Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung: Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300 3534257537, 9783534257539

Um 1300 vollzog sich in der italienischen Kunst ein tief greifender Wandel der Bildauffassung, der sich in den Gemälden

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German Pages 176 [174] Year 2013

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1. Einführung
2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung
3. Revision der Auffassung von den Aufgaben und dem Status des Bildes
4. Der Wandel der Darstellung von Körpern in der Malerei und die Lehren der Optik
5. „Architekturkörper“ und Landschaft in Assisi, Rom und Padua
6. Licht und Farbe in den Bildern
7. Die Weiterentwicklung der Darstellungsmittel: Giotto, Assisi und Siena
8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos
9. Philosophische und künstlerische Raumkonzepte
10. Bild und Augenblick
11. Die neue Bildauffassung
Literaturverzeichnis
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Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung: Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300
 3534257537, 9783534257539

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Frank Büttner

Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: // dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaft liche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Umschlagabbildung: Giotto: Christus vor Kaiphas, Padua, Arena-Kapelle Satz: Janß GmbH, Pfungstadt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-25753-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73514-3 eBook (epub): 978-3-534-73515-0

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung . . . . . . . . . . .

15

3. Revision der Auffassung von den Aufgaben und dem Status des Bildes . . . . .

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4. Der Wandel der Darstellung von Körpern in der Malerei und die Lehren der Optik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. „Architekturkörper“ und Landschaft in Assisi, Rom und Padua . . . . . . . . .

51

6. Licht und Farbe in den Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

7. Die Weiterentwicklung der Darstellungsmittel: Giotto, Assisi und Siena . . . .

86

8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 9. Philosophische und künstlerische Raumkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 10. Bild und Augenblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 11. Die neue Bildauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Vorwort Vorwort

Um 1300 vollzog sich in der italienischen Kunst ein tiefgreifender Wandel, dessen wichtigstes Ergebnis als „Revolution des Bildes“ bezeichnet werden kann. Der Florentiner Giotto di Bondone, der unbestritten als Schlüsselfigur dieses Wandels gilt, hat mit seinen Altarbildern und Fresken die Auffassung von dem, was ein Bild ist, was es leisten kann und soll, auf eine neue Grundlage gestellt und damit für die Entwicklung der Malerei die Wege eröffnet, die in die Neuzeit führen sollten. Für die Kunstgeschichte, die sich als wissenschaft liche Disziplin erst im 19. Jahrhundert etablierte, deren Wurzeln aber bis in die Renaissance reichen, war es schon immer eine große Herausforderung, Ursachen und Motive dieses epochalen Wandels zu erklären. Solange die Kunstgeschichte als Geschichte der Künstler aufgefasst und beschrieben wurde, konnte jeder Wandel, jeder Entwicklungsschritt der Kunst als Tat eines Genies ausgegeben werden. Doch erklärt wurde der Wandel damit nicht. Auch die Stilgeschichte, die neben das Konzept der Künstlergeschichte trat, konnte den Wandel zwar besser registrieren, aber letztlich genauso wenig erklären, auch dort nicht, wo sie mit Alois Riegl den Stilwandel als einen autonomen Prozess begriff, der von einem imaginären, überpersönlichen „Kunstwollen“ gesteuert wurde, denn natürlich drängte sich die Frage auf, wovon denn die Ausrichtung des Kunstwollens wiederum abhängt. Nach Riegl folgte das Kunstwollen einem Wandel in der Geschichte der sinnlichen Wahrnehmung, der von der Dominanz haptischer zur Dominanz optischer Wahrnehmung führte. Da Riegl seine Begriffe aus der Analyse der Werke gewann, ist jeder Versuch, mit ihnen den Wandel in der Erscheinung dieser Werke zu erklären, ein Zirkelschluss. Ein anderer Weg zur Erklärung des Wandels wurde mit dem Konzept der „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte“ beschritten. Max Dvořák, der prominenteste Vertreter dieses methodischen Konzeptes, glaubte die Gründe für den Stilwandel, für den Giotto steht, in einem Wandel vom Idealismus zum Naturalismus zu finden, der ein neues Verhältnis zur Natur und zur Kunst begründete. Dass ein neuer Blick auf die Natur zu einer neuen Kunst führe, ist ein altes, schon in der Antike vorgebrachtes Erklärungsmuster. Doch mit gutem Recht ist dem von Ernst Gombrich und anderen entgegen gehalten worden, dass zunächst Wege gefunden werden müssen, den neuen Blick auf die Natur in ein Kunstwerk umzusetzen. Es müssen die tradierten und eingeübten Gestaltungsschemata überwunden und neue Schemata entwickelt werden. Die Frage bleibt, wie diese Umsetzung möglich ist, wie sie historisch fundiert erklärt werden kann. Grundlage des hier vorgelegten neuen Erklärungsversuches ist die Überzeugung, dass jedem Kunstwerk notwendigerweise eine mehr oder weniger bestimmte Vorstellung vorausgeht. Das Kunstwerk wird, bevor es geschaffen wird, gedacht. Die initialen, konstitutiven Vorstellungen von den Werken sind in den verschiedenen Kunstgattungen unterschiedlich ausgerichtet. So werden bei einem Werk der Architektur die Gedanken an Stabilität und Zweckbestimmung die weiteren Überlegungen lenken. Auch bei Bildern

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Vorwort

sind Aufgabe und Funktion wichtig, doch ebenso wichtig ist die Frage, wie das Bild gesehen wird. Diese elementare Frage der Bildwahrnehmung konkurriert mit der Frage nach dem kulturellen Gebrauch. Sicherlich gab es Phasen der kunstgeschichtlichen Entwicklung, in denen sich die Künstler diese Frage nicht gestellt haben, weil ihnen die damit verbundene Problematik nicht bewusst war oder weil sie die Frage für beantwortet hielten. Dann arbeiteten sie sozusagen auf der Grundlage eines Vorurteils, das ihre Gestaltungsentscheidungen lenkte. Es kam aber auch immer wieder vor, dass sich Künstler diese Frage ganz bewusst gestellt und für sich beantwortet haben. Die Kunst der Moderne, aber nicht nur sie, bietet dafür Beispiele in großer Zahl. Ob unbewusst oder bewusst: seine Vorstellung vom Sehen ist für den bildenden Künstler von zentraler Bedeutung, nicht nur im Hinblick auf die Rezeption seines Werkes, das ja gesehen werden soll, sondern auch für den Produktionsprozess, der – zumindest in der die Natur „nachahmenden“ Kunst – immer auch die Frage impliziert, wie der Künstler diese Natur sieht. Diese Vorstellung vom Sehen ist keine absolute, ewig gültige Idee im Sinne der platonischen Philosophie. Sie ist, wie Philosophie und Wissenschaftsgeschichte lehren, auch keine anthropologische Konstante, denn der naturgegebene physiologische und psychologische Ablauf des Sehvorganges ist zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich erklärt worden und von diesen Erklärungen sind die Konzeptualisierungen der Künstler jeweils ausgegangen. Dem Wandel der Kunst um 1300 ging ein umfassender Wandel des philosophischen Denkens in Europa voraus. Im Zuge der Rezeption der Philosophie des Aristoteles hat man sich weit intensiver als in den Jahrhunderten davor mit Fragen der Psychologie und Naturphilosophie beschäftigt. Wie die zahlreichen Kommentare zur aristotelischen Schrift über die Seele belegen, fanden die Fragen nach Wesen und Tätigkeit der Seele und der Wahrnehmungsleistung der Sinne ein besonders großes Interesse. In diesem Kontext kam es zu einem grundsätzlichen Wandel in der Auffassung vom Sehen. Man studierte intensiv die überlieferten Texte der antiken und arabischen Optik. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden von Roger Bacon, John Pecham und Witelo umfangreiche Traktate zur Optik verfasst, in denen eine neue Lehre vom Sehen entfaltet wurde, die bald schon an den Universitäten gelehrt wurde und bis in das 17. Jahrhundert hinein Bestand haben sollte. These der vorliegenden Arbeit ist es, dass in diesen Lehren der Optik eine wesentliche Voraussetzung für den Wandel der Kunst um 1300 zu finden ist. Die Perspectiva, so ihr lateinischer Name, lehrte, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ein Betrachter Körper, ihre Größe und Formen, ihre Entfernung und ihre Abstände untereinander irrtumsfrei erkennen kann. Auf dieser Grundlage wurde die neue Bildauffassung entwickelt, die mit dem Begriff des „perspektivischen Bildes“ bezeichnet werden kann. Den Lehren der Optik entsprechend ist „Perspektive“ mehr als das im 15. Jahrhundert entwickelte Konstruktionsverfahren, auf das der Begriff allzu oft reduziert wird. Die Wirkung des „perspektivischen Bildes“ beruht primär auf der Wahrnehmung von Farbe und Licht. Der Revolution des Bildes, die vor allem Giotto mit seinen Werken vollbrachte, lag eine grundsätzlich neue Auffassung vom Sehen zugrunde. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle bisherigen Erklärungsversuche obsolet sind. Die Entwicklung der kunstwissenschaft lichen Methoden verläuft komplementär. Neue Zugriffsweisen und Fragestellungen ersetzen nicht die vorausgehenden Verfahren, sondern versuchen die „weißen

Vorwort

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Flecken“, die diese auf der Landkarte des kunsthistorischen Wissens hinterlassen haben, auszufüllen. So soll auf dem hier eingeschlagenen Weg einer Verbindung von Kunstgeschichte und Wissenschaftsgeschichte auf eine der Voraussetzungen, aber eine entscheidend wichtige und bislang nicht angemessen gewürdigte Voraussetzung des epochalen Wandels der Kunst um 1300 hingewiesen werden. Damit wird zugleich ein methodisches Konzept aufgegriffen, das als ein unvollendetes Projekt der Kunstwissenschaft gelten kann: Kunstgeschichte als Geschichte des Sehens. Wie Alois Riegl mit seiner Erklärung des Kunstwollens hat auch Heinrich Wölfflin das Problem der Stilentwicklung mit den Wandlungen in der Geschichte des Sehens erklären wollen. Wie Riegl kam er nicht zum Ziele, weil er seine Grundbegriffe, mit denen er die unterschiedlichen Sehweise erfassen wollte, aus den Kunstwerken deduzierte, um sie dann wieder zur Erklärung der jeweiligen stilistischen Eigenart einzusetzen. Die Anbindung an Wissenschaftsgeschichte bietet einen alternativen Zugang zur Geschichte des Sehens, der die Historizität der Vorstellungen vom Sehen erschließt und damit historische Zugänge zu den Werken der Kunst und der ihnen zugrunde liegenden Bildauffassung ermöglicht. Meine Freunde und viele Kollegen wie auch die Studierenden, die meine Lehrveranstaltungen an den Universitäten in Kiel und München besucht haben, wissen, dass mich der Gegenstand der hier vorgelegten Studie seit vielen Jahren beschäftigt hat. Die Diskussionen, die ich in meinen Seminaren und im Anschluss an meine an zahlreichen Orten gehaltenen Vorträge führen konnte, haben sehr dazu beigetragen, meine Thesen zu klären und zu schärfen. Ganz besonders möchte ich mich bei Robert Suckale, Lars Olof Larsson, Götz Pochat, Max Seidel und Klaus Bergdolt, Lieselotte E. Saurma und Michael Viktor Schwarz für ihre Anregungen und ihre Unterstützung bedanken. Andrea Gottdang danke ich ganz herzlich für die gründliche und kritische Durchsicht des Manuskriptes. Meine Mitarbeit im Sonderforschungsbereich 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München hatte zwar eine spätere Phase der Entwicklung des perspektivischen Bildes zum Gegenstand, hat aber meine Studien zu dessen Ursprüngen vielfach befruchtet. Im Frühjahr 2010 gab mir ein dreimonatiger Studienaufenthalt am Kunsthistorischen Institut in Florenz (MaxPlanck-Institut) die Möglichkeit meine Material- und Literaturrecherchen abzuschließen, wofür ich den Direktoren Professor Dr. Gerhard Wolf und Professor Dr. Alessandro Nova überaus dankbar bin. Dem Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort danke ich für den Druckkostenzuschuss, der das Erscheinen dieses Buches erst möglich gemacht hat.

1. Einführung 1. Einführung

In der italienischen Malerei vollzog sich um 1300 ein epochaler Wandel, mit dem der europäischen Kunst neue Wege gewiesen wurden. Diese Feststellung ist in der Kunstgeschichtsschreibung ein wohlbekannter und immer wieder neu bekräftigter Topos, für den erste Belege bereits im 14. Jahrhundert zu finden sind. In seinem gegen 1390 abgeschlossenen Werk ‘De origine civitatis florentie, et de eiusdem famosis civibus’ schrieb Filippo Villani, dass Cimabue die antike Malerei wieder erneuert habe, nachdem sie durch viele Jahrhunderte hindurch im Dienst einer plumpen Praxis daniedergelegen und sich immer mehr von der Naturähnlichkeit entfernt habe. Giotto, „der nicht nur mit den antiken Malern zu vergleichen, sondern ihnen vorzuziehen ist“, habe der Malerei dann endgültig „ihre alte Würde und ihren sehr guten Namen wiedergegeben“. Denn „seine Bilder stimmen so mit den Umrissen der Natur überein, dass sie dem Betrachter zu leben und zu atmen scheinen, indem sie auch Handlungen und Gesten so charakteristisch abzubilden scheinen, als ob sie sprechen, weinen, sich freuen oder anderes tun, so dass sie nicht ohne Vergnügen des Betrachters, der die geschickte Hand des Künstlers lobt, angeschaut werden: viele – und nicht die Dümmsten – meinen nämlich, dass die Maler von nicht geringerer Begabung sind als jene, die durch die artes liberales zu Magistern wurden …“.1 Villani bekräft igte und differenzierte, was vor ihm schon Boccaccio in seinem ‘Decameron’ über Giotto geschrieben hatte: „… er war mit so vorzüglichen Talenten begabt, dass die Natur […] nichts hervorbringt, was er mit Griffel, Feder oder Pinsel nicht dem Urbild so ähnlich darzustellen gewusst hätte, dass es nicht als ein Abbild, sondern als die Sache selbst erschienen wäre, weshalb denn der Gesichtssinn der Menschen nicht selten

1 Filippo Villani, De origine civitatis florentie, et de eiusdem famosis civibus, cap. XXVI: „De plerisque pictoribus florentinis famosis et presertim de Giotto artis predicte iam deperite restauratore.“ „Inter quos primus Johannes, cui cognomento Cimabue dictum est, antiquatam picturam et a nature similitudine quasi lascivam et vagantem longius arte et ingenio revocavit. Siquidem ante istum grecam latinamque picturam per multa secula sub crasse peritie ministerio iacuisse, ut plane ostendunt figure et imagines que in tabellis parietibusque cernuntur sanctorum ecclesias adornare. Post hunc, strata iam in novis via, Giottus, non solum illustris fame decore antiquis pictoribus comparandus, sed arte et ingenio preferendus, in pristinam dignitatem nomenque maximum picturam restituit. Huius enim figurate radio imagines ita lineamentis nature conveniunt, ut vivere et aerem spirare contuentibus videantur, exemplares etiam actus gestusque conficere adeo proprie, ut loqui, flere, letari et alia agere, non sine delectatione contuentis et laudantis ingenium manumque artificis prospectentur: extimantibus multis, nec stulte quidem, pictores non inferioris ingenii his, quos liberales artes fecere magistros, cum illi artium precepta scripturis demandata studio atque doctrina percipiant, hii solum ab alto ingenio tenacique memoria, que in arte sentiant, exigant.“ (Zit. nach: Schwarz / Theis 2004, S. 288).

1. Einführung

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irregeleitet ward und für wirklich hielt, was nur gemalt war.“2 Villani bezog sich zugleich auf Petrarcas Diagnose, der Giotto wie Simone Martini an die Seite der antiken Meister gestellt hatte, als Exempel der Rückbesinnung auf die antiqui und der Überwindung der Verirrungen des medii aevi.3 Das zentrale Argument, die Rückkehr der Kunst zur Naturnähe, wurde später von Ghiberti noch verstärkt, der an den Anfang seines Berichtes über den Wiederaufstieg der Kunst in der Toskana die Legende von der Entdeckung Giottos durch Cimabue stellte. Giotto, der Hirtenjunge gewesen sein soll, habe auf einen Stein ein Schaf gezeichnet und Cimabue habe sofort Giottos außerordentliche, „von der Natur“ empfangene Begabung erkannt.4 Hinter dieser Legende steht ein schon in der Antike nachweisbarer Topos von der Natur als der einzigen Lehrmeisterin der Kunst.5 Auch Vasari berichtete diese Legende.6 Zum Topos wurde auch das von Villani vorgebrachte Lob der lebendigen Affektdarstellung, das Alberti mit seiner Bewunderung für Giottos „Navicella“ bekräft igte.7 „Naturalismus“ oder „Realismus“ wurden zum zentralen Charakteristikum der Kunst Giottos erklärt, der zugleich immer mehr zu der Schlüsselfigur des Wandels wurde, mit dem der Weg zur Renaissance eröffnet wurde. Die Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhundert hat dieses Urteil vielfach bestätigt.8 Zugleich wurden neue Akzente gesetzt. Hier ist vor allem auf Theodor Hetzer hinzuweisen, der die Begründung des neuzeitlichen Bildbegriffs als Giottos epochale Leistung herausstellte.9 Zunehmend größeres Gewicht in der Beurteilung der Leistung Giottos erhielten in jüngerer Zeit seine Neuerungen in der „Raumdarstellung“, insbesondere seit Panofskys Aufsatz über ‘Die Perspektive als ‘symbolische’ Form’, in dem es heißt, dass Giotto und Duccio „die moderne perspektivische Raumanschauung“ begründet hätten. Ihr Werk 2

Giovanni Boccaccio, Decameron, (Tutte le opere, hrsg. von Vittore Branca, Bd. IV), Mailand 1976, S. 550 f. „e l’altro, il cui nome fu Giotto, ebbe uno ingegno di tanta eccellenzia, che niuna cosa dà la natura, madre di tutte le cose e operatrice col continuo girar de’ cieli, che egli con lo stile e con la penna o col pennello non dipignesse sì simile a quella, che non simile, anzi più tosto dessa paresse, in tanto che molte volte nelle cose da lui fatte si truova che il visivo senso degli uomini vi prese errore, quello credendo esser vero che era dipinto.“ 3 Ulrich Pfisterer: Donatello und die Entdeckung der Stile 1430–1445, München 2002, S. 80– 82; Karlheinz Stierle: Francesco Petrarca, ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts, Darmstadt 2003, S. 749–752. 4 Ghiberti/Bartoli 1998, S. 83; vgl.: Ernst Kris; Otto Kurz: Die Legende vom Künstler, ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt / M. 1980; Schwarz / Theis 2004, S. 14–18. 5 Plinius, Naturalis historia, XXXIV. XIX, 61. 6 Vgl. Schwarz / Theis 2004, S. 303–324. 7 Alberti / Bätschmann 2000, S. 272 (De pictura, II,42) 8 Beispielsweise bei Robert Oertel: Die Frühzeit der italienischen Malerei, Stuttgart [u. a.] 1966, S. 9: „… so steht Giotto am Anfang einer viele Jahrhunderte umspannenden Entwicklung der Malerei“; oder Alastair Smart: The dawn of Italian painting, 1250–1400, Oxford 1978, S. 1: „… in the years around 1300 the artists had begun to explore the natural world as had scarcely been done since classical antiquity – creating a convincing pictorial space, modelling figures in the round and giving them live, and introducing firmly designed buildings and enchanting passages of landscape“. 9 Hetzer 1960, passim.

1. Einführung

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markiere den entscheidenden historischen Wendepunkt, an dem „das an der Architektur und namentlich an der Plastik erstarkte nordisch-gotische Raumgefühl sich der in der byzantinischen Malerei nur bruchstückweise bewahrten Architektur und Landschaftsformen [scil. der antiken Malerei F. B.] bemächtigt und zu einer neuen Einheit zusammenschweißt“.10 Mit dieser stilgeschichtlichen Begründung des Wandels wird man sich heute nicht mehr zufrieden geben können. Doch erstaunlicherweise hat man nach konkreten Gründen, die hinter dem Wandel stehen könnten, kaum gefragt. Aus der Sicht einer autonomen Stilgeschichte hat die Wiederentdeckung und Inkraftsetzung des antiken Postulates der Naturnachahmung die Entwicklung geradezu zwangsläufig in Gang gebracht. Die Raumdarstellung Giottos und Duccios wird dabei als erster Schritt hin zur Entwicklung der linearperspektivischen Konstruktion gesehen. Das ist eine teleologische Sicht, die höchst fragwürdig ist. Die linearperspektivische Konstruktion, die erstmals von Alberti 1435 kodifiziert wurde, wird zum absolut gültigen Gesetz erhoben und jedes Werk wird daran gemessen, ob es in der Entwicklungslinie steht, die zur Perspektive hinführt, ob es einen Fortschritt auf dem Wege dahin bedeutet oder ob es hinter dieser als zwangsläufig angesehenen Entwicklung zurückbleibt. Als treibende Kraft, die hinter diesem Prozess steht, wird seit Dvořáks „Kunstgeschichte als Geistesgeschichte“ gerne auf den weltanschaulichen Wandel hingewiesen, ohne dass konkret benannt wird, worin ein solcher Zusammenhang bestanden und wie er sich ausgewirkt haben könnte.11 Der unbestreitbar tiefgreifende Wandel der Bildauffassung um 1300 kann nicht einfach als Resultat einer neuen „naturalistischen“ Einstellung der Künstler erklärt werden und auch nicht als eine einfache Weiterentwicklung tradierter Darstellungsschemata, so wesentlich diese im Prozess der Kunstgeschichte auch sind.12 Auch der Hinweis auf die Rezeption der antiken Malerei, den Serena Romano jüngst gegeben hat, kann diesen Wandel nicht wirklich erklären, denn die wenigen aus der Spätantike erhaltenen Malereien, die damals bekannt waren, standen den Künstlern lange genug vor Augen, ohne einen Einfluss auszuüben.13 Die Frage bleibt, warum die Künstler die antiken Vorbilder 10

Erwin Panofsky: Die Perspektive als ‘symbolische Form’. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924–1925 (1927) (= Panofsky 1927 / 1998, S. 714); Panofsky hat diese Sicht später noch einmal bekräft igt: Panofsky 1969, S. 135. 11 Panofsky spricht im Hinblick auf Giotto und Duccio von einer der „hochscholastischen Übergangsanschauung entsprechenden Räumlichkeit“, die durch die weitere Entwicklung bis zur Erfindung der konstruierten Perspektive – von ihm mit „der großen Entwicklung vom Aggregatraum zum Systemraum“ parallel gesetzt – überwunden wurde. In der gleichen Zeit habe „das abstrakte Denken den immer noch verschleierten Bruch mit der Aristotelischen Weltanschauung […] vollzogen“ und den neuzeitlichen Begriff der Unendlichkeit entwickelt (Panofsky 1927 / 1998, S. 740). Die Entwicklung der Perspektive ist eben – im Sinne des von Cassirer geprägten Begriffs – „symbolische Form“ der geistigen Entwicklung. „Die Entdeckung des Fluchtpunktes“, als des „Bildes der unendlich fernen Punkte sämtlicher Tiefenlinien“, war für ihn gleichsam das „Symbol für die Entdeckung des Unendlichen selbst“ (Panofsky 1927 / 1998, S. 718). Dieser These ist zu widersprechen. Der Fluchtpunkt spielte in den ersten Perspektivexperimenten nachweislich keine Rolle, noch weniger das Konzept des Unendlichen. Vgl. Büttner 2006, S. 201 f. 12 Dazu Gombrich 1986, passim, insbes. S. 141–201. 13 Romano 2008, passim.

1. Einführung

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erst jetzt für sich entdeckt haben sollen. Die These, die ich im Folgenden vorstellen und begründen möchte, lautet, dass etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts grundsätzlich neu gedacht wurde, was das Bild leisten kann und soll. Entscheidende Voraussetzung dafür war ein radikaler Umbruch in der Auffassung vom Sehen, der für uns vor allem in neuen Lehren von der Physiologie und der Psychologie der visuellen Wahrnehmung fassbar ist.14

14

Summers 1987 beschrieb den Wandel, der sich im späten Mittelalter, angestoßen durch die Rezeption der antiken Philosophie, in der Psychologie der Sinneswahrnehmung vollzogen hat. Auf die Frage eines möglichen Einflusses der Optik auf die Bildkunst des 14. und 15. Jahrhunderts ist er nicht konkret eingegangen.

2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung 2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung

Die jüngere wissenschaftsgeschichtliche Forschung – hier sind vor allem David Lindberg und A. Mark Smith zu nennen – hat den tiefgreifenden Wandel in der Auffassung vom Sehen vielfach untersucht und beschrieben.1 Die Kunstgeschichtswissenschaft muss sich die Frage stellen, welche Verbindungen zwischen dem von ihr konstatierten Wandel in der Kunst, speziell in der Malerei, und dem unmittelbar vorausgegangenen Wandel in der Auffassung des Sehens bestehen. Dass es für einen kunstgeschichtlichen Wandel, wie wir ihn in Italien um 1300 sehen, keine monokausale Erklärung geben kann, ist selbstverständlich. Die Suche nach möglichen Zusammenhängen zwischen Malerei und Optik, deren Erfolgsmöglichkeiten auch in jüngeren Publikationen noch skeptisch beurteilt worden sind, wird keine alles umfassenden Erklärungen liefern können. Sie kann aber, wenn sie sich auf die konkreten Aussagen stützt, die in den optischen Traktaten über die visuelle Wahrnehmung gemacht werden, bedenkenswerte Ergebnisse liefern, die die Gegenstandsdarstellung im Einzelnen wie die Bildauffassung insgesamt betreffen. Das Verhältnis zur visuellen Wahrnehmung, das sich in der christlichen Tradition seit den Kirchenvätern etabliert hatte, war ambivalent.2 Augustin hatte in seinem GenesisKommentar drei Genera des Sehens unterschieden: die visio corporalis, spiritalis und intellectualis.3 Das Sehen mit den leiblichen Augen ist in der Bibel an entscheidenden Stellen entschieden negativ konnotiert. Das Sehen steht am Beginn des Sündenfalls. In der Bergpredigt radikalisierte Christus das 6. Gebot: „Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat mit ihr schon die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ Die Augen und ihre concupiscentia waren Organ der Sünde, das man, wenn es einen skandalisierte, besser ausreißen sollte. Mit den Augen sündigen konnte man deshalb, weil das Sehen als ein aktiver Vorgang aufgefasst wurde, der dem Willen unterworfen ist. Augustin sprach vom

1

Lindberg 1987; Smith 1981; Smith 2004. Zum Folgenden: Schleusener-Eichholz 1985; Biernoff 2002. 3 Aurelius Augustinus, De Genesi ad litteram, Buch XII, 7, 16: „Haec sunt tria genera visionum, de quibus et in superioribus libris aliquid diximus […] Primum ergo appellemus corporale, quia per corpus percipitur et corporis sensibus exhibetur. Secundum spiritale; quidquid enim corpus non est et tamen aliquid est, iam recte spiritus dicitur: et utique non est corpus, quamvis corpori similis sit, imago absentis corporis, nec ille ipse obtutus quo cernitur. Tertium vero intellectuale, ab intellectu; quia mentale, a mente, ipsa vocabuli novitate nimis absurdum est, ut dicamus“. Zu mittelalterlichen Belegen für die drei Stufen des Sehens vgl. Schleusener-Eichholz 1985, Bd. 2, S. 931–1075. 2

2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung

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„iactus […] radiorum ex oculis nostris“.4 Dahinter steht die platonische These, dass das Auge im Akt des Sehens eine Art Feuer aussendet.5 Die verschiedenen Formen inneren Sehens, die allein geistiges Erkennen bis hin zur Gottesschau ermöglichen, wurden davon nachdrücklich abgesetzt. Gudrun SchleusenerEichholz hat eine überbordende Fülle von Belegen für die Hochschätzung der inneren Wahrnehmung gesammelt, auf die hier nicht weiter einzugehen ist.6 Die visio cordis oder visio mentis bedarf keiner äußeren Bilder, sie sind ihr sogar hinderlich. Mystik ist ihrem Wesen nach immer bildkritisch, wenn nicht sogar bilderfeindlich gewesen. Die Kunstwahrnehmung der visio cordis benötigt nicht mehr als Zeichen. Bild und Schrift können für sie ein Stimulus sein, doch die innere „Schau“ wird sie sogleich hinter sich lassen.7 „Der Sinn liegt dumpf und schwer wie die Erde unten“, konstatierte Isaac von Stella 1162 in seiner ‘Epistola de anima’.8 Die Skepsis gegenüber der Sinneswahrnehmung war zu seiner Zeit noch weit verbreitet.9 Entgegen allen religiösen Vorbehalten vollzog sich dann aber in der Philosophie des 13. Jahrhunderts eine erstaunliche Aufwertung des leiblichen Sehens. Einen wesentlichen Impuls dafür gab die Beschäftigung mit Aristoteles, insbesondere die Auseinandersetzung mit seinen naturkundlichen Schriften.10 Seine Schrift über die Seele, die zu einem großen Teil der Wahrnehmungslehre gewidmet ist, wurde intensiv studiert und vielfach kommentiert. An erster Stelle sind hier Albertus Magnus und sein Schüler Thomas von Aquin zu nennen.11 Eine wichtige Vermittlerrolle spielte dabei Avicenna.12 Die Seele ist nach Aristoteles das Prinzip des Lebens, Formursache des natürlichen Körpers. Die Seelenkräfte, die die Lebensfunktionen steuern, werden entsprechend der Stufenleiter Pflanze – Tier – Mensch differenziert. Die vegetative Seele sorgt für Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung. Die animalische Seele ist empfindend, begehrend 4

Augustinus, De Genesi ad litteram, Buch I, 16,31. Platons Theorie des Sehens: Timaios 45b-46c; vgl. Lindberg 1987, S. 22–27; zur Rezeption im Mittelalter vgl. Schleusener-Eichholz 1985, Bd. 1, S. 51–70. 6 Schleusener-Eichholz 1985, Bd. 2, 953–1048. 7 Ernst Benz: Christliche Mystik und christliche Kunst. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 12 (1934) S. 22–48. 8 „Sensus enim obtusus et gravis, sicut terra, deorsum jacet“ (Isaac de Stella: Epistola ad quemdam familiarem suum de anima, PL 194, col. 1885a). 9 Vgl. Schleusener-Eichholz 1985, S. 935–940. 10 Zu Aristoteles: Hellmut Flashar, Aristoteles. In: Hellmut Flashar (Hg.): Ältere Akademie – Aristoteles – Peripatos (Grundriß der Geschichte der Philosophie: Die Philosophie der Antike; Bd. 3, Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos), 2. Aufl. Basel 2004, S. 167–492. Zur mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption: Fernand van Steenberghen: Aristotle in the West, the origins of Latin Aristotelianism, Löwen 1955; Fernand van Steenberghen: Die Philosophie im 13. Jahrhundert, hrsg. von Max A. Roesle, München [u. a.] 1977, S. 75–184; Theodor Wolfram Köhler: Homo animal nobilissimum, Konturen des spezifisch Menschlichen in der naturphilosophischen Aristoteleskommentierung des dreizehnten Jahrhunderts, Leiden [u. a.] 2008. 11 Albertus Magnus 1968; Thomas v. Aquin 1959. 12 Dag Nikolaus Hasse: Avicenna’ s „De anima“ in the Latin West. The formation of a peripatetic philosophy of the soul 1160–1300, London 2000. 5

2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung

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und bewegend. Die anima rationalis, die Geistseele, zeichnet den Menschen aus. Die sinnliche Wahrnehmung, die die fünf Sinne leisten, ist als passives Aufnehmen zu verstehen. Der Sinn nimmt dem aristotelischen Prinzip des Hylemorphismus entsprechend Form ohne Materie auf, wobei dem vermittelnden Medium eine wesentliche Rolle zukommt. Spezifischer Wahrnehmungsgegenstand des Gesichtssinnes ist die Farbe. Wenn am Wahrnehmungsakt mehrere Sinne beteiligt sind, werden ihre Informationen vom „primären Wahrnehmungsvermögen“ zusammengefasst.13 In der durch Avicenna vermittelten arabischen Rezeption der aristotelischen Psychologie wurde daraus der sensus communis, der Gemeinsinn, der als erste Instanz der Verarbeitung der Wahrnehmung durch die inneren Sinne angesehen wurde.14 Ihr folgen dann die von Aristoteles genannten Erkenntnisstufen des Vorstellungsvermögens (fantas2a, lateinisch imaginatio), des Gedächtnisses und der Vernunft, die als ein Angleichungs- und Abstraktionsprozess zu verstehen sind, durch den die Sinneserfahrung zu intellektueller Erkenntnis geläutert wird. Während dem Tastsinn eine elementare Bedeutung im Bereich des Vegetativen zukommt, ist der Gesichtssinn das Organ, das dem Verstand die umfassendste Kenntnis der Wirklichkeit zu vermitteln vermag.15 Ein zweiter wesentlicher Schritt in der Aufwertung der visuellen Wahrnehmung war die breite Rezeption der aus der Antike überlieferten Schriften zur Optik. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts war Euklids ‘Optik’ aus dem Griechischen übersetzt worden, die bis in das 17. Jahrhundert hinein Schlüsseltext für jede Beschäft igung mit dem Sehen auf geometrischer Grundlage bleiben sollte.16 Etwa gleichzeitig wurde der Optik-Traktat des Ptolemaeus aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen, allerdings ohne das bis heute verlorene erste Buch, das Grundfragen des Sehens und der Geometrie der Sehstrahlen behandelte.17 Zu dem für die mittelalterliche Optik wegweisenden Autor wurde der aus Basra stam-

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Aristoteles, De memoria et reminiscentia 450a. Harry A. Wolfson: The Internal Senses in Latin, Arabic and Hebrew Philosophic Texts. In: Harvard Theological Review 28 (1935) Nr. 2, S. 69–133. Samuel Landauer, Die Psychologie des Ibn Sînâ. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Bd. 29, 1875, S. 335–418; hier: 399 ff. Zur Vermittlungsrolle Avicennas vgl.: Hasse 2000. 15 Immer wieder wurde die Eingangspassage der Metaphysik (490a) zitiert, in der Aristoteles die besondere Bedeutung des Sehsinnes für das menschliche Streben nach Erkenntnis hervorgehoben hatte; in der lateinischen Übersetzung lautet sie: „Omnes homines natura scire desiderant. Signum autem, est sensuum dilectio; preter enim et utilitatem propter se ipsos diliguntur, et maxime aliorum qui est per oculos […]; causa autem est quia hic maxime sensuum cognoscere nos facit et multas differentias demonstrat“ (Metaphysica. Recensio et translatio Guglielmi de Moerbeka, hrsg. von Gudrun Vuillemin-Diem (Aristoteles latinus, Bd. XXV,3.2), Leiden 1995, S. 11). Deborah K. W. Modrak: Aristotle, the power of perception, Chicago u. a 1987; Stephen Everson: Aristotle on perception, Oxford 1997. 16 Die zwei überlieferten Fassungen des griechischen Textes bei Euklid / Acerbi 2007, S. 2024– 2197, ebd. S. 555–641 eine historische Einführung, die auch die Bedeutung Euklids für die arabische Optik berücksichtigt. Die lateinische Fassung: Euklid / Theisen 1979, S. 44–105. 17 Ptolemaeus / Lejeune 1956; neuere Ausgabe mit französischer Übersetzung: Ptolemaeus / Lejeune1989; englische Übersetzung: Ptolemaeus / Smith 1996. 14

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mende und um 1040 in Kairo gestorbene Ibn al Haytham, latinisiert Alhacen.18 Sein optischer Traktat wurde in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts unter dem Titel ‘De Aspectibus’ ins Lateinische übersetzt. Später wurde es auch unter dem Titel ‘Perspectiva’ geführt. Die Leistung Alhacens bestand darin, dass er die drei zentralen Paradigmen der antiken Optik, die „philosophische“ Optik, für die Plato und Aristoteles standen, die die visuelle Wahrnehmung aus physikalischen, psychischen und epistemologischen Bedingungen zu begreifen suchte, die „medizinische“ Optik, deren Hauptvertreter Galen war, die sich der Erforschung der anatomischen und physiologischen Struktur des Auges widmete, und die geometrische Optik Euklids zu einer einzigen kohärenten Theorie des Sehens verband.19 Die eigentliche Rezeption des Werkes von Alhacen setzte im Westen erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts ein.20 Albertus Magnus und Robert Grosseteste, mit denen die neue Beschäftigung mit Sehtheorie und Optik begann, kannten sein Werk wohl noch nicht.21 Für die drei bedeutendsten Theoretiker der mittelalterlichen Optik hingegen, die englischen Franziskaner Roger Bacon und John Pecham sowie den Schlesier Witelo wurde Alhacens ‘De Aspectibus’ zum entscheidenden Ausgangspunkt. Roger Bacon (geb. um 1210 / 15, gest. 1292 / 94) schrieb sein Hauptwerk, sein ‘Opus maius’, dessen fünftes Buch die Abhandlung über die Optik bietet, in den sechziger Jahren in Paris und übersandte es 1267 oder 1268 an Papst Clemens IV. nach Viterbo.22 Dieser Ort, an dem sich damals die päpstliche Kurie sehr häufig aufhielt, sollte in den folgenden Jahren sozusagen zum Brennpunkt der optischen Forschungen werden.23 Etwa um 1268 kam Witelo dort an, der Anfang der fünfziger Jahre in Paris und 1262 / 63 in Padua studiert hatte. Er schrieb seinen Perspektiv-Traktat vermutlich zu Beginn der siebziger Jahre und widmete 18

Seit Risner 1572 war Ibn-al Haytham im Westen unter dem Namen Alhazen bekannt. Lindberg 1996, S. XXXIII hat jedoch darauf hingewiesen, dass der Name in der mittelalterlichen Überlieferung immer ‘Alhacen’ geschrieben wurde. Zu Alhacens Leben und Werk vgl.: Alhacen / Sabra 1989, Bd. 2, S. XIX–CX. Sabras Ausgabe ist die Übersetzung des arabischen Originals, das auch die drei ersten Kapitel des Textes enthält, die in der lateinischen Überlieferung fehlen. Zu den Lehren Alhacens vgl. auch Lindberg 1987, S. 114–160; Simon 2003, S. 77–164. 19 Zur antiken Optik vgl. Lindberg 1987, S. 17–46; Simon 1992; Hub 2008, S. 264–321. Einführungen in Alhacens Optik: vgl. Lindberg 1987, S. 114–160 und die Einleitungen zu Alhacen / Sabra 1989 und zu Alhacen / Smith 2001. Belting 2008, passim, zeichnet ein ganz einseitiges Bild der Optik Alhacens, indem er zugunsten der Aspekte der optischen Geometrie deren Wahrnehmungspsychologie vernachlässigt. Ein folgenreiches Defizit ist es auch, dass er die in der Nachfolge Alhacens verfassten mittelalterlichen Optik-Traktate ignoriert. Dadurch bleibt auch die Bedeutung der Optik Euklids verborgen, die mit keinem Wort erwähnt wird. Vgl. Frank Büttner: Rezension von: Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine west-östliche Geschichte des Blicks, München 2008. In: Kunstchronik, 62. Jahrgang 2009, Heft 2, S. 82–89. 20 Alhacen / Smith 2001, S. LXXX–CIII. 21 Lindberg 1987, S. 174–195; vgl. Theiss 1997 und Crombie 1962. 22 Zur Biographie Bacon vgl. Clegg 2003; George Molland, ‘Bacon, Roger (c.1214–1292?)’, Oxford Dictionary of National Biography, online edn.2004[http: / / www.oxforddnb.com / view / article / 1008]; Textausgabe des „Opus majus“: Bacon / Bridges 1900; kritische Ausgabe von Buch V („Perspectiva“): Bacon / Lindberg 1996. Zu Bacon vgl. Hackett 1997. 23 Dazu Paravicini Bagliani 1975; Bergdolt 1989 und Bergdolt 2007.

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ihn Wilhelm von Moerbeke, dem Übersetzer zahlreicher griechischer Werke, der damals Beichtvater am päpstlichen Hof war.24 Auch das dritte Werk, die ‘Perspectiva communis’ des John Pecham entstand in Viterbo. Pecham (um 1235–1292) hatte in Paris und Oxford studiert und war Anfang der 1250er Jahre Franziskaner geworden.25 Nach 1269 lehrte er einige Jahre in Paris und dann in Oxford. 1275 wurde er Provinzialminister der Franziskaner. 1277 wurde er als Theologielehrer an die päpstliche Kurie berufen. Dies geschah wahrscheinlich noch durch Papst Johannes XXI., der jedoch schon im Mai 1277 bei einem Unfall starb. Pecham blieb dort auch noch unter dessen Nachfolger Nikolaus III. Orsini, der ihn 1279 zum Erzbischof von Canterbury ernannte. In der kurzen Zeit in Viterbo jedoch hat er seinen Perspektiv-Traktat abgefasst, der die weiteste Verbreitung gefunden hat.26 Es würde zu weit führen, hier das Lehrgebäude der mittelalterlichen Optik, das in jüngerer Zeit von David Lindberg und Mark Smith sehr genau beschrieben worden ist, eingehend zu erläutern.27 Im Hinblick auf den weiteren Gang der Argumentation sollen aber doch die wichtigsten Grundpositionen skizziert werden, die zumeist schon von Alhacen festgelegt und von Bacon, Witelo und Pecham übernommen, teilweise aber auch modifiziert und systematisiert wurden. Ein besonderes Anliegen von Alhacen war es, der vorherrschenden Theorie entgegenzutreten, nach der das Sehen durch vom Auge ausgesandte Sehstrahlen erfolgt. Diese sogenannte Extramissions- oder Sendetheorie des Sehens, die von Plato, Euklid, Ptolemaeus und Galen bis hin zu Alkindi vertreten wurde und die auch die Kirchenväter übernahmen, postulierte, dass das Auge eine Art Feuer oder Pneuma aussendet, das sich mit dem umgebenden Licht verbindet und die Sehobjekte gleichsam abtastet.28 Die Erfahrung, dass es für das Auge schmerzhaft ist, in die Sonne zu blicken, und die Beobach24

Geburts- und Todesjahr Witelos sind nicht überliefert, in den 1250er Jahren studierte er in Paris, ab 1260 war er in Padua. Zur Biographie Witelos vgl. die Einleitungen in Witelo / Smith 1983 und Witelo / Kelso 2003. Eine kritische Gesamtedition von Witelos Werk liegt noch nicht vor, hier ist man immer noch auf die Edition von Risner 1572 angewiesen. 25 Zur Biographie von John Pecham vgl. Benjamin Thompson: ‘Pecham, John (c. 1230–1292)’, Oxford Dictionary of National Biography, online edition, 2004 [http: / / www.oxforddnb.com / view / article / 21745]. Kritische Ausgabe der „Perspectiva Communis“: Pecham / Lindberg 1970; Ausgabe des kürzeren „Tractatus de Perspectiva“: Lindberg / Pecham 1972. 26 Lindberg 1970 führt 62 Handschriften der „Perspectiva Communis“ an, einen Frühdruck von 1482 / 83 und 9 weitere Auflagen während des 16. Jahrhunderts. Von Witelo sind dagegen nur 18 Handschriften und 3 Drucke, von Alhacen 19 Manuskripte und 1 Druck zu verzeichnen. Bacons Schrift hatte nach expliziten Zeugnissen ihrer Rezeption zu urteilen die geringste Verbreitung. Bacon war schon 1257 wegen der Verbreitung von Irrlehren unter Aufsicht gestellt und mit einem „Publikationsverbot“ belegt worden. 1278 wurde er sogar zu Gefängnis verurteilt und erst 1292 wieder freigelassen. Innerhalb des Ordens scheint sein Werk jedoch, insbesondere der Teil über die Optik, bald kursiert zu haben und war in Viterbo Pecham wie Witelo zugänglich. Lindberg erwähnt in seiner Edition der „Perspectiva“ 39 Handschriften. Der erste Druck stammt aus dem Jahre 1614. 27 Die beste Gesamtübersicht bei Lindberg 1987; vgl. auch die Einleitungen von Lindberg und Smith zu den oben angeführten Editionen der Traktate von Alhacen, Bacon, Witelo und Pecham. 28 Zur antiken Optik vgl. Simon 1992 und Hub 2008.

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tung der Nachbilder sind für Alhacen Argumente dafür, dass das Sehen ein „Leiden“ ist, dass das Auge von außen hereinkommende Lichtstrahlen empfängt.29 Witelo hat Alhacens Theorie, die als Intromissions- oder Empfangstheorie bezeichnet wird, konsequent übernommen,30 Bacon und Pecham hingegen nehmen zusätzlich eine Aktivität auf Seiten des empfangenden Auges an.31 Nach heutiger Auffassung mag das inkonsequent und widersprüchlich erscheinen, doch nach der mittelalterlichen Psychologie war auf diese Weise das Problem zu lösen, wie die von außen eindringenden Wahrnehmungsbilder dem im Sehnerv vermuteten spiritus visibilis angepasst werden können, dem sensitiven Pneuma, das die Bilder zur weiteren kognitiven Verarbeitung den Seelenvermögen übermittelt.32 Eine Bestätigung ihrer Ansichten dürften Bacon und Pecham in antiken Texten zur Augenheilkunde gefunden haben, in der Galen unbestritten als größte medizinische Autorität galt.33 Seine Lehren meinte man auch aus den ‘Zehn Abhandlungen über das Auge’ zu kennen, die jedoch im 9. Jahrhundert von Hunain Ibn-Ishāq verfasst wurden.34 Von Galen weicht Hunain allerdings darin ab, dass er über die Alternativen der Sendeund Empfangstheorie des Sehens hinaus noch eine dritte Möglichkeit anführt, nach der etwas die Distanz zwischen Gegenstand und Auge vermittelnd überbrückt.35 Nach Hunain läuft der Sehvorgang so ab: der spiritus visibilis, der vom Gehirn durch die Sehnerven kommend das Auge ausfüllt, tritt durch die Pupille aus und formt die Luft zu einem Instrument des Sehens um, das die Verbindung zwischen Auge und Gegenstand herstellt.36 „Der Sehhauch tritt zwar anscheinend aus dem Auge aus und wandelt dort die 29

Alhacen / Smith 2001, Bd. 1, S. 3. Witelo / Unguru 1991, S. 299 f. (Witelo III, prop. 6). 31 Bacon / Lindberg, S. 104 f. (Perspectiva I.7.4); Pecham / Lindberg 1970, S. 128 (I.46a: „Lumen oculi naturale radiositate sua visui conferre“); Pietro d’Abano bezeichnete in seinem um 1310 abgeschlossenen ‘Conciliator’ diese zwischen Sende- und Empfangstheorie vermittelnde These als „positio modernorum“, der er allerdings skeptisch gegenüber stand (d’Abano 1565, S. 96r). 32 Thomas von Aquin, Super Sent., lib. 1 d. 40 q. 1 a. 1 ad 1 betont, dass die Aufnahme der Wahrnehmungsbilder passiv geschehe, ihre dann folgende geistige Umgestaltung jedoch aktiv erfolge. 33 Die Anatomie des Auges und den Sehvorgang beschrieb Galen im 10. Buch von ‘De usu partium’, das um 1300 erstmals von Pietro d’Abano übersetzt wurde. Seine weiteren wichtigen Texte zur Augenmedizin, so ‘De placitis Hippokratis et Platonis’, Buch VII, wurden erst in der Renaissance übersetzt (Lindberg 1987, S. 366). Zu seinen Lehren vgl. Hirschberg 1899, S. 190–203; Lindberg 1987, S. 33–35. 34 Hunain Ibn-Ishāq: The book of the ten treatises on the eye ascribed to Hunain Ibn Is-Hāq (809–877 A. D.). Hrsg. mit engl. Übers. von Max Meyerhof, Kairo 1928; Mayerhof, Max; Prüfer, C.: Die Augenanatomie des Hunain b. Ishaq. In: Archiv für Geschichte der Medizin, Bd. 4, 1910 / 11, S. 163–190; Hunain 1912 / 13, S. 21–33. Den ophtalmologischen Traktat Hunains hielt man im Mittelalter für ein Werk von Galen oder von Constantinus Africanus, der den Text im 11. Jahrhundert übersetzt hatte; vgl. Hirschberg 1908, S. 34 ff.; Lindberg 1987, S. 72–87. Lat. Text unter dem Titel ‘Liber Constantini de oculis’ in: Ishāq Ibn-Sulaimān al- Isrāīlī: Omnia opera ysaac …, [Lyon], 1515, fol. 172r–178r. 35 Hunain 1912 / 13, S. 28; im lateinischen Text heißt es (Lyon 1515, fol. 172v): „sed quoddam est medium stans inter hunc (d. h. dem Gegenstand) et illum (d. h. dem Auge)“. 36 Hunain 1912 / 13, S. 29: „Wenn er (d. h. der Sehgeist) nun auf die Luft stößt, sobald er sich von der Pupille entfernt (ausgeht), so verändert er sie sofort bei seinem Zusammentreffen mit ihr; dann läuft das, was durch seine Veränderung entsteht, eine sehr weite Strecke durch sie hindurch … “. 30

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Luft um, dehnt sich aber selbst nicht weiter aus“.37 Darin liegt der wesentliche Unterschied zu den antiken Sendetheorien. Bacon und Pechan konnten in dieser These eine Bestätigung ihrer eigenen Auffassung sehen, die zwischen Empfangs- und Sendetheorie vermitteln sollte. Wie dieser Wandlungsprozess des Mediums Luft durch den spiritus visibilis abläuft, erklärt Hunain nicht konkret, sondern mit dem schon vorher bekannten und bis zu Descartes immer wieder vorgebrachten Gleichnis des Stockes, der einem Mann, der durch völlige Dunkelheit geht oder blind ist, hilft, Hindernisse zu erkennen.38 Auch die konsequenten Vertreter einer Empfangstheorie des Sehens wie Witelo gingen davon aus, dass die Wahrnehmungsbilder umgewandelt, sozusagen „vergeistigt“ werden müssen, damit sie vom Geist des Betrachters erfasst werden können. Für sie spielte sich dieser Vorgang jedoch rein innerlich im Auge und in den Gehirnventrikeln des Betrachters ab. Generell unterscheiden alle Optiker beim Sehvorgang zwei Stufen, die externe physiologische Phase der Aufnahme der optischen Reize und die interne Verarbeitung des empfangenen Seheindrucks, die als Leistung verschiedener Seelenvermögen aufgefasst wird.39 Als das empfindungsfähige Augenorgan gilt die Kristall- oder Eisflüssigkeit (humor cristallinus, nach heutiger Terminologie: Kristalllinse oder Linse), die zusammen mit der Glasflüssigkeit (humor vitreus, heute: Glaskörper) eine Kugel bildet (Abb. 1).40 Diese geometrische Idealisierung des Auges ist, wie weiter unten zu zeigen sein wird, für die Vorstellung vom Sehvorgang von großer Bedeutung. Vom Gegenstand gehen sich gradlinig ausbreitende Strahlen aus. Sie transportieren gleichsam in Punkte zerlegt die Bilder des Gegenstandes, die von Alhacen und Witelo als formae bezeichnet werden. Bacon wählte dafür den Begriff species.41 Diese beiden Begriffe haben ihre Wurzel in der philosophischen Tradition. Die Bezeichnung forma wurde durch Aristoteles nahegelegt, der wie erwähnt gelehrt hatte, dass in der Wahrnehmung sich die Form (emdow bzw. morf1) ohne Materie den Sinnen einpräge. In der patristischen Philosophie war forma auch die Übersetzung für den platonischen Begriff Xd0a, der ja seinerseits dieselbe sprachliche Wurzel wie emdow hat, und bezeichnete somit das letztlich im Transzendenten verankerte Wesen des Dinges. Hier liegt 37

Lindberg 1987, S. 80. Hunain 1912 / 13, S. 31: „Es geht ein Mensch in der Dunkelheit, während er in seiner Hand einen Stab hält, den er der Länge nach vor sich ausstreckt. Da trifft der Stock auf etwas, das ihn an der Bewegung nach vorn hindert. Da erkennt der Mensch auf dem Weg der Messung, dass das […] nur ein verborgener Körper ist, der sich dem entgegensetzt, was auf ihn stößt. […] Ebenso ergeht es dem Blicke mit diesen Dingen … “. Im lat. Text (Lyon 1515, fol. CLXXIIv) heißt es: „Si quis per tenebras ambulaverit et fustem in manum duxerit … “; fustis bedeutet Knüttel, Prügel, Stock. 39 Letztlich geht diese Unterscheidung auf Aristoteles zurück. Alkindi sprach explizit von externen und internen Sinnen. Vgl. die Zusammenfassung bei Lindberg 1987, S. 133 ff. 40 Alhacen / Smith, Bd. 1, S. 50 f. [I.6,64]; Witelo III,4, S. 294; Witelo / Unguru 1991: „Primus itaque humorum istorum dicitur cristallinus vel glacialis, qui proprie est organum virtutis visive, et est in medio oculi situs“. 41 Zum Begriff forma: Sabra 1989; zur Begriffsgeschichte von species: Pierre Michaud-Quantin: Le champs sémantiques de species. Tradition latine et traductions du grec. In: ders. Études su le vocabulaire philosophique du Moyen Age. Rom 1970, S. 113–150; Spruit 1994, S. 28–174. Bacon erläuterte seinen Begriff der species zu Beginn seiner Schrift ‘De multiplicatione specierum’ (Bacon / Lindberg 1983, S., 2–4; vgl. auch dort die Einleitung von Lindberg, S. XXXV–LXX). 38

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Schematisches Modell des Auges nach Alhacen (a = humor cristallinus; b = humor vitreus; n = nervus opticus; g = Gegenstand; z = Zentralstrahl)

auch der Ursprung für den synonym zu forma verwendeten Begriff species.42 Mit diesem Wort bezeichnete Cicero das geistige Bild, das Künstlern wie Phidias bei ihrer Arbeit vorschwebte.43 Die platonische Xd0a konnte auch mit species übersetzt werden. Bei Augustinus ist species zu einem Schlüsselbegriff der Wahrnehmung geworden: „Wenn wir also bei dieser Analyse mit der Gestalt (species) des Körpers beginnen und bis zu der Gestalt gelangen, die im Blick des Denkenden entsteht, dann fi nden sich vier Gestalten (species), gleichsam stufenweise eine aus der anderen sich ableitend, die zweite von der ersten, die dritte von der zweiten, die vierte von der dritten. Von der Gestalt des Körpers, der gesehen wird, entsteht nämlich die Gestalt, die im Sinn des Erkennenden wird, und von dieser jene, die in der Erinnerung wird, und von dieser jene, die in der Sehkraft (acies) des Denkenden wird.“44 Mit dem in diesen Bedeutungsnuancen gefassten Begriff der species konnte der von äußerer zu innerer Wahrnehmung verlaufende Prozess der Wahrnehmung bezeichnet werden. Die Scholastik hat daran anknüpfend zwischen den species sensibiles und den species intelligibiles unterschieden.45 Wenn Bacon sich für den in der Philosophie seiner Zeit ganz geläufigen Begriff species entschied, so tat er dies zum einen, um den Prozess 42

Vgl. Hugo von St. Victor, Didascalion, lib. VII, cap. 9: „Species est forma visibilis, quae continet duo, figuras et colores.“ PL, Bd. 176, col. 819. 43 Cicero, Orator 2.8–9. 44 Augustinus: De Trinitate XI, 9.16; Augustinus 2001, S. 170 f.: „In hac igitur distributione cum incipimus a specie corporis et pervenimus usque ad speciem quae fit in contuitu cogitantis, quattuor species reperiuntur quasi gradatim natae altera ex altera; secunda de prima; tertia de secunda; quarta de tertia. Ab specie quippe corporis quod cernitur exoritur ea quae fit in sensu cernentis, et ab hac ea quae fit in memoria; et ab hac ea quae fit in acie cogitantis.“ Diese letzte Formulierung wird von Augustinus einige Zeilen später erläutert: „visionis enim duae sunt, una sentientis, altera cogitantis“. Es geht hier also um die oben erwähnte Unterscheidung zwischen der visio corporalis auf der einen und visio spiritalis oder intellectualis auf der anderen Seite. 45 Eine knappe und klare Darstellung dieser Differenzierung bei Smith 1992, S. 157 f. Die Frage der Existenz der species, insbesondere der species intelligibiles wurde in der späteren Scho-

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Schematisches Modell der Ausbreitung der species und der Sehpyramide

des Sehvorganges vom Wahrnehmungsobjekt abzusetzen, das er gemäß der aristotelischen Naturphilosophie als Einheit von forma und materia begriff. Noch wichtiger aber dürfte gewesen sein, dass für ihn hinter diesem Begriff ein elementares physikalisches Prinzip stand, das mit dem Begriff forma nicht gut zusammengebracht werden konnte. Bacon hat dieses Prinzip in seiner Schrift ‘De multiplicatione specierum’ erläutert.46 Damit stellte er die Lehren Alhacens von der Ausbreitung der formae auf ein allgemeingütiges Fundament. Von jedem Punkt der Oberfläche eines Gegenstandes gehen Strahlen aus, die sich in alle Richtungen ausbreiten, sofern sie daran nicht durch andere feste Gegenstände gehindert werden (Abb. 2). Diese These Bacons konnte auch mit der neuplatonischen Emanationslehre in Verbindung gebracht werden. Ihre unmittelbaren Quellen waren jedoch die Werke von Alkindi und Grosseteste, in denen dieses Prinzip in eine naturphilosophische Lehre von der Ausbreitung des Lichtes und von Strahlung im Allgemeinen überführt wurde.47 Mit modifizierter Begründung, aber ganz im Sinne der Optik Alhacens, gingen Bacon und die anderen Perspektivlehrer also davon aus, dass sich von jedem Punkt der Oberfläche eines Gegenstandes in alle Richtungen gradlinig Strahlen ausbreiten. Im Auge entlastik Gegenstand heft iger Auseinandersetzungen, vgl. Tachau 1988 passim und Spruit 1994 mit einigen Korrekturen an den Thesen Tachaus. 46 Bacon / Lindberg 1983, S. XXXV ff. Auch Pecham verwendet den Begriff „species“; vgl. Pecham / Lindberg 1970, S. 34 ff. 47 Bacon / Lindberg 1983, S. XXXV–LIII.

