Pop und Ironie: Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000 9783110234664, 9783110234657

Irony is a key feature of the pop literature around 2000 and of theoretically ambitious music journalism around 1980. Bu

189 28 962KB

German Pages 246 [247] Year 2010

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
1. Einleitung
2. Dreimal ›Ironie‹: ›Entpflichtung‹, Inversion, Relativierung
3. Normalisierte Abweichung: ›Massenboheme‹ in den1960er/70er Jahren
4. Die »Sprache des Pop« um 1980: Lizenz zur Inhaltslosigkeit
5. Wege in die »Ironiefalle«: Automatisierung und Entpolitisierung
6. »Ironic-Hell«. Popliteratur um 2000
7. Fazit
Backmatter
Recommend Papers

Pop und Ironie: Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000
 9783110234664, 9783110234657

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart, Gangolf Hübinger

Band 123

Christoph Rauen

Pop und Ironie Popdiskurs und Popliteratur um 1980 und 2000

De Gruyter

Als Dissertation eingereicht an der Ludwig-Maximilians-Universität München

ISBN

978-3-11-023465-7

e-ISBN 978-3-11-023466-4 ISSN

0174-4410

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Dreimal ›Ironie‹: ›Entpflichtung‹, Inversion, Relativierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 3. Normalisierte Abweichung: ›Massenboheme‹ in den 1960er/70er Jahren. . . . . . . 13 3.1 »Angleichung ohne Gleichheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.2 Flexibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.3 Jugendliche als Schrittmacher des kulturellen Wandels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.4 Selbstbeschreibung: ›Gegenkultur‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4. Die »Sprache des Pop« um 1980: Lizenz zur Inhaltslosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.1 ›Gegengegenkultur‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.2 Pop als Ironie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 4.3 Guter schlechter Geschmack. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 4.4 ›Machbare‹ Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4.5 Selbstkanonisierung: Sexbeat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5. Wege in die »Ironiefalle«: Automatisierung und Entpolitisierung . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.1 ›Kontrollgesellschaft‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5.2 Schlechter ›guter schlechter Geschmack‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 5.3 Verloren in der ›Neuen Mitte‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 5.4 Grenzen der Machbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.5 »Wege aus der Ironiefalle«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 6. »Ironic-Hell«. Popliteratur um 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 »Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen«. Zur Kontinuität des ›PopPrinzips‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Pathologisierung und Psychologisierung: Faserland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 »Irony is over«? Selbstblockaden und postmoderner Fanatismus . . . . . . . . 6.4 Tristesse Royale: Funktionsschwächen der ›postmodernen Lösung‹ . . . . . 6.5 1979: Schwere Unterscheidungen und »light entertainment«. . . . . . . . . . . . . 6.6 Generation Golf: Die Normalität der Ironie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7 Ironie und Normalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8 Institutionalisierter Pop: Literatur als »License zur Nullposition«. . . . . . . . 6.9 Literarisches ›Slumming‹: Davos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124 124 129 140 152 161 174 182 198 209

7. Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 V

1. Einleitung

Im Untertitel der aus Gesprächen im Berliner Hotel Adlon hervorgegangenen ›Programmschrift‹ Tristesse Royale (1999) bezeichnen sich Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Joachim Bessing, Alexander von Schönburg und Eckhart Nickel als »popkulturelles Quintett« und schließen damit in erster Linie an einen journalistischen Popdiskurs an. Nicht die von Leslie Fiedler inaugurierte Popliteratur der 1960er Jahre, in Deutschland prominent durch Rolf Dieter Brinkmann vertreten, ist die entscheidende Referenzgröße der ›Neo-Popliteratur‹, sondern der postmoderne Popbegriff, den Musik- und Zeitgeistmagazine wie Sounds, Spex und Tempo in Reaktion auf die Ausdifferenzierung der Popkultur seit den ausgehenden 70er Jahren prägen.1 Herausragender Protagonist der von der ›Adlon-Gruppe‹ in Erinnerung gerufenen programmatischen Wende ist der Musikkritiker Diedrich Diederichsen. Als Chefredakteur von Sounds propagiert er im Anschluss an zeitgenössische popmusikalische Strömungen wie Punk und New Wave in den Jahren 1979 bis 1983 ein emphatisches Popkonzept, das in Opposition zum bislang gültigen Verständnis von Jugend- und Subkultur als Protest gegen die bestehende Gesellschaft steht. Bereits wenige Jahre später historisiert Diederichsen diesen Einschnitt im autobiographischen Essay Sexbeat (1985) und bekräftigt damit den Anspruch, der Postmoderne auf dem Feld des Popjournalismus zum Durchbruch verholfen zu haben. Bei ihrem Rekurs auf das »Pop-Prinzip«2 knüpfen die Autoren der 90er Jahre nicht in jedem Fall explizit an die vorangegangene Dekade an. Kracht erweist der journalistischen New Wave 2006 mit einem gleichnamigen Sammelband seine Referenz, während Florian Illies in Generation Golf (2000) die 80er Jahre überspringt und Krachts Faserland (1995) sowie Stuckrad-Barres Soloalbum (1998) zu den traditionsstiftenden Bezugstexten erklärt, obgleich sein Bestseller auffällige thematische und strukturelle Ähnlichkeiten zu Sexbeat aufweist.3 Auf diese Einschränkung der historischen Perspektive reagiert Diederichsen 2002 mit ––––––––

1

2 3

Vgl. Baßler 2003: 123. Zur retrospektiven Konstruktion des ›Phänomens Popliteratur‹ im Rückgriff auf Krachts Faserland (1995) siehe Grabienski 2000/1. Für die diskurshistorische Selbstverortung der ›Adlon-Gruppe‹ vgl. TR 162. Hecken 2009 konnte in der vorliegenden Arbeit nicht mehr berücksichtigt werden. Philippi/Schmidt 1999. Vgl. auch Amend/Lebert 2000. Dazu Frank 2003: 223.

1

einer Wiederveröffentlichung des zu diesem Zeitpunkt vergriffenen Generationsporträts Sexbeat. Im umfangreichen Vorwort erinnert er an die Frühphase eines Diskurses, der ihm zufolge mittlerweile von den »vorverdauten und vorverarbeiteten« Erlebnissen früherer Generationen zehrt und zum ›massenkompatiblen‹ »Genre« verkommen ist, da seine Einbindung in ein gesellschaftskritisches und emanzipatorisches Projekt aufgegeben wurde (SB X). Die Forschung hat sich dieser historischen Herleitung der Popliteratur zum Teil angeschlossen. Für Dirk Frank verdankt die Adlon-Runde »der so genannten Punkund New-Wave-Generation eine bestimmte Grundhaltung« und überträgt die »Frontstellung der Achtziger (Punk und New Wave versus orthodoxe Protestkultur) auf die Neunziger«.4 Die Frage nach Kontinuitäten und Differenzen im Verhältnis der beiden ›Popgenerationen‹ ist bislang jedoch nur skizzenhaft und überdies häufig im Rahmen wertender Vorannahmen über die vermeintlich ›affirmative‹, ausschließlich an »Style- und Coolness-Regeln«5 orientierte Haltung der jüngeren Popautoren beantwortet worden. Die These vom »reaktionäre[n] Backlash«6 erweist sich nicht zuletzt deshalb als problematisch, da sie einen Gemeinplatz des zu untersuchenden Diskurses darstellt und das Urteil von Diederichsen und anderen weitgehend ungeprüft reproduziert. Dies gilt besonders für das »Ironie-Programm des Pop«, das Hubert Winkels zufolge »in der deutschen Literatur seinen Beginn bereits in den frühen achtziger Jahren [hatte], mit den Büchern und Anthologien von und mit Peter Glaser, Joachim Lottmann, Diedrich Diederichsen, Thomas Meinecke«.7 Eckhard Schumacher bemängelt an der Aktualisierung dieses Programms in Tristesse Royale, dass Ironie immer dann »kontraproduktiv und überflüssig erscheint, wenn sie in eingespielter, einfach abrufbarer Form auf Dauer gestellt, generalisiert, zum Normalfall stilisiert wird«8. Der Verfall von Pop erscheint aus diesem Blickwinkel als Folge einer Normalisierung und Funktionsverschiebung entsprechender Haltungen und Verfahren seit »dem goldenen Zeitalter der Ironie, den Achtzigern«9. Merkwürdigerweise betreibt jedoch auch die angegriffene Adlon-Gruppe selbst Ironiekritik, charakterisiert die zeitgenössische Kultur als »Ironic-Hell« (TR 144) und folgt der Devise »Irony is over«10. Und auch Diederichsen macht seine Ablehnung der Popliteraten an einem Ironieverständnis fest, das ihm zufolge »auf –––––––– 4 5 6 7 8 9 10

2

Frank 2003: 225. Schumacher 2002: 203 spricht im Hinblick auf die Popliteratur von einer »signifikant verschobene[n] Neuauflage« des Pop-Programms der 80er Jahre. Büsser 2003: 153. Vgl. auch Hinz 2003: 305. Schumacher 2002: 206. So Winkels (2005: 165) in einer Rezension der bislang umfassendsten Untersuchung popliterarischer Schreibweisen, Moritz Baßlers Der deutsche Pop-Roman (2002). Schumacher 2003: 39. Briegleb 2003. So der vielzitierte Slogan auf dem Buchrücken von Christian Krachts Anthologie Mesopotamia (1999).

einem Normalfall aufruht, einer deutschen Mittelklasse-Normalität, für die sich keiner mehr schämt«11. Der literarische ›Neo-Pop‹ gilt Diederichsen als Musterbeispiel für den Weg in die »Ironiefalle«12, den die kritische Intelligenz seit der ›frühen Postmoderne‹ Ende der 70er Jahre mit der Abwendung von einer linken Gesellschaftsutopie eingeschlagen habe. Im Zuge dieser historischen Herleitung der gegenwärtigen Problemsituation gerät allerdings sein eigenes Frühwerk unter den Verdacht, die spätere Fehlentwicklung vorbereitet zu haben, worauf Diederichsen mit einer teils kritischen, teils apologetischen Revision früherer Positionen antwortet. Sowohl Diederichsen als auch seine Nachfolger pflegen mithin einen »Gestus der Abwendung von der Ironie«13. In der Forschung besteht jedoch keineswegs Einigkeit darüber, was unter dem viel zitierten Schlagwort zu verstehen ist. Es liegt nahe, zum Vergleich rhetorische oder, wie von Eckhard Schumacher im Ansatz durchgeführt, frühromantische Ironiekonzeptionen heranzuziehen und auf dieser Basis Strukturen des in Frage stehenden Diskussionszusammenhangs herauszuarbeiten.14 Die bloße Verwendung des Wortes ›Ironie‹ kann dabei nur bedingt zur Orientierung dienen, weil die musikjournalistische Avantgarde um 1980 im Rahmen ihrer Selbstbeschreibung Ausdrücke wie ›Subversion‹ oder ›Überaffirmation‹ bevorzugt. Nach Kontinuitäten und Brüchen im Verhältnis des älteren Popdiskurses zur Popliteratur ist deswegen auf inhaltlicher und struktureller Ebene zu suchen. Damit ist der heuristische Rahmen für das Folgende abgesteckt: Anhand der jeweiligen Konzeptualisierung und Funktionalisierung von Ironie soll der Gesellschaftsbezug des Popdiskurses aus diachroner Perspektive untersucht werden. Zu diesem Zweck muss zunächst das Bedeutungsspektrum des Ironiebegriffs in Grundzügen umrissen werden (2). Danach ist der gesellschaftshistorische Kontext pop-programmatischer Positionen der 80er Jahre zu erläutern (3), die im nächsten Schritt anhand repräsentativer Texte von Diederichsen rekonstruiert werden (4). Es folgt eine Darstellung der retrospektiven Neubewertung früherer Standpunkte durch Diederichsen (5), bevor Haupttexte der Adlon-Gruppe im Mittelpunkt stehen (6) und abschließend Bilanz gezogen wird (7). –––––––– 11 12 13 14

Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Schumacher 2003: 19. Schumacher benennt die Probleme, die sich bei einer solchen Vorgehensweise ergeben, und schickt einschränkend voraus, der »Versuch, den Kontext von Schlegels Überlegungen mit gegenwärtigen Feuilleton-Debatten […] in Beziehung zu setzen«, stoße »relativ schnell an Grenzen« (Schumacher 2003: 18). Wie die vorliegende Arbeit geht auch Schumacher »weniger« von »konkrete[n] gesellschaftliche[n], philosophische[n], politische[n] oder ästhetische[n] Analogien«, »sondern von einer strukturellen Vergleichbarkeit« aus, »die trotz – oder gerade wegen – der Unterschiede zwischen den Diskursen Diskussionsmaterial […] liefern kann« (Schumacher 2003: 19).

3

2. Dreimal ›Ironie‹: ›Entpflichtung‹, Inversion, Relativierung

Um zu klären, welche Funktionen die Ironiesemantik im Popkontext erfüllt, sind einige begriffliche Erläuterungen nötig. Den methodischen Rahmen bildet dabei die Überlegung, dass jene Semantik auf eine sozialhistorische Problemlage bezogen ist, die Gegenstand des nächsten Kapitels sein wird.1 Zunächst sind drei paradigmatische Ironiemodelle vorzustellen, denen sich die Pop-Programme zuordnen lassen: Das anthropologisch fundierte Konzept der ›Entpflichtung‹, das rhetorische Inversionsmodell und der frühromantische Ironiebegriff Friedrich Schlegels. Der evolutionsbiologisch ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Forschung zufolge ist die Fähigkeit zur Formulierung ironischer Äußerungen Teil der artspezifischen mentalen Ausstattung des Menschen. Ironie, uneigentliche Rede generell, Fiktionalität und Zitation haben ihren gemeinsamen stammesgeschichtlichen Ursprung in der Sprachentwicklung. Entscheidend ist der Schritt zur sprachlichen Repräsentation aktuell nicht anwesender Gegenstände: Die ausdifferenzierte Darstellungsfunktion produziert von Anfang an einen ständigen Überschuß an vergegenständlichten Informationen. Sie ermöglicht nicht nur umfangreiche Rede über Nichtanwesendes; mit dem Nichtanwesenden hält sie auch Nichtgültiges parat: Veraltetes, Inaktuelles, Unwahres, und vor allem: Nur unter gewissen Bedingungen Wahres.2

Ist der Verwendungssinn einer Information aufgrund der Ablösung vom Situationskontext nicht mehr automatisch verfügbar, entsteht der Bedarf, ihre Wahrheits- und Relevanzbedingungen anzuzeigen und sie »mit Metainformationen über die Bedingungen ihrer Gültigkeit«3 zu versehen, um so das Risiko einer Falschanwendung zu reduzieren. Auf diese Weise entsteht ein riesiger Vorrat von bedingt richtigen Informationen. »Es sind die neuen Welten des ›Das könnte wahr sein‹, ›Das ist woanders wahr‹, ›Das war einmal wahr‹, des ›Was andere glauben, sei wahr‹, des ›Wahr nur, wenn ich das tue‹, des ›Nicht wahr hier‹, des ›Was sie wollen, dass ich glaube, sei wahr‹, des ›Das wird

–––––––– 1

2 3

4

Eibl 1995: 41. Unter Semantik werden im Anschluss an Niklas Luhmann relativ situationsunabhängig verfügbare Sinnverarbeitungsformen verstanden (Luhmann 1993: 19), die »im Verhältnis zur Gesellschaft […] nicht beliebig variieren« (ebd. 17) können. Vgl. auch Eibl 1991 und 2000. Eibl 2004: 246. Eibl 2007: 490.

eines Tages wahr sein‹, des ›Sicher ist es nicht wahr‹, des ›Was er mir erzählt hat‹, des ›Es scheint wahr auf der Basis dieser Behauptungen‹, und so weiter und so weiter.«4

So entwickelt sich ein fein abgestuftes »System[] der Modalität von Aussagen«5, das den ›naiven Realismus‹ der natürlichen lebensweltlichen Einstellung ergänzt. Gemeinsam ist allen Formen metarepräsentativer Kommunikation, dass der Sender sich von der Verantwortung für die Gültigkeit der Aussage distanziert.6 Karl Eibl spricht von ›entpflichteter Rede‹, deren vielfältige Funktionen er wie folgt zusammenfasst: Generell kann man sagen: Die entpflichtete Rede ermöglicht es, über Dinge zu reden, über die man – aus den verschiedensten, trivialen wie erhabenen, Gründen – eigentlich nicht reden kann oder darf oder soll, über die man aber trotzdem reden will oder soll oder muß. Oder in aller Kürze: Die entpflichtete Rede ermöglicht Sprechen über Unaussprechliches, von der Trivialität unaussprechlicher Körperteile und Kleidungsstücke bis zu den unaussprechlichen Geheimnissen der Mystiker.7 Das meta-repräsentative […] Moment kann man sich geradezu graphemisch vorstellen: Man muß sich die jeweilige Rede in Anführungszeichen gestellt denken.8

Vor diesem Hintergrund lässt sich das rhetorische Ironiekonzept ›Ausdruck des Gemeinten durch sein Gegenteil‹ als terminologische Fixierung einer bestimmten Variante entpflichteter Rede beschreiben: Angezeigt wird, dass die explizit mitgeteilte Proposition unter ›inversen‹ Kontextbedingungen gültig wäre. Das Gegenteilskriterium geht auf Quintilian (»contrarium ei quod dicitur intelligendum est«9) zurück, während Cicero zufolge nicht unbedingt das Gegenteil, sondern lediglich ›etwas anderes‹ mitgeteilt wird (»quom alia dicuntur ac sentias«10). Da auf der Grundlage der weiter gefassten zweiten Definition keine Abgrenzung von Allegorie oder Übertreibung möglich ist, hält sich die neuere Forschung an Quintilians Begriffsbestimmung.11 Wolfgang G. Müller zufolge setzt rhetorische Ironie »etwas Unverträgliches […] für den eigentlichen Ausdruck«12. Zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung besteht demzufolge ein »kontradiktorische[r] Widerspruch«13, nicht unbedingt jedoch ein polarer Gegensatz (z. B. Freund/Feind). Darüber hinaus muss Ironie signalisiert werden, da nur so eine –––––––– 4 5 6 7 8

9 10 11 12 13

Eibl 2007: 490. Zitat im Zitat: Tooby/Cosmides 2006: 235. Eibl 2004: 279. Zur Fiktionalität siehe in diesem Zusammenhang Tooby/Cosmides 2006: 236. Eibl 2004: 346. Eibl 2004: 341. Zur ›Gänsefüßchen-Semantik‹, der Suspendierung aktuell nicht relevanter Bedeutungskomponenten durch typographische Rahmung des entsprechenden Ausdrucks siehe Klockow 1976: 236. Institutio oratoria, IX, 2, 44. De Oratore II, 67, 269. Eibl 1988: 358f. Müller 2000: 185. Plett 1982: 77.

5

Abgrenzung von Täuschung und Lüge möglich ist.14 Die klassische Rhetorik behandelt intonatorische und gestische Ironiesignale im Zusammenhang mit der pronuntiatio. Sie unterscheidet Wortironie (antiphrasis) von längeren ironischen Redepassagen, bei denen anders als im Fall der antiphrasis kein semantischer Kontrast zwischen Wort und Kotext vorliegt, so dass die zugrunde liegende Intention (beispielsweise durch Übertreibung) kenntlich zu machen ist.15 Das rhetorische Inversionsmodell wurde im Hinblick auf antagonistisch strukturierte Interaktionskontexte wie Gerichtsverfahren und politische Auseinandersetzungen entworfen. Ironie dient hier als »Waffe der Parteilichkeit«16 und als Mittel der parodistischen Diskreditierung des Gegners. Da zwischen den Konfliktparteien ein symmetrischer Interessensgegensatz besteht und die jeweiligen gegnerischen Absichten bekannt sind, kann die uneigentlich formulierte Äußerung in der Regel problemlos per Inversion in die eigentliche gemeinte Aussage übersetzt werden. Daneben thematisiert die rhetorische Tradition Ironie auch im Zusammenhang mit Verstellung und differenziert zwischen Simulation (Vortäuschen, Tun-als-ob) und Dissimulation (Verbergen, Tun-als-ob-nicht). Entsprechend lässt sich im Fall transparenter, also signalisierter Verstellung von Simulations- und Dissimulationsironie sprechen. Die neuere linguistische Forschung konzipiert Ironie als transparent simulierte Verstellung, mithin als Verstellung zweiter Stufe.17 Herkömmlicherweise wird dagegen in der Regel von (deklarierter) Simulation ausgegangen. Die Differenz zwischen transparenter und intransparenter Simulation gerät dabei jedoch zuweilen aus dem Blick, so dass es zu einer Vermengung von Ironie und Lüge kommt.18 Dies scheint der Kommunikationspraxis geschuldet zu sein, bei der mit Grauzonen und Übergängen zu rechnen ist, weil der Sender die Stärke der Ironiesignale reduzieren und damit die Decodierung hinauszögern kann. Die Nähe zur Lüge hat dazu geführt, dass Ironie traditionell häufig im Kontext ethischer und religiöser Fragen thematisiert wird, wobei sich das Interesse auf die moralische Qualität der Motive für (transparente) Verstellung richtet.19 Den Bewertungsrahmen bilden dabei eindeutige und fraglos gültige Unterscheidungen wie christlich/heidnisch oder Tugend/Laster. Als Defensivstrategie der moralisch überlegenen, aber politisch und sozial schwächeren Partei gilt Verstellung als legitim, insofern sie zur Vermeidung von Sanktionen dient und sich mit ihrer Hilfe Zeit gewinnen lässt, bis die Machtverhältnisse günstiger liegen und die wahre ––––––––

14 15

16 17 18 19

6

Weinrich 2000: 62. Warning 1976: 418f. Ironie kann auch kontextuell signalisiert werden, etwa durch die Anwesenheit des Redegegenstandes, der die Unangemessenheit der diesbezüglichen Aussage offensichtlich werden lässt (Gießmann 1977: 416). Lausberg 1960: 302. Lapp 1992. Siehe etwa Lausberg 1960: 447ff., dazu Müller 1989: 192. Lausberg 1960: 448.

