van  80, 82f., 152, 203 I Interián de Ayala, Juan  311, 312 Ittig, Carl G.  436 J Jarman, Derek  95 Jones, Inigo  121 K Karl I., König von England  326, 422 Karl V., Kaiser  240, 253 L Lena, „donna del Caravaggio“  61, 142 Leonardo da Vinci  6, 228, 241, 242, 246, 261, 265, 268, 275, 299–302, 304, 347, 352, Abb. 121, 143 Leoni, Ottavio  71, Abb. 32 Lippi, Lorenzo  190 Lomazzo, Giovanni Paolo  37, 71, 140, 245, 337 Luini, Bernardino  227, 228, Abb. 102 Luther, Martin  139, 322 M Maestro del Giudizio di Salomone  220 Magni, Giovanni  422 Maino, Juan Bautista  414, 415, Abb. 185 Malvasia, Carlo Cesare  39, 47, 89, 130 Mancini, Giulio  71, 72, 78, 94, 129, 130, 147, 241, 266f., 327, 344, 346, 353, 420, 421 Mander, Carel van  94 Manetti, Rutilio  74 Manfredi, Bartolommeo  4, 44, 50, 73–78, 80, 82, 83, 95, 102, 108, 167, 181, 216, 217, 221, 292, 293, 297, 309, 416, 435, Abb. 36, 41, 91, 131 Manilli, Iacomo  400 Mantegna, Andrea  349 Marcello, Benedetto  131 Marino, Giambattista  317, 318, 333, 334–336, 365, 419 Martínez, Jusepe  415 Marucelli, Francesco  78 Masetti, Fabio  419

Massari, Lucio  26–28, 33, 163, 413, 414, Abb. 6 Mattei, Battista, Giovanni  278 Mattei, Ciriaco  15, 29, 271, 272, 277, 291, 292, 299, 304 Medici, Ferdinando I de’, Großherzog von Toskana  55, 60, 67, 73, 109 Melandroni, Fillide  162 Melzi, Francesco  68, 180, Abb. 31 Michelangelo da Buonarotti  22, 147, 246, 255, 263, 265, 266, 306, 307, 308, 311, 325, 377, 398, 404, 425, 427, 430, 435, 437–439, 441, Abb. 146, 171 Milesi, Marzio  366 Minniti, Mario  68, 163 Mola, Giovanni Battista  434 Mola, Pier Francesco  114–117, 304, Abb. 55, 145 Molanus, Johannes  37, 146, 162, 311, 337 Moninckx, Pieter  328, 330 Monte, Francesco Maria del  55, 60, 67, 70, 110, 131, 136, 154, 159, 162, 167, 173, 228, 270, 278, 288f., 345, 347, 363, 365, 417, 420 Murtola, Gaspare  331 Muziano, Girolamo  364, 390, Abb. 181 N Nebbia, Cesare  390 Neri, Filippo  352 O Oost, Jacob van  388, Abb. 180 Orsi, Prospero  163, 405 Ovid[ius] Naso, Publius  82, 83, 241, 438 P Pacheco, Francisco  288, 352 Padoanino (= Alessandro Varotari)  159 Paleotti, Gabriele  37, 40, 39, 62, 146, 155, 244, 337, 338, 340, 358, 424, 427 Pamphilj, Camillo  163, 292 Panciroli, Ottavio  434 Paolini, Pietro  332 Palma il Giovane, Jacopo  397 Palma Il Vecchio  183 Paolo, Giovanni di  257 Paravacino, Ottavio  165 Parigi, Alfonso  121 Parmigianino 356 Passeri, Giambattista  142 Passerotti, Bartolommeo  64, 68, Abb. 30