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steht deswegen kein Chaos von Sinnesdaten, weil nur diejenigen formae oder species wahrgenommen werden, die senkrecht auf das Auge treffen (Abb. 2).48 Dies sind, da – wie man meinte – das Auge eine Kugel ist, alle Strahlen, die zum Augenmittelpunkt in der Glasflüssigkeit führen. Diesen Mittelpunkt erreichen sie jedoch nicht, sondern sie werden im Übergang von der Eisflüssigkeit zur Glasflüssigkeit gebrochen, so dass sie danach als Parallelen zum Eingang des Sehnervs laufen.49 In der Kristalllinse ergibt sich dadurch eine Anordnung von Punkten, die mit der Anordnung der Ausgangspunkte der Strahlen auf dem Sehgegenstand übereinstimmt. Auch hier schlossen sich die mittelalterlichen Autoren ganz dem Araber an.50 Die wichtigste Konsequenz dieser Hypothese vom Sehvorgang war, dass Alhacen die geometrische Optik Euklids adaptieren konnte und damit präziser über die Regeln der externen Phase des Sehvorganges sprechen konnte, als dies den Aristotelikern möglich war. Der physische Sehvorgang ist mit dem auf Euklid und Ptolemaeus zurückgehenden Modell einer aus den vom Objekt zum Auge laufenden Strahlen gebildeten Pyramide zu beschreiben, deren Basis im Objekt, deren Spitze im Augenmittelpunkt liegt (Abb. 1).51 Jeder Sinn hat bestimmte nur durch ihn wahrnehmbare Objekte. Wie der Schall nur durch das Gehör wahrgenommen werden kann, so Licht und Farbe nur durch den Gesichtssinn. Was die Objekte, die gesehen werden, ihrer Beschaffenheit und ihrem Wesen nach sind, ist jedoch mehr als diese beiden Qualitäten. Schon Aristoteles hat dargelegt, dass es Qualitäten gibt, die von mehreren Sinnen zugleich wahrgenommen werden. Als solche bezeichnete er Bewegung, Ruhe, Zahl, Gestalt und Größe.52 Ptolemaeus hat diese Liste leicht modifiziert übernommen.53 Alhacen knüpfte an diese Kategoriserung der Sehgegenstände an, indem er zwischen Licht und Farbe, den dem Gesichtssinn eigentümlichen Objekten, die er als visibilia per se bezeichnete, und den visibilia per accidens unterschied, die nicht ohne einen hinzutretenden Denkprozess erfasst werden können. Das, was vom Gegenstand wahrgenommen wird, bezeichnet Alhacen als ma’na, womit nach Sabra die Summe seiner visuell erfassbaren Eigenschaften gemeint ist.54 Die lateinische Übersetzung setzte dafür den vielschichtigen Begriff der intentio ein, der von den mittelalterlichen Lesern zumeist mit 48

Alhacen / Smith 2001, S. 29 f. [I.6.19]; vgl. Lindberg 1987, S. 136–150. Alhacen / Smith 2001, S. 81–84 [II.2.5–10]; Lindberg 1987, S. 150–158. 50 Witelo III,6 ff., Witelo / Unguru 1991, S. 299 ff. 51 Euklid / Theisen 1979, S. 62: „Ponatur ab oculo eductas rectas lineas ferri spacio magnitudinum immensarum. Et sub visibus contentam figuram conum esse verticem quidem in oculo habentem, basim vero ad terminos conspectorum.“ Euklids Thesen wurden von Ptolemaeus präzisiert, vg. Ptolemaeus / Smith, 1996, S. 23–26. Während Euklid und Ptolemaeus von conus sprachen, bevorzugten Alhacen und seine Nachfolger den Begriff Pyramide: Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 33 [I.6.26]; Bacon / Lindberg 1996, S. 68 [I,6]; Witelo / Unguru 1991, S. 313 f. [III,18]; Pecham / Lindberg 1970, S. 120–123 [I, 38a]. 52 Aristoteles / Seidl 1995, 96 f. [418a]; vgl. Summers 1987, S. 78–89. 53 Ptolomäus / Lejeune 1956, S. 12 (II,2): „Dicimus quod uisus cognoscit corpus, magnitudinem, colorem, figuram, situm, motum et quietem. Nichil autem ex his cognoscit uisus sine aliquo lucido et quolibet prohibente penetrationem.“ 54 Alhacen / Sabra 1989, II, 71 f.; zur Prägung dieses Begriffes bei Avicenna und zu seiner lateinischen Übersetzung vgl. Hasse 2000, S. 127–153. 49

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dem ganz anderen Begriffsverständnis Avicennas verbunden wurde, für den ma’na das bezeichnete, was von einem Objekt wahrgenommen wird, ohne selbst Teil der forma sensibilis zu sein.55 Intentio ist also mehr als die äußere visuelle Erscheinung, sie meint das Wesen der Objekte, das uns aber über das Optische vermittelt wird. Alhacen stellt fest, dass es 22 elementare intentiones visibiles, primäre Objekte des Gesichtssinnes gibt. Neben Licht und Farbe als visibilia per se listet er zwanzig weitere intentiones visibiles auf, die als visibilia per accidens zu gelten haben. Zu ihnen gehören Entfernung oder Abstand, Lage, Körperhaftigkeit, Figur und Größe.56 Die intentio eines Gegenstandes, seine spezifische Erscheinung und sein Wesen, kann durch den Sehsinn alleine nicht erfasst werden, sondern nur unter Mitwirkung der ratio. Das führt auf den internen Vorgang des Sehens, auf die Tätigkeit der inneren Sinne. Alhacens Vorstellungen vom inneren Prozess der Verarbeitung der Sinneseindrücke sind stark durch die Psychologie Avicennas bestimmt, die ihrerseits auf Aristoteles aufbaut.57 Er stellte den Ablauf sich so vor, dass die empfangenen Eindrücke durch den im Sehnerv laufenden spiritus visibilis zum Sehchiasma, der Kreuzung der vom Gehirn kommenden Sehnerven, geleitet werden, wo sich die von beiden Augen kommenden formae verbinden, von wo aus sie zum ultimum sentiens, der für Sinneseindrücke zuständigen Region des Gehirns, gelangen.58 Hier tritt die virtus distinctiva, die Unterscheidungskraft, in Tätigkeit, die die Eindrücke verarbeitet und der cognitio zuführt. Erkenntnis und Wissen werden schließlich im Gedächtnis (memoria) gespeichert, von wo sie abgerufen werden können, um mit neuen Seheindrücken verglichen zu werden. Erst mit Hilfe von vorgän-

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Avicenna 1968 / 72, Bd. 1, S. 99 ff. und Bd. II, S. 84 ff. „Intentio ist das, was die Seele an Sinnfälligem erfasst, obwohl der äußere Sinn jenes zuvor nicht erfasst“ (Intentio[…] est id, quod apprehendit anima de sensibili, quamvis non prius apprehendat illud sensus exterior). In diesem Sinne wurde der Begriff auch von Albertus Magnus definiert (De Anima II.3,4; Albertus Magnus 1968, S. 102): „Intentio autem vocatur id per quod significatur res individualiter vel universaliter secundum diversos gradus abstractionis; et haec non dat esse alicui nec sensui, quando est in ipso, nec etium intellectui, quando est in illo, sed signum facit de re et notitiam. Et ideo intentio non est pars rei sicut forma, sed potius est species totius notitiae rei.“ Zum Begriff der intentio vgl. auch Tachau 1988, S. 11–16. 56 Es sind „remotio, situs, corporeitas, figura, magnitudo, continuatio, discretio vel separatio, numerus, motus, quies, asperitas, lenitas, diafonitas; item spissitudo, umbra, obscuritas, pulchritudo, turpitudo, consimilitudo, diversitas“ (Entfernung oder Abstand, Lage, Körperhaft igkeit, Figur, Größe, Zusammenhang, Unterscheidung oder Getrenntsein, Zahl, Bewegung, Ruhe, Rauheit, Sanft heit, Durchsichtigkeit, Glanz, Schatten, Dunkelheit, Schönheit, Häßlichkeit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit): Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 111 [II.3,44]. Den entsprechenden Katalog bei Bacon / Lindberg 1996, S. 8; bei Witelo / Unguru 1991, S. 291, bei Pecham / Lindberg 1970, S. 134. Die Menge der visibilia per accidens ist damit nicht erschöpft. Es gibt viele weitere intentiones: „Et si aliqua intentio visibilis est preter istas, collocabitur sub aliqua istarum: sicut ordinatio, que collocabitur sub situ; et scriptura et pictura, que collocantur sub figura et ordinatione …“ (Alhacen / Smith a. a. O.). Schrift und Malerei könnte man danach als Intentionen zweiten Grades bezeichnen. 57 Avicenna / van Riet 1968 / 72, Bd. 1, S. 63*–90*; Hasse 2000. 58 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 97–99 [II.3,1–25].

2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung

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gigem Wissen, Unterscheidungskraft und Schlussfolgerung wird das, was die Sinneseindrücke enthalten, seinem Wesen nach erkannt. Roger Bacon hat Alhacens Vorstellung von der internen Verarbeitung des Seheindrucks modifiziert, indem er sie mit dem von Galen aufgestellten, allgemein akzeptierten Modell des in drei Ventrikel aufgeteilten Gehirns verband und die geistigen Seelenkräfte gemäß der aristotelischen Psychologie modifizierte, wobei er sich ausdrücklich auf die Lehren Avicennas berief.59 Am Anfang des Kognitionsprozesses, der sich im ersten Gehirnventrikel vollzieht, steht der sensus communis, der die Eindrücke der verschiedenen Sinne vergleicht und vereint, um sie dann zur imaginatio weiterzuleiten, die aus den Sinneseindrücken ein Vorstellungsbild formt, festhält und dem verarbeitenden Verstand zugänglich macht. Die beide übergreifende Instanz ist die virtus fantastica, die Phantasie, die die Beurteilung der Sinneseindrücke auf dieser Verarbeitungsstufe abschließt.60 Der mittlere Gehirnventrikel ist der Sitz der virtus cogitativa, die mit der virtus distinctiva bei Alhacen gleichzusetzen ist.61 Diese Fähigkeit des Schlussfolgerns und Verstehens, die Bacon als „domina virtutum sensitivarum“ bezeichnet, ist den Lebewesen in unterschiedlicher Weise eigen. Tiere beweisen diese Fähigkeit, wenn sie instinktiv vor einer Gefahr fliehen, wie, so das immer wieder zitierte Beispiel, das Schaf, wenn es einen Wolf sieht.62 Bei den Menschen ist die cogitatio hingegen durch den Intellekt gesteuert. Der kognitive Prozess, der als stufenweise fortschreitende Abstraktion zu begreifen ist, wird im dritten Gehirnventrikel durch die virtus aestimativa vollendet. Die Erkenntnisse werden im hier ebenfalls angesiedelten Gedächtnis gespeichert, auf die der Wahrnehmende dann jederzeit zurückgreifen kann.63 Diese Auffassung vom Prozess der Apperzeption steht in engem Zusammenhang mit den mittelalterlichen Vorstellungen von der cogitatio, die David Summers detailliert nachgezeichnet hat.64 Witelo und Pecham behandeln die Tätigkeit der inneren Sinne weit weniger ausführlich und bleiben enger bei den Vorgaben von Alhacen, indem sie an seinem Begriff der virtus distinctiva festhalten.65 Allen gemeinsam aber ist die grundlegende Feststellung, dass der Prozess der Wahrnehmung erst mit der Verarbeitung der visuellen Reize durch die inneren Sinne zum Abschluss kommt. Wahrnehmung, so stellte Alhacen fest, benötigt Zeit, wenn sie irrtumsfrei sein soll. Das liegt nicht nur am Prozess der Verarbeitung durch die inneren Sinne, sondern hat auch einen Grund im externen Sehvorgang. Der Zentralstrahl der Sehpyramide erreicht 59

Bacon / Lindberg 1996, S. 16 f. [I.1.5]. Bacon / Lindberg 1996, S. 8 [I.1,3]: „Et ideo cum sensus communis recipiat speciem et ymaginatio retineat eam, sequitur iudicium completum de re, quod exercet fantasia.“ 61 Bacon / Lindberg 1996, S. 14 [I.1,4] und S. 246 f. [II.3,9]. 62 Das Beispiel brachte zuerst Avicenna: Avicenna / van Riet 1968 / 72, Bd. 1, S. 86 (I.5,95). 63 Bacon / Lindberg 1996, S. 14 [I.1,4]. 64 Summers 1987, S. 198–234; zur Geschichte des Begriffs, der durch die gewöhnliche deutsche Übersetzung mit „Denken“ keineswegs ausgeschöpft wird, vgl. HWPh, Bd. 2, Artikel „Denken“, spez. Sp. 70–77. Durch die cogitatio ist es möglich von der visio corporalis zur visio intellectualis aufzusteigen. Die vis cogitativa ist bei Averroes die zentrale Fähigkeit der Seele, die die individualia nach den Kategorien des Aristoteles erfasst. 65 Pecham / Lindberg 1970, S. 156 [I.56{59}]. 60

2. Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung

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als einziger ungebrochen das empfindungsfähige Zentrum des Auges, zugleich ist er kürzer als alle anderen ihn umgebenden Strahlen der Sehpyramide. Deswegen ist er der stärkste der Sehstrahlen. Wenn ein Gegenstand ganz genau erfasst werden soll, ist es notwendig, dass der Blick so geführt wird, dass jeder Punkt des Objektes einmal zum Ausgangspunkt des Zentralstrahls wird. Diesen Modus des Sehens bezeichnen Alhacen und seine Nachfolger als intuitio.66 Davon zu unterscheiden ist der aspectus oder aspectus simplex, der, wie Witelo sagt, ein oberflächliches Betrachten ist, bei dem alles, was die Sehpyramide mit ihrer Basis umfasst, simultan registriert wird.67 Diese receptio simplex erfasst nur die intentiones manifestas. Ein tieferes Verständnis – certificare und comprehendere sind die dafür eingesetzten Verben, die auf die Verarbeitung des Seheindruck durch die inneren Sinne verweisen – kann nur die intuitio bringen, die mittels des Zentralstrahls erfolgt, der vom Betrachter gleichsam abtastend über das Objekt geführt wird.

66 Zum Begriff intuitio vgl. Smith 1081, S. 584 f.; Alhacen / Smith 2001, S. LXXXI f. Ausführlich geht Alhacen im zweiten Buch auf die beiden Modi des Sehens ein: Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 216–219. [II.4,3–5]. 67 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 216 f [II.4.1]; Alhacen spricht hier, wie auch sonst oft, einfach von visus, wenn er aspectus oder visio in primo aspectu meint. Den Unterschied zwischen beiden Modi des Sehens definiert er ganz allgemein: „Et generaliter omnes intentiones subtiles non apparent visui apud aspectum rei visae, sed post intuitionem et considerationem“ (Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 217 [II.4.2]. Witelo / Unguru 1991, S. 351 [III,51]: „Aspectum primum simplicem dicimus illum actum, quo primo simpliciter recipitur in oculi superficie forma rei visae: intuitionem vero dicimus illum actum quo visus veram comprehensionem forme rei diligenter perspiciendo perquirit, non contentus simplici receptione sed profunda indagine“.

3. Revision der Auffassung von den Aufgaben und dem Status des Bildes 3. Aufgaben und Status des Bildes

Die durch Alhacen und seine mittelalterlichen Nachfolger verbreiteten Lehren waren in erster Linie eine Theorie der visuellen Wahrnehmung, die physikalische, physiologische und psychologische Momente verbindet und dabei besonderes Gewicht auf die kognitiven Vorgänge legt, deren Analyse sich auf die Autorität der aristotelischen Psychologie stützt.1 Die detaillierte Analyse der Wahrnehmungsprozesse im Hinblick auf spezifische Wahrnehmungsgegenstände, die bei Alhacen und seinen Nachfolgern ausführlich dargelegt wird, bot, wie zu zeigen sein wird, zahlreiche Anregungen, die Künstler für ihre Arbeiten fruchtbar machen konnten. Selbstverständlich ist nicht zu erwarten, dass die optischen Erkenntnisse, die sich im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts rasch verbreiteten, gleich zu einem radikalem Umsturz der Bildauffassung führten. Die tradierte christliche Einstellung zum Sehen, die so eng mit der Sendetheorie verbunden war, hatte auch weiterhin ihre Anhänger. Wie so häufig in der Geschichte des Bildes, ist von einem konkurrierenden Nebeneinander von sich widersprechenden Bildauffassungen auszugehen. Es sind jedoch bei verschiedenen Autoren Ansätze zu einer Revision der Bildauffassung zu erkennen, die im Kontext der Rezeption der aristotelischen Psychologie und im Lichte einer Aufwertung der visio corporalis zu sehen sind.2 Honorius Augustodunensis hatte gegen Mitte des 12. Jahrhunderts in seiner ‘Gemma animae’ geschrieben: „Aus drei Gründen wird Malerei gemacht: erstens, weil sie die Lektüre der Laien ist; zweitens, damit das Haus mit solcher Zierde geschmückt werde; drittens, damit das Leben der Vorfahren in Erinnerung gerufen werde.“3 Diese letztlich auf Gregor d. Gr. zurückgehenden Thesen4 wurden im Mittelalter vielfach wiederholt und später auch erweitert. Ein wichtiger Ort, der Anlass für eine Diskussion über den Status des Bildes bot, waren die Sentenzenkommentare. Die von Petrus Lombardus aufgeworfene Frage, ob die 1 2

Vgl. Smith 2004, S. 188 f. Der Text dieses Kapitels basiert auf meinem 1998 publizierten Aufsatz: Büttner 1998, S. 195–

214. 3

„Ob tres autem causas fit pictura: primo, quia est laicorum litteratura; secundo, ut domus tali decore ornetur; tertio, ut priorum vita in memoriam revocetur“: Honorius Augustodunensis: Gemma animae sive de divinis officiis et antiquo ritu missarum … In: Patrologia Latina, Bd. 172, Sp. 586. 4 Die beiden loci classici sind der Brief an den Bischof Serenus von Marseille (Paul Ewald; Ludwig M. Hartmann: Gregorii I papae registrum epistolarum (Monumenta Germaniae Historica, Reihe IV: Epistolae), Bd. 2, Berlin 1899, S. 269–271 (XI,10)) und der Brief an Secundinus (ebd. S. 147–149 (IX, 147)). Nach Ansicht der Herausgeber ist der Teil des Briefes an Secundinus, in dem der Passus zur Bilderfrage steht, ein späterer Zusatz, da er in den beiden ältesten Textzeugen noch nicht enthalten ist.

3. Aufgaben und Status des Bildes

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„humanitas Christi“ Anbetung fordere, wurde von den ersten Kommentatoren dazu genutzt, die Grenzen zwischen wahrer und falscher Anbetung abzustecken. In diesem Zusammenhang lenkten auch schon Alexander von Hales5 und Albertus Magnus6 die Aufmerksamkeit auf das Problem der Bilderverehrung. Ihre Antworten fielen ganz im Sinne der durch das zweite Konzil von Nicaea (787) festgelegten Linie aus: nicht dem Bild, sondern dem Prototypus, auf den es bezogen ist, gilt die Anbetung.7 Bonaventura ging in seinem Sentenzenkommentar, den er während seiner Lehrtätigkeit in Paris zwischen 1248 und 1253 verfasste, einen entscheidenden Schritt weiter, indem er nach der Funktion der Bilder für den Menschen fragte. Von dem seit Gregor d. Gr. immer wieder bestätigten Katalog der Bildfunktionen ausgehend zeigt er, dass es gerade die Schwäche des Menschen ist, die die Verwendung von Bildern notwendig macht: „Die Einführung von Bildern in die Kirche geschah nicht ohne vernünft igen Grund. Sie wurden nämlich aus dreifachem Grund eingeführt, und zwar wegen der Ungebildetheit der einfachen Menschen, wegen der Langsamkeit der Affekte und wegen der Schwäche des Erinnerungsvermögens.“8 Thomas von Aquin, der seinen Sentenzenkommentar ebenfalls in Paris und nur wenig später, nämlich zwischen 1253 und 1257, verfasste, folgte Bonaventura, wenn auch mit kleinen Abänderungen: „Es gab einen dreifachen Grund für die Aufstellung von Bildern in der Kirche. Erstens zur Unterrichtung der Ungebildeten, die durch sie gleichsam wie durch Bücher belehrt werden. Zweitens, damit das Mysterium der Inkarnation und die Beispiele der Heiligen besser in Erinnerung seien, wenn sie täglich vor Augen geführt werden. Drittens zur Erregung des Affektes der Andacht, der durch Gesehenes wirksamer angeregt wird als durch Gehörtes.“9 5 Alexander de Hales, Glossa in quatuor libros sententiarum Petri Lombardi, Quaracchi 1954, Bd. 3, S. 109 (lib. III, dist. IX, art.10). 6 Albertus Magnus, Commentarium in III Sententiarum, Opera Omnia, ed. S. C. A. Borgnet, Bd. 28, Paris 1894, S. 174 (lib. III, dist. IX, art. 4): „Dicendum quod Deus non debet adorari nisi in imagine statuta in memoriam suae figurae, quam pro nobis assumpsit, hoc est in figura crucis et passionis, et aliorum sacramentorum, quae pro nobis suscepit, sicut nativitatis, baptismatis, et resurrectionis, et huiusmodi. Huiusmodi enim adoratio in mortua imagine ad prototypum refertur, ut dicit Damascenus.“ Albertus Magnus bezieht sich hier auf Johannes Damascenus, De imaginibus oratio III, 42 (Patrologia Graeca, Bd. 94, Sp. 1362, ein Zitat nach Basilius d. Gr., De Spiritu Sancto, 18,45; Patrologia Graeca, Bd. 32, Sp. 149); vgl. unten S. 35. Vgl. H. Menges, Die Bilderlehre des hl. Johannes von Damaskus, Münster 1938. Für eine konzentrierte Zusammenfassung der byzantinischen Bilderlehre vgl. den von Klaus Wessel verfassten Artikel ‘Bild’ im Reallexikon zur byzantischen Kunstgeschichte, Bd. I, 1966, Sp. 616 ff.; zu Johannes Damascenus Sp. 647 ff. 7 Denzinger 1991, 276 f. (Nr. 600–603). Der auf Basilius d. Gr. zurückgehende Satz (vgl. vorhergehende Anm.) wurde damit zum Dogma erhoben. 8 Bonaventura 1882–89, Bd. III, S. 203. (lib. III, dist. IX, art. I, quaest. II): „… imaginum introductio in Ecclesia non fuit absque rationabili causa. Introductae enim fuerunt propter triplicem causam, videlicet propter simplicium ruditatem, propter affectum tarditatem, et propter memoriae labilitatem.“ 9 Thomas von Aquin 1881, S. 155 (lib. III, dist. IX, quaest. 1, art. 2): „Fuit autem triplex ratio institutionis imaginum in Ecclesia. Primo ad instructionem rudium, qui eis quasi quibusdam libris edocentur. Secundo, ut incarnationes mysterium et sanctorum exempla magis in memoria essent, dum quotidie oculis repraesentantur. Tertio ad excitandum devotionis affectum, qui ex visis efficacius incitatur quam ex auditis.“

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Das wohlbekannte Argument der Belehrung durch die Bilder steht am Anfang, lediglich insofern modifiziert, als hier nicht die Laien insgesamt, sondern nur die Ungebildeten als Adressaten der Bilder genannt werden. Das in der vom Aquinaten gewählten Reihenfolge zweite Motiv, das der Erinnerung, scheint ebenfalls seit Gregor d. Gr. vertraut zu sein, doch aus dem „magis“ bei Thomas ist zu schließen, dass es hier nicht generell um Erinnerung geht, sondern um ihre Intensität, um einen Aspekt also, der in der älteren Tradition der Bilddiskussion so nicht in Erscheinung trat. Dieses Argument findet sich auch bei Bonaventura: Die Bilder wurden eingeführt „wegen der Schwäche des Gedächtnisses, weil das, was nur gehört wird, leichter dem Vergessen anheimfällt als das, was gesehen wird. Oft und in vielem erweist sich als wahr, was man zu sagen pflegt, das Wort geht zu einem Ohr hinein und zum anderen hinaus. Außerdem steht nicht immer jemand zur Verfügung, der uns die erwiesenen Wohltaten durch Worte in Erinnerung zurückruft.“10 Bilder haften besser im Gedächtnis als Worte: das war die Grunderfahrung, auf der die antike Mnemotechnik basierte, die in der Scholastik eine neue Blütezeit erlebte.11 Entscheidend dafür war wiederum die Rezeption der aristotelischen Psychologie. Memoria, so führte Thomas in seinem Aristoteles-Kommentar aus, bezieht sich immer auf früher Wahrgenommenes oder Gedachtes.12 Die species der Wahrnehmung werden der Phantasie oder imaginatio eingeprägt, die im Akt der reminiscentia als Phantasmata wieder hervorgerufen werden können.13 Diese Phantasmata, die Thomas als similitudines sensibilium oder imago charakterisiert und sogar mit der pictura vergleicht, spielen für das Denken und Erkennen eine entscheidende Rolle. Wie die Sinne durch die Wahrnehmungsgegenstände bewegt werden, so der Intellekt durch die Phantasmata.14 Ohne Phantasmata ist der Seele ein Denken und Erinnern nicht möglich.15 Natürlich kann auch Gedachtes erinnert werden, doch Thomas unterscheidet – analog zu der bei den intentiones visibiles vorgenommenen Unterscheidung – zwischen memorabilia per se, die auf sensibilia zurückgehen und memorabilia per accidens, die sich auf intelligibilia beziehen, die aber auch nicht ohne Phantasmata erinnert werden können: „Daher kommt es, dass wir die Dinge, die subtil und geistig erwogen werden müssen, schlechter erinnern können. Besser zu erinnern sind Dinge, die stark und sinnlich wahrnehmbar sind. Deshalb ist es notwendig, wenn wir gedankliche Erwägungen besser erinnern wollen, sie

10

Bonaventura 1882–89, Bd. 3, S. 203 (lib. III, dist. IX, art. I, quaest. II): [Die Bilder wurden eingeführt] „… propter memoriae labilitatem, quia ea quae audiuntur solum, facilius traduntur oblivioni, quam ea quae videntur. Frequenter enim verificatur in multis illud quod consuevit dici: verbum intrat per unam aurem et exit per aliam. Praeterea, non semper est praesto qui beneficia nobis praestita ad memoriam reducat per verba.“ 11 Vgl.: Yates 1990, S. 54 ff. 12 Thomas v. Aquin 1928, Nr. 307, S. 108. 13 Vgl. Thomas v. Aquin 1928, Nr. 328, S. 116. 14 Thomas v. Aquin 1959, Nr. 770, S. 183; Thomas v. Aquin 1928, Nr. 328, S. 116 und Nr. 343, S. 119. 15 Thomas v. Aquin 1959, Nr. 772, S. 183.; Thomas v. Aquin 1928, Nr. 311 ff., S. 111 ff. Vgl. Aristoteles, De memoria 431a.

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mit irgenwelchen anderen Phantasmata zu verknüpfen, wie Tullius [Cicero] in seiner Rhetorik lehrt.“16 Aus der im Anschluss an Aristoteles entwickelten Psychologie ergaben sich also Argumente für eine Rechtfertigung der Bilder, durch die die bisherigen Vorstellungen vertieft und erweitert wurden. Bilder waren unverzichtbar, weil sich der Gläubige ohne sie kaum ein sicheres Vorstellungsbild von Christus, den Heiligen und den Glaubenswahrheiten überhaupt schaffen konnte, und sie mussten vor allem für jene, deren Bildung und Intellekt nicht ausreichte, in sich Vorstellungsbilder für die intelligibilia des Glaubens zu erzeugen, ständig präsent gehalten werden. Bonaventura hat dieser Auffassung im Hinblick auf die unterste Stufe menschlichen Erkennens grundsätzlich zugestimmt. Dies belegt nicht nur die angeführte Passage aus dem Sentenzenkommentar, sondern beispielsweise auch das zweite Kapitel des ‘Itinerarium mentis in Deum’.17 Das dritte von Thomas für die Bilder vorgebrachte Argument, dass nämlich Bilder den Affekt der Andacht anzuregen vermögen, bezog seine Überzeugungskraft ebenfalls aus der neuen Psychologie. Ausführlicher noch als Thomas hatte Bonaventura dieses Argument in seinem Sentenzenkommentar herausgestellt: „Sie (sc. die Bilder) sind gleichfalls wegen der Langsamkeit der Affekte eingeführt worden, damit nämlich Menschen, die nicht zur andächtigen Betrachtung dessen, was Christus für uns getan hat, angeregt werden, wenn sie es hören, wenigstens dazu angeregt werden, wenn sie es in Figuren und Bildern gleichsam gegenwärtig mit den körperlichen Augen wahrnehmen. Denn unser Affekt wird mehr durch das erregt, was wir sehen, als durch das, was wir hören. Weswegen Horaz schreibt: ‘schwächer rührt die Seelen, was hinabgeschickt wird durch das Ohr, als das, was durch die verlässlichen Augen vorgestellt wird und was der Betrachter sich selbst vermittelt’“.18 Völlig neu war auch diese Ansicht von der affektiven Wirkung der Bilder nicht. Ein16 Thomas v. Aquin 1928, Nr. 326, S. 114: „Et inde est quod ea quae habent subtilem et spiritualem considerationem, minus possumus memorari. Magis autem sunt memorabilia quae sunt grossa et sensibilia. Et oportet, si aliquas intelligibiles rationes volumus memorari facilius, quod eas alligemus quasi quibusdam aliis phantasmatibus, ut docet Tullius in sua Rhetorica.“ Der Hinweis auf Cicero bezieht sich auf die ‘Rhetorica ad Herennium’, III, 24, den Abschnitt über die Mnemotechnik. Thomas von Aquin hat diese Auffassung in der Summa theologica wiederholt (II–II q. 49 a. 1 ad 2): „… intentiones simplices et spirituales facilius ex anima elabuntur nisi quibusdam similitudinibus corporalibus quasi alligentur: quia humana cognitio potentior est circa sensibilia.“ 17 Bonaventura / Kaup 1961, S. 77 ff. Im Weiteren allerdings unterscheidet sich Bonaventura von der aristotelischen Psychologie dadurch, dass er für die Erkenntnistätigkeit der Seele als höchste Stufe über der Wahrnehmung des sinnlich Gegenwärtigen und der Erinnerung des Vergangenen die göttliche Illumination voraussetzt (vgl. ebd. S. 96 f.). 18 Bonaventura 1882–89, Bd. 3, S. 203 (lib. III, dist. IX, art. I, qu. II); S. 203: „Propter affectus tarditatem similiter introductae sunt, videlicet ut homines, qui non excitantur ad devotionem in his quae pro nobis Christus gessit, dum illa aure percipiunt, saltem excitentur, dum eadem in figuris et picturis tanquam praesentia oculis corporeis cernunt. Plus enim excitatur affectus noster per ea quae videt quam per ea quae audit. Unde Horatius: Segnius irritant animos demissa per aurem, quam quae sunt oculis subjecta fidelibus et quae ipse sibi tradit spectator.“ Das Horaz-Zitat entstammt der ‘Epistula ad Pisones’ (‘Ars poetica’), V. 180–182.

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mal mehr war es Gregor d. Gr., auf den sich die Verteidiger der Bilder berufen konnten. Dieser hatte an Secundinus Ikonen übersandt und dazu geschrieben: „Ich weiß, dass du das Bild unseres Erlösers nicht begehrst, um es wie einen Gott zu verehren, sondern um in der Erinnerung des Gottessohnes in Liebe zu dem zu entbrennen, dessen Bild du zu sehen begehrst.“ 19 In der Auseinandersetzung mit den Bilderstürmern wurde dann allerdings nachdrücklich betont, dass die Urbilder Ursache der Affekte sind.20 Der schon angesprochene, von Basilius d. Gr. geprägte Kernsatz der Bilderlehre: „Die Verehrung des Bildes geht über auf das Urbild“21 wurde analog übertragen auf die Wirkung der Bilder auf den Betrachter: die affektive Wirkung geht auf das Urbild zurück. Die Gleichsetzung von Bild und Schrift, wie sie in den Kanones des Konzils von Konstantinopel22 festgehalten wurde, und vor allem die in den ‘Libri Carolini’23 geforderte Begrenzung der Funktion der Bilder auf das didaktische Element ließen die affektive Wirkung der Bilder zumindest in der westlichen Überlieferung24 in den Hintergrund treten. Der Auffassungswandel, den die angeführten Stellen von Bonaventura und Thomas von Aquin belegen, ist wieder im Zusammenhang mit der Aristoteles-Rezeption zu sehen. Die Sinneswahrnehmung prägt auch nach der Überzeugung des Aquinaten der Seele die species, die intentionale Form der Wahrnehmungsgegenstände, ein. Zugleich spricht sie das Strebevermögen an. Je nach dem, ob dieser Gegenstand ein Gut oder ein Übel darstellt, ob er gegenwärtig oder abwesend ist, ob er erreichbar oder unerreichbar ist, werden die „begehrfähigen“ oder „kampff ähigen“ Strebevermögen und die ihnen zugeordneten Affekte (passiones) erregt.25 Die Affekte können nicht allein von sich aus den Menschen zur Tätigkeit bewegen, sondern sind dem Willen unterworfen.26 Anderer19

Paul Ewald; Ludwig M. Hartmann: Gregorii I papae registrum epistolarum (Monumenta Germaniae Historica, Reihe IV: Epistolae), Bd. 2, Berlin 1899, S. 149 (IX, 147): „Scimus, quia tu imaginem Salvatoris nostri ideo non petis, ut quasi Deum colas, sed ob recordationem fi lii Dei in eius amore recalescas, cuius te imaginem videre desideras“ (vgl. oben S. 28, Anm. 4). 20 Beispielsweise im 2. Konzil von Nikaia (787): Je häufiger sie [sc. die Bilder Christi, Mariens und der Heiligen] nämlich durch (äé/!) eine bildliche Darstellung angeschaut werden, desto häufiger werden auch diejenigen, die diese betrachten, emporgerichtet zur Erinnerung an die Urbilder und zur Sehnsucht nach ihnen“ (Denzinger 1991, S. 276, Nr. 601). 21 Basilius d. Gr., ‘De Spiritu Sancto’, Patrologia Graeca, Bd. 32, Sp. 149 („ˆ tVw eXk3now tim: Ep; t< prot3tzpon diaba2nei“). Dieser Satz wurde auch in den Akten des Konzils von Nikaia zitiert und erhielt so kanonische Gültigkeit. 22 Denzinger 1991, S. 301 f., Nr. 653–656. 23 Gert Haendler, Epochen karolingischer Theologie. Eine Untersuchung über die karolingischen Gutachten zum byzantinischen Bilderstreit, Berlin 1958, S. 113 ff. 24 Auf die Neuerungen einer „beseelten Malerei“ in der Ostkirche hat z. B. Belting 1990, S. 292 ff. hingewiesen. 25 Eine schematische Übersicht über die Strebevermögen (appetitus concupiscibilis und appetitus irascibilis) und die ihnen zugeordneten positiven und negativen Affekte bei Brennan 1957, S. 134 f. 26 Thomas von Aquin, Summa theologica,I q. 81 a. 3: „Sed homo non statim movetur secundum appetitum irascibilis et concupiscibilis; sed exspectatur imperium voluntatis, quod est appetitus superior“.

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seits haben die Affekte einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Willen.27 Damit erhält die sinnliche Wahrnehmung zusätzliches Gewicht, denn die passiones müssen bewegt werden, um ihrerseits zu bewegen. Zwar können Affekte auch durch die Phantasie und die Erinnerung geweckt werden, doch am intensivsten sind jene Affekte, die durch die Präsenz des Gegenstandes selbst verursacht werden. In dem Artikel, der die Frage behandelt, ob Hoffnung und Erinnerung Ursache der Ergötzung (delectatio) seien, stellt Thomas fest: „Am größten ist die Ergötzung, die durch den Sinn erfolgt, der die Gegenwart des Wahrnehmungsgegenstandes erfordert. Den zweiten Grad hält die Ergötzung der Hoffnung inne, in der nicht nur die Verbindung hinsichtlich der (inneren) Wahrnehmung ergötzlich ist, sondern auch hinsichtlich der Möglichkeit oder Fähigkeit, das Gut zu erlangen, das ergötzt. Den dritten Grad aber nimmt die Erinnerung ein, die nur die Verbindung der (inneren) Wahrnehmung hat.“28 In dem Artikel über die Andacht (devotio), die ein dem Willen zuzurechnender religiöser Akt ist, der von Affekten begleitet wird und wie der Wille selbst durch Affekte bewegt werden kann, schreibt Thomas, dass Gott die äußere Ursache der Andacht sei, meditatio und contemplatio aber ihre innere Ursache. „Es liegt an der Schwäche des menschlichen Geistes, dass er wie zur Erkenntnis der göttlichen Dinge so zur Ergötzung durch irgendwelche bekannte sinnliche Gegenstände hingeführt werden muss. […] So erregt das, was zum Menschsein Christi gehört, durch die Art einer gewissen Hinführung am meisten zur Andacht.“29 Dies können natürlich auch Erzählungen bewirken, doch wirksamer ist dies mit Bildern zu erreichen, denn sie bieten – wenigstens dem Scheine nach – Gegenwärtiges, das unmittelbarer auf die Affekte wirken kann als das nur Gehörte, das sich auf Vergangenes bezieht. Bonaventura brachte in der oben angeführten Stelle im Sentenzenkommentar genau dies zum Ausdruck und bekräft igte es mit dem Horaz-Zitat. Der Unterschied zur Auffassung der Kirchenväter liegt darin, dass die sinnfällige Präsenz des Dargestellten im Bild primäre Ursache seiner affektiven Wirkung ist. Thomas erkennt auch, dass schon das Bild selbst, insofern es ein die Wirklichkeit nachahmendes Kunstwerk ist, eine affektive Wirkung ausüben kann. In den Erörterungen über die delectatio stellt er fest, dass zwar die intellektuellen Ergötzungen die höchsten sind, die körperlichen, durch die Sinne erfahrenen Freuden jedoch heft iger, wobei, wenn es um die 27

Thomas von Aquin, Summa theologica, I–II q. 9 a. 2, wo dargelegt wird, dass der Wille nicht despotisch, sondern in einem „principatu regali seu politico“ herrscht: „Unde et irascibilis et concupiscibilis possunt in contrarium movere ad voluntatem. Et sic nihil prohibet voluntatem aliquando ab eis moveri.“ Dass der Wille in gewisser Weise sogar auf die Affekte angewiesen ist, sagt Thomas ebd., I–II q. 77 a. 6: „non enim potest voluntas intense moveri in aliquid, quin excitetur aliqua passio in appetitu sensitivo.“ 28 Thomas von Aquin, Summa theologica, I–II q. 32 a. 3: „maxima est delectatio quae fit per sensum, qui requirit praesentiam rei sensibilis. Secundum autem gradum tenet delectatio spei, in qua non solum est delectabilis coniunctio secundum apprehensionem, sed etiam secundum facultatem vel potestatem adipiscendi bonum quod delectat. Tertium autem gradum tenet delectatio memoria, quae habet solam coniunctionem apprehensionis“. 29 Thomas von Aquin, Summa theologica, II–II q. 82 a. 3: „Sed ex debilitati mentis humanae est quod sicut indiget manuduci ad cognitionem divinorum, ita ad dilectionem, per aliqua sensibilia nota. […] Et ideo ea quae pertinent ad Christi humanitatem, per modum cuiusdam manuductionis, maxime devotionem excitant.“

3. Aufgaben und Status des Bildes

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Erkenntnis geht, diejenigen der visuellen Wahrnehmung noch über denen der anderen Sinne stehen.30 Die Wahrnehmung des Schönen erfreut den Betrachter unmittelbar.31 Ursache der delectatio kann schließlich auch Bewunderung sein: „Und deswegen ist alles Wunderbare ergötzlich, genauso wie die seltenen Dinge; und auch alle Darstellungen von Dingen, selbst wenn sie an sich nicht ergötzlich sind; es erfreut sich nämlich die Seele daran, eines mit dem anderen zu vergleichen, weil das Vergleichen eines mit dem anderen ein eigentümlicher und naturgemäßer Akt der Vernunft ist, wie der Philosoph in seiner Poetik sagt.“32 Diese Freude an der Nachahmung hat allerdings auch ihre problematischen Seiten. Sie steht – beispielsweise in der Freude an Schauspielen – der lasterhaften Neugierde nahe,33 und sie war eine Ursache der Idolatrie, denn die kunstvoll gefertigten Bildwerke beeindruckten die rohen und ungebildeten Menschen so, dass sie sie als Götter verehrten.34 Derartige Überlegungen mögen wohl dazu beigetragen haben, dass Thomas den Konsequenzen, die sich aus der auf der Nachahmung gründenden affektiven Wirkung der Bilder ergaben, einen Riegel vorschob. Schon im Sentenzenkommentar wies er unter Berufung auf Aristoteles darauf hin, dass wir ein Bild zum einen um seiner selbst willen betrachten können, zum anderen aber um dessen willen, dessen Abbild es ist.35 Damit war er wieder bei der althergebrachten Verweisfunktion der Bilder: „Aber die gemalten Bilder sind nicht Bilder wegen der Ähnlichkeit in der Natur, sondern wegen der Einrichtung, etwas zu bedeuten; weswegen von ihnen Ehre nur erworben wird bezogen auf ein anderes.“36 Diese Bedenken wurden jedoch in der weiteren Rezeption der Argu30

Thomas von Aquin, Summa theologica, I–II q. 31 a. 5 und ebd. q. 31 a. 6: „Si igitur loquamur de delectatione sensus quae est ratione cognitionis, manifestum est quod secundum visum est maior delectatio quam secundum aliquem alium sensum“. 31 Thomas von Aquin, Summa theologica, I q. 5 a. 4 ad 1; dazu Eco 1991, S. 122 ff. 32 Thomas von Aquin, Summa theologica, I–II q. 32 a. 8: „Et propter hoc omnia mirabilia sunt delectabilia, sicut quae sunt rara: et omnes repraesentationes rerum etiam quae in se non sunt delectabiles; gaudet enim anima in collatione unius ad alterum, quia conferre unum alteri est proprius et connaturalis actus rationis, ut Philosophus dicit in sua Poetica.“. Thomas bezieht sich hier auf Aristoteles, ‘De arte poetica liber’ 1448b. Er kannte dieses Werk allerdings wohl nur durch die lateinische Übersetzung der expositio des Averroes: ‘Averrois expositio poeticae’, in: Aristoteles Latinus, Bd. XXXIII, De Arte Poetica, ed. L. Minio Paluello, Brüssel / Paris 1968, S. 45. Auf dieses Argument kommt Thomas auch an anderer Stelle zurück, z. B. I q. 1 a. 9: „repraesentatio enim naturaliter homini delectabilis est“. 33 Thomas von Aquin, Summa theologia, II–II q. 167 a. 2. 34 Thomas von Aquin, Summa theologica, II–II q. 94 a. 4: „Secundo propter hoc quod homo naturaliter de repraesentatione delectatur, ut Philosophus dicit, in Poetria sua. Et ideo homines rudes a principio videntes per diligentiam artificum imagines hominum expressive factas, divinitatis cultum eis impenderunt“. 35 Thomas v. Aquin 1881, S. 155 (lib. III, dist. IX, q. 1 a. 2, solutio 2): „… imago potest dupliciter considerari, vel secundum quod est res quaedam, et sic nullus honor ei debetur, sicut nec alii lapidi vel ligno; vel secundum quod est imago. Et quia idem motus est in imaginem inquantum est imago, et in imaginatum, ideo unus honor debetur imagini et ei cuius est imago; et ideo cum Christus adoretur latria, similiter et eius imago.“ 36 Thomas v. Aquin 1881, S. 156 (lib. III, dist. IX, q. 1 a. 2, solutio 5): „Sed imagines pictae non sunt imagines per similitudinem in natura, sed per institutionem ad significandum; unde ex hoc non acquiritur eis nisi honor relatus ad alterum.“

3. Aufgaben und Status des Bildes

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mente, mit denen Bonaventura und Thomas die Bilder gerechtfertigt hatten, zurückgestellt. Aegidius Romanus hat in seinem Sentenzenkommentar die Argumente des Aquinaten genau wiederholt, ebenso Johanns Balbus von Genua in seinem gegen Ende des 13. Jahrhunderts verfassten Catholicon.37 Guillelmus Duranti von Mende hat in seinem Rationale divinorum officiorum die Forderung nach fi ktiver Präsenz des Abgebildeten im Bild noch verstärkt.38 In seinem Kapitel über die Bilderfrage wiederholt er zunächst die immer wieder angeführten Gründe, dass die Bilder der Belehrung und Erinnerung dienen. Er belässt es aber nicht dabei, sondern fügt wenig später hinzu: „Die Malerei scheint die Seele mehr zu bewegen als die Schrift, durch die Malerei nämlich werden die Taten vor die Augen gestellt und scheinen gleichsam gegenwärtig zu geschehen. Durch die Schrift werden die Taten gleichsam durch das Gehör, das die Seele weniger bewegt, in Erinnerung gerufen. Deswegen auch erweisen wir in der Kirche den Büchern nicht solche Achtung wie Bildern und Malereien.“39 In der Malerei werden die Taten der Heiligen dem Betrachter so vor Augen gestellt, dass sie sich gleichsam gegenwärtig abzuspielen scheinen. Der tradierte Glaube an die Präsenz der Wirkungsmacht des Heiligen, die für Bild und Reliquie gleichermaßen galt,40 wird von der Vorstellung einer fi ktiven Gegenwart historischen Geschehens im Bild abgelöst. Der Wunsch nach dieser fi ktiven Gegenwärtigkeit regte sich auch in der gleichzeitigen Andachtsliteratur. Der Impuls zu dem ganz bemerkenswerten Aufschwung, den diese 37

Aegidius Romanus, In tertium librum Sententiarum commentaria, Rom 1623, S. 377 (zu dist. IX, q. 2 a. 2); Johannes Balbi von Genua wird zitiert bei Baxandall 1977, S. 55. 38 Durantis 1995, S. 34 f. (Lib. I, cap. 3: De picturis et cortinis et ornamentis ecclesie). 39 Durantis 1995: „Pictura namque plus uidetur mouere animum quam scriptura. Per picturam quidem res gesta ante oculos ponitur quasi in presenti geri uideatur, sed per scripturam res gesta quasi per auditum, qui minus animum mouet, ad memoriam reuocatur. Hinc etiam est quod in ecclesia non tantam reuerentiam exhibemus libris quantam ymaginibus et picturis.“ Die zitierte Ausgabe hat an Stelle von „geri videatur“ „generi videatur“. In verschiedenen älteren gedruckten Ausgaben (z. B. Lyon 1506 und allen späteren dort erschienenen Ausgaben, ebenso Venedig 1519 und später) fehlt der Passus „quasi … uideatur“. Wo dieser Passus jedoch erscheint, beispielsweise in den Ausgaben Nürnberg 1494, Straßburg 1501, Hagenau 1509, heißt es stets: „quasi in presenti geri uideatur“. Dass der Passus keine Einfügung der Inkunabel-Zeit ist, belegt die mittelhochdeutsche Übersetzung, die um 1384 für Herzog Albrecht III. von Österreich geschaffen wurde. Dort heißt es: „Aber Gregorius sprichet daz nicht zemleich ist zu prechen di gemelte, von der ůrsache wegen daz si nicht sollen werden angepettet, wann daz durch daz gemelte daz geschehen dinkch fur di augen wirt geseczet, als ez werd zu tůn gesehen in der gegenwůrtichait, aber zw gedechtnuzz wirt gerueffen daz geschehen dinkch durch di schrift als durch di horung, di den muet mynner wegent“ (Gerhard H. Buijssen: Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung. Die Bücher I–III nach der Hs. CVP 2765, Assen 1974, S. 44). 40 Klaus Wessel (Reallexikon zur byzantischen Kunstgeschichte, Bd. I, 1966, Sp. 849) schreibt im Zusammenhang mit dem Bildbegriff des Johannes Damascenus: „Somit ist der Abgebildete im Bild selbst zugegen, aber nicht substantiell, sondern geistig und nach seiner Wirkungsfähigkeit“. Vgl. auch Menges (wie Anm. 87), S. 39. Zum Begriff der praesentia in der Reliquienverehrung vgl. R. Kroos, Vom Umgang mit Reliquien, in: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, Katalog der Austellung Köln 1985, Bd. 3, S. 38. Das Problem der „praesentia“ in Schrift und Bild behandelt Wenzel 1995, S. 305 ff., allerdings müsste dort stärker im Sinne des hier angesprochenen Vorstellungswandels differenziert werden.