Meinung gefahrlos geäußert werden kann. Da für diesen Fall Traditionsbegriffe fehlen, hat Wolfgang G. Müller den Terminus ›inverse Hypokrisie‹ geprägt.20 Während der Heuchler als ›Wolf im Schafspelz‹ (Matthäus 7, 15) eine gute Gesinnung simuliert, maskiert sich der ›umgekehrte‹ Heuchler als schlecht denkender Mensch und ›heult mit den Wölfen‹. Sobald Zweifel an der Zugehörigkeit zum guten Lager aufkommen, ist zu prüfen, ob der ›umgekehrte‹ Heuchler nicht nur scheinbar zur Gegenseite übergelaufen ist.21 Nicht Ironie, sondern Verstellung steht im Zentrum frühneuzeitlicher Klugheitslehren für das Leben bei Hofe. Affektkontrolle, Simulation und Dissimulation werden hier als Machtgewinnungs- und -verteidigungsstrategien thematisiert. Die Aufklärung adaptiert und moralisiert diese Verhaltensregeln. Ihr gilt Verstellung als legitime Waffe gegen Verstellung, gegen Lasterhafte, die sich als Wölfe im Schafspelz entpuppen. Die zugrunde liegenden moralischen Dichotomien werden dadurch in ihrer Geltung nicht in Frage gestellt: »Mit der Einführung pragmatischpolitischer Techniken in die Redlichkeitsmoral soll deren Fundament, die Trennung zwischen guten und bösen Charakteren, zwischen Tugend und Laster, Schafen und Wölfen, erhalten bleiben«22. Jüngeren Datums ist das ebenfalls im Kontext des rhetorischen Inversionsmodells diskutierte Konzept des ›unzuverlässigen Erzählens‹, das möglicherweise auf die ›dramatische Ironie‹ zurückzuführen ist. Gemeint ist ein Informationsrückstand fiktiver Figuren im Verhältnis zu Autor und Publikum, welche sich über die Köpfe der Figuren hinweg verständigen:23 Ödipus ist blind für die wirklichen Umstände, sein gegen den Mörder des Vaters ausgesprochener Fluch trifft ihn selbst. Die davon abgeleiteten narratologischen Modelle basieren auf der Rahmung eines internen (z. B. Figurendialog) durch ein externes Kommunikationssystem Autor – Leser. Der von Wayne Booth eingeführte Terminus ›unreliable narrator‹ bezeichnet fiktive (Ich-)Erzähler, an deren korrekter Wiedergabe und/oder Bewertung der Ereignisse Zweifel bestehen.24 Die Forschung unterscheidet entsprechend zwischen mimetischer und normativer Unzuverlässigkeit.25 Booth zufolge signalisiert der Autor eine absichtliche oder unabsichtliche Verzerrung des discours, deren Ursache Interessen, Triebe oder unzureichende kognitive und sprachliche Kompetenzen der Vermittlungsinstanz sein können. Aufgabe des Lesers ist es, die Erzählerrede einer ›Komplementärlektüre‹26 zu unterziehen und womöglich die Wahrheit zu rekonstruieren. –––––––– 20 21 22 23 24 25 26

Müller 1989: 198. Lausberg 1960: 448 Geitner 1992: 39. Paul 1978: 95–97. Booth 1983: 158f. Für einen Forschungsüberblick siehe Fludernik 2005. Martinez/Scheffel 1999: 102–104. Bauer 1993: 27f.

7

Diesem Ansatz zufolge zeichnet sich narrative Unzuverlässigkeit wie die rhetorische Ironie durch einen Widerspruch zwischen impliziter und expliziter Aussage aus. Martínez und Scheffel sprechen von einer Aufteilung der »doppelte[n] Botschaft der Ironie«27 auf zwei Ebenen: Sender der wörtlichen, unzuverlässigen Botschaft ist der Erzähler, Sender der ›eigentlich gemeinten‹ der Autor. Die Zuordnung zum Inversionsmuster ist allerdings fragwürdig, da Erzähler oft nur graduell von der Wahrheit abweichen. Die ›richtige‹ Botschaft ist deswegen nicht zwangsläufig durch eine Umkehrung der ›falschen‹ zu ermitteln. Überdies legt das rhetorische Modell eine problemlose Rekonstruktion des ›impliziten Autors‹ (Booth) nahe, worunter die durch die histoire vermittelte Botschaft zu verstehen ist.28 Die Zuschreibung einer ›eigentlichen‹ Botschaft stellt jedoch immer eine Interpretationsleistung dar. Darüber hinaus unterliegt jede Erzählerrede perspektivischen und normativen Einschränkungen, so dass sich die Frage stellt, wann von einem zuverlässigen Erzähler gesprochen werden kann. Dorrit Cohn beschreibt normative Unzuverlässigkeit als skalierbares Phänomen: Den einen Pol bilden dabei eindeutig als fragwürdig markierte, z. B. geistig behinderte Erzählerfiguren, den anderen Sprechinstanzen, bei denen keinerlei Anlass zu Skepsis besteht. Als Indikator von Unzuverlässigkeit fungiert dabei ein Widerspruch zwischen den Erzählerwertungen und dem axiologischen System der histoire: »A sense of discordance arises only when the narrator's normative views appear to clash in some manner with the story he or she tells.«29 Für den empirischen Autor ergibt sich dabei die Möglichkeit, dem Leser die zweifelsfreie Identifikation von Unzuverlässigkeit leichter oder schwerer zu machen. Friedrich Schlegels Umdeutung des rhetorischen Tropus markiert einen Einschnitt in der Begriffsgeschichte von Ironie.30 Schlegel greift die im überlieferten Konzept angelegte Vorstellung auf, der Sinn ironischer Äußerungen ›bewege‹ sich zwischen den Polen Affirmation und Negation. Im Gegensatz zur Tradition beschreibt er diese Bewegung als reversibel und stellt sie auf Dauer, so dass der Sinn zwischen den Polen Affirmation und Negation oszilliert und nicht mehr auf einer der Seiten ›einrastet‹. Eine zentrale kommunikative Funktion frühromantischer Ironie ist die Relativierung einseitiger Standpunkte und die Vermeidung von Eigensinn und Engstirnigkeit, indem im Gespräch versuchsweise eine Gegenposition bezogen wird. Im Rahmen der Salonkultur an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert überbrückt Ironie als geistige Flexibilität und »gesellige Tugend«31 der Urbanität (Weltläufigkeit) weltanschauliche und soziale Differenzen.32 Revisionsbereitschaft –––––––– 27 28 29 30 31 32

8

Martinez/Scheffel 1999: 101. Vgl. dazu Genette 1994: 286, 291 und Kindt/Müller 1999. Cohn 2000: 308. Zum Folgenden siehe Oesterreich 1994: 107–119. Braungart 2004: 12. Braungart 2004: 16.

und Einsicht in die Vorläufigkeit aktueller Positionen sind Schlegel zufolge gerade dort nötig, wo vermeintlich gesichertes und stabiles Wissen produziert wird: in der Philosophie. »Opfre den Grazien, heißt, wenn es einem Philosophen gesagt wird, so viel als: Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität«33. Ironische Konversation zielt in der Regel auf Verständigung. Die gemeinsame Orientierung an »Gesellschaft, Umgang, Freundlichkeit und Liebe«34 beugt einer ernsthaften Verunsicherung durch die Flexibilisierung des Sinns sowie einem Abgleiten der Ironie in sozial unverträgliche ›Willkür‹ und dogmatischen Relativismus vor. Allerdings stellt Schlegel auch die Exklusionsfunktion der Ironie heraus: Wer sich noch nicht ›zur Urbanität gebildet‹ hat und mit Unverständnis auf indirekte Redeweisen reagiert, schließt sich aus dem Kreis verständiger Kommunikationspartner aus. Für Schlegel ist es ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für Ernst, und den Ernst für Scherz halten.35

Diskriminierend wirkt Ironie, weil bestimmte Adressaten nicht zwischen Simulation und simulierter Simulation (Ironie) unterscheiden können: »Sie soll niemanden täuschen als die, welche sie für Täuschung halten«36. Dass exzessive Flexibilisierung eine unkontrollierbare Eigendynamik erzeugen und zu kognitiver Überlastung führen kann, thematisiert Schlegel vor allem im Zusammenhang mit der »Ironie der Ironie«37. In diesem Fall wird die ironische Operation erneut auf ihr Ergebnis angewendet, so dass keinerlei ›eigentlich Gemeintes‹ mehr festzustellen ist. In der Folge droht die »Freiheit des ironischen Idealismus in die Notwendigkeit eines Ironiezwangs umzuschlagen«, weil »man nun permanent ›wider Willen Ironie machen muß‹«.38 Das Ich läuft Gefahr, »sich selbst in einer haltlosen Fluchtlinie von unendlich ironisierbaren und letztlich gleich beliebigen Möglichkeiten zu verlieren«39. Aus gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive lässt sich die frühromantische Konzeption auf die Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung zurückführen.40 Die Ausdifferenzierung operativ geschlossener gesellschaftlicher Teilsysteme wie Wirtschaft, Kunst oder Wissenschaft führt zur Pluralisierung sozialer Rollen. Der einzelne partizipiert an einer Vielzahl von Subsystemen und bildet entsprechende Teilidentitäten aus, über die als übergeordnete ––––––––

33 34 35 36 37 38 39 40

Schlegel 1967: 251. Schlegel 1967: 183. Dazu Braungart 2004: 18–20. Schlegel 1967: 160. Schlegel 1967: 160. Schlegel 1967: 369. Oesterreich 1994: 117. Oesterreich 1994: 118. Vgl. Eibl 1995: 44.

9

Koordinierungsinstanz ein ›Manager-Ich‹ disponiert. Weil keines der Teilsysteme für sich genommen personale Identität gewährleisten kann, gerät das Subjekt in ›Außenstellung‹ zur Gesellschaft. Karl Eibl bezieht den existentiellen Ironiebegriff Friedrich Schlegels auf diese ›Exklusionsindividualität‹: Wenn […] Individualität sich durch Exklusion konstituiert, wenn also alle gesellschaftlichen Rollen, Handlungs- und Sprecherrollen, den Status des Uneigentlichen zugesprochen erhalten, dann wird die rhetorische Grundkonstellation dramatisiert und radikalisiert und in eine neue Konstellation umgedeutet. Aus dem gelegentlich verwendeten Stilmittel der uneigentlichen Rede wird eine Lebenskonzeption uneigentlichen Rollenhandelns in heterogenen Subsystemen, deren keines mehr die Person als ganze integrieren kann.41

Schlegels hypertrophe Version moderner Individualitätssemantik gipfelt in der Vorstellung einer unbegrenzten kognitiven und emotionalen Automanipulation: Ein recht freier und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und in jedem Grade.42

Schlegel knüpft diese existentielle Ironie an einen Enthusiasmus, der im Widerspruch zu der distanzierten Haltung zu stehen scheint, die das Subjekt zu den austauschbaren Stimmungen und Rollen einnimmt. Die Selbstmanipulation erreicht ihr höchstes Ziel erst dann, wenn das Ich vollständig, wenn auch nur vorübergehend, in der jeweiligen partikularen Daseinsform aufgeht: Aber sich willkürlich bald in diese bald in jene Sphäre, wie in eine andere Welt, nicht bloß mit dem Verstande und der Einbildung, sondern mit ganzer Seele versetzen; bald auf diesen bald auf jenen Teil seines Wesens frei Verzicht tun, und sich auf einen andern ganz beschränken, jetzt in diesem, jetzt in jenem Individuum sein Ein und Alles suchen und finden, und alle übrigen absichtlich vergessen: das kann nur ein Geist, der gleichsam eine Mehrheit von Geistern, und ein ganzes System von Personen in sich enthält […].43

Der frühromantische Ironiebegriff präfiguriert (post-)moderne Lebens- und Kommunikationsmodelle des 20. Jahrhunderts. In Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft (1924) bezeichnet ›Ironie‹ eine individualistische Haltung der Rollendistanz und steht damit in Opposition zum ›sozialen Radikalismus‹ völkischer, marxistischer und lebensreformerischer Bewegungen der Jahrhundertwende. Da Ironie jegliche Meinung als transitorisch und standortgebunden erscheinen lässt, bildet sie die Antithese zu lebensphilosophischen und politischen Konzepten absoluter und unveränderlicher Überzeugung, die auf letztbegründete Wahrheiten rekurrieren, keinerlei Konzession erlauben und als hoch effektive –––––––– 41 42 43

10

Eibl 1999: 58. Schlegel 1967: 154. Schlegel 1967: 185.

soziale Bindemittel dienen. Inbegriff radikaler Gemeinschaftsideologie ist für Plessner die kollektive Kriegsbegeisterung am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Plessner interpretiert sozialen Radikalismus als Folgeproblem gesellschaftlicher Modernisierung: »Maßlose Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionen bedingt maßlosen Gegenwurf im Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft.«44 Spiegelverkehrt zur romantischen Relativierungsironie, die ein »prinzipielles oppositionelles Andersseinkönnen«45 voraussetzt, beharrt die radikale Gemeinschaft auf dem ›Soseinmüssen‹ von Person und Welt, blendet Kontingenz aus und strebt die »Vernichtung der gegebenen Wirklichkeit«46 im Namen einer Ideologie an. Sie grenzt sich aggressiv von der Öffentlichkeit ab als dem »Inbegriff von Leuten und Dingen, die nicht mehr ›dazugehören‹, mit denen aber gerechnet werden muß«47. Initiationsriten symbolisieren den Verzicht auf individuelle Differenz und Intimsphäre, so dass die Einzelperson »sozusagen mit Haut und Haaren, existentiell, nicht nur auf Treu und Glauben, in die Bindung eines überpersönlichen Lebens übergeh[t]. / An Verzicht auf letzte Reserve ist hier der Bestand des Lebensganzen geknüpft.«48 Dem entspricht ein Kommunikationsideal restloser Expression, ein »Sich-los-lassen der Seele in den Ausdruck hinein«49. Ironie, Unernst, Unverbindlichkeit und taktische Rücksichten gelten als zivilisatorische Entfremdungserscheinungen, »Ehrfurcht«50 erscheint als einzig angemessene Haltung zum ›Superunbezweifelbaren‹51. Die Leitunterscheidung Ironie/Gemeinschaft steht auch im Zentrum von Richard Rortys Ironie, Kontingenz und Solidarität (1989). Rortys Interesse gilt weniger der Gefahr einer Einschränkung persönlicher Freiheit durch das Kollektiv als der Frage, wie Ironie als skeptisch-relativistische Haltung zu ethischen und metaphysischen Normen und Gewissheiten mit einem demokratischen und liberalen Minimalkonsens zu vereinbaren ist.52 Idealerweise ist der Zweifel am ›Superunbezweifelbaren‹ für ihn Privatsache einer schmalen Schicht individualistischer Intellektueller, die sich mit der westlichen Staats- und Wirtschaftsordnung abgefunden haben, aus nicht weiter ableitbaren Gründen ›Grausamkeit‹ ablehnen und notfalls bereit sind, Pluralismus und Meinungsfreiheit mit Gewalt zu ––––––––

44 45 46 47 48 49 50 51 52

Plessner 2001: 29. Oesterreich 1990: 140. Plessner 2001: 17. Plessner 2001: 48. Plessner 2001: 45. Plessner 2001: 70. Plessner 2001: 70. Dort auch zur Ironie. Luhmann 1998: 1122. Zur Verschiebung der Bezugsprobleme von Faschismus und Arbeitslosigkeit hin zu »Habgier« und »Bevölkerungsexplosion« siehe Rorty 2001: 148. Zur Konzeption von Ironie als Zweifel an der Gültigkeit begrenzter (philosophischer) ›Vokabulare‹ vgl. 127, zur demokratisch-liberalen Haltung der idealen ›Ironikerin‹ siehe 149f.

11

verteidigen.53 Den »Massen«54 traut Rorty diese Haltung jedoch nicht zu, da er befürchtet, dass massenhafter Relativismus und Individualismus letztlich zu Entsolidarisierung führen. Was die Öffentlichkeit betrifft, hält er an verbindlichen Grundsätzen, »gemeinsame[n] Vokabulare[n] und gemeinsame[n] Hoffnungen«55 fest, denn für ihn ist eine Kultur undenkbar, die ihre Jugend so sozialisierte, daß diese Jugend ständig an ihrem eigenen Sozialisationsprozeß zweifelte. Ironie scheint ihrer Natur nach eine Privatangelegenheit. Eine Ironikerin im Sinne meiner Definition kann nicht auskommen ohne den Kontrast zwischen dem abschließenden Vokabular, das sie ererbt hat, und dem, das sie für sich zu schaffen versucht. Ironie ist reaktiv, wenn nicht gar ihrem Wesen nach ablehnend. Ironiker brauchen etwas, woran sie zweifeln können, dem sie entfremdet sind.56

Rortys Problematisierung des Verhältnisses von Ironie und Solidarität leitet zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit über. Bevor nun untersucht wird, welche Rolle Modelle der Entpflichtung, der Inversion und des existentiellen Relativismus im Rahmen des Popdiskurses seit den 1980er Jahren spielen, sind die sozialhistorischen und kulturellen Bezugsprobleme dieses Diskurses darzustellen.

–––––––– 53 54 55 56

12

Rorty 1999: 128. Zur Frage der ›Wehrhaftigkeit‹ vgl. 87. Rorty 1999: 149. Rorty 1999: 147f. Rorty 1999: 150.

3. Normalisierte Abweichung: ›Massenboheme‹ in den 1960er/70er Jahren

Die folgenden Überlegungen setzen bei dem Einschnitt an, den die 1950er und 1960er Jahre in der deutschen Gesellschaftsgeschichte markieren. In groben Zügen wird der Modernisierungsschub skizziert, der zur Entstehung einer schichtübergreifenden und durch raschen Wandel gekennzeichneten ›Normalkultur‹ führt. Der Jugendkultur fällt dabei eine entscheidende Funktion zu, insofern die freizügige, von der englischsprachigen Popkultur beeinflusste Lebensweise von Heranwachsenden in Teilen der Gesellschaft auf positive Resonanz stößt und übernommen wird. Die Folge ist, dass jugendlicher Lebensstil beständig Gefahr läuft, seine Differenzqualität einzubüßen. Damit geraten Konzepte wie Gegenkultur und Underground, die auf ein statisches und antagonistisches Verhältnis zur Mehrheitskultur zielen, unter Plausibilitätsdruck und verfallen zunehmend einer jugendkulturinternen Kritik an Mitläufertum und Normalisierung, die der theoretisch ambitionierte Musikjournalismus der frühen 80er Jahre aufgreift.

3.1 »Angleichung ohne Gleichheit« In der westdeutschen Gesellschaft vollzieht sich seit den 1950er und 1960er Jahren eine historisch beispiellose Anhebung des Lebensstandards und Angleichung der Lebensumstände der Bevölkerungsmehrheit. Das ökonomische Entwicklungstempo vervierfacht sich zwischen 1950 und 1970 und führt zu Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts von jährlich 6,5 % im Durchschnitt.1 Die damit einhergehende Tendenz zur Anhebung des Durchschnittseinkommens bleibt bis in die 70er Jahre stabil, so dass die mittleren Soziallagen überproportional anwachsen.2 Hierzu trägt auch der beständige Zulauf von Arbeitern bei, die im industriellen Sektor keine Verwendung mehr finden.3 Die Zahl der Arbeiter sinkt seit 1945 von etwa der Hälfte der Erwerbstätigen auf 30,6 % im Jahr 2000. In den 60er/70er

–––––––– 1 2 3

Koenen 2002: 71. Wehler 2008: 54. Wehler 2008: 122. Hermand 1988: 28ff. Bell 1973. Wehler 2008: 58.

13

Jahren geht sie um 30 % von 13,1 auf 9,4 Millionen zurück.4 Dem entspricht ein auch durch den Ausbau der Staatsbürokratie verursachter Zuwachs bei den Angestellten, die bei Gründung der BRD lediglich 16 %, 1973 bereits 32 % und 1990 schließlich 42 % der Erwerbstätigen ausmachen.5 Hans-Ulrich Wehler bilanziert diese Entwicklung mit einer Formel Hans Haferkamps als »Angleichung ohne Gleichheit«6. Zwar ist eine Nivellierung sozialer Ungleichheit zu konstatieren, doch bleiben klassengesellschaftliche Strukturen erhalten, so dass weiterhin eine schmale Oberschicht von 1,7 % der Haushalte 74 % des Produktivvermögens kontrolliert.7 Dem stehen nicht nur die ärmsten 10 % der Steuerpflichtigen gegenüber, die 1995 netto nur den 28sten Teil des Einkommens der reichsten 10 % verdienen, sondern auch eine dauerhaft vom sozialen Aufstieg ausgeschlossene Unterschicht.8 Dennoch kann man von einem epochalen Wandel sprechen, denn noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Gesellschaft »zu mehr als vier Fünfteln durch die Unterschichten« dominiert; Not und Knappheit waren »nicht marginal, sondern normal«.9 Unstrittig ist, dass Klassenschranken und ökonomisch motivierte Konflikte in der Wohlstandsgesellschaft an Bedeutung verloren haben. Sozialstaatliche Umverteilung und tarifvertragliche Regelungen haben den ehemals zentralen Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital entschärft und entscheidend zur Auflösung der »dichotomische[n] Polarisierung in zwei feindselig getrennte Klassenlager«10 beigetragen. Dieser umfassende Homogenisierungsprozess wird auf der Ebene gesellschaftlicher Selbstbeschreibung in den 50er Jahren sogar noch überzeichnet. Die ›gefühlte‹ oder ›gewollte‹, Sicherheit versprechende Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Mitte geht weit über die tatsächliche Angleichung hinaus: Bereits am Ende der 50er Jahre wollten, wie die demoskopischen Umfragen ergaben, alle schon wieder als Bürgerliche gelten: die Freiberufler und die Selbständigen, die Beamten und die Angestellten; selbst Bauern und auch schon Teile der Arbeiterschaft drängten dorthin.11

Die kulturellen Auswirkungen dieses Wandels lassen sich wie folgt umreißen: Auf der Basis annähernd gleicher sozioökonomischer Voraussetzungen und in Folge der Öffnung vormals abgeschotteter Klassenkulturen entsteht eine relativ homogene, schichtübergreifende ›Normalkultur‹, in der sich aufgrund des allgemeinen Zugangs zu materiellen und immateriellen Kulturgütern und Dienstleistungen einheitliche Vergleichsmaßstäbe herausbilden. Eine entscheidende Rolle spielt –––––––– 4 5 6 7 8 9 10 11

14

Wehler 2008: 160. Wehler 2008: 146. Wehler 2008: 211. Wehler 2008: 212. Wehler 2008: 123. Schulze 1992: 55. Wehler 2008: 110. Wehler 2008: 140.

dabei die umfassende Streuung von Information durch Radio und Fernsehen. Bereits 1960 verfügen 38 % der Haushalte über ein TV-Gerät, 1965 die Hälfte, 1969 84 %, 1978 95 % und 1989 99 %.12 Seit dem Auftreten privater Anbieter in der zweiten Hälfte der 80er Jahre weitet sich der Programmumfang beträchtlich aus. Dem einzelnen ist es in nie dagewesenem Ausmaß möglich, seinen Lebensstil ins Verhältnis zur Bevölkerungsmehrheit zu setzen. Der Radius sozialer, ethischer und lebensästhetischer Vergleichsmöglichkeiten weitet sich aus, so dass eine Verständigung über Akzeptabilitätsgrenzen von Verhalten wie über den distinktiven Wert käuflicher Produkte und Dienstleistungen in einem tendenziell universalen gesellschaftlichen Rahmen möglich wird. Zugleich steigt aufgrund der Verfügbarkeit insbesondere nicht überlebensnotwendiger Produkte wie etwa Kosmetikartikel die gesellschaftliche Relevanz geschmacksbedingter Entscheidungen. Dies wird als Freiheitsgewinn, aber auch als Selektionsdruck erfahren, denn selbst wer sich der Auswahl verweigert, »weiß doch immerhin, dass er die Möglichkeit dazu hätte«13. Darüber hinaus erhöhen sich die Anforderungen an das ›Selbstmanagement‹ des einzelnen, der sich als Erwerbstätiger keine spontane Wunscherfüllung und Triebbefriedigung erlauben kann, während ihm als Konsument das Gegenteil abverlangt wird.14 Das gesamtgesellschaftliche kulturelle Vergleichsfeld ist durch die Verteilung ökonomischer Ressourcen vorstrukturiert, weist aber keine unüberschreitbaren sozialen Grenzen auf. Die Oberschicht verliert ihr Privileg auf prestigeträchtige Güter. Man kann sich den Unterschied zu früheren Formen kultureller Differenzierung anhand der Automobilisierung seit den 50er Jahren vor Augen führen. Auch Angehörige der mittleren Klassen und Arbeiter können sich nun ein Auto leisten. Dabei hängt die Wahl des Modells zwar von der Preisklasse ab, doch auch mit einer kostengünstigeren Variante ist der Käufer Teil der herkunfts-, alters- und milieuunabhängigen Gruppe von Autobesitzern. Er kann sich mit anderen Kraftfahrzeughaltern vergleichen und seine Position auf einer Kosten- und Prestigeskala feststellen. Wehler tendiert dazu, den kompletten Lebensstil auf Herkunft und ökonomisches Kapital zurückzuführen und kulturelle Unterschiede primär als soziale Erkennungszeichen aufzufassen, die zur Reproduktion bestehender Ungleichheit beitragen.15 Allerdings schreibt er der Kultursphäre relative Autonomie zu.16 Im Rahmen des obigen Beispiels ließe sich dies daran veranschaulichen, dass Autos derselben Preisklasse sich hinsichtlich ihrer Sportlichkeit oder Umweltverträglichkeit unterscheiden, so dass die Entscheidung für ein bestimmtes Modell milieu- und altersspezifische sowie individuelle Geschmackspräferenzen spiegeln kann. Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass ––––––––

12 13 14 15 16

Wehler 2008: 79, 396. Glaser 1997: 461. Schulze 2000: 57. Bell 1991: 10. Wehler 2008: 211. Wehler 2008: 78.