Namensregister

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Peacham, Henry  124 Peiraikos 48 Pensionante del Saraceni, siehe auch De la Tour, Georges  30, 213, 219, 372, Abb. 12, 15, 95 Peretti, Allessandro  110 Peretti, Felice, Papst Sixtus V.  38, 341 Peterzano, Simone  408 Petronius  69, 70 Philipp II., König von Spanien  327, 427 Philostratus, Flavius  109 Piazza, Callisto  64 Pichot, Pierre  412 Pignoni, Simone  177, Abb. 74 Piombo, Sebastiano del  263f. Pius V., Papst, siehe Ghislieri, Antonio Michele Platt, Hugh  128 Plinius Secundus Maior, Gaius (Plinius d. Ältere)  47, 62, 109, 186 Politi, Ambrogio Catarino  241, 341 Possevino, Antonio  37 Poussin, Nicolas  350, 424 Pozzo, Cassiano dal  301, 351, 352 Praxiteles 325 Pulzone, Scipione  39, 40, 146 R Raffael da Urbino  6, 129, 274, 300, 303, 304, 350, 398, 408, 409, 428–430, 433–435, 437, 439, Abb. 119f., 188 Régnier, Nicolas  50, 73, 89, 217, 220, 224, 251, 259, 350, 416, Abb. 34, 45, 187 Reni, Guido  89, 159, 312, 313, 316, 319–325, 329, 406, 415, 431, 442, Abb. 148, 153–159, 164 Ribera, Jusepe de  78, 295, Abb. 135 Riminaldi, Orazio  81, 90, 114, Abb. 38, 46, 53 Ripa, Cesare  192 Rombouts, Theodor  293, Abb. 134 Roncalli, Christoforo  75, 374, 375, Abb. 169 Rosa, Salvatore  41, 294, 295 Rossi, Filippo de  434 Rossi, Michel’Agnolo  279 Rossi, Pier Vincenzo  279 Rubens, Peter Paul  246, 261, 421 Rustici, Francesco  246 S Sabbattini, Nicola  122, 127, 131 Salini, Tommaso  87, Abb. 42 Sandrart, Joachim von  77, 268, 382, 397

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Namensregister

Sannazaro, Francesco  184 Saraceni, Carlo  5, 78, 117, 118, 213, 252, 256, 297, 411, 420, Abb. 57, 114 Sarto, Andrea del  303, Abb. 144 Savelli, Paolo  210 Savoia, Carlo Emanuele Pio di  270, 279, 346 Savoldo, Giovanni Gerolamo  255, Abb. 168 Savonarola, Fra Girolamo  146, 254, 302 Scannelli, Francesco  44, 166, 230, 279, 286, 291, 352, 396, 401 Scaramuccia, Luigi P.  152 Seghers, Gerard  77, 217 Segni, Alessandro  268 Serlio, Sebastiano  125 Shakespeare, William  78, 124 Sidney, Philip Sir  183 Sigonio, Carlo  40 Sirani, Elisabetta  238 Sixtus V., Papst siehe Peretti, Felice Sokrates 411 Sommi, Leone de’ (auch Somi)  128 Spada, Bernardino  181, 187 Spada, Virgilio  387 Spadarino, Giovanni Antonio  4, 5, 30, 78, 80, 83, 106f., 111, 113, 125, 126, 133, 136, 152, 167, 225, 292, 296, 352, Abb. 13, 37, 130, 139 Speroni, Sperone  110, 290, 358 Stanzione, Massimo  168, 328 Stomer, Matthias  281, 386, 388, Abb. 123, 178 Strozzi, Bernardo  29, 30, 211, 281, 385, Abb. 10, 124, 176 Strozzi, Giulio  162 Symonds, Richard  305 T Tasso, Torquato  342 Tesauro, Emmanuele  91 Ter Brugghen, Hendrick  384, 385, Abb. 175 Theokrit 279 Theophilus 180 Tintoretto, Jacopo  125, 187 Titi, Filippo  39 Tiziano Vecellio  112, 116, 129, 239, 240, 242, 243, 246, 253, 311, 320, 346, 359, 391, 397, 398, 399f., 410, 439, Abb. 107, 182 Tornioli, Niccolò  386, 388, Abb. 179 Tournier, Nicolas  217, 220, 224, Abb. 94, 96, 100 Trimalchio 69 Tristán, Luis  419

V Valori, Baccio  242, 243, 359 Varchi, Benedetto  265 Vasari, Giorgio  235, 239, 240, 242, 243, 253–255, 265, 267, 268, 311, 439, 440 Veneto, Bartolomeo  356 Veneziano, Agostino  408, 433, 434, Abb. 184 Veneziano, Domenico  274 Vergil 379 Verino, Ugolino  300, 302 Vermeer van Delft, Jan  177, Abb. 75 Vermiglio, Giuseppe  212, 286f., 287, Abb. 90, 126, 127 Veronese, Paolo  187, 427 Vignali, Jacopo  5, 33, 51, 225, 230, 231–235, 332, 347, 351, 354, Abb. 103, 105 Vignon, Claude  114, 117, 133, 134, 396, Abb. 54, 64

Vitale, Filippo  5, 199, Abb. 86 Vitelli, Pier Francesco  192 Vittrici, Gerolamo  163, 164, 363 Volterra, Daniele da  274 Voragine, Jacobus de  257 Vouet, Simon  229, 246 W Wignacourt, Alof de  87 Z Zaccolini, Matteo  130 Zeuxis 109 Zuccaro, Federico  15, 189, 367, 375 Zwingli, Ulrich  245, 254