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Kreuzabnahme, farbig gefasste plastische Gruppe, Volterra, Dom

Literaturgattung seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nahm, scheint von den Franziskanern ausgegangen zu sein.41 Das bekannteste Beispiel dafür sind die unter dem Namen Bonaventuras tradierten ‘Meditationes vitae Christi’.42 Noch vor diesen scheint ein ‘Libellus’ mit Passionsbetrachtungen entstanden zu sein, der in seiner Vorrede das Prinzip dieser Andachtsübungen artikuliert und fordert, sich das Leiden Christi als gegenwärtig vorzustellen.43 Der hl. Franziskus selbst war es, der die überwältigende Wirkung der fi k41

Freedberg 1989, S. 168 ff.; J. H. Marrow, Passion Iconography in Northern European Art of the Late Middle Ages and Early Renaissance: A Study of the Transformation of Sacred Metaphor into Descripte Narrative (Ars Neerlandica 1), Kortrijk 1979. 42 Meditationes vitae Christi, in: Bonaventura, Opera Omnia, ed. A. C. Peltier, Bd. 12, Paris 1868, S. 510 ff. 43 „Necessarium etiam esse, ut aliquando ista cogites in contemplatione tua, ac si praesens

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tiven Gegenwärtigkeit des biblischen Geschehens vor Augen geführt hat, als er zur Weihnachtsmesse in Greccio eine Krippe aufstellen, Ochse und Esel herbeiführen ließ und eine Puppe in die Krippe legte, die den Anwesenden lebendig zu werden schien, als Franziskus sie auf den Arm nahm.44 Die verschiedenen Formen des geistlichen Schauspiels, die sacre rappresentazioni oder die laude, die, besonders von den Franziskaner gefördert, zunehmend mit mehreren Akteuren aufgeführt wurden, bestätigen diese Tendenz zur Vergegenwärtigung im 13. Jahrhundert.45 Von diesen geistlichen Schaustellungen ist es nur ein kleiner Schritt zu demjenigen künstlerischen Medium, das nach den gängigen Vorstellungen am besten geeignet war, den Wunsch nach Gegenwärtigkeit zu erfüllen: die polychrome Skulptur, die im 13. Jahrhundert eine einzigartige Blütezeit erlebte. Kruzifi x und Madonna mit Kind wurden dem Betrachter in Lebensgröße und in einer als natürlich anzusehenden Farbigkeit vor Augen gestellt.46 Eine weitere Steigerung der Vergegenwärtigung bedeuteten die Kreuzabnahmegruppen, die vom späten 12. Jahrhundert an vor allem in Mittelitalien größte Verbreitung fanden (Abb. 3).47 Diese Skulpturen waren fest in den rituellen Kontext eingebunden. Sie waren Bezugspunkte der Devotion beispielsweise in den Bruderschaften. Sie wurden bei Prozessionen mitgeführt, wie die erhaltenen Palmesel bezeugen können, und sogar als „handelndes Bildwerk“ in die Sacre rappresentatione einbezogen. Die leider nur spärlichen Berichte über den Umgang mit diesen Bildern spiegeln die wachsende Bedeutung affektorientierter Rezeption. Dass die farbig gefasste Skulptur dieser Einstellung in besonderem Maße entsprach, ist auch mit der gewohnten Vorstellung vom Sehen, der Sendetheorie, zusammenzubringen. Für die das Sehobjekt gleichzeitig abtastenden Sehstrahlen, die nach den Thesen von Ptolemaeus auch ein Gefühl für die Länge ihres Weges vermitteln,48 war die fi ktive Präsenz nur mit tatsächlich körperlichen Figuren völlig überzeugend zu vermitteln. tum temporis fuisses, quando passus fuit.“ (De meditatione passionis Christi per septem diei horas Libellus, in: Patrologia Latina, Bd. 94, Sp. 561 ff.) In der Patrologia ist der Text unter den Dubia des Beda Venerabilis aufgenommen worden; zur Datierung ins 13. Jh. vgl. Freedberg 1989, S. 171. 44 Bonaventura, Legenda maior, cap. X, in: Bonaventura, Opera omnia, Bd. 8, S. 535. Die Legende wird schon in der ersten Viten-Fassung des Celano überliefert. 45 Pochat 1990, S. 36–84. 46 Eine zusammenfassende Darstellung zur italienischen Holzskulptur des Mittelalters liegt nicht vor. In jüngere Zeit ist das in einzelnen Regionen überlieferte Material jedoch in einer Reihe von Ausstellungen aufgearbeitet worden: Scultura dipinta. Maestri di legname e pittori a Siena 1250–1450, Siena, Pinacoteca Nazionale 1987, Florenz 1987; Clara Baracchini: Scultura lignea. Lucca 1200–1425, 2 Bde., Florenz 1995; Mariagiulia Burresi: Sacre Passioni. Scultura lignea a Pisa dal XII al XV secolo, Katalog der Ausstellung Pisa Museo Nazionale di San Matteo 2000 / 01, Pisa 2000; Giovanna Sapori; Bruno Toscano (Hrg.), La Deposizione lignea in Europa: l’immagine, il culto, la forma, Mailand 2004. 47 Belting 1981, S. 224 ff.; Johannes Tripps, Das handelnde Bildwerk in der Gotik: Forschungen zu den Bedeutungsschichten und der Funktion des Kirchengebäudes und seiner Aussstattung in der Hoch- und Spätgotik, Berlin 1998; Francesca Flores D’Arcais (Hrg.), Il teatro delle statue: gruppi lignei di Deposizione e Annunciazione tra XII e XIII secolo. Convegno Attorno ai Gruppi Lignei della Deposizione 2003, Milano, Mailand 2005. 48 Ptolemaeus / Lejeune 1956, S. 25 f. [II,26].

4. Der Wandel der Darstellung von Körpern in der Malerei und die Lehren der Optik 4. Der Wandel der Darstellung von Körpern

Die neuen Kunsterwartungen, die Konkurrenz der Holzbildhauer, aber auch die Konkurrenz der Bildimporte aus dem byzantinischen Bereich, die nach 1204 sprunghaft zugenommen hatten, brachten die Malerei sozusagen in Zugzwang. Die Maler waren herausgefordert, Bilder herzustellen, die mit der in den farbigen Skulpturen demonstrierten Fähigkeit zur Vergegenwärtigung konkurrieren konnten. Symptomatisch ist es, dass gerade in dieser Zeit mit der Synthese von Relief und Malerei experimentiert wurde. Die sogenannte ‘Madonna degli occhi grossi’ in Siena, die möglicherweise auf dem Hochaltar des Domes stand,1 und die Madonna in S. Maria Maggiore in Florenz (Abb. 4)2 sind wohlbekannte, herausragende Beispiele für diese Bemühungen. Durch das Relief werden Oberflächenreflexe erzeugt, deren Erscheinung vom Blickpunkt des Betrachters abhängig ist. Sie lassen die Figur plastisch hervortreten. Besonders intensiv zeigt sich diese Wirkung beim goldenen Kleid der Florentiner Madonna. Diese Fiktion des Hervortretens, des Erscheinens im Hier und Jetzt, der fi ktiven Präsenz wird durch die Rahmenüberschneidung der Madonna noch einmal gesteigert. Diese Reliefbilder, die durch aus dem Osten importierte Reliefi konen angeregt worden sein mögen, die sich aber doch auch wieder deutlich von der byzantinischen Tradition unterscheiden,3 waren nur eine Verlegenheitslösung, die Auftraggeber und Künstler nicht zufriedenstellen konnte. Die Maler suchten nach Wegen, mit den Mitteln ihres Mediums der Skulptur gleich zu kommen und sie womöglich zu übertreffen. Die damals zentralen Bildaufgaben der Darstellung des Gekreuzigten und der Madonna waren das Feld, auf dem sich zunächst die Weiterentwicklung der Darstellungsmittel vollzog. Die weit in das 12. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Croce dipinta wurde in der Auseinandersetzung mit byzantinischen Vorbildern reformiert.4 Für diese Entwicklungsphase stehen die Werke Giunta Pisanos, der 1236 ein Kruzifi x für S. Francesco in Assisi geschaffen hat, das heute leider verloren ist. Erhalten blieb hingegen das etwa 1

Henk Van Os, Sienese altarpieces 1215–1460. Form, content, function, Bd. 1: 1215–1344, Groningen 1984, S. 11 f. 2 Boskovits 1993, S. 570–588 („Milieu of Coppo di Marcovaldo“); Marco Ciatti; Cecilia Frosnini (Hrsg.): L’immagine antica della Madonna col Bambino di Santa Maria Maggiore: studi e restauro, Florenz 2002; Beat Brenk, Ein florentinisches Kultbild und die roten Strümpfe der Engel: Archaismus versus Innovation, in: Opus Tessellatum: Modi und Grenzgänge der Kunstwissenschaft, hrsg. von Katharina Corsepius, Hildesheim [u. a.] 2004, S. 289–301. 3 Reinhold Lange, Die byzantinische Reliefi kone (Beiträge zur Kunst des christlichen Ostens; 1), Recklinghausen 1964. 4 Evelyn Sandberg-Vavalà, La croce dipinta italiana e l’iconografia della Passione, Verona 1929.

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Madonna, S. Maria Maggiore, Florenz

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gleichzeitige, signierte Kreuz in S. Maria degli Angeli.5 Giunta übernahm den byzantinischen Typus des Christus patiens, eliminierte die szenischen Bildfelder, die die Präsenzwirkung des Gekreuzigten konterkarierten, und rückte die zur Imitatio einladenden Trauerfiguren von Maria und Johannes näher an den Betrachter. Wie erfolgreich dieser Typus war, lässt sich an der großen Zahl seiner Nachfolger ablesen. In diese Gruppe gehört das Cimabue zugeschriebene Kreuz in Arezzo, das um 1270 zu datieren ist (Abb. 5).6 Deutlich ist hier das Bemühen um plastische Modellierung des Körpers. Diese Modellierung folgt einem letztlich byzantinischen Schema, bei dem einzelne Wölbungen in stufenloser Hell-Dunkel-Modulierung geformt werden, die sich jedoch stets so zusammenfügen, dass größte Helligkeit und größtes Dunkel unmittelbar aufeinander treffen, so dass das Liniengerüst der Figur klar heraustritt. Ganz anders zeigt sich die Modellierung des Körpers im Kruzifi x von Santa Maria Novella, dessen Zuschreibung an Giotto und dessen Datierung in die Zeit um 1300 nach der jüngsten Restaurierung als gesichert gelten darf (Abb. 6).7 An die Stelle des scharfen Aufeinandertreffens von größtem Dunkel und größter Helligkeit sind stufenlos modellierte Übergänge getreten. Max Seidel hat hinsichtlich der Figurenauffassung auf die Holzkruzifi xe von Giovanni Pisano verwiesen.8 Auch er sieht hier die Malerei im Wettstreit mit der Skulptur. Die neue Form der malerischen Modellierung ist mit dem Verweis auf plastische Vorbilder jedoch nicht erklärt. Auch Verweise auf Vorbilder in der antiken Malerei helfen nicht weiter. Zwar sind in den Wandmalereien, die in Rom oder Pompeji aufgedeckt wurden, in der Tat Beispiele für eine derartige stufenlose Modellierung zu fi nden, doch die waren damals nicht bekannt. Die Bilder in den römischen Basiliken, soweit wir dies noch beurteilen können, waren maltechnisch weit primitiver. Übernommen wurden aus den frühchristlichen Dekorationen lediglich Schemata für Architekturdarstellungen oder Ornamente. Anregungen zu dem neuen Verfahren der Modellierung könnte auch der Optik-Traktat des Ptolemaeus gegeben haben, wo zu lesen war: „Es erscheinen nämlich die Oberflächen wegen der auf ihnen liegenden Farben mal vorgewölbt und mal konkav. Und deswegen trägt der Maler, wenn er diese beiden Formen mittels der Farben zeigen will, auf jenen Teil, der vorspringend scheinen soll, helle Farbe auf, auf jenen Teil, der konkav scheinen soll, eine bedeckte, dunklere Farbe“.9 Doch auch der Verweis auf diesen Text, 5

Silvestro Nessi: La grande croce dipinta da Giunta Pisano per la basilica di San Francesco in Assisi. In: Il Santo, [2. Ser.] Bd. 45. 2005, S. 691–721. 6 Bellosi 1998, S. 39 f. 7 Ciatti / Seidel 2001. 8 Seidel, Max: „Il crocefisso grande che fece Giotto“: problemi stilistici. In Ciatti / Seidel 2001, S. 73. Auf das Vorbild der Skulptur, insbesondere der antiken Skulptur für Giotto wies auch Romano 2008, S. 194 ff. hin. Sie kann in der Tat eine Reihe von formalen Bezügen aufzeigen. Aus dem Bemühen um die Nachahmung eines vorgegebenen plastischen Modells ergab sich jedoch keineswegs die neue Form der Modellierung. Die Nachahmung der Figur in ihrer spezifischen Haltung und Gewandung war genauso gut mit den hergebrachten Darstellungsschemata möglich. 9 „Apparent enim superficies propter impositos colores quandoque curve et quandoque concaue. Et ideo pictor, cum uoluerit ostendere has duas figuras per colores, ponit colorem illius partis quam uult eminentem uideri, lucidum; colorem uero illius quam uult concauam uideri, magis

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Cimabue, Kruzifix, Arezzo, S. Domenico

latentem et obscuriorem.“ (Ptolemaeus / Lejeune 1956, S. 76 (II, 127); vgl. Ptolemaeus / Smith 1996, S. 122. Auf die Praxis der antiken Maler, Nähe bzw. Ferne durch Aufhellung bzw. Verdunklung der Farben anzuzeigen, wies Gombrich in seinem Aufsatz ‘The Heritage of Apelles’ hin (Gombrich 1976, S. 3–18). Er deutete diese Wirkung ausschließlich als Beleuchtungseffekt, was, wie unten noch zu zeigen sein wird, dem Phänomen nicht gerecht wird.

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Giotto, Kruzifix, Florenz, S. Maria Novella

der damals bereits seit knapp einem Jahrhundert bekannt war, reicht nicht aus, um die Entdeckung der neuen Modellierungstechnik und ihre weitere Entwicklung zum Prinzip des rilievo daraus abzuleiten. Die Aussage dieses Textes dürfte ein Künstler des Duecento zunächst einmal mit einer vertrauten, althergebrachten Werkstattpraxis zusammenge-

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bracht haben. In der frühmittelalterlichen Atelierpraxis war das antike, von Ptolemaeus nur angedeutete Darstellungsprinzip zu einem Drei-Farben-Schema vereinfacht worden, das erstmals in ‘De coloribus et artibus Romanorum’ des Heraclius beschrieben wird.10 Im 56. Abschnitt werden dort einzelne Pigmente genannt und jeweils das Pigment oder eine Mischung, mit dem die Grundtöne abgedunkelt (lateinisch incidere) und aufgehellt werden sollen, wofür oft das lateinische Verb matizare steht.11 Das ganze Verfahren wird in den Quellen auch als undare bezeichnet.12 In Italien wurde dieses Drei-Stufen-Verfahren bis weit in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts hinein praktiziert.13 Die früher dem Meister von Greve zugeschriebene Madonna in den Uffizien, die um 1250 entstanden sein dürfte, ist ein bezeichnendes Beispiel dafür (Abb. 7).14 Die Regeln, die hinter dem von Ptolemaeus beschriebenen antiken Modellierungsprinzip stehen, mussten im späten 13. Jahrhundert erst wieder entdeckt werden. Sie waren in den erwähnten Traktaten zur Optik zu finden. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Maler diese Werke studiert haben. Die oben angedeutete historische Konstellation, in der die päpstliche Kurie und Viterbo als Ort der Erneuerung der Lehren der Optik eine entscheidende Rolle spielt, spricht aber entschieden dafür, dass die Künstler von den Thesen der Optik etwas wissen konnten.15 Papst Nikolaus III. Orsini (1277– 1280), der ehemalige Ordensprotektor der Franziskaner, kannte und schätzte John Pecham. Mit seinen Aufträgen zur Restaurierung und Ausschmückung stadtrömischer Kirchen hat er, wie die Wandbilder der Sancta Sanctorum heute noch bezeugen können, der Malerei in der Ewigen Stadt zu neuem Auftrieb verholfen.16 Es waren vor allem die Franziskaner, die die optischen Forschungen in Viterbo vorangetrieben hatten, und in den großen Freskenaufträgen der Franziskaner sind die deutlichsten Belege für die praktische Anwendung des neuen Wissens zu finden. Auch die Universität Padua war ein Ort

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Heraclius: Eraclio, I colori e le arti dei Romani e la compilazione pseudo-eracliana, hrsg. von Chiara Garzya Romano, [Bologna] 1996, S. 55. 11 Die Etymologie dieses Wortes wurde aufgeklärt durch Eleanor Webster Bulatkin: The Spanish Word ‘matiz’. Its Origin and Semantic Evolution in the Technical Vocabulary of Medieval Painters. In: Traditio, Bd. 10, 1954, S. 459–527. Der Ursprung liegt danach im griechischen Verb lammat2yein, das von l/mma oder lMma (Streifen, Farbstreifen) abgeleitet ist, und anfänglich in der Bedeutung „Farbstreifen hinzufügen“ verwandt wurde, und zwar zunächst wohl bezogen auf die dunklen „Schattenstreifen“, dann aber auch auf die hellen Streifen, so dass das Wort im Grunde dem latenischen „undare“ entsprach. 12 Heinz Roosen-Runge: Farbgebung und Technik frühmittelalterlicher Buchmalerei: Studien zu den Traktaten ‘Mappae Clavicula’ und ‘Heraclius’, München [u. a.] 1967, Bd. 1, S. 26 f. 13 Hills 1987, S. 19 f. 14 Miklós Boskovits: The Origins of Florentine Painting, Section I, vol. 1 (A Critical and Historical Corpus of Florentine Painting) Florenz 1993, S. 64 f. und 274–281. Die Tafel stammt aus dem Oratorio di Cisale, das zur Pfarrkirche S. Donato in Citille gehörte. Die alte Zuschreibung an den Meister von Greve wird von Boskovits in Frage gestellt und eine Datierung in das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts vorgeschlagen. 15 Zur zentralen Bedeutung Viterbos für die Entwicklung der Optik im 13. Jh. vgl. Hills 1987, S. 64 ff.; Bergdolt 1989a, S. 25–41; Bergdolt 2007 passim. 16 Zu Nikolaus III. vgl. Belting 1977, S. 93 ff.

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4. Der Wandel der Darstellung von Körpern

Unbekannter toskanischer Meister, Madonna (um 1250), Florenz, Uffizien

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der Vermittlung. Es wird vermutet, dass spätestens Pietro d’Abano, der ab 1307 in Padua unterrichtete, Vorlesungen zur Optik eingeführt hat.17 Alhacen und seine Nachfolger lehrten, dass das Auge einen konvex gerundeten Körper dann erfassen kann, wenn es wahrzunehmen vermag, dass der mittlere Teil ihm näher liegt als die seitlichen Teile.18 Wie das möglich ist, ergibt sich aus den Gesetzen der Strahlung und der Sehpyramide (Abb. 8). Von leuchtenden Körpern sagt Pecham, dass ihr Licht in dem dem Auge näherliegenden Punkt stärker sei, als in entfernteren.19 Das gilt auch von beleuchteten Körpern, denn, so heißt es bei Alhacen, die Erscheinungsbilder, die formae der Farben, sind um so schwächer, je weiter sie von ihrem Ursprung entfernt sind.20 Nach dem naturwissenschaft lichen Verständnis der Optiktraktate leitet sich der Gegensatz von vortretender Helligkeit und Tiefenverdunkelung aus den elementaren Gesetzen der multiplicatio specierum ab.21 Der Betrachter wird dann einen runden Körper als dreidimensionalen Gegenstand erkennen, wenn die ihm am nächsten liegende Partie des Körpers, also die Körpermitte am hellsten, die entfernter liegenden Seiten hingegen dunkler sind. Natürlich ist das Vorhandensein von Licht die Voraussetzung dafür, dass der Gegenstand überhaupt gesehen werden kann. Im realen Licht, das nach der Auffassung des Aristoteles das für das Sehen notwendige Medium ist, entzündet sich das in den Gegenstandsfarben inkorporierte Licht. Auch wenn sich der Effekt der Aufhellung und Verdunkelung aus der gemeinsamen Wirkung von Licht und Farbe als den beiden visibilia per se ergibt, wäre es falsch, ihn als Beleuchtungsphänomen zu bezeichnen, weil es hier nur um das „Eigenlicht“ der Körper, eben ihre formae oder species, geht und nicht um Beleuchtung, um das Reflektieren eines von außen andringenden Lichtes. Dieses müsste in seiner eigenen, vom Objekt und seiner Farbe unabhängigen Qualität sichtbar gemacht werden, was erst in einem zweiten Entwicklungsschritt geschah, auf den unten noch einzugehen ist. Bei dem am Beispiel des Kruzifi xes von Giotto erläuterten Verfahren der Modellierung durch stufenlose Übergänge von Hell zu Dunkel haben wir es mit einem neuen Gestaltungsprinzip zu tun, das mit dem in der Kunstgeschichte etablierten Begriff des Helldunkel zu bezeichnen ist.22 Ein wesentlicher Unterschied zum mittelalterlichen undare besteht darin, dass dieses traditionelle Drei-Farben-Prinzip bei jedem einzelnen Gegenstand und jedem Detail, wie den Gewandfalten, immer wieder neu ansetzt, während das Helldunkel im Bild auf einen einheitlichen und kontinuierlichen Übergang von höchster Helligkeit und Nähe zu größter Dunkelheit und Ferne abzielt. 17

Nancy G. Siraisi: Arts and Sciences at Padua. The Studium of Padua before 1350, Toronto 1973, S. 130–132. 18 Witelo / Kelso 2003, S. 452 (IV,48): „Uniuersaliter enim conuexitas comprehenditur a visu ex propinquitate partium mediarum et equali remotione partium extremarum.“ 19 Pecham / Lindberg 1972, S. 94 (I, 18a): „In puncto propinquiori fortior est lux unius corporis quam in remotiori.“ 20 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 60 (I [6.95]): „Colores autem non apparebunt nisi secundum modum proprium, quoniam declaratum est per inductionem quod forme colorum semper sunt debiliores ipsis coloribus, et quanto forme fuerint magis remote a suo principio tanto erunt debiliores.“ 21 Bacon / Lindberg 1983, S. 205 (De multiplicatione specierum, IV,1); vgl. auch ebd. S. LXVIII ff. 22 Ernst Strauss: Zu den Anfängen des Helldunkels. In: Strauss 1972, S. 26–40.

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Schematisches Modell der Sehpyramide und des rilievo-Effektes

In der historischen Konstellation eines Wettstreits mit der Skulptur, der Entdeckung, oder besser der Wiederentdeckung der Wirkung des Helldunkel und ihrer neuen wissenschaft lichen Begründung durch die Lehren der Optik ist der Ursprung des Prinzips des rilievo zu sehen.23 Der Begriff umschreibt, was die Malerei im Wettstreit mit der Skulptur intendierte: den dargestellten Körper plastisch hervortretend erscheinen zu lassen. Noch einen Schritt weiter verallgemeinernd kann man sagen, dass hier das Reliefprinzip als Mittel malerischer Illusion neu entdeckt wurde. Diese Entdeckung der Scheinwirkung der Malerei wiederum ist mit dem Wandel der Sehtheorie in Beziehung zu setzen. Die Sendetheorie des Sehens forderte von der Kunst, wenn die Wirkung der Präsenz erzielt werden sollte, die konkrete Nachbildung des Sehobjektes. Dies wurde von der farbigen Skulptur optimal geleistet. Die Empfangstheorie, die postulierte, dass von jedem Objekt, von jedem Punkt seiner Oberfläche, seine species ausgehen, machte es denkbar, künstliche Objekte wie Gemälde herzustellen, die species aussenden, die denjenigen entsprechen oder ähnlich sind, die der abgebildete Gegenstand selbst aussenden würde. Eine konsequente und fundierte Theorie der malerischen Illusion konnte sich nur im Gefolge der Empfangstheorie des Sehens entwickeln.24 23

In seinem „Vocabolario toscano dell’arte del disegno“ von 1681 stellt Filippo Baldinucci fest, dass der Begriff „rilievo“ auf Werke der Skulptur und der Malerei gleichermaßen angewendet werden könne: „man sagt, jene Malerei habe rilievo, die kraft der guten Anordnung der Lichter und Schatten vom Grund hervorzutreten scheint.“ In diesem Sinne war der Begriff schon im 15. Jahrhundert geläufig, wie Albertis ‘Trattato della pittura’ bezeugt. Als Terminus der Fachsprache der Künstler ist rilievo erstmals bei Cennino Cennini nachzuweisen. Zur Begriffsgeschichte vgl. Luba Freedman: ‘Rilievo’ as an Artistic Term in Renaissance Art Theory. In: Rinascimento, Bd. 29, 1989, S. 217–247; Andrea Niehaus: Florentiner Reliefkunst von Brunelleschi bis Michelangelo, München 1998, S. 17–45. Beide lassen die Begriffsgeschichte mit Cennini beginnen. 24 Die Sendetheorie, wie sie Ptolemaeus lehrte, nahm an, dass der Betrachter eine Empfindung der Länge der vom Auge zum Objekt ausgesandte Sehstrahlen hat: „Visus quoque discernit situm corporum et cognoscit eum per situm principiorum suorum que iam diximus, et per ordines radiorum a uisu cadentium super illa, uidelicet: que fiunt in longitudine, secundum quantitatem radiorum qui procedunt a capite uisibilis piramidis“ (Ptolemaeus / Lejeune 1956, S. 25 (II,26)). „The visual faculty also discerns the place of bodies and apprehends it by location of its own source-points [i. e. the vertices of the visual cones], which we have already discussed, as well as by the arrangements of the visual rays falling from the eye upon the bodies. That is, longitudinal distance [is determined] by how far the rays extend outward from the vertex of the cone“ (Ptolemaeus / Smith 1996, S. 81 f.). Der

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Erste Anzeichen für die Umsetzung dieses Prinzips finden sich in den letzten Dezennien des 13. Jahrhunderts. Ein bedeutendes frühes Beispiel sind die Fresken der Sancta Sanctorum, die unter Nikolaus III. entstanden, die dem Prinzip allerdings nur ansatzweise folgten.25 Sehr viel klarer setzte es Cavallini in den Figuren seines Weltgerichtsfreskos in S. Cecilia in Trastevere in Rom ein, das wohl um 1293 zu datieren ist (Abb. 9).26 Es spricht also manches dafür, dass die erste Annäherung an dieses Prinzip in Rom erfolgte, wenn auch noch nicht so konsequent wie später bei Giotto. Auf Giottos frühes Hauptwerk, die Arena-Kapelle in Padua, wird im Folgenden noch ausführlich einzugehen sein. Hier sei aber bereits darauf hingewiesen, dass Giotto mit dem Prinzip der stufenlosen Modellierung eine neue Bildform hervorgebracht hat, nämlich die Grisaille.27 Der Sockelstreifen der Arena-Kapelle wird durch sieben flache Scheinnischen unterbrochen, in denen Personifi kationen der Tugenden und Laster zu sehen sind, die Grau in Grau ausgeführt als gemalte Skulpturen erscheinen (Abb. 10). Sie sind nicht völlig monochrom. Wie in der Steinplastik der Zeit üblich, werden auch – allerdings sehr zurückhaltend – Buntfarben eingesetzt, zum Beispiel erscheint das Feuer, das man bei ‘Infidelitas’ wie bei ‘Invidia’ sieht, rot; die erhobenen Hände der ‘Spes’ lassen einen Inkarnatton erkennen. Giotto sucht den „Paragone“ mit der Skulptur. Figuren wie ‘Temperantia’ und ‘Fortitudo’ stehen sozusagen statuarisch fest und aufrecht. Wenn Giotto in Figuren wie der ‘Fortitudo’ antike Vorbilder zu zitieren scheint, hat er die Antike und die Statuarik der Skulptur in anderen Personifi kationen überwunden. Die ‘Inconstantia’ scheint auf einem Rad eine Schräge hinabzurollen und droht zu stürzen. Die ‘Spes’ schwebt zum Himmel empor. Giottos als Grisaille gemalte Skulpturenimitationen mit ihrem perfekten rilievo blieben in Italien zunächst fast ohne Nachfolge. Eine der wenigen Ausnahmen sind die Personifi kationen in dem Ornamentstreifen, der sich unter dem ‘Guten und schlechten Regiment’ entlang zieht, das Ambrogio Lorenzetti im Palazzo Pubblico in Siena malte. In der französischen Buchmalerei hingegen sollte die peinture en camaieu schon bald zu einer überaus beliebten Bildform werden.28 Wenn man von diesem speziellen Fall der Grisaillemalerei absieht, kann man für die italienische Malerei generell sagen, dass das Bemühen um rilievo bei der Darstellung von Figuren schon um die Wende zum 14. Jahrhundert zu einer selbstverständlichen Forderung wurde. Die Reihe der Altarbilder Giottos vom Badia-Polyptychon über den Stefavom Auge ausgesandte Sehstrahl, so darf man folgern, spürt stets die von ihm überwundene Distanz und würde sich durch die unterschiedliche Farbgebung einer Fläche nicht täuschen lassen. Im Widerspruch dazu steht allerdings die oben (S. 40, Anm. 9) zitierte Beobachtung Ptolemaeus’, dass sich das Auge durch die Modellierung des Runden in Bildern durchaus täuschen lässt. 25 Sancta Sanctorum, Mailand 1995; Ingo Herklotz: Die Fresken von Sancta Sanctorum nach der Restaurierung. Überlegungen zum Ursprung der Trecentomalerei, in: Pratum Romanum. Richard Krautheimer zum 100. Geburtstag, hrsg. von Renate L. Colella, Meredith J. Gill [u. a.], Wiesbaden 1997, S. 149–180. 26 Tomei 2000, S. 52–95. 27 Thomas Dittelbach: Das monochrome Wandgemälde. Untersuchungen zum Kolorit des frühen 15. Jahrhunderts in Italien, Hildesheim [u. a.] 1993, S. 20–29; Krieger 1995, S. 54–67. 28 Am Anfang steht das wohl von Jean Pucelle um 1325 ausgeführte ‘Stundenbuch der Jeanne d’Evreux’ (Cloisters, New York), vgl. Krieger 1995, S. 7–36.

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Cavallini: Weltgericht (Detail), Rom, S. Maria in Trastevere

neschi-Altar bis hin zum Bologneser Polyptychon zeigt eine zunehmend prägnantere Herausarbeitung des rilievo. Auch die Sieneser Maler eigneten sich das neue Gestaltungsprinzip rasch an. Wir finden es schon in Duccios frühesten Werken, der ‘Madonna di Crevole’ in Siena oder in der Madonna Rucellai, dort besonders deutlich in der Modellierung der den Thron tragenden Engel.29 Duccio hat dieses Prinzip dann allerdings nicht systematisch weiterentwickelt. In seinem späten Hauptwerk, der Maestà, wird es nicht mit durchgehend gleicher Konsequenz eingesetzt. Sehr viel entschiedener nutzten die jüngeren Sieneser Maler Pietro Lorenzetti und Simone Martini die Möglichkeiten des rilevare, wie beispielsweise ihre Fresken in der Unterkirche von San Francesco in Assisi zeigen. Aufs Ganze gesehen blieb jedoch, wo es um repraesentatio einer Figur ging, die Skulptur ein ernsthafter Konkurrent, von der Petrarca schrieb, dass sie „der Natur näher“ sei, weil sie auch mit dem Tastsinn wahrgenommen werden könne, und vom Material her dauerhafter sei als alle Gemälde.30 Die besondere Wertschätzung der Skulptur belegt 29

Deuchler 1984, S. 30 f. und 32–39. Francesco Petrarca: De remediis utriusque fortunae, I, 41 (De statuis): „Gaudium: Delectant statuae. Ratio: Accedunt haec quidem ad naturam propius quam picturae, illae enim uidentur tan30

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Giotto: Padua, Arena-Kapelle, Detail der Sockelzone und des unteren Bildregisters

tum, hae autem et tanguntur, integrumque ac solidum, eoque perennius corpus habent, quam ob causam picturae ueterum nulla usquam, cum ad huc innumerabiles supersint statuae.“ (Francisci Petrarchae […] opera quae extant omnia, Basel 1554, Bd. 1, S. 51).

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auch die große Zahl der jüngst von Iris Wenderholm untersuchten Altarwerke, die beide Medien verbinden und in denen dem plastischen Bildwerk, das stets den Mittelschrein besetzt, eindeutig die Steigerung der Präsenzwirkung zuerkannt wird.31 Auf der anderen Seite jedoch kann ein Blick auf die Malerei des 14. Jahrhunderts in Frankreich oder Böhmen belegen, dass das Reliefprinzip in der Malerei überaus erfolgreich war und in den wichtigsten europäischen Kunstzentren adaptiert wurde. Auch der gleichzeitige Aufschwung der Grisaille in der Buchmalerei ist als Beleg für die Durchsetzung des Reliefprinzips zu werten.32

31 32

Wenderholm 2006, S. 73–114. Krieger 1995, S. 159–181.

5. „Architekturkörper“ und Landschaft in Assisi, Rom und Padua 5. „Architekturkörper“ und Landschaft

Bei der Herstellung der christlichen Kultbilder, die das wichtigste Betätigungsfeld der Künstler waren, ging es in erster Linie um die Darstellung menschlicher Körper, bei der optische Regeln der Wahrnehmung runder Körper zu beachten waren, wenn die Wirkung des rilievo erreicht werden sollte. Schon bei den auf die Figurenpräsentation ausgerichteten Kultbildern waren gelegentlich Gegenstände darzustellen, auf die diese Regeln nicht anwendbar waren, beispielsweise Thron oder Fußschemel in einem Marienbild. In narrativen Bildern war die Darstellung von Gegenständen, insbesondere von Häusern, die den Handlungsort bezeichnen, geradezu notwendig. Das erzählende Bild war in Wand- und Buchmalerei traditionell die führende Aufgabe gewesen. Mit der Entwicklung des Altarbildes, die sich im 13. Jahrhundert vollzog, wurde ein wichtiger Aufgabenbereich hinzugewonnen. Zunächst waren es nur kleine Szenenfolgen, die die Heiligenfiguren begleiteten oder die Predella schmückten, doch im Trecento konnte die szenische Darstellung ins Zentrum rücken, wie die gegen 1308 zu datierende Franziskus-Pala Giottos im Louvre zeigt (Abb. 25).1 Ein wichtiges Beispiel für den frühen Typus des Heiligenbildes ist das Dossale des hl. Franziskus in Pisa, das Giunta Pisano zugeschrieben wird und bald nach der Jahrhundertmitte entstanden sein dürfte (Abb. 11).2 Zu beiden Seiten sind je drei Szenen angeordnet, die Wundertaten des Heiligen zeigen. Die Bauten, die die Hintergrundskulisse der Szenen bilden, lassen Stockwerksunterteilungen, Dächer und Fenster erkennen und sind so als Bauwerke zu identifizieren. Die farbig gefassten Wandflächen werden zwar in einigen Fällen zu den Seiten hin abgetönt, doch es werden keine Hinweise darauf gegeben, mit welcher Form von Körpern wir es hier zu tun haben. Anders sieht es dagegen in Cimabues Fresken in der Oberkirche von S. Francesco in Assisi aus, die um 1280 zu datieren sind. Im Wandbild der ‘Lahmenheilung’ spielt sich die Szene vor einem sechs- oder achteckigen Sakralbau mit Kuppel ab. Die flankierenden Bauten scheinen schräg nach außen in die Tiefe zu führen. Die Bauten werden in diesem wie in den anderen Bildfeldern der Querschiffe stets so gezeigt, dass zwei Seiten und ihre Bedachung zu sehen sind, so dass man den Eindruck einer Darstellung aus der Vogelperspektive hat. Verglichen mit älteren italienischen Architekturdarstellungen kann man Cimabue ein Bemühen um Wiedergabe von Körperlichkeit nicht absprechen. Es ist jedoch falsch, darin 1

Susanne Mägder: Die Predella als Ort der Bilderzählung in toskanischen Altarwerken des 14. und 15. Jahrhunderts. In: Weppelmann 2005, S. 51–69; zu Giottos Franziskus-Pala: Gardner 1982, S. 217–247; Schwarz 2008, S. 391–404, der das Bild 1307 / 08 datiert; vgl. unten S. 86 ff. 2 Giunta Pisano (zugeschr.): San Francesco und sechs seiner Wunder, Pisa, Museo Nazionale di San Matteo; Burresi / Caleca 2005, S. 122.

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Giunta Pisano, Franziskus-Retabel, Pisa, Museo Nazionale

einen ersten Schritt zu einer perspektivischen Darstellung zu erkennen, die sich mehrerer Blickpunkte bedient, wie John White vorschlug.3 Cimabue griff hier auf byzantinische Vorbilder zurück und bediente sich eines dort seit langem etablierten Schemas, das seine Wurzeln in der antiken Malerei hat. In den Fresken des Vierungsgewölbes, die ebenfalls von der Werkstatt Cimabues geschaffen wurden, sind neben den vier Evangelisten jeweils 3

White 1967, S. 28 f.; auf die byzantinischen Vorlagen wies Bellosi 1998, S. 55 hin.

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Cavallini, Darbringung im Tempel, Rom, S. Maria in Trastevere

Stadtansichten zu sehen. Auch der Typus der Stadtdarstellung, dichtgedrängte Häuser von einem Mauergürtel umgeben, ist byzantinischen Ursprungs. In einem der Bilder geht Cimabue aber über die östlichen Vorbilder hinaus. Mit der Stadt neben Markus ist Rom gemeint: Engelsburg, Pantheon, Torre delle Milizie und andere Bauten sind eindeutig zu identifizieren. Das Darstellungsschema wird der Wirklichkeit angenähert. Auch Cavallini, der in der Figurendarstellung bereits mit der neuen stufenlosen Helldunkel-Modellierung arbeitet, konnte sich bei der Darstellung von Bauten nicht von den tradierten Schemata lösen. Wenn er, wie Ghiberti berichtet, die Aufgabe hatte, die spätantiken Wandbilder von S. Paolo fuori le Mura zu „restaurieren“, was um 1280 geschehen sein muss, dann hatte er Gelegenheit genug, sich mit den alten Bildformeln auseinanderzusetzen. In den um 1298 geschaffenen Mosaiken von S. Maria in Trastevere verwendet er Bautypen von eindeutig spätantiker oder byzantinischer Provenienz, dazu gehört in der ‘Anbetung der Könige’ der hinter Maria aufragende schmale Bau mit den mächtig vorkragenden, aber ganz funktionslosen Konsolen und dem seitlich vortretenden Dach oder der im Grundriss u-förmige Bau in der ‘Darbringung im Tempel’ (Abb. 12). An einer Koordination der Ansicht der drei isoliert dastehenden Architekuren in dem letztgenannten Bild war ihm nicht gelegen. Die beiden seitlich aufragenden Bauten werden von oben gesehen, während man in den Baldachin über dem Altar von unten hineinsehen kann. Auch bei der Schauwand hinter dem Thron Mariens in der ‘Verkündigung’ werden die in die Tiefe führenden Gesimse der beiden oberen Stockwerke mit fallenden Linien wiedergegeben. Bemerkenswert ist in diesem Mosaik auch die Farbgebung mit den Andeutungen von Ver-

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schattung, auff ällig vor allem in den nischenförmigen Vertiefungen. Das ist ein frühes, wenn auch vereinzeltes Beispiel für die Berücksichtigung von Beleuchtung. Auch darin ging, wie zu zeigen sein wird, Giotto sehr viel konsequenter und systematischer zu Werke. In den Mosaiken Cavallinis blieb die Architektur Hintergrundskulisse. Verglichen damit ist die Architekturdarstellung der etwa gleichzeitig entstandenen Isaak-Szenen in der Oberkirche von San Francesco weit schlüssiger. Die Ausmalung der oberen Wandzone des Langhauses wurde wohl um 1295, einige Jahre nach dem Abschluss der Arbeiten der Cimabue-Werkstatt, von einer Gruppe von römischen Malern unter der Leitung von Jacopo Torriti begonnen. Sie hielten sich bei den alttestamentarischen Szenen teilweise genau an das spätantike Vorbild der Wandbilder von S. Paolo fuori le Mura. Die wenigen Architekturen in den Bildern der ersten beiden Joche halten sich an die tradierten Schemata. Ungewöhnlich ist nur die von kannelierten Säulen getragene Loggia in der ‘Hochzeit zu Kana’, doch die Koordination von Hochzeitstafel und Architektur ist alles andere als geglückt. Ganz anders wirkt das Gebäude der beiden Szenen ‘Isaak segnet Jakob’ (Abb. 13) und ‘Esau erscheint vor Isaak’. Ungewöhnlich ist schon, dass mittels der Architektur die Identität des Schauplatzes beider Szenen zum Ausdruck gebracht wird. Es ist ein isoliert stehender Saalbau, dessen Vorderseite, die parallel zur Bildebene steht, geöffnet ist, so dass der Betrachter in den Raum hineinblicken kann.4 Man sieht auch die sich verkürzende rechte Schmalseite des Baues, die fast gänzlich von einer Tür eingenommen wird. Das Bett des Isaak ist von einem roten Vorhang umgeben, der an zwei den ganzen Raum durchziehenden Stangen herabhängt. Darüber erkennt man die Hinterwand des Raumes, an der sich ein Band von Nischen und kleinen Fenstern entlang zieht. Die nach rechts hin abfallende Linie des Fensters und des Wandabschlusses deutet in Zusammenwirken mit der Linienführung von Giebel, Gebälk und Türsturz der rechts sichtbaren Schmalseite die Tiefe des Baues an. Dieser Eindruck wird durch die nach rechts ansteigende Linie der Türschwelle bestätigt. Der Saal, den dieser Baukörper umschließt, ist stimmiger, als dies je zuvor in der italienischen Malerei gezeigt wurde, Ort der Handlung. Das wird durch das schöne Detail unterstrichen, dass Jakob im zweiten Bild nach seinem Betrug von Rebekka gefolgt aus dem Hause fl ieht. In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die der Überzeugung sind, dass die IsaakFresken, die unmittelbar vor 1300 entstanden sein dürften, ein Werk des jungen Giotto sind.5 Auch aus unserem Zusammenhang ergeben sich Argumente für diese These. Die Architekturen in den Fresken der Arena-Kapelle in Padua, die Giotto in den Jahren um 1305 ausgeführt hat, kann man als eine Weiterentwicklung der Möglichkeiten der in den Isaak-Fresken erprobten Darstellungsweise sehen.6 Wie in den Isaak-Fresken werden in der Arena-Kapelle gleiche Handlungsorte in verschiedenen Szenen durch die Identität der Bauwerke anschaulich gemacht. Das Haus von 4

Für diesen Darstellungstypus, der einen Einblick in einen Innenraum bietet, indem er eine der Wände öff net oder ganz fortlässt, prägte Rohlfs-von Wittich 1955, S. 110 den Begriff „Schauöff nung“. 5 Seidel 2001, S. 67–70 mit Hinweisen zur Geschichte der Zuschreibung; Schwarz 2007, S. 226 spricht davon, dass die Zuschreibung an Giotto „an Plausibilität gewonnen hat“. 6 Schwarz 2008, S. 19 f. legt den zeitlichen Rahmen für die Paduaner Fresken auf 1303 bis 1307 fest.

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Isaak segnet Jakob, Assisi, S. Francesco, Oberkirche

Joachim und Anna sieht man in der ‘Verkündigung an Anna’ (Abb. 14) und in der ‘Geburt Mariens’. Der Tempel, auf dessen Altar sich das Stabwunder vollzieht, wird in drei aufeinander folgenden Bildern ganz übereinstimmend dargestellt. Abendmahl und Fußwaschung finden im gleichen Saalbau statt. In der Art und Weise, wie Bauten wiedergegeben werden, gibt es in der Arena-Kapelle eine größere Variationsbreite als in Assisi. Der Tempel des Stabwunders erscheint wie ein Querschnitt durch eine Basilika. Wie in älteren Bildern, etwa

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Giotto: Verkündigung an Anna, Padua, Arena-Kapelle

denjenigen Cavallinis, wirkt der Bau wie ein Kulissenelement, vor dem sich die szenische Handlung abspielt, allerdings mit der bemerkenswerten Ausnahme, dass der Priester im ersten Bild hinter dem Altar und damit in der Architektur steht. Den Darstellungstypus der Isaak-Fresken hat Giotto im Haus der Anna aufgegriffen. Das Haus steht mit seiner Vorderfront, die in ihrer ganzen Breite und Höhe geöffnet ist, parallel zur Bildebene. Links ist die verkürzte Schmalseite des Hauses zu sehen, an der sich unter einem Balkonvorbau eine Tür zum einzigen Raum des Hauses öff net. Zu beiden Seiten sieht man ein kleines Stück von dem olivbraunen Bodenstreifen und über und neben dem Haus die tiefblaue Hintergrundsfolie, von Schwarz als elementares „Formular“ der Bildkonzeption bezeichnet.7 Damit wird der Eindruck eines für sich stehenden, eigenständigen Bauwerks unterstützt. 7

Zu dem „Formular“, das allen Bildern der Scrovegni-Kapelle zugrunde liegt, vgl. Schwarz 2008, S. 93.

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In dem Saalbau, in dem Abendmahl (Abb. 15) und Fußwaschung stattfinden, wird die Darstellung des Hauses als raumhaltiger Körper auf signifikante Weise modifiziert. Nicht nur die breite Vorderseite, sondern auch die rechte Schmalseite ist zur Gänze geöffnet und die Ecke wird durch eine fi ligrane Stütze bezeichnet, die kaum in der Lage zu sein scheint, das Dach zu tragen.8 Während sie hier bis zum unteren Bildrand reicht, was nur im ‘Abendmahl’ zu sehen ist, endet sie an der linken Seite ein gutes Stück darüber. Im Gegenzug zeigen das umlaufende Gesims und das sich darüber erhebende Dach eine von rechts nach links abfallende Linie, deren Neigungswinkel in der ‘Fußwaschung’ noch etwas größer ist als im ‘Abendmahl’. Der Saalbau wird mithin über Eck gesehen dargestellt. Anders als im Haus der Anna füllt er die ganze Breite des Bildes aus. Dass er dennoch als für sich stehender Baukörper aufgefasst werden soll, wird durch die Fenster an der Rückwand angedeutet, durch die hindurch man das Blau der Folie des „Bildformulars“ sieht, das man spontan als Himmel auffassen wird. An der linken Schmalseite sind die braunen Läden der Fenster geschlossen. Die Fensterlaibung signalisiert eine solide Stärke dieser Wand. Im Pfingstbild, das nach dem Befund der Tagwerke später entstanden ist, hat Giotto diesen Darstellungstypus modifiziert. Der gotische Saalbau, der vier Achsen breit und zwei Achsen tief ist, zeigt größere Geschlossenheit und ist gerade so ein Symbol der Kirche, die im Pfingstwunder ihren Ursprung hat. Einen neuen Typus eines architektonischen Innenraumes führte Giotto im mittleren Register der Arena-Kapelle ein. In der leider schlecht erhaltenen Darstellung ‘Der zwölfjährigen Jesus im Tempel’ ist die Vorderfront des Tempels ganz an den vorderen Bildrand herangerückt. Sie wird nur seitlich durch schmale ornamentierte Lisenen und durch das gerade abschließende Gesims markiert, über dem die blaue Hintergrundfolie erscheint. In dem schmalen seitlichen Streifen zwischen den Lisenen und dem Bildrahmen ist eine Mauer mit Pultdach erkennbar. Der Betrachter blickt in das Mittelschiff einer dreischiffigen Basilika. Zu beiden Seiten sieht man durch zwei Arkaden in die Seitenschiffe, wo die Ansätze der Kreuzgratgewölbe erkennbar sind. Das Mittelschiff ist mit einer flachen Kassettendecke geschlossen. Die Stirnwand wird von einer großen Apsis eingenommen, die von kleinen Apsiden flankiert ist. Eine Girlande, die vom Abschlussgesims herabhängt, betont den imaginären vorderen Raumabschluss. Diesen Darstellungstypus, der überzeugender als je zuvor in der mittelalterlichen Malerei einen Innenraum anschaulich zu machen vermag, hat Giotto in der Arena-Kapelle noch mehrfach eingesetzt. In ‘Christus vor Kaiphas’ sind die Lisenen ganz an die das Bild umgebende Rahmenborte herangerückt, nur oberhalb des Abschlussgesimses ist ein schmaler Streifen der blauen Hintergrundsfolie zu sehen (Abb. 24). Den Raumeindruck erzeugen die schräg nach innen gezogenen Seitenwände und die markante Balkendecke. In der ‘Hochzeit zu Kana’ sind die seitlichen Architekturelemente auf ein Minimum reduziert. Der obere Raumabschluss ist durch einen umlaufenden Holzbalkon mit durchbrochener Brüstung ersetzt worden, so dass der Betrachter hier weniger an einen Innenraum denken wird als an eine dreiseitig geschlossene Terrasse. In der ‘Verspottung Christi’ benutzt Giotto den Darstellungstypus, um einen offenen Hof zu zeigen. Vier schlanke Säulen tragen ein umlaufendes Gebälk. Sie stehen in deutlichem Abstand von 8

Die Stütze ist ganz zuletzt al secco gemalt worden und in der Fußwaschung im unteren Teil fast völlig verschwunden.