15

sozioökonomische Homogenisierung sowohl die Vergleichbarkeit von Lebensstilen, Werten und Präferenzen fördert als auch die Grundlage für eine Pluralisierung und Feinabstufung kultureller Unterschiede bildet.

3.2 Flexibilisierung Aus theoretisch anspruchsvollerer Perspektive lässt sich der von Wehler als »Angleichung ohne Gleichheit« beschriebene Modernisierungsschub mit Jürgen Link als Normalisierungsprozess oder mainstreaming fassen. Die »Herstellung grob gesehen glockenähnlicher Verteilungen von Wissen, Einkommen, Wahlverhalten usw. auf der Basis von Verdatung und kompensierender Intervention«17 erreicht in den Nachkriegsjahrzehnten ein Ausmaß, das ähnliche Tendenzen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert weit in den Schatten stellt. Die oben mit Zahlen belegte »Einkommensverteilung mit einem glockenartigen Bauch in der Mittelzone und dem (angeblich) symmetrischen Abfallen an den beiden Seiten der sehr hohen und sehr niedrigen Einkommen« kann als »Modellsymbol der sozialen Normalität« gelten und stellt die Möglichkeitsbedingung einer Vielzahl von ›Normalisierungen‹ in gesellschaftlichen Bereichen wie Medizin, Politik und Kultur dar.18 Zu den Voraussetzungen eines umfassenden mainstreamings zählen überdies Urbanisierung, Einbeziehung der Frauen in die Erwerbsarbeit, Enttraditionalisierung der Lebensmuster und Lockerung der Bindungen an Klasse, Familie, Religion und Region.19 Nur ›atomisierte‹ Individuen lassen sich innerhalb homogener und graduierbarer Vergleichsfelder verteilen.20 Hinzu kommt die technisch bedingte Ausweitung medialer Vergesellschaftung. Auf dieser Grundlage multiplizieren sich Möglichkeiten der ›Selbstnormalisierung‹. Darunter ist die Selbstverortung auf »imaginäre[n] Normalitätsachsen bzw. Normalitätsflächen mit Mittellinien, Toleranzzonen, Normalitätsgrenzen und Zonen der Anormalität«21 zu verstehen. Das »eigentliche ›Thema Nummer eins‹ aller Alltagsgespräche im Normalismus« kommt im Zeitalter elektronischer Massenkommunikation an: »die Frage, ob das, was X und Y gemacht haben […], noch normal ist, gegebenenfalls gefolgt von impliziten oder expliziten Distanzierungen«.22 Das Fernsehen versorgt die Menschen mit »Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen«23, auf deren Grundlage sie ihre Lebensführung gemäß allgemeiner Normalitätsvorstellungen adjustieren können. Exemplarische ›De–––––––– 17 18 19 20 21 22 23

16

Link 2006: 43. Link 2006: 27. Dazu Siegfried 2006: 16. Link 2006: 329. Link 2006: 352. Link 2006: 352. Link 2006: 41.

normalisierungsgeschichten‹ wirken dabei abschreckend oder anziehend, je nachdem, ob die dargestellte Entfernung von der gesellschaftlichen ›Mitte‹ eher als gefährliche Absonderung oder als Möglichkeit zu außergewöhnlichen und intensiven Erfahrungen erscheint. Link zufolge wandelt sich seit den 1960er Jahren der Modus normalistischer Verhaltensregulierung. In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominieren ›protonormalistische‹ Subjektivierungsformen, die Normalität auf der Basis vorab feststehender, eng gefasster und restriktiv gehandhabter Normen produzieren, das Verhältnis von Normalität und Anormalität als Diskontinuität modellieren und auf Außenlenkung, Manipulation und ›Dressur‹ der Individuen setzen. Später etabliert sich ein ›flexibler Normalismus‹, der auf Basis nachträglich errechneter Durchschnittswerte, verschiebbarer Normalitätsgrenzen und breiter Toleranzzonen operiert, zur Expansion von Normalbereichen tendiert und die Subjekte zur Selbststeuerung anhält.24 Die Flexibilisierung der Normalitätsgrenzen lässt sich anhand der veränderten gesellschaftlichen Einstellung zur Homosexualität demonstrieren: »Lange Zeit lag Homosexualität jenseits der sexuellen Normalitätsgrenze, bevor diese Grenze verschoben wurde.«25 Mit der Durchsetzung flexibelnormalistischer Verhältnisse wächst die Toleranz für »lockere[s] In-sich-Zulassen von Exploration, Experiment, Spiel, Ausstieg, Androgynie, Homosexualität usw.«26 Begrenzend und mäßigend wirkt demgegenüber die »›Gravitation‹ des Durchschnitts«27. Zu große Entfernung vom Mittelmaß löst Angst oder Scham aus, wodurch eine Renormalisierung in die Wege geleitet wird. Bei exzessiver Denormalisierung droht »ein Umschlag in den Protonormalismus«28: Die Expansionstendenz kehrt sich um, und an die Stelle breiter Übergangszonen treten binäre Dichotomien und Stigmagrenzen. Für die Flexibilisierungsthese spricht eine Fülle historischer Daten. So verändern sich seit dem Ende der »Hochindustrialisierungsepoche«29 in den 60er/70er Jahren die Formen der Vergesellschaftung durch Erwerbsarbeit. Anders als die ›tayloristischen‹ und ›fordistischen‹ Modelle standardisierter Industrieproduktion, die minimale Entscheidungsspielräume für die Arbeiter vorsahen und mit stetig verlaufenden Normalerwerbsbiographien korrelierten, ist Arbeit in der Dienstleistungs-, Angestellten- und Wissensgesellschaft mit der Bereitschaft zu Eigeninitiative, konstruktiver Kritik und Mobilität verbunden und begünstigt die Ausbildung einer flexiblen und selbstbewussten Geisteshaltung. Vor diesem Hintergrund lassen sich die modernen Jugendsubkulturen seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre als gesellschaftliche Avantgarde flexibler Normali–––––––– 24 25 26 27 28 29

Vgl. Link 2006: 71. Link 2006: 40. Link 2006: 87. Link 2006: 354. Link 2006: 356. Wehler 2008: 58.

17

sierung deuten. Der »Möglichkeitsraum Jugend«30, den die prosperierende westdeutsche Gesellschaft der nachrückenden Generation auf der Grundlage einer verlängerten Adoleszenzphase, der gestiegenen Produktion von Konsumgütern, der Ausweitung der Freizeitbudgets und des Ausbaus des Unterhaltungssektors bietet, wird zum Schauplatz mehr oder weniger ungewöhnlicher, auch irregulärer und gegen restriktive Verhaltensanforderungen verstoßender Lebensstile. Diese weichen »von einer enggeführten Normalität [der] Erwachsenenkultur« ab – »am deutlichsten in der 68-er Bewegung, die sich auch selbst als Gegenkultur verstanden hat«.31 Aus der historischen Distanz ist dieses Selbstverständnis als Gegenspieler der Gesellschaft zu relativieren. Jugendkultur übernimmt vielmehr eine Pilotfunktion in einem Modernisierungsprozess, der die Haltbarkeitsdauer von Wissen verkürzt und deswegen zu einer verstärkten Orientierung Erwachsener am Verhalten Heranwachsender führt – »vor allem im Freizeit-, Medien- und Konsumbereich […]. Dementsprechend ist […] Jugendlichkeit kein Wert mehr, der entwicklungspsychologisch an eine bestimmte Altersstufe gebunden bleibt, sondern ist zum gesellschaftlich allgemein akzeptierten Wert geworden«32. Jugendsubkulturen lassen sich mit Link als »Enklaven an und um die Normalitätsgrenzen herum (Drogen, Alkohol, Promiskuität, sexuelle Abweichung, gewollte Arbeitslosigkeit)«33 beschreiben. Massenmediale Berichterstattung ermöglicht die Imitation und Verbreitung solch ›anormalen‹ Verhaltens. Die gleiche Funktion erfüllt die kulturindustrielle Massenproduktion von Konsumgütern, die den Nimbus ›jugendlicher‹ Werte wie Risikofreude, Mobilität und Nonkonformismus tragen und jedem zahlungskräftigen Käufer zur Verfügung stehen. Der forcierte ›Anti-Protonormalismus‹ und ›Trans-Normalismus‹34 der 60er/70er Jahre, der ein »hierarchisches Verhältnis zwischen der jeweiligen Jugendkultur und der dominanten Erwachsenenkultur«35 unterstellt, lässt sich somit als Beitrag zur Flexibilisierung und Liberalisierung einer Gesellschaft verstehen, welche die Folgen moderner Wachstumsdynamik zu verarbeiten hat.

3.3 Jugendliche als Schrittmacher des kulturellen Wandels Jugendkultur erscheint aus dieser Perspektive als gesellschaftliches Testlabor für unkonventionelle, hedonistische und kritische Einstellungen und Verhaltensformen, die negativ auf den Kulturstil der Mittelschichten bezogen sind, sich gegen ein teils aggressives Beharren auf Uniformität richten und die Bevormundung –––––––– 30 31 32 33 34 35

18

Sander/Vollbrecht 1998: 192. Sander/Vollbrecht 1998: 197. Sander/Vollbrecht 1998: 205. Link 2006: 460. Link 2006: 22. Sander/Vollbrecht 1998: 197.

durch eine traditionalistische und paternalistische ›Offizialkultur‹ abzuschütteln versuchen. Sie tragen zur kulturellen Ausdifferenzierung und Entdogmatisierung einer Gesellschaft bei, die in »eingefahrenen, aber nicht mehr umweltadäquaten Verhaltensmustern«36 zu erstarren droht und der sozioökonomischen Entwicklung mental hinterherhinkt. Während der Restaurationsphase waren die dafür nötigen Spielräume sehr eng gesetzt, da »[a]lle Kräfte […] auf die Wiederherstellung der Normalität, auf Wiederaufbau und materielle Absicherung«37 gerichtet waren. Seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre nimmt der Import englischsprachiger Popkultur zu. Jazz, Dixieland, Rock and Roll und Beat finden immer mehr Anhänger. Etwa zeitgleich etabliert sich ein investigativer Journalismus, der dem mündigen Bürger verpflichtet ist, die Konfrontation mit rechtskonservativen Strömungen sucht und auch vor scharfer Kritik an Staatsvertretern nicht zurückschreckt, wie die Spiegel-Affäre im Jahr 1962 zeigt.38 Neue, auf die Bedürfnisse und Interessen von Jugendlichen und Jungerwachsenen zugeschnittene Zeitschriften werden gegründet, die eine freizügige Sexualmoral, Konsumbereitschaft, Infragestellung rückständiger, noch faschistisch geprägter Einstellungen und die Abwendung vom herrschenden Utilitarismus propagieren. ›Postmaterialistische‹ Werte wie Selbstverwirklichung und Ausweitung der politischen Partizipationsmöglichkeiten steigen im Kurs.39 Besonders hervorzuheben sind Bravo, Twen, das von Autoren der später so genannten Neuen Frankfurter Schule (z. B. Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid, F.W. Bernstein) belieferte Satiremagazin pardon sowie die antikapitalistische, anfangs von der DDR-Staatsführung finanzierte und in Studentenkreisen beliebte Zeitschrift konkret.40 Vor dem skizzierten Hintergrund lässt sich ›1968‹ – die »phantasmagorische[] Weltrevolution« der »jeunesse dorée dieser Nachkriegsjahrzehnte«41 – als Kulminationspunkt eines lange vorher angelaufenen und sich selbst verstärkenden Liberalisierungstrends deuten. Die »nachholende Kulturrevolution« räumt das Entwicklungshemmnis einer restriktiven Konsum- und Sexualmoral beiseite und sichert damit dem längst virulenten flexiblen Normalismus definitiv die kulturelle Hegemonie […]: Seither gelten […] etwa bestimmte normative Normen der katholischen Kirche wie das Zölibat oder das Verbot von Präservativen in der hegemonialen Kultur […] als definitiv nicht mehr ›normal‹.42

–––––––– 36 37 38 39 40 41 42

Dazu Luhmann 1992: 27. Sander/Vollbrecht 1998: 199. Wehler 2008: 272. Wehler 2008: 140. Siegfried 2006: 281ff. Koenen 2000: 77. Link 2006: 23.

19

Im Unterschied zur Selbstbeschreibung von Akteuren, die das Verhältnis von Gegenkultur und Gesellschaft als disjunkte Opposition modellieren, sind jugendliche Erlebniswelten vielfältig ins gesellschaftliche Geschehen eingebunden. Dieter Baacke hat schon 1968 mit Blick auf die Beatszene das ambivalente und keineswegs durchweg nonkonformistische Verhältnis zur »Macht kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen«43 herausgestellt. Seine Formel »Opposition in der Gesellschaft und mit den Mitteln der Gesellschaft gegen die Gesellschaft«44 ähnelt bis in den Wortlaut hinein der Beschreibung neuer sozialer Protestbewegungen, die sich drei Jahrzehnte später bei Niklas Luhmann findet: »Man denkt im genauen Sinne in der Gesellschaft für die Gesellschaft gegen die Gesellschaft.«45 Doch die gesellschaftliche Funktion der Jugendkultur wird erst greifbar, wenn man deren Anteil an der Expansion von Normalitätsgrenzen berücksichtigt. Entscheidend ist die Adaption und Modifikation abweichender Kulturpraktiken durch den Mainstream. Detlef Siegfried illustriert dies in seiner Studie zu Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre anhand des Siegeszugs der Langhaarmode, die noch in der ersten Hälfte der Dekade ein begrenztes Phänomen darstellt. In der ersten Ausgabe der Star-Club-News vom August 1964 ist zu lesen: Jedem nüchtern denkenden Menschen ist […] ein Beatle-Haircut lieber als der paramilitärische Plätzchenschnitt unserer jüngeren Geschichte. Und elektrische Gitarren erzeugen einen angenehmeren Klang als das Landsknechtgetrommel und die Verfahren der schon wieder gegen Ostland drängenden neuen Jugendverbände. Auch wenn diese vorgeben, für eine neue Freiheit zu tönen, in der mancher dem Nächsten sogar seinen Haarschnitt und seinen Musikgeschmack vorschreiben will. Sie heucheln eben wieder. Immer noch!46

Die ablehnende Reaktion konservativer Erzieher und Politiker, die wie Bundeskanzler Erhard ihren Willen bekunden, dieses »Unwesen« zu »zerstören«47, kontern gewitzte Teenager mit dem Hinweis auf verfassungsmäßig garantierte Freiheiten: Da wir in einer Demokratie leben, kann meiner Ansicht nach jeder machen, was er will […]. Einige Lehrkräfte sehen es nicht gern, wenn man lange Haare hat, und sie würden es gerne sehen, wenn diese Schüler von der Schule gewiesen würden, aber das ist eine falsche Einstellung, denn nicht sie müssen mit langen Haare herumlaufen […].48

Die Hetze gegen ›Gammler‹ und ›Hippies‹ bestätigt radikale Kreise in der Meinung, die offizielle Freiheitsrhetorik sei pure Heuchelei und ein Rückfall in –––––––– 43 44 45 46 47 48

20

Baacke 1970: 112. Baacke 1970: 112 Luhmann 1998: 862. Zit. n. Siegfried 2006: 246f. Zit. n. Siegfried 2006: 411. Zit. n. Siegfried 2006: 67.

den Faschismus jederzeit möglich: »Wer Haare abschneiden will, will im Grunde Köpfe abschneiden«49, heißt es in Bernward Vespers autobiographischem Romanessay Die Reise. Doch bereits zu Beginn der 70er Jahre erobert die neue Mode Bastionen ›normierter Männlichkeit‹ wie Heer, Polizei und Fußball-Bundesliga. Die juristische Stellungnahme zur Auseinandersetzung um die Duldung langer Haare in der Bundeswehr ist ein Lehrstück in Sachen flexibel-normalistischer Argumentationsweise: Auch die Bundeswehr passte sich diesem Trend an, weil sie, wie sie selbst einräumte, ›in ihrem Erscheinungsbild die Entwicklung des allgemeinen Geschmacks nicht unberücksichtigt lassen‹ könne. Ein Gericht hatte entschieden, dass ein ›herkömmliches Erscheinungsbild des Soldaten‹ nicht existiere, sondern sich Haar- und Barttrachten je nach der Mode änderten.50

Die Ablösung von normativen Vorgaben ist jedoch nur ein Aspekt der normalisierenden Verbreitung. Bedingung der Verschiebung von Normalitätsgrenzen ist eine positive Rückkopplung zwischen Lebensstil-Avantgarde und Mainstream. Der Underground gerät aufgrund von Nachahmung unter Distinktionsdruck und antwortet mit einer Verschärfung äußerlicher Unterschiede. Wer zum ›harten Kern‹ gehört, lässt seine Haare weiter wachsen. Da Teile der ›Normalbevölkerung‹ auch dies imitieren, kommt eine Abweichungsverstärkung in Gang, die durch den Einfluss mäßigender gesellschaftlicher Kräfte – die »›Gravitation‹ des Durchschnitts« (Link) – begrenzt wird. Die Entwicklung regrediert auf einen neuen Mittelwert: Zu diesem Zeitpunkt [1972, C. R.) waren langhaarig nicht nur Beat-Anhänger, Gammler, politisierende Provos und die männlichen Mitglieder der Kommune I, sondern auch Fußballer, Fernsehmoderatoren, sich jugendlich gebende Politiker, Manager der Plattenindustrie und Konzertveranstalter, Drogendealer, gewalttätige ›Rocker‹ und – in Maßen – selbst Anhänger der Jungen Union. Linken ›Protest‹ jedenfalls signalisierten lange Haare keinesfalls mehr automatisch. […] Im selben Jahr eruierte die Meinungsforschung, nur noch 23 Prozent der Westdeutschen fänden lange Haare ›unmöglich‹. Eine Mehrheit in der Bevölkerung […] bevorzugte einen ›gepflegten halblangen Haarschnitt‹. Von dieser neuen Konvention mußten bestimmte Subkulturen eines ihrer wichtigsten Erkennungsmerkmale absetzen […]. Die Haare mußten mindestens Schulterlänge erreichen und durften keineswegs dezidiert ›gepflegt‹ aussehen.51

Der skizzierte Ablauf hat Modellcharakter für das dynamische Verhältnis von jugendlicher Avantgarde und ›Normalkultur‹. Er erklärt, warum sich der Inhalt dessen, was mit ›Gegenkultur‹ gemeint ist, fortlaufend [verschiebt]. Wegen der Spannung zwischen gegenkultureller Abgrenzung auf der einen, konsumindustrieller Aufnahme und Verbreiterung auf der anderen Seite, sind Gegenkultur

–––––––– 49 50 51

Vesper 2003: 70. Siegfried 2006: 394f. Siegfried 2006: 396.

21

und Kulturindustrie nicht als Antipoden zu sehen, sondern voneinander abhängige Faktoren moderner Massenkultur, die im Wechselspiel für andauernden Wandel sorgen.52

Das heißt aber, dass die Jugendkultur der 60er/70er Jahre sich permanent am Rande einer Identitätskrise befindet und gezwungen ist, der inflationären Verbreitung ihrer Codes ständig durch Innovation, Zuspitzung und Geheimhaltung zuvorzukommen. Vor allem droht ihrer Selbstbeschreibung als ›Gegenkultur‹ ein Glaubwürdigkeitsverlust, insofern die Austauschbeziehungen zum Mainstream auch jugendkulturintern in den Blick kommen.