Namensregister

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Verzeichnis der Werke Caravaggios Anbetung der Hirten mit den Heiligen Laurentius und Franziskus, ehem. Palermo, San Lorenzo 112–114 Auferstehung Cristi, zerst., ehem. Neapel, S. Anna dei Lombardi  152 Auferweckung des Lazarus, Messina, Museo Regionale  373 Amor Vincitore, Berlin, SMPK, Gemäldegalerie  22, 34, 46, 84–87, 150, 268, 279, 299, 305 f., 309, 344–346, 417, 430, Abb. 14 Bacchus, Florenz, Uffizien  55–62, 67–70, 73 f., 76 f., 84, 91–93,96, 100, 104, 109, 136, 142, 162, 262, 435, Abb. 22 Berufung Matthäi siehe Contarelli-Kapelle Berufung des Saul siehe Cerasi Kapelle Cerasi-Kapelle, Rom, S. Maria del Popolo  101, 112, 152, 159, 272, 380, 401, 408, 417 Berufung des Saul (Erstfassung), Rom, Sammlung Odescalchi  112, 152, 380, 419 f. –  Berufung des Saul (Zweitfassung) (in situ)  101 –  Kreuzigung Petri (in situ)  418 Contarelli-Kapelle, Rom, San Luigi dei Francesi  14, 19, 25, 50, 68, 98, 101, 104, 107, 111–112, 114, 124 f., 152, 163, 219, 272, 279, 363–370, 375 f., 387, 389–393, 400–407, 423, 426–428, 433 Berufung Matthäi (in situ)  13 f., 19, 50 f., 68, 76 f., 98, 101–104, 124 f., 211, 219, 366 f., 369–389, 396–399, 423, 442, Abb. 2 Martyrium Matthäi (in situ)  50 f., 101 f., 107, 111–113, 366, 372, 379, 389–399, 430, 434, 441, Abb. 21 Matthäus und der Engel (Erstfassung), (zerst.; ehem. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum)  19, 24 f., 27 f., 46, 158, 163, 279, 344, 372, 400–440, Abb. 5 Matthäus und der Engel (Zweitfassung) (in situ)  373, 407, 412–417, Abb. 183 David und Goliath, Rom, Galleria Borghese  89 f., 398, Abb. 44 Dornenkrönung, Wien, Kunsthistorisches Museum  97 Emmaus-Mahl, London, The National Gallery  102 f., 271 Hl. Franziskus, Rom, Chiesa dei Cappucchini  97 Hl. Franziskus, Rom, Galleria Barberini  97 Früchtekorb, Mailand, Pinacoteca Ambrosiana  48, 92, 99, 106, Abb. 20 Gefangennahme Christi, Dublin, The National Gallery of Ireland  101, 271, 398 Geißelung Christi, Neapel, Museo Nazionale di Capodimonte  432 Grablegung Christi, Vatikanstadt, Pinacoteca Vaticana  99, 124, 272, 401, 419 Hl. Hieronymos, Rom, Galleria Borghese  148 Hl. Hieronymos, Montserrat (bei Barcelona), Kloster  124 Johannes der Täufer, Kansas City, Nelson-Atkins Museum  101, 104, 283, 288, 304, 344, Abb. 48 Johannes der Täufer, München, Privatbesitz  282, 304 Johannes der Täufer, (zerst., ehem. Neapel, S. Anna dei Lombardi)  282, 304 Johannes der Täufer, Rom, Galleria Borghese  101, 284 f., 304, Abb. 49 Johannes der Täufer, Rom, Galleria Corsini  283 f., 288, 292 304, 432 f., Abb. 125 Johannes der Täufer, Rom, Pinacoteca Capitolina  9, 13–15, 29, 34, 73 f., 150, 163, 270–286, 297, 299, 304–308, 435, 438, 441, Abb. 1 Johannes der Täufer, Toledo, Kathedrale  282, 286, 304 Judith und Holophernes, Rom, Galleria Barberini  104 Kartenspieler, Fort Worth, Kimbell Art Museum  48, 62, 66 f., 346, 369 Hl. Katharina von Alexandrien, Madrid, Museo Thyssen-Bornesmisza  14, 34, 36, 99 f., 124, 136, 152, 154–163, 165, 167 f., 228, 305, 341, 346 f., 353, 363, Abb. 3