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Giotto: Abendmahl, Padua, Arena-Kapelle

den Wänden: den Hof umzieht ein Gang, dessen Balkendecke man auch erkennen kann. Man könnte hier von einem viersäuligen Atrium sprechen, das als antiker Raumtypus gut zum Palast des römischen Statthalters passen würde. Von unten her blickt man durch die vom Gebälk eingefasste Öffnung auf die blaue Hintergrundsfolie, die wie selbstverständlich als Himmel verstanden wird. Die konsequenteste Umsetzung dieses Typus der Raumdarstellung bieten die beiden fingierten Räume, die den Choreingang flankieren (Abb. 16).9 Es sind kleine quadratische 9

Die Deutung dieser Räume wird in der Literatur seit langem diskutiert. Zahlreiche Forscher deuten sie als Kapellenräume (Longhi 1952, S. 18 f.; White 1967, S. 60; zuletzt: Michael Kohnen: Die coretti der Arena-Kapelle und die ornamentale Wanddekoration um 1300. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Bd. 48, 2004, S. 417–423). Ursula Schlegel: Zum Bildpro-

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Räume mit einem Kreuzrippengewölbe und einem Maßwerkfenster in der Rückwand. Die Raumhaltigkeit wird durch den vom Schlussstein herabhängenden Leuchter betont. Zum realen Raum werden die Kapellen mit einer Art Brüstung abgeschlossen, die mehr als ein Drittel der Gesamthöhe hoch ist. Im Unterschied zu den szenischen Räumen sieht man bei ihnen nur jeweils eine Seitenwand, deren Verkürzung durch die vertikalen und horizontalen Bänder an den Wänden angedeutet wird. Während in den szenischen Darstellungen die geöffneten Fronten der Häuser nicht mit der Ebene des rahmenden Dekorationssystems identisch sind, wird hier die fingierte spitzbogige Öffnung als Teil der gemalten Architektur gezeigt, die ihrerseits den Zusammenhang mit der gebauten Architektur vermittelt. Einen entscheidenden Anteil an dieser Wirkung hat auch die Verkürzung der jeweiligen Seitenwände der fingierten Räume, die in den Fluchtlinien der realen Seitenwände zu liegen scheinen.10 Im darüber liegenden Register, bei den Gebäuden der ‘Verkündigung Mariens’, hatte sich Giotto noch entschieden, die sich verkürzenden Seiten spiegelsymmetrisch nach außen zu führen. Hier dominiert die Wirkung des Kontrastes zwischen gemalter und gebauter Architektur. In den bisher angeführten Beispielen gemalter Architektur ging es primär um die Gestaltung von Innenräumen, man könnte auch sagen: Hohlkörpern, die konsequent als Handlungsräume genutzt werden. Die Erscheinung als von außen gesehener Baukörper hat nur im ersten Darstellungstypus anschauliches Gewicht. Giotto hat in Padua aber noch ein weiteres Mittel eingesetzt, um Körperlichkeit oder Dreidimensionalität anschaulich zu machen. In der ‘Darbringung im Tempel’ (Abb.44) wird der sakrale Ort wie schon in der entsprechenden Darstellung Cavallinis in S. Maria in Trastevere durch einen Altarbaldachin bezeichnet. In Cavallinis Mosaik steht er frontal zur Bildebene, bei Giotto hingegen wird er, wie die nach rechts ansteigende Frontlinie des Sockels zeigt, über Eck gesehen. Durch diese Stellung im Winkel zur Bildebene wird die Wirkung der Dreidimensionalität verstärkt. Giotto hatte das Mittel der Schrägstellung bereits in der ersten Szene, der ‘Verstoßung Joachims aus dem Tempel’, angewandt. Altarziborium und Ambo ragen aus dem von einem Lettner umgebenen Altarbezirk, in dem ein Priester einem wohl knienden Gläubigen seinen Segen erteilt, während Joachim von einem anderen Priester von der Stufe des heiligen Bezirks in die Leere des „Bildformulars“ gedrängt wird. Die durch die Schrägstellung der Architektur erzielte Räumlichkeit lässt keinen Zweifel darüber, was hier innen und was außen ist. Der heilige Bezirk, das Ziborium und die Kanzel, bilden die Kulisse für den ‘Tempelgang Mariens’. Die Übereinstimmung ist

gramm der Arena-Kapelle. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 20, 1957, S. 125–146 deutete die Räume als „Grabräume“, die mit Wandgrabmälern des Trecento vergleichbar seien. Schwarz 2008, S. 56–59 griff diese Deutung auf und suchte sie zu stärken. Ein Argument, das dafür spricht, ist der vordere Raumabschluss, der in der Tat mit Sarkophagfronten vergleichbar ist. Der anschauliche Befund spricht jedoch dagegen. Die verkürzten Seitenwände, die wie die Rückwand in drei vertikale Bahnen unterteilt sind, und das Kreuzrippengewölbe weisen auf einen Raum hin, der weit tiefer ist, als es für eine Grabnische zu erwarten wäre, außerdem spricht das Fenster der Rückwand gegen die Annahme, dass hier ein Arcosolgrab gemeint sei. 10 Der Grad dieser Wirkung hängt vom Standpunkt des Betrachters ab. Die nach hinten absinkenden Linien der horizontalen Unterteilung der seitlichen Wände weisen auf einen Betrachterstandpunkt hin, den der Betrachter in der Kapelle auch faktisch einnehmen kann.

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Giotto: Chorwand, Padua, Arena-Kapelle

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so groß, dass man fast meinen könnte, die Bühne sei nur um 90 Grad gedreht worden, wenn hier nicht die Treppe als ein für die Legende entscheidendes Element den Zugang zum sakralen Bezirk bilden würde. Die dreidimensionale Wirkung der Schrägstellung wird durch die Überschneidung von Kanzel und Ziborium noch entschieden verstärkt. Überschneidungen von Formen und Figuren waren immer schon ein Mittel, Abstand und Tiefe im Bild anzudeuten. In der Malerei des Duecento, etwa in den Fresken Cimabues in Assisi, war die Überschneidung stets mit einem Übereinander-Staffeln der Formen verbunden, wodurch die räumlichen Beziehungen verunklärt wurden. Giotto hingegen war bemüht, diese Beziehungen schlüssiger herauszustellen. In der ‘Verstoßung Joachims’ (Abb. 17) befindet sich die Kanzel auf der gleichen Höhe mit den Arkaden des Ziboriums. Im ‘Tempelgang’ ragt sie in den Bereich des Ziboriumdachs hinein. Das entspricht dem Blickpunkt der Figuren, die am Fuße der Treppe stehen. Giotto war offensichtlich bewusst, dass die Wahrnehmung räumlicher Relationen vom jeweiligen Standort des Betrachters abhängig ist. Diese Erkenntnis war in den optischen Traktaten vielfach behandelt und bekräft igt worden. Die Wahrnehmung der corporeitas, die zu den intentiones per accidens gezählt wurde, ist von Alhacen relativ kurz behandelt worden. Er stellt fest, dass es verschiedene Arten von Körpern gibt, die durch die Zusammenfügung von ebenen, konvexen oder konkaven Flächen gebildet werden können. Während runde Körper, wie oben bereits dargelegt wurde, daran erkannt werden, dass Mitte und Seiten unterschiedlich weit vom Betrachter entfernt sind, stellt er fest, dass ein eckiger Körper, von dem nur eine Seite zu sehen ist, nicht als solcher erkannt werden kann; es müssen wenigstens zwei sich schneidende Seiten zu sehen sein. Abschließend stellt er fest: „Das Erkennen der Körperhaft igkeit ist dem Blick nur möglich durch das Erkennen der Schrägheit der Oberflächen der Körper“ und dies auch nur dann, wenn ihre Entfernung nicht zu groß ist.11 Auch aus den mittelalterlichen Traktaten ist nicht wesentlich mehr zu erfahren, wenn man nur unter dem Stichwort corporeitas sucht.12 Die Wahrnehmung eines Körpers ist jedoch unmittelbar verbunden mit dem Erfassen von zwei anderen intentiones, nämlich von Entfernung (remotio, distantia) und Lage (situs), die in den Traktaten zu allererst behandelt werden. Das Erfassen der Entfernung spielt bei der Wahrnehmung eckiger Körper eine genauso entscheidende Rolle wie bei der Wahrnehmung runder Körper. Ein Quader, von dem nur eine Seite zu sehen ist, wird nicht als solcher erkannt. Es muss wenigstens eine zweite Seite zu sehen sein, die die erste in irgendeinem Winkel schneidet, also schräg erscheint. Damit ist die Lage des Körpers entscheidend und bei deren Erfassen ist wieder die Wahrnehmung von Entfernungen ausschlaggebend. Wie alle Traktate übereinstimmend darlegen, wird die schräge Lage eines Gegenstandes daran erkannt, dass die äußeren Strahlen der Sehpyramide, die den Gegenstand in seinen Umrissen erfassen, unterschiedlich lang sind.13 Damit gilt die Regel der Tiefenverdunklung auch bei der Wahrnehmung eckiger Körper. Die schräge Lage einer Seite kann durch eine zur Tiefe hin zunehmende Verdunkelung angezeigt werden. In der Tat 11 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 159 [II.3.125]: „Comprehensio ergo corporeitatis a visu non est nisi ex comprehensione obliquationum superficiorum corporum.“ 12 Witelo / Kelso 2003, S. 469 f. [IV,63]. 13 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 145 [II.3.104].

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Giotto: Verstoßung Joachims, Padua, Arena-Kapelle

wird dieses Mittel von Giotto eingesetzt. Im Haus der Anna verdunkelt sich der Fußboden nach hinten hin. Das Balkongeländer ist in seinem hinteren Abschnitt deutlich dunkler als vorne. Subtil ist die Differenzierung in der ‘Begegnung an der Goldenen Pforte’, wo der hintere Torturm ein wenig dunkler ist als der vordere Turm. Das Mittel der Tiefenverdunklung bei ebenen Körperflächen wird bei Giotto allerdings nicht so konsequent eingesetzt wie bei den Malern der folgenden Generation, etwa bei den Brüdern Lorenzetti. Bei der Wahrnehmung von Entfernungen ist die mehr oder weniger große Intensität der Strahlen allerdings kein verlässliches Kriterium. Alhacen und alle mittelalterlichen Autoren stellen fest, dass ein Verifizieren des Abstandes nur möglich ist, wenn das Auge sichere Anhaltspunkte hat. Diese können durch Gegenstände gegeben werden, die auf der Strecke zwischen Betrachter und Objekt in ungefähr gleichmäßigen Abständen angeordnet sind und deren Größe bekannt ist, wie Bäume, Bauwerke oder

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Menschen.14 Dies war im Grunde nur auf die Landschaftsdarstellung anwendbar, auf die weiter unten noch einzugehen ist. Doch Alhacen beschreibt ein für die Architekturdarstellung ungemein aufschlussreiches Experiment. In dem Raum eines Hauses, in den man durch eine kleine Maueröffnung hineinsehen kann, stehen zwei Wände von gleicher Farbe in unterschiedlichem Abstand zur Außenwand. Wenn jemand, der den Raum zuvor nicht betreten hat, durch die Öff nung blickt und nicht den Fußboden, sondern nur die beiden Wände sieht, wird er nicht entscheiden können, wie groß der Abstand zwischen ihnen ist.15 Es fehlen verlässliche Anhaltspunkte, die durch regelmäßig zwischen den beiden Wänden liegende Gegenstände gegeben werden könnten. Damit der Betrachter in einem Bild die Tiefendimension eines Körpers, eines Hauses oder eines Raumes erfassen kann, müssen die Maler ihm solche verlässlichen Anhaltspunkte bieten. Ein wirksames Mittel war die Angabe einer Kassettierung an einer Decke, einem Gewölbe oder auch an der Unterseite eines Gebälks. Dafür gab es ein schon in der Antike entwickeltes Schema. Jede Kassette wird mit einem Quadrat bezeichnet, in das ein kleineres Quadrat eingeschrieben ist, die beide durch eine gemeinsame Diagonale unterteilt werden. Die dadurch entstehenden Felder werden regelmäßig alternierend hell und dunkel so ausgefüllt, dass sich an das dunkle Innenfeld ein heller Rahmenstreifen anschließt und umgekehrt. Dieses Muster kann in die Fläche ausgebreitet werden, weil im Rapport die Rahmenstreifen der einen Farbe stets auf Streifen der anderen Farbe treffen. Cimabue hat in S. Francesco dieses Muster angewandt, um die Tiefe des gemalten Gebälks anzudeuten, das Chor und Querarme umzieht. Man entdeckt es auch an der Decke des Hauses der Isaakfresken. Giotto bediente sich dieses Schemas auch noch in den Fresken der Arena-Kapelle, und zwar in den Apsiskalotten des Tempels in den drei Fresken des Stabwunders. Wie beim Haus der Anna zu sehen ist, kam er aber bei der Wiedergabe flacher Decken zu einer neuen, für den Betrachter klarer fassbaren Form, die auf die Raumtiefe schließen lässt. Giotto orientierte sich an einer gebräuchlichen Form der Holzdecke und unterteilt die Fläche mit leistenartigen Streifen in größere Felder. Dass er diese Darstellungsform erst in Padua entwickelte, kann man vielleicht daraus schließen, dass die Unterseite der Kanzel im ‘Tempelgang Mariens’ in vier Felder unterteilt ist, wo die Kanzel in der zuvor ausgeführten ‘Verstoßung Joachims’ nur eine undefinierte dunkle Fläche aufweist. Derartige Unterteilungen, die Entfernungen anzeigen könnten, waren prinzipiell auch auf anderen Flächen anzubringen. Ein wichtiges Beispiel dafür findet man in der ‘Hochzeit zu Kana’, wo die weiße Tischdecke ein in etwas hellerem Weiß aufgetragenes quadratisches Muster aufweist, das Rückschlüsse auf die Lage der auf dem Tisch verteilten Gegenstände erlaubt.16 Auf die im Rückblick doch so nahe liegende Übertragung dieses 14

Alhacen / Smith 2001, Bd. I S. 129 f. [II.3.76]: Quantitas autem remotionis non certificatur a visu in qualibet re visa, quoniam inter quedam visibilia et visum sunt corpora ordinata continuata…“; Bacon / Lindberg 1996, S. 206: „Comprehenditur vero et certificabitur distantia si sit mediocris, per continuationem corporum sensibilium interiacentium inter visum et rem remotam“; vgl. Witelo / Kelso, S. 399–403 [IV.10]. 15 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 132f [II.3.80]. 16 Auch in Cimabues ‘Abschied der Apostel von Maria’ im Chor der Oberkirche von S. Francesco findet man ein regelmäßiges Stoff muster, das jedoch flächig erscheint und keine Andeutungen von Verkürzungen erkennen lässt.

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Rasters auf den Fußboden kam Giotto in Padua noch nicht. Ihn beschäftigte dafür um so intensiver die Frage, wie die in die Tiefe führenden Linien von senkrecht oder schräg zur Bildebene gelegenen Gegenständen geführt werden müssen. Viele der Autoren, die sich mit der Geschichte der Perspektive beschäft igt haben, sind der Überzeugung, dass es um 1300 zumindest für die Verkürzung der senkrecht zur Bildebene verlaufenden Tiefenlinien bereits eine einfache Regel gab, die als „Fluchtachsenperspektive“ bezeichnet wird. Samuel Edgerton, der der Überzeugung war, dass der Franziskus-Zyklus in der Oberkirche von S. Francesco in Assisi vor den Fresken der Arena-Kapelle entstanden ist, schrieb über das dortige Rahmensystem: „It is evident, that the artist constructed the illusionistic loggia so that the edges of all the painted modillions at the top and of the dentils at the bottom converge toward the center of the middle picture; those of the left converge toward the right, while those on the right converge left. It is clear that the St. Francis master anticipated the viewer’s positioning himself centrally before the frescoes. Still, we do not have a precise perspective system here, since the lines converge not on a single vanishing point […] but on a vertical axis running through the centermost picture of each group. Although the painter seems to  have had a premonition of Quattrocento linear perspective here, he does no go further and apply it consistently in the individual scenes themselves.“17 Auch John White sah in der Konstruktion mit einer „vanishing axis“ ein zur Zeit Giottos wiederentdecktes Verfahren, das in der Antike entwickelt worden sein soll.18 Dahinter steht in erster Linie die von Panofsky vorgebrachte Vermutung, dass es in der Antike eine „winkelperspektivische“ Konstruktion gegeben haben könne, die auf dem Axiom Euklids basiere, dass der Sehwinkel für die Größenwahrnehmung entscheidend sei.19 Dass die antiken Maler tatsächlich nach diesem Verfahren gearbeitet haben sollen, hat wohl kaum jemand angenommen. Praktikabler erschien der Vorschlag, den Guido Joseph Kern – ohne Panofsky zu erwähnen – 1937 machte.20 Kern bezeichnet das Verfahren als „Teilungskonstruktion“, bei der die perspektivisch gesehene Horizontalebene durch eine vertikale Mittelachse geteilt wird, auf der sich die Verlängerungen der verkürzten Tiefenlinien treffen, wobei vorausgesetzt wird, dass sie spiegelsymmetrisch und in genau gleichem Abstand von der Mittelsenkrechten liegen. Wenn diese Linien parallel liegen, befinden sich die Punkte, auf denen sie sich treffen, in gleichem Abstand von17

Samuel Y. Edgerton: The Renaissance Rediscovery of Linear Perspective, New York [u. a.] 1976, S. 14 f. 18 White 1967, S. 75 f. und öfter. 19 Panofsky 1927 / 1998, S. 683–689; zur Kritik dieser These vgl. Hub 2008, 56–65; Wilbur R. Knorr: On the Principle of Linear Perspective in Euclid’s Optics. In: Centaurus, Bd. 34, 1991, S. 193–210; Richard Tobin: Ancient Perspective and Euclid’s Optics. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Bd. 53, 1990, S. 14–41. 20 Guido Joseph Kern, Die Entwicklung der zentralperspektivischen Konstruktion in der europäischen Malerei von der Spätantike bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts. In: Forschungen und Fortschritte, Bd. 13, 1937, S. 181–184; Kern hatte sich zuvor schon mehrfach mit dem Thema beschäft igt; vgl. u. a. Guido Josef Kern: Die Anfänge der zentralperspektivischen Konstruktion in der italienischen Malerei des 14. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, Bd. 21912 / 17, S. 39–65.

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Euklid, Optik in der Übersetzung von Egnatio Danti, Florenz 1573: Theoreme 10 bis 12

einander, was nicht der Fall ist, wenn sie sich in unterschiedlichen, zur Mitte hin steiler werdenden Winkeln verkürzen.21 Von diesem „‘unrichtigen’ perspektivischen System“ aus, so wird von den Apologeten der „Fluchtachsenperspektive“ behauptet, habe sich die zentralperspektivische Konstruktion entwickelt. Kerns These und die Linien, die gerne in die Photographien eingezeichnet werden, um das Vorliegen einer bestimmten Konstruktion zu belegen, 22 suggerieren für den mit der modernen Perspektivkonstruktion vertrauten Betrachter, die Perspektive des Bildes sei von der „Fluchtachse“ aus entwickelt, analog dem vom Fluchtpunkt ausgehenden Konstruktionsverfahren. Doch ein solches Vorgehen ist nirgendwo zu belegen. Die „Fluchtachsenkonstruktion“ ist ein Konstrukt, das das Wissen um die im 15. Jahrhundert entdeckten Gesetze der Zentralperspektive voraussetzt. Eine genaue Betrachtung der rahmenden Scheinarchitektur in der Oberkirche von S. Francesco zeigt, dass bei der Ausführung der sich verkürzenden Konsolen des Gebälks mit einer Schablone gearbeitet wurde, die es ermöglichte, Ecken und Winkel jeder Konsole mit einer Nadel zu markieren. Das serielle 21 Das erste Schema bezeichnet Kern als „Fischgräte I“, das zweite als „Fischgräte II“: Kern 1937, S. 183 f. 22 Vgl. z. B. Edgerton 1976, S. 15.

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Einsetzen dieser Schablone bringt es mit sich, dass alle sich verkürzenden Linien parallel laufen. Für die gegenüberliegende Seite des symmetrisch angelegten Konsolfrieses konnte dieselbe Schablone seitenverkehrt benutzt werden. Dass sich die Verlängerungen der verkürzten Tiefenlinien dann auf einer imaginären Mittelachse treffen, ist eine geometrisch selbstverständliche Folge des Verfahrens, jedoch nicht dessen Grundlage. Nach der Grundlage dieses Verfahrens zu fragen, wird durch jene Bilder nahegelegt, in denen die sich verkürzenden Tiefenlinien nicht parallel geführt werden, sondern mit zur Seite hin flacher laufenden Winkeln. Letztlich ist dies die Frage, ob und wie nach den Lehren der Optik und damit auch für einen Maler die Verkürzung von senkrecht oder schräg zur Bildebene liegenden Linien genauer zu bestimmen war. Während Bacon und Pecham, wie schon Alhacen, dieser Frage nicht weiter nachgingen, hat sich Witelo eingehend damit beschäftigt und sie im Rückgriff auf die ‘Optik’ Euklids (Abb. 18) zu beantworten gesucht. Der von ihm wie von allen anderen Theoretikern gesetzte Ausgangspunkt ist die Annahme, dass für die Wahrnehmung der Größe eines Gegenstandes der Winkel der Sehpyramide entscheidend ist.23 Euklids Theorem 12 beweist, dass, wenn man ein Parallelenpaar betrachtet, das parallel zur Blickachse in die Tiefe läuft, der Sehwinkel, der zwischen den jeweils fi xierten, gleich weit entfernten Punkten liegt, um so kleiner wird, je größer der Abstand vom Auge ist, was zur Folge hat, dass die Linien aufeinander zuzulaufen scheinen.24 Mit der gleichen Beweisführung wird dargelegt, dass bei 23 Witelo / Kelso 2003, S. 100–103 [IV,20]; Witelo greift hier auf Euklids Theoreme 4 und 5 zurück (Euklid / Theisen 1979, S. 64 f.). Witelo wie schon Alhacen war allerdings bewusst, dass es nicht möglich ist, die tatsächliche Größe des Gegenstandes allein vom Sehwinkel her zu erschließen. Gleiche Größen erscheinen mit zunehmender Entfernung unter kleinerem Winkel, andererseits können unterschiedliche Größen in unterschiedlicher Entfernung unter gleichem Winkel erscheinen, also scheinbar gleich groß sein, deswegen muss bei der Erschließung der tatsächlichen Größe die Entfernung berücksichtigt werden (Alhacen / Smith 2001, Bd. 1, S. 164 [II.3.135]). 24 Euklid / Acerbi 2007, S. 2133 f.; Euklid / Theisen 1979, S. 69: „In ante habentium longitudinem que quidem in dextris in sinistra, que vero in sinistris in dextra educi videntur.“ Dem entspricht Witelos Proposition IV,36: „Omnium visibilium secundum sui longitudinem ante oculos extensorum, que sunt a dextris in sinistram, et que in sinistris, ad dextram educi videntur partem“ (Witelo / Kelso 2003, S. 438). Mit dem gleichen geometrischen Beweis hat Witelo auch das scheinbare Zusammenlaufen der Tiefenlinien demonstriert: „Parallele linee secundum remotiores a visu partes quasi concurrere videntur, numquam tamen videbuntur concurrentes“ (Witelo / Kelso 2003, S. 417 [IV,21]). Der Nachsatz könnte zu dem Schluss verleiten, dass Witelo die Existenz des Fluchtpunktes leugne. So kann nur argumentieren, wer die Regeln der Perspektivkonstruktion bereits kennt. Witelo wendet hier das „Winkelgesetz“ konsequent an: Wenn Gegenstände immer unter einem Winkel gesehen werden, dann kann die Basis der Sehpyramide zwar unendlich klein werden, aber sie kann nie gleich Null sein („Linee […] videbuntur quasi concurrere, non tamen videbuntur unquam concurrentes, quia semper sub aliquo angulo videbuntur“ (ebd. S. 419). Panofsky 1927 / 1998, S. 693, Anm. 22, erläutert diesen Zusammenhang zutreffend, folgert dann aber daraus, dass Witelo „die Möglichkeit eines wirklichen „concursus“ in Abrede stellt“, was beweise, „dass die mathematische Vorstellungswelt seiner Epoche noch keinen Raum für den Unendlichkeitsbegriff hatte.“ Panofskys These, dass der in der neuzeitlichen Mathematik verwandte Begriff des Unendlichen Voraussetzung für die „Entdeckung“ des Fluchtpunktes war, ist zu widersprechen. Dieser Begriff ist erst nach der Erfindung der Perspektivkonstruktion entwickelt worden, vgl. Büttner 2007, S. 202–205.

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Bildparallelen, die sich in stets gleicher Distanz voneinander in die Tiefe staffeln, der Abstand zwischen ihnen mit wachsender Entfernung vom Auge immer kleiner zu werden scheint.25 Eine geometrische Regel für den Verlauf der fluchtenden Linien und die Verkleinerung der Tiefenabstände wird nicht gegeben, doch das Phänomen wird mit einem konkreten Hinweis illustriert. Witelo beweist, dass die Regel des scheinbaren Zusammenlaufens von senkrecht in die Tiefe laufenden Parallelen auch dann gilt, wenn diese in Ebenen liegen, die sich unter oder über dem Auge des Betrachters befinden.26 Abschließend fügt er hinzu, man könne dieses Zusammenlaufen auch bei Hausdächern oder Zimmerdecken beobachten.27 Dass dieses Beispiel Beachtung fand, zeigen die Bilder Giottos und seiner Zeitgenossen. In den Propositionen zur Wahrnehmung der Lage (situs) kommt Witelo noch einmal auf diese Regel zurück. In Anlehnung an Euklid stellt er fest, dass bei Linien, die vor den Augen des Betrachters gerade in die Tiefe laufen, die Linien auf seiner rechten Seite nach links, die auf der linken Seite nach rechts zu laufen scheinen, also nach innen zusammenzulaufen scheinen.28 Diese Feststellung wird wieder mit den Lehren Euklids ergänzt, nach denen Ebenen, die unterhalb der Augenhöhe liegen, um so höher erscheinen, je weiter sie vom Auge entfernt sind, dass sie also anzusteigen scheinen und dass entsprechend eine Ebene oberhalb der Augenhöhe sich mit der Entfernung zu senken scheint.29 Aus den Darlegungen Witelos waren keine exakten Regeln für eine linearperspektivische Konstruktion abzuleiten. Seine Lehrsätze und die sie begleitenden schematischen Zeichnungen bleiben geometrisch ungenau. Dennoch konnten sie – nicht zuletzt mit dem konkreten Hinweis auf das scheinbare Zusammenlaufen der Linien bei einer Zimmerdecke – einem Maler zeigen, worauf er zu achten hatte, wenn sein Bild sich dem Schein annähern soll, der sich uns in unserer Wirklichkeitswahrnehmung bietet, wenn sein Bild visuelle Plausibilität erhalten soll. Die erste Faustregel, die schon in den Gebäuden der Isaak-Fresken beachtet wurde, war, dass sich oberhalb der Augenhöhe liegende Flächen mit wachsender Distanz zu senken scheinen, während unterhalb der Augenhöhe liegende Flächen nach hinten hin anzusteigen scheinen. Bei genauerer Analyse war diesem Lehrsatz auch zu entnehmen, dass der Neigungswinkel der in die Tiefe führenden Linien um so größer ist, je weiter die betrachtete Ebene über oder unter dem Auge liegt, und dass die 25

„Lineis pluribus equaliter ab invicem equidistantibus objectis visui, distantia remotiorum minor visui apparet“ (Witelo / Kelso 2003, S. 420 f. [IV,22]). 26 Witelo / Kelso 2003, S. 417–420 [IV,21]. Mit seiner geometrischen Beweisführung stützt sich Witelo hier auf Theorem 7 der ‘Optica’ Euklids (Euklid / Theisen 1979, S. 66). 27 Witelo / Kelso 2003, S. 420 (IV,21): „… et eodem penitus modo demonstrandum si linee parallele vise sint visu superiores, ut si visu inferius existente linee ipse parallele sint in aliqua superficie super visum, ut accidit in tectis domuum et similibus visu existente inferius“. Das von Witelo verwandte Wort tectum kann sowohl das Dach eines Hauses wie auch Decke eines Zimmers in diesem Haus bezeichnen; tectum laqueatum ist die Kassettendecke. 28 Witelo / Kelso 2003, S. 129 [IV,36]; die unmittelbare Vorlage ist Euklids 13. Theorem (Euklid / Theisen 1979, S. 69). 29 Propositio 37: „Superficierum sub oculo iacentium, remotiores a visu alteriores videntur“ (Witelo / Kelso 2003, S. 439 f., vgl. Euklid, Theorem 11, Euklid / Theisen, S. 68); Propositio 38: „Superficierum visui superiacentium remotiores a visu decliviores videntur (Witelo / Kelso, S. 440 f., vgl. Euklid, Theorem 12, Euklid / Theisen, S. 69).

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Giotto: Hochzeit zu Kana, Padua, Arena-Kapelle

Tiefenlinien in Augenhöhe weder ansteigen noch abfallen, sondern horizontal zu verlaufen scheinen. Im Haus der Anna blieb Giotto bei dem einfachen Schema, dass Tiefenlinien oberhalb der Bildmitte nach links hin absinken, während die Tiefenlinien der unteren Bildhälfte ansteigen, wobei dicht beieinander liegende Linien annähernd parallel verlaufen. In der ‘Hochzeit zu Kana’ (Abb. 19) ging Giotto differenzierter vor. Die Linien der sich verkürzenden Balkons neigen sich stärker als die Linien des Ornamentbandes darunter. Die Oberkante des Wandbehangs erscheint auch über die Ecken hinweg fast horizontal. Sie liegt in etwa in Augenhöhe der Figuren und folgt damit den optischen Regeln. Das bemerkenswerteste Bild in diesem Zusammenhang ist ‘Christus vor Kaiphas’ (Abb. 24). Die offene Vorderwand des Raumes, in dem Christus dem Hohepriester vorgeführt wird, füllt die Bildfläche fast ganz aus, nur oben ist ein schmaler Streifen der blauen Hintergrundfolie zu sehen. Giotto deutet die Raumtiefe hier nicht mit einer Kassetten-

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decke an, sondern mit den sich verkürzenden Deckenbalken, deren Fluchtlinien sich in einer Zone treffen, die etwas links von der Mitte der Wandfläche zwischen den beiden Fenstern, etwas unterhalb von deren Bogenansatz liegt. Der obere Abschluss des Priesterthrones, die markanteste Linie in der Mitte der rechten Wand, ist fast horizontal. In keinem anderen Bild zuvor hat Giotto die Regeln von Euklid und Witelo vom Verlauf der Tiefenlinien so konsequent beachtet. Hervorzuheben ist auch, dass hier wie in den anderen Innenraumbildern der ArenaKapelle die rechte Seite des Raumes länger ist als die linke, die mithin stärker verkürzt zu sein scheint. Giotto vermeidet die symmetrische Anlage des Raumes offenbar bewusst. Dabei spielen kompositorische Gesichtspunkte eine Rolle. Die längere Seitenwand ist stets der Platz wichtiger Akteure: hier ist es Kaiphas, in der ‘Hochzeit zu Kana’ ist es Christus, in der Szene des ‘Zwölfjährigen Jesus im Tempel’ sind es Maria und Joseph, die gerade hereinkommen, und in der ‘Verspottung Christi’ sieht man dort Pilatus. Diese an die Seite gerückten Figuren stehen stets in einer Spannung zum Zentrum der Bilderzählung. Hier ist es das Gegenüber von Christus, der gerade hereingeführt wird, und Kaiphas, der sein Gewand zerreißt. In der ‘Hochzeit’ sind es Maria und der Kellermeister, mithin der Ort, an dem sich das Wunder vollzieht, in den anderen beiden Bildern ist es der lehrende beziehungsweise der leidende Christus. Die Lehren Euklids und Witelos über die Tiefenverkürzung hat Giotto dem Grundsatz nach beachtet. Allerdings stand er vor der Schwierigkeit, deren Theoreme, die sich auf die visuelle Wahrnehmung der Wirklichkeit beziehen, in Regeln für die bildliche Wiedergabe der Verkürzungen umzusetzen. Das Fehlen geometrisch exakter Regeln für diese Umsetzung, ließ ihm jedoch den Freiraum, die Verkürzungen den Notwendigkeiten der Komposition unterzuordnen. Auf der anderen Seite war er, wie die differenzierte Führung der Tiefenlinien in der ‘Hochzeit’ zeigt, bemüht, seine Darstellungsweise den Vorgaben der Traktate anzupassen. In der Literatur ist immer wieder die Vermutung geäußert worden, dass der bemerkenswerte Wandel in der Architekturdarstellung und damit letztlich der Wandel in der Bildauffassung auf eine neue und direkte Auseinandersetzung mit der Antike zurückzuführen sei. Für Felix Horb und John White waren die Wandbilder der konstantinischen Basiliken eine entscheidende Vermittlungsinstanz.30 Mit besonderem Nachdruck hat jüngst Serena Romano dafür plädiert, dass die Maler um 1300 antiken Vorbildern entscheidende Anregungen verdanken.31 Dass einzelne Motive der Ornamentik und Architekturdekoration übernommen worden sind, kann nicht bezweifelt werden. Auch bestimmte Schemata der Darstellung von Architektur sind auf die Antike zurückzuführen, wobei allerdings immer die Frage bleibt, ob die Rezeption nicht auf dem Umweg über Byzanz erfolgte.32 Es gibt nach wie vor keinen verlässlichen Hinweis darauf, dass damals andere antike Wandmalereien bekannt waren als die, die man in den Basiliken sehen konnte. So kann man die Säulengliederung des Franziskus-Zyklus in Assisi auf spätan30

Horb 1938, 17 ff. führt die Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen Wandbilder in der Vorhalle von S. Lorenzo f. l. m. in Rom als Beleg für den Rückgriff „auf Formen der hellenistisch-römischen Wandmalerei und ihre spätantiken Nachfahren“ an; White 1967, S. 47 ff. verweist auf die von Cavallini restaurieren Wandbilder in San Paolo f. l. M. in Rom. 31 Romano 2008, S. 42–52; S. 82–89 u. ö. 32 Schwarz 2008, S. 234–238.

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Giotto: Die Flucht nach Ägypten, Padua, Arena-Kapelle

tike Vorbilder zurückführen, doch dafür, dass die komplexen Architekturszenerien der Wandmalerei des so genannten Zweiten Stiles bekannt waren, gibt es keinen Beleg.33 Die Bildauffassung des Meisters der Isaakfresken und Giottos ist mit den spätantiken Wand33 Dass das aus Antiochia stammende Bodenmosaik im Princeton University Art Museum mit der Darstellung des Trinkwettstreits zwischen Dionysos und Herakles aus dem 3. Jh. v. Chr. erstaunliche Ähnlichkeiten mit den Isaak-Szenen in Assisi aufweise („… le somiglianze con le storie di Isacco risultano piuttosto impressionanti“, Romano 2008, S. 84) ist eine Suggestivbehauptung, die bei genauerer Betrachtung keinen Bestand hat. Die Rahmenarchitektur des hellenistischen Mosaiks und das szenische Bildfeld sind zwei strikt getrennte Bereiche und mit der Konzeption der Isaakbilder nicht zu vergleichen.

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dekorationen nicht zu vergleichen. Für die Darstellung von Innenräumen als Handlungsort gibt es auch unter den heute bekannten Werken kein Vorbild. Nur die Innenraumbilder des Vergilius Vaticanus wären vergleichbar, doch auch in ihrem Fall gibt es keinen Beleg, dass sie den Malern bekannt waren.34 Für einen so grundsätzlichen Wandel der Bildauffassung, wie er um 1300 vollzogen wurde, bedurfte es stärkerer Impulse als das Bemühen um Nachahmung bestimmter Vorbilder. Die Entdeckung der Optik als Wissenschaft vom Sehen, die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Psychologie und Naturphilosophie waren solche Impulse, die Neues initiieren konnten. In der Arena-Kapelle sind nicht nur Architekturen der „Handlungsraum“ der Figuren. In vielen Bildern spielt sich die Szene im Freien ab. Manchmal, etwa in der ‘Kreuzigung’ oder der ‘Himmelfahrt“, ist der Ort des Geschehens nur ein schmaler Bodenstreifen, der an die Stelle des olivbraunen Bandes des „Bildformulars“ getreten ist. Die drei Szenen, die Joachim nach seiner Verstoßung bei seinen Hirten zeigen, stellt Giotto in einer Kulisse dar, die als Landschaft aufzufassen ist. Heute mag uns diese Bezeichnung nicht ganz treffend erscheinen. Giotto ging von einem alten, in der byzantinischen Malerei gebräuchlichen Schema der Darstellung von „Außenraum“ aus: vegetationslose, glatte Felsflächen, die vorne eine am unteren Bildrand schroff abbrechende Standfläche bieten und sich im Hintergrund zu einzelnen Gipfeln auftürmen, die bisweilen wie bizarre Felsnadeln aussehen. Giotto ist bemüht, diesen kahlen Felslandschaften mit den neuen optischen Mitteln Tiefenwirkung zu verleihen. Ein Mittel ist die Stufung, die, wie sich in der ‘Anbetung der Könige’ zeigt, ein Hintereinander erkennen lässt. Ein anderes, allerdings hier noch nicht sehr ausgeprägtes Mittel ist es, die Raumtiefe durch die Vegetation anzudeuten, beispielsweise durch die Größe der Bäume, wie dies in ‘Joachim bei den Hirten’ und in der ‘Flucht nach Ägypten’ (Abb. 20) zu sehen ist. Das wichtigste Mittel, das Giotto einsetzt, um zwischen Nähe und Ferne zu differenzieren, ist wieder die Tiefenverdunklung. Hier ist der Zusammenhang zwischen den beiden zuletzt genannten Bildern aufschlussreich. In dem Bild der ‘Rückkehr’, das als zweites Bild des Zyklus entstand, ist das Helldunkel noch unsignifi kant, in der ‘Flucht nach Ägypten“ hingegen wird der Berg links markant dunkler dargestellt, der damit dem Betrachter als weiter entfernt erscheint. Die Tiefenverdunklung wird in diesem Bild auch eingesetzt, um die Breite des Weges, auf dem die heilige Familie einherzieht, sichtbar zu machen.

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Wit, Johannes de: Die Miniaturen des Vergilius Vaticanus, Amsterdam 1959, S. 88–92 (Pictura 26 und 27).

6. Licht und Farbe in den Bildern 6. Licht und Farbe in den Bildern

Bei Untersuchung der Entwicklung des rilievo wurden Fragen des Lichtes ausgeklammert, denn die Helligkeitsunterschiede, die den Betrachter größere Nähe oder Ferne erkennen lassen, sind, wie dargelegt wurde, kein Beleuchtungsphänomen, sondern aus dem natürlichen Prozess der Ausbreitung der species abzuleiten, dessen Wirkung mit dem Medium der Farbe darzustellen war. Als sehr viel komplexer und schwieriger zu bewältigen erwies sich hingegen der künstlerische Umgang mit dem Licht und seinen Wirkungen.1 Licht war im Verständnis des Mittelalters mehr als ein rein physikalisches Phänomen. Die antike Lichtmetaphysik, wie sie Platon und der Neuplatonismus lehrten, traf sich mit der biblischen Botschaft, die vom Schöpfungsbericht, der den göttlichen Ursprung des Lichtes lehrte, über die Lichtmetaphorik der Psalmen bis zu der Identifi kation des Gött lichen mit dem Licht im Neuen Testament reicht, wo es von Christus heißt: „Das wahre Licht (lux vera), das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt“.2 Entscheidenden Einfluss auf die christlichen Lichtvorstellungen hatte Augustinus. Mit den Neuplatonikern unterschied er vom sinnfälligen Licht das intelligible Licht, das ungeschaffene geistige Licht, durch welches alles erleuchtet wird und leuchtet und das mit Gott gleichzusetzen ist.3 Dieses ungeschaffene Licht ist die „Trinitas inseparabilis“.4 Das Nizänische Glaubensbekenntnis bezeichnet Christus „Deum ex Deo, lumen ex lumine“. Augustinus betonte, dass dies nicht im bildlichen, sondern im eigentlichen Sinne gemeint sei.5 Von den Neuplatonikern wird das sichtbare Licht als aus dem göttlichen Licht hervorgegangen verstanden, als erster der Körper und dem Göttlichen am nächsten. Diese Vorstellungen wurden, auf verschiedene Weise variiert und ausgebaut, bis in die Scholastik und darüber hinaus fortgetragen. Bonaventura beispielsweise bezog sich explizit auf Augustinus. In seinem Sentenzenkommentar bezeichnet er Gott als das höchste geistige Licht, das wir aber nicht unmittelbar und direkt erblicken können. Durch das sichtbare, körperliche Licht aber können wir zur Erkenntnis des geistigen Lichtes, zur Gotteserkenntnis geführt werden.6 Entsprechend wird begrifflich 1

Mit den Fragen von Licht und Farbe in der italienischen Malerei des Trecento hat sich am eingehendsten Paul Hills befasst, der auch erstmals Verbindungen zu den Lehren der Optik herstellte: Hills 1987, insbesondere S. 64–71. 2 Johannes 1,9; zur mittelalterlichen Lichtmetaphysik vgl. Baeumker 1991, S. 357–503; Hedwig 1980, passim. 3 Baeumker 1991, S. 373. Augustin, Soliloquia 1,1,3: „Deus intelligibilis lux, in quo et a quo et per quem intelligibiliter lucent, quae intelligibiliter lucent omnia“. 4 Augustinus, Contra Faustum XX, c. 7. 5 Augustin, De genesi ad litteram IV.28,45; Baeumker 1991, S. 374. 6 Baeumker 1991, S. 394–407.

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unterschieden zwischen lux als der substanziellen Quelle des Lichtes und dem ausgestrahlten Licht, das als lumen bezeichnet wird.7 Licht ist für die Scholastik die vollkommenste Manifestation des Göttlichen, das kreatürliche Sein ist Ausstrahlung des göttlichen Lichtes. In dieser Stufenleiter des Seienden bestimmt sich mit dem Abstand zu Gott auch die Teilhabe am Licht. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts jedoch begann sich ein tiefgreifender Auffassungswandel zu vollziehen. Thomas von Aquin hat sich entschieden gegen die auf Augustin zurückzuführende Auffassung gewandt, dass „in spiritualibus“, also im Bezug auf die Trinität, von Licht im eigentlichen Sinne gesprochen werden könne. Für Thomas sind auch die immer als Beleg angeführten Bibelstellen nur Metaphern, deren tertium comparationis in der „manifestatio“, dem Sichtbar-Machen, dem Offenbaren zu finden ist. Das reale Licht wird nicht mehr als Emanation des intelligiblen Lichtes verstanden. Zwischen visueller Wahrnehmung und der Erkenntnis, die in der patristischen Tradition als Einwirken des intelligiblen Lichtes verstanden wurde, wird klar geschieden.8 Hinter diesen Thesen steht die damals neue Auffassung des Sehens. Einen entscheidenden Beitrag zu einer Synthese der tradierten Lichtmetaphysik mit der naturphilosophischen Auffassung des Lichtes leistete Robert Grosseteste.9 Für ihn galt zwar noch die Unterscheidung zwischen dem natürlichem Licht, das mit dem oculus corporalis wahrgenommen wird, und dem spirituellem Licht, das nur der oculus mentis erkennt. Er akzeptierte die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Implikationen und theologischen Voraussetzungen. Doch der neuplatonisch geprägten christlichen Lichtmetaphysik gab er einen entschiedenen kosmologischen Akzent, indem er die Vorstellung von der Emanation des spirituellen, göttlichen Lichtes auf die materielle Welt übertrug. Das sinnfällige Licht (lumen) fasste er als die konkrete Manifestation des ewigen gött lichen Lichtes (lux) auf. Das Licht ist „prima forma corporalis“, das mit seiner allseitigen Ausbreitung Ursprung der dreidimensionalen Ausbreitung der Materie ist.10 7

Bonaventura, I Sententiarum, d.17, p. 1 (Bonaventura 1882–89, Bd. 1, S. 294); vgl. unten S. 75, Anm. 19. 8 Hedwig 1980, S. 199–209. 9 Ludwig Baur: Das Licht in der Naturphilosophie des Robert Grosseteste. In: Baumgartner, Matthias (Hrsg.): Abhandlungen aus dem Gebiete der Philosophie und ihrer Geschichte. Eine Festgabe zum 70. Geburtstag Georg Freiherrn von Hertling. Freiburg i. Br. 1913, S. 41–55; Crombie 1962, S. 128–135; Lindberg 1987, S. 174–188; Hedwig 1980, S. 119–156. 10 Robert Grosseteste: De luce seu de inchoatione formarum: „Formam primam corporalem, quam quidam corporeitatem vocant, lucem esse arbitror. Lux enim per se in omnem partem se ipsam diff undit, ita ut a puncto lucis sphaera lucis quamvis magna subito generetur, nisi obsistat umbrosum. Corporeitas vero est, quam de necessitate consequitur extensio materiae secundum tres dimensiones, cum tamen utraque, corporeitas scilicet et materia, sit substantia in se ipsa simplex, omni carens dimensione. Formam vero in se ipsa simplicem et dimensione carentem in materiam similiter simplicem et dimensione carentem dimensionem in omnem partem inducere fuit impossibile, nisi seipsam multiplicando et in omnem partem subito se diff undendo et in sui diff usione materiam extendendo, cum non possit ipsa forma materiam derelinquere, quia non est separabilis, nec potest ipsa materia a forma evacuari. Atqui lucem esse proposui, cuius per se est haec operatio, scilicet se ipsam multiplicare et in omnem partem subito diff undere. […] Lux ergo, quae est prima forma in materia prima creata, seipsam per seipsam undique infi nities multiplicans

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Mit dem Licht kam die „multiplicatio specierum“ als physikalisches Grundprinzip in die Welt. Angesichts dieser theologischen und kosmologischen Dimensionen konnte die Optik, die sich mit den Naturgesetzlichkeiten des Lichtes befasst, für sich in Anspruch nehmen, Grundwissenschaft zu sein.11 Auch wenn bei den Theoretikern der Optik, die sich auf Grosseteste und seine Lehre von der „multiplicatio specierum“ stützten, in der Behandlung des Lichtes die naturphilosophische Seite in den Vordergrund trat, haben sie am metaphysischen Urgrund des Lichtes nie gezweifelt. Witelo hat sich in seinem Widmungsbrief an Wilhelm von Moerbeke, den er seinem Traktat voranstellte, dazu bekannt.12 John Pecham hat in seinem kleineren, in scholastischer Methode verfassten ‘Tractatus de perspectiva’ explizit auf die Lichtmetaphysik Augustins zurückgegriffen.13 Auch die Künstler des 13. Jahrhunderts haben an der tradierten christlichen Lichtmetaphysik festgehalten.14 Der Goldgrund war Symbol des göttlichen Lichtes und die Chrysographie, die Goldschraff uren, mit denen sie nach byzantinischem Vorbild die Gewänder Christi und der Gottesmutter zierten, dienten zwar auch der Andeutung einer Modellierung, waren aber primär Symbol des Göttlichen.15 Die Optiktraktate vermittelten den Künstlern jedoch eine andere, konkretere Auffassung von Licht und Farbe, aus der sie für ihre praktische Arbeit Nutzen ziehen konnten. Wie bereits erwähnt, lehren die Traktate, dass Licht (lux / lumen) und Farbe (color) die einzigen visibilia per se sind.16 Sie sind ihrem Wesen nach verschieden und gehören doch zusammen, denn „Licht und Farbe, die in einem gefärbten und beleuchteten Körper sind, werden vom Gesichtssinn zugleich und miteinander vermischt wahrgenommen“.17 Dabei besteht jedoch ein entscheidender Unterschied zwischen beiden. Das Licht ist die conditio sine qua non des Sehens. Von Witelo wird das Licht als hypostasis coloris bezeichnet.18 Diesen Begriff verwandten zuvor auch Thomas von Aquin und Bonaventura, die in ihren Sentenzenkommentaren zur Erläuterung trinitätstheologischer Thesen auf

et in omnem partem aequaliter porrigens, materiam, quam relinquere non potuit, secum distrahens in tantam molem, quanta est mundi machina, in principio temporis extendebat.“ (Grosseteste / Baur 1912, S. 51 f.); vgl. Bacon / Lindberg 1983, S. LI, dort auch die englische Übersetzung der zitierten Passage. 11 Hedwig 1980, S. 141. 12 Witelo / Risner 1572: S. 1: „Sic, ut omnis rerum entitas a diuina profluat entitate, & omnis intelligibilitas ab intelligentia diuina, omnisque uitalitas a diuina uita: quarum influentiarum diuinum lumen per modum intelligibilem est principium, medium, & finis: ut a quo, & per quod, & ad quod omnia disponuntur.“ 13 Pecham / Lindberg 1972, S. 28 f. 14 Bruyne 1946, Bd. 3, S. 3–29. 15 Hills 1987, S. 25–28. 16 Witelo / Unguru 1991, S. 358 [III,59]: „Nullum visibilium comprehenditur solo sensu visus nisi solum luces et colores“. 17 Witelo / Unguru 1991, S. 358 [III,59]: „… lux vero et color que sunt in corpore colorato et illuminato, comprehenduntur a visu in simul et admixta …“. 18 Witelo / Unguru 1991, S. 291 [III, 1]: „Item quod per se visibilia sunt tantum due, scilicet lux et color; quoniam lux se ipsa videtur, et ipsa est ypostasis coloris“; vgl. auch S. 292 [III,1] und S. 358 [III,59].

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die Eigenschaften des Lichtes verwiesen.19 Bei Witelo ist der komplexe Begriff der Hypostase wohl nicht in seinem theologischen Sinn, sondern in seiner ursprünglichen philosophischen Bedeutung aufzufassen: das Licht ist die Grundlage der Farbe, Licht und Farbe unterscheiden sich nach ihrem Sein, sind in ihrem Vorkommen aber untrennbar miteinander verbunden. Farbe wird immer als lux colorata wahrgenommen. Aus dieser Einsicht ergaben sich zunächst noch keine Konsequenzen für die Bildgestaltung. Die hypostatische Einheit von Licht und Farbe wurde im Akt der Wahrnehmung realisiert. Das auf das Bildwerk fallende Licht entzündete sozusagen das in den Farben inkorporierte Licht und sandte es als lumen coloratum zum Betrachter. In den Anfängen des rilievo, in denen es um die Darstellung der Körper und um den Schein ihrer Gegenwärtigkeit ging, konnten die Maler sich damit begnügen, die erläuterten Regeln zu beachten, die Tiefenverdunkelung und Modellierungshelle forderten. Das Problem von Licht und Farbe war jedoch auch auf einer höheren Ebene zu betrachten. Die Körper und Gegenstände, die die Maler darstellen sollen, können einzig und allein im Licht in Erscheinung treten. Wenn das Gemälde die „natürlichen Species“ konsequent ersetzen sollte, dann war es unumgänglich, das unauflösliche Wechselverhältnis von Licht und Farbe schon auf der Ebene der Bildgegenstände zu berücksichtigen und diese als beleuchtete darzustellen. Wieder war es Giotto, der in den Fresken der Arena-Kapelle gezeigt hat, wie dies möglich ist. In der kompositorisch relativ einfachen Darstellung der ‘Überreichung der Stäbe durch die Freier’ (Abb. 21), dem zweiten der drei Bilder, die dem Stabwunder und der daraus folgenden Verlobung Mariens gewidmet sind, fällt auf, dass die Gewänder der Figuren nach links hin eine deutlich größere Helligkeit aufweisen als nach rechts. Die Tiefenverdunklung nimmt nicht nach beiden Seiten hin gleichmäßig zu, wie es nach den oben erläuterten Regeln zu erwarten wäre, sondern ist asymmetrisch. Diese asymmetrische Verdunklung und Aufhellung ist nicht nur bei den Figuren, sondern auch bei den Architekturen zu registrieren und wurde in allen benachbarten Bildern in gleicher Weise ausgeführt. Wie es zu dieser Asymmetrie kommt, kann man sich nach dem Vorbild der OptikTraktate mit den Mitteln der Geometrie verdeutlichen (Abb. 22). Bei der Modellierung, die auf den direkt vor dem Objekt oder Bild stehenden Betrachter bezogenen ist, zeigt sich wie gesagt das Helligkeitsmaximum an der am weitesten vorspringenden Stelle des Körpers. Wenn nun ein schräg von der Seite scheinendes Licht hinzukommt, so wird nach unserer Vorstellung der Gegensatz von Licht und Schatten erzeugt. Bei konsequenter Berücksichtung der Lehren der Optik ist die Sache etwas komplizierter, weil die elementare Regel, dass der am weitesten vorspringende Teil des Körpers am hellsten ist, 19

Thomas von Aquin (Scriptum super sententiis, Lib. I. d. 17 q. 1 a. 1 co.) schreibt, dass das Licht für sich betrachtet lux sei, in seiner Erscheinung auf der das Diaphane begrenzenden Fläche jedoch color: „quia hypostasis coloris est lux, et color nihil aliud est quam lux incorporata“. Bonaventura (Commentaria in Quatuor Libros Sententiarum, lib. I. dist. 17, p. 1, art. un., q. 1, conclusio) fügte den Mittelbegriff des lumen hinzu: „Dicunt enim, quod, sicut lux potest tripliciter considerari, scilicet in se et in transparenti et in extremitate perspicui terminati – primo modo est lux, secundo modo lumen, tertio modo hypostasis coloris“; vgl. Bruyne 1946, S. 27 und Hedwig 1980, S. 199–205.