3.4 Selbstbeschreibung: ›Gegenkultur‹ Das antiprotonormalistische Konzept counterculture setzt eine statische, dichotomische, antagonistische und hierarchische Relation von progressivem Underground und rückwärtsgewandter ›Mehrheitskultur‹ voraus und steht damit in einem Spannungsverhältnis zur prozessualen Wechselbeziehung beider Bereiche. Dies sei anhand von Helmut Salzingers Zitatcollage Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution? ausgeführt. Der 1935 geborene Musikjournalist und promovierte Germanist Salzinger gilt als einer der wenigen deutschen Popkritiker vom Rang englischsprachiger Autoren wie Lester Bangs, Greil Marcus oder Simon Frith.53 Mit Rock Power legt er 1972 eine Sammlung repräsentativer Stimmen und Positionen der ›klassischen‹ Gegenkultur vor. Diedrich Diederichsen bezeichnet Rock Power in einer Rezension der Neuauflage von 1982 als »ungemein anregendes Dokument theoretischer Auseinandersetzung innerhalb der frühen Hippie/Alternativ-Szene um Musik«, das er als »Teenager […] mehrfach verschlungen« habe.54 Sein Einwand, das Buch trage schon die »Keime der Degeneration«55 in sich, zielt auf theoretische Schwachstellen, die seit der Erstveröffentlichung zu Tage getreten seien, und erschließt sich erst vor dem Hintergrund eines Generationenwechsels und der damit verbundenen Streitigkeiten Anfang der 80er Jahre. Möglicherweise ist er auch durch eine polemische Stellungnahme Salzingers gegen die von Diederichsen repräsentierte Punk- und New-Wave-Bewegung und deren Anpassung an den kommerziellen Zeitgeist motiviert.56 Als Diederichsen 1979 der Sounds-Redaktion beitritt, lebt Salzinger bereits zurückgezogen auf dem norddeutschen Land. Ohne in je persönlich kennen gelernt zu haben, verfasst Diederichsen 1993, ein Jahr nach Salzingers Tod, einen Nachruf –––––––– 52 53 54 55 56

22

Siegfried 2006: 356. Schäfer 2008, Hartge/Zühlke 2007, Modick u. a. 1996. Sounds 4/1982: 56. Sounds 4/1982: 56. Siehe Sounds 3/1981: 40f.

auf den älteren Kollegen. Zwar kommt er nur am Rande auf Salzingers Vita zu sprechen und lässt stattdessen das Hamburger Subkulturmilieu der späten 70er und frühen 80er Jahre Revue passieren, doch räumt er ein, sein »Denken über Musik vor jener Zeit« sei »massiv […] von den Schriften Helmut Salzingers« beeinflusst worden.57 Seiner Textcollage Rock Power entnahm ich erstmals als 15jähriger die Wahrheit, daß es einen Widerspruch nicht nur zwischen ›kommerziell‹ und ›progressiv‹ gäbe, was damals eh jeder wußte, sondern auch zwischen z.B. weißer Mittelklasse-Aneignung schwarzer Musik und deren Selbstbild. Und vieles mehr.58

Diederichsen stellt seine Bedenken gegenüber dem alternativen Wertkanon der 60er/70er Jahre beiseite, äußert Verständnis für Salzingers »ökologische Wende«59 und würdigt die Errungenschaften der Hippie-Generation exemplarisch anhand von Frank Zappas Album We’re only in it for the Money (1968). Zappas Hippiesatire unterziehe, so Diederichsen, die »guten, idiotischen Utopien«60 der ausgehenden 60er Jahre einer grundsätzlich solidarischen Kritik. Damit entspricht sie exakt Diederichsens Einstellung zu den Vorgängern. Der Vorwurf der ›Idiotie‹ bezieht sich auf die vermeintliche Naivität und Unterkomplexität gegenkultureller Denkmuster. Er zielt auf eine spiegelverkehrte Übernahme ›mehrheitsgesellschaftlicher‹ Normen, wie sie beispielsweise an der Semantisierung langer Haare abzulesen ist. Kurze Haare signalisieren »Autorität, Disziplin, Freudlosigkeit, Langeweile, Starrheit, Lebenshaß. Langes Haar dagegen ist gleichbedeutend mit Enthemmung, Unförmlichkeit, Freiheit, Offenheit«61. Da Zwischenstufen und Mittelwerte nicht vorgesehen sind, kann man nur einem von zwei Lagern angehören – wie es in Norman Mailers The White Negro heißt: »[O]ne is hip or one is Square […], one is a rebel or one conforms«62. »[Z]umindest zu einem großen Teil«, schreibt Salzinger, habe das Rockpublikum »der herrschenden Gesellschaft den Kampf angesagt«63. Dieser Antagonismus rechtfertigt es für Salzinger, dass Bands im Widerspruch zu ihrer antikapitalistischen Gesinnung mit Unterhaltungskonzernen kooperieren, da nur so die Massenwirksamkeit gegenkulturellen Gedankengutes gewährleistet sei. Die gesellschaftlichen Zielsetzungen der counterculture beschränken sich in der Regel auf die Beteuerung, die bestehende, repressive Ordnung müsse umgestürzt werden, um an ihrer Stelle »eine neue Gesellschaft«64 »fern aller Zwänge«65 aufzubauen, ––––––––

57 58 59 60 61 62 63 64 65

Diederichsen 1994: 87. Diederichsen 1994: 87. Diederichsen 1994: 88. Diederichsen 1994: 87. Zit. n. Salzinger 1972: 169. Zit. n. Frank 1997: 12. Vgl. Mailer 1986: 372. Salzinger 1972: 36. Zit. n. Salzinger 1972: 70. Zit. n. Salzinger 1972: 69.

23

von der Festivals und Konzerte einen Vorgeschmack vermitteln. Aus heutiger Sicht fällt auf, dass die Möglichkeit von »Alternativen zum schlechten Bestehenden«66 nicht in Frage steht. Der »verabsolutierten, technokratischen Rationalität der kapitalistischen Industriegesellschaft«67 wird angelastet, vor Krieg, Armut und Unterdrückung kapituliert zu haben. In Westdeutschland verbindet sich die Herrschafts- und Technikkritik mit der Aufarbeitung faschistischer Verbrechen, so dass im Unterschied zu Amerika eine Berufung auf nationale Werte nicht vorstellbar ist. Rockmusik ist laut Salzinger der erste Schritt zur Revolution: Der Begriff Rock Power enthält die Behauptung, daß die Musik, die wechselweise als Beat-, Pop-, Rock- oder Underground-Musik bezeichnet wird, etwas mit Politik zu tun habe, und zwar mit jener Art von Politik, die nach der geläufigen Terminologie nicht bloß linksorientiert, sondern soweit linksorientiert ist, daß die gestandenen Politiker sämtlicher etablierten gesellschaftlichen Systeme dazu neigen, ihr das Prädikat des Politischen ab- und das des Träumerisch-Utopischen oder gar des Kriminellen zuzusprechen, weil sie nämlich nichts Geringeres als die Abschaffung eben dieser gesellschaftlichen Systeme bezweckt, kurz: mit revolutionärer Politik. Der Begriff Rock Power behauptet, die Musik trage dazu bei, die Revolution in Gang zu setzen.68

Da jedoch die wirtschaftliche Dimension der Rockkultur kaum zu leugnen ist, finden sich bei Salzinger auch pessimistische Einschätzungen: »Revolution ist der Name des drugstores auf der Hamburger Reeperbahn«69. Dass Musik auch unterhalten, Heranwachsende mit Identitätsmustern versorgen oder reaktionäre Ideen transportieren kann, spielt kaum eine Rolle. Verglichen mit Selbstaussagen von Musikern, die in Rock Power zitiert werden, ist Salzingers These, »die Musik« bezwecke die Revolution, weder falsch noch richtig. Während sie für Bands wie die MC5, The Fugs oder Ton Steine Scherben zutrifft, gilt sie für die Rolling Stones oder Beatles nicht oder nur bedingt. Doch selbst Mick Jaggers explizite Zurückweisung der ihm angetragenen Rolle eines politischen Führers und seine Distanzierung vom Marxismus-Leninismus bringen Salzinger nicht von seiner Meinung ab. Die Songtexte zur Nebensache erklärend, sieht er in der emotionalen Mobilisierung die vornehmliche Leistung der Popmusik.70 Ob Saalschlachten der »Halbstarken« in den 50er Jahren oder free concerts der Rolling Stones im Hyde Park – die aggressive Stimmung muss ihm zufolge lediglich gegen die Machthaber gerichtet werden, um einen »Emanzipationsprozeß«71 einzuleiten. Die gegenkulturelle Selbstbeschreibung als »Subkultur«72 oder »Untergrund«73 stützt sich auf hierarchische und Zentrum/Peripherie-Differenzen, wodurch das –––––––– 66 67 68 69 70 71 72

24

Zit. n. Salzinger 1972: 196. Zit. n. Salzinger 1972: 65. Salzinger 1972: 34. Salzinger 1972: 89. Salzinger 1972: 77. Zit. n. Salzinger 1972: 69. Salzinger 1972: 36.

relationale Verhältnis zur ›Normalgesellschaft‹ bewusst gehalten wird. Sie enthält mithin einen Hinweis auf die Grenze gegenkulturellen Autonomiestrebens und impliziert ein gewisses Maß an ›Verstrickung‹, das durch symbolische Abgrenzungsgesten nie ganz ausgeblendet werden kann. Potentiell problematisch ist auch der gegenkulturelle Anspruch auf Minderheitenstatus, der mit wachsender Popularität des entsprechenden Lifestyles fragwürdig erscheint. Obgleich solche Proliferation in Anbetracht der sozialutopischen Zielsetzungen des Alternativmilieus eigentlich positiv bewertet werden müsste, führt sie zu Kritik am Opportunismus halbherziger ›Mitläufer‹. Gewünscht ist dagegen die Allianz mit aus ethnischen, sozialen und rechtlichen Gründen benachteiligten sozialen Gruppen, wie Helmut Salzinger 1981 im erwähnten Artikel gegen die ›angepasste‹ NewWave-Generation in Erinnerung ruft: [W]ir glaubten […] nicht an die Möglichkeit, die bestehende Gesellschaft von innen zu verändern. Wir setzten auf das Randgruppenkonzept. Wie Ed Sanders von den Fugs es ausgedrückt hatte: Der totale Angriff auf die Kultur muß von außerhalb des Systems vorgetragen werden, allenfalls von seinen Rändern her, von Kriminellen, Süchtigen, Farbigen. Na schön, die Sache hat sich in der Praxis als Pleite erwiesen. Aber die Theorie war gut!74

Die scheiternde Umsetzung gilt nicht als Beleg für die Mangelhaftigkeit des Programms. Typisch ist auch, dass der Unterschied zwischen freiwilliger, temporär begrenzter Selbststigmatisierung und unfreiwilliger Exklusion unterschlagen wird, auch wenn in Rock Power Schwarze zu Wort kommen und die Selbstbezeichnung »freiwillige Neger«75 ebenso in Frage stellen wie die Behauptung, lange Haare hätten dieselben sozialen Folgen wie schwarze Hautfarbe: »Ihr könnt eure Haare abschneiden. […] Es ist ein weit hergeholter Gedanke, der euch in die Lage versetzen soll, euch als Teil einer Gruppe außerhalb, oder so gut wie außerhalb, der sozialen Struktur zu fühlen«76. Das gegenkulturelle Gemeinschaftsleben zeichnet sich durch entformalisierte Umgangsformen (Anrede mit dem Vornamen, körperlicher Kontakt, Slang usw.) aus, die Irrelevanz von Herkunfts- und Rangunterschieden suggerieren. Herausgehobene Persönlichkeiten der Hippie- und Studentenbewegung wie Ken Kesey, John Sinclair, Hans-Jürgen Krahl, Fritz Teufel oder Rudi Dutschke unterliegen besonders hohen Anforderungen an Integrität und Bescheidenheit, wie Dutschke erfährt, als er 1968 mit dem Marxschen Kapital unterm Arm für die Zeitschrift Capital posiert und daraufhin Kritik aus den eigenen Reihen auf sich zieht.77 Affektkontrolle steht, ähnlich wie im Rahmen der ›sozialradikalen‹ Gemein–––––––– 73 74 75 76 77

Zit. n. Salzinger 1972: 69. Sounds 3/1981: 41. Zit. n. Salzinger 1972: 176. Zit. n. Salzinger 1972: 176. Siegfried 2006: 514f.

25

schaftsideologie, unter Entfremdungsverdacht.78 Angestrebt wird eine ›authentische‹, nicht durch Rücksichten auf Sitte und Anstand verfälschte Artikulation von Bedürfnissen und Meinungen.79 Als ein Prüfstein von Authentizität gilt dabei die Unabhängigkeit von der überkommenen Sexualmoral, und dementsprechend wird Popmusik als Ausdrucksmedium unterdrückter Triebe begriffen, die sonst nur in verstümmelter Form ausgelebt werden können. Die Forderung nach sexueller Freizügigkeit geht Hand in Hand mit einem oftmals diffusen Antikapitalismus, mustergültig zum Ausdruck gebracht in (I can’t get no) satisfaction (1965) der Rolling Stones, das im gleichen Atemzug sexuelle Frustration und Wut über die »useless information« der Radio- und Fernsehwerbung artikuliert. Laut Rock Power lautet die Botschaft, sich nicht mit »Ersatzbefriedigungen«80 abspeisen zu lassen. Im Song heißt es freilich weiter, der im Fernsehprogramm auftretende Mann »can’t be a man ’cause he doesn’t smoke / the same cigarrettes as me«. Das paradoxe Verhältnis der Gegenkultur zum Konsum wird damit auf den Punkt gebracht: Unmittelbar nachdem man sich von den leeren Versprechungen des Kapitalismus losgesagt hat, wird der Distinktionswert der Ware ganz unproblematisch in Anspruch genommen. Im Vordergrund gegenkultureller Ästhetik stehen allerdings weniger die Songtexte als eingängige Melodien, mitreißende Rhythmen und überwältigende elektronisch verstärkte Sounds, deren enthemmende Wirkung als ›progressiv‹ gilt. »Mann, war das ’ne Hühnerfickerrepublik in den dreckigen 50ern!«, erinnert sich Peter-Paul Zahl 1978, »[w]ir sollten werden wie die! [...] Und dann kam da music, man, schwarze Musik, der Blues [...] und der Rock«.81 Sie fährt direkt in die Beine, ins Becken, in den Körper [...]. Subkultur gegen Maggisuppenkultur. [...] Gegenkultur, Kultur von unten [...]. Diese BismarckHitlerAdenauer-Freaks hatten nur zu einem Grund: die Schnauze zu halten und zu versuchen, mal lebendig zu werden und wirklich Vernunft anzunehmen. Auch die Vernunft des Körpers!82

In den 60er Jahren kritisieren Feministinnen wie Jessica Random oder Valerie Solanas diesen virilen Vitalismus und wenden sich generell gegen eine zur Routine erstarrte Ästhetik der Verausgabung, für die exemplarisch »Janis Joplins krampfhafte[]«83 Liveauftritte stehen. Die Gegenkultur stellt den bürgerlichen Verhaltenskanon auf den Kopf. Der Abstand zum gesellschaftlichen ›Mittelmaß‹ gilt ihr als Gradmesser intensiven, selbstbestimmten und gelungenen Lebens in einer Gemeinschaft, der als »tribe«84 positive archaische Züge bescheinigt werden. Wichtige Anstöße gehen dabei von –––––––– 78 79 80 81 82 83 84

26

Vgl. oben S. 10. Vgl. Frith 1988: 462, Bell 1991: 28. Zit. n. Salzinger 1972: 52. Sounds 7/1978: 20. Sounds 7/1978: 20f. Zit. n. Salzinger 1972: 86. Zit. n. Salzinger 1972: 200.

der Vorkriegsboheme aus, deren Erbe etwa der französische Situationismus oder Norman Mailer an die Studentenbewegung vermitteln. Mailer prägt den Begriff des hipsters, der aus der Verbindung von Existentialismus und Jazz hervorgeht.85 Auf diesem Weg werden Distanzierungstechniken wie die polemische Verwendung von ›Bürgerstereotypen‹ tradiert, die zur symbolischen Abgrenzung von einer als angepasst geltenden Lebensform sowie zur Stärkung gegenkultureller Identität beitragen.86 Sie erlauben es, das Verhältnis der Gruppe zur sozialen Umwelt in einem hierarchischen Modell darzustellen: ›Oben‹ herrscht Konformität, Autoritätshörigkeit, Fremdbestimmtheit, Sicherheitsbedürfnis, Materialismus etc., ›unten‹, mit den Worten Hugo Balls, eine »grenzenlose[] Liebe zum Anderssein«87. Freilich fallen nicht alle Selbstbeschreibungen derart plakativ aus. Anders als militante Kriegsgegner und Antikapitalisten verwerfen ›undogmatische‹ und künstlerisch orientierte Gruppierungen wie die »Merry Pranksters« um Ken Kesey die moderne Konsumgesellschaft nicht komplett, sondern nutzen sie als Kulisse für ästhetische Erlebnisse. Dabei spielen bewusstseinserweiternde Drogen eine zentrale Rolle. Der als Autor von One Flew Over The Cuckoo’s Nest (1962) zu Berühmtheit gelangte Kesey propagiert eine an den Situationismus erinnernde Synthese von Alltag und Kunst, strebt die Realisierung utopischer Zustände im »Neon-Plastik-Chrom-Elektronik-Amerika des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts«88 (Tom Wolfe) an und distanziert sich vom Eskapismus fernöstlich geprägter Spielarten der Drogenkultur, für die Timothy Leary steht. Mit ihrem ästhetischen Sinn für die ›unnatürlich‹ grellen Oberflächen der amerikanischen Werbe- und Warenwelt stehen die »Merry Pranksters« Andy Warhols Pop-Art nahe. Warhol berichtet in Popism von einer Autoreise, die ihn 1963 zusammen mit Freunden von New York nach Los Angeles führt und in deren Verlauf er die Erfahrung macht, dass die gleichermaßen artifiziellen wie vulgären Aspekte populärer Kultur, die er als Künstler mittels Verfremdung und Vergröberung herausarbeitet, auf den überdimensionalen Werbetafeln am Rande der Highways wie von selbst sichtbar werden: The farther west we drove, the more Pop everything looked on the highways. Suddenly we all felt like insiders because even though Pop was everywhere – that was the thing about it, most people still took it for granted, whereas we were dazzled by it – to us, it was the new Art. Once you »got« Pop, you could never see a sign the same way again.89

Dieser ästhetizistische Blick auf die technisierte Zivilisation hebt sich vom Natürlichkeitskult weiter Teile des Alternativmilieus der 60er/70er Jahre ab und –––––––– 85 86 87 88 89

Mailer 1986: 373. Kreuzer 1968: 142. Ball 1946: 50. Zit. nach Salzinger 1972: 72 Warhol/Hackett 1980: 39.

27

verweist darüber hinaus auf traditionelle Selbstbeschreibungen der Boheme, die eine Reflexion der Ein- und Ausschlussregeln subkultureller Milieus beinhalten. In diesem Zusammenhang ist auf Formen eines kapriziösen ›Ultrabohemismus‹ hinzuweisen, der sich durch ostentative Wertschätzung ›bürgerlicher‹ Tugenden wie Reinlichkeit und Ordnung über stereotype Selbstbilder der Boheme hinwegsetzt und deren negative Fixierung auf das Juste Milieu thematisiert.90 Zur Veranschaulichung sei eine Äußerung von Hutchins Hapgood zitiert, die Helmut Kreuzer als Musterbeispiel eines selbstbewussten Nonkonformismus anführt, der sich zur »›mechanischen‹ Abhängigkeit vom jeweils Gegebenen bekennt« und »ironisch mit der Selbstvernichtung des sachlichen Gehalts der eigenen Opposition [kokettiert]«:91 Let me make the simple statement […] that I merely defend and exalt what is generally condemned; that I do this irrespective of the merits of the case, and simply in order to defend the extremely small minority, just because it is the minority, irrespective wether the minority is right or wrong; that I attack the powerful and prevailing thing, in art, industry, in all fields, just because it is prevailing, irrespective of the merits of the case; that my formula is a simple and false one which I apply and reapply with mechanical and monotonous precision.92

Es kann hier nicht eingehend untersucht werden, in welchem Ausmaß die Gegenkultur der 60er Jahre vergleichbare Reflexionsleistungen hervorgebracht hat. Das von Salzinger zusammengestellte Material zeigt allerdings, dass durchaus ein Bewusstsein für Abhängigkeitsverhältnisse und Gemeinsamkeiten zwischen Subkultur und ›Mehrheitsgesellschaft‹ besteht. So wirft Ken Kesey im Rahmen einer Protestveranstaltung gegen den Vietnamkrieg 1965 den Demonstranten ihren Gehorsam gegenüber den Wortführern der Bewegung vor und bezichtigt sie einer konformistischen, ja militaristischen Gesinnung. Sie spielten, so Kesey, »denen ihr Spiel«93. Salzinger zitiert dies in Rock Power nach Tom Wolfes Reportage über Kesey und die »Merry Pranksters«, The Electric Cool-Aid Acid Test (1968), und bringt mit Wolfe einen weiteren Grenzgänger der 60er Jahre ins Spiel, der kommerziellen und auch innerhalb der Gegenkultur als trivial eingeschätzten kulturellen Phänomenen wie Modetänzen ästhetische Reize abzugewinnen weiß. In diesen Zusammenhang gehört auch Abbie Hoffmans Verspottung scheinradikaler Mitläufer. Dope zu rauchen und das Konterfei Che Guevaras an die Wand zu heften sei, wie Hoffmann schreibt, so revolutionär wie Milch zu trinken oder Briefmarken zu sammeln.94 Hoffmann weigert sich, zur Verjüngung der amerikanischen Kultur beizutragen: »We are not interested in the greening of ––––––––

90 91 92 93 94

28

Kreuzer 1968: 163. Kreuzer 1968: 154. Zit. n. Kreuzer 1968: 153f. Zit. n. Salzinger 1972: 67. Hoffmann 1971: 5.