Verzeichnis der Werke Caravaggios

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Knabe mit Fruchtkorb („Fruttaiolo“), Rom, Galleria Borghese  59– 61, 67, 101, 104–106, 109, Abb. 23 Knabe, von einer Eidechse gebissen, London, The National Gallery  59–67, 108 f., Abb. 24 Konzert, New York, Metropolitan Museum  59 f. 84, 108, 110, Abb. 25 Kranker Bacchus, Rom, Galleria Borghese  67 f., 70–74, 96 f., 100 f., 110, 148, Abb. 29 Kreuzigung Petri siehe Cerasi-Kapelle Lautenspieler, St. Petersburg, Eremitage und New York, Metropolitan Museum  46, 60–62, 68, 89, 101 f., 109, 345, 346, Abb. 17 Madonna dei Palafrenieri, Rom, Galleria Borghese  19, 104, 136–149, 152, 255, 266, 400–402, 418–420, 428, Abb. 50 Madonna dei Pellegrini (auch: Madonna di Loreto), Rom, Sant’ Agostino  28, 142, 401, 432 f., Abb. 7 Magdalena in Ekstase, Rom, Privatsammlung  247–250, 257, Abb. 108 Hl. Maria Magdalena, Rom, Galleria Doria  101, 136, 154, 156, 161, 162–168, 173, 175, 178, 180, 198, 229 f., 305, 347, 352, Abb. 47 Marientod, Paris, Musée du Louvre  14, 19, 91, 147 f., 152, 400, 420–424, 426 f., Abb. 1 Martha und Magdalena, Detroit, The Detroit Institute of Art  225–230, 363, 379, Abb. 101 Martyrium der hl. Ursula, Neapel, Banca Intesa  105 f., Abb. 51 Martyrium des hl. Andreas, Cleveland, The Cleveland Museum of Art  432 Martyrium Matthäi siehe Contarelli-Kapelle Matthäus und der Engel siehe Contarelli-Kapelle Porträt der Kurtisane „Fillide“, (zerst; ehem. Berlin, Kaiser-Friedrich-Museum)  34, 36, 46, 162, 228, 305, 345, 417, Abb. 16 Porträt von Alof de Wignacourt, Paris, Musée du Louvre  87 f., Abb. 43 Rosenkranzmadonna, Wien, Kunsthistorisches Museum  400 Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, Rom, Galleria Doria Pamphilj  163 f. Schlafender Cupido, Florenz, Galleria Pitti  324 f., 331, Abb. 160 Schlafender Cupido, Indianapolis, Indianapolis Museum of Art  331 f., Abb. 166 Sieben Werke der Barmherzigkeit, Neapel, Pio Monte della Misericordia  111, 203 Trinität, (verloren, ehem. Rom, SS. Trinità dei Pellegrini [?])  19 f., 36, 148, 400 f., 419 Trinkender Johannes der Täufer, Valletta, Sammlung Bonello  286–290, 298, 304, Abb. 128 Ungläubiger Thomas, Potsdam, Staatliche Schlösser und Gärten, Bildergalerie  379, Abb. 172 Verleugnung Petri, New York, Metropolitan Museum  29, 207–215, 229 f., 350, 378, Abb. 9 Wahrsagerin, Paris, Musée du Louvre und Rom, Pinacoteca Capitolina  48 f., 62, 68, 101, 155, 161, 163, 221, 305, 369, Abb. 19

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Verzeichnis der Werke Caravaggios