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Giotto: Überreichung der Stäbe, Padua, Arena-Kapelle

nicht außer Kraft gesetzt wird, sondern durch die Beleuchtungshelligkeit überlagert wird. Dabei ergibt sich, dass nach wie vor der vorspringende Teil der Körpers am hellsten ist: seine Helligkeit ist sozusagen die Summe der beiden Prinzipien. Die Tiefenverdunklung aber ist je nach dem Ort der Lichtquelle seitlich verschoben. In den Bildern der Arena-Kapelle hat Giotto dies konsequent berücksichtigt und so kann die Asymmetrie des Helldunkel die Assoziation von Beleuchtung provozieren. Dieser Eindruck wird dadurch entschieden verstärkt, dass diese Regel für alle Bilder auf der rechten beziehungsweise der linken Seite der Kapelle systematisch umgesetzt wurde, und zwar so, dass alle Bilder der linken, nördlichen Langseite der Kapelle ihr Licht von links, die Bilder auf der rechten, südlichen Kapellenseite ihr Licht von rechts zu erhalten scheinen. Hier wie dort scheint die Lichtquelle im Westen zu liegen. Man wird diesen Effekt nicht einfach mit der tatsächlichen Lichtsituation in der Kapelle zusammenbringen. Das dreibahnige Fenster in der Eingangswand, vor allem in seiner ursprünglich wohl bunten

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Schematisches Modell der Sehpyramide und des asymmetrischen rilievo

Verglasung, ist zu klein, um diesen Effekt zu „erklären“, und die Fläche der sechs Fenster der Südseite ist zusammengenommen weit größer, so dass eigentlich das von dort einfallende Licht in den Bildern dominieren müsste. Andererseits werden sich diejenigen, die das Glück hatten, die Kapelle in früheren Jahren zu besuchen, als man den Raum noch durch das schlichte Portal der Fassade betrat, vielleicht erinnern, dass diese Tür bei gutem Wetter weit offen stand und so viel natürliches Licht hereindrang, dass auf künstliche Beleuchtung verzichtet werden konnte. Zwischen dem Licht der Bildwelt und dem den Betrachter umgebenden Licht bestand dann zwar nicht ein faktischer und totaler, aber doch prinzipieller Gleichklang des natürlichen Lichtes mit dem Bildlicht. Wichtiger und unabhängig von dieser momentanen Wirkung aber ist, dass Giotto es erreicht hat, den Eindruck einer szenenübergreifenden, einheitlichen Beleuchtung zu schaffen. Dass Giotto mit einer alles Vorherige überbietenden Konsequenz auf den Eindruck der Einheitlichkeit der Beleuchtung hingearbeitet hat, zeigt sich bei einer Analyse des Dekorationssystems, in das die Bilder eingebunden sind (Abb. 10). Dessen primäres Gestaltungsmittel ist die Materialillusion. Die Bildfelder werden getrennt durch profi lierte Bänder mit Mosaikeinlagen nach dem Vorbild der Arbeiten der so genannten Cosmaten, die damals das Erscheinungsbild der römischen Kirchen bestimmten. Die umlaufende Sockelzone scheint mit Marmorplatten von unterschiedlicher Farbe und Textur inkrus-

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tiert zu sein. Der Schein der Materialität wird dadurch verstärkt, dass in den paarweise angeordneten Feldern die Texturen spiegelbildlich erscheinen, so dass der Eindruck erweckt wird, es seien hier wie in der Architektur üblich zwei vom gleichen Block geschnittene Marmorplatten sozusagen auseinander gefaltet angebracht worden. Alle Felder in diesem Dekorationssystem, die Marmorplatten des Sockels wie die Mosaikstreifen und Ornamentfelder in den Bildregistern werden von Profi len umgeben, die einfache Karniesprofi le oder auch mehrfach gestuft sein können. Der Eindruck verschiedener Tiefe der so eingefassten Flächen wird durch eine Tiefenverdunklung erreicht, die genau wie in den Bildfeldern zugleich den Effekt der durch das Standortlicht bewirkten Beleuchtung vermittelt. Am deutlichsten ist dies beim Sockel zu erkennen. Bei den Profi lrahmen, die die Marmorplatten beziehungsweise die Plattenpaare einfassen, sind die jeweils unten horizontal laufenden Leisten heller als die ihnen gegenüber stehenden Leisten oben. Bei den vertikalen Rahmenleisten sind die in Richtung des Chores liegenden Leisten heller als die zum Eingang weisenden. Man hat den Eindruck, dass auf dem gemalten Sockel ein von Westen her schräg von oben einfallendes Licht liegt. Bei den Leisten in den Bildregistern ist es nicht anders, wenn auch nicht so auff ällig. Diese Wirkung wird spontan so gedeutet, dass hier das Wandrelief flacher ist als in der Sockelzone, die zudem noch durch die Rechtecknischen mit den oben bereits erwähnten Personifi kationen der Tugenden und Laster zusätzliche Tiefe zu gewinnen scheint.20 Die Berücksichtigung des „Standortlichtes“ sollte in der weiteren Entwicklung der Trecento-Malerei zu einer fast selbstverständlichen Forderung werden, was durch Cenninis Traktat bestätigt wird.21 Wenn nach den Lehren der Optik Licht die Voraussetzung für die Wahrnehmbarkeit der Farbe war, so kehrte sich für den Maler, der Beleuchtung darstellen wollte, das Verhältnis von Licht und Farbe um, denn er konnte Licht nur im Medium der Farbe sichtbar machen. Die Wirkung der bildübergreifenden Einheitlichkeit der Beleuchtung war ein koloristisches Problem, dessen Lösung um 1300 keineswegs selbstverständlich war. Die einheitliche asymmetrische Ausrichtung der Aufhellung war nur ein erster Schritt.22 Das frühmittelalterliche dreistufige Schema der Modellierung hatte für jeden Farbton ganz spezifische Töne der Aufhellung und Abdunkelung vorgesehen. Auch in der stufenlosen Modellierung nach dem Prinzip des rilievo konnten, wie frühe Beispiele erkennen lassen, die Farben jeweils für sich aufgehellt werden. Die Folge ist eine gewisse Isolierung der einzelnen Farbflächen, wodurch die Wirkung einer einheitlichen Beleuchtung gemindert wird. Allerdings zeigt sich bei Cavallini und in den frühen Langhausfresken in Assisi die Tendenz zu einer Vereinheitlichung, indem die Aufhellungen überwiegend mit Weiß vorgenommen werden, das allerdings oft linienhaft aufgesetzt erscheint, selbst in den 20

Vgl. oben S. 47 ff. Cennini / Frezzato 2003, S. 67 f.; vgl. Schöne 1954, S. 88–91, der jedoch in seinen Defi nitionen S. 14 „Standortlicht“ als das Licht bezeichnet, „unter dem ein Bild von uns gesehen wird (oder gesehen werden sollte)“. Das hier beschriebene Phänomen umschreibt er S. 88 als „FremdlichtModellierung“, mit der das Bild an das im Raume herrschende Licht angeschlossen werden soll. Dieser Begriff ist jedoch verunklärend, weil letztlich bei jedem Bild ganz unabhäng von dem Platz, für den es bestimmt war, von „Fremdlicht-Modellierung“ gesprochen werden kann. 22 Solange die Grundregel galt, dass das näher Liegende heller zu sein habe als das Entferntere, war es geradezu undenkbar, Gegenstände im Gegenlicht darzustellen. 21

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Isaakfresken. Auch in den Paduaner Fresken wird systematisch in Richtung auf Weiß aufgehellt, die Aufhellungen sind aber im Gegensatz zu den Obergadenfresken in Assisi stufenlos eingebunden. Ein Unterschied ist auch in den Abdunkelungen zu erkennen, die in Assisi, beispielsweise im ‘Bau der Arche’ oder in der ‘Opferung Isaaks’ als gesättigte Buntfarbe gegeben sind. Bei Giotto findet man gelegentlich, so in der ‘Übergabe der Stäbe’ bei der rechts von Joseph stehenden Gestalt, einen Farbwechsel, in diesem Fall von hellem Blaugrün zu karminrotem Dunkel, wodurch der Eindruck eines changierendes Stoffes erzielt wird. Überwiegend wird bei Giotto die Tiefenverdunklung durch eine Vermischung der Gegenstandsfarbe mit unbunten Grau- oder Umbratönen erreicht. Darin liegt eine Tendenz in Richtung auf Schwarz, das als reine Farbe freilich so gut wie nie eingesetzt wird. Hinter diesem Kolorit steht ein Farbsystem, das die Buntfarben zwischen den Polen von Weiß und Schwarz aufreiht. Dieses von Aristoteles aufgestellte System war im 13. Jahrhundert, beispielsweise von Grosseteste und Bacon aufgegriffen und diskutiert worden.23 Dahinter stehen aber auch die in den Optik-Traktaten verbreiteten Lehren über den Zusammenhang von Licht und Farbe. Alhacen hatte dieses Problem im dritten Kapitel seines Traktates behandelt.24 Er stellt darin fest, dass es zwischen primärem und akzidentiellem, vom Gegenstand zurückgeworfenem Licht keinen prinzipiellen Unterschied im physikalischen Verhalten gibt.25 Die Farbe ist für ihn eine objektive Qualität des Körpers. Ihre formae allerdings breiten sich nur mit denjenigen des Lichtes verbunden aus. Dieses grundsätzliche Kapitel wurde ebenso wie die ersten beiden Abschnitte, in denen er unter anderem die gradlinige Ausbreitung des Lichtes bewies, nicht ins Lateinische übersetzt, so dass der Text, den man im Westen kennen lernte, etwas unvermittelt mit der Wirkung des Lichtes auf das Auge beginnt. Die Grundthese, dass die visuelle Wahrnehmung von den Lichtbedingungen abhängig ist, dass zu starkes oder zu schwaches Licht die Wahrnehmung behindern oder auch befördern kann, wird umständlich erläutert. Eingehend wird dann dargelegt, dass sich in der Wahrnehmung beleuchteter farbiger Flächen die primären und sekundären formae miteinander verbinden.26 In der Wahrnehmung dominiert die jeweils stärkere forma (species), ob sie nun von primärem oder sekundärem Licht ist, vom Licht oder von der Farbe erzeugt wird. Auf diesen Thesen aufbauend stellt Pecham in seinem Traktat fest: „Die Farben der Körper werden für 23

Rolf G. Kuehni; Andreas Schwarz: Color ordered: a survey of color order systems from antiquity to the present, New York / Oxford 2008, S. 28–37. Grosseteste / Baur 1912, S. 78 f. (‘De colore’); Charles Parkhurst: Roger Bacon on Color. Sources, Theories and Influences. In: Karl-Ludwig Selig; Elizabeth Sears (Hrsg.): The Verbal and the Visual. Essays in Honor of William S. Heckscher. New York 1990, S. 151–196. 24 Alhacen / Sabra 1989, Bd. II, S. 20–29. 25 Den Unterschied zwischen primärem oder essentiellem Licht (nach der lateinischen Terminologie lux) und dem secundären oder akzidentiellen Licht (lateinisch lumen) erläutert Alhacen ausführlicher in einer eigenen Abhandlung, vgl. J. Baarmann: Abhandlung über das Licht von Ibn al-Haitham, herausgegeben und übersetzt von J. Baarmann. In: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 36 (1882) S. 195–237; vgl. Alhacen / Sabra 1989, Bd. II, S. 21 f. 26 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 61 (I.6.100): „Et cum hoc est, comprehenduntur admixte, et formae secunde que veniunt ad visum ex forma coloris que sunt super corpus oppositum illi comprehenduntur a visu semper admixte cum forma coloris illius corporis et forma lucis eius.“

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den Gesichtssinn gemäß der Verschiedenheit des auf sie fallenden Lichtes verändert“.27Aus der Veränderung, die sich aus der Vermischung der species der Farbe mit der des Lichtes ergibt, lässt sich immer auch auf die Qualität des Lichtes schließen, wobei das durch die Sonne erzeugte Tageslicht als weiß angesehen wird.28 Wenn Giotto in seinen Paduaner Fresken in der erläuterten asymmetrischen Aufhellung der Farben deren Qualität stets zu Weiß hin verändert, so verweist diese Aufhellung nicht auf das tatsächliche Raumlicht, sondern auf ein idealtypisches helles Licht, das als Tageslicht aufgefasst werden kann. In diesem Umgang mit der Farbe ist ein weiterer Hinweis darauf zu sehen, dass Giotto die Beobachtungen der Theoretiker kannte und berücksichtigte. Noch deutlicher wird dies in den Bildern, in denen ein Licht auftritt, das von dem sonst vorherrschenden Bildlicht verschieden ist. Ein besonders bemerkenswertes Beispiel gibt die ‘Taufe Christi’ (Abb. 23). Das Erscheinen Gottes und der Taube wird hier nicht zeichenhaft gegeben, wie es zuvor üblich war, sondern als ein sich explosionsartig ausbreitender Lichtschein. Dass die Bildgegenstände von ihm aus beleuchtet werden, wird unmittelbar deutlich. Sichtbar ist aber auch, dass das Inkarnat von Christus, Johannes und den Jüngern rechts jeweils unterschiedlich behandelt wurde. Bei Christus, der der Lichtquelle näher steht als die anderen, erscheint es heller, das heißt, die Farbe wird variiert entsprechend der Intensität des Lichtes, die von der Entfernung zur Lichtquelle abhängt. Ganz ungewöhnlich ist in diesem Bild auch die Erscheinung Gottvaters, übrigens schon in der Verkürzung, in der sie gezeigt wird. Auch wenn die Farbfläche hier stark gestört ist, wird deutlich, dass das gleißende Licht die Eigenqualität der Farbe der Figur fast aufzehrt, sie erscheint wie hinter einem Schleier. Diese Darstellung folgt der von Alhacen mitgeteilten Beobachtung, „dass starke Lichter, die sich über den Gesichtssinn und über die Luft zwischen dem Auge und dem gesehenen Gegenstand legen, den Gesichtssinn an der Wahrnehmung gewisser Sehgegenstände hindern, deren Lichter schwächer sind“.29 Nach diesen Beobachtungen kann es kaum mehr wundern, dass in der Arena-Kapelle auch erstmals mit allen Konsequenzen eine künstliche Lichtquelle dargestellt wird, nämlich in dem Bild ‘Christus vor Kaiphas’ (Abb. 24). In der Zäsur zwischen der Gruppe um Christus und den Priestern rechts steht eine Gestalt, die eine Fackel schräg emporhält, deren Flamme, die mit einer Auflage aus Zinn ausgeführt war und ursprünglich silbrig glänzte, heute allerdings schwärzlich erscheint. Vor allem die Rückwand des Raumes zeigt, dass von dieser Fackel aus der Raum beleuchtet wird. Bei der Wiedergabe der Deckenbalken wird genau auf die Lichtquelle Rücksicht genommen. Eine gewisse Merkwürdigkeit – von unserem heutigen Standpunkt aus sogar eine Inkonsequenz – ist, dass Giotto in diesen Bildern zwar den Körperschatten, nicht jedoch 27 „Colores corporum diversari apud visum secundum diversitatem lucium super ipsos orientium“: Pecham / Lindberg 1970, S. 86 (II,12a). 28 Grosseteste konstatierte in ‘De colore’: „Lux igitur clara multa in perspicuo puro albedo est“ (Grosseteste / Baur 1912, S. 78). 29 „… quod luces fortes orientes super visum et super aerem inter oculum et rem visam, prohibent visum a comprehensione quorundam visibilium quorum luces sunt debiles“ (Alhacen / Smith 2001: Bd. I, S. 5 f. [I.4.10]); diese Feststellung wird mehrfach bekräft igt; vgl. S. 10 [I.4.27]; S. 65 f. [I.6.108–115]. Entsprechende Passagen fi nden sich auch in den mittelalterlichen Traktaten.

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Giotto: Taufe Christi, Padua, Arena-Kapelle

den Schlagschatten berücksichtigte. Die Schattenwiedergabe kam jedoch im ganzen 14. Jahrhundert nicht über Ansätze hinaus. Auff ällig ist, dass die optischen Traktate diesem Problem nur punktuelle Aufmerksamkeit widmeten.30 Zwei Argumentationswege sind auszumachen, die auf Alkindi bzw. Alhacen zurückzuführen sind. Alkindi geht gleich zu Beginn seines Traktates auf die Schattenbildung ein, um mit ihr die Gradlinigkeit der Lichtausbreitung zu beweisen.31 Seine Thesen, die letztlich aus der alten Tradition der Erklärung der Mondphasen und der Sonnen- und Mondfi nsternis hervorgingen 30

Dass „die mittelalterliche Optik der Schattenprojektion erhebliches Interesse widmet“, wie Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, München 1999, S. 44 behauptet, ist nicht zutreffend; Stoichita beruft sich dabei ohne konkrete Seitenangabe auf Lindberg 1987, der jedoch nur im Zusammenhang mit Alkindi das Problem des Schattenwurfs berührt. 31 Alkindi / Björnbo 1912, S. 4–9 und 44–47.

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und die das Problem der Körper- und Schlagschatten berühren, ohne es detaillierter auszuführen, wurden von Witelo und Pecham aufgegriffen. Witelo beginnt das zweite Buch seines Traktates mit dem Nachweis der gradlinigen Ausbreitung des Lichtes und kommt von da aus zu den Propositionen Alkindis, die er vollständig übernimmt und auch erweitert.32 In diesen Propositionen geht es vornehmlich um den Schlagschatten. So stellt er mit Alkindi fest, dass die Länge des Schattens eines aufrechten Gegenstandes abnimmt, je höher die Lichtquelle über dem Gegenstand steht und er zeigt more geometrico, dass der Schatten sich vom Gegenstand aus verbreitert, wenn dieser breiter ist als die Lichtquelle und sich verjüngt, wenn die Lichtquelle breiter ist. Diese Thesen wurden von Pecham teilweise und in verkürzter Form wiederholt.33 Diese Ansätze, die zu einer Beschäftigung mit dem Phänomen des Schlagschattens hätten führen können, wurden von den Künstlern des 14. Jahrhunderts nicht aufgegriffen. Das mag daran liegen, dass der Schattenwurf in den auf Alhacen zurückzuführenden Thesen zum Schatten keine Rolle spielte. Alhacen zählt den Schatten zu den intentiones, deren Wahrnehmung die Mitwirkung der virtus distinctiva verlangt.34 In dem später folgenden sehr kurzen Abschnitt über die Wahrnehmung von Schatten konstatiert er, dass dieser Verminderung oder Mangel (privatio) von Licht sei, die in Relation zum benachbarten Licht erfasst werden.35 Es geht dabei nur um Körperschatten. Dieser spielt auch bei der Wahrnehmung der intentio der asperitas (Rauheit, Unebenheit) eine wichtige Rolle.36 Das Argument der unterschiedlichen Länge der Sehstrahlen, das hinsichtlich der Wahrnehmung runder Körper angeführt worden war, wird hier, obwohl es einschlägig wäre, nicht wiederholt. Witelo schloss sich auch hier wieder eng an Alhacen an, fügte jedoch im Abschnitt über die asperitas hinzu, dass die Unebenheit auch aufgrund des Abstandes zwischen vorspringenden und zurückliegenden Teilen erkannt werden kann, und stellt so eine Verbindung zu den Ausführungen über die Wahrnehmung runder Körper her.37 Auch Pecham führt den Schatten im Katalog der intentiones visibiles an, geht aber nicht weiter darauf ein. Die Optik-Traktate haben in ihren umfangreichen Ausführungen zur Wahrnehmung der intentiones, die den Künstlern ansonsten die meisten Anregungen für die Bewältigung von Darstellungsproblemen bieten konnten, das Phänomen des Schlagschattens außer Acht gelassen. 32

Witelo / Unguru 1991, S. 243–254 [II.7–21]. Pecham / Lindberg 1980, S. 100–102 [I.23a – 25a]; im Anschluss erläutert Pecham das Zustandekommen der Mondphasen [I.25–26]. 34 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 111 [II.3.44]. 35 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 204 [II.3.198]. Im folgenden Abschnitt [I.3.199] wird die obscuritas behandelt, die ebenfalls als privatio lucis definiert wird, obwohl es genau besehen einmal um Verminderung, das andere Mal um Abwesenheit von Licht geht. Alhacen behandelt im dritten Buch die Fehler, die bei der Wahrnehmung vorkommen können. Der entsprechende Abschnitt über die Wahrnehmung von Schatten [III.7.92] wurde in der lateinischen Übersetzung bis zur Unverständlichkeit gekürzt (vgl. Alhacen / Sabra 1989, Bd. I, S. 312). 36 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 199 [II.3.189]: „Asperitas vero comprehenditur a visu in maiori parte ex forma lucis apparentis in superficie corporis asperi, quoniam asperitas est diversitas situs partium superficiei corporis, quare lux, quando orietur super superficium illius corporis, partes prominentes facient umbram in maiori parte“. 37 Witelo / Kelso 2003, S. 564 f. [IV.139]. 33

6. Licht und Farbe in den Bildern

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Giotto: Christus vor Kaiphas, Padua, Arena-Kapelle

Von ihnen wurden die Maler also nicht gedrängt, sich mit der Darstellung von Schlagschatten zu beschäftigen, und sie fanden in den Traktaten auch keine Vorschläge für die Lösung des Problems des Schattenwurfs. Nicht nur Licht und Farbe können sich wechselseitig beeinflussen, sondern auch die Farben untereinander. Alhacen legt dar, dass Punkte einer dunklen Farbe auf einen weißen Körper aufgebracht fast wie schwarz wirken, auf einem schwarzen Körper jedoch fast wie weiß. „Wenn jene Farbe auf Körper gemalt ist, die nicht sehr (intensiv) weiß und nicht sehr schwarz sind, dann wird sie ihrem Wesen gemäß erscheinen.“38 Vor grauem Hintergrund also erscheinen die Farben in ihrer eigentlichen Qualität. In dieser Erkennt38

„Et quando illa tinctura fuerit in corporibus, que non sunt multum alba nec multum nigra, apparebit color secundum suum esse“: Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 67 [I.6.113].

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nis der wechselseitigen Beeinflussung von Farben kann man einen Grund dafür sehen, dass das Grau in den Bildern Giottos und seiner unmittelbaren Nachfolger eine so bedeutende Rolle spielt. Welches Bild der Paduaner Fresken man auch nimmt, immer wird man dort in der Architektur oder in der Landschaft große Grauflächen finden, vor denen die Figuren erscheinen. Sie spielen im Farbaufbau eine entscheidende Rolle, nicht nur für die räumliche Schichtung, sondern eben auch als Isolationsflächen im Sinne der von Alhacen beschriebenen Gesetzmäßigkeit. Ein weiterer Zusammenhang zwischen der Theorie der Traktate und der Praxis Giottos und seiner Schüler kann in der Verwendung des tiefen Ultramarinblau als Hintergrundsfarbe der Fresken gesehen werden. Dieses Blau, stets al secco verarbeitet und deshalb nicht immer gut erhalten, ist bemerkenswert flächig aufgetragen, so dass es zuweilen als Ersatz für die im Fresko nicht realisierbaren Goldgründe der Tafelmalerei bezeichnet und damit also gar nicht so sehr als Wiedergabe des Himmels aufgefasst wurde. In seinen Überlegungen, warum uns der Himmel blau erscheint, hat Bacon dargelegt, dass auch das Medium der Luft und Himmelssphären eine gewisse Dichte hat, wodurch der Ausbreitung der species ein gewisser Widerstand entgegensetzt wird.39 Je weiter der Weg ist, den die species zurücklegen müssen, desto schwächer werden sie, und er folgert: „Darum erscheint auch der Himmel in einer zum Schwarz tendierenden Farbe, nämlich einem tiefen Blau“.40Das Blau, das allen Fresken der Arena-Kapelle wie eine Folie unterlegt ist und das ursprünglich sehr viel tiefer und gleichmäßiger gewesen sein dürfte als heute, bezeichnet nicht einfach Himmel, sondern tiefste Ferne. Für den Bildaufbau hat diese Farbe eine große Bedeutung. Sie ist sozusagen die Basis für alle anderen Farben. Sie drängt, indem sie die größte Dunkelheit und damit nach den Lehren der Optik die größte Tiefe besitzt, die helleren Farben nach vorne und hat so wesentlichen Anteil an der Tiefenschichtung, dem aus der Tiefe nach vorne gestaffelten Reliefaufbau des Bildes (vgl. z. B. Abb. 20). Es ist ein Konzept, das im diametralen Gegensatz zu dem erst gut ein Jahrhundert später entdeckten Prinzip der Luftperspektive steht. Gerade in dieser Künstlichkeit, die jeder Empirie widerspricht, die sich aber auf vermeintlich wissenschaft lich belegte Grundsätze berufen konnte, liegt ein gewichtiges Argument für die Rezeption der Lehrsätze der wissenschaft lichen Optik durch die Maler. Im Hinblick auf dieses Faktum, dass der farbige Bildaufbau sich von hinten, von einem unüberschreitbaren Grund, einer Nullebene sozusagen, nach vorne entwickelt, kann man sagen, dass das Prinzip des rilievo die Bildkonzeption insgesamt bestimmt, nicht nur die Modellierung einzelner Körper. Ernst Strauß ist in seinen ‘Überlegungen zur Farbe bei Giotto’ auf dem Weg der Analyse der Farbgebung – ohne Rekurs auf die Lehren 39

Ausgangspunkt Bacons waren die Darlegungen Alhacens über Behinderung des Sehens, wenn die Durchsichtigkeit der Luft durch Nebel oder Rauch reduziert ist (Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 288 f. [III.3.10]). Bacon ging einen Schritt weiter, indem er der Luft grundsätzlich eine gewisse Dichte zusprach: „Similiter dico hic quod aer vel spera ignis vel celum de prope et a longe est similis raritatis quantum ad sensum; sed tamen habet aliquid densitatis de sua natura, et hec densitas potest speciem visus in magna distantia terminare“ (Bacon / Lindberg 1996, S. 126 [V. I.9.1]). 40 Bacon / Lindberg 1996, S. 126 [V. I.9.1]: „Quare vero appareat (scil. caelum) coloris vergentis ad nigrum, scilicet coloris azurini…“. Wie Bacon weiter ausführt ist das beim Wasser nicht anders: bei einem flachen Fluss kann man hindurchsehen, ein tiefer See jedoch erscheint dunkel.

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der Optik – zu einem entsprechenden Ergebnis gekommen und hat das Fazit gezogen, dass Giottos Bildraum als „Reliefraum“ zu bezeichnen sei.41 Er griff damit einen von Hans Jantzen geprägten Begriff auf, der von diesem allerdings mit dem Zusatz verwendet wird, dass es „in seinen Grundzügen ein gotischer Reliefraum“ sei.42 Damit allerdings wird das epochal Neue in Giottos Bildauffassung verkannt.

41

Strauss 1972, S. 43–58. Hans Jantzen: Giotto und der gotische Stil (1939 / 40), wieder abgedruckt in: Ders.: Über den gotischen Kirchenraum und andere Aufsätze, Berlin 2000, S. 66. 42

7. Die Weiterentwicklung der Darstellungsmittel: Giotto, Assisi und Siena und die neuzeitliche Bildauffassung 7. DieGiotto Weiterentwicklung der Darstellungsmittel

Wenn man die Fresken der Arena-Kapelle im Hinblick auf die Gestaltung mit dem Prinzip der Tiefenverdunklung und der Verkürzung der Tiefenlinien untersucht, wird deutlich, dass Giotto diese Mittel zu Beginn seiner Arbeiten in Padua keineswegs konsequent einsetzte. Im Verlaufe der Arbeiten an den Fresken hat er sie jedoch zunehmend souveräner beherrscht. In der Figurendarstellung arbeitete er von Beginn an mit einem markanten rilievo, während er das Prinzip der Tiefenverdunkelung für die Landschaftsdarstellung erst entdecken musste. Auch in der Darstellung von in die Tiefe fluchtenden Flächen ist, wie der Vergleich zwischen dem Haus der Anna und der ‘Hochzeit zu Kana’ zeigt, ein deutlicher Unterschied zwischen früheren und späteren Fresken, mithin eine Entwicklung innerhalb des Zyklus zu registrieren. Das gilt auch für die Lichtbehandlung. Diese Beobachtung ist von erheblicher Bedeutung für unser Urteil und die Datierung der Werke Giottos und seines Umkreises. Sie ermöglicht es, andere Werke an ihrem Verhältnis zu dieser Entwicklung zu messen und zu fragen, ob sie vor deren Anfangspunkt entstanden sein können oder ob sie deren Ergebnisse fortbilden. Die Altartafel mit der Darstellung der Stigmatisation des hl. Franziskus im Louvre (Abb. 25), ursprünglich in S. Francesco in Pisa, ist trotz ihrer Signatur oft nur als ein Werkstattprodukt angesehen worden, das unmittelbar nach der Franziskuslegende in Assisi entstanden sein soll. Eine grundlegende Neubewertung ist Michael Victor Schwarz zu verdanken.1 Er datiert das Gemälde in die Zeit nach der Fertigstellung der ArenaKapelle und vor einem für 1308 anzunehmenden Aufenthalt Giottos in Assisi, Ende 1307 oder Anfang 1308. Im Gegensatz zu den frühen Franziskus-Retabeln präsentiert es den Heiligen nicht als Stehenden, der uns seine Stigmata sehen lässt, sondern stellt den Moment der Stigmatisation dar. Die szenische Darstellung, die zuvor in den zumeist seitlich angeordneten Bildfeldern zu finden war, die die Figur des Heiligen begleiteten, wird hier zum zentralen Thema. Gattungsgeschichtlich wurden mit diesem Bild grundsätzlich neue Wege gewiesen.2 Darüber hinaus ist die Louvre-Tafel auch in ihrer Darstellungs1

Gardner 1982, passim; Schwarz 2008, S. 391–408. Krüger 1992, S. 173–185; Schwarz 2008, S. 405 sieht das szenische Moment des Bildes in Analogie zur Darstellung der Madonna mit dem Kind, doch die aus der Tradition der Ikonenmalerei hervorgegangenen Bildtypen sind m. E. nicht als szenisch zu bezeichnen, dieser Begriff wäre nur auf die Darstellung der Geburt oder der Anbetung der Hirten anzuwenden. Analogon der Stigmatisation des hl. Franziskus ist die Darstellung der Kreuzigung Christi. Die gattungsgeschichtliche Bedeutung des Bildes wird von Schwarz m. E. zu stark relativiert. Zu den religionsgeschichtlichen Aspekten der Stigmatisierung s. Chiara Frugoni: „Ad imaginem et similitudinem nostram“. Der Heilige Franziskus und die Erfi ndung der Stigmata. In: Stigmata. Poetiken der 2

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weise höchst bemerkenswert. Schwarz hat auf die Qualität der Naturnachahmung hingewiesen. Noch präziser als beispielsweise in der ‘Auferweckung des Lazarus’ in Padua werden hier die Blattformen der Bäume differenziert. Die geläufigen Darstellungsschemata werden aufgrund von Naturbeobachtung korrigiert. Neu ist auch die Veranschaulichung der Stigmatisierung. Der älteste Darstellungstypus zeigt nur, wie Christus in Gestalt eines Seraph am Himmel vor dem knienden Franziskus erscheint. In späteren Bildern werden Lichtstrahlen angedeutet, die von der Aura des Seraph ausgehen und den Kopf des Heiligen treffen. In Giottos Gemälde führen von jeder der fünf Wunden Christi Linienscharen zu den entsprechenden Malen an Händen, Füßen und Brust des Franziskus. Bonaventuras Berichte über die Vision des Seraphs und die Stigmatisation sind in beiden Fassungen der Legende durchzogen von Lichtmetaphern, die im Kontext der tradierten Lichtmetaphysik zu verstehen sind. Die älteren Darstellungen begnügten sich damit, den Seraph als Lichterscheinung zu charakterisieren. Giotto ging einen bedeutenden Schritt weiter, indem er den Vorgang der Stigmatisation, über den die Legenden Bonaventuras schweigen, in einer Bildformel veranschaulichte, die ihre Quelle in den Lehren der Optik hat. Hier ist vor allem an die umfassende Bedeutung zu denken, die dem Licht in der Philosophie Grossetestes zugewiesen wurde.3 Er begriff das im Anfang geschaffene Licht als Grundprinzip allen Naturgeschehens, als ein agens, dessen grundlegende Eigenschaft die Fähigkeit zur Selbstvervielfältigung ist. Als lux im Metaphysischen verankert, ist es als lumen überall in der Natur nach dem Prinzip der multiplicatio specierum wirksam, unter anderem dadurch, dass es Wärme übertragen kann,4 und es wirkt nach Gesetzen, die mathematisch zu fassen sind und deren erstes Prinzip seine gradlinige Ausbreitung ist. Giotto hat in seinem Gemälde explizit Strahlenscharen dargestellt, die punktförmig von den Wundmalen ausgehen und von denen jeweils der zentrale Strahl jene Punkte der Hände, der Füße und der Brust des Franziskus trifft, an denen sich die Stigmata bilden. Das Wunder, das von Bonaventura mit dem Bild des Siegelns umschrieben wurde, ist bei Giotto ganz dem lateinischen Wortsinn entsprechend ein Einbrennen, sozusagen eine multiplicatio stigmatum.5 Das Licht spielt auch darüber hinaus in diesem Bild eine bedeutende Rolle. Die sechs Flügel des Seraphs, die heute bräunlich dunkel erscheinen, sind mit einer Metallauflage ausgeführt worden, die dem Betrachter als heller Glanz erschienen sein muss, auf den das im Bild dargestellte Licht zurückzuführen ist, wie am Helldunkel des Habits des Heiligen

Körperinschrift, hrsg. von Bettine Menke und Barbara Vinken, München [u. a.] 2004, S. 77–112; Chiara Frugoni: Francesco e l’invenzione delle stimmate. Una storia per parole e immagini fi no a Bonaventura e Giotto, Turin 1993. 3 Die wichtigsten Texte in diesem Zusammenhang sind: ‘De luce seu inchoatione formarum’ und ‘De lineis angulis et figuris seu de fractionibus et reflexionibus radiorum’ (Grosseteste / Baur 1912, S. 51–65). Zur Lichtphilosophie Grossetestes vgl. vor allem Hedwig 1980, 119–156; vgl. oben S. 73 f. 4 Diese Seite der Natur des Lichtes war besonders intensiv am Phänomen der Brennspiegel zu erfahren, mit denen sich u. a. Bacon in seiner weit verbreiteten Schrift ‘De speculis comburentibus’ befasste (Bacon / Lindberg 1983, S. 271–341). 5 Das griechische Wort st2gma ist wörtlich mit „Stich“ zu übersetzen, im Weiteren kann es „Zeichen, Brandmal“ bedeuten. In dieser Bedeutung wurde es in das Lateinische übernommen.

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Giotto: Franziskus-Pala, Paris, Louvre

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Giotto, Franziskus-Pala, Predella, Paris, Louvre

zu sehen ist, aber auch an der Verteilung von Licht und Schatten in der Landschaft. Die Beleuchtung überlagert die Tiefenverdunkelung, die aber damit nicht außer Kraft gesetzt ist, wie das Grau der Bergspitze zeigt, die links vom Seraph hinter den Bäumen sichtbar wird. Bemerkenswert ist auch die Darstellung der beiden Kapellen, die in unterschiedlichem Grade über Eck gesehen werden, wobei die Führung der Sockel- und Firstlinien die Verkürzung zur Tiefe hin andeutet. Es wird sogar ein Einblick in die Kapellen gezeigt, der in der vorderen Kapelle gerade noch das Ende des Kreuzarmes des auf dem Altar aufgestellten Kruzifi x erkennen lässt. In den drei Predellenbildern des Pisaner Altars (Abb. 26), die den ‘Traum von Innozenz III.’, die ‘Bestätigung der Ordensregel’ und die ‘Vogelpredigt’ darstellen, hat Giotto seine Errungenschaften in der Darstellung von Körper und Raum weiterentwickelt. Die Architekturdarstellung im ‘Traum von Innozenz III.’ geht letztlich auf die Isaakfresken in der Oberkirche von Assisi zurück. Giotto hatte den Typus des Gebäudes, das von außen gesehen wird und dessen bildparallele Langseite als Schauöffnung gestaltet ist, in Padua in der ‘Verkündigung an Anna’ und im ‘Abendmahl’ weiterentwickelt. Im Pfingstbild war daraus ein solider Saalbau mit gotischen Arkaden geworden. Im Predellenbild sind die Architekturglieder wieder sehr viel schlanker geworden, wohl nicht zuletzt wegen des kleinen Formates, doch die Wiedergabe des Außenbaus ist detailreicher und in der Verkürzung der Schmalseite differenzierter. Über die Innenraumdarstellung, wie sie in der Arena-Kapelle zu finden ist, geht Giotto in der Predella hinaus, indem er mit gleichmäßigen Mustern die Raumtiefe messbar macht, durch das Webmuster des Vorhangs, durch das quadratische Muster auf der Truhe vor dem Bett, das der Tischdecke in der ‘Hochzeit zu Kana’ entspricht, und durch das relativ großteilige Muster des roten Teppichs. In der ‘Bestätigung der Regel’ wird die Raumtiefe durch die Kassettierung der Decke angedeutet und durch die Reihe der über vorkragenden Konsolen errichteten Arkaden, die sich an den Seitenwänden wie an der Rückwand finden, und wieder durch das Bodenmuster, das hier besonders gut erkennbar ist. Es sind sechseckige Felder, die mit einem Vogel, vielleicht einem Adler, ausgefüllt sind. Der Audienzsaal ist danach acht Felder breit und drei Felder tief. Das Prinzip der Untergliederung von Flächen, die sich in die

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Tiefe erstrecken, das für die Wiedergabe von Decken oder Gewölben bereits gebräuchlich war, hat Giotto in der Predella erstmals auf den Boden übertragen. Ein Bodenmuster findet man gelegentlich auch in älteren Bildern, etwa in den Mosaiken von Monreale in der Szene der Heilung des Gelähmten oder in den Mosaiken des Florentiner Baptisteriums im ‘Abendmahl’. Dort jedoch hat dieses Motiv lediglich ornamentalen Charakter, während Giotto es in Analogie zu den Deckenkassetten bewusst einsetzt, um die Raumtiefe erfassbar zu machen. Auch die ‘Vogelpredigt’ der Franziskus-Pala bietet eine bemerkenswerte Neuerung. Grundlage der Komposition ist das einfache Bildformular, das Giotto schon in seinen Paduaner Fresken verwandt hat: ein nicht eben breiter Bodenstreifen, auf dem sich rechts ein Baum erhebt, während links Franziskus steht, der seine Rechte zu den vor ihm versammelten Vögeln ausstreckt und hinter ihm mit dem Gestus des Erstaunens ein Mitbruder. Die Baumkrone wirkt ungemein plastisch, weil Giotto mit der Tiefenverdunklung und einer scheinbar von vorne rechts kommenden Beleuchtung das Hervorragen und Zurückweichen der belaubten Äste wahrnehmbar gemacht hat. Besondere Beachtung verdient die Schar der Vögel. In älteren Darstellungen der Szene, beispielsweise in der entsprechenden Szene auf dem vor 1266 entstandenen Franziskus-Retabel aus der Bardi-Kapelle in S. Croce in Florenz (Abb. 27),6 ist das Hintereinander der vor Franziskus versammelten Vögel dadurch sichtbar gemacht worden, dass mehrere Bodenstreifen übereinander angeordnet wurden. Hier dagegen werden die Vögel wirklich hintereinander angeordnet. Sie machen so die, wenn auch nur begrenzte Tiefe des Bildraumes sichtbar. Mit den beiden Vögeln, die vor dem Goldhintergrund zu fliegen scheinen, wird zudem angedeutet, dass die Vögel auf den Boden herabgekommen sind, um die Predigt des Heiligen zu hören.7 Im Franziskus-Retabel aus Pisa gibt es in der Darstellung von Körper, Raum und Licht eine Reihe von Neuerungen, die in den Paduaner Fresken noch nicht zu fi nden waren. Ein besonders wichtiges neues Motiv ist wie gesagt die Bodenmusterung. Die von Schwarz vorgeschlagene Datierung des Bildes auf 1307 oder 1308 wird durch diese Beobachtung bestätigt.8 Nach der bis in die jüngste Zeit vor allem von der italienischen Forschung, aber auch von deutschen oder amerikanischen Forschern vertretenen Chronologie der Werke Giottos könnten die hier vorgetragenen Beobachtungen auch ganz anders ausgewertet werden. Dann nämlich wäre die Franziskus-Tafel nur eine Wiederholung von einzelnen Szenen aus dem Franz-Zyklus in der Oberkirche von Assisi und der wiederum wäre vor den Fresken der Arena-Kapelle entstanden. Der Streit um die Datierung der Fresken in Assisi hat eine lange Geschichte. Alle früheren Versuche, feste Anhaltspunkte für die Datierung zu gewinnen, die darauf hinausliefen, dass die Fresken noch vor 1300 entstanden, sind mittlerweile in Frage gestellt worden. 6

Boskovits 1993, S. 112–116 und 472–507; Boskovits sieht in der Tafel ein frühes Werk von Coppo di Marcovaldo. R. Goffan, Spirituality in Conflict. Saint Francis and Giotto’s Bardi Chapel, University Park und London 1988, S. 29 datiert die Tafel 1245 / 50. Da die Ikonographie eindeutig auf die Franziskus-Vita des Celano zurückgeht, darf das vom Orden 1266 ausgesprochene Verbot dieses Textes als terminus ante quem gelten. 7 Vgl. auch unten S. 137. 8 Schwarz 2008, S. 391–208.

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Bardi-San-Francesco-Meister, Vogelpredigt, Florenz, S. Croce

Sicher ist nur die durch die Restaurierungen gesicherte Erkenntnis, dass die Fresken vom zweiten Bild an sukzessive geschaffen wurden und dass mehrere Hände an der Ausführung beteiligt waren. Die Diskussion um Datierung und Autorschaft der Fresken kann und soll hier nicht aufgerollt werden.9 Doch im Zusammenhang mit unserer Frage nach dem Wandel in der italienischen Malerei um 1300 ist ein Vergleich der Franzlegende mit den Fresken der Arena-Kapelle unumgänglich, denn es geht dabei um die Frage der Priorität. Wenn man von den dargelegten Neuerungen in der Darstellung von Körper, Raum und Licht in Giottos Paduaner Fresken ausgehend die Franz-Legende in Assisi analysiert, zeigt sich ein differenziertes und ziemlich verwickeltes Bild. In der Modellierung von Körpern und Gewändern wird das Prinzip des Helldunkel überall eingesetzt. In einzelnen frühen Fresken wie der ‘Vision des Palastes’ (Abb. 28) sieht man die scharf akzentuierten, fast weißen Faltenstege, die schon in den Isaak-Fresken zu finden waren. In der zuvor entstandenen ‘Mantelteilung’ sind die Gewandstege deutlich weicher modelliert. Im ‘Traum Innozenz‘ III.’ sind die Faltenstege relativ scharf, nicht so in späteren Bildern wie der ‘Vision des feurigen Wagens’. Die ‘Weihnachtsfeier in Greccio’ (Abb. 32) hebt sich

9

Schwarz 2008, S. 391–208.

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Vision des Palastes, Assisi, S. Francesco, Oberkirche

durch ziemlich perfekt ornamentierte Gewänder von den vorherigen Bildern ab.10 Diese Unterschiede, die in Padua nicht zu erkennen sind, setzen sich auch in den Bildern der Südseite fort. Das Prinzip des asymmetrischen rilievo, das Beleuchtung signalisiert, ist in den Fresken der Nordseite noch nicht eindeutig auszumachen, auf der gegenüberliegenden Wand hingegen kann man zwar nicht durchgängig, aber doch immer wieder eine Verschiebung der Aufhellung nach links und damit die Andeutung einer Beleuchtung von dieser Seite erkennen. Die letzten drei Fresken, die auch von den meisten italienischen Kunsthistorikern nicht Giotto zugeschrieben werden, weichen von dieser Regel 10

In der ‘Bestätigung der Regel’ ist beim vorne rechts sitzenden Bischof das Ornament ganz flächig ausgeführt, ohne jede Berücksichtigung der Falten.

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Mantelteilung, Assisi, S. Francesco, Oberkirche

ab und tendieren dazu, eine Beleuchtung von rechts anzudeuten. Eine bildinterne Lichtquelle gibt es in keinem der Fresken. Landschaft liche Elemente spielen in der Franzlegende nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings wird schon in der ‘Mantelteilung’ (Abb. 29) Tiefenverdunklung eingesetzt, um einen Bildraum anzudeuten, der von den Figuren allerdings nicht genutzt wird. Dem Betrachter ist ein genaues Verifizieren der Entfernung von der vorderen Abbruchkante zu den ansteigenden Bergen jedoch nicht möglich, weil es an den von den Traktaten geforderten „dazwischenliegenden Körpern“ fehlt. Anders sieht es im ‘Quellwunder’ aus. Hier bietet die mehrfache Stufung des Geländes zusätzlich zur Tiefenverdunklung klare Anhaltspunkte für die Lokalisierung der Figuren. Auch in der Verdunklung des Berges, der sich links erhebt und der, wie durch die Überschneidung angedeutet wird, weiter

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entfernt ist als der Berg rechts, ist die ‘Mantelteilung’ weniger prägnant als das ‘Quellwunder’. Erstere bleibt hinter den Errungenschaften der Arena-Kapelle zurück, während das Quellwunder darüber hinausgeht. Dies gilt auch für die ‘Stigmatisation’, die in der Landschaftswiedergabe mit der Franziskus-Pala aus Pisa auf einer Stufe steht, mit dem nicht unwichtigen Unterschied, dass das asymmetrische Helldunkel im Gemälde als Effekt des vom Seraphim ausgehenden Lichtes zu verstehen ist, während es sich in Assisi auf das „Standortlicht“ bezieht. Die großen Unterschiede in der Arbeit mit dem Prinzip des rilievo könnten ein Argument dafür sein, dass die Fresken der Franzlegende vor der Arena-Kapelle entstanden, doch dem stehen andere Beobachtungen entgegen. In der Wiedergabe von Bauten wird in Assisi eine ungewöhnliche Vielfalt von Schemata verwendet, die ein erstaunliches Schwanken erkennen lassen. In der ‘Lossagung vom Vater’, der ‘Vision des feurigen Wagens’ und in der ‘Ekstase des hl. Franz’ werden die Bauten, die aussehen, als ob sie aus bunten Bauklötzchen zusammengesetzt wären, stets über Eck dargestellt, wobei die linke Seite immer etwas dunkler gehalten ist, ohne allerdings eine Tiefenverdunklung zu berücksichtigen. Dieser artifiziellen Form der Baudarstellung wird in der ‘Vertreibung der Dämonen aus Arezzo’ die erstaunlich genaue Wiedergabe eines gotischen Kirchenbaus mit polygonalem Chor gegenübergestellt. Sie wird mit der Kirchenfassade im ‘Abschied der Klarissen’ noch einmal übertroffen. In der Wiedergabe des Neigungswinkels der in die Tiefe führenden Linien ist in verschiedenen Fresken der Nordwand eine gewisse Unsicherheit zu registrieren. Die aus den Theoremen von Euklid und Witelo sich ergebenden Konsequenzen für die Erscheinung von in die Tiefe führenden Flächen und Linien werden in der ‘Vision des Palastes’ mit einem irritierenden Ergebnis gezogen, indem die unteren beiden Stockwerke des Palastes bei annähernd paralleler Führung der fluchtenden Linien von oben, die drei oberen Stockwerke von unten gesehen wiedergegeben werden. In der ‘Lossagung’ wird die Außentreppe des Gebäudes links von oben gesehen, während sich die Bauten rechts in gleicher Höhe nach unten verkürzen. Derartige „Fehler“ finden sich in späteren Bildern des Zyklus nicht mehr. In der Wiedergabe eines „Innenraumes“ fällt das Gestell, mit dem in der ‘Vision des Palastes’ (Abb. 28) das Zimmer des Franziskus angedeutet werden soll, noch hinter die Isaak-Fresken zurück, obwohl mit der Bank im Vordergrund ein fortschrittliches Motiv hineingekommen ist. Im ‘Gebet in San Damiano’ (Abb. 30) wird der Typus des über Eck gesehenen, zu beiden Seiten verkürzten Raumkastens auf originelle Weise modifiziert. Die Breite des Kirchenraumes wird durch die Tiefenverdunklung angedeutet. In der Zeichnung ist die Angabe von Tiefe nicht überall gut bewältigt, wie die zu starke Neigung der Unterseite des Gebälkes und die Wiedergabe der Grundlinie der Apsis zeigen. Für den ‘Traum Papst Innozenz’ III.’ und die ‘Bestätigung der Regel’, das sechste und siebte Bild des Zyklus, gilt, was oben über die Predellenbilder der Pisaner Franziskus-Pala gesagt wurde. Wenn diese beiden Bilder in der Architekturdarstellung gegenüber den Paduaner Fresken gewisse Forschritte erkennen lassen, so ist das folgende Bild, die ‘Vision des feurigen Wagens’, ein Rückschritt. In der ‘Predigt vor Honorius III.’ (Abb. 31) an der Südwand dagegen wird der Raumtypus der ‘Regelbestätigung’ einen bedeutenden Schritt weiterentwickelt. Die Kreuzrippengewölbe der dreiachsigen gotischen Loggia werden stimmig verkürzt. Was in den Scheinkapellen an der Chorfassade der Arena-Kapelle erprobt wurde, wird hier zu einem schlüssigen Bild zusammengefügt. Im folgenden Fresko, der ‘Erscheinung in Arles’, wird der mit den Isaak-Fresken eingeführte Darstellungstypus

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30 Gebet in S. Damiano, Assisi, S. Francesco, Oberkirche

aufgegriffen und in den architektonischen Details wie in den Dimensionen näher an die tatsächliche Erscheinung von Architektur herangeführt. Bemerkenswert ist hier auch der Durchblick in den mit einem einfachen Pultdach gedeckten Kreuzgang, dessen größere Entfernung zum Betrachter mit dem Mittel der Tiefenverdunklung angezeigt wird. Die diagonal geteilten Quadrate als Mittel zur Andeutung der Tiefe von Architekturelementen oder Räumen sind in allen Fresken der Nordseite zu finden. Schon in der unter Cimabues Leitung ausgeführten Dekoration der Chor- und Querhauswände wird damit die Dicke des von Konsolen getragenen Gebälks angedeutet. Dies wird in der fingierten

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Predigt vor Honorius III., Assisi, S. Francesco, Oberkirche

Kolonnade, die die Fresken der Franzlegende rahmt, fortgeführt. In allen Architekturen der Bilder auf der Nordwand wird mit diesem Schema gearbeitet. In der ‘Erscheinung in Arles’ wird es erstmals durch die Wiedergabe einer Kassettendecke ersetzt, die der Decke im Paduaner ‘Haus der Anna’ entspricht und die Raumtiefe deutlicher fassbar macht. Im Bild der ‘Vision Gregors IX.’, das sich in mancher Hinsicht an den ‘Traum Innozenz’ III.’ anschließt, sind die Kassetten der Decke mit geschnitzten Rosetten geschmückt und das Zusammenlaufen der in die Tiefe führenden Deckenbalken wird stimmig wiedergegeben. Der Maler der letzten drei Fresken des Zyklus hat diese geometrische Regel zwar beachtet, in der Wiedergabe der Kassetten ist er aber zu dem alten, unrealistischen Schema zurückgekehrt.