Amerika except for the grass that will cover its grave«95. Während Kesey eher für die anarchisch-spielerische Variante gegenkulturinterner Kritik steht, repräsentiert Hoffmann eine fundamentalistische Reaktion auf die zunehmende Verwässerung gesellschaftskritischer Praxis. Salzinger nimmt dagegen einen moderaten Standpunkt ein und akzeptiert die Kommerzialisierung der Rockmusik durch »die Unterhaltungsindustrie – Plattenfirmen, Radio- und Fernsehsender, Hersteller von Stereoanlagen und Musikinstrumenten – ebenso wie […] Kleiderfirmen, Zeitungen, Limonadenmarken und die großen Automobilfabriken«96, da er sie für eine Bedingung der Massenwirksamkeit gegenkultureller Ideen hält. Entscheidendes Kriterium ist dabei, ob eine Band den Widerspruch zwischen Gesinnung und kommerziellem Interesse verschleiert oder ihn vielmehr öffentlich thematisiert wie die Byrds: Sie wissen, daß sie gar nicht anders können, als den Widerspruch auszuhalten. Dies Bewußtsein aber ist die Voraussetzung für die Herstellung solcher Zustände, unter denen die Lösung möglich wird. Indem sie als Rock-Stars durch ihre Musik zu einer weiteren Verbreitung dieses Bewußtseins beitragen, erweist sich der Verkauf der Seele an die Plattenfirma als eine gesellschaftlich progressive Sache.97

Um 1970 lassen sich also Ansätze zu einer gegenkulturinternen Kritik realitätsblinder Selbsteinschätzungen beobachten, die auf Popularisierung antworten. Proliferation und Verflachung sind die Kehrseiten der ›Demokratisierung‹ des ehemals auf urbane Subkulturen beschränkten Lebensstils der Boheme.98 Die gegenkulturelle Zivilisationskritik wendet sich gegen soziale Nivellierung, Technisierung und Massenproduktion – mithin jene Modernisierungsphänomene, welche zugleich die Entstehungsbedingungen einer ›Massenboheme‹ darstellen. Vorbereitet wird sie durch Entfremdungs- und Vermassungsbefunde der kritischen Intelligenz in den 50er und frühen 60er Jahren. Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch (1964) ist hier ebenso zu nennen wie David Riesmans The Lonely Crowd (1950). Zum Massenphänomen kann diese Kritik jedoch erst werden, wenn Medien und Unterhaltungsindustrie ihr Ausdruckformen zur Verfügung stellen.99 Entsprechend resümiert Thomas Frank in einer Studie zu Gegenkultur und Marketing in den 60er Jahren: »[R]ebellion is both the high- and mass-cultural motif of the age; order is its great bogeyman.«100. Hipness und business schließen sich Frank zufolge nicht aus, doch lässt sich ihr Zusammenhang weder auf die wirtschaftliche Vereinnahmung autochthoner subkultureller Hervorbringungen reduzieren, noch stimmt das Bild einer übermächtigen Kulturindustrie, die willenlosen Abnehmern beliebige Produkte aufzwängt. Die ökonomische Funktion ––––––––

95 96 97 98 99

100

Hoffmann 1971: 5. Zit. n. Salzinger 1972: 122. Salzinger 1972: 12. Frank 1997: 13. Bell 1991: 70. Frank 1997: 22.

29

der Gegenkultur besteht vielmehr darin, den Absatz von Waren zu steigern, die eine gesellschaftskritische Einstellung zum Ausdruck bringen: The countercultural style has become a permanent fixture on the American scene, impervious to the angriest assaults of cultural and political conservatives, because it so conveniently and efficiently transforms the myriad petty tyrannies of economic life – all the complaints about conformity, oppression, bureaucracy, meaninglessness, and the disappearance of individualism that became virtually a national obsession during the 1950s – into rationales for consuming.101

Darüber herrscht in Teilen der Gegenkultur, aber auch in den ManagementAbteilungen der Unterhaltungskonzerne bemerkenswerte Klarheit. Die Industrie stellt sich folglich auf anspruchsvolle Käufer ein, die von den Produkten nicht mehr nur Komfort und Unterhaltung erwarten, sondern die in ihrer Individualität bestätigt werden wollen. So heißt es in einem Bericht des Unterhaltungskonzerns Warner Communications aus dem Jahr 1977: Die seit dem 19. Jahrhundert weltweit rasant fortschreitende Industrialisierung stellt, wie viele meinen, eine ernsthafte Herausforderung für die Individualität dar: Eine immer effizientere, standardisierte Welt gefährdet ihre persönliche Freiheit, [...] woraus ein Gefühl der Entmündigung des Ich resultiert. [...] Seit der exponentiell gesteigerten Verfügbarkeit aller Formen von Kommunikation mußten die »Unterhaltungs«Medien dazu herhalten, dem Einzelnen Erfahrungsmodelle, Gelegenheiten zur Selbsterkenntnis sowie Elemente der Identität zu liefern.102

Wie Salzingers Rock Power belegt, ist das Wissen um diese Zusammenhänge keine Errungenschaft der späten 70er Jahre. Es gewinnt jedoch an Brisanz, als sich die Aufbruchsstimmung der vorangegangenen Dekade erschöpft. Die Ernüchterung setzt nicht erst mit dem ›Ölpreis-Schock‹ 1973 ein, sondern bereits mit dem Abebben der Studentenrevolte in den Jahren 1969/70, als sich bei vielen Politaktivisten die Einsicht durchsetzt, dass die von Rudi Dutschke auf dem Frankfurter Anti-Vietnamkriegs-Kongress 1968 angekündigte »Weltrevolution«103 nicht unmittelbar bevorsteht. Die erhoffte positive Resonanz von Seiten der Bevölkerung bleibt aus, die Mehrheit der engagierten Studenten konzentriert sich wieder auf ihre Karriere und stimmt bei der Bundestagswahl 1969 für Willy Brandt.104 Der Rest zerfällt in Fraktionen und Politsekten, die einander bekämpfen und sich organisatorisch nicht mehr integrieren lassen.105 Diese Diversifizierung ergreift im Laufe der 70er Jahre das gesamte Alternativmilieu. Hier gibt es in den späten siebziger Jahren geradezu alles: rechte und linke, gewalttätige und gewaltlose, religiöse und atheistische, feministische und maskulinistische Gruppen und Grüppchen, von denen sich bei bestimmten Anlässen manche, die sonst kaum

–––––––– 101 102 103 104 105

30

Frank 1997: 31. Vgl. zur Situation in Deutschland siehe Sander/Vollbrecht 1998: 198. Zit. n. Marcus 1992: 45. Koenen 2002: 63. Zur ›Ölkrise‹ siehe Wehler 2008: 122. Görtemaker 1999: 490. Hermand 1988: 471.

Kontakt miteinander hatten, zu größeren Ad-hoc-Bewegungen zusammenschlossen. Zu den bekanntesten dieser Gruppen gehörten damals neben den vielen Spielarten der Anarchisten, wie den Spontis, den Tunix-Gruppen und Stadtstreichern, auch die unorthodoxen Linken, gewisse Bürgerinitiativen, Friedensanhänger, LandkommuneAussteiger, Schwule oder auch Drogenschlucker, Punks und Skinheads sowie Anhänger neureligiöser Sekten wie die Hare-Krischna-Leute, Jesus People, ›Kinder Gottes‹-Kommunen, Baghwan-Initiierte und Mitglieder der Transzendentalen Meditation, die sich nach einem Leben mit einfacheren, verinnerlichteren Umgangsformen sehnten, oder auch Gruppen und Einzelne, die innerhalb irgendwelcher Sekten die Genußgier des herrschenden Systems bis zu ihren letzten, höchsten Erlebniswonnen zu steigern suchten [...].106

Das ist die Situation, die Popjournalisten wie Diederichsen Ende der 70er Jahre vorfinden. Die aufgezählten Strömungen verarbeiten das Scheitern der Revolution auf unterschiedliche Weise. Radikale und teils auch gewaltbereite Gruppierungen halten an Maximalforderungen fest, während reformorientierte Kräfte ihre Ziele der veränderten Lage anpassen, um so wenigstens Teilerfolge zu erringen. Zum ersten Typus zählen linksterroristische Vereinigungen wie die RAF und die straff geführten marxistisch-leninistischen und maoistischen Kadergruppen, die nach der antiautoritären Phase entstehen. ›Neue Soziale Bewegungen‹ wie Bürgerinitiativen gegen die Nutzung von Atomkraft, aus denen nachhaltig einflussreiche Institutionen wie die Grünen hervorgehen, zählen eher zum zweiten Typ. Hier kommt es zu einer Ausdifferenzierung von Bezugsproblemen (Frauenfrage, ökologische Themen usw.). Auf revolutionäre Totallösungen wird verzichtet. Die Neuen Sozialen Bewegungen können weitaus größere Mobilisierungserfolge als die Studentenbewegung verzeichnen.107 Die idealtypische Unterscheidung in ›Pragmatiker‹ und ›Radikale‹ darf freilich nicht verdecken, dass sich der Gegensatz innerhalb der beiden Lager fortsetzt, wie der Konflikt zwischen »Fundis« und »Realos« bei den Grünen zeigt. Die Differenz pragmatisch/radikal spielt auch innerhalb der postmodernen Theorie eine zentrale Rolle, die den denkgeschichtlichen Kontext des PopProgramms bildet. Jean-François Lyotards Vergleich zwischen Kritischer Theorie und Systemtheorie in La condition postmoderne (1979) ist im Wesentlichen eine Gegenüberstellung pragmatisch-nüchterner und idealistisch-utopischer gesellschaftswissenschaftlicher Paradigmen. Repräsentativ für den intellektuellen Zeitgeist ist Lyotards Abhandlung vor allem dort, wo er unentschieden zwischen beiden Theorieoptionen schwankt. Lyotard ordnet Jürgen Habermas als Vertreter der Frankfurter Schule einem Totalitätsdenken zu, das im deutschen Idealismus wurzelt und einen privilegierten gesellschaftlichen und historischen Beobachterstandpunkt beansprucht.108 Lyotard führt diesen Anspruch auf die Allianz zurück, die Theoretiker wie Hegel oder ––––––––

106 107 108

Hermand 1988: 510f. Bacia/Scherer 1981: 20. Görtemaker 1999: 627. Lyotard 1986: 190.

31

Marx mit für progressiv gehaltenen historischen Klassen bzw. Prinzipien eingehen und die es ihnen ermöglicht, Geschichte vom Standpunkt des Siegers zu schreiben – sei’s des zu sich gekommenen Weltgeistes, sei’s der Arbeiterklasse.109 Was die Widerlegung der Marxschen Konzeption betrifft, so kann sich Lyotard auf sozialwissenschaftliche Erhebungen stützen, die den zahlenmäßigen Schwund der Arbeiterschaft im Zuge des Übergangs zur postindustriellen Gesellschaft belegen.110 Er beschreibt diese Theorien als Geschichten, deren ›Held‹ ein vernünftiges und humanes Prinzip ist und die ihren Sinn von einem vorab feststehenden Ende her erhalten.111 Auf einem solchen eher aufgrund narrativer Kohärenz als argumentativ überzeugenden Geschichtsverständnis basiert nach Lyotard auch Habermas’ Kommunikationstheorie. Gegen ihr Telos vernünftiger und herrschaftsfreier Verständigung setzt Lyotard im Rückgriff auf Wittgenstein ein Konzept prinzipiell inkommensurabler ›Sprachspiele‹ (zum Beispiel Ethik, Wissenschaft oder Ästhetik).112 Seine Einschätzung der zeitgenössischen gesellschaftlichen Situation schließt an Niklas Luhmanns Modell des Gesellschafts- als Kommunikationssystems an, welches durch Kritik und Protest nur irritiert, nicht aber gesteuert werden kann und selbst Streiks oder Revolutionen zur Optimierung seiner Reproduktionsmechanismen nutzt. La condition postmoderne dokumentiert nicht zuletzt die enttäuschten politischen Hoffnungen des ehemaligen Marxisten Lyotard,113 dem die Systemtheorie, deren ›klaren Geist und kalten Willen‹114 er nicht ohne Bewunderung hervorhebt, eine Erklärung für das Scheitern der Revolution zu liefern scheint. Lyotard attestiert ihr Realismus, aber auch Fatalismus. Deskriptiv und funktionalistisch ausgerichtet, sei sie technokratisch, eigentlich sogar zynisch, um nicht zu sagen hoffnungslos. Die Übereinstimmung der Bedürfnisse von Individuen oder Gruppen mit den vom System gewährleisteten Funktionen ist nicht mehr als eine nebensächliche Komponente seines Funktionierens.115

Weil der Weg zurück zu den normativen ›großen Erzählungen‹116 jedoch versperrt sei, schwankt Lyotard zwischen den ›guten‹, aber weltfremden Zielen gesellschaftskritischer Positionen und der adäquaten, aber ›zynischen‹ Methode der Systemtheorie: »Die Alternative zwischen […] einem Funktionalismus oder einem ––––––––

109 110 111 112 113 114 115 116

32

Lyotard 1986: 68. Lyotard 1986: 112. Vgl. Martínez 1996. Lyotard 1986: 118. Eibl 2001. Lyotard 1986: 179. Lyotard 1986: 43. Lyotard 1986: 13.

Kritizismus des Wissens scheint klar, die Entscheidung aber schwierig oder bloß willkürlich zu treffen«117. Die Flexibilität des Gesellschaftssystems stellt Lyotard vor ein Problem, dass der Gegenkultur seit den späten 60er Jahren nicht unbekannt ist: Das ›Establishment‹ »besteht aus Gummi – es paßt sich an, […] indem es sich ein bißchen weiter dehnt und alle verrückten Exzesse und Abweichungen aufschluckt«118. In dieser Situation stellt sich die Frage, welche Strategie aussichtsreicher ist: Vom ›System‹ zu lernen, das heißt flexibel und situationsgerecht zu reagieren und aus taktischen Gründen möglicherweise sogar vorübergehend zu kooperieren oder auf rigoroser, transnormalistischer Fundamentalopposition zu bestehen. Der avancierte Musikjournalismus versucht um 1980, beides zu verbinden, und nennt dieses paradoxe Programm ›Pop‹.

––––––––

117 118

Lyotard 1986: 50. Ed Leimbacher in einem Artikel über Jefferson Airplane, zit. n. Salzinger 1972: 128.

33

4. Die »Sprache des Pop« um 1980: Lizenz zur Inhaltslosigkeit

4.1 ›Gegengegenkultur‹ Dass ›Kritik‹ gegen Ende der 70er Jahre von Seiten postmoderner Theorie wie innerhalb der Jugendkultur zunehmend auf Skepsis stößt, ist nicht nur auf politische Enttäuschungen zurückzuführen, sondern auch Folge der »allgemeine[n] Verpflichtung auf die Rede von ›Kritik‹«1. Der damit einhergehenden Übersättigung verdankt Greil Marcus zufolge die Punkbewegung ihre Entstehung: Die Kritik der Frankfurter Schule hatte 1977 mächtig Rost angesetzt, weniger weil sie von der Geschichte oder besseren Ideen widerlegt worden wäre, sondern vielmehr, weil sie sich in einen nervtötenden Jingle verwandelt hatte, da sie in den sechziger Jahren an der Spitze zu vieler Charts von Kunststudenten und radikalen Studenten gestanden hatte.2

Zu ergänzen ist, dass der jugendkulturinterne Aufstand gegen eine zur Pose verkommene Haltung von einer Alterskohorte getragen wird, die nicht wie ihre 68er-Vorgänger gegen die Eltern, sondern gegen die vorangehende, etwa zehn Jahre ältere Generation rebelliert. Ursache ist wahrscheinlich der beschleunigte kulturelle Wandel, der die Abstände zwischen altershomogenen Gruppen verkürzt.3 Damit wird auch der alternative Kulturbetrieb zum Schauplatz eines intergenerationellen Konkurrenzkampfs, bei dem lukrative Posten – »diese 68er hatten jeden Platz besetzt, auf dem man von Literatur halbwegs leben konnte«4 – ebenso auf dem Spiel stehen wie die Definitionshoheit über zeitgemäßen Geschmack und Lebensstil. Neue Zeitschriften wie das seit 1982 erhältliche Kölner Musikmagazin Spex machen sich zum Sprachrohr der aus Großbritannien und Amerika importierten Punk- und New-Wave-Bewegung, die gegen Spätformen einer nunmehr ›klassischen‹ Rockkultur mobil macht. Die polemische Distanzierung von der Vorgängergeneration darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch etablierte linksalternative Medien wie konkret oder die 1967 als Forum für Jazz und ›progressive‹ Rockmusik gegründete Hamburger Musikzeitschrift Sounds der –––––––– 1 2 3 4

34

Röttgers 2004: 675. Marcus 1992: 78. Buchhofer u. a. 1970: 326. Teipel 2001: 261.

Entwicklung nicht durchweg ablehnend gegenüberstehen. Nicht zuletzt wirtschaftliche Gründe sprechen dafür, sich jüngeren Autoren zu öffnen, die mit Gewohntem brechen und in die Jahre gekommene Rockfans vor den Kopf stoßen. So sehen Herausgeber und Redaktion von Sounds gegen Ende der 70er Jahre die Notwendigkeit einer personellen und inhaltlichen Verjüngungskur des Magazins, das dem gewandelten Publikumsgeschmack hinterherhinkt. Unter den neu eingestellten Redakteuren befindet sich auch der 21jährige Hispanistik- und Linguistik-Student Diedrich Diederichsen: Mitte 1979 bin ich dann zu Sounds gekommen. Die hatten in einem Anfall von Irrsinn gedacht: ›Wir sind jetzt zu alt.‹ Die suchten drei Redakteure unter 25. Ich wußte gar nicht, was ein Redakteur ist. [I]n dieser Situation wurde ich dann zum Vertreter dieser neuen Sache. Ich habe mich auch gleich mit Leuten wie Alfred Hilsberg verbündet.5

Im Anschluss verlagert sich der thematische Schwerpunkt der Zeitschrift in Richtung Punk und New Wave, während es zugleich zu einer Öffnung für postmoderne geistes- und sozialwissenschaftliche Theorien kommt.6 Die Redaktion lässt den jüngeren, profilierungsbedürftigen Autoren freie Hand, und diese überbieten den Verbalradikalismus und die Traditionskritik der 68er, indem sie arrivierte Kollegen ›links überholen‹ oder sie umgekehrt mit ›konservativen‹ oder ›reaktionären‹ Meinungen provozieren. »Man durfte abräumen […] und endlich einmal ungerecht sein«7, beschreibt Thomas Meinecke das Zeitklima. Die Konkurrenzsituation schafft Anreize, Unstimmigkeiten gegenkultureller Selbstbeschreibung polemisch zu instrumentalisieren und längst vorhandene Ansätze kritischer Selbstreflexion auszublenden. Um den rhetorischen Effekt ihres Angriffs zu maximieren, verschleiern Autoren wie Diederichsen oder Kid P. (bürgerlich Andreas Banaski) ihre partielle Zustimmung zum alternativen Wertekanon oder zögern ein entsprechendes Bekenntnis hinaus. So schreibt Diederichsen im September 1982: Gestern sah ich einen Freiburger Video-Film im Fernsehen. Mit der Aura des Hautnah-Dokumentarischen (die beliebten Erkennungszeichen dieses »Mit-der-Handkamera-durch-Kreuzberg«-Stils sind Authentizitätssignale, die genauso leicht künstlich herzustellen sind: wackelnde Kamera, plötzliche Ausfälle, chaotischer Direktton. Das ganze ist längst die etablierte Ästhetik der subventionierten Medienläden, der selbsternannten Basiskultur, nicht das wirkliche Leben) wurden Hausbesetzungen, prügelnde Bullen und alternatives Straßentheater vorgeführt. Da bekam man von Hausbesetzern Selbsteinschätzungen zu hören, großsprecherische Statements, die McDonalds [!], Sterilität, Plastik und womöglich auch noch Neon, so genau kann ich mich nicht erinnern, zu den Hauptübeln unserer Zeit erklärten. Dazu blendeten die Macher das fünfzehn Jahre alte »Plastic People« von Zappa ein und bewiesen damit unfreiwillig, wie alt, abgestanden und dumm diese Art Zivilisationskritik ist. Gegen

–––––––– 5 6 7

Teipel 2001: 141. Hilsberg gilt als Erfinder der Bezeichnung ›Neue Deutsche Welle‹, vgl. SB I. Dazu ausführlich Hinz 1997, 2003. Meinecke 1998: 117.

35

McDonalds sind doch alle: von Karl Carstens’ Frau bis zu jeder Scheiß-NdW-Band. Gute Leute dagegen wie Andy Warhol oder die kubanischen Revolutionäre in Hitchcocks »Topaz« lieben McDonalds. Abgesehen davon bot der Film eine so schmerzhaft-übervollständige Anthologie alternativer »Jute-statt-Plastik-es-geht-voran«-Klischees, daß man das Ganze für eine Parodie halten mußte. Ich bin ja auch für Hausbesetzungen, aber das Auftreten, die Forderungen und die Ideen dieser Leute, die der Film »Paßt Bloß Auf!« zeigte, vergällen einem die letzte Lust an Jugendkultur […].8

Diederichsen wendet sich gegen eine redundante, ihre Möglichkeiten überschätzende und bornierte Zivilisationskritik, deren Aversion gegen Symbole gesellschaftlichen Überflusses wie McDonald’s er als ressentimentgeladenen Antimodernismus verwirft. Dem stellt er mit dem Verweis auf ›gute Leute‹ wie Andy Warhol und kubanische Revolutionäre zwischen den Zeilen eine utopische Synthese von Sozialismus und westlicher Konsumgesellschaft gegenüber, die wohl auf folgende Äußerung Andy Warhols zu beziehen ist: The most beautiful thing in Tokyo is McDonald’s. / The most beautiful thing in Stockholm is McDonald’s. / The most beautiful thing in Florence is McDonald’s. / Peking and Moscow don’t have anything beautiful yet. / America is really the Beautiful. But it would be more beautiful if everybody had enough money to live. / Beautiful jails for Beautiful People.9

Das Corporate Design von McDonald’s symbolisiert für Warhol und Diederichsen einen ›prokapitalistischen‹ Egalitarismus, weil das Angebot der Fastfood-Kette für die große Mehrheit – wenn auch nicht für jeden – erschwinglich ist. Die standardisierte und übersichtliche Produktpalette des Unternehmens spiegelt die erst noch vollständig zu realisierende Idee eines allgemeinen, nicht nach Klassen differenzierten Wohlstands, die Diederichsen gegen antikonsumistische Vorurteile in Stellung bringt. Im Publikum englischer und deutscher Punkbands, das sich von »dröge[r] ›Kulturkritik‹«10 abgestoßen fühlt, erkennen Diederichsen und Hilsberg einen Verbündeten. Punk und im Anschluss New Wave stehen dabei für einen Bruch mit verbrauchtem Formenrepertoire, der als spielerische Inversion stereotyper Feindbilder in Szene gesetzt wird, wie es die Talking Heads in Don’t worry about the Governement (»some civil servants are just like my loved ones«) vorführen.11 Typischerweise wird der Differenzanspruch der Gegenkultur ad absurdum geführt, indem man wie Diederichsen oben Gemeinsamkeiten mit der Mehrheitskultur herausstellt (›gegen McDonalds sind doch alle‹). Ein wichtiger Anstoß für diese Entwicklung geht von der Verwischung ehemals scharf gezogener Grenzen in der Familie und im Bildungsbereich aus, wo seit den 70er Jahren antiautoritäre Erziehungsmethoden Einzug halten, die in der Sprache –––––––– 8 9 10 11

36

Sounds 9/1982: 45. Hervh. C. R. Warhol 1975: 71. Sounds 1/1978: 5. Dazu Sounds 8/1979: 12.

der 68er als Mittel ›repressiver Toleranz‹ zu bezeichnen wären – »Sprache und Kommunikation [immunisieren] sich gegen den Ausdruck von Protest und Weigerung«12. Der damit aufgerufene ideologische Überbau wirkt allerdings deplatziert, wenn die Reaktion wie im folgenden Zitat von Rainald Goetz allein vom Kalkül der Provokation bestimmt ist: Ist der erbarmungsloseste Trick die Elternliebe, so ist Elternliberalität der verlogenste und schmutzigste Elterntrick. […] Erbrich ihnen die Freiheiten, die sie dir geben wollen, in ihr liberales Gesicht zurück, bis du ihre Freiheitengeberherrschaft zerstört hast.13

Näher an der Politrhetorik der 60er Jahre ist der die gegenkulturelle Flexibilisierungskritik aktualisierende Vorwurf, die »Verschleierung der realen Vereinnahmung« sei »durch die Einrichtung einer Nische für Verweigerer, Protestler und Andersdenkende weiter fortgeschritten«.14 Die von Diederichsen später so bezeichnete »Gegengegenkultur«15 übernimmt diese Kritik an der Neutralisierung transnormalistischer Bestrebungen in einer permissiven Gesellschaft und stellt sie ins Zentrum ihrer Programmatik. Die ›Gegengegenkultur‹ richtet sich dabei gleichermaßen gegen reformwillige, um Unterstützung beim linksliberal-fortschrittlichen Milieu werbende wie gegen dogmatische und radikale Nachfolger der Studentenrevolte. Den einen wirft sie zu viel, den anderen zu wenig Kompromissbereitschaft vor und manövriert sich damit in eine widersprüchliche Position. Unzähligen Parodien auf die Friedensbewegung, Jusos und ›Ökos‹ – »so richtig nette Kerle mit langen Haaren und Cannabis-TShirt, alle wie aus einer Halfzwaare-Reklame entsprungen«16, mit »extrem gute[m] Willen, diese unsere Welt durch ihre Kritik zu verbessern«17 – stehen abgeklärte Hinweise auf die Aussichtslosigkeit eines »verlorene[n] Bürgerkriegsspielchen[s]«18 gegenüber, »das vielleicht, als spektakuläres Szenario, den Staat verunsichernd, einen Sinn hat, aber nicht, wie sich das noch zu viele AnarchoKombattanten vorstellen, als reelle Schlacht gegen eine an Medien- und Waffenterror überlegene Staatsmacht«19. Die Punk-Szene neigt dagegen zur Glorifizierung von Illegalität und Radikalität: »Die Einzigen, die für mich so einen Popstarappeal hatten – das waren die Leute von der RAF. Da war ich Fan. Für mich waren das Helden. Das waren die Einzigen, denen ich zugetraut habe, dass sie wirklich etwas ändern wollen.«20 Ideo–––––––– 12 13 14 15 16 17 18 19 20

Marcuse 1967: 109. Goetz 1986: 119. Diederichsen 1982: 92. Diederichsen 2001a. Vgl. Salzinger 1972: 92, 110, 128. Sounds 3/1981: 57. Sounds 3/1981: 57. Diederichsen 1982: 95. Diederichsen 1982: 95. Teipel 2001: 69.