Bildnachweis Abb. 1: © ROMA – SOVRAINTENDENZA CAPITOLINA AI BENI CULTURALI; Abb. 2: © Wikimedia Commons; Abb. 3: © Wikimedia Commons; Abb. 4: Musée du Louvre; Abb. 5: John T. Spike, Caravaggio, New York/London, 2001, S. 119, Abb. 27; Abb. 6: Emilio Negro, Massimo Pirondini, La Scuola dei Carracci. I seguaci di Annibale e Agostino, Modena 1995, S. 249, Abb. 319; Abb. 7: Sebastian Schütze, Caravaggio. Das vollständige Werk, Köln 2009 S. 144; Abb. 8: © bpkBildagentur/Sammlung Alte Pinakothek; Abb. 9: © Wikimedia Commons; Abb. 10: © Christies/ Bridgeman Images; Abb. 11: © CSG CIC Glasgow Museums and Libraries Collection; Abb. 12: © Wikimedia Commons; Abb. 13: per gentile concessione della Direzione Musei Statali della Città di Roma – Galleria Spada; Abb. 14: © bpk/ Gemäldegalerie, SMB/Jörg P. Anders; Abb. 15: Detroit Institute of Arts; Abb.  16: Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen-Staunen-Glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 163, Abb. 116; Abb. 17: © The State Hermitage Museum; Abb. 18: © Wikimedia Commons; Abb. 19: Musée du Louvre; Abb. 20: © Wikimedia Commons; Abb.  21: ©  Wikimedia Commons; Abb.  22: ©  Wikimedia Commons; Abb.  23: ©  Wikimedia Commons; Abb. 24: © Wikimedia Commons; Abb. 25: The Metropolitan Museum of Art, New York; Abb.  26: The Metropolitan Museum of Art, New York; Abb.  27: Fondazione Longhi; Abb. 28: Ulrich Pfisterer & Max Seidel, Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, München 2003, S. 38, Taf. VII; Abb. 29: Mia Cinotti, Caravaggio. La vita e l’opera, Bergamo 1991, S. 8; Abb. 30: Photograph © [2021] Museum of Fine Arts, Boston; Abb. 31: Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen –Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 58, Abb. 27; Abb. 32: © Wikimedia Commons; Abb. 33: © Wikimedia Commons; Abb. 34: Annick Lemoine, Nicolas Régnier, v. 1588–1667, Nantes 2017, S. 218; Abb. 35: © The State Hermitage Museum; Abb. 36: Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom/Enrico Fontolan; Abb.  37: ©  Galleria degli Uffizi; Abb.  38: ©  Wikimedia Commons; Abb. 39: Cherbourg-en-Cotentin, musée Thomas Henry; Abb. 40: Joanna WiniewiczWolska, Dutch Painting in the Collections of the Wawel Royal Castle, Krakau 2001, S. 98, Abb. 34; Abb. 41: © Getty Images; Abb. 42: Imperial Paintings from Prague (Ausst.-Kat. Maastricht, Bonnefanten-Museum 2001), hg. v. Eliska Fucíková u. Derk H. van Wegen, Gent 2001, S. 121; Abb. 43: © Wikimedia Commons; Abb. 44: © Wikimedia Commons; Abb. 45: Annick Lemoine, Nicolas Régnier, v. 1588–1667, Paris 2007, S.  47; Abb.  46: Giovanni Romano, Percorsi caravaggeschi tra Roma e Piemonte, Turin 1999, Taf. 21; Abb.  47: Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 66, Abb. 31; Abb. 48: © Wikimedia Commons; Abb.  49: ©  Wikimedia Commons; Abb.  50: MiBACT-Galleria Borghese; Abb. 51: Piero Boccardo, L’ultimo Caravaggio. Il Martirio di Sant’ Orsola restaurato, Collezione Banca Intesa, Milano 2004, S.  56; Abb.  52: ©  Scalaarchives; Abb.  53: ©  Wikimedia Commons; Abb. 54: Riccardo Lattuada, Francesco Guarino da Solofra nelle pittura del Seicento 1611–1651, Neapel 2000, S. 117, Abb. A2, Abb. 67; Abb. 55: Claude Vignon: 1593–1670 (Ausst.-Kat. Tours, Musée des Beaux-Arts/Arras, Musée des Beaux-Arts/Toulouse, Musée des Augustins 1993/94), hg. v. Paola Pacht Bassani, Paris 1993; Abb. 56: Wiebke Windorf, Sakrale Historienmalerei in St. Peter in Rom, Regensburg 2006, S.  230, Taf. 2; Abb.  57: ©  Wikimedia Commons; Abb.  58: ©  Getty Images; Abb. 59: Annelies Amberger & Philine Helas, Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 32; Abb. 60: Joseph Furttenbach, Mannhaffter KunstSpiegel oder Continuatio, und Fortsetzung allerhand mathematisch- und Mechanisch-hochnutzlich sowol auch sehr erfrölichen delectationen, und respective im Werck selbsten experimentirten freyen Künsten, Augsburg 1663, S. 125 f.; Abb. 61: Maryvelma Smith O’Neill, Giovanni Baglione. Artistic Reputation in Baroque Rome, Cambridge 2002, S. 148, Abb. 94; Abb. 62: Sabbattini, Prattica/Anleitung, Kap. 37, S. 58 und 208; Abb. 63: Guido Cagnacci (Ausst.-Kat. Rimini, Museo della Città 1993), hg. v. Daniele Benati & Marco Bona Castellotti, Mailand 1993; Abb. 64: © Wikimedia