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Das Mittel, Tiefe von Gegenständen durch gleichmäßige Musterung anzuzeigen, wird in den ersten Bildern der Franzlegende noch nicht genutzt. Eine weiße Decke mit eingewebtem Quadratmuster, wie sie in der Paduaner ‘Hochzeit zu Kana’ zu sehen war, begegnet erstmals in der ‘Vision der Throne’ und dann auch im ‘Tod des Edlen von Celano’ und in der ‘Heiligsprechung’. In späten Bildern wie der ‘Vision Gregors IX.’ sind vielfach gemusterte Stoffe zu sehen, die als Wandbehänge oder Bettdecken Tiefendimensionen fassbar machen. Das bedeutende Motiv der Bodenmusterung ist mit den beiden Szenen nach Assisi gekommen, die Giotto in seiner Franziskus-Pala dargestellt hatte, nämlich mit dem ‘Traum Innozenz’ III.’ und der ‘Bestätigung der Regel’. In beiden Fällen wurde das Muster al secco gemalt und ist nur noch in kleinen Fragmenten zu sehen, was aber ausreicht um zu erkennen, dass es demjenigen des Gemäldes genau entsprach. In der ‘Predigt vor Honorius III.’ wird dieses Motiv wieder aufgegriffen, jedoch etwas ungeschickt in der Führung der Tiefenlinien. Dieser „Fehler“ ist im Bodenbelag in der ‘Vision Gregors IX.’ abgemildert worden. Bei der Behandlung des Pisaner Altars wurde oben bereits festgestellt, dass Giotto dieses zukunftsweisende Motiv der Bodenmusterung in Padua noch nicht verwandt hat. Dies gilt auch für einen Typus der Raumdarstellung, der in Assisi zweimal verwendet wird, nämlich in der ‘Weihnachtsmesse in Greccio’ (Abb. 32) und in der ‘Feststellung der Stigmata’. Im Greccio-Bild wird der Blick auf die Innenseite des Lettners dargestellt, dessen Mauer links und rechts über den Bildrahmen hinausgeführt zu denken ist. Auf das zuvor übliche Mittel der in die Tiefe führenden Seitenwände wird verzichtet. Die Raumhaltigkeit der Szene wird durch das gegenständliche Inventar, insbesondere das Altarziborium angedeutet und natürlich auch durch die große Zahl der hier versammelten Menschen. Dass der Raum jenseits des Ziboriums fortgesetzt zu denken ist, wird durch den Ambo und die von der Rückseite zu sehende croce dipinta signalisiert wie auch durch die Frauen, die jenseits der Tür des Lettners zu sehen sind. Man kann diesen Raumtypus als „impliziertes Interieur“ bezeichnen, wobei Panofsky, der diesen Begriff prägte, der Meinung war, dass er von Ambrogio Lorenzetti mit dessen ‘Verkündigung’ von 1344 eingeführt worden sei.11 In der ‘Feststellung der Stigmata’ ist der Kirchenraum dadurch angedeutet, dass quer über das Bild ein Balken gespannt ist, auf dem ein Madonnenbild, eine croce dipinta und eine Michaelsikone aufgestellt sind. Von oben hängen Lampen herab, darunter ein Leuchter mit mehreren Schalen, der genau denjenigen Leuchtern entspricht, die Giotto in den Scheinkapellen in Padua dargestellt hat.12 Mit den elementaren und bald schon von anderen Künstlern aufgegriffenen Neuerungen, insbesondere der Einführung eines Bodenrasters, das die Raumtiefe und den Stand11

Erwin Panofsky: Early Netherlandish Painting, Cambridge (Mass.) 1953, Bd. 1, S. 19: „Ambrogio Lorenzetti […] introduced, in the ‘Annunciation’ […], a fundamentally important scheme of space construction which I propose to call, for want of a better term, the ‘interior by implication’: without any indication of architecture the fact that the scene is laid indoors is made clear by the simple device of placing the figures upon a tiled pavement instead of rock or grass, whereby the very absence of lateral and supernal boundaries gives the impression of illimitedness.“ 12 Thomas de Wesselow: The date of the St Francis cycle in the Upper Church of S. Francesco at Assisi. The evidence of copies and considerations of method. In: The art of the Franciscan Order in Italy hrsg. von William R. Cook, Leiden [u. a.] 2005, S. 113–167, hier S. 114–149.

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Weihnachtsmesse in Greccio, Assisi, S. Francesco, Oberkirche

ort von Figuren und Sachen ablesbar macht, und mit dem „implizierten Interieur“ gehen die Fresken der Franzlegende über die Errungenschaften der Paduaner Fresken hinaus. Es ist nur schwer vorstellbar, dass Giotto in der Arena-Kapelle darauf verzichtet hätte, wenn er damit bereits zuvor in Assisi gearbeitet hätte. Andererseits stehen viele der Fresken, die in der relativen Chronologie des Zyklus früh anzusetzen sind, deutlich hinter Padua zurück. Eine Ausnahme machen an der Nordseite jene Szenen, die sich in der Predella der Pisaner Franziskus-Pala finden, deren Entstehung vor den Fresken von Assisi von Schwarz mit überzeugenden Argumenten dargelegt worden ist. Mit dem GreccioBild und dem ‘Quellwunder’ in der Nordostecke der Oberkirche geht der Zyklus dann

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dezidiert über die Arena-Kapelle hinaus. Mit diesem Befund wird die Einheitlichkeit des Zyklus einmal mehr in Frage gestellt. Man könnte sich vielleicht noch vorstellen, dass Giotto um 1300 die ersten Szenen an der Nordwand gemalt hat. Dann müsste man aber erwarten können, dass etwas von den neuen Mitteln der Raumdarstellung, die im ‘Traum Innozenz’ III.’ und in der ‘Bestätigung der Regel’ auszumachen sind, auch in Padua zu finden wäre. Die Neuerungen in der ‘Weihnachtsmesse in Greccio’ oder in der ‘Predigt vor Honorius III.’ mag man Giotto und seiner Werkstatt gerne zutrauen, aber eben erst nach Padua und auch nur dann, wenn dieser Teil des Zyklus im Zusammenhang mit dem für 1308 anzunehmenden Aufenthalt Giottos in Padua entstand, und nicht erst rund 10 Jahre später, wie Michael Viktor Schwarz annimmt.13 Die Fragen der Zuschreibung und Datierung der Fresken in der Unterkirche von S. Francesco in Assisi sind nicht weniger umstritten. Die Nikolaus-Kapelle, die sich an den nördlichen Querarm des westlichen Querhauses anschließt, wurde von Kardinal Napoleone Orsini gestiftet. Thema des Freskenzyklus, der von Schwarz in die Zeit zwischen 1305 und 1307 datiert wird, ist die Legende des hl. Nikolaus.14 Die beiden Szenen im Scheitel des Tonnengewölbes sind in ihrer Architekturdarstellung mit den späten Fresken des Obergaden der Oberkirche wie der Darstellung der vor Joseph versammelten Brüder oder dem ‘Zwölfjährigen Jesus im Tempel’ zu vergleichen. Erst in den unteren Bildfeldern ist eine Rezeption der Neuerungen der Architekturdarstellung auszumachen. Die Darstellung des Traums Kaiser Konstantins kann mit Giottos Darstellung des Traums von Innozenz III. in der Pisaner Franziskus-Pala verglichen werden, unter anderem hinsichtlich des Einsatzes gemusterter Stoffe. Bemerkenswert sind auch die realistischen Motive des aus Latten gezimmerten Verschlages und der Eckbank. Besonders hervorzuheben ist die Szene, in der der hl. Nikolaus den jungen Adeodat zu seinen Eltern zurückbringt (Abb. 33). Das Bild ist nicht wie sonst in dieser Kapelle und in den Zyklen der Oberkirche von S. Francesco üblich mit roten und blaugrünen Farbstreifen gerahmt, sondern es fingiert einen Durchblick durch die Wand. Man sieht die Unterseite des Sturzes, nicht aber die Schwelle. Da man die mit einem eingetieften Schmuckfeld versehene Laibung der Schauöffnung nur links sehen kann, ist der Durchblick auf den Betrachter bezogen, der die Kapelle betritt und zu dem Fresko aufblickt. Der sich so öffnende Raum scheint links und rechts weiterzulaufen, was durch den Vorhang an der Rückwand, die angeschnittene Figur links und die Bank rechts angedeutet wird. Die Raumhöhe bleibt ebenfalls unbestimmt. Auch wenn der Raum nur eine begrenzte Tiefe hat, kann sich durch die Figuren und das Inventar eine klare räumliche Wirkung entfalten. Dazu trägt die Holzmaserung des Podestes, auf dem der Tisch steht, genauso bei wie die pastos gemalte Musterung des Tischtuchs und die darauf verteilten Gerätschaften, die teilweise mit einer Metallauflage ausgeführt wurden. Die mit erstaunlicher Schlüssigkeit inszenierte Illusion des Durchblicks lässt an die Scheinräume an der Chorwand der Arena-Kapelle denken. Auch für die Konzeption des Bildrahmens als Durchblick hatte Giotto in Padua ein Beispiel gegeben, wenn auch ein sehr verstecktes. Während die Bilder der unteren beiden Register jeweils von roten und grünen Farbstreifen gerahmt werden, die ganz flächig erscheinen, werden die Bilder des obersten, 13 14

Schwarz 2008, S. 331–344. Schwarz 2008, S. 349; Bonsanti 2002, Atlas Bd. 1, S. 474–629; Schede, S. 430–444.

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Der hl. Nikolaus bringt Adeodat zu seinen Eltern zurück, Assisi, S. Francesco, Unterkirche, Nikolaus-Kapelle

schon in das Gewölbe hineinreichenden Registers von einem profilierten Rahmen eingefasst, der nach innen ein Karniesprofi l aufweist und außen von einem schmalen Eierstab umschlossen wird. Das in gut erkennbarem rilievo gemalte Profi l ist aber nur oben und an den Seiten zu sehen, unten wird es durch die äußere Leiste verdeckt. Giotto hat diesen Rahmen mithin in Untersicht dargestellt. Ob damit wirklich schon der Rahmen als Durchblick konzipiert war, scheint mir nicht ganz sicher zu sein. Schon das Faktum, dass er in den unteren Registern zum alten Typus der Rahmung durch flache Streifen zurückgekehrt ist, lässt daran zweifeln. Zumindest aber war damit der Schritt zu den fingierten Öffnungen vorbereitet, die die Chorwand der Arena-Kapelle zeigen. Der Maler der Nikolauskapelle, der aus dem Umkreis Giottos hervorgegangen ist, ging nicht von den Rahmen des oberen Bildregisters aus, sondern von den Paduaner Scheinräumen, indem er den Bildrahmen durch eine architektonische Öff nung ersetzte, die fest in das Dekorationssystem integriert ist. Da sehr vieles dafür spricht, dass die lange angenommene frühe Datierung der Franzlegende in Assisi nicht zu halten ist, haben wir mit diesem Bild auch das erste Beispiel für ein „impliziertes Interieur“, von dem oben bereits die Rede war.15 Es gibt in der Nikolaus-Kapelle ein weiteres Bild, das ein vergleichbares Spiel mit der Illusion zeigt, nämlich das Triptychon über dem Orsini-Grabmal hinter dem Altar. Der Bilderrahmen ist eine Dreierarkade, die an den Seiten von Pilastern, in der Mitte von schlanken, gedrehten Säulen getragen wird. In den Öff nungen sind die Halbfiguren der Madonna mit Kind, der hl. Nikolaus und Franziskus zu sehen. Die Laibungen der seit15

Vgl. oben S. 97.

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lichen Arkaden werden in einer Verkürzung gezeigt, die auf einen Blickpunkt in der Mitte des Bildes schließen lässt. Die Verkröpfungen der Brüstung lassen erkennen, dass das Bild auf Untersicht angelegt, also auf den vor dem Altar stehenden Betrachter bezogen ist. Haltung und Gesten der beiden Heiligen, die die Madonna flankieren, suggerieren den räumlichen Zusammenhang der drei Bildfelder. Es scheint, als stünden die Figuren hinter einer Brüstung.16 Dieser Eindruck wird durch das Jesuskind verstärkt, das auf der Brüstung zu stehen scheint. Die Wirkung des Vorkragens der rahmenden Architektur, die vor allem durch die kleinen Piedestale der Säulen hervorgerufen wird, verbindet sich mit der Illusion des Durchblicks in einen schmalen Raum. Die beiden Grundprinzipien malerischer Illusion, das Reliefprinzip, mit dem der Schein erweckt wird, die gemalten Gegenstände würden sich von der Grundfläche des gemalten Bildes erheben und in den Betrachterraum hineinragen, und das Fensterprinzip, das das Bild als einen jenseits der Bildfläche liegenden Raum erscheinen lässt, wirken zusammen und stärken sich in ihrer Wirkung gegenseitig. Auch die ‘Verkündigung Mariens’ über dem Eingang zur Nikolauskapelle spielt mit der Illusion. Der Verkündigungsengel und Maria stehen sich in einem Raum von geringer Tiefe gegenüber. Diese Wirkung wurde dadurch erreicht, dass eine kassettierte Bogenlaibung fingiert wurde, unter der an der Rückwand des Raumes ein Bogenfries entlangläuft. Eine Widersprüchlichkeit liegt darin, dass der Raum nicht tiefer zu sein scheint als die fingierte Bogenlaibung, so dass der Stuhl der Maria darin kaum Platz zu haben scheint. Die Anlage des Freskos fordert den Vergleich mit der Chorwand der Arena-Kapelle geradezu heraus. Die Schauräume mit ihren markant vorkragenden Erkern, die Giotto dort für Maria und den Engel geschaffen hatte, stehen in einem Spannungsverhältnis zur Architektur. Sie ragen hinter der gemalten Bogenstirn des Choreingangs hervor und scheinen zugleich vor der blauen Grundfläche des Bogenfeldes zu stehen. Die Verkürzungen der beiden Häuser stehen im Widerspruch zu den Fluchtlinien der Seitenwände, wie sie der Betrachter beim Blick zum Chor wahrnimmt. In den wenig später gemalten Scheinkapellen im unteren Register der Chorwand gibt es diesen Widerspruch nicht. Der Maler des Freskos über dem Eingang zur Nikolauskapelle „verbesserte“ mit den in Padua gewonnenen Erfahrungen die Grundidee der ‘Verkündigung’ Giottos. Allerdings schloss er sich dem Vorbild der Fresken Giottos nicht mit allen Konsequenzen an. Das gilt insbesondere für den Umgang mit dem rilievo, der noch keine Vorstellung von Beleuchtung provoziert. In der Datierung der Magdalenen-Kapelle, die von Teobaldo Pontano gestiftet wurde, der von 1296 bis 1329 Bischof von Assisi war, gehen die Meinungen ebenfalls weit auseinander. Nachdem lange eine Datierung in das zweite Jahrzehnt des Trecento angenommen wurde, tendiert die neuere Literatur zu einer frühen Datierung. Schwarz bringt die Fresken mit dem wahrscheinlichen Assisi-Aufenthalt Giottos im Jahr 1308 zusammen. In der Tat bewegt sich der Zyklus ganz auf den in der Arena-Kapelle vorgezeichneten Bahnen. Die Kompositionen der ‘Auferweckung des Lazarus’ und des ‘Noli me tangere’ wurden nur geringfügig modifiziert aus Padua übernommen. Die kahle Felsenlandschaft, die in den Bildern weiten Raum einnimmt, wird mit naturalistischen Details 16 Einen ersten Schritt zur Konzeption des Bildes als Ausblick hat schon Cimabue in den Bildfeldern über dem Triforium des Chores der Oberkirche von S. Francesco gemacht; vgl. Belting 1977, S. 120, Tafel 27 f.

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angereichert, die Tiefenverdunklung erscheint etwas stärker differenziert. In der Modellierung der Figuren signalisiert die asymmetrische Tiefenverdunklung einen einheitlichen Beleuchtungszusammenhang. Beim Dekorationssystem, das mit seinem fi ngierten Cosmatenwerk auf den ersten Blick an die Arena-Kapelle erinnert, ist ein Detail bemerkenswert. Die Laibung dieser architektonischen Rahmung ist über den Bildfeldern und an den beiden Seiten sichtbar, unten jedoch nicht. Das Rahmensystem ist auf den Blickpunkt des in der Kapelle stehenden Betrachters bezogen. Dass sich daraus jedoch nicht das Konzept des Bildes als Fenster ergibt, belegen die doppelten Streifen, die alle Bildfelder umziehen und mit ihrer dezidierten Flächigkeit die Suggestion eines Ausblicks durch den Rahmen konterkarieren. Auch die Fresken im nördlichen Arm des Querschiffes, die einige Jahre später, um 1313–15 entstanden, gehen von der Arena-Kapelle aus. Sie wiederholen einzelne Kompositionen, gehen aber vor allem in der Wiedergabe der Architektur und ihrer Räumlichkeit bedeutende Schritte weiter.17 Die ‘Darbringung im Tempel’ (Abb. 34) und der ‘Zwölfjährige Jesus im Tempel’, die jeweils dreischiffige Räume darstellen, übertreffen in der Schlüssigkeit, mit der die Tiefenlinien sich verkürzen, alles, was bis dahin ausgeführt wurde. Die Leistung dieser Fresken ist als Perfektionierung der von Giotto entwickelten Darstellungsprinzipien zu charakterisieren. In der Unterkirche von S. Francesco stehen sie in sichtbarer Konkurrenz zu den Werken von zwei Sienesen, nämlich Simone Martini und Pietro Lorenzetti, die in ihrer Arbeit ihre Erfahrungen aus einem von Duccio dominierten Umfeld eingebracht haben und in der Rezeption der neuen Darstellungsprinzipien bedeutende neue Akzente zu setzen vermochten. Auf ihre Leistungen näher einzugehen, würde hier, wo es um die grundsätzlichen Fragen einer neuen Bildauffassung geht, zu weit führen. Notwendig ist es aber, wenigstens einen kurzen Blick auf das Werk Duccios zu werfen, der von Panofsky in seinen Abhandlungen zur Perspektive immer wieder in einem Atemzug mit Giotto genannt wurde. Duccio, so schrieb Panofsky, war „gleichermaßen fähig, das Problem des ‘modernen’ Raumes wahrzunehmen und zu lösen.“18 Dieses Urteil kann sich nur auf Duccios Hauptwerk stützen, die ‘Maestà’ für den Sieneser Dom, die vermutlich 1308 in Auftrag gegeben und 1311 fertiggestellt wurde.19 Es ist eines der umfangreichsten Altarwerke seiner Zeit. Die großformatige Darstellung der Madonna mit Heiligen wurde von fast sechzig narrativen Szenen begleitet. Predella und Bekrönung der Vorderseite zeigten das Marienleben. Auf der Rückseite waren das öffentliche Wirken Christi, die Passion und die Erscheinungen Christi nach der Auferstehung zu sehen. Die These von Stubblebine, dass die narrativen Szenen weitestgehend von Werkstattmitarbeitern ausgeführt worden sein sollen, unter ihnen die bedeutendsten Maler der nächsten Generation wie Simone Martini und Ambrogio Lorenzetti, wurde von der Forschung fast einmütig zurückgewiesen, wobei 17

Schwarz 2008, S. 355–63; Schwarz (ebd. S. 388 f.) vermutet, dass die ausführende Werkstatt in Vierung und Nordquerhaus der Unterkirche von Giottos Schüler Stefano geleitet wurde. Von Bonsanti werden die Fresken um 1313 datiert; vgl. Bonsanti 2002, Atlante I, S. 522; Schede, S. 419– 422. 18 Panofsky 1969, S. 135; so schon bei Panofsky 1927 / 1998, S. 714–718. 19 Während die meisten Autoren von dem durch ein Dokument belegten Auft ragsdatum 1308 ausgehen, räumt Deuchler 1984, S. 46 ff. die Möglichkeit eines früheren Arbeitsbeginns ein.

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34 Darbringung im Tempel, Assisi, S. Francesco, Unterkirche, Nördliches Querschiff

aber einige, unter ihnen Max Seidel, eine Werkstattbeteiligung nicht völlig ausschließen wollten.20 In der Tat zeigen sich in der langen Reihe narrativer Szenen bedeutende Unterschiede in der Wiedergabe von Körper und Räumlichkeit. Im rilievo der Darstellung von Inkarnat und Gewand ist durchweg eine symmetrische Aufhellung vorspringender Teile festzustellen, die extreme Helligkeitsgegensätze vermeidet. Die Ausführung ist dabei nicht einheitlich. Unterschiede sind zuweilen sogar in den beiden auf einer Tafel gemalten Szenen festzustellen, so in ‘Christus vor Herodes’ und der Szene darüber, die Christus vor Pilatus zeigt. Asymmetrische Tiefenverdunklung, die als Folge von Beleuchtung aufgefasst werden kann, findet sich bestenfalls in Ansätzen. In den Landschaften der Passionsszenen findet man keine Tiefenverdunkelung. Die Landschaftsformationen, die dem byzantinischen Typus folgen, sind auf der Oberseite stets heller als an den steil abfallenden Seiten. Hingegen ist in der ‘Versuchung Christi auf dem Berg’, einer Szene aus der rück20 James H. Stubblebine: Duccio and his collaborators on the Cathedral Maestà. In: The Art Bulletin, Jg. 55, 1973, S. 185–204; Stubblebine 1979, S. 39–62. Max Seidel: Das Frühwerk von Pietro Lorenzetti. In: Städel-Jahrbuch N. F. 8 (1981) S. 105–109.

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Duccio: Geißelung Christi, Detail aus der ‘Maestà’, Siena, Opera del Duomo

wärtigen Predella, in den Darstellungen der Berge wie der Städte eine geradezu extreme Tiefenverdunklung zu registrieren, die in den Farbstufen von Grau über rötlichen Ocker zu Dunkelbraun ausgeführt wurde. In der Architekturdarstellung folgte Duccio dem Prinzip der Isaak-Fresken und stellte identische Handlungsorte in stets gleicher Weise dar, so dass der Betrachter den Ort von Abendmahl und Fußwaschung oder den Palast des Pilatus problemlos wiedererkennen kann. Im Zusammenspiel von Architekturen und Figuren bleiben die meisten Szenen allerdings weit hinter dem zurück, was Giotto in Padua erreicht hatte. Besonders evident ist dies in den Pilatus-Szenen, in denen die Darstellung der Figuren zuweilen in eklatantem Widerspruch zu den räumlichen Gegebenheiten der Loggia als Handlungsort steht. In der ‘Geißelung’ (Abb. 35) beispielsweise steht Pilatus auf einem treppenartigen Podest, das sich hinter der gedrehten Säule erhebt, doch seine ausgestreckte Hand ist vor dieser Säule zu sehen. Der Scherge vor ihm steht nicht auf dem Boden, sondern scheint zu

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36 Duccio: Abendmahl, Detail aus der ‘Maestà’, Siena, Opera del Duomo

schweben. Figurenkomposition und Szenerie scheinen unabhängig voneinander entworfen und dann übereinander gelegt worden zu sein. Es gibt allerdings deutliche Unterschiede in der Behandlung. Im ‘Abendmahl’ (Abb. 36) scheinen der Tisch und die an ihm sitzenden Personen vor dem Raumkasten zu stehen. In der ‘Hochzeit zu Kana’ auf der rückseitigen Predella sind Architekturszenerie und Tischgesellschaft in ihrem Verhältnis zueinander sehr viel schlüssiger. Das Tischtuch zeigt zwar in beiden Fällen eine rautenförmige Musterung, die eine Lokalisierung der Gerätschaften auf dem Tisch zulässt, doch im Abendmahl steht die annähernd parallele Schrägführung der Schmalseiten des Tisches im Widerspruch zu den Tiefenlinien des Raumkastens. In der ‘Hochzeit zu Kana’ hingegen werden die Seitenlinien der Tischplatte wie die Konsolen, die die Kassettendecke tragen, von beiden Seiten her schräg zur Mitte hin verkürzt. Der Fußboden in diesem Bild lässt zudem eine deutliche Tiefenverdunklung erkennen. Er gibt einen im Fischgrätverband gelegten Ziegelboden wieder, der ebenfalls die Raumtiefe anzeigt. In der Szene des ‘Zwölfjährigen Jesus’ auf der Predella der Vorderseite wurde das großteilige Bodenmuster sehr viel primitiver ausgeführt. In der Ausrich-

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Duccio: Heilung des Blinden, Detail aus der ‘Maestà’, London, National Gallery

tung der parallel geführten Tiefenlinien steht es im Widerspruch zu den Tiefenlinien der Gewölbe im Hintergrund. Während die Führung der Dachflächen und Seitenwände in der ‘Geburt Christi’ ein optisches Verwirrspiel ist, erscheint die Architektur mit dem vorkragenden Dach in der ‘Erscheinung Christi unter den Jüngern’ und im ‘Ungläubigen Thomas’ in sich ganz schlüssig. Auch in der Wiedergabe von Architekturdurchblicken sind große Unterschiede festzustellen. Im ‘Gang nach Emmaus’ stehen die Wegführung und die Ausrichtung des Torgewölbes zueinander in unauflösbarem Widerspruch. Dieser Fehler ist bei dem ‘Einzug in Jerusalem’ vermieden worden. In den Szenen der rückwärtigen Predella entdeckt man verschiedene Typen des Durchblicks, etwa in der ‘Hochzeit zu Kana’ oder in den Stadtansichten der ‘Versuchung Christi auf dem Berg’. Besonders bemerkenswert ist der Einblick in den Tempel im ersten Bild der ‘Versuchung Christi’, der uns ein von schlanken Säulen getragenes Rippengewölbe und ein kompliziertes Fliesen-

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muster zeigt. Die gelungenste Architekturdarstellung bietet die ‘Heilung des Blinden’ (Abb. 37) mit der Führung der Tiefenlinien, mit verschiedenen Durchblicken und Einblicken und mit dem ungewöhnlich engen Hintereinander der Querbalken der Decke, die über Christus zu sehen ist. Hervorzuheben ist auch die Tiefenverdunklung, die dem Platz, auf dem die Szene sich abspielt, Räumlichkeit verleiht. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich während der Arbeit an der ‘Maestà’ in Duccios Werkstatt in der Architekturdarstellung eine bedeutende Entwicklung vollzogen hat. Wenn man nicht den Thesen Stubblebines folgen will, der diese Forschritte als Leistung der Brüder Lorenzetti, Simone Martinis und anderer Meister der folgenden Generation Sienesischer Maler ansehen möchte, so muss man sagen, dass in den in ihrer Raumdarstellung fortschrittlichsten Szenen angelegt wurde, was schon kurz darauf von Simone Martini und Pietro Lorenzetti zur Entfaltung gebracht wurde, doch deren Werke liegen außerhalb des hier gesetzten Rahmens.

8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos 8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos

Es soll aber wenigstens noch ein Blick auf spätere Werke Giottos geworfen werden, um die weitere Entwicklung und Klärung seiner Bildkonzeption darzulegen. Die MadonnenTafel aus der Florentiner Ognissanti-Kirche (Abb. 38) wurde von der Forschung überwiegend in die Zeit um 1310 datiert, auch wenn es keinerlei Quellen gibt, die etwas über die Entstehung und den ursprünglichen Standort dieses Altarbildes aussagen.1 Die Madonna sitzt auf einem marmornen Thron, der reich mit Cosmatenarbeit verziert ist, und hält das Kind auf ihrem linken Knie. Der Thron steht, wie die Stufen des Sockels zeigen und wie sich an den architektonischen Elementen etwa der Thronwangen ablesen lässt, parallel zur Bildebene. Er steht auch fast genau in der Mitte der Bildfläche, wird jedoch nicht genau von vorne gesehen dargestellt, denn von der rechten Thronwange ist etwas mehr zu sehen als von der linken. Diese asymmetrische Verkürzung findet sich auch in der Arena-Kapelle, nämlich im Thron Gottvaters über dem Choreingang und in verschiedenen Innenraumdarstellungen. Wie oben dargelegt wurde, spielten dabei offensichtlich kompositorische Überlegungen eine entscheidende Rolle.2 Das gilt auch für die Darstellung Gottes, denn seine Hand, die Gabriel den Auftrag zur Verkündigung erteilt, ist gerade vor der weniger verkürzten Thronwange zu sehen. Die asymmetrische Anlage lenkt den Blick des Betrachters nach links auf die Gegenüberstellung von Gottvater und Erzengel. In Analogie dazu wird man sagen können, dass in der Ognissanti-Madonna durch die Asymmetrie der Verkürzungen der Blick des Betrachters auf das segnende Kind gelenkt werden soll. Den Thron umstehen Engel und Heilige, die streng spiegelsymmetrisch angeordnet sind, wobei man zwei der Heiligen durch die durchbrochenen Thronwangen erblickt. Die zwei mit einem grünen Gewand bekleideten Engel, die den Thron flankieren, präsentieren eine Krone und eine goldene Pyxis. Vor ihnen knien Engel, die goldene Vasen mit Blumen halten. Sie eröffnen kompositorisch die Blickbahn, die zur Madonna und dem Kind hinführt, dessen segnende Hand genau auf der Mittelachse des Bildes liegt. Giottos Madonna ist im Haltungstypus der Rucellai-Madonna Duccios recht ähnlich, aber gerade durch diese Ähnlichkeit wird der erhebliche Unterschied in der Figurenauffassung noch deutlicher. Giotto hat die maniera greca endgültig hinter sich gelassen. Der Körper der Madonna erscheint monumental und schwer. Diese Wirkung wird durch die Helldunkel-Modellierung erreicht, die die breiten Faltenstege, aber auch die körperlichen 1

Schwarz 2008, S. 458–468. Die traditionelle Ansicht, die Tafel sei das Hochaltarbild der Ognissanti-Kirche gewesen, wurde von Irene Hueck: Le opere di Giotto per la chiesa di Ognissanti. In: La ‘Madonna di Ognissanti’ di Giotto restaurata (Gli Uffi zi. Studi e ricerche 8), Florenz 1992, S. 37–50, zurückgewiesen. Die neuere These, dass die Tafel ein Lettneraltar war, wurde von Schwarz zurückgewiesen. 2 Vgl. oben S. 69.

8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos

38 Giotto: Ognissanti-Madonna, Florenz, Uffizien

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8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos

Rundungen deutlich hervortreten lässt. Besonders bemerkenswert ist das Kleid Mariens, das in den dunkelsten Stellen graubräunlich erscheint und in den Faltenstegen und über den Brüsten zu einem warmen Weiß aufgehellt wird. Zuvor hatte kein Maler daran gedacht, die weiblichen Formen der Muttergottes zu betonen, wenn er nicht gerade die Aufgabe hatte, eine Madonna lactans darzustellen. Das Helldunkel ist bei den vorne knienden Engeln besonders kräftig, die ein weißes Gewand tragen, das in der Tiefenverdunklung bläulich erscheint, so dass sich der Farbwert als ganzes deutlich vom Weiß des Kleides der Madonna absetzt. Das Helldunkel der Engel in den grünen Gewändern, die in der zweiten Reihe stehen, spannt sich zwischen einem dunklen Umbraton und einem grünlichen Ocker aus, womit es weniger kontrastreich wirkt und das Engelpaar auch koloristisch etwas zurücktreten lässt. Das Zusammenspiel von Aufhellung und Tiefenverdunkelung ist bei allen Figuren asymmetrisch. Es ist denkbar, dass Giotto bei diesem in seinem Atelier entstandenen Werk an die Beleuchtungssituation am Bestimmungsort gedacht hat, doch das von rechts her einfallende Licht passt zu verschiedenen möglichen Standorten in der nach Nordosten ausgerichteten Kirche.3 Auf jeden Fall aber trägt das Bildlicht, das man als einheitliche Beleuchtung auffasst, entscheidend zur Homogenität des Bildraumes bei. Wenn man bei der Ognissanti-Madonna noch berechtigte Zweifel haben kann, ob Giotto das Bild auf einen bestimmten, seitlich gelegenen Blickpunkt hin angelegt hat, ist dies in seinen späteren Kapellendekorationen in S. Croce in Florenz unbestreitbar. Die vier von Giotto ausgemalten Kapellen der Franziskanerkirche wurden im Barock übermalt und teils sogar zerstört. Die Wandbilder der Bardi- und Peruzzi-Kapelle konnten Mitte des 19. Jahrhunderts freigelegt werden. Es sind, was die Konzeption und auch Maltechnik angeht, zwei sehr verschiedene Zyklen. Die Bardi-Kapelle, die rechts von der Hauptchorkapelle liegt, wurde in der bei Giotto üblichen Technik des buon fresco ausgeführt, die Peruzzi-Kapelle hingegen in reiner Secco-Malerei. Die Datierung der Kapellen ist in der Literatur bis heute heft ig umstritten. Die Vorschläge für die Entstehung der beiden Kapellen reichen von 1310 bis nach 1330, wobei eine Mehrheit der Forscher annimmt, dass Giotto zunächst die Kapelle der Peruzzi und dann die der Bardi ausführte. Michael V. Schwarz hat jedoch jüngst mit überzeugenden Argumenten dargelegt, dass die Bardi-Kapelle als erste ausgeführt wurde und eine Datierung „gegen oder um 1320“ vorgeschlagen.4 Für die Peruzzi-Kapelle hingegen plädiert Schwarz für eine Entstehung nach Giottos Rückkehr aus Neapel, die 1333 oder 1334 erfolgte. Es ist jedoch sehr wohl denkbar, dass Giotto die Wandbilder ausgeführt hat, bevor er 1328 nach Neapel abreiste.5 3

Antonio Natali hat die These aufgestellt, dass die Tafel für den rechten Lettneraltar bestimmt gewesen sei (Antonio Natali: Lo spazio illusivo. In: La ‘Madonna d’Ognissanti’ di Giotto restaurata, Florenz 1992, S. 51–55). Er argumentiert dabei mit den Verkürzungen des Th rones, die sich wie gesagt schon in Padua finden, und mit dem Blick der Madonna, den man jedoch nicht als eindeutig nach links gerichtet bezeichnen kann; vgl. Schwarz 2008, S. 458–462. 4 Schwarz 2008, S. 412. 5 Schwarz 2008, S. 538–554. Eine entscheidende Rolle in der Begründung der Spätdatierung bei Schwarz spielt das Verhältnis der Salome-Szene Giottos zu den Reliefs der Florentiner Baptisterium-Tür Andrea Pisanos, deren Wachsformen 1332 fertig waren. Gegenüber der Bildtradition, für die in Florenz die Szenenfolge der Mosaiken des Baptisteriums stehen kann, ist in der Peruzzi-

8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos

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Mit dieser Abfolge der beiden Kapellen ergibt sich ein schlüssiges Bild der Weiterentwicklung der Bildauffassung im Spätwerk Giottos. In der baulichen Form gleichen sich die beiden Kapellen. Der hohe, rechteckige Raum, um einiges tiefer als breit, wird von einem schweren Kreuzrippengewölbe geschlossen und ist fast in ganzer Höhe und Breite zum Querschiff der Kirche geöffnet. Sein Licht erhält er durch ein großes spitzbogiges Fenster an der Stirnseite. In der Bardi-Kapelle hat Giotto ein Dekorationssystem entwickelt, das er im Prinzip auch in der Peruzzi-Kapelle beibehalten hat und das für die kirchliche Monumentalmalerei bis in das 15. Jahrhundert hinein wegweisend geworden ist. In die blaugrundigen Gewölbezwickel hat Giotto gerahmte Figurentondi eingesetzt. Von der gemalten umlaufenden Sockelzone, die die Höhe der Fensterbank erreichte, ist heute nichts mehr zu sehen. Die schmalen Wandfelder zu beiden Seiten des Fensters werden von jeweils zwei übereinander gestellten Figurennischen eingenommen, die bis zur Kämpferhöhe des Fensters reichen. Dem entsprechend sind die Seitenwände in drei Bildfelder unterteilt. Sie werden umschlossen von einem fingierten architektonischen Rahmensystem, das vielfach profiliert ist und in den Spiegelflächen Cosmatenarbeit imitiert. Giotto hat in der Bardi-Kapelle das Dekorationssystem der Arena-Kapelle und der Magdalenen-Kapelle in S. Francesco weiterentwickelt. Er hat allerdings in Florenz darauf verzichtet, die Bilder mit einem flachen, doppelten Farbstreifen einzufassen. Dafür hat er die Rahmen vielstufig profi liert. Anders als im obersten Register der Arena-Kapelle und in der Magdalenen-Kapelle hat er dabei die Untersicht nicht berücksichtigt. Auch die Figurennischen haben ihr Vorbild in Assisi. Die Entscheidung, die Bilder die ganze Breite der Seitenwände der Kapelle einnehmen zu lassen, war keineswegs selbstverständlich, ging es doch vorher, beispielsweise in den Kapellen der Unterkirche von S. Francesco, darum, Evangelium oder Legenden in möglichst vielen Einzelszenen vor Augen zu führen. Giotto traf seine Entscheidung sicherlich im Hinblick auf die Gesamtwirkung. Beim Blick aus dem Querhaus zeigen sich die Kapellenwände als klar gegliederte Einheit. Eine nicht unwichtige Rolle dürfte auch gespielt haben, dass bei diesem Bildformat die Figuren fast Lebensgröße erhalten konnten und damit auch für den Blick aus größerer Distanz gut erkennbar waren. Das Dekorationssystem forderte, aus der Franziskuslegende, die in Assisi in 28 Bildern ausgebreitet worden war, sieben Schlüsselszenen auszuwählen.6 Als Frontispiz des Zyklus könnte man die Darstellung der Stigmatisation des hl. Franziskus bezeichnen, die über dem Kapelleneingang angebracht schon vom Langhaus aus zu sehen ist. In den

Kapelle auff ällig, dass die Hinrichtung des Täufers nicht dargestellt wurde. „Giottos Selektion und kühne Rekombination der Motive ist schwer denkbar ohne die visuelle Aufbereitung der Geschichte durch Andrea Pisano als Voraussetzung“ (S. 552). Die Geschichte des Täufers war aber doch so bekannt, dass jeder Betrachter wusste, wie Johannes ums Leben kam, dessen Haupt in Giottos Wandbild zweimal präsentiert wird. Der Musiker, der zu Salomes Tanz aufspielt, ist, wie Schwarz selbst schreibt, eine Weiterentwicklung des Musikers in der Szene der Heimkehr Mariens in der Arena-Kapelle. Im Hinblick auf diese Figur ist es näher liegend anzunehmen, dass Andrea Pisano auf Giotto folgte, anstatt einen Rückgriff auf französische Miniaturen anzunehmen, deren Kenntnis man für Florenz nicht beweisen kann. 6 Zur Ikonographie des Zyklus vgl. Rintelen 1923, S. 133–146; Poeschke 2003, S. 227–229; Schwarz 2008, S. 426–433.

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8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos

Giotto: Szenen aus dem Leben des hl. Franziskus, Bardi-Kapelle, Südwand, Florenz, S. Croce

8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos

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Lünetten stehen die Lossagung vom Vater und die Bestätigung der Ordensregel durch Papst Innozenz III. einander gegenüber, Szenen, die mit der Entscheidung für die Besitzlosigkeit den Beginn des Weges des hl. Franz und die Gründung seines Ordens repräsentieren. Darunter wird auf der rechten Seite mit der Feuerprobe vor dem Sultan die Predigt- und Missionstätigkeit dargestellt. Mit der Predigt in Arles auf der gegenüberliegenden Seite wird die fortdauernde spirituelle Anwesenheit des Heiligen unter seinen Brüdern angedeutet. Die unteren Fresken vergegenwärtigen den Tod des Franziskus, die Verifi kation der Stigmata und seine Aufnahme in den Himmel. Rechts werden die Visionen des Bischofs Guido von Assisi und des Bruders Augustinus dargestellt, die sich auf die Himmelfahrt des Heiligen bezogen. Die rechte Wand der Kapelle (Abb. 39) zeigt sich in einer klaren, fast strengen Ordnung. Der Giebel der päpstlichen Aula und des Thrones des Sultans liegen auf der Mittelachse der Wand. Alle Bilder werden in ihrem Aufbau durch markante Vertikalen und Horizontalen bestimmt und scheinen wie ein mehrstöckiges Haus aufeinander aufzubauen. Die Bilder der linken Wand sind weniger streng aufeinander bezogen. Der Palast, vor dem sich die Lossagung vom Vater abspielt, ist nicht wie alle anderen Architekturen des Zyklus frontal wiedergegeben, sondern über Eck gesehen. Giotto bediente sich hier eines gebräuchlichen Typus für die Wiedergabe von Baukörpern, den er selbst schon in Padua eingesetzt hatte. Der Unterschied zu der entsprechenden Szene in der Oberkirche in Assisi könnte kaum größer sein. Die Kante des mächtigen Baublocks betont das Bedeutungszentrum der Szene, den Heiligen, der sich seiner Kleider entledigt hat und sich in den Schutz des Bischofs begibt. Bemerkenswert ist, dass das Obergeschoss des Baues mit seinen Kolonnadengängen betont von unten gesehen dargestellt wird. In der ‘Bestätigung der Ordensregel’ hat Giotto seine eigene Komposition aus der Pisaner FranziskusTafel und damit auch die entsprechende Szene des Franziskus-Zyklus in Assisi weiterentwickelt, vor allem hinsichtlich der Gruppierung der Figuren und ihres Verhältnisses zum kastenartigen Raum, in dem sie sich befinden. Der Papst und Franziskus mit seinen Brüdern haben die Seiten gewechselt. Die Komposition entwickelt sich nun von rechts nach links. Der Saalbau, in dem die Szene stattfindet, ist keineswegs so symmetrisch, wie er auf den ersten Blick scheinen mag. Die linke Schmalwand, vor der der Papst auf einem mit einem Wimperg ausgezeichneten Thron sitzt, ist deutlich schmaler als die rechte Schmalwand, durch die die Mönche hereingekommen sind. Die in die Tiefe führenden Balken der Kassettendecke sind so verkürzt, dass nach den Regeln Euklids ein Blickpunkt angenommen werden muss, der in der Höhe des Kopfes des ganz rechts knienden Mönches liegt. Ob eine solche Asymmetrie auch in der ‘Feuerprobe’ gegeben war, ist nicht mehr festzustellen. In den Wunderszenen darunter ist sie jedoch eindeutig zu erkennen. Auf den beiden unteren Bildern der gegenüberliegenden Seite ist es genau umgekehrt: Hier ist die breitere, weniger verkürzte Schmalseite des architektonischen Raumes auf der rechten Seite zu erkennen. In der ‘Erscheinung in Arles’ gibt es eine weitere Besonderheit. Giotto zeigt hier den Querschnitt durch einen Kreuzgang, dessen Pultdach von dünnen Säulen getragen wird. In dem schmalen Gang haben sich einige Mönche auf Bänken niedergelassen. Die Rückwand wird von drei rundbogigen Öff nungen durchbrochen. Im mittleren Bogen erscheint Franziskus schwebend und mit ausgebreiteten Armen, während rechts und links hinter einer Brüstung die Köpfe von weiteren Mönchen zu sehen sind. Ganz links steht Antonius, während dessen Predigt ein Mönch die Er-

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8. Die Bildkonzeption in späteren Werken Giottos

scheinung des Franziskus erblickte. Wenn man bei der Architektur von einer regelmäßigen Anlage ausgeht, dann müssten bei frontaler Projektion die Säulen jeweils in der Mitte der dahinter stehenden Pfeiler zu sehen sein, sie sind aber alle nach rechts verschoben, so dass auch für dieses Bild ein Blickpunkt angenommen werden muss, der nicht in der Mitte liegt, sondern in diesem Fall nach links verschoben ist. Unterstrichen wird diese Asymmetrie noch durch das Helldunkel. Die Modellierung der Figuren ist eindeutig auf das durch das Kapellenfenster einfallende Licht bezogen und die zur Fensterseite gelegenen Wände der architektonischen Räume sind deutlich dunkler als die ihnen gegenüberliegenden Schmalseiten. Derartige Asymmetrien waren auch in der Arena-Kapelle zu beobachten. Sie waren dort, wie oben dargelegt wurde, thematisch begründet, indem sie der Betonung der Hauptfiguren dienten. In der Bardi-Kapelle könnte man dies nur von der ‘Bestätigung der Ordensregel’ sagen. Die Tatsache, dass die geringeren Verkürzungen stets an der zum Fenster gelegenen Seite zu finden sind, legt den Schluss nahe, dass Giotto die Architekturdarstellungen auf einen Blickpunkt bezogen hat, der schräg vor den Bildern nahe dem Kapelleneingang oder sogar außerhalb der Kapelle liegt. Darauf ist in der Literatur von verschiedenen Autoren wie John White, Francesca Flores d’Arcais, Michael V. Schwarz und vielen anderen hingewiesen worden.7 Versuche, den für den Betrachter vorgesehenen Standort genau zu bestimmen, sind müßig. Das wäre nur möglich, wenn eine perspektivische Konstruktion vorliegen würde, was aber natürlich hier nicht der Fall ist. Dennoch ist die hier zu registrierende Art des Betrachterbezuges ein für die Weiterentwicklung der Bildauffassung wichtiger Schritt, den Giotto in der Peruzzi-Kapelle geklärt und bekräftigt hat. Das Dekorationssystem der Peruzzi-Kapelle entspricht demjenigen der Bardi-Kapelle. In der Ausführung ist es jedoch, soweit man dies bei dem problematischen Erhaltungszustand der Kapelle insgesamt noch beurteilen kann, vereinfacht und wirkt dadurch weniger plastisch. Bezeichnend ist, dass Giotto hier zu der Binnenrahmung mit einem flachen rot-grünen Band zurückkehrt, wie er es schon in der Arena-Kapelle eingesetzt hatte.8 Die drei Bilder der rechten Kapellenwand (Abb. 40) sind dem Evangelisten Johannes gewidmet.9 Die Lünette zeigt Johannes auf Patmos in der Pose der Melancholie und des Nachdenkens. Über ihm Gestalten seiner apokalyptischen Visionen: der Schnitter mit der scharfen Sense und das vom Drachen verfolgte apokalyptische Weib. Die Figuren und die kargen Landschaftselemente der Insel und des Bodenstreifens im Vordergrund geben keine Hinweise, dass sie anders als frontal gesehen werden sollen. Auch wenn die 7

White 1967, S. 72–76; Flores d’Arcais 1995, S. 325–337; Schwarz 2008, S. 433–436. Hier von einem Arbeiten mit Fluchtpunkt zu sprechen, wie Gandolfo und Gione 2009, S. 376 es getan haben, ist eine unzulässige Rückprojektion der von Alberti kodifizierten Perspektivkonstruktion. 8 Die Verwendung dieses „älteren“ Motives kann nicht als Argument für die Stellung innerhalb einer Entwicklung und damit für die Priorität der Kapelle der Peruzzi vor derjenigen der Bardi gelten. In den Paduaner Fresken werden die Bilder des obersten Registers mit einer plastischen Binnenrahmung umgeben, die Bilder der beiden Register darunter, die nachweislich später gemalt wurden, mit dem flachen rot-grünen Band. 9 Zur Ikonographie vgl. Laurie Schneider: The Iconography of the Peruzzi Chapel. In: L’ arte, Nuova ed. Bd. 5. 1972, Heft 18 / 20, S. 91–104; Schwarz 2008, S. 541–566.

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40 Giotto: Szenen aus dem Leben des Evangelisten Johannes, Florenz, S. Croce, PeruzziKapelle

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Farboberfläche stark beschädigt ist, kann man die Tiefenverdunkelung von Land und Meer erkennen. Merkwürdig ist die scharfe Unterteilung des Himmels in eine untere Zone, die heller gehalten ist als die obere, in der die Visionsgestalten erscheinen. Vielleicht ist dies als Tiefenstaffelung aufzufassen. Im mittleren Bildfeld wird die Auferweckung der Drusiana dargestellt. In der Figurenkomposition treffen zwei Richtungstendenzen aufeinander. Der von rechts kommende Trauerzug trifft auf Johannes und sein Gefolge. Die Bahre, auf der das Mädchen zu Grabe getragen werden sollte, wurde gerade abgestellt. Drei Frauen knien vor dem Evangelisten. Seiner im Sprechgestus ausgestreckten Hand antwortet die soeben vom Tode auferweckte Drusiana mit ihrer Haltung. Die Figurengruppen werden von einem Architekturprospekt hinterfangen, der sich von der bisherigen Darstellungspraxis grundlegend unterscheidet. In der ‘Vertreibung der Dämonen aus Arezzo’ im Franziskuszyklus in Assisi, in Duccios ‘Maestà’ wie in denjenigen im Passionszyklus von Pietro Lorenzetti in der Unterkirche von S. Francesco wurden Städte stets als ein Agglomerat von Bauten dargestellt, die bunt zusammengewürfelt über den sie zusammenfassenden Mauerring herausragen. Im Drusiana-Bild erscheint die Stadtmauer als ein Kontinuum, das an beiden Seiten über das Bildfeld hinaus fortgesetzt zu denken ist. Über die Mauerkrone ragen nur die Türme des Stadttores links hinaus und rechts die Kirche, die in die Mauer hineingebaut wurde. Wie Michael V. Schwarz gezeigt hat, ist in diesem Kuppelkirchenbau eine konkrete Anspielung auf die Johanneskirche in Ephesos zu erkennen.10 Die Kirche und die Türme des Stadttores sind über Eck dargestellt. Auch in den älteren Stadtansichten wurden die Bauten meist so abgebildet, doch in einem dichtgedrängten Durcheinander und in einer Ansicht, die von derjenigen der Stadtmauer divergiert. Giotto hat den Stadtprospekt aus einem einheitlichen Blickpunkt wiedergegeben. Die Stadtmauer ist der wichtigste Anhaltspunkt für die Orientierung des Betrachters. Die durch den Zinnenkranz betonte Linie der Mauer fällt nach links hin ab, ebenso die parallel zu ihr errichteten Teile von Stadttor und Kirche. Die durch die Gesimse markierten Linien der quer zur Mauer stehenden Wände fallen nach rechts ab. Wie in den älteren Bildern Giottos hängt der Verlauf der schräg in die Tiefe führenden Linien von ihrer Höhe im Bild ab. Je höher sie sich befinden, desto stärker neigen sie sich nach unten. Eine systematische Konstruktion steht allerdings nicht dahinter. Die räumliche Orientierung wird durch das Helldunkel unterstützt. Wie in der Bardi-Kapelle arbeitete Giotto mit einem einheitlichen, auf das Kapellenfenster bezogenen Standortlicht. Die von dieser Lichtquelle abgewandten Teile sind deutlich dunkler als die ihr zugewandten. Zwar ist die Bodenlinie der Mauer durch die Figuren verdeckt, doch vor dem Bild stehend hat man den Eindruck, dass die Mauer nach links in die Tiefe führt. Dieser Eindruck wird dadurch unterstützt, dass das ganz links erkennbare Mauerstück deutlich dunkler gehalten ist als die parallelen Fronten der Türme. Wenn die Figurenkomposition primär auf einen frontal vor dem Bild liegenden Blickpunkt bezogen ist, so begünstigt die übereinstimmende Ausrichtung der Bauten einen Blickpunkt, der schräg rechts davor liegt. Begräbnis und Himmelfahrt des Johannes sollen der Legende nach in der Kirche von Ephesus stattgefunden haben. Nachdem Johannes als letzter der Apostel gestorben war, wurde er von Christus, der von den anderen Jüngern begleitet in einer Lichtwolke erschienen war, in den Himmel emporgehoben. Die Kirche, die Giotto im unteren Fresko 10

Schwarz 2008, S. 560–566.