37

logische Motive fallen dabei weniger ins Gewicht als jugendliches Abgrenzungsund Aufmerksamkeitsbedürfnis sowie eine Lust am Tabubruch, für die Hakenkreuz oder RAF-Emblem austauschbare Mittel des Schocks darstellen: Die andere Seite war, dass ich aus dieser Jämmerlichkeit der Hippies raus wollte. Diese Leute hatten alles besetzt, was Protest hieß. Also musste ich mich mit ihnen auseinandersetzen. Das hieß etwa, in einen linken Buchladen zu gehen und zu sagen: »Heil Hitler, Genossen«. Danach musste ich erst mal eine Stunde über Politik diskutieren.21

Freilich vereitelt die Einbeziehung des Provokateurs in den rationalen Diskurs den ursprünglichen Distanzierungswunsch und führt zum Vereinnahmungsproblem zurück, um das auch Diederichsen ständig kreist. Er konstatiert ein zahlenmäßiges Wachstum der Gegenkultur, das dem Selbstbild als Minorität widerspricht. Das Bemühen um äußerliche Abgrenzung von der Mehrheit führt ihm zufolge zu einer Homogenisierung zweiter Stufe: Der Versuch, durch immer größere Buntheit dem grauen Alltag Paroli zu bieten, führte zu einer Masse bunter Ameisen, die in ihrer formelhaften, konventionellen Unkonventionalität […] bald so verwechselbar uniform aussahen wie ihre Feindbilder.22

Die damit einhergehende Entwertung transnormaler Positionen thematisiert Diederichsen im autobiographischen Generationsporträt Sexbeat (1985) im Rahmen einer Anekdote über seine Politisierung während der Gymnasialzeit. 1957 in bürgerlichen Verhältnissen geboren, steht er der Studentenbewegung als Kind skeptisch gegenüber: Ich war in dem Bewußtsein aufgewachsen, daß die Kommunisten die Bösen sind. In der DDR ging es zweitklassig zu, vor allem bei den Autos. [...] Die DDR war der »Planet zweiter Klasse«, den ich aus einer Donald-Duck-Geschichte kannte. Allein das Langhaarige mochte ich an den Studenten. Und als meine Eltern mich fragten, ob ich wohl auch mal einer von denen werden würde, von diesen Studenten, sagte ich zwar »Nein«, aber ich wußte das Gegenteil und sagte es mit der gebrochenen Stimme eines Mannes, der genau weiß, daß dieses Mädchen doch nicht die Frau fürs Leben sein wird. (SB 32)

Vor dem Hintergrund der zweigeteilten Welt des Kalten Krieges gilt Diederichsen der ›real existierende Sozialismus‹ zunächst als minderwertige Version des Westens, wobei bezeichnenderweise technische Qualitätsstandards und nicht ideologische Fragen den Ausschlag geben. Die lebensästhetisch motivierte und vorerst verschwiegene Sympathie für die radikalen Studenten wächst mit Eintritt ins Jugendalter, als sich die zur CDU tendierenden Schulfreunde als ›langweilig‹ und ›spießig‹ erweisen. Diederichsen heftet sich nun einen »›Willy wählen‹Badge« an seine Jacke (SB 33). Ein älterer Mitschüler erkennt das Distinktionsbedürfnis des Jüngeren und versucht, ihn für die Jugendorganisation der DKP –––––––– 21 22

38

Teipel 2001: 73. Diedrichsen 1982: 96f.

anzuwerben, indem er ihm »mangelnde Radikalität« (SB 33) vorwirft. Die der SED nahe stehende DKP aber ist »mit den Hypotheken einer bereits realisierten Sozialismus-Idee« belastet, so dass Diederichsen stattdessen einer maoistischen Kadergruppe beitritt, deren rigoristischer Jargon (»Emotionen sind faschistisch«) ihn anzieht (SB 33). Doch erst die Mischung aus Hedonismus und radikaler Politrhetorik in der Rockszene garantiert sowohl eine symbolische Außenposition als auch Anerkennung durch die Peergroup: »Nichts ist so verboten wie Kommunismus. Und wenn man uns Jungen ermöglichte, dabei auch noch [...] Drogen zu nehmen, Doors zu hören und die richtigen Mädchen zu kriegen, war das fein und unschlagbar« (SB 34). Diese Lösung hält allerdings nicht vor, da selbst Aufrufe zur Gewalt auf diskussionsbereite Autoritäten stoßen, wie Diederichsen beim Besuch eines Ton Steine Scherben-Konzerts in einer von Nonnen geleiteten Mädchenschule erfahren muss: Während des Songs »Macht kaputt, was euch kaputt macht«, der in eine Version des »Arbeitereinheitsfrontliedes« übergeht, während die frische, rotwangige Empörung in den Gesichtern der köstlichen jungen Katholikenmädels geschrieben stand, die zum ersten Mal an diesem Abend das Dia sahen, das zeigt, wie der Polizeipräsident von Saigon diesen Gefangenen erschießt, noch während dieses überaus frischen Zustands des Agitiertwerdens, Enthusiasmiertwerdens, hörte ich eine der Nonnen zu einem der Mädchen sagen, daß man über diese Aussagen demnächst im GemeinschaftskundeUnterricht diskutieren müsse. (SB 35)

Gleichsam als Agenten der Normalisierung lenken die Nonnen die Begeisterung der »Katholikenmädels« zurück in die Bahnen institutionalisierter, gewaltfreier Verständigung. Sie personifizieren die Neutralisierung des Protests, die Diederichsen an anderer Stelle dem Fernsehen zuschreibt, das Fundamentalkritik nur als »unverbindliche[], wirkungslose[] Meinung im Pluralismus« (SB 122) gelten lasse und damit »totalitäre Phantasien« bei demjenigen wecke, »der sich von dem Terror der Meinung beleidigt fühlt« (SB 150). So kann Diederichsen sagen: »Alles, was das TV weiß, ist nicht mehr wahr«23, und damit ex negativo einen emphatischen Wahrheitsbegriff aufstellen, der weitgehend synonym mit ›nichtöffentlich‹, ›klandestin‹ ist und über die 80er Jahre hinaus eine zentrale Rolle im Popdiskurs spielt. Auf Normalisierung zielt auch die gegengegenkulturelle Kritik der alternativen Ästhetik, wie die oben zitierten Bemerkungen zum Videofilm über die Hausbesetzerszene zeigen. Filmtechniken wie »wackelnde Kamera« und »chaotischer Direktton«, die seit der Nouvelle Vague Lebensnähe suggerieren sollen, erweisen sich als automatisierte stilistische Mittel, die ihre Funktion eingebüßt haben und nur mehr als fragwürdige »Authentizitätssignale« wahrgenommen werden.24 Für Diederichsen verkehrt sich damit die beabsichtigte Wirkung ins Gegenteil – ein Argument, das ebenso in der Auseinandersetzung mit traditionsverhafteter, ––––––––

23 24

Diederichsen 1982: 90. Sounds 9/1982: 45.

39

formelhaft expressiver Rockmusik zum Einsatz kommt. Ihr wird vorgeworfen, den anvisierten unverfälschten Ausdruck von Spontaneität zu verfehlen und der Illusion einer ursprünglichen, unveränderlichen und in der Musik zu offenbarenden Persönlichkeitssubstanz aufzusitzen. Diese Vorstellung versuchen Sounds-Autoren im Rückgriff auf Versatzstücke poststrukturalistischer Essentialismus-Kritik zu dekonstruieren. Demonstrativ künstlichen New-Wave-Bands wird dagegen zu Gute gehalten, sie zerstörten den »Mythos vom Rock’n’Roller, diesem ungebundenen freien ›Urviech‹«25. In diesem Kontext unterstellt Diederichsen eine enge Verbindung zwischen Lustfeindlichkeit und der Inhaltsfixierung vorherrschender ästhetischer Modelle, denen er einen von Nietzsche inspirierten Ästhetizismus entgegenhält: [A]lle [politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kräfte] beschimpfen und bespucken das, was sie die »Oberfläche«, die »Form« nennen, da sie all ihre Legitimation dem »Dahinter«, dem »Darunter«, dem »Inhalt«, den sie als verborgenen, als nicht sichtbaren Teil einer zweiteiligen Welt ausgeben, verdanken. Und auf diese erdabgewandte Seite des Mondes wollen sie die Jugend jagen. Während diese es nun aber vorzieht, sich auf dem Olymp des Scheins zu tummeln.26

4.2 Pop als Ironie Das Problem der Gegengegenkultur besteht darin, dass einfache Negation und Abweichung nicht mehr ausreichen, um die gewünschte Distanz zwischen Gegenund Mehrheitskultur herzustellen. Die Lösung verspricht sich Diederichsen von einer umfassenden Rhetorisierung und Ästhetisierung jugendkultureller Kommunikation nach dem Muster der Punkbewegung. Im Kontext von Punk lassen sich karnevalistische Inversionen kulturell verfestigter weltanschaulicher Gegensätze wie Natur/Zivilisation, links/rechts, kritisch/affirmativ, Pazifismus/Militarismus oder Äußerlichkeit/Innerlichkeit beobachten, die im Modus (transparenter) Verstellung vollzogen werden. Als Beispiel kann eine Erinnerung Peter Heins dienen, der als Sänger von Charley’s Girls, Mittagspause und Fehlfarben bekannt wurde: Ich war ziemlich traurig, als der Vietnamkrieg zu Ende ging. Vor allem, weil es keine spannenden Nachrichten mehr gab. Natürlich war ich auf Seiten der Vietcong. Aber von der Optik her hatte das schon was Anziehendes: US-Marines und F4-Phantom und Kampfhubschrauber im Fernsehen. Wir waren in der Schule die Modellbauer. Das haben nur die politisch Unkorrekten gemacht. Die anderen haben gekifft. Damals wurde in der Schule ja gerade sozialdemokratische Schulreform und der ganze Scheiß eingeführt. Und wenn die Hippies oder wer, diese troublemaker, bestimmte Lehrer fertig gemacht haben, dann kamen andere Lehrer und taten so fortschrittlich und diskutierten mit allem und jedem. Es war alles nur langweilig. Und wir waren eben ein

–––––––– 25 26

40

Sounds 9/1980: 22. Diederichsen 1983: 180f. Vgl. Nietzsche 1988: 352.

paar, die dagegen waren. Gegen die, die dagegen waren. Ich sagte dann auch Sachen wie: »Vietnamkrieg ist toll.« Oder wir haben gebrüllt: »Wir wollen autoritär erzogen werden.«27

Das Zitat veranschaulicht den für Punk typischen Zusammenhang von Ironie, potenzierter Negation und gegenkultureller Binnendifferenzierung: Hein und seine Freunde brüskieren die aufgeschlossenen Lehrer durch ostentative Affirmation einer militaristischen Einstellung, da sie den vorherrschenden Konsens als »langweilig« empfinden. Sie reagieren auf eine als heuchlerisch (»taten so fortschrittlich«) wahrgenommene Haltung, indem sie nach dem Muster ›inverser Hypokrisie‹ eine Gegenposition einnehmen, die mittlerweile weitgehend verpönt ist und im Widerspruch zu ihrer tatsächlichen Überzeugung steht: »Natürlich war ich auf Seiten der Vietcong«. Für die Angehörigen der eigenen Gruppe, die über die wahre Meinung des Sprechers Bescheid wissen, ist die Äußerung »Vietnamkrieg ist toll« als uneigentliche Rede erkennbar, dem primären Adressaten entgeht dies idealerweise, da die Mitteilung nicht entsprechend markiert ist. Gewünscht ist eine negative Rückmeldung, die als Selbstbestätigung erfahren wird und die Toleranzschwelle des Empfängers sichtbar macht. So entsteht eine Konfliktlinie, auf deren Grundlage sich eine soziale Gruppe konstituieren kann. Deren Mitglieder distanzieren sich von normalisierten Formen der Opposition und erfahren sich gemeinsam als ›anders‹ – anders als die vielen anderen, die gemeinsam anders sind. Strukturell vergleichbar sind die Songtexte von Punkbands im Umfeld des Ratinger Hofs in Düsseldorf, dem Hein angehört. Das Stück Zurück zum Beton (»Zurück zur U-Bahn / Zurück zum Beton / Da ist der Mensch noch Mensch«28) der Solinger Gruppe S.Y.P.H. basiert auf einer Inversion trivial-rousseauistischer Forderungen der Ökologiebewegung. Auch hier steht die tatsächliche Meinung des Senders im Gegensatz zum Wortlaut: »[D]iese graue Wirklichkeit war ja in Wirklichkeit das, was mich am meisten störte. […] Ich habe das nur eben umgedreht.«29 Freilich wollen weder Hein noch S.Y.P.H. das Gegenteil dessen mitteilen, was sie ausdrücklich sagen. Im Vordergrund steht vielmehr der Irritationseffekt. Gleiches gilt für den ›Nazi-Chic‹ eher linksorientierter britischer Bands wie ––––––––

27 28 29

Teipel 2001: 21f. Von ›politischer Korrektheit‹ wird freilich erst in den 90er Jahren gesprochen. Vgl. dazu Kapitel 5. Auf: S.Y.P.H.: S.Y.P.H. Pure Freude, 1980. Teipel 2001: 89. In eine Art dialektische geschichtsphilosophische Konzeption integriert das Inversionsmuster im März 1980 der Bruder von Diedrich Diederichsen, Detlef, der unter dem Pseudonym Ewald Braunsteiner die unter Rockfans als anspruchslos und oberflächlich verschrieene Discomusik zur »logische[n] und notwendige[n] Opposition gegen das Revolutionäre, Böse, Häßliche der Rockmusik« (Sounds 3/1980: 24) erklärt: »Disco bedeutete als Lebenseinstellung ein Ja zu den herrschenden Zuständen, ein Ja zum Kapitalismus, bedeutete Äußerlichkeit statt Innerlichkeit [...], eine totale Umkehrung [...] der Lebenseinstellung jener Bürgersöhne und -töchter, die Ende der Sechziger aufgebrochen waren« (ebd.).

41

Siouxsie and the Banshees, der deutlich macht, dass es um ein Machtspiel geht. Die Erzwingung reflexhafter Abwehrreaktionen und der Verstoß gegen Diskursverbote verleihen ein Gefühl der Stärke: »Man fühlte sich riesig, wenn man mit Nazisprüchen daher kam.«30 Diederichsen hat diese Funktionalisierung tabuisierter Symbole später als »Statement gegen Vereinnahmung, Interpretation, Moral«31 gedeutet. Daran ist sicher soviel richtig, dass ein derartiger Zeichengebrauch Akzeptabilitätsgrenzen sichtbar macht, die unter permissiven Verhältnissen aus dem Blick geraten. Die Ironie der Punks erweist sich damit als paradigmatische Lösung des Normalisierungsproblems, die Diederichsen im Rahmen eines theoretisch ambitionierten Konzepts jugendkultureller Kommunikation aufgreift und auf die zeitgenössische Situation der Alternativkultur bezieht. Gut nachvollziehbar ist dies anhand des Essays Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze in dem Band Staccato (1982). Wie in späteren Texten rekapituliert Diederichsen hier zunächst die jüngstvergangene jugendkulturelle Phase, um dann zu einer aktuellen Standortbestimmung fortzuschreiten. Am Anfang steht die Erinnerung an die Jahre ’73 – ’76 […] (Studentenrevolte tot, oppositionelle Politik sinnentleert, gesellschaftlich-kulturelle Restauration, Musik: langweilig, Peter Handke, Jazzrock, indisch-griechische Umhängetaschen, die Drehtabak-Revolution, [...] – unverbindlicher Individualismus oder weltfremde, rigide Agitation. So weltfern wie ihr scheinbarer Gegenpol: die sog. neue Innerlichkeit. Tatsächlich vereinigten sich politischengstirnige Rigidität und Kampfkader-Kadavergehorsam oft mit verquastem CatStevens-Hermann-Hesse-Sensibilismus in einer Person: dem typischen Gymnasiasten/Studenten der 70er).32

Der Schlüsselbegriff dieser Darstellung einer die »Mittelmäßigkeit der BRDKultur«33 spiegelnden Alternativszene ist ›weltfremd‹. Innerlichkeit und linker Rigorismus, repräsentiert vom »typischen Gymnasiasten/Studenten der 70er«, erscheinen als Verfallsformen einer historisch auf dem »Rückzug«34 befindlichen counterculture, die der Gegenwart verständnislos gegenübersteht und deren Angehörige sich – Diederichsen miteingeschlossen – für »notgedrungen Zurückgezogene in finsteren Zeiten«35 halten. Punk hat zwar Erneuerungsmöglichkeiten aufgezeigt und den nötigen Bruch mit der Rockästhetik vollzogen; eine grundsätzliche und allgemeinverbindliche Neuorientierung kann Diederichsen jedoch nicht erkennen. Da vielmehr Ausdifferenzierung in Submilieus das zeitgenössische Gesicht der Jugendkultur prägt, entwirft er ein umfassendes Reformprogramm: ––––––––

30 31 32 33 34 35

42

Teipel 2001: 85. Diederichsen 1993: 17. Diederichsen 1982: 87. Diederichsen 1982: 87. Diederichsen 1982: 87. Diederichsen 1982: 88.

Was also gibt es zu tun, um die Integrität des Rebellischen zu retten, bzw. neu zu konstituieren? Zurück zu Bowie: Bowie war und ist der einzige fähige Schauspieler der Rock-Geschichte. [...] Die Bourgeoisie hat eine grauenvolle Angst vor ihm; sie kann ihm, genau wie den frühen Punks, nur mit ihrem argumentativen deus ex machina kontern, den sie sich, wie so vieles, der linken Argumentation entliehen hat: dem Faschismusverdacht. Bezeichnend die Tatsache, daß ausgerechnet Springers »Abendblatt« und der konservative »Münchner Merkur« einen Essay aus dem Alternativblatt »Schädelspalter« nachdruckten, der den Mythos vom Faschisten Bowie verbreitet. […] Bowie ist die Bedrohung; denn die Motivation, die von ihm und der seiner Musik innewohnenden Utopie ausgeht, gründet sich nicht auf den leicht einschätzbaren und in ihrer Gefährlichkeit ebenso gering zu veranschlagenden alternativen Verbesserungsvorschlägen des Hippie-Protests. Sein Entwurf ist der einer ideologisch klaren Persönlichkeit ohne Schlacken, die sich skrupellos der Idealtypen der bürgerlichen Mythologien bedient, ohne sich ihnen verpflichtet zu fühlen. Bowie nutzt alle ihre Schattierungen aus (Astronaut, Harlekin, Alien, Diktator, Diplomat), um sie respektlos, distanziert und präzise in seinen brisanten Diskurs der Lust einzuformen. Bowie ist der Revolutionär, der in alle Rollen schlüpft, die gemeinhin für Feinde der Revolution vorgesehen sind, um sie voller Lebensfreude zu sabotieren. Bowie antizipiert den alien rebel; und die Geschmacklosigkeiten, Fehler, die ihm hin und wieder aus Unkenntnis der eigenen Methode unterlaufen, tragen umso mehr dazu bei, das herrschende Denken zu unterminieren. Wahrlich: Bowie ist der Vater der wichtigsten Punk-Bestandteile [...]. […] Bowie [bürgt] für die machtvolle Bedrohung durch die subversive Kraft der Rock-Inszenierung.36

Zunächst ist festzuhalten, dass Diederichsen sich um Kontinuität bemüht. Er nimmt nicht die Tabula-Rasa-Haltung vieler Punks ein, sondern verfolgt das Ziel, »die Integrität des Rebellischen zu retten«. Als Alternative zum kompromisslerischen, moralisch kompromittierten, »leicht einschätzbaren« und deswegen ungefährlichen ›Hippie-Protest‹ greift Diederichsen auf David Bowie zurück. Das mag angesichts des Alters von Bowie (*1947), dessen Karriere 1982 schon mehr als ein Jahrzehnt andauert, und seiner ungebrochenen Popularität beim großen Publikum überraschen. Der kommerzielle Erfolg steht seiner Vorbildfunktion für das umrissene Subversionsprogramm jedoch nicht im Weg. Diederichsen verspricht sich von diesem Leitbild eine Integration der zahlreichen Fraktionen zeitgenössischer Jugendkultur ebenso wie eine Abgrenzung von verwässerten Protestformen, denn Bowie »bleibt eben die genauest umrissene Entgegnung auf den gemeinsamen Feind Aller (der Punks, Skins, Popper […] Teds und New Waver […]): dem Hippie […]. Bowie markiert die Grenzen«37. Wodurch eignet sich gerade David Bowie dafür? Sein Hang zum fiktiven Alter Ego, zu Theaterschminke, exzentrischen Bühnenoutfits und Gesamtkunstwerk unterscheidet ihn von Rockstars wie Bruce Springsteen, die Konzerte in Alltagskleidung bestreiten und gleichsam als sie selbst auftreten. Als »der einzige fähige Schauspieler der Rock-Geschichte« steht Bowie dagegen für ästhetisches Rollen––––––––

36 37

Diederichsen 1982: 92. Diederichsen 1982: 86.