Bildnachweis

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Commons; Abb. 65: Stefano Causa, Battistello Carracciolo. L’opera completa, Napoli 2000, S. 217, Abb.  172; Abb.  66: ©  Scalaarchives; Abb.  67: ©  Wikimedia Commons; Abb.  68: Art Institute Chicago; Abb. 69: Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen –Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 121, Abb. 77; Abb. 70: Royal Collection Trust/© Her Majesty Queen Elizabeth II 2019; Abb. 71: Museum Oldenburg; Abb. 72: © Musée d’Arts de Nantes/Cécile Clos; Abb.  73: Europeana Collection; Abb.  74: Musée du Louvre/ RMN-Grand Palais/ Jean-Gilles Berizzi; Abb.  75: ©  Wikimedia Commons; Abb.  76: Alte Galerie/ Universalmuseum Joanneum GmbH; Abb.  77: Gianni Papi, Antiveduto Grammatica, Soncino 1995, S.  54, Taf. XII; Abb.  78: Musei Statali della Città di Roma – Galleria Spada; Abb.  79: ©  Wikimedia Commons; Abb.  80: © Musée d’arts de Nantes/A. Guillard; Abb. 81: © Wikimedia Commons; Abb. 82: The John and Mable Ringling Museum of Art the State Art Museum of Florida; Abb. 83: © Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden/Elke Estel/Hans-Peter Klut; Abb.  84: Mina Gregori, Uffizien und Palazzo Pitti. Die Gemäldesammlungen von Florenz, München 1994, S. 398, Abb. 526; Abb. 85: Andrea Ulivi, Il Museo Horne. Una casa fiorentina del Rinascimento, Florenz 2001, S. 57; Abb. 86: © Alamy; Abb. 87: Stefano Causa, Battistello Carracciolo. L’opera completa, Napoli 2000, S. 243, Abb. 207; Abb. 88; 89: Helmut Philipp Riedl, Antiveduto della Grammatica (1570/71–1626). Leben und Werk, München/Berlin 1998, S. 114, Abb. 3; S. 113f., Abb. 19; Abb. 90: Giuseppe Vermiglio 2000, S. 87, Abb. 3; Abb. 91: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen; Abb. 13; Abb. 92: © Alamy; Abb. 93: Annick Lemoine & Keith Christiansen, Valentin de Boulogne. Beyond Caravaggio, New Haven/London 2016, S. 119, Abb. 14; Abb. 94: © Wikimedia Commons; Abb. 95: La luce del vero: Caravaggio, La Tour, Rembrandt, Zurbarán (Ausst.-Kat. Bergamo, Galleria d’Arte Moderna e Contemporanea 2000), hg. v. Jean-Robert Armogathe, Bergamo 2000, S.  109; Abb.  96: ©  Wikimedia Commons; Abb.  97: © Wikimedia Commons; Abb. 98: Staatliche Gemäldegalerie Dresden; Abb. 99: Marina Mojana, Valentin de Boulogne, Mailand 1989, S.67 Abb. 7; Abb. 100: © akg-images; Abb. 101: Jürgen Harten & Jean-Hubert Martin, Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung, Ostfildern, 2006; Abb. 102: Fondazione Zeri; Abb. 103: © National Gallery of Ireland; Abb. 104: © Alamy; Abb. 105: Michael Wynne, Later Italian Paintings in the National Gallery of Ireland, Dublin 1986, S.128f., Abb. 168; Abb. 106: © Wikimedia Commons; Abb. 107: Filippo Pedrocco, Tizian, München 2000, S. 156, Abb. 96; Abb. 108: Jürgen Harten, Jean-Hubert Martin: Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung, Düsseldorf 2006, S. 193, Abb. 35; Abb. 109: Avigdor W.G. Posèq, The Composite „Pathosformel“ of Caravaggio’s St. Mary Magdalene in Ecstasy, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 44 (1991), S. 121–130; Abb. 110; 111: Caravaggio. L’ultimo tempo 1606– 1610 (Ausst.-Kat. Napoli, Museo Capodimonte/London, National Gallery 2004/05), hg. v. Nicola Spinosa, Neapel 2004, S. 164f., Abb. 25b; Abb. 112; S. 164; Abb. 112: Piergiorgio Pasini, Guido Cagnacci, Rimini 1986, Abb.  40; Abb.  113: Jacques Darriulat, Sebastien Le Renaissant. Sur le martyre de Saint Sébastien dans la deuxième moitié du Quattrocento, Paris 1998, S. 208; Abb. 114: Anna Ottani Cavina, Carlo Saraceni, Mailand 1968 S. 111, Abb. 51 und S. 31f.; Abb. 115: Charles Avery, Bernini, München 1998, S. 149; Abb. 116: Cecco Papi, Cecco del Caravaggio, Soncino 2001, S. 42; Abb. 117: Palmer Museum of Art of the Pennsylvania State University; Abb. 118: MiBACTGalleria Borghese; Abb. 119: Galleria degli Uffizi; Abb. 120: © Musée du Louvre/ RMN-Grand Palais/ Martine Beck-Coppola; Abb.  121: ©  Wikimedia Commons; Abb.  122: ©  Wikimedia Commons; Abb. 123: Alfred Moir, Caravaggio and His Copyists 1976, S. 87, Abb. 16a; Abb. 124: Bernardo Strozzi. Genova 1581/82 – Venezia 1644 (Ausst.-Kat. Genova, Palazzo Ducale 1995), hg. v. Giuliana Algeri, Mailand 1995, S. 140, Abb. 22; Abb. 125: Bibliotheca Hertziana – Max-PlanckInstitut für Kunstgeschichte, Rom /Enrico Fontolan; Abb. 126: Marco G. Bascapè, Il tesoro dei poveri. Il patrimonio artistico delle istituzioni pubbliche di assistenza e beneficen, Mailand 2001, S. 284, Abb. 290; Abb. 127: Daniele Pescarmona, Giuseppe Vermiglio un pittore caravaggesco tra Roma e la Lombardia, Genf 2000, S.  123; Abb.  128: ©  Wikimedia Commons; Abb.  129: ©  The National Gallery; Abb. 130: Gianni Papi, Spadarino, Soncino 2003, S. 60, Taf. XIV; Abb. 131: Caravaggio& His World. Darkness & Light (Ausst.-Kat. Sydney, Art Gallery of New South Wales/ Melbourne, National Gallery of Victoria 2003/4), hg. v. Sergio Benedetti, Sydney 2003, S.  150, Abb.  36; Abb.  132; 133: Stefano Causa, Batitistello Caracciolo, l’opera completa, Napoli 2000,