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Giotto: Szenen aus dem Leben Johannes’ des Täufers, Florenz, S. Croce, Peruzzi-Kapelle

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der rechten Kapellenseite zeigt, hat wenig mit der des Drusiana-Bildes gemein. Der Bau, dessen Grundriss nicht klar erkennbar ist, steht mit seiner als Schauöffnung gestalteten Langseite parallel zur Bildebene. Durch die horizontale Führung der Gebälklinien wird dies nachdrücklich betont. Um das von der Legende berichtete Geschehen sichtbar zu machen, wurden Teile des Gewölbes fortgelassen. Links sind eine mittlere und eine kleinere seitliche Apsis angedeutet. Die rechts von außen und in Verkürzung gezeigte Wand wäre danach – auch wenn keine Bauteile darauf hindeuten – als Fassade anzusprechen. Das hier verwendete Darstellungsprinzip ist aus den Isaakfresken in Assisi bekannt. Giotto setzte es auch in der Arena-Kapelle ein, beispielsweise im Haus der Anna, das auf der linken und rechten Kapellenwand identisch erscheint, was darauf schließen lässt, dass hier nur mit einem Blickpunkt im frontalen Gegenüber gerechnet wurde. In der Peruzzi-Kapelle hingegen darf man angesichts der Verbindung mit dem Drusiana-Bild annehmen, dass auch mit einem schräg rechts vor dem Bild gelegenen Blickpunkt gerechnet wurde. Wie in der Bardi-Kapelle bemühte sich Giotto hier um einen Kompromiss zwischen der Frontalansicht und der Sicht vom Kapelleneingang her. Man könnte von primärem und sekundärem Blickpunkt sprechen. In den drei Wandbildern der linken Kapellenseite (Abb. 41), die Szenen aus der Legende von Johannes dem Täufer darstellen, hat Giotto die Frage des Betrachterstandpunktes neu bedacht. In der ‘Verkündigung an Zacharias’ sind das Altarziborium und das Haus daneben über Eck dargestellt, jedoch anders als der Palast in der ‘Lossagung vom Vater’ der Bardi-Kapelle so, dass die linke, zum Kapelleneingang gelegene Seite stärker verkürzt wird als die rechte, so dass man sagen kann, dass die beiden Architekturen mit ihren Fronten nur ein wenig aus der Bildparallelität herausgerückt sind. Das mittlere Bild zeigt die Geburt und die Namensgebung in zwei durch eine Tür miteinander verbundenen Räumen. Die tragenden Wände, die die Schauöffnungen der beiden Räume einfassen, ragen vom unteren Bildrand auf, doch anders als bei der Kirche in der ‘Himmelfahrt des Evangelisten Johannes’ fällt das abschließende Gesims in flachem Winkel nach rechts hin ab, während die Kanten der Truhe vor dem Bett der Elisabeth nach rechts hin leicht ansteigen. Noch deutlicher wird das hier angewandte Darstellungsprinzip im unteren Wandbild, das den Tanz der Salome auf dem Festmahl des Herodes und die Präsentation des abgeschlagenen Hauptes des Täufers darstellt. Das Gastmahl findet in einer zweiseitig geöffneten Loggia statt, die links von einem quadratischen Turm flankiert wird, in dessen Untergeschoss sich das Gefängnis des Johannes befindet. Rechts von der Loggia schließt sich ein tonnengewölbter Raum an, in dem die Herodias thront, der Salome das Haupt des Johannes überbringt. Das Traufgesims der Loggia, das sich über dem Anbau rechts fortsetzt, fällt nach rechts hin leicht ab, während die Verkürzung der von einem flachen Giebel besetzten Schmalseite deutlich stärker ist. Die Ecksäule der Loggia ragt vom unteren Bildrand auf. Der Ansatz der Pilaster, die den rechten Nebenraum einfassen, ist durch die Gewänder der Salome und der Herodias verdeckt. Neben der Ecksäule der Loggia ist ein kleines Stück der roten Schwelle zu sehen, deren Linie nach rechts hin ansteigt, genauso wie die beiden Stufen des Podestes, auf dem der Tisch vor Herodes und seinen Gästen steht. Anders als in der Geburtsszene wurde die Übereck-Darstellung hier konsequent durchgeführt. Gebäudeabbildungen dieses Typs sind schon der Arena-Kapelle zu finden, im Haus des Abendmahls und noch deutlicher in dem Saalbau, in dem

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sich die Ausgießung des hl. Geistes ereignet. Hier weist die verkürzte Schmalseite nach rechts, während der Tempel in der unmittelbar darüber dargestellten Vertreibung der Händler so verkürzt ist, dass er von links gesehen erscheint. Aus diesem Nebeneinander verschiedener Ansichten ist zu schließen, dass Giotto die Bilder jeweils isoliert konzipierte und nicht an einen übergreifenden gemeinsamen Blickpunkt dachte, wie er es bei der Gestaltung der Chorwand tat. Wenn in der Peruzzi-Kapelle die beiden unteren Bildfelder der rechten und alle drei Bildfelder der linken Wand in gleicher Weise ausgerichtet sind, darf man von einer ganz bewussten Gesamtplanung ausgehen. Das Abbildungsschema der Bardi-Kapelle basierte auf der frontalen, bildparallelen Darstellung der Gebäude, die bei der Betrachtung aus dem direkten Gegenüber die schräg auf die Rückwand zulaufenden Innenseiten der Seitenwände zeigen. Wie oben erläutert wurde, wird mit der unterschiedlichen Länge dieser verkürzten Seiten zwar eine Verschiebung des Blickpunktes in Richtung auf den Kapelleneingang erreicht, beim Blick von außen bleibt es jedoch ein Widerspruch, dass beide Innenseiten der gebauten Räume zu sehen sind. Diesen Widerspruch hat Giotto in der Peruzzi-Kapelle ausgeräumt, in den Darstellungen der Evangelistenseite noch experimentierend, konsequent und mit Erfolg in den Bildern der Täuferlegende. Dem Betrachter, der in einigem Abstand vor der Kapelle steht, bietet sich ein widerspruchsfreier Einblick in die dargestellten Räume (Abb. 42). Die Konsole, in der die linke Wand des Zimmers der Namensgebung endet, scheint geradezu in den Kapellenraum hineinzuragen. Der Turm neben der Loggia des Herodes erscheint in mächtiger Plastizität. Die absinkende Trauflinie der Loggia verstärkt in der Schrägsicht den Eindruck einer Tiefenführung der Langseite des Gebäudes. Der Betrachter, der die Kapelle betritt, nachdem er schon von außen her einen „Einblick“ in die Bildwelt gewonnen hat, wird beim Wechsel zur Betrachtung der Bilder aus dem direkten Gegenüber keine Brüche entdecken können. Die Schrägstellung der Gebäude in den Täuferszenen betont nun Körperlichkeit und Raum. Der Weg zu der Lösung, die Giotto in der Peruzzi-Kapelle gefunden hat, war lang und schwierig. Es war notwendig, sich von der als selbstverständlich empfundenen Annahme zu befreien, dass Bilder immer aus dem direkten Gegenüber betrachtet werden müssen und dementsprechend zu entwerfen sind. Ein erster Schritt war die Erfahrung, die Giotto bei der Konzeption der Chorwand der Arena-Kapelle machte, dass es ein Regulativ der übergeordneten Einheit gibt, der sich die Verkürzungen der einander gegenüberliegenden Kapelleneinblicke zu fügen haben. Der Blick auf die Chorwand nahm diese als ein Ganzes jedoch immer noch im direkten Gegenüber wahr. Ein weiterer Schritt war es, das flache Bild in seiner materiellen Beschaffenheit als Sehobjekt zu begreifen, das wie jedes andere Objekt von unterschiedlichen Blickpunkten aus betrachtet werden konnte. Diese Auffassung basierte, wie noch einmal kurz erinnert werden soll, auf der elementaren These der neuen Optik, dass von jedem Objekt in alle Richtungen Species ausgesandt werden, die genauer betrachtet als ein Bündel von Strahlen aufzufassen sind, die von jedem Punkt des Objektes ausgehen.11 Dieses Chaos von Strahlen ordnet sich für den Betrachter dadurch, dass von allen von einem Punkt des Objektes ausgehenden Strahlen 11

Vgl. oben S. 23 f. Das schematische Bild, das sich so ergibt, deutete Ghiberti in Marginalzeichnungen seines dritten Kommentars an; vgl. Ghiberti / Bartoli 1998, Tafel 1 und 2.

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42 Florenz, S. Croce, Blick in die Bardi-Kapelle (links) und in die Peruzzi-Kapelle (rechts)

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nur diejenigen wahrgenommen werden, die senkrecht auf das kugelförmige Auge treffen, so dass sich die von allen Punkten der Objektoberfläche ausgehenden Strahlen in einem Punkt im Zentrum des Auges treffen, sich also zu einer Pyramide oder einem Kegel formen, deren Basis das Objekt ist. Nicht nur von dem Objekt als Ganzem, sondern von jeder Teilfläche aus kann sich eine Sehpyramide bilden und theoretisch kann jeder Punkt im Umfeld des Objektes, sofern er nur von den Strahlen erreicht werden kann, zur Spitze einer Sehpyramide werden, die im Auge des Betrachters liegt.12 Die durch die Sehpyramide übermittelten Daten ermöglichen es ihm, Form und Farbe, Größe und Distanz und die anderen intentiones des Gegenstandes zu erkennen. Zu ihnen gehört auch die Lage (situs), die stets in Relation zum Betrachter erfasst wird. Alhacen unterscheidet in seiner Untersuchung zwischen direkter und schräger Lage und er schließt diesen Abschnitt mit dem Hinweis, dass die früher erworbene Kenntnis und das Erinnerungsvermögen beim Erkennen der Gegenstände in ihrer zufälligen Lage eine entscheidende Rolle spielt.13 Witelo folgte Alhacen in der Behandlung der Lage, doch er fügte aus der ‘Optik’ des Euklid die Theoreme über die Verkürzung der in die Tiefe führenden Linien und Flächen ein, die wie erwähnt für Maler bei der Wiedergabe von Bauten und Innenräume von entscheidender Bedeutung waren.14 Lage und Form der Objekte werden so miteinander verknüpft, was dem besonderen Interesse der Künstler entgegenkam, jede Art der Tiefenerstreckung im Bild sichtbar zu machen. Für die Lagebeziehung zwischen einem Gegenstand als Basis der Sehpyramide und deren Spitze, dem Augenpunkt, gibt es rein theoretisch unbegrenzt viele Möglichkeiten. Für die Praxis der Künstler galt das allerdings nicht. Einhundert Jahre nach Giotto war Leon Battista Alberti der Meinung, dass es für die Wiedergabe eines Objektes jeweils einen optimalen Blickpunkt gebe. Das „geben die Maler dann zu erkennen, wenn sie von dem, was sie malen, zurücktreten und einen gewissen Abstand nehmen; dabei suchen sie eben, unter der Führung der Natur, die Spitze der Pyramide, von wo aus alles – wie sie dann merken – richtiger wahrgenommen wird.“15 Für ein Bild lag dieser optimale Blickpunkt im direkten Gegenüber. Diese Regel galt grundsätzlich schon für die Zeit um 1300, doch Giotto hat sich in den Kapellendekorationen in S. Croce von dieser Forderung gelöst, in der Bardi-Kapelle zunächst zurückhaltend und mit einer Priorisierung des Blickpunktes in der Kapelle, in der Peruzzi-Kapelle dann mit gleichberechtigten Blickpunkten, die mit dem Betrachter, der sich der Kapelle nähert und sie schließlich betritt, 12

Vgl. Alberti / Bätschmann 2000, S. 214 f. (De pictura I,12): „Einzelne Flächen erfreuen sich, wie gezeigt, je ihrer eigenen Pyramide, die mit den Farben und Lichtern der betreffenden Fläche vollgestopft ist. Da aber Körper von [verschiedenen] Flächen bedeckt sind, verursachen die Quantitäten, die an den Körpern sichtbar werden, insgesamt zwar eine einzige Pyramide; diese trägt aber so viele kleine Pyramiden in sich, wie eben Flächen – innerhalb des einen Blickfelds – mit Strahlen erfasst werden. „(Singulae quidem superficies, ut docuimus, propria pyramide suis coloribus et luminibus referta gaudent. Quod cum ex superficiebus corpora integantur, totae corporum prospectae quantitates unicam pyramidem referent tot minutis pyramidibus gravidam quot eo prospectu superficies radiis comprehendantur.) 13 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 139–156 (II.3,94–120). 14 Witelo / Kelso 2003, S. 124–144 (IV,33–44). Witelos Propositionen 36–43 entsprechen den Theoremen 11– 18 in der Optik Euklids. 15 Alberti / Bätschmann (2000), S. 215 (De pictura, I, 12).

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sozusagen mitwandern, was in der Wirkung auf eine Verschränkung des Bildraumes und des Kapellenraumes hinausläuft. Damit war Giotto seiner Zeit voraus. Wie man in S. Croce sehen kann, hat Taddeo Gaddi in der Baroncelli-Kapelle ähnliches versucht, doch Maso di Banco kehrte schon wenige Jahre später mit seinen Fresken in der SilvesterKapelle zur geometrisch klareren Form der Darstellung in oppositio, im einfachen Gegenüber, zurück.

9. Philosophische und künstlerische Raumkonzepte 9. Philosophische und künstlerische Raumkonzepte

„Giotto spazioso“: diese 1952 von Roberto Longhi geprägte Formel ist zu einem Topos geworden.1 Longhi bescheinigt Giotto im Hinblick auf die Scheinräume an der Chorwand der Arena-Kapelle „piena coscienza della prospettiva“ und sieht in ihm den Protagonisten der Quadratura-Malerei. Was sich in der älteren Giotto-Literatur, etwa bei Rintelen,2schon abzeichnete und, wie eingangs angedeutet, durch Panofskys PerspektivAufsatz von 1927 ein scheinbar überzeugendes Fundament erhielt, wurde zu einer Gewissheit, die nicht weiter hinterfragt zu werden brauchte: Die „rappresentazione dello spazio“, die illusionistische Raumdarstellung, wurde als eine der wesentlichen Errungenschaften Giottos angesehen.3 Es sollte allerdings zu denken geben, dass der uns heute so selbstverständliche Begriff des Raumes in der kunsthistorischen Literatur erst im 19. Jahrhundert üblich wurde.4 Zu einer zentralen Kategorie wurde der Raumbegriff bei Riegl, der die Entwicklung vom Haptischen zum Optischen mit der Raumauffassung verband. Die spätantike Kunst charakterisiert er: „der Raum hat sich emanzipiert (zum Unterschied gegenüber der grundsätzlich raumfeindlichen Antike), aber er wird zu rhythmischen Intervallen geformt (gegenüber der die Formlosigkeit des unendlichen Tiefenraumes grundsätzlich betonenden neueren Kunst)“. Im Hinblick auf die bildende Kunst des 15. Jahrhunderts spricht er von der „entschiedenen Emanzipation des freien Raumes“.5 Mit diesen Formulierungen wird der Raum zu einem das „Kunstwollen“ bestimmenden Subjekt. Die von Riegl intendierte Gleichwertigkeit kunstgeschichtlicher Stilphasen ist mit dem Begriff der Emanzipation des Raumes kaum vereinbar.

1

Longhi 1952, S. 18–24. Nach Rintelen 1923, S. 58, hatte „Das freie Spiel der Giottoschen Kompositionen […] seine künstlerische Voraussetzung in der Lebendigkeit der Raumanschauung des Malers“. 3 Vgl. beispielsweise Luciano Bellosi, La rappresentazione dello spazio. In: Storia dell’arte italiana, parte prima: Materiali e problemi, vol. quarto: Ricerche spaziali e technologie, Turin 1980, S. 6–42; ders.: Un’ampia indagine quantitativa su un virtuosismo giottesco nella raffigurazione dell’architettura … In: Giotto e il Trecento, Saggi, hrsg. von Alessandro Tomei, Mailand 2009, S. 379–389; oder ebendort Gandolfo / Ghione 2009. 4 Hans Jantzen: Über den kunstgeschichtlichen Raumbegriff. Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Abteilung, Jg. 1938, Heft 5; Wolfgang Kemp, Artikel „Raum“. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hrsg. von Ulrich Pfisterer, Stuttgart 2003, S. 295 f. Einen guten Überblick über die Forschungsgeschichte gibt Cornelia Logemann: Heilige Ordnungen. Die Bild-Räume der ‘Vie de Saint Denis’ (1317) und die französische Buchmalerei des 14. Jahrhunderts, Köln u. a. 2009, S. 13–36. 5 Alois Riegl: Spätrömische Kunstindustrie, 2. Aufl., Wien 1927, S. 398 und 249. 2

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Der teleologische Aspekt des kunstgeschichtlichen Raumbegriffs wurde von Panofsky durch das von ihm in die kunsthistorische Diskussion eingeführte Begriffspaar „Aggregatraum“ und „Systemraum“ entschieden gestärkt. Wesentliche Anregungen dürfte Panofsky dabei von Ernst Cassirer erhalten haben, der schon in seinem Werk über das ‘Erkenntnisproblem’ den Wandel des Raumbegriffs in der Naturphilosophie der Renaissance analysiert hatte.6 In seiner 1926 abgeschlossenen und Aby Warburg gewidmeten Studie ‘Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance’ geht Cassirer ausführlich darauf ein, dass Philosophie und Mathematik der Renaissance „die Vorbedingungen für einen neuen Raum-Begriff “ geschaffen haben und so ermöglichten, „den Aggregat-Raum durch den System-Raum, den Raum als Substrat durch den Raum als Funktion zu ersetzen“.7 Der Begriff des Systemraums war in Mathematik und Physik bekannt und gebräuchlich. „Aggregatraum“ scheint jedoch eine Neuprägung zu sein. Entscheidende Anregungen dürften dabei von Kant ausgegangen sein. Kant kennzeichnete in der ‘Kritik der reinen Vernunft’ die Zeit als Reihe. „Was aber den Raum betrifft, so ist in ihm an sich selbst kein Unterschied des Progressus vom Regressus, weil er ein Aggregat, aber keine Reihe ausmacht, indem seine Teile insgesamt zugleich sind.“8 Zudem findet sich bei Kant vielfach das Begriffspaar „Aggregat“ und „System“, wobei der erste Begriff das zufällige, ungeordnete Beisammensein einzelner Elemente meint, System hingegen ein nach notwendigen Gesetzen zusammengefügtes Ganzes, für das Kant auch den Begriff der „Architektonik“ verwendet.9 Zwischen Aggregat und System besteht mithin ein erheblicher qualitativer Unterschied, der in Panofskys Begriffspaar Aggregatraum und Systemraum mitschwingt und den letzteren als Entwicklungsstufe höheren Ranges erscheinen lässt.10 6

Cassirer 1991, Bd. 1, S. 257–267. Der erste Band des Werkes erschien erstmals 1907. Vgl. auch Cassirer 1994, S. 183–201. 7 Cassirer 1994, S. 191 f. Cassirer verweist in diesem Zusammenhang in einer Anmerkung auf den Vortrag von Panofsky, der damals noch nicht gedruckt vorlag: „Wie diese Entdeckung sich nicht nur in der Mathematik und in der Kosmologie, sondern auch in der Bildenden Kunst und in der Kunsttheorie der Renaissance vollzieht, ja wie die Theorie der Perspektive hier die Resultate der modernen Mathematik und Kosmologie antizipiert, hat Panofsky soeben gezeigt: vgl. sein Vortrag: ‘Die Perspektive als symbolische Form’“. Dass Cassirer hier die Begriffe Aggregat- und Systemraum wie selbstverständlich verwendet, ohne konkreten Verweis auf einen Urheber der Begriffsprägung, kann man als Indiz dafür deuten, dass das Begriffspaar letztlich auf ihn zurückgeht. 8 Kant 1956, S. 442 (Kritik der reinen Vernunft, A 412). 9 Kant 1956, S. 607 (Kritik der reinen Vernunft , A 645): „Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhangendes System wird.“ Oder an anderer Stelle: „Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d. i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Scientifischen.“ (ebd. S. 748 (A 832). 10 Panofsky hatte, als er diesen Entwicklungssprung postulierte, den Blick ausschließlich auf den geometrischen Raum gerichtet und die große Masse der seither erschienenen Literatur zur

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Alle kunsthistorischen Untersuchungen zur Raumdarstellung in Mittelalter und Renaissance stehen vor dem Problem, dass die heute geläufigen und selbstverständlichen Vorstellungen vom Raum auf dem seit dem späten 16. Jahrhundert schrittweise vollzogenen tiefgreifenden Wandel des Raumbegriffes basieren. Philosophen wie Telesio, Patrizzi und Gassendi haben der Vorstellung des unendlichen, homogenen und isotropen Raumes den Weg gebahnt.11 Das Konzept des mathematischen Raumes, der durch ein Koordinatensystem zu erschließen ist, wurde durch Descartes und seine Entwicklung der analytischen Geometrie etabliert.12 Newton postulierte den absoluten Raum als physikalische Realität. Stets gleich und unbeweglich ist er für unsere Sinne nicht wahrnehmbar. Wir können nur seine durch Maße erschließbaren Teile erfassen, die Newton als relative Räume bezeichnet.13 Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein hat man in den Naturwissenschaften am Begriff des absoluten Raumes festgehalten und die mit ihm verbundenen Vorstellungen sind so sehr zum „Normalwissen“ geworden, dass sie auch heute noch mitschwingen, wenn über Raum gesprochen wird, obwohl doch Kant in seiner ‘Kritik der reinen Vernunft’ zu bedenken gegeben hat, dass der Raum keine reale Existenz habe, sondern eine a priori gegebene Form der Anschauung sei.14 Wenn Kant allerdings sagt: „Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden“15, so ist daraus auf eine Priorität des Raumes vor den Gegenständen zu schließen, die nicht nur transzendentalphilosophisch behauptet werden kann, sondern auch für jene gilt, die vom Konzept des absoluten Raumes ausgehen. Dass diese Vorstellung von der Priorität des Raumes, die heute trotz aller von Naturwissenschaft und Philosophie gesäten Zweifel ihren festen Platz in unserem „Normalwissen“ hat, nicht unbesehen auf das Mittelalter übertragen werden kann, sollte eigentlich außer Frage stehen. Die neuere Geschichte des Raumbegriffs lehrt, dass das, was als Raum wahrgenommen wird, ein geistiges Konstrukt ist, das Regeln folgt, die offensichtGeschichte der Perspektive und „Raumdarstellung“ ist ihm darin gefolgt. Dass es Alternativen zu dieser Betrachtungsweise gibt, hat Wolfgang Kemp 1996 vor Augen geführt, der die „Räume der Maler“ als Konzepte des Erzählraums deutete. Wie Kemp darlegt, wurde in der italienischen Kunst um 1300 und speziell von Giotto ein neues narratives Raumkonzept entwickelt. Über die Voraussetzungen und Hintergründe dieses Wandels sagt Kemp allerdings nichts. 11 Cassirer 1994, S. 183–201; Jammer 1980, S. 91–101; Gosztonyi 1976, Bd. 1, S. 204–218. 12 Gosztonyi 1976, Bd. 1, S. 237–255; Wolfgang Röd: Descartes. Die Genese des cartesianischen Rationalismus, München 1995, S. 72–75. 13 Isaak Newton: Philosophiae naturalis principia mathemathica, London 1687, S. 5: „Spatium absolutum natura sua absq; relatione ad externum quodvis semper manet similare & immobile; relativum est spatii hujus mensura seu dimensio quælibet mobilis, quæ a sensibus nostris per situm suum ad corpora definitur, & a vulgo pro spatio immobili usurpatur“; vgl. Gosztonyi 1976, Bd. 1, S. 329–354. 14 Kant 1956, S. 70 (Kritik der reinen Vernunft , A26): „Der Raum ist nichts anderes, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist“; vgl.: Gosztonyi 1976, Bd. 1, S. 424–456; Michael Dück: Der Raum und seine Wahrnehmung, Würzburg 2001; Patrick Unruh: Transzendentale Ästhetik des Raumes. Zu Immanuel Kants Raumkonzeption, Würzburg 2007. 15 Kant 1956, S. 67 (Kritik der reinen Vernunft, A24).

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lich nicht anthropologisch festgelegt sind, sondern sich im Laufe der Zeiten ändern können. Hinter diesem Wandel steht ein höchst komplexes Bündel von Ursachen und Gründen, das hier nicht zu entwirren ist. Dass die Kunst als Medium bildlicher Darstellung an dieser Entwicklung beteiligt ist, darf man als sicher annehmen, doch die kunsthistorische Entwicklung ist kein willkürlicher, autonomer oder autopoietischer Prozess. Ein Kunstwerk ist eine Antwort – vielleicht nur eine von verschiedenen möglichen Antworten – auf Fragen und Aufgaben, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gestellt haben. Bevor etwas dargestellt werden kann, muss es gedacht sein. Auf Grund dieser Arbeitshypothese wäre bei jedem formalen, stilistischen Wandel nach einem möglicherweise dahinter stehenden neuen, geistigen Konzept zu fragen. Das wären im Fall des hier untersuchten Wandels der Malerei um 1300 die damals in Italien kursierenden Raumbegriffe. Die „Raumlosigkeit“ der vor diesem Wandel geschaffenen Bilder kann nur bei einer unverbesserlich teleologischen Betrachtungsweise der Unfähigkeit der Künstler zugerechnet werden. Die Künstler des Duecento haben nicht so gemalt, weil sie es noch nicht besser konnten, sondern weil die Aufgabe, Raum darzustellen, außerhalb des Problemhorizonts ihrer Zeit und ihrer Zeitgenossen lag. In den optischen Traktaten werden nur remotio oder distantia und situs, die sich auf die Lage relativ zum Betrachter und damit auf die räumliche Anordnung beziehen unter den intentiones visibiles aufgeführt, nicht jedoch der Begriff des Raumes (spatium).16 Das Fehlen des Raumbegriffs in den Traktaten erklärt sich aus dem mittelalterlichen Denken. In der scholastischen Philosophie wurde das Problem des Raumes auf den in der Antike vorgezeichneten Bahnen erörtert. Aus dem ‘Timaios’, dem einzigen Text Platons, den man im Mittelalter kannte, war dessen Begriff x5ra bekannt, der von Calcidius mit locus übersetzt wurde. Er bedeutet den Raum, der etwas umfasst, oder den Platz, den etwas einnimmt. Platon umschreibt x5ra metaphorisch als „Amme alles Werdens“. Er bezeichnet x5ra als drittes Genus zwischen dem Seienden, dem unveränderlichen Sein der Ideen einerseits und dem Werden, dem beständigen Wandel der fain3mena andererseits. Dieses dritte Genus ist Wandel und Untergang nicht unterworfen. Den Sinnen ist es aber unzugänglich, nur durch unechten Schluss erfassbar.17 Nach dieser Vorstellung tritt x5ra also nicht als Raum in unserem heutigen Sinne in Erscheinung, sondern ermöglicht nur das Eintreten der Dinge in die Erscheinungswelt und damit deren Räumlichkeit. Aristoteles, der sich in seiner Physikvorlesung eingehend mit dem Problem des Raumes befasste, war der Meinung, dass Platon Raum und Materie gleichsetze. Er selbst verwendet durchweg den Begriff t3pow, der wörtlich mit „Ort“, lateinisch locus, zu übersetzen ist.18 In der Kategorienlehre findet sich dieser Begriff als Antwort auf die Frage „wo“.19 In seiner Physikvorlesung behandelt Aristoteles ihn zwischen den Problemen des Unendlichen und des Leeren. Der Ort umfasst den Gegenstand, ist so groß wie dieser, aber 16

Vgl. oben S. 25. Platon: Timaios 48e bis 52d; zum Problem des Raumbegriffs bei Platon vgl. Kyung Jik Lee: Der Begriff des Raumes im Timaios, Diss. Konstanz 1999, bes. S. 104–125. 18 Vgl. Hans Günter Zekl: Topos, Die aristotelische Lehre vom Raum – eine Interpretation von „Physik“, IV 1– 5, Hamburg 1990. 19 Aristoteles, Kategorien IV (1b-2a). 17

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verschieden von ihm. So ist er zu definieren als „die erste, unbewegliche Grenze des Umfassenden“.20 Ort ist nicht Zwischenraum (di/sthma), sondern so etwas wie ein Gefäß. Die Erstreckungen des Ortes: oben – unten, vorne – hinten, rechts – links, die nicht als Raumkoordinaten verstanden werden dürfen, entsprechen den natürlichen Bewegungen der Körper. Wenn man den aristotelischen Topos-Begriff weiterdenkt, kann man den Raum gegenüber dem Ort als Gesamtsumme sämtlicher von Körpern eingenommener Orte verstehen.21 Der Raum wird durch die von Körpern eingenommenen Orte konstituiert und reicht nicht über sie hinaus. Die Frage nach dem Jenseits der Orte wird nicht gestellt und von einem leeren Raum oder Vakuum zu reden, macht keinen Sinn.22 Der kosmische Raum, als Totalität aller Körper verstanden, ist nicht das Ausfüllende, ist kein Zwischenraum, sondern das, was ausgefüllt wird. Die in der Antike auch von Atomisten und Stoikern intensiv diskutierte Frage nach dem Raum im Kontext kosmologischer Theorien wurde von den christlichen Philosophen in ihrer Auseinandersetzung mit dem biblischen Schöpfungsbericht aufgegriffen. Nach Augustinus sind Raum und Zeit mit der Welt geschaffen worden und können deswegen nicht als unendlich gelten.23 Die in der neuplatonischen Tradition angelegte Gleichsetzung von Licht und Raum wurde in der christlichen Lichtmetaphysik weiterentwickelt und von Grosseteste mit der Naturphilosophie verbunden.24 Diese Spekulationen waren im Hinblick auf den Raumbegriff nur ein Nebengleis. Mit der Rezeption der Werke des Aristoteles rückte im 13. Jahrhundert dessen Konzept und Definition des t3pow in den Mittelpunkt der Überlegungen. Ein Ansatzpunkt der scholastischen Raumdefinition waren die Fragen nach dem Ort Gottes und der Engel, die bei der Kommentierung der Sentenzen des Petrus Lombardus abgehandelt wurden, mit dem Ergebnis, dass Gott über aller Räumlichkeit steht und auch die Engel als spirituelle Existenzen keinen „Ort“ haben, der nur den corporalia zukommt.25 Diese Fragen wie auch die Kommentare zum biblischen Schöpfungsbericht führten stets auch auf die Kosmologie, auf die Frage, ob es Raum jenseits der von Gott geschaffenen Welt gibt und die Frage der Möglichkeit eines leeren Raumes, des Vakuums.26 Bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin werden diese Fragen stets mit konkretem Bezug auf Aristoteles erörtert, vor allem im Rückgriff auf dessen Physikvorlesung, die von Albertus wie von Thomas ausführlich 20

„t3 toQ peri0xontow p0raw Bk2nèton prñton“: Aristoteles, Physik, 212a20. Gosztonyi 1976, S. 92 f. 22 Vgl. Albert Einstein im Vorwort zu Jammer 1980, S. XV. 23 Augustinus: De civitate Dei, XI,5 und 6. 24 Bäumker 1908, S. 357–432; Hedwig 1980, passim; Ludwig Baur: Das Licht in der Naturphilosophie des Robert Grosseteste. In: Baumgartner, Matthias (Hrsg.): Abhandlungen aus dem Gebiete der Philosophie und ihrer Geschichte. Festgabe  … Georg Freiherrn von Hertling gewidmet …, Freiburg i. Br. 1913, S. 41–55. 25 Petrus Lombardus: Sententiae in IV libris distinctae, Bd. I. 2, Grottaferrata 1971, S. 263–275 (Distinctio I, 37); vgl. in Bonaventura, Opera Omnia, Bd. 1, Ad Claras Aquas, 1882, S. 632–636. Albertus Magnus, Opera omnia, ed. Borgnet, Bd. 26, S. 226–276; zur Raumlehre des Albertus Magnus vgl. Hossfeld 1986, S. 1–42; Anzulewicz 1998, S. 249–286. Zur Raumlehre des Thomas von Aquin vgl. Metz 1998, S. 304–313. 26 Zur Kosmologie vgl. Edward Grant: Das physikalische Weltbild des Mittelalters, Zürich / München 1980, bes. S. 106–144. 21

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kommentiert wurde.27 Albertus verstand mit Aristoteles locus zum einen als begrenzten Raum, einem Gefäß vergleichbar (locus ut vas oder receptaculum) und andererseits als einen unbeweglichen Ort, Platz oder Stelle (locus ut locus).28 Thomas von Aquin, der Schüler des Albertus war, definierte in seinem um 1270 verfassten Kommentar zur Physikvorlesung des Aristoteles den locus wie dieser als die unmittelbar umschließende Oberfläche eines Körpers.29 Es gibt weder Raum noch Zeit unabhängig von den Dingen. Die materiellen Körper konstituieren den ihrer Ausdehnung entsprechenden Ort. Zur Frage der Dimensionen des Ortes äußerte sich Aristoteles nicht eindeutig und Thomas ging dieser Frage nicht genauer nach.30 Aristoteles folgend stellte Thomas sehr nachdrücklich heraus, dass locus nicht mit spatium gleichgesetzt werden dürfe. Mit diesem von Thomas im Vergleich zu etwas älteren Autoren recht häufig verwendeten Begriff kommt ein zusätzlicher Aspekt in die Raumdiskussion, der über das Problem des Ortes hinausweist. In den lateinischen Übersetzungen von Platon und Aristoteles ist spatium für x5ra eingesetzt worden.31 Im Physik-Kommentar des Thomas fin27 Albertus Magnus, Physica, pars 1, libri 1–4, hrsg. von Paul Hossfeld, (Opera Omnia Bd. 4,1), Münster 1987; Thomas von Aquin, Thomas de Aquino: Commento alla Fisica di Aristotele e testo integrale di Aristotele, hrsg. und übers. von Battista Mondin, 3 Bde., Bologna 2004–2005. 28 Albertus Magnus, Super I. Sententiarum, distinctio 37, art. VII.6 (Opera omnia, hrsg. von Auguste Borgnet, Bd. 26, Paris 1893, S. 237): „Cum duplex sit locus, ut dicit Philosophus, scilicet locus ut vas, et locus ut locus. Locus ut vas, sicut est navis locus nautae. Locus ut locus, sicut fluvius locus est navigationis nautae.“ Albertus Magnus: Physicorum libri, IV, tract. I, caput III (Opera omnia, hrsg. von Auguste Borgnet, Bd. 3, Paris 1890, S. 244): „Amplius si vere dicatur locus esse receptaculum quoddam corporum, in quo recipitur corpus, quando transfertur de loco in locum“; zur Frage der Beweglichkeit des Ortes ebd., S. 261: „Est autem, sicut diximus, locus transmutabils sicut vas: locus autem qui est sicut terminus, est mobilis: et ideo locus est duplex: est enim locus per se terminus sive superficies immobilis, et ille est locus simplicium corporum sicut elementorum.“ Vgl. Hossfeld 1986, S. 1–42; Anzulewicz 1998, S. 249–286. Die verwirrende und scheinbar widersprüchliche Unterscheidung zwischen einem unbeweglichem und beweglichem Ort hat die Kommentatoren des 13. und 14. Jahrhunderts immer wieder beschäft igt. Ein Weg zur Lösung des Problems war die Unterscheidung zwischen dem locus materialis, der beweglich ist („est superficies corporis continentis“), und dem unbeweglichen locus formalis, der durch seine Relationen zu festen Punkten des Himmels und der Welt bestimmt ist („distantia vel propinquitas et partes mundi quiescentes“), so die Erklärung bei Johannes Buridan: Subtilissime questiones super octo phisicorum libros Aristotelis, Paris 1509, fol. LXIX; dazu: Edward Grant: The medieval doctrine of place: some fundamental Problems and solutions. In: Studi sul XIV secolo in memoria di Anneliese Maier (Storia e letteratura, Bd. 151), Rom 1981, S. 57–79. 29 Thomas von Aquin, In octo libros de physico auditu sive physicorum Aristotelis commentaria, hrsg. von Angelo M. Pirotta, Neapel 1953, lib. 4 l. 4 n. 10: „locus est terminus continentis“. Zum Raumbegriff des Thomas von Aquin vgl. Gosztonyi 1976, Bd. 1, S. 168–192; Metz 1998 passim. 30 Zur Dimensionalität des Raumes bei Aristoteles vgl. Gosztonyi, Bd. 1, S. 93–95. 31 Das lateinische Nomen spatium, aus der indogerm. Wurzel *spe(i) – (sich ausdehnen) abgeleitet, meint in seiner Grundbedeutung Raum als Ausdehnung nach Länge und Breite, insbesondere den bestimmten, zwischen zwei Gegenständen gedachten Raum als Zwischenraum bzw. Entfernung, oder Weite als Umfang, Größe oder Länge; sodann die Strecke, die jemand zu durchlaufen hat; auf die Zeit übertragen bezeichnet es Zeitabschnitt, Zeitraum, Zeit überhaupt, auch Dauer, Länge der Zeit, sowie die für eine Tätigkeit bestimmte Zeit (nach: Karl Ernst Georges, Ausführli-

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det man den Begriff spatium besonders häufig in den Abschnitten, in denen er die Lehre vom Kontinuum, von der Bewegung, Veränderung und anderen Prozessverläufen behandelt, wenn es um Strecken- und Zeitabschnitte geht. Ein anderer Kontext ist die Kosmologie, in der einzelne Sphären als spatium bezeichnet werden, beispielsweise der Luftraum.32 Dass es vor der Schöpfung oder jenseits der geschaffenen Welt „Räume“, ein spatium infinitum geben könne, wird entschieden negiert.33 Thomas’ Sprachgebrauch zeigt aber auch, dass spatium ein nicht näher bestimmbarer Bereich ist, der frei ist, Körper aufzunehmen, so dass in ihm Orte gebildet werden können. Wenn locus von der dem umschlossenen Körper gesetzten Grenze her gedacht wird, geht die Vorstellung vom spatium vom freien Volumen, vom Zwischenraum aus, der von einem Gefäß umfasst werden kann oder zwischen den Körpern und ihren Orten liegt, womit er in beiden Fällen bestimmt und messbar ist.34 In diesem Sinne gibt es spatium nur dort, wo es Körper gibt. Es ist danach also nicht zuerst der Raum da, der mit Dingen angefüllt werden kann, sondern die Dinge, die corpora sensibilia, konstituieren Orte und mittels ihrer Lage und Ordnung schaffen diese den Raum, der als topologisch zu charakterisieren ist.35 Dieser topologische Raum ist nicht an sich wahrnehmbar, sondern nur aus dem Ordnungsgefüge der Orte erschließbar.36 Die Vorstellung eines a priori existenten, unbestimmten ches Lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Nachdruck der 8. Aufl., Basel / Stuttgart 1967, Bd. 2, Sp. 2745 f.). 32 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I, q. 68 a. 4 co.: „… totum illud spatium quod est ab aquis usque ad orbem lunae …“. 33 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I, q. 46 a. 1 ad 4. „Ad quartum dicendum quod ad rationem vacui non sufficit in quo nihil est, sed requiritur quod sit spatium capax corporis, in quo non sit corpus, ut patet per Aristotelem, in IV Physic. Nos autem dicimus non fuisse locum aut spatium ante mundum.“ 34 Thomas von Aquin: In Physic., lib. 4 l. 6 n. 17: „Et dicit quod quia locus est terminus, propter hoc locus videtur esse sicut quaedam superficies, et sicut quoddam vas continens: non autem sicut spatium vasis continentis.“ 35 Metz 1998, S. 306. Den grundsätzlichen Wandel in der Auffassung des Ortes, der kunstgeschichtlich gesehen mit der Erfi ndung der konstruierten Perspektive in Zusammenhang steht, dokumentiert ein Satz von Pomponio Gaurico aus dem Jahr 1504: „Omne corpus, quocunque statu constiterit, in aliquo quidem necesse est esse loco. Hoc quum ita sit, quod prius erat prius quoque et hic nobis considerandum. Atque locus prior sit necesse est quam corpus locatum.“ (Pomponio Gaurico: De sculptura, hrsg. und übers. von Paolo Cutolo, Neapel 1999, S. 202). 36 In seinem Vorwort zu Jammer 1980, S. XIV f. schrieb Albert Einstein: „Was nun den RaumBegriff angeht, so scheint es, daß ihm der Begriff ‘Ort’ vorangegangen ist als der psychologisch einfachere. ‘Ort’ ist zunächst meist ein mit einem Namen bezeichneter (kleiner) Teil der Erdoberfläche. Das Ding, dessen ‘Ort’ ausgesagt wird, ist ein ‘körperliches Objekt’. Der ‘Ort’ erweist sich bei simpler Analyse ebenfalls als eine Gruppe körperlicher Objekte. Hat das Wort ‘Ort’ unabhängig davon einen Sinn (bzw. kann man ihm einen Sinn geben)? Wenn man hierauf keine Antwort geben kann, wird man so zu der Auffassung geführt, daß ‘Raum’ (bzw. ‘Ort’) eine Art Ordnung körperlicher Objekte sei und nichts als eine Art Ordnung körperlicher Objekte. Wenn der Begriff ‘Raum’ in solcher Weise gebildet und beschränkt wird, hat es keinen Sinn vom leeren Raum zu reden.“ Dagegen stellt Einstein das Konzept einer Raum-Schachtel, die eine bestimmte Menge von Objekten aufnimmt. Hier gewinnt der „Begriff ‘Raum’ […] eine vom besonderen körperlichen Objekt losgelöste Bedeutung. Man kann auf diese Weise durch natürliche Erweiterung des

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Raumes, der erst noch durch die Setzung von Orten strukturiert und fassbar wird, ist in den Ausführungen des Aquiners latent vorhanden, kann sich aber in der Scholastik gegen das Konzept des topologischen Raumes noch nicht durchsetzen. Auch Wilhelm von Ockham, der entschiedene Vertreter des Nominalismus, blieb beim Konzept des topologischen Raumes, wie seine bald nach 1320 verfassten naturphilosophischen Schriften belegen.37 In der Naturphilosophie hat man bis in das 16. Jahrhundert hinein am aristotelischen Konzept des Raumes als Ort festgehalten, auch wenn es früh und immer wieder Zweifler gab, unter denen vor allem Nicolaus von Oresme zu nennen ist, der als erster unter den mittelalterlichen Philosophen Aristoteles widersprochen hat und locus als den vom Gegenstand eingenommenen Raum definierte.38 Dieser Raum, dem nur der Status eines spatium imaginatum zugesprochen wird, ist aber gleichwohl als unabhängig von den Körpern existierend zu begreifen. Mit dieser Auffassung stand Oresme in seiner Zeit vereinzelt da. Bis zur Begründung des Konzeptes des absoluten Raumes war es noch ein weiter Weg.39 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der aristotelische Raumbegriff hinter den im 13. Jahrhundert ausgearbeiteten Lehren der Optik steht. Dass die Schlüsselbegriffe locus und spatium nicht unter den visibilia per accidens aufgeführt werden, ist nicht verwunderlich. Der Begriff des Raumes ist eine Abstraktion, die aus der Reflexion über die Seinsweise der Körper oder aus kosmologischen Spekulationen zu gewinnen ist. Die Untersuchung der Wahrnehmung kann die Dinge und ihren Ort als gegeben hinnehmen.40 Bei Witelo heißt es: „Es besteht aber die Wahrnehmung des Ortes des Sehgegenstandes in

‘Schachtel-Raumes’ zu dem Begriff eines selbständigen unbeschränkt ausgedehnten Raumes gelangen, in dem alle körperlichen Objekte enthalten sind. Dann erscheint ein körperliches Objekt, das nicht im Raum gelagert wäre, schlechthin undenkbar.“ Der von Cassirer und Panofsky verwandte Begriff des Aggregatraumes ist eher in Verbindung mit Einsteins Konzept des Raumes als „Behälter“ oder „Container“ zu bringen als mit dem Konzept des topologischen Raumes. Das mit diesen beiden Begriffen bezeichnete Schema der Entwicklung der Raumdarstellung blendet die vorausgehende Phase aus, in der die Vorstellung vom leeren Raum noch nicht ausgebildet war. 37 Wilhelm von Ockham: Guillelmi de Ockham Opera philosophica et theologica, hrsg, von Gedeon Gál; Philotheus Böhner, St. Bonaventure, NY; Bd. 1,4 und 1,5: Expositio in libros physicorum Aristotelis (1985); Bd. 1,6: Brevis summa libri physicorum summula philosophiae naturalis et Quaestiones in libros physicorum Aristotelis (1984); Gosztonyi (1976), Bd. 1, S. 174–177; Herman Shapiro: Motion Time and Place according to William Ockham (Franciscan Institute Publications, Philosophy Series 13), St. Bonaventure N. Y. 1957, S. 112–131; André Goddou: The Physics of William of Ockham (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. 16), Leiden / Köln 1984, S. 112–126. 38 Gosztonyi 1976, Bd. 1, S. 193 f.; Stefan Kirschner: Nicolaus Oresmes Kommentar zur Physik des Aristoteles. Kommentar mit Edition der Quaestionen zu Buch 3 und 4 der aristotelischen Physik sowie von vier Quaestionen zu Buch 5. Stuttgart 1997; Stefan Kirschner: Oresme’s Concepts of Place, Space, and Time in His Commentary on Aristotle’s Physics,“ Oriens – Occidens. Sciences, Mathématiques et Philosophie de l’Antiquité à l’Âge classique, Bd. 3, Paris 2000, S. 145–179. 39 Edward Grant: Much ado about Nothing. Theories of Space and Vacuum from the Middle Ages to the Scientific Revolution, Cambridge 1981. 40 Locus als räumlicher Ort wird in keinem der Traktate definiert und spatium überwiegend als Streckenabschnitt, zuweilen auch als Zwischenraum im Sinne von Abstand verstanden.

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der Wahrnehmung von Licht und Farbe des Gegenstandes und seiner Entfernung und des Teils des Universum, in der sich der Sehgegenstand in Bezug auf den Betrachter befindet, und in der Wahrnehmung der Größe der Entfernung, wenn dies alles zugleich und mittels des geistigen Erkenntnisvermögens wahrgenommen wird.“41 Dieser Satz geht unmittelbar auf die Formulierungen Alhacens in seiner Analyse der Wahrnehmung von Entfernung zurück.42 Erst aufgrund der erworbenen Kenntnis und der Überlegung wird die Wahrnehmung verifiziert. Der Ort wird nicht für sich wahrgenommen, sondern in der Relation zum Betrachter und zu seiner Umgebung. Das war schon Aristoteles bewusst, der betonte, dass für uns die Erstreckungsrichtungen eines Ortes von unserer Position abhängig sind, wobei Oben und Unten allerdings naturgegeben sind.43 Von daher ist es konsequent, dass in der Liste der intentiones visibiles nicht der Begriff des Ortes erscheint, sondern situs, Lage. Die Raumwahrnehmung, wie sie in späteren Zeiten verstanden wurde, wird in den Traktaten nicht angesprochen oder untersucht.44 Sie ist eine synthetische Leistung, an der neben der Wahrnehmung der Lage andere intentiones mitwirken, insbesondere Entfernung oder Abstand, Körperhaftigkeit, Größe und Zusammenhang, Unterscheidung oder Getrenntsein.45 Es ist nun zu fragen, ob und wie das in der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts etablierte Konzept des topologischen Raumes in der Malerei um 1300 umgesetzt wurde. Alhacen schrieb im Anschluss an seinen Katalog der 22 intentiones visibiles, dass es weitere Sehgegenstände gebe, die den genannten unterzuordnen oder als Synthese zweier primärer intentiones zu definieren wären. Als Beispiel dafür nennt er „Schrift und Bild, die unter Figur und Ordnung eingeordnet werden“.46 Diese Definition wurde von Bacon übernommen. Auch Witelo schloss sich ihr an, während Pecham pictura durch sculptura ersetzte.47 Figuren und andere Gestaltungselemente wurden damit den Schriftzeichen gleichgestellt, deren Bedeutung an ihrer jeweiligen Form ablesbar ist, während die Anordnung der einzelnen Zeichen auf der Fläche den Sinn des Ganzen konstituiert. Wie die Bedeutung eines Buchstabens völlig unabhängig von der individuellen Handschrift erfassbar ist, wenn nur seine distinktiven Merkmale berücksichtigt wurden, so sind die 41 „Constitit autem comprehensio loci rei vise ex comprehensione lucis et coloris rei, et remotionis rei, et partis universi in qua est res illa visa respectu videntis, et ex comprehensione quantitas remotionis, quando omnia hec simul comprehenduntur per viam cognitionis.“ (Witelo / Kelso 2003, S. 407 f. [IV,14]). 42 Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 126 (Alhacen II.3.70). 43 Aristoteles, Physik IV 208b, S. 15–22. 44 Baeumker 1908, S. 622. 45 Vgl. oben S. 25. 46 „Scriptura et pictura, que collocantur sub figura et ordinatione“ (Alhacen / Smith 2001, Bd. I, S. 211 [II.3.44]). 47 Bacon / Lindberg 1996, S. 10; Pecham / Lindberg 1970, S. 134; bei Witelo, der die Liste der intentiones in den Petitiones zu Beginn des dritten Buches bringt, fehlt der Hinweis auf scriptura und pictura. Dass auch er die beiden gleichsetzt, zeigt sich in der Diskussion der intentio pulchritudo [IV,148]: „Situs quoque facit pulchritudinem in visu, […]. Unde scriptura et pictura omnesque intentiones visibiles ordinate et permutate non apparent pulchre nisi per competentem sibi situm …“ (Witelo / Kelso 2003, S. 577). Alhacen, dem Witelo hier ansonsten genau folgt, spricht an der entsprechenden Stelle nur von scriptura (Alhacen / Smith 2001, Bd. 1 S. 206 [II.3.205]).

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Bildzeichen für eine Figur oder ein Gebäude verständlich, ohne dass auch nur annähernd Wirklichkeitstreue geboten wird. Der oben erläuterte Wandel in der Auffassung vom Status der Bilder, der Wunsch nach fi ktiver Gegenwärtigkeit und affektiver Wirkung der dargestellten Figuren ließ dieses Konzept des „Lesebildes“ hinter sich. Das Problem der Raumdarstellung, das mit dem oben herausgearbeiteten Wandel der Darstellung von Körpern und im Zusammenhang mit Fragen der Wiedergabe von Architektur und Landschaft schon behandelt worden ist, soll im Folgenden im Hinblick auf den Wandel der Bildkonzeption betrachtet werden. Die Typengeschichte der Darbringung Jesu im Tempel war seit dem Beginn einer größeren Verbreitung des Themas im 8. Jahrhundert mit bemerkenswerter Konstanz verlaufen, erst nach 1300 begann sie sich anzureichern und zu diversifizieren.48 Im ikonographischen Grundtypus halten Maria und Simeon das Kind vor oder über einem Altar. Diese einfache Konstellation findet man noch in einem der um 1255 geschaffenen Fenster der Martinskapelle in S. Francesco in Assisi. Als Hintergrundsfolie fi ndet man oft Architekturmotive, die auf den Tempel als Ort des Geschehens verweisen, beispielsweise auf dem Goldaltar von S. Ambrogio in Mailand. In Byzanz wurde das Ziborium über dem Altar zu einem üblichen Motiv, das bald auch von italienischen Künstlern übernommen wurde. Das um 1280 geschaffene Mosaik im Florentiner Baptisterium ist ein in unserem Zusammenhang wichtiges Beispiel für diese Rezeption byzantinischer Vorlagen.49 Maria und Simeon stehen hier unter dem Ziborium, dessen Proportionen allerdings nicht recht zu der mächtigen Gestalt des Greises passen wollen. In dem Mosaik Jacopo Torritis in S. Maria Maggiore in Rom (Abb. 43), das 1296 vollendet war, stehen Maria und Simeon neben dem Altar, hinter dem ein rundes Ziborium aufragt, das von einachsigen Kolonnadenstücken flankiert wird, eine Anordnung, die auf spätantike Vorlagen zurückzuführen ist.50 Das byzantinische Ziboriumsmotiv wird hier in ein römisches Idiom übersetzt. Die Raumwirkung spielt nur eine geringe Rolle. Die Kolonnaden sind nur eine Kassettenbreite tief. Die rechte Seite des Altars wird verkürzt gezeigt, auch ist eine Tiefenverdunklung angedeutet, doch die Zuordnung zu den Figuren bleibt unklar. Das alte Motiv der Überreichung des Kindes an Simeon deutet über den Altar hinweg eine räumliche Brücke an, doch mit Joseph und Hanna als Randfiguren dominiert der Eindruck der Reihung in der Fläche. Nur wenige Jahre später hat Pietro Cavallini die Darbringung im Tempel in den Apsismosaiken von S. Maria in Trastevere in Rom aufgegriffen (Abb. 12).51 Das Bemühen, die Körperlichkeit der Figuren und Bauten sichtbar zu machen, ist bei ihm entschiedener als bei Torriti, doch die Reihung der drei isolierten Architekturblöcke kann die Wirkung eines übergreifenden räumlichen Zusammenhanges nicht vermitteln, auch die vier Figuren stehen in einer Linie. Nur durch die Darstellung von Maria und Simeon, die ausgestreckte Rechte der Muttergottes, auf die der Greis mit der leichten Beugung seiner Figur antwortet, wird eine Beziehung zwischen den beiden

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Dorothy C. Shorr: The Iconographic Development of the Presentation in the Temple. In: The Art Bulletin, Bd. 28, No. 1, 1946, S. 17–32. 49 Schwarz 1997, S. 120. 50 Poeschke 2009, S. 378–382. 51 Tomei 2000, S. 22–51; Poeschke 2009, S. 396–399.