43

spiel. Bei den von ihm im Laufe seiner Karriere verkörperten Kunstfiguren wie Major Tom, Ziggy Stardust, Aladdin Sane und The Thin White Duke ist die Grenze zwischen Rolle und Person oft nur schwer zu ziehen.38 Dies zeigt ein Vorfall aus dem Jahr 1978, als der Sänger im Vorfeld eines ›Rock against Racism‹-Konzerts in London, »wieder mal ein neues Image produzierend, im Fond eines Mercedes der 30er Jahre mit zum deutschen Gruß erhobenem Arm in den Victoria Bahnhof einfuhr. Und Hitler rühmte als den ersten Superstar der Geschichte, der seine Sache gut gemacht habe«39. Nun geht es Diederichsen weniger darum, Bowie vom Vorwurf des Faschismus zu salvieren; er begeistert sich vielmehr für die kalkulierte Provokation, die links wie rechts, beim »Münchner Merkur« und beim »Schädelspalter« für Empörung sorgt und damit Grenzen des ›Sagbaren‹ in einer scheinbar tabulosen Mediengesellschaft aufzeigt. Wie Teile der ›Neuen deutschen Welle‹ ruft Bowie den »moralisierende[n] Zeigefinger eines vagen Faschismusverdachts« auf den Plan – »jene typische BRD-Inquisition, die nie richtig liegt, den wahren Faschismus nicht erkennt und alles, was nicht auf der liberal-geschwätzigen Einheitslinie sich befindet, in das Reich des Unsagbaren zu verbannen sucht«.40 Indem es einen unberechtigten Faschismusvorwurf erhebt, entlarvt sich das scheinliberale ›System‹ also selbst. Die »subversive Kraft der Rock-Inszenierung« ist aber nicht unbedingt an Tabubrüche gebunden. Neben dem Bürgerschreck kennt Diederichsen mindestens eine weitere Variante, die ebenfalls auf Verstellung beruht und sich als ›Mimikry ans Normale‹ beschreiben lässt: »Die Maske der Normalität, von einem avancierten, wissenden Kopf getragen, nicht um sich zu verstecken, sondern um ›mittendrin zu stecken‹, ist die verwirrendste Taktik der Okkupation offizieller Meinungsinstanzen«41. Zugrunde liegt die Idee einer Subversion gesellschaftlicher Übereinkünfte durch ›Agenten‹, welche äußerlich nichts von ›normalen‹ Bürgern unterscheidet und die deshalb weder erkannt, sanktioniert oder korrumpiert werden können. Sofern ihre abweichende Gesinnung dennoch deutlich wird, vermögen sie sowohl »den eindimensionalen Hippie« als auch »den Mehrheitsbürger« aus dem Konzept zu bringen.42 Diederichsen bezieht sich hier, neben Brechts Lesebuch für Städtebewohner43, auf Genesis P. Orridge, den Performance-Künstler und Sänger der für ihre sexuell transgressiven Shows berüchtigten Industrialband Throbbing

–––––––– 38 39 40 41 42 43

44

Lachner 2003: 166. Sounds 8/1978: 11. Diederichsen in Sounds 9/1982: 44. Diederichsen 1982: 95. Diederichsen 1982: 96. Diederichsen 1982: 96: »Was immer du sagst, sag es nicht zweimal / Findest du einen Gedanken bei einem andern: verleugne Ihn [!] / Wer seine Unterschrift nicht gegeben hat, wer kein Bild hinterließ / Wer nicht dabei war, wer nichts gesagt hat / Wie soll der zu fassen sein! / Verwisch die Spuren!«

Gristle, der im Sounds-Interview von einer »fremdartige[n] Gesellschaft mitten in der Gesellschaft« spricht, die langsam von innen kommt. Sieh dir die Leute an, die zu unseren Konzerten kommen: Sie sehen unauffällig aus und wohnen in Suburb-Appartements. Aber sie denken und leben in einer anderen Weise, die sich die Herrschenden nicht erklären können.44

An anderer Stelle in Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze fasst Diederichsen das ästhetisch-kryptopolitische Programm ›Pop‹ aus einer umfassenderen Perspektive ins Auge: Eine schöne Definition von Pop lieferte mir unfreiwillig die Zeitschrift »Spex«. In einem Verriß einer der größten Pop-Künstlerinnen, Debbie Harry, schreiben sie nörglerisch vorwurfsvoll: »dass die Gruppe Stilelemente nie wirklich spielt, sondern nur benutzt«. Eben. Das ist es seit Bertolt Brechts »ich gestehe, dass ich in Dingen des geistigen Eigentums ...«; das ist 20. Jahrhundert; das ist der Fortschritt des menschlichen Bewußtseins, daß Kunst nach der Epoche des »Gegen« (gegen den Kapitalismus, böse Menschen, Lieblosigkeit, Schweine, Hörgewohnheiten, Sehgewohnheiten) eine neue Haltung hervorbrachte, die, immer gewahr der Widersprüche, um die herum und durch die sie entsteht, diese in respektlosen, naseweisen, plumpen und grellen Mini-Analysen vereint. Diese Mini-Diskurse schließen alle möglichen Überlebenskampf-Taktiken ein. Sie stehen jedem kämpfenden Genossen frei zur Verfügung, der sich von der Peinlichkeit des echten Anliegens freigemacht hat und nur noch mit der ultimativen Fröhlichkeit einer nahezu aussichtslosen Lage sich die Wahrheit erkämpfen will, wissend, daß alles, was er in der Sprache des Pop sagt, in mehreren Anführungszeichen erscheinen wird.45

»Pop« bricht demnach mit einer obsoleten Innovations- und Originalitätsästhetik (»Hörgewohnheiten« durchbrechen) wie mit der binären Logik und plumpen Schwarz-Weiß-Malerei gegenkultureller Politrhetorik (›gegen Kapitalismus und Schweine‹). An deren Stelle sollen Verfahren treten, für die Diederichsen mit seiner Begriffsbestimmung ein Beispiel gibt: Er übernimmt anders gemeinte Ausführungen zu Blondie und ihrer Sängerin Debbie Harry und erklärt den stilistischen Eklektizismus und die Distanzhaltung, die den Kollegen bei Spex nicht behagen, zur eigentlichen Leistung der Band. Der proklamierte Abschied von der »Epoche des ›Gegen‹« basiert auf einer komplexen Denkfigur: Der gegenkulturelle Antagonismus wird verworfen und auf einer höheren Ebene restituiert. Wie sehr der Text weiterhin dem Konfliktschema verpflichtet ist, lässt seine martialische Rhetorik erkennen. Das Angebot Pop richtet sich an ›kämpfende Genossen‹, die in ›nahezu aussichtsloser Lage‹ mit dem Formenarsenal ihrer Vorgänger Vorlieb nehmen müssen und denen Diederichsen neue, unkonventionelle und effektive Waffen an die Hand zu geben verspricht. Was gemeint ist, wird nicht recht klar, es scheint sich jedoch um die vorher skizzierten parodistischen und zitathaften Kommunikationsformen zu handeln. Sie –––––––– 44 45

Sounds 3/1981: 40. Diederichsen 1982: 93f.

45

bewirken eine Potenzierung der Uneigentlichkeit künstlerischer Rede, so dass entsprechende Aussagen »in mehreren Anführungszeichen« erscheinen. Offenbar denkt Diederichsen dabei nicht nur an Kunstwerke, sondern auch an einen lebensweltlichen Gebrauch der »Sprache des Pop«. Sie erlaubt es, triste Stimmung und Mutlosigkeit abzuschütteln und sich mit ›ultimativer Fröhlichkeit‹ jene »Wahrheit« zu »erkämpfen«, die zuvor als kaum zu entschlüsselnder Geheimcode und Waffe gegen ›Vereinnahmung‹ eingeführt wurde. Pop senkt die Entmutigungsschwelle für ›respektlose, naseweise, plumpe und grelle‹ Sprechakte, die im Rahmen pragmatischer Rede unwahrscheinlich wären, aber durch ›Entpflichtung‹ des Sprechers von der Gültigkeit seiner Aussagen problemlos möglich sind.46 Die Ambivalenz dieses ›Kommunikationsmediums‹ Pop zeigt sich darin, dass die Entpflichtung des Sprechers zugleich apodiktische Aussagen ermöglichen soll – denn »Meinungen sind eh das letzte. Heute zählen nur noch Manifeste«47. Da sich Diederichsen auf die Form und nicht auf den Inhalt der Kommunikation bezieht, wird auch die einleitende Bemerkung verständlicher, der Essay wolle »kein Programm formulieren, er will vielmehr Mut machen, das Terrain der expliziten Äußerungen zurückzuerkämpfen«48, wobei ›explizit‹ wohl so viel wie riskant, selbstbewusst, bestimmt und kraftvoll meint. Die eher beiläufig angesprochene, aber folgenreiche Voraussetzung, um sich der »Sprache des Pop« zu bemächtigen, besteht darin, sich von der »Peinlichkeit des echten Anliegens« freizumachen. Im Rahmen der Argumentation stellt das aber kein Problem dar, da die ›historische‹ Auseinandersetzung, bei der es ums ›Ganze‹ ging, ohnehin als verloren und ›läppische‹ Verbesserungsvorschläge wie groß angelegte Umsturzpläne als ›peinlich‹ gelten. So vage und deutungsbedürftig die Theorie ist, so konkret gestaltet sich zuweilen die praktische Umsetzung, wie ein Blick auf Subito verdeutlicht, Rainald Goetz’ Wettbewerbsbeitrag zum Ingeborg-Bachmann-Preis 1983. Bekanntlich hat die spektakuläre Inszenierung des Textes vor der Jury in Klagenfurt die Karriere des Autors beflügelt. Allerdings wurde bislang die Rolle, die Sounds dabei spielte, noch nicht angemessen gewürdigt. Unter dem Einfluss des Popmagazins bricht Goetz in Subito radikal mit seinem früheren Stil, der sich anhand des 1978 im Kursbuch veröffentlichten autobiographischen Essays Der macht seinen Weg veranschaulichen lässt. Diese skrupulöse Gewissenserforschung eines überdurchschnittlich erfolgreichen, aber freudlos und isoliert, »ohne Alkohol, ohne Drogen, ganz ohne Studenten-Bohème«49 lebenden jungen Manns, der unter dem Eindruck ––––––––

46 47 48 49

46

Vgl. dazu Niklas Luhmanns Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien in Luhmann 1998: 316ff. Sounds 9/1982: 44. Manifeste, die ihrerseits ironisiert werden, etwa indem man sie mit »Stalin Stalinsen« (Sounds 3/1981: 14) unterzeichnet. Diederichsen 1982: 86. Goetz 1978: 43.

des ›Deutschen Herbstes‹ mit dem eigenen Opportunismus hadert und seine »Betroffenheit«50 in wohlformulierten, fast betulich wirkenden Sätzen zum Ausdruck bringt, kontrastiert scharf mit dem grobianischen, im Manifeststil gehaltenen Text, den Goetz in Klagenfurt vorträgt. Wir brauchen keine Kulturverteidigung. Lieber geil angreifen, kühn totalitär roh kämpferisch und lustig, so muß geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt. Ich brauche keinen Frieden, weil ich habe den Krieg in mir. Am wenigsten brauche ich die Natur. Ich wohne doch in der Stadt, die wo eh viel schöner ist. Schaut euch lieber das Fernsehen an. Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Autos Modehedonismen Pop und nochmal Pop. Mehr vom Blauen Bock, mehr vom Hardcoreschwachsinn der Titel Thesen Temperamente Und Akzente Sendungen. Das bringt uns allabendlich in beste Trinkerlaune. Nichts ist schlimm, nur die Dummheit und die Langeweiler müssen noch vernichtet werden. So übernehmen wir die Weltherrschaft. Denn alles alles alles geht uns an. / Und jetzt, los ihr Ärsche, ab ins Subito.51

Wo zuvor Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit angesichts des politischen Lagerdenkens im Zuge der Terroristenverfolgung herrschten – »Die Einheitsfront einer politisch gleichgültigen Masse produziert eine Einheitsfront einer politisch radikalen Minderheit«52 –, wird nun ein überdrehter, manischer Ton laut. Der macht seinen Weg appelliert gleichsam noch an die Vernunft eines Kulturbetriebs, der die ›Sympathisantenhetze‹ willig mitmacht, während Subito diese Hoffnung fallen gelassen hat und die »Titel Thesen Temperamente Und Akzente Sendungen« mit beißendem Sarkasmus überzieht. Das neue Idiom dient als Ventil für Frustrationen, die sich angesichts der eigenen Ohnmacht angestaut haben. Goetz benennt den Einfluss, indem er Diederichsen und eine Reihe weiterer Autoren und Künstler aus dem Sounds-Umfeld unter kaum verschlüsseltem Namen (»Neger Negersen«53) auftreten lässt. Im Vorfeld der Lesung hat man sich über die Verhöhnung der ›Nullen‹ in Klagenfurt abgesprochen.54 Kein Zweifel, hier hat jemand »die Peinlichkeit des echten Anliegens« aufgegeben, um sich »mit der ultimativen Fröhlichkeit einer nahezu aussichtslosen Lage […] die Wahrheit [zu] erkämpfen«55. Und auch der berühmte Skalpellschnitt in die eigene Stirn folgt der Substitutionslogik einer »Sprache des Pop«: »Und weil ich kein Terrorist geworden bin, deshalb kann ich bloß in mein eigenes weißes Fleisch hinein schneiden.«56 Noch gut eineinhalb Jahrzehnte später erinnert sich Goetz an die befreiende Wirkung der in Sounds propagierten Inversionsrhetorik: –––––––– 50 51 52 53 54 55 56

Goetz 1978: 36. Goetz 1986: 21f. Goetz 1978: 33. Goetz 1986: 19, 24. Goetz 1986: 18. Diederichsen 1982: 93f. Goetz 1986: 16.

47

Anfang der 80er Jahre, tschuldigung, entdeckte ich plötzlich, ich glaube bei der Lektüre von Sounds, dass irre interessante Denkeffekte für mich entstehen, wenn ich JEDES meiner spontanen Urteile einfach ins Gegenteil umdrehe, und dann gucke, wie sich das anfühlt. [...] Das war gigantisch, das war ein neuer Kontinent, eine neue Zeit, das Ende der Knechtschaft, das Ende der Unmittelbarkeit.57

Goetz hat den in Klagenfurt erworbenen Ruf des ›Punkliteraten‹ anschließend in mehreren publizistischen Fehden verteidigt. So auch 1984 in einer Auseinandersetzung mit Hermann Peter Piwitt und Eckhard Henscheid, die zeigt, wie unentwirrbar Sachargumente, Provokationslust, Profilneurosen und Karriereinteressen im Generationskonflikt mit den 68ern zusammenhängen. Den Stein des Anstoßes bildete eine Äußerung Piwitts, wonach manche Frauen »besser nicht den Mund aufmachten, außer bei Essen und Fellatio«58. Als Goetz daraufhin in der Augustausgabe von Spex zum Angriff auf die »schweinische dumme fette Unexistenz«59 Piwitts blies, sprang Henscheid dem Altersgenossen (einer »unserer besten Prosastilisten und […] aufrechtesten Sozialisten«60) mit dem nicht uneinleuchtenden Argument zur Seite, dieser habe sich herausgenommen, was auch der »verhätschelte Jungstar« Goetz »für sich reklamiert: einmal einseitig, ungerecht, frivol, gemein gegen Frauen – bzw. gegen eine bestimmte Frau, die’s verdient hat – zu sein«.61 Goetz’ Holzhammer-Polemik erreiche nicht das Niveau des Vorbilds Thomas Bernhard, sondern bewege sich stilistisch auf der Ebene von RAFVerlautbarungen. Einen Punkt spart Henscheids Replik allerdings aus: Goetz hatte sich über den »übersteile[n] Konjunktiv«62 ›die besser nicht den Mund aufmachten‹ amüsiert und im selben Kontext den »Alt-Schweinen«63 vorgeworfen, mit Sprachkritik in der Tradition von Adorno und Karl Kraus »lebenslänglich hausieren«64 zu gehen. Das zielt auch gegen die Neue Frankfurter Schule und insbesondere Henscheid, den Meister des »altfränkelnden, guten Deutsch«65, dessen Satirestil mittlerweile von Stadtzeitschriften wie tip kopiert wurde.

4.3 Guter schlechter Geschmack Die von Diederichsen proklamierte »Sprache des Pop« findet ihr Vorbild in zeitgenössischer Kunst, der eine gewisse theatrale Doppelbödigkeit eigen ist. –––––––– 57 58 59 60 61 62 63 64 65

48

Goetz 1999b: 704. Goetz 1986: 92. Goetz 1986: 92. Henscheid 1991: 103. Henscheid 1991: 103. Goetz 1986: 92. Goetz 1986: 92. Goetz 1986: 93. Diederichsen 1993: 248, Fn. 12.

Stilbrüche, »Geschmacklosigkeiten« und »Fehler« erscheinen vor diesem Hintergrund als Strategien gegen den ›herrschenden‹ Geschmack und Alternative zur normalisierten und damit reizlosen Rockästhetik der Renitenz, des ungebändigten Ausdrucks und der Virtuosität.66 In gleicher Weise kritisiert Diederichsen die »formelhafte[], konventionelle[] Unkonventionalität«67 des gegenkulturellen Lebensstils. Angesichts dieser Situation wertet er das Triviale, Kitschige, Handwerklich-Fehlerhafte und Unseriös-Infantile auf und macht es zum Gegenstand theoretischer Überlegungen, die um Begriffe wie ›Trash‹, ›Kult‹ oder ›Camp‹ kreisen und an gegenkulturelle Konzepte ›schlechten‹ Geschmacks der 1960er Jahre anschließen. Es bietet sich an, erneut beim sozialen Normalisierungsprozess der Nachkriegsgesellschaft anzusetzen, der Voraussetzung der anschließend zu diskutierenden abweichenden Geschmacksmuster ist. Wie im letzten Kapitel ausgeführt, entsteht in der zweiten Jahrhunderthälfte eine gesamtgesellschaftlich verbindliche, einheitliche Kultur, die sich vom kulturellen Pluralismus der Stände- und Klassengesellschaft abhebt. Es braucht hier nicht erläutert werden, inwieweit diese Entwicklung durch die bürgerliche Kultur der Neuzeit vorbereitet wurde, die durchaus mit dem Anspruch auftrat, »die allgemeine und gültige Kultur zu sein«68. Beachtung verdienen jedoch antibürgerliche ästhetische Bewegungen wie Dandyismus und Décadence, da deren charakteristische Devianzmuster sich in der Massenboheme der Nachkriegszeit fortsetzen. Typischerweise handelt es sich dabei um eine demonstrative Über- oder Unterbietung des kulturellen Mittelmaßes. So bezweckt der aristokratisch-verschwenderische, gegen das Nützlichkeitsdenken gerichtete Gestus der europäischen Décadence des ausgehenden 19. Jahrhunderts die symbolische Einnahme einer gesellschaftlichen Spitzenposition. Die Protagonisten von Joris K. Huysmans’ À Rebours (1884) und Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890) beziehen in »bewußte[r] Frontstellung gegen das von der Gesellschaft praktizierte ›Übliche‹«69 Partei für eine »verfallsbesessene, nur dem Schönen und Exquisiten und Künstlichen dienende Gegenwelt«70 zur »genormten zeitgenössischen Gesellschaft«71. Erwin Koppen zählt die Décadence zu den ästhetischen Oppositionsbewegungen »gegen die bürgerliche Industriegesellschaft« wie [f]rühe[] französische[] Bohème, Mailänder Scapigliatura, Schwabing, Existenzialistenkeller, Beat und Hip. Allerdings ziehen sich die Décadents nicht in eine komplementäre Sub-Kultur zurück, sondern in eine elitäre ›Supra-Literatur‹, die den bürger-

–––––––– 66 67 68 69 70 71

Diederichsen 1982: 92. Diederichsen 1982: 96. Tenbruck 1989: 261. Koppen 1973: 101. Koppen 1973: 39. Koppen 1973: 101.