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S. 226, Abb. 181; S. 265, Abb. 236; Abb. 134: Svetlana N. Vsevolozhskaya, Caravaggio und seine Nachfolger in Museen der Sowjetunion, St. Petersburg 1993; Abb.  178; Abb.  135: ©  Flickr; Abb. 136: Galleria Colonna; Abb. 137: Causa, Stefano, Batitistello Caracciolo, l’opera completa, Napoli 2000, S.246, Abb.  212; Abb.  138: Nadia Bastogi & Rita Iacopino, Dopo Caravaggio. Il Seicento napoletan nelle collezioni di palazzo Pretorio e della Fondazione de Vito, Prato 2019, S. 107; Abb. 139: Gianni Papi, Spadarino, Soncino 2003, S. 148, Abb. 28, Taf. XLI; Abb. 140: © bpkBildagentur/RMN-Grand Palais/René-Gabriel Ojéda; Abb.  141: Papi Gianni, Cecco del Caravaggio, Soncino 2001, S.  123f., Abb.  9; Abb.  142: Sybille Ebert-Schifferer: Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben. Der Maler und sein Werk, München 2009, S. 238, Abb. 173; Abb. 143: Frank Zöllner, Leonardo da Vinci. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen, Köln, 2003, S. 198; Abb. 144: Mina Gregori, Uffizien und Palazzo Pitti, Die Gemäldesammlungen von Florenz, München 1994, S. 193, Abb. 241; Abb. 145: Manuela Kahn-Rossi, Pier Francesco Mola 1612–1666, Mailand 1989, S. 185; Abb. 146: Gianluigi Colalucci, Michelangelo. La Cappella Sistina. Documentazione e Interpretazioni, Rom 1994, Bd. 1, Abb. 19.1; Abb. 147: Anna Ottani Cavina, Un dipinto di Cecco del Caravaggio, in: Studi di storia dell’arte in onore di Mina Gregori, Cinisello Balsamo 1994, S.  158–160; Abb.  148: D. Stephen Pepper, Guido Reni, l‘opera completa, Novara 1988, S.  330f., Abb.  17 und Abb.11; Abb.  149: Oreste Ferrari, Sul tema del presagio della Passione, e su altri connessi, principalmente nell’età della ‚riforma cattolica‘, in: Storia dell’arte 61 (1987), S. 201–224, fig. 20; Abb. 150: The Metropolitan Museum of Art, New York; Abb. 151: Patrizia Masini, in: Il Giovanni Battista ritrovato 2001, S. 42f., Abb. 6; Abb. 152: © Galleria degli Uffizi; Abb. 153; 154: D. Stephen Pepper, Guido Reni, l‘opera completa, Novara 1988, S. 338, Abb. 57; S. 333f., Abb. 25; Abb.  155: ©  Gallerie Nazionali di Arte Antica (MIBACT); Abb.  156: Nina Gockerell, Das Pas­sions­kind und schlafende Jesulein, in: Il bambino Gesù. Italienische Jesuskindfiguren aus drei Jahrhunderten. Sammlung Hiky Mayr (Ausst.