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Jacopo Torriti: Darbringung im Tempel, Rom, S. Maria Maggiore

Figuren geschaffen, die nicht nur narrativ begründet ist, sondern wenigstens ansatzweise räumlichen Zusammenhang konstituiert.52 Giotto hat sich in seiner Darstellung des Themas in der Arena-Kapelle (Abb. 44) darauf beschränkt, den Ort des Geschehens durch das Ziborium zu bezeichnen, das in leichter Schrägstellung wiedergegeben ist. Damit wird nicht nur seine dreidimensionale Erscheinung betont. Der Altarbaldachin wird zum Quellpunkt der räumlichen Wirkung des Bildes. Jede der Figuren ist ihm so eindeutig zugeordnet, dass es leicht wäre, einen Grundriss der Szene zu rekonstruieren. Simeon steht auf dem marmorierten Sockel des Altars, hält leicht vorgebeugt das Kind auf den Armen und blickt auf Maria. Das Kind schaut ihn an und streckt seinen Arm auf Maria weisend aus. Diese wiederum antwortet auf Haltung und Blick des Simeon, mit ihrem Blick und indem sie beide Arme ausstreckt, 52

Diese durch die Gesten konstituierte Verbindung hat in der Typengeschichte des Themas eine lange Tradition.

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44 Giotto: Darbringung im Tempel, Padua, Arena-Kapelle

als wolle sie das Kind wieder nehmen. Joseph und die junge Frau, die eine heute kaum noch erkennbare Kerze trägt, stehen in verifizierbarem Abstand und in unterschiedlichem Grad der Schrägstellung hinter Maria. Auf der rechten Seite steht die Prophetin Hanna, von der es bei Lukas (2,38) heißt, dass sie zur gleichen Stunde hinzukam, und wendet sich mit Blick und Geste dem Geschehen zu. Der Eindruck der Kommunikation zwischen den Figuren ist gegenüber den Darstellungen Torritis, Cavallinis und des Meisters des Baptisterium-Mosaiks ungleich intensiver, weil die Ausrichtung jeder Figur eindeutig bestimmbar ist. Durch die Ausrichtung der Figuren wird nicht nur ihr Handeln im Kontext der dargestellten Szene besser verständlich, es werden auch bestimmbare Beziehungen zwischen den von den einzelnen Figuren und Objekten eingenommenen Orten konstituiert. Es entsteht ein Beziehungsnetz der Orte, in dem das spatium, der

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Zwischenraum, eine eigene Wirkung entfalten kann. Die latent vorhandene Räumlichkeit wird nicht nur in der fingierten Körperlichkeit erfahrbar, sondern auch in dem, was zwischen diesen liegt. Diese spezifische und kunstgeschichtlich gesehen neue Wirkung der Bilder Giottos wird verfehlt, wenn man sie nur als Flächenkomposition analysiert, wie es die Linienschemata von Hetzer und Imdahl suggerieren.53 Eine bemerkenswerte Weiterentwicklung der Paduaner Bilderfindung Giottos ist die Tafel im Isabella Steward Gardner Museum in Boston (Abb. 45), die Teil eines Dossales gewesen ist, das wohl um 1310 in der Werkstatt Giottos oder in seinem Umkreis entstanden ist.54 Hier wird mit der Quadrierung des Bodens, die Giotto in Padua ja noch nicht einsetzte, der Ort jeder Figur genau bestimmbar. Maria und Simeon stehen zu beiden Seiten des über dem Altar errichteten Baldachins, dessen vordere Säulen die beiden überschneiden, und Simeon reicht das Kind, das sich in heft iger Bewegung zu seiner Mutter hinwendet, über den Altar hinweg an Maria. Das Ziborium und der durch das Bodenmuster markierte Altarbereich sind der Handlungsraum des Bildes. Der bedeutendste Schritt der Umbildung des Schauplatzes zu einem architektonischen Raum wurde gegen 1315 in der Darstellung der Darbringung im nördlichen Querarm der Unterkirche von S. Francesco in Assisi vollzogen (Abb. 34).55 Der Zyklus von Bildern der Kindheit Jesu ist in der Ausgestaltung der Bilderzählung ganz vom Vorbild der Arena-Kapelle abhängig, deren Komposition der unbekannte Meister dem anderen Format anpasste und mit einzelnen Figuren ergänzte. In der Architekturdarstellung jedoch geht der Maler, der aus dem engsten Umkreis Giottos stammen muss, deutlich über das Vorbild seines Meisters hinaus. Er zeigt Innenräume, die man sich als gebaute Architektur gut vorstellen kann. Die Voraussetzungen dafür lagen in der Entwicklung der Innenraumdarstellung, zu der der Isaak-Meister in Assisi und Giotto in Padua entscheidende Beiträge geleistet hatten. Diese Entwicklung, die oben unter dem Aspekt von Körperlichkeit und Lage bereits erörtert worden ist, kann auch im Zusammenhang mit der Diskussion um den aristotelischen Ortsbegriff gesehen werden, in der der Begriff „Gefäß“ (BggeYon; vas) eine wichtige Rolle spielt.56 Während die architektonische Kulisse in älteren Bildern nur ein Zeichen ist, das für den Handlungsort steht, wird die Architektur jetzt zu einem receptaculum, das Platz für Figuren und Gegenstände bietet, die jeweils eigene Orte beanspruchen und in ihrer wechselseitigen Beziehung wie in ihrem Verhältnis zu dem „Gefäß“, in dem sie 53

Hetzer 1960, S. 18–40; Imdahl 1980, S. 43–51. Keith Christiansen: Fourteenth-Century Italian Altarpieces. In: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, New Series, Vol. 40, Nr. 1, 1982, S. 14–56, hier: S. 50–56; Dillian Gordon: A Dossal by Giotto and His Workshop: Some Problems of Attribution, Provenance and Patronage. In: The Burlington Magazine, Bd. 131, 1989, S. 524–531; Schwarz 2008, S. 588. 55 Vgl. oben S. 102 f. 56 Aristoteles / Zekl 1987, S. 157 (209b): „Es ist also ‘Ort’ weder Teil noch Beschaffenheit eines jeden [scil. Gegenstandes], sondern ablösbar davon. Somit scheint ‘Ort’ etwas Derartiges zu sein wie ein Gefäß – ‘Gefäß’ meint doch soviel wie ‘Ort, der fortbewegt werden kann’ – ein Gefäß aber ist kein [Stück] des Gegenstandes [der im Gefäß ist].“ Aristoteles / Zekl 1987, S. 171 (212a): „Wie ‘Gefäß’ einen fortbeweglichen Ort [darstellt], so [ist] Ort ein Gefäß, das man nicht wegsetzen kann.“ Im Physik-Kommentar des Thomas von Aquin (In Physic., lib. 4 l. 6 n. 14) heißt es: „Et dicit quod vas et locus in hoc differre videntur, quod vas transmutatur, locus autem non. Unde sicut vas potest dici locus transmutabilis, ita locus potest dici vas immobile.“ 54

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Giotto-Werkstatt: Darbringung im Tempel, Boston, Isabella Steward Gardner Museum

sich befinden, die Zwischenräume, spatia und in der Summe die Ausdehnung des Innenraumes erfahrbar werden lassen. Dass die gemalte Architektur den Innenraum gegen den Außenraum abgrenzt, kann man bei diesen frühen Innenraumdarstellungen nicht sagen.57 In den Fresken des Isaak-Meisters kann von Außenraum nicht die Rede sein, ebenso wenig in den Paduaner Darstellungen des Abendmahls, der Fußwaschung oder des Pfingstfestes. Das Motiv des aus dem Hause Isaaks fliehenden Jakob in Assisi ist als ein Verlassen des Ortes zu charakterisieren. Das ist ein Vorgang, der im Rahmen der aristotelischen Theorie als Ortsveränderung behandelt wurde. Etwas anders ist die Situation beim Haus der Anna in der Arena-Kapelle. Hier hat Giotto eine Art Vorraum ge57

So die generelle Charakterisierung des gemalten Innenraums bei Kwastek 2000, S. 24.

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schaffen, in dem die Magd sitzt, von der im Pseudo-Matthäus-Evangelium die Rede ist. Derselbe Vorraum wird im Bild der Geburt Mariens zum Ort des Austausches der Gaben für die Wöchnerin und ihr Kind. Einen Außenraum im eigentlichen Sinne hat Giotto auch in diesen beiden Fresken nicht dargestellt. Man darf allerdings bezweifeln, ob sich Giotto die Frage überhaupt gestellt hat, wie „Außenraum“ dargestellt werden kann. Vom Standpunkt des aristotelischen Raumbegriffes kann es das, was wir uns heute unter Außenraum vorstellen, eigentlich nicht geben, denn danach ist die Welt eine Konstellation von Orten. Mit der von Thomas bevorzugten Unterscheidung zwischen locus und spatium kann diese Konstellation differenzierter beschrieben werden. Seiner ursprünglichen Bedeutung entsprechend ist spatium begrenzt, ob als Strecke, Fläche oder Raum. In seinen Erläuterungen zu Bewegung und Zeit ist spatium die Strecke, deren Durchquerung gemessen werden kann.58 Spatium ist eine Leerstelle zwischen anderen Orten, die aber nicht wirklich leer ist, denn auch sie ist durch einen Körper – als solcher gilt die Luft – ausgefüllt. Damit ist spatium dem locus prinzipiell gleichzustellen, es ist sozusagen der Ort zwischen den Orten. Somit sind auch für ihn die primären Charakteristika des Ortes gültig: das sind seine Richtungen. Aristoteles schrieb: „… jeder sinnlich wahrnehmbare Körper ist an einem Ort; die Arten und Unterschiede von Ort sind aber: ‘oben und unten’, ‘vorn und hinten’ und ‘rechts und links’; und das nicht nur in Bezug auf uns und der bloßen Anordnung nach, sondern es ist auch in dem Weltganzen selbst fest abgesetzt.“59 Die Bedeutung dieser Grundbedingung der Richtung oder Erstreckung des Ortes ist Giotto und anderen Künstlern seiner Zeit offensichtlich bewusst geworden. Der durch Richtungen bestimmte Ort oder Raum (im Sinne von spatium) wurde von ihnen auf ihr Bildkonzept übertragen. Aufschlussreich ist der oben schon angedeutete Vergleich zwischen Giottos ‘Vogelpredigt’ in der Predella des Franziskusaltars des Louvre (Abb. 26) mit der entsprechenden Darstellung auf dem Altarretabel der Bardi-Kapelle in S. Croce in Florenz (Abb. 27), das vor 1266 entstanden ist.60 Der Heilige steht mit seinen Begleitern am linken Bildrand, rechts erhebt sich ein ornamental gestalteter Baum, auf dem einige Vögel sitzen, während andere am unteren Bildrand sitzen. Die Fläche zwischen Baum und Franziskus wird von vier Linien ausgefüllt, die wegen der Andeutung von Pflanzen als Bodenstreifen zu identifizieren sind, auf denen ebenfalls schematisch aufge58

Thomas von Aquin: In Physic., lib. 4 l. 12 n. 3: „Sit enim corpus quod movetur a; spatium per quod movetur, sit b; et tempus in quo a movetur per b, sit c. Ponamus autem aliud spatium quod sit d, aequalis longitudinis cum b; sed tamen d sit plenum subtiliori corpore quam b, secundum aliquam analogiam, idest proportionem, corporis medii, quod impedit motum corporis; ut puta quod spatium b sit plenum aqua, spatium vero d sit plenum aere. Quanto ergo aer est subtilior aqua et minus spissus, tanto mobile quod est a, citius movebitur per spatium d, quam per spatium b.“ In der entsprechenden Stelle in der Physikvorlesung des Aristoteles (Physik IV.8, 215b) steht dort, wo Thomas von spatium spricht, sMma, Körper. 59 Aristoteles / Zekl 1997, S. 133 (Physik III,5 [205b31–34]); Thomas von Aquin übersetzt: In Physic., lib. 3 l. 9 n. 11: „Differentiae autem loci sunt sex: sursum, deorsum, ante et retro, dextrorsum et sinistrorsum; quae quidem sunt determinata non solum quoad nos, sed etiam in ipso toto universo. Determinantur enim secundum se huiusmodi positiones, in quibus sunt determinata principia et termini motus.“ 60 Boskovits 1993, S. 112–116 und 472–507; Vgl. oben S. 89 ff.

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reiht Vögel sitzen. In Giottos Pariser Predella und in dem entsprechenden Fresko in der Oberkirche in Assisi dagegen haben die Vögel verschiedenster Art in scheinbar zufälliger Ordnung am Boden versammelt. Zwei Vögel fliegen vom Baum herab und der Heilige wendet sich mit einem Sprechgestus an seine ungewöhnliche Zuhörerschaft. Die Tiefe des Bodenstreifens reicht allerdings kaum weiter, als er von Vögeln besetzt wird. Hier gelten die Regeln von locus und spatium. Auf das Bild des Bardi-Retabels hingegen ist die erwähnte Gleichsetzung von pictura und scriptura zu beziehen. Die Vögel sind wie Buchstaben auf einer Zeile angeordnet. Vom Betrachter wird erwartet, dass er sich auf das bildspezifische Ordnungsschema einstellt und es in seine Wirklichkeitsvorstellung übersetzt, nach der die übereinander abgebildeten Vögel hintereinander am Boden sitzend zu denken sind. Beim Werk Giottos ist dieser Akt des Transponierens nicht nötig. Hier entsprechen unten und oben, vorne und hinten im Bild der Lage und den Richtungen, die die Darstellungsgegenstände auch in unserer Wirklichkeitsvorstellung haben, wobei oben und unten hier entsprechend der aristotelischen Raumkonzeption priorisiert erscheinen. Die Richtungen, die sich dem Betrachter spontan erschließen, ermöglichen es, bei der Betrachtung des Bildes eine Vorstellung von Raum zu entwickeln. Ein weiterer Vergleich soll das Potential, das in diesem Bildkonzept Giottos steckt, noch etwas deutlicher machen. Duccio stellte auf einer der Tafeln der Predella seiner ‘Maestà’ den Kindermord zu Bethlehem dar (Abb. 46). Die Handlung ist auf mehrere Gruppen verteilt. Oben rechts sitzt Herodes von zwei Beratern flankiert in einer Loggia und gibt mit weisender Hand zwei etwas weiter links stehenden, bewaff neten Schildträgern den Befehl zum Kindermord. Unmittelbar darunter sieht man eine Gruppe von Müttern mit ihren Kindern. Ein rotgewandeter Scherge versucht einer Mutter das Kind zu entreißen. Rechts daneben sieht man zwei Schergen, die zwei Säuglinge regelrecht abstechen. Vor ihnen liegt ein Berg toter Kinder. Links am unteren Bildrand sitzen drei Mütter, die ihre toten Kinder halten und beklagen. Duccio hat die Bildfläche in etwa geviertelt. Die Loggia, die Gruppe der Mütter und die tötenden Schergen nehmen jeweils ein Viertel ein. Die Dominanz der Flächenordnung lässt erst auf den zweiten Blick erkennen, dass die Fläche hinter den Schergen durchgängig monochrom ist. Die Loggia des Herodes, die Schergen und die toten Kinder befinden sich auf dem gleichen Boden. Die Loggia, die auf der Bildfläche oben angeordnet ist, soll sich der Betrachter als in einem gewissen Tiefenabstand entfernt liegend vorstellen. Auch hier wird vom Betrachter erwartet, dass er die bildspezifische Ordnung in seine Wirklichkeitsvorstellung transponiert: Er soll das „oben“ im Bild in ein „hinten“ in seinem Vorstellungsbild übersetzen. Duccio hat die traditionelle Bildkonzeption noch nicht abgelegt. In Giottos Darstellung des Kindermordes in der Arena-Kapelle (Abb. 47) könnte man auf eine ähnliche Vierteilung der Bildfläche hinweisen, doch die Bildkonzeption ist grundsätzlich anders. Das Morden der Kinder steht im Zentrum der Komposition. Fast genau auf der Mittelachse steht ein Scherge, der ein Kind, das von der Mutter mit beiden Händen festgehalten wird, am Bein gepackt hat und mit dem Schwert ausholt, um es zu erstechen. Der schräg links hinter ihm Stehende hat ein Kind am Arm gepackt und hält es hoch. Die Mutter versucht das Kind am Bein zu halten und hebt die Hand abwehrend empor, doch es ist zu spät, denn die Schwertspitze, die hinter dem Kopf des vorderen Mannes sichtbar wird, lässt darauf schließen, dass das Kind schon durchbohrt wurde. Vor den beiden liegen die Kinder am Boden, die bereits ermordet wurden. Ein dritter

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46 Duccio: Kindermord zu Bethlehem, Detail aus der ‘Maestà’, Siena, Opera del Duomo

Scherge steht am rechten Bildrand und ist dabei, auf ein Kind einzuschlagen, das noch von seiner Mutter festgehalten wird. Die dicht gedrängte Gruppe der Mütter auf der rechten Seite hat ihre Kinder schon verloren. Sie blicken anklagend und voll Schmerz nach links oben, wo auf einem überdachten Balkon Herodes erscheint, der den Müttern mit einer befehlenden Geste antwortet. Links unterhalb des Balkons sieht man drei behelmte Männer, die nicht am Morden beteilig sind, die mit zusammengezogenen Augenbrauen auf das Geschehen blicken und sich abwenden. Auch in Giottos Bild ist Herodes „oben“ auf der Bildfläche zu sehen, doch anders als bei Duccio meint dieses „oben“ kein „hinten“, sondern die über die Figurengruppen erhöhte Lage ist architektonisch eindeutig motiviert. Der Betrachter kann sich im Bild so orientieren, wie er es von seiner alltäglichen Wahrnehmung der Wirklichkeit gewohnt ist. Die Figuren der unteren Bildhälfte

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Giotto: Kindermord zu Bethlehem, Padua, Arena-Kapelle

sind alle auf einer schmalen Ebene angeordnet. Die Tiefenerstreckung der Darstellung ist begrenzt, sie wird aber doch aufgrund der Staffelung der Figuren deutlich und wird verstärkt durch den rechts hinter der Gruppe aufragenden Zentralbau, der in Linienführung und Tiefenverdunkelung eine betonte Körperlichkeit aufweist. Raumerschließend sind auch die Gesten und Blicke, die Mörder und Opfer, die Frauen und den für das unmenschliche Tun verantwortlichen König miteinander verbinden und den Zwischenraum überbrücken, der dem Betrachter so erst richtig bewusst werden kann. Dieser Raum, der in der Betrachtung rekonstruiert wird, ist nicht durch den Rahmen fest abgeschlossen, denn der skeptisch oder schmerzvoll blickende Mann unten links ist, wie seine Haltung und die leichte Randüberschneidung andeuten, dabei, den Bildraum zu verlassen. Raum außerhalb des sichtbaren Bildraumes wird so vorstellbar.

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Es gibt kein Bild in der Arena-Kapelle, an dem nicht entsprechende Beobachtungen zu machen sind. Die Bewegungen der Figuren werden natürlich zunächst als Ausdruck von Seelenregungen aufgefasst. Giottos Meisterschaft in der Darstellung von Affekten hat bekanntlich auch Alberti noch bewundert und dessen Mosaik der ‘Navicella’ als beispielhaft hervorgehoben.61 „Seelenregungen aber geben sich durch die Bewegung des Körpers zu erkennen“.62 Hinter dieser These Albertis steht die letztlich auf die aristotelische Psychologie zurückzuführende Überzeugung, dass die Seele das den Körper bewegende Prinzip ist.63 Die stillgestellte Figurenhaltung, die der Maler nur zeigen kann, wird vom Betrachter nicht nur als Anzeichen des Seelenimpulses verstanden, sondern zugleich vorausweisend als Intention, in der meist auch ein Richtungsimpuls enthalten ist. Mit hinweisenden, raumerschließenden Gesten und Blicken verschafft der Maler der einzelnen Figur einen Aktionsraum, der sich mit dem Agieren der anderen Figuren verbindet und zu einem alles umfassenden Handlungsraum zusammenschließt. In der ‘Fußwaschung’ bilden die Jünger mit ihren Haltungen und Blicken einen Kreis um Christus, ihr nach unten, auf den knienden Christus gerichteter Blick lenkt auch den Blick des Betrachters auf ihn und seine Handlung, die als Geste der Demut aufzufassen ist. Im ‘Abendmahl’, das in dem gleichen loggienartigen Gebäude abgehalten wird, sitzen die Apostel um den Tisch, die vorderen, die Giotto als Rückenfiguren darstellt, tragen, indem ihre Haltung und ihre Blicke in die Tiefe gehen, entscheidend zur räumlichen Wirkung bei.64 Dass der so geschaffene Handlungsraum sehr spannungsreich sein kann, zeigt die ‘Auferweckung des Lazarus’ auf besonders eindrückliche Weise (Abb. 52). Ein anderes Beispiel ist die ‘Kreuztragung’. Sie stellt die Isolierung Christi, das Nachdrängen von Henkersknechten, Soldaten und Volk und zugleich das Abdrängen Mariens auf einmalige Weise dar. Die Bewegung des Zuges zum Berg Golgatha ist das Grundthema, das durch den Anstieg des Weges rechts und die Wendung der an der Spitze gehenden Gestalten zusätzlich betont wird. Dass das Gesichtsprofil des ersten der beiden Männer vom Rahmenstreifen überdeckt wird, ist ein singuläres Motiv, für das es meines Wissens in der Malerei des Duecento kein Vorbild gibt. Die Randüberschneidungen werden von Giotto auf eine bis dahin ganz unbekannte, bedeutungsträchtige Weise eingesetzt. Im ‘Noli me tangere’ (Abb. 48) weicht Christus vor Maria Magdalena zurück und schickt sich an, das Bild zu verlassen. In der ‘Gefangen61

Alberti / Bätschmann 2000, S. 272. Zur Affektdarstellung Giottos vgl. Moshe Barash: Giotto and the Language of Gesture, Cambridge 1987; Michael V. Schwartz: Bodies of Self-Transcendence: The Spirit of Affect in Giotto and Piero. In: Representing Emotions. New Connections in the Histories of Art, Music and Medicine, hrsg. von Penelope Gouk und Helen Hills, Aldershot [u. a.] 2005, S. 69–87. 62 „Motus animi ex motibus corporis cognoscitur“: Alberti / Bätschmann 2000, S. 268. 63 Aristoteles / Seidl 1995 [432a-434a]; Aristoteles: Über die Bewegung der Lebewesen 770b– 701a (Aristoteles: Über die Bewegung der Lebewesen. Über die Fortbewegung der Lebewesen, übers. von Jutta Kollesch (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 17), Berlin 1985, S. 14 f.). 64 Ein Gegenbeispiel ist die Darstellung des Abendmahls in Duccios ‘Maestà’. Der Tisch, an dem Jesus und die Jünger sitzen, scheint vor dem grünen Kastenraum zu stehen. Die fünf Jünger, die vor dem Tisch sitzen, sind ins Profi l gedreht, so dass sie nichts zu einer räumlichen Wirkung beitragen können.

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48 Giotto: Noli me tangere, Padua, Arena-Kapelle

nahme Christi’ hält die vor Petrus stehende Rückenfigur mit der linken Hand ein rotes Gewand, den Mantel eines Jüngers, der gerade aus dem Bild als Ort des Geschehens geflohen ist. In der ‘Flucht nach Ägypten’ zeigt der Engel, der die Heilige Familie leitet, über das Bild hinaus auf einen imaginären Ort jenseits des Bildes und Joseph steht kurz davor, hinter dem Rahmen zu verschwinden. Solange Bild und Schrift gleichgesetzt wurden, war mit dem Bildfeld wie mit dem zu beschreibenden Blatt prinzipiell eine nicht überschreitbare Grenze gesetzt. Möglich war es jedoch den Text innerhalb einer Seite auf ein kleineres Schriftfeld oder einen Textblock zu beschränken, dessen Grenzen in der Regel berücksichtigt wurden, aber nicht unbedingt beachtet werden mussten. Wenn ein Wort zu lang, eine Figur oder auch nur ein Detail zu groß geraten war und wegen seiner Bedeutung nicht abgetrennt werden sollte, konnten Schreiber oder Maler über den Rand des ihnen eingeräumten Feldes hinausgehen. Nicht selten wurde dies auch ganz bewusst getan, um auf diese Weise einen beson-

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deren Akzent zu setzen. Genauso findet man in der älteren italienischen Malerei häufig vom Bildrand überschnittene Figuren, überwiegend am linken Bildrand, die als in die Szene eintretend aufzufassen sind. Weit seltener sind solche Figuren, die das Bildfeld zu verlassen scheinen. Man sieht sie beispielsweise in Heilungsszenen auf frühen Franziskus-Retabeln. Auf der Giunta Pisano zugeschriebenen Pala in Pisa werden in zwei Szenen Wunderheilungen gezeigt, in denen die Geheilten das Bildfeld nach rechts hin zu verlassen scheinen, allerdings ohne dass es zu markanten Randüberschneidungen kommt.65 Wenn Giotto diese Bildformel einsetzt, ist deren narrative Funktion nicht neu, doch die konsequente und zuweilen kompromisslose Art, in der sie in der Arena-Kapelle verwandt wird, gibt Anlass zu weiteren Fragen. Michael V. Schwarz schreibt dazu: „Der veränderte Umgang mit den Rückenfiguren und mit den angeschnittenen Figuren zusammengenommen sagt: Während der frühe Giotto das Dargestellte gleichzeitig in die Realität hinein und vor die Augen des Betrachters setzte, treten die Paduaner Werke als Aufbereitungen von visuellen Gegebenheiten in Erscheinung, die unabhängig von einem Betrachter existieren.“66 Nach meiner Überzeugung zeigt sich in den Paduaner Fresken Giottos kein Wandel zu grundsätzlich Neuem, sondern sie sind Dokument einer systematischen Weiterentwicklung seiner an den Lehren der Optik orientierten Bildauffassung. In den frühen Werken Giottos, dem Kruzifi x von S. Maria Novella oder dem Navicella-Mosaik ging es Giotto, wie Schwarz herausgearbeitet hat, um die Fiktion der plastischen Präsenz der Figuren.67 Die malerischen Konzepte der Wiedergabe der corporeitas basieren, wie oben dargelegt, ganz wesentlich auf den in den Optik-Traktaten erklärten Regeln der Wahrnehmung der intentiones visibiles. Das dahinter stehende fundamentale Prinzip der Sehpyramide, das durch die Traktate dem Abendland vermittelt war und die Auffassung vom Sehen revolutionierte, braucht, wenn es um die Darstellung einer einzelnen Figur geht, nicht weiter beachtet zu werden. Wenn man sich aber eingehender mit diesem Prinzip befasst, erkennt man, dass der Sehvorgang nicht auf einer einzelnen Sehpyramide beruht, sondern auf unendlich vielen Strahlenpyramiden, die von jedem Objekt, von jeder Einzelheit ausgehen. Der geradeaus in die Wirklichkeit gerichtete weite Blick ist mit seinem maximalen Blickwinkel als „Superpyramide“ vorzustellen, die unzählige ineinander geschachtelte „Detailpyramiden“ umschließt. Wenn die Augen bewegt werden und Neues in den Blick kommt, werden sich ständig Pyramiden neu bilden. Das gilt auch dann, wenn ein größeres Objekt mit dem Zentralstrahl der Sehpyramide, der präzisestes Sehen ermöglich, gleichsam abgetastet wird, wenn, wie oben dargelegt wurde, das Sehobjekt nicht nur mit dem aspectus simplex, sondern mit der intuitio erfasst wird.68 65 Krüger 1992, S. 197 f.; Burresi / Caleca 2005, S. 122. Der nach rechts aus dem Bild schreitende Geheilte ist ein fester Typus in der Franziskus-Ikonographie gewesen. Er fi ndet sich auch auf der Franziskus-Pala des Bonaventura Berlinghieri in Pescia (Krüger 1992, S. 195) oder dem Altarblatt im Museum in Pistoia (Krüger 1992, S. 198 f.). 66 Schwarz 2008, S. 316. 67 Schwarz 2008, S. 219–305. In diesen Kontext fügen sich, wie Schwarz zutreffend bemerkt, auch die Werke des Isaakmeisters und seiner unmittelbaren Nachfolger ein. 68 Vgl. oben S. 26 f.

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Ob aspectus oder intuitio, weiter oder genauer Blick: jede Sehpyramide erfasst nur einen Ausschnitt aus der visuellen Wirklichkeit. Der entscheidende Schritt Giottos in Padua war es, dieses Prinzip der Sehpyramide systematisch und konsequent auf das Bildkonzept anzuwenden und die Bildwahrnehmung den Regeln der Wirklichkeitswahrnehmung zu unterstellen. Das Bild wird auf einen einheitlichen, als Spitze der Sehpyramide zu definierenden Augenpunkt bezogen gedacht, der für die das ganze Bild umfassende „Superpyramide“ wie für alle partiellen Pyramiden gültig ist. Das Bild wird damit grundsätzlich vom Betrachter her konzipiert. Die Länge dieser Sehpyramide69 spielt dabei keine Rolle: es ist eben noch keine Perspektivkonstruktion, wie sie in der Renaissance praktiziert werden sollte. Von diesem Augenpunkt aus werden nicht nur scheinbare Distanz und Lage der Bildgegenstände und ihrer Orte beurteilt, sondern genauso ihre Richtungen oder Erstreckungen. Ernst Cassirer schrieb über die Raumerschließung mittels der Sprache, die der visuellen Erschließung folgt: „Die ‘Unterscheidung der Gegenden im Raume’ nimmt ihren Ausgang von dem Punkt, in welchem sich der Sprechende selbst befindet, und sie dringt von hier aus in konzentrisch sich ausbreitenden Kreisen zur Gliederung des objektiven Ganzen, des Systems und Inbegriffs der Lagebestimmungen vor.“70 Giotto versetzt den Betrachter in die Lage, sich in gleicher Weise von seinem Blickpunkt aus die fi ktive Bildwelt zu erschließen. Das Fehlen der Vorstellung von einem a priori gegebenen Raum wurde durch den Sinn für die Beziehungen der Körper zueinander kompensiert. Vom festen Augenpunkt aus gesehen sind die Bildorte und ihr Verhältnis zueinander zu erfassen. Mit dem durch das Beziehungsnetz generierten Zusammenhalt ergibt sich etwas Übergreifendes, das als Raum im Sinne von spatium gedacht werden kann.71 Auch wenn Raum nicht im geometrischen Sinne konkret dargestellt wird, wird er vorstellbar. Da die aus dem Bild erschließbaren Richtungserstreckungen der Körper, vor allem die primären Richtungen „oben“ und „unten“, der Wirklichkeitsorientierung des Betrachters entsprechen, erhält das Bild eine Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit, die den Zeitgenossen Giottos als etwas revolutionär Neues erschien, die allerdings nicht mit den Maßstäben der in späteren Jahrhunderten praktizierten ästhetischen Illusion gemessen werden darf.72 Auch Giottos pointierter Umgang mit Randüberschneidungen fußt auf dem Prinzip der Sehpyramide. Wenn eine Sehpyramide immer nur ein Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist, dann das gilt auch für das Bild, dessen Gesamtfläche als Basis einer Sehpyramide aufgefasst wird. Die Randüberschneidungen verweisen auf das, was jenseits der Bildgrenze oder Pyramidenbasis liegt. Die im Beziehungsnetz der Orte angelegten Richtungstendenzen können als über die Bildgrenzen hinaus fortgesetzt gedacht werden. Entsprechend kann auch das, was über das Bild hinausgeht, was nicht gesehen, aber doch vorgestellt werden kann, als Fortsetzung des Bildraumes, als Teil des von dort her entfal69

Geometrisch: die Höhe, die Strecke zwischen Spitze und Fußpunkt. Cassirer 1964, Bd. I, S. 159. 71 Zur Konstituierung des Raumes durch das Sehen vgl. auch Johann Kreuzer: Raum des Sehens. Vom Augen-Blick und der mittelalterlichen Entfaltung seines Begriffs. In: Aertsen / Speer 1998, S. 489–501. 72 Frank Büttner: Die ästhetische Illusion und ihre Ziele. Überlegungen zur historischen Rezeption barocker Deckenmalerei in Deutschland. In: Das Münster, 54. Jg. 2001, Heft 2, S. 108–127. 70

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teten topologischen Raumes aufgefasst werden. Eine weitere Möglichkeit der Gestaltung von Raum, die auf diesem Prinzip gründet, ist die oben bereits erwähnte Form des „implizierten Interieurs“, das in der ‘Weihnachtsmesse in Greccio’ in Assisi in exemplarischer Weise gestaltet worden ist.73 Das auf dem Prinzip der Sehpyramide fußende Konzept des Bildes als Ausschnitt aus der Wirklichkeit ist jedoch noch nicht als „finestra aperta“ im Sinne Albertis aufzufassen. Die doppelten Farbstreifen, die die Bildfelder in Padua und Assisi einfassen, stehen mit ihrer betonten Flächigkeit der Illusion eines Durchblicks entgegen.74 Diese Möglichkeit ist erst in der folgenden Entwicklung erschlossen worden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war es, dass die Architektur dargestellter Innenräume unmittelbar mit den rahmenden Elementen des Gliederungssystems zusammengeschlossen oder gar verschmolzen wurde. Während Giotto in den Innenraumdarstellungen unter den szenischen Bildern der Arena-Kapelle stets einen Rest der blauen Folie des „Bildformulars“ sehen ließ, selbst bei einer so avancierten Darstellung, wie er sie mit dem ‘Zwölfjährigen Jesus im Tempel’ schuf, hat er die Bögen, mit denen sich die Scheinräume zu beiden Seiten des Chores öff nen, völlig in das Gliederungssystem integriert. Der Innenraum scheint unmittelbar an die fingierte Rahmenarchitektur anzuschließen, die Ebenen von Bild und Rahmen sind miteinander verschmolzen. Der Status der Raumdarstellung ist ein völlig anderer als derjenige der darüber befindlichen Szenen des Judasverrats und der ‘Visitatio’. Mit der Darstellung der Legende vom hl. Nikolaus und Adeodat in der Nikolaus-Kapelle in S. Francsco in Assisi wurde dieses Prinzip auch – wenn auch noch nicht vollkommen überzeugend – auf ein Historienbild angewandt.75 Eine weitere Voraussetzung, die das Konzept des Bildes als Rahmendurchblick ermöglichte, war die Weiterentwicklung des Reliefprinzips. Immer markanter ließen die Maler des frühen Trecento Figuren und Architekturelemente scheinbar in den Raum des Betrachters hineinragen. Ein Anfang war mit dem aus der spätantiken Wandmalerei übernommenen Rahmensystem in Cavallinis Fresken in S. Cecilia in Trastevere und in 73

Vgl. oben S. 97 f. Nach Panofsky haben schon Duccio und Giotto das Bild als Fenster aufgefasst: „For all their technical shortcomings, the works of Duccio and Giotto confront us with a space no longer discontinuous and finite but (potentially at least) continuous and infi nite; […]. The picture is again a ‘window’, but this ‘window’ is no longer what it had been before being ‘closed’. Instead of being a mere aperture cut into the wall or separating two pilasters, it has been fitted with what Alberti was to call a vetro tralucente: an imaginary sheet of glass combining the qualities of firmness and planeness with that of transparency and thus able to operate, for the fi rst time in history, as a genuine projection plane.“ (Panofsky 1969, S. 137f). Den Thesen Panofskys ist in verschiedener Hinsicht zu widersprechen. Die Gleichsetzung der Bedeutung Duccios und Giottos für die Ausbildung der neuen Bildauffassung ist nicht gerechtfertigt, wie schon die ganz unterschiedliche Behandlung von Innenraum und Figur zeigt. In der Bildordnung hat er, wie am Beispiel des ‘Kindermordes’ gezeigt (vgl. oben S. 138 ff.), an der traditionellen Bildauffassung festgehalten. Das Konzept der finestra aperta ist weder für Duccio noch für Giotto gültig, mit dem Unterschied, dass letzterer den Weg dahin gebahnt hat. Dass sie das Bild als „projection plane“ aufgefasst haben sollen, ist eine unangemessene Rückprojektion der Perspektivregeln Albertis und seiner Zeitgenossen auf die Zeit um 1300. 75 Vgl. oben S. 99 f. 74

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der Franzlegende in der Oberkirche in Assisi gemacht worden, dessen Grundelement ein von gedrehten Säulen getragenes Gebälk ist. In der Magdalenenkapelle von S. Francesco, die in enger Verbindung mit Giotto entstanden ist, wurde dieses Schema weiterentwickelt. Im unteren Register der beiden Seitenwände findet man das Rahmenmotiv der gedrehten Säulen, die ein Gebälk tragen, wieder. Sie bilden hier eine flache Nische, die hinten durch eine tiefblaue Platte mit einem nach Cosmatenart geschmückten Rahmen geschlossen wird. Die Heiligen stehen vor dieser Platte in dem schmalen Raum zwischen den Säulen und erscheinen damit nicht als Bild, sondern als in der Kapelle gegenwärtig. Das hier eingesetzte Bildkonzept der Nischenfigur hat natürlich eine lange Vorgeschichte. In der Dekoration von S. Francesco spielte es von Anfang an eine Rolle. Mit den sechzehn Heiligenfiguren im Vorjoch der Oberkirche war ein Standarttypus geschaffen worden, den Simone Martini in der um 1315 ausgeführten Martinskapelle aufgegriffen hat.76 Der Sienese rückt die Figuren ganz an den vorderen Rand ihrer schmalen Standfläche, so dass die Fußspitze der hl. Klara darüber hinausreicht. Der hl. König Ludwig streckt seine Linke, die den Reichsapfel hält, dem Betrachter so weit entgegen, dass sie vor der gedrehten Säule erscheint. Die Figur scheint aus ihrer Nische herauszutreten und im Betrachterraum anwesend zu sein. Der Wunsch nach fiktiver Präsenz wurde auch im Altarbild aufgegriffen. Ein Beispiel ist das oben bereits erwähnte Altarbild der Nikolaus-Kapelle. Die gemalte Rahmenarchitektur stellt eine Folge von drei Fensteröff nungen dar, hinter denen die Muttergottes und die hl. Nikolaus und Franziskus erscheinen und aus dem Bild heraus in Richtung auf das darunter befindliche Grabmal des Gian Gaetano Orsini verweisen. Der Typus des mit dem Betrachter kommunizierenden Heiligenbildes hat eine lange Tradition.77 Lange lag dabei der Akzent auf dem Blick aus dem Bilde, doch nach 1300 wurde die Verbindung zwischen Bild und Betrachter intensiviert zu einer Kommunikation der Räume. Simone Martini und Pietro Lorenzetti haben in Assisi diesen Typus weiterentwickelt.78 Lorenzetti hat dieses Bildkonzept im Zuge der zwischen 1315 und 1319 ausgeführten Ausmalung des linken Querarms der Unterkirche unter dem großen Fresko der Kreuzigung in einem Altarfresko modifiziert, das die Madonna zwischen dem Evangelisten Johannes und dem hl. Franziskus darstellt (Abb. 49).79 Die Dreiteilung des Bildfeldes ist aufgegeben. Das rechteckige Bildfeld ist an drei Seiten von einem profi lierten Rahmen umgeben, dessen Laibung, die durch eine dunkle Farbgebung betont wird, die Vorstellung eines Durchblicks vermitteln soll. Die drei Figuren scheinen hinter einer Brüstung zu stehen. Obwohl ein Durchblick suggeriert wird, ist die räumliche Wirkung gering. Sie wird 76

Die Martinskapelle in der Unterkirche von S. Francesco war 1312 durch den Franziskaner Gentile Partino da Montefiori, Kardinal von SS Silvestro e Martino ai Monti gestiftet worden. Die Glasfenster wurden 1312 / 13 ausgeführt. Die Fresken sind wohl bald danach, vielleicht um 1315 / 16 entstanden. Marco Pierini: Simone Martini, Cinisello Balsamo (Milano) 2000, S. 72–89; Bonsanti 2002, Atlante I, S. 244; Schede S. 343–356. 77 Alfred Neumeyer: Der Blick aus dem Bilde, Berlin 1964. 78 Simone malte bald nach Fertigstellung der Martinskapelle im rechten Querarm der Unterkirche einen Fries mit fünf Heiligen, von denen der ganz rechts dargestellte Emerich von Ungarn über den Rahmen hinausgreift; Bonsanti 2002, Schede, S. 424–426. 79 Bonsanti 2002, Schede, S. 404.

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Pietro Lorenzetti: Madonna zwischen den hl. Johannes Ev. und Franziskus, Assisi, S. Francesco, Unterkirche, Südlicher Querarm

eigentlich nur durch die Plastizität der drei Figuren erzielt. Wichtiger als die Vorstellung des Durchblicks war dem Maler der Schein des Heraustretens der Figuren. Der Heiligenschein Marias überschneidet den Fenstersturz, so dass es scheint, als beuge sie sich ein wenig vor. Franziskus hat seinen rechten Arm etwas angehoben und streckt ihn vor. Das Fresko ist hier leider beschädigt, doch man kann aus seiner Haltung schließen, das seine Hand den Rahmen ebenfalls überschnitt, dass er mithin aus dem Fresko zeigte, vielleicht auf das Stifterbild, das sich an der Brüstung unter ihm befunden haben dürfte, vielleicht aber auch auf den vor dem Altar stehenden Betrachter. An der Wand rechts von diesem Altarbild hat Pietro Lorenzetti demonstriert, dass er sehr virtuos mit den Möglichkeiten des Reliefprinzips umzugehen weiß. Unter einer Reihe von vier Heiligenbildern sieht man eine von ihm gemalte hölzerne Bank (Abb. 50), die vor der Sockelzone zu stehen scheint. Die Verkürzungen der Seitenwangen der Bank beziehen sich auf einen Standpunkt in der Mitte des Querschiffes. Das hellblaue Muster des Tuches, das von der Wand herabhängt und über die Bank gelegt ist, verstärkt die Tiefenwirkung. Ganz ungewöhnlich ist an diesem Werk, dass die linke Seitenwange einen klar konturierten Schatten auf die Wand wirft.80 80 Man wird es der Entscheidung von Restauratoren überlassen müssen, ob dieser Schattenwurf zum ursprünglichen Bestand gehört. Er wäre dann das vielleicht erste Beispiel für die genaue Wiedergabe des Schlagschattens.

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50 Pietro Lorenzetti: Bank, Assisi, S. Francesco, Unterkirche, Südlicher Querarm

Lorenzetti ist mit seinem illusionistischen Capriccio seiner Zeit um einiges voraus gewesen. Das Wandbild ist ein Beleg dafür, wie intensiv er sich – wie übrigens auch sein Bruder Ambrogio – mit den Darstellungsproblemen, die sich aus der neuen Bildauffassung ergaben, beschäftigt hat. Den wohl wichtigsten und folgenreichsten Beitrag zur Weiterentwicklung der Bildauffassung leistete er mit seinem 1342 datierten Altarbild der Geburt Mariens (Abb. 51).81 Leider sind die geschnitzten Teile des Rahmens verloren, doch die ganze Anlage des Altars, der die Grundform eines Triptychons hat, lässt keinen Zweifel daran, dass sich dem Betrachter das Bild als Blick durch den in Arkaden geöff neten Rahmen darbietet. Das Raumkonzept, das Pietro Lorenzetti für seine Darstellung des ‘Abendmahls’ im linken Querarm der Unterkirche von S. Francesco erfunden hatte, ist hier zu einer in sich völlig schlüssigen Form weiterentwickelt worden. Der Raum mit dem Wochenbett der Anna, der das mittlere und das rechte Bildfeld einnimmt, wird als zweijochiger Saal gezeigt, dessen Tiefe durch das Quadratmuster des Bodens und durch die karierte Decke des Bettes angedeutet wird. Das linke Bildfeld zeigt den Vorraum, in dem Joachim gerade über die Geburt unterrichtet wird. Die Fugen des Plattenbodens, die hintereinander gestaffelten Querbalken und der Ausblick in einen Säulenhof, vermitteln den Eindruck beträchtlicher Tiefe. Die gattungsmäßig gegebene Kompositstruktur des Triptychons ist durch den demonstrativ vorgeführten räumlichen Zusammenhang überwunden worden. Die große Zahl der Nachahmungen, die dieser Altar gefunden hat, be81

Volpe 1989, S. 132 f., Nr. 101; Frugoni 2002, S. 91–95.

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Pietro Lorenzetti: Geburt Mariens, Siena, Opera del Duomo

legt, dass die Bedeutung seiner Bilderfindung von den nachfolgenden Künstlern verstanden wurde. Zu fragen ist allerdings, ob mit diesem Werk schon das Bildkonzept des Fensters im Sinne Albertis geschaffen wurde. Genau genommen zeigt uns Lorenzetti einen Einblick in zwei Räume von klar begrenzter Tiefe. So besehen ist sein Altar eine Weiterentwicklung des Reliefraumes, der in den Fresken Giottos bereits angelegt war. Das Bild als ein in die Ferne eines Landschaftsraumes führender Blick durch ein Fenster kam erst bedeutend später auf. Die hochbedeutende, 1339 vollendete Landschaftsdarstellung in Ambrogio Lorenzettis ‘Effetti del Buon Governo’ wird man noch nicht als einen Ausblick deuten können, auch wenn darin die Möglichkeiten der Wiedergabe eines Tiefenraumes gegenüber dem im ersten Viertel des Trecento üblichen erheblich weiter entwickelt erscheinen. Es bleibt Pietro Lorenzetti jedoch das Verdienst, das Bild konsequenter als seine Vorgänger als „Durchblick“ durch den Bilderrahmen konzipiert und so die Bildfläche scheinbar transparent gemacht zu haben.

10. Bild und Augenblick 10.

10. Bild und Augenblick

Nach dem in den optischen Traktaten entwickelten Modell des Sehens ist die Basis der Sehpyramide das, was mit einem Blick erfasst wird. Da die Sehpyramide nichts Konstantes ist, sondern sich in jedem Moment, mit jeder Wendung des Kopfes und der Augen erneuert, könnte man sagen: die Sehpyramide ist ein „Augenblick“. Die in dieser wunderbaren Wortbildung1 liegende Verbindung des Sehens mit einem bestimmten Aspekt der Zeit ist bereits von Augustinus in seinem berühmten der Zeit gewidmeten Kapitel der ‘Confessiones’ angesprochen worden: „… und man kann auch von Rechts wegen nicht sagen, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vielleicht sollte man richtiger sagen: es gibt drei Zeiten, Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht. Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung.“2 Gegenwart ist, was angeschaut werden kann. Das von Augustinus verwandte Wort contuitus könnte auch durch den dem gleichen Wortstamm zugehörigen Begriff intuitio ersetzt werden, durch jenes Wort also, mit dem in den Optik-Traktaten ein bestimmter Modus des Sehens bezeichnet wird.3 Der in die Welt gerichtete Blick ist immer ein Wahrnehmen im Jetzt, ein Augenblick im wörtlichen und übertragenen Sinne. Mit dem Modell der Sehpyramide konnte der Blick des Menschen, das Erblicken von etwas, nicht nur als Ausschnitt aus der Wirklichkeit begriffen werden, sondern auch als momenthafter Ausschnitt aus dem Kontinuum der Zeit. Damit ergab sich eine Verbindung der optischen Wahrnehmungslehre mit der Diskussion über das Problem der Zeit, die in der Scholastik des 13. Jahrhunderts mit besonderer Intensität geführt wurde.4 Im Zentrum stand dabei die Frage nach der Realität von Zeit, die ja von Augustinus bezweifelt worden war. Der Ausgangspunkt war auch hier wieder die Beschäft igung mit Aristoteles, der im vierten Buch seiner Physikvorlesung im Anschluss an die Behandlung des

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Eine Entsprechung dazu gibt es nur in den skandinavischen Sprachen und im Niederländischen, nicht jedoch im Englischen und in den romanischen Sprachen. 2 Augustinus: Bekenntnisse, übers. von Wilhelm Timme, Zürich [u. a.] 1982, S. 318; Augustinus: Confessiones 20. 26. „… nec proprie dicitur: tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris exspectatio.“ 3 S. oben S. 26 f. 4 Dazu: Anneliese Maier: Das Zeitproblem. In: Maier 1955, S. 47–140.

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Raumproblems die Fragen nach Sein und Wesen der Zeit gestellt hat.5 Sein Ausgangspunkt ist das Konstatieren eines Zusammenhanges von Zeit und Veränderung. Jede Bewegung, alles Werden und Vergehen vollzieht sich in der Zeit und ist nur in ihr und durch sie erfassbar.6 Die Zeit aber wird vom Jetzt aus erfahren: „Das Jetzt (nQn) bildet den Zusammenhang von Zeit“.7 Sie ist die „Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ‘davor’ und ‘danach’.“8 Das Verhältnis des „Jetzt“ zur Dauer der Zeit wird mit dem Verhältnis von Punkt und Linie verglichen, es ist ein ‘Zeitpunkt’ (punctum temporis).9 Die Zeit in ihrer Erstreckung kann als Kontinuum begriffen werden. Ihre Unaufhörlichkeit wird mit dem Kreisen der Sphären des Himmels zusammengebracht. Es ist das letztgültige Maß für das Erfassen der Zeit. In der Rezeption der Zeitauffassung des Aristoteles im 13. Jahrhundert spielen die von Augustin aufgeworfenen Zweifel an der realen Existenz von Zeit eine große Rolle. Nach Averroes, dessen Kommentar zur aristotelischen Physik eine wichtige Vermittlerrolle gespielt hat, existiert Zeit lediglich in potentia. In actu existiert sie allein dank der Seele, die in der Lage ist, zählend die Zeit zu messen. Ein oft verwandtes Argumentationsmuster war es, die Wirklichkeit der Zeit von der unbestreitbaren Realität des Augenblicks herzuleiten.10 Das Jetzt, das Ende der Vergangenheit und Anfang der Zukunft ist, schließt die Zeit zu einem Kontinuum zusammen. So argumentierte auch Thomas von Aquin, für den das Kontinuum der Zeit nur in und durch die messende und erkennende Seele Realität hat.11 In der messenden und erkennenden Seele vollendet sich auch der Akt der visuellen Wahrnehmung. Die beiden Erkenntnisakte verbindet das Moment der Subjektivität und 5

Michael F. Wagner: The enigmatic reality of time. Aristotle, Plotinus, and today (Ancient Mediterranean and medieval texts and contexts, Bd. 7), Leiden [u. a.] 2008; Udo Reinhold Jeck: Aristoteles contra Augustinum. Zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert (Bochumer Studien zur Philosophie, Bd. 21), Amsterdam [u. a.] 1993; Udo Marquardt: Die Einheit der Zeit bei Aristoteles (Epistemata  / Reihe Philosophie, Bd. 127), Würzburg 1993. 6 Aristoteles: Physik IV, 220b: „Wir messen nicht bloß Bewegung mittels Zeit, sondern auch (umgekehrt) Zeit mittels Bewegung“ (Aristoteles / Zekl 1987, S. 219). Der von Aristoteles konstatierte Zusammenhang von Bewegung und Zeit manifestiert sich auch in der lateinischen Terminologie. Der bis heute gebräuchliche Begriff „Moment“ leitet sich von „movere“ (bewegen) her; „momentum“ bezeichnet zunächst die Kraft, sich zu bewegen, sodann Strecke als die Bewegungslänge im Raume und schließlich die Bewegungsdauer, einen Zeitabschnitt, dem die Bedeutungstendenz der Kürze, des Augenblicks eigen ist (nach: Karl Ernst Georges, Ausführliches Lateinischdeutsches Handwörterbuch, Nachdruck der 8. Aufl., Basel / Stuttgart 1967, Bd. 2, Sp. 988 f.). 7 Aristoteles: Physik IV, 222a; Aristoteles / Zekl 1987, S. 227. 8 Aristoteles: Physik IV, 219b: „toQto g8r Est;n Q xr3now, /rium