49

lichen Habitus und das bürgerliche Wertsystem gleichsam ›von oben her‹ in Frage stellen.72

Camp und Trash zielen dagegen auf eine Unterbietung des ›Normalniveaus‹, die ähnliche Distinktionseffekte erzeugt. Einschlägig ist in diesem Zusammenhang Susan Sontags Essay Notes on Camp (1964). Sontag geht von sozialer Homogenisierung, der Auflösung kultureller Hierarchien und der zunehmenden Verfügbarkeit prestigeträchtiger Güter in der Überflussgesellschaft aus, die traditionellen, überbietenden Distinktionsgesten den Boden entziehen: »Camp ist der moderne Dandyismus. Camp ist die Antwort auf das Problem: Wie kann man im Zeitalter der Massenkultur Dandy sein?«73 Die von Sontag beschriebene Lösung besteht darin, dass Kenner sich Kulturprodukte und Verhaltensweisen aneignen, die nach ›allgemeiner‹ Auffassung als minderwertig einzustufen sind. Allerdings muss dies »auf ausgefallene Weise«74 geschehen. Der Rezeptions- und Konsumstil steht also im Vordergrund, so dass Sonntag Camp nicht primär an Objekteigenschaften festmacht, sondern von einer »Erlebnisweise (sensibility)«75 spricht, die sich typischerweise in dem Geschmacksurteil ausdrückt: »[E]s ist gut, weil es schrecklich ist«76. Camp verkehrt mithin als dominant vorausgesetzte kulturelle Wertmaßstäbe ins Gegenteil. Es geht aber nicht darum, den sozialen Index ästhetischer Rangdifferenzen aufzugeben. Der gute Geschmack bleibt guter Geschmack, das heißt Zeichen von Superiorität, auch wenn er als »gute[r] Geschmack des schlechten Geschmacks«77 in Erscheinung tritt. Camp ist im Zusammenhang mit Pierre Bourdieus Feststellung zu sehen, dass »ein nicht unerheblicher Teil der Inhaber der seltensten Bildungstitel seine ästhetische Einstellung durch die Aussage dokumentiert, dass jedes Objekt ästhetisch wahrgenommen werden kann«78. Entsprechend firmiert Camp bei Sontag als »eine Art Geheimkode« und »Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen«, deren Überlegenheit allerdings nicht in erster Linie auf Schichtzugehörigkeit, sondern auf individueller Aneignung von Geschmackskompetenz basiert.79 Sontag spricht von einer »improvisierten Klasse, die sich selbst ernannt hat und vorwiegend aus Homosexuellen besteht, die sich als Aristokraten des Geschmacks einsetzen«80. Sontags Essay markiert einen Übergang von den normativ geprägten Kitschdiskussionen der ersten Jahrhunderthälfte zu geschmackssoziologischen Theorien, –––––––– 72 73 74 75 76 77 78 79 80

50

Koppen 1973: 66f. Sontag 2004: 337. Sonntag 2004: 337. Sontag 2004: 322. Sontag 2004: 341. Sontag 2004: 340. Bourdieu 1987: 79. Sontag 2004: 322. Sontag 2004: 338.

welche die aktive Konstitution ästhetischen Wertes im Zuge des Rezeptions- und Konsumvorgangs hervorheben.81 Dass er Mitte der 60er Jahre in den USA entsteht, hängt eng mit dem gleichzeitigen Geltungsverlust einer zunehmend als elitär wahrgenommenen Kunstkritik zusammen, die sich vornehmlich der Pflege kanonisierter moderner Künstler wie Kafka, Joyce, T. S. Elliott, Ezra Pound, Picasso oder Jackson Pollock widmet und der zeitgenössischen Massen- und Jugendkultur nichts abgewinnen kann. Der Bedeutungsschwund moderner Klassiker führt laut Daniel Bell zur Marginalisierung eines überkommenen Kritikertypus, dessen Platz neue Intellektuelle einnehmen, die sich vom Geschmack der Mittelschicht abgrenzen. Ihr »Feind« ist nicht »der üble Kitsch, nicht die ungeheure Schundflut, sondern die Kultur des geistigen Normalverbrauchers«82. Kultur [wurde] zu einem snobistischen, modisch amüsanten Spiel, dem sich Werbeleute, Redakteure von Frauenzeitschriften, Illustriertenfotografen, Innenarchitekten und Homosexuelle widmeten. Démodé, »aus der Mode«, wurde, sobald die Normalverbraucher es erst einmal kapiert hatten, das Spiel Ober-, Unter- und Mittelschicht, das allerdings schnell durch das neue Spiel des »in«- und »out«-Seins ersetzt wurde. »In«-Sein hieß, der Masse in Sachen Mode weit voraus zu sein, oder im Gegenteil, das zu schätzen, was die große Masse mochte (flotte Kinothriller zweiter Klasse, Schlager usw.), jedenfalls nicht, was die großspurige Mittelschicht bevorzugte. [...] / Kulturkritik, wenngleich zum Spiel geworden, war dennoch ein ernstes Problem für Intellektuelle, die sich nun gehalten sahen, in einer Kultur, über die sie sich stets mokiert hatten, eine Rolle zu übernehmen.83

Bell zufolge gewinnen Zeitdifferenzen (»weit voraus sein«) gegenüber Schichtunterschieden (»das Spiel Ober-, Unter- und Mittelschicht«) an Bedeutung. Indem avantgardistische Geschmackseliten sich die zeitgenössische Massenkultur aneignen, sichern sie ihre gesellschaftliche Funktion und Stellung. Ähnliches klingt auch bei Sontag an: Der Mensch, der auf hohen und ernsten Vergnügungen besteht, beraubt sich des Vergnügens; er schränkt seine Möglichkeiten zu genießen immer mehr ein; in der ständigen Ausübung seines guten Geschmacks wird er sich, weil er damit gleichsam den Preis immer höher schraubt, eines Tages selbst vom Markt vertreiben.84

Auffälligerweise nennt Sonntag keine Spezifika des thematisierten Rezeptionsstils, obgleich diesen doch die Funktion zukäme, den Unterschied zwischen naivem und reflektiertem ›schlechten‹ Geschmack zu markieren und zu verhindern, dass die Abweichung ›nach unten‹ auf mangelndes Urteilsvermögen zurückgeführt wird. Womöglich ist dies darauf zurückzuführen, dass sich das Problem in Sontags Metier, dem gehobenen Kulturjournalismus, kaum stellt, da hier schon die –––––––– 81 82 83 84

Friedrich 2002: 56, Ross 1989: 136, 153f. Bell 1991: 61. Bell 1991: 60. Sontag 2004: 340.

51

Tatsache, dass ›Minderwertiges‹ und Belächeltes zum Gegenstand elaborierter Interpretation gemacht wird, in der Regel ausreicht, um Missverständnisse auszuschließen. Als gezielte Inversion des herrschenden Geschmacks rückt Camp in die Nähe uneigentlicher Rede und Ironie, denn in gewisser Weise wird die subvertierte kulturelle Hierarchie auch bestätigt, indem der Autor seine Deutungskompetenz unter Beweis stellt. Sontags vornehmliches Interesse gilt allerdings nicht uneigentlichen oder ironischen Werken der bildenden, sprachlichen und performativen Künste, sondern einer entsprechend strukturierten Wahrnehmungsweise, die es erlaubt, jeden denkbaren Gegenstand im Licht einer ›Als-ob‹Situation zu betrachten: Camp sieht alles in Anführungsstrichen: nicht eine Lampe, sondern eine ›Lampe‹; nicht eine Frau, sondern eine ›Frau‹. Camp in Personen oder Sachen wahrnehmen heißt die Existenz als das Spielen einer Rolle begreifen. Damit hat die Metapher des Lebens als Theater in der Erlebnisweise ihre größte Erweiterung erfahren.85

Fluchtpunkt des Essays ist ein ästhetischer Universalismus, der sämtliche kulturell zugewiesenen Bedeutungen als konventionell und arbiträr erkennbar werden lässt und nicht auf bestimmte Gegenstandsmerkmale oder Intentionen auf Seiten des Produzenten oder Darstellers angewiesen ist. Gleichwohl nennt Sontag fast ausschließlich Beispiele, die von sich aus eine Betrachtung unter diesem Gesichtspunkt nahe legen. Die Rezeptionshaltung Camp drängt sich beispielsweise angesichts des überzogenen Stils klassischer Hollywood-Diven auf.86 Sie wird bevorzugt dann eingenommen, wenn nicht intendierte Wirkungseffekte auktoriale Absichten überlagern (»Filme für Herren, ohne Wollust betrachtet«87), historischer Abstand zur Entstehungszeit des jeweiligen Werks ungewollte Verfremdungseffekte produziert, pompöse Rhetorik ihren Zweck verfehlt oder Form und Inhalt auseinanderklaffen wie in den opulenten Musicalchoreographien Busby Berkeleys, der nicht davor zurückschreckte, auch soziales Elend in diesem Stil darzustellen.88 Dass Sontag dabei »naive[n] oder reine[n] Camp«89 bevorzugt, mag damit zu tun haben, dass dieser seinen Reiz erst im Rahmen der Deutung durch einen fähigen Kritiker entfaltet. Vergleichbare Rezeptionsstile im deutschen Popjournalismus hängen eng mit Entwicklungen in der Punk- und New-Wave-Szene zusammen. Auch hier lassen sich demonstrative ästhetische Abweichungen nach unten beobachten, wobei vor allem Normen und Standards der Popmusik unterschritten werden, die künstlerisch-handwerkliche Fertigkeiten oder die Qualität der Texte betreffen. Oft liegt der Ursprung von ›Fehlern‹ im mangelnden musikalischen Können und der unzureichenden technischen Ausrüstung der Bands. Wie ihre britischen und –––––––– 85 86 87 88 89

52

Sontag 2004: 327. Sontag 2004: 327. Sontag 2004: 325. Sontag 2004: 333, 329. Sontag 2004: 331.

amerikanischen Vorbilder erklären jedoch auch deutsche Gruppen Dilettantismus zur Tugend und grenzen sich so von der ›leeren Virtuosität‹ technisch perfekter Gruppen wie Yes oder Genesis ab. Auch entstehen aufgrund der Unfähigkeit der Musiker unverwechselbare Eigenarten, wie sich anhand des Schlagzeugspiels von Markus Oehlen, Mitglied von Charley’s Girls und Mittagspause, zeigen lässt: Danach hatten wir einen Proberaum im Ratinger Hof. Plötzlich tauchte ein wirklich total kaputtes Schlagzeug auf. […] Ich konnte gar nicht spielen. […] Ich wollte auch gar nicht. Wichtiger war, endlich selber was umsetzen zu können. […] Und das machte auch unseren typischen Sound aus. Der kam einfach aus unserem Unvermögen. […] Franz sagte: ›Spiel doch mal Reggae auf dem Schlagzeug.‹ […] Es kam nur ein ›Bumm-Tscha-Ka‹ zustande. Das hatte mit Reggae nichts zu tun. […] Und es hat mir auch Spaß gemacht, dass ich da ein paar Brüche reinbringen konnte. Erst mal durch mein Unvermögen und dann durch gewisse Schrägheiten.90

Ferner ist auf bewusst naiv und einfach gestaltete Songtexte hinzuweisen, die auch thematisch nicht den Anforderungen an ernstzunehmende Rockmusik entsprechen. So handelt Andreas Doraus an ein Kinderlied erinnernder Top-Ten-Hit Fred vom Jupiter (1981) von einem Außerirdischen, der nach einer Notlandung das Interesse weiblicher Erdenbewohner, aber auch die Eifersucht der Männerwelt auf sich zieht und deswegen den Planeten verlassen muss. Zur irritierenden Simplizität des Stückes trägt bei, dass ein einstimmiger, dilettantischer Mädchenchor den Text vorträgt. Gezielt enttäuscht das gleichermaßen alberne wie gefällige Lied Hörererwartungen, die am Veröffentlichungskontext orientiert sind, dem Label Ata Tak und dem Vertrieb Rip off, die beide unabhängig von Unterhaltungskonzernen operierten und eher für randständige und sperrige Produktionen bekannt waren. Auch die eigenwillige Darbietung vor Publikum entsprach nicht der gängigen Vorstellung von einem Rockkonzert. Dorau trat mit seinem Chor, den Marinas, inmitten einer aus »ausgesägten Gartenzäunen, Sperrholztulpen und einer Frittenbude« bestehenden Kulisse auf, die eine »heile[] Spießbürgerwelt«91 evozierte. Rückblickend unterstreichen die Beteiligten die Unterbietungsironie des künstlerischen Gesamtentwurfs: Das war ja nicht unsere Anschauung. Alleine schon dieses LP-Cover! Da standen 16jährige Mädchen mit Babys im Arm, denen das Gesicht von Andreas reinmontiert war […].92 Dieser kindliche Stil war damals etwas ganz Neues. Und der Drall daraus, das war dieses allgemeine Interesse an schlechtem Geschmack. Andreas war ja ein cleverer Hund. Aus dieser Ablehnung von Rock heraus hat er sich einfach im bürgerlichen Lager seine Heimat gezimmert. Aber immer zwinkernd.93

–––––––– 90 91 92 93

Teipel 2001: 81f. Vgl. Diederichsen 1999: 133–135. Teipel 2001: 321. Teipel 2001: 321. Teipel 2001: 322.

53

Im Aufsatz Nette Aussichten entfaltet Diederichsen dieses Modell der Subversion seriöser Rockmusik im Kontext grundsätzlicher Überlegungen zur Originalitätsproblematik: Das ›Unangepaßte‹ ist ebenso bereits ein erzbürgerlicher Alltagsreflex, der oft die übelsten Mutationen der genormten Häßlichkeit hervorbringt. Dagegen ist der nackte Schlager, wie ihn etwa noch ABBA schrieben, also mittlerweile eine obszöne Hinterrücks-Attacke, eine vom Gegner nicht lokalisierbare Bastion ästhetischer Kriegsführung.94

Diese potenzierte Normabweichung und ›häretische‹ Erweiterung des Popkanons um bislang ausgegrenzte, wegen ihrer Nähe zum Schlager abgelehnte populäre Kunst, die im Gegensatz zur automatisierten Abweichungsästhetik als »nackte ›Normalität‹«95 in Erscheinung tritt, interpretiert Diederichsen im Rahmen einer Kriegs- und Agentenmetaphorik als quasi-militärische Strategie.96 Die auch durch den britischen Popjournalismus vermittelte Rezeption amerikanischer New-Wave-Bands wie Devo und Blondie lässt sich ebenfalls im Kontext der Campästhetik deuten, wobei hier weniger gewollte Geschmacklosigkeit als programmatische Artifizialität im Vordergrund steht. Den genannten Gruppen kommt dabei paradigmatischer Status für eine Interpretationspraxis zu, welche die präsupponierte Natürlichkeitsideologie konventioneller Rockmusik in Frage stellt. An den Live-Auftritten Devos heben die Kritiker eine einstudiert und maschinell wirkende, uniforme Körpersprache hervor, die sie als Antithese zur »sich naturhaft-animalisch gebärdenden Souveränität eines Mick Jagger und anderer Rock’n’Roll-Stars«97 deuten. Einer der Autoren sieht darin eine Reaktion auf die Urbanisierung, Technisierung und Medialisierung moderner Lebenswelten und deutet die Performance der Band als Kritik am Konzept des souveränen, autonomen und einheitlichen Ichs, das angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung unhaltbar sei. Der marionettenhafte, die Dissoziierung von Rolle und Person unterstreichende Liveact der Band gilt als ›ironisch-verfremdende‹ Mimesis ›verdinglichter‹, bis in intimste Regungen hinein sozial und kulturell geprägter Subjektivität und wird im Kontext postmoderner Subjektkritik interpretiert.98 Gefordert wird die illusionslose Anerkennung eines fragmentierten, nicht mehr ›mit sich identischen‹ Ich, das »ungleichartige Repräsentationsweisen von Identität« zulasse, »ohne dass dies als unnatürlich, schizophren oder heuchlerisch berechnend« beurteilt werden müsse.99 Deutlich tritt dabei der Überlegenheitsanspruch theoretisch informierter Kritiker zu Tage, die Vorstellungen vom souveränen Ich, »das alle an es herantretenden Erscheinungen seinen Zielen, seiner ––––––––

94 95 96 97 98 99

54

Diederichsen 1982: 96. Vgl. Teipel 2001: 262. Diederichsen 1982: 96. Zum Verhältnis von Schlager und Pop siehe Flender/Ranke 1989: 14. Sounds 9/1980: 22. Sounds 9/1980: 23. Sounds 9/1980: 23.

Weltsicht mit Rationalität und Disziplin unter- bzw. zuzuordnen weiß (oder sich wenigstens darum bemüht, das Gute)«100 als naiv denunzieren. Dem entspricht eine Deutung der pragmatisch-nüchternen Geschäftstüchtigkeit von Bands wie Devo als ›dialektische‹, zwischen Affirmation und Negation changierende Haltung zu unvermeidbaren kapitalistischen Verwertungszwängen. Von Akzeptanz gegenüber unverhohlenem Profitstreben zeugen auch Artikel über Blondie, wobei hier die Herkunft der Band aus der New Yorker Punkszene Glaubwürdigkeit garantiert. Tony Parsons beschreibt das äußere Erscheinungsbild der als »Aufblaspuppe«101 bezeichneten, das Stereotyp der kühlen Blondine bedienenden Sängerin Debbie Harry mit einer Mischung aus Faszination und Ekel. Harry repräsentiere ein »völlig wirklichkeitsferne[s] Produkt von Titelseitenschönheit, hochglänzend mit der Garantie/dem Versprechen/der Illusion von der Traumwelt, nach der du gerade gierst«102. Frühling 1979, und Königin Debbie schaut herunter von Platz eins aller Hitparaden, Herrin all derer, auf die sie herabschaut, und sich vollständig darüber im Klaren, daß Rock-Musik nur zu einem Teil aus Musik und zu neun Teilen aus Image besteht. Gott schütze sie!103

Parsons thematisiert das offene, Einsprüche vorwegnehmende Eingeständnis von Manipulations- und Vermarktungsstrategien, wie es Adorno und Horkheimer als Immunisierung gegen Kritik gedeutet haben.104 Diederichsen geht noch einen Schritt weiter und hält Blondie zugute, die ›Widersprüchlichkeit‹ des Kulturbetriebs analytisch zu durchdringen und darzustellen.105 Typische Campmerkmale weisen auch zwei Sounds-Texte über die Schlagersängerin Marianne Rosenberg auf. Es handelt sich um eine Plattenbesprechung Kid P.s sowie um ein unter Pseudonym (»Ludwig-Sigurt Dankwart« = LSD) verfasstes, möglicherweise ebenfalls von Kid P. stammendes Porträt der Künstlerin. Ähnlich wie im Fall von ABBA werten beide Texte den Schlager als triviale Unterhaltungsform auf und invertieren übliche Bewertungskriterien des gehobenen Popmusikjournalismus, etwa wenn als Motiv der Berichterstattung die Attraktivität der Sängerin genannt wird: »Warum ich mich jemals mit Marianne Rosenberg –––––––– 100 101 102 103 104

105

Sounds 9/1980: 23. Sounds 5/1979: 30. Sounds 5/1979: 29. Sounds 5/1979: 29. »Alle Kultur unterm Monopol ist identisch, und ihr Skelett, das von jenem fabrizierte begriffliche Gerippe, beginnt sich abzuzeichnen. An seiner Verdeckung sind die Lenker gar nicht mehr so sehr interessiert, seine Gewalt verstärkt sich, je brutaler es sich einbekennt. Lichtspiele und Rundfunk brauchen sich nicht mehr als Kunst auszugeben. Die Wahrheit, daß sie nichts sind als Geschäft, verwenden sie als Ideologie, die den Schund legitimieren soll, den sie vorsätzlich herstellen« (Adorno/Horkheimer 1995: 128f.) Diederichsen 1982: 93f.

55

beschäftigt habe, hat nur einen Grund: Ich finde, sie sieht super-super-geil aus.«106 Der Autor hebt hervor, ihr Äußeres sei ein ›unnatürliches‹, kalkuliertes Produkt von Management, Plattenfirma und Stylisten, was er nicht als Kritik verstanden wissen will: Natürlich kann ich, wenn ich von Marianne Rosenbergs Äußerem spreche, nur von ihrem gemachten Erscheinungsbild sprechen, dem, was sich mir auf ihren Plattencovern und Werbefotos darbietet. Aber das macht nichts, schließlich ist das Äußere jeder Frau gemacht, und wenn auch nur von ihr selber. Warum soll ich mich also nicht den erotischen Creationen von Leuten überlassen, die etwas davon verstehen.107

Die Effekt berechnete Erscheinung Rosenbergs wird durchschaut und mit der Behauptung gerechtfertigt, dass alle Frauen ihr Äußeres nach Wirkungsabsichten gestalten würden. Indes ist das ›Produkt‹ Rosenberg dem Autor zufolge dank professioneller Hilfe nahezu perfekt und verspricht dem Konsumenten größeren Lustgewinn. Als willenlose Darstellerin einer ihr auf den Leib geschneiderten Rolle verfügt Rosenberg nicht über ein angemessenes Verständnis ihrer selbst. Der eigentliche ästhetische Wert der Sängerin hängt von der Einsicht in die Differenz von Darstellerin und Dargestelltem ab: »Sie weiß wohl selbst nicht, was sie da tut, aber sie tut das Richtige.«108 Eine abschließende Volte rundet das Gesamtbild ab. Der Kritiker zitiert einen sentimentalen Songtext und versetzt sich scheinbar in die Position eines ergriffen-naiven Fans, nur um dann Lesern, die auf den distanziert-amüsierten Tonfall eingegangen sind, eine ironisch gebrochene Absage zu erteilen: »Und wer jetzt still in sich hineinlacht, vergißt, daß es eine Menge Menschen gibt, die echt ungeliebt und ratlos sind, die Trost brauchen, mehr als wir gemeinhin meinen.«109 Damit nicht genug, meldet sich in der nächsten Ausgabe von Sounds per Leserbrief ein Rosenberg-Verehrer zu Wort, der dem Autor des Porträts vorwirft, zuletzt allzu kritisch über die Chansonette geschrieben, den naiv-apologetischen Ton »nicht bis zum Schluß« durchgehalten und begonnen zu haben, »die Songs kritisch zu durchleuchten. Das steht dem echten RosenbergFan nicht zu. Der macht sich sein Bild nicht durch kritische Hintergrundinformation kaputt«.110 Dem stehen vergleichsweise grobe Artikulationen ›guten schlechten Geschmacks‹ wie die Rezension des Films Raiders of the Lost Ark gegenüber, in der Kid P. empfiehlt, den Film »nicht zu ernst«111 zu nehmen, oder seine Bemerkungen zur »grandios grotesk[en]«112 Quizsendung Rate mal mit Rosenthal. In vergleichbarem Zusammenhang deutet Rainald Goetz in Spex Trashbegeisterung als humor–––––––– 106 107 108 109 110 111 112

56

Sounds 5/1981: 38. Sounds 5/1981: 38. Sounds 3/1981: 15. Sounds 3/1981: 15. Sounds 6/1981: 4. Sounds 12/1981: 56. Sounds 5/1982: 28.

volle Überwindung eines schlechten ästhetischen Gewissens: »Daß heute Tom Jones und Heino so lustig und liebenswert sind, ist Arbeit der Jahre an diesem Haß gegen das, was einem beim Anschauen die Scham aufzwingt.«113 In Sexbeat erklärt Diederichsen dieses Prinzip im Rahmen einer Periodisierung der Nachkriegsjugendkulturen zur Errungenschaft seiner Generation: Punk […] war das Ergebnis des schmerzhaften Gewahrwerdens der Second-OrderRolle, die unsere Generation allenfalls spielen könnte. Aus dem schmerzhaften Gewahrwerden, das uns zu Roxy Music-Fans machte, wurde später Selbstbewußtsein und Erfolg [...]. Aber am Anfang steht diese Band, die am deutlichsten