-Kat. Nürnberg, Bayrisches Nationalmuseum 1997/98), bearb. v. ders., München 1997, S. 52, Abb. 39; Abb. 157: Bibliotheca Hertziana – MaxPlanck-Institut für Kunstgeschichte, Rom /Enrico Fontolan; Abb. 158: Andrea G. De Marchi & Cinisello Balsamo, Collezione Doria Pamphilj, Catalogo generale dei dipinti, Mailand 2016, S. 313; Abb. 159: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe; Abb. 160: Galleria degli Uffizi; Abb. 161: Royal Collection Trust/© Her Majesty Queen Elizabeth II 2019; Abb. 162: © Wikimedia Commons; Abb. 163: Museo del Prado; Abb. 164: Daniele Benati & Pierluigi Giordano, Stanze bolognesi. La Collezione Lauro, Bologna 1994, S. 72, Abb. 23; Abb. 165: © akg-images, Abb. 166: Indianpolis Museum of Art; Abb. 167: Terisio Pignatti & Filippo Pedrocco, Giorgione, Mailand 1999, S. 132 und 193, Fig. 15; Abb.  168: ©  bpk-Bildagentur/SMPK Gemäldegalerie; Abb.  169: ©  Fondazione Caetani/ Francesco Cantone; Abb. 170: Herwarth Röttgen, Il Cavaliere Giuseppe Cesari D’Arpino, Rom 2002, S. 250–253, Abb. 29; Abb. 171: Heinrich W. Pfeiffer, Die Sixtinische Kapelle neu entdeckt, Stuttgart 2007, Abb. 19.1; Abb. 172: Caravaggio in Preußen. Die Sammlung Giustiniani und die Berliner Gemäldegalerie (Ausst.-Kat. Berlin, Altes Museum; Roma, Palazzo Giustiniani 2001), hg. v. Silvia Danesi Squarzina, Mailand 2001, S.  279; Abb.  173: Benedict Nicolson, Caravaggism in Europe, Turin 1990, Bd. 3, Abb.  928; Abb.  174: Museum Catharijneconvent; Abb.  175: Albert Blankert, Holländische Malerei in neuem Licht. Hendrick ter Brugghen und seine Zeitgenossen, Braunschweig 1986, S. 91; Abb. 176: © Alamy; Abb. 177: Stefano Causa, Battistello Caracciolo, Neapel 2000, S. 305, Abb. 103; Abb. 178: Sinners and Saints. Darkness & Light. Caravaggio and his Dutch & Flemish Followers (Ausst.-Kat. Raleigh, Noth Carolina Museum of Art/Milwaukee, Milwaukee Art Museum/Dayton, Dayton Art Institute 1998/99), hg. v. Dennis P. Weller, Raleigh 1998, S. 194, Abb. 36; Abb. 179: © Alamy; Abb. 180: © Alamy; Abb. 181: Patrizia Tosini, Girolamo Muziano 1532 – 1592. Dalla Maniera alla Natura, Rom 2008, S.  284, Abb.  262; Abb.  182: The Metropolitan Museum of Art, New York; Abb. 183: © Wikimedia Commons; Abb. 184: © Wikimedia Commons; Abb. 185: Caravaggio y la pintura realista europea (Ausst-Kat. Barcelona, Museo Nacional d’Art de Catalunya 2005), hg. v. José Milicua und Mariá Margarita Cuyàs, Barcelona 2005, S. 198–201, Abb. 43; Abb. 186: Richard Spear, Renaissance and Baroque Paintings from the Sciarra and Fiano Collections, Rom 1972, S. 32, Abb. 13; Abb. 187: © Alamy; Abb. 188: Christoph Luitpold Frommel, La Villa Farnesina a Roma, Modena 2003, S. 84, Abb. 53; Abb. 189: © Alamy; Abb. 190: Bernard Andreae, Skulptur des Hellenismus, München 2001, S. 92, Taf. 47.

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ISBN 978-3-11-065235-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066780-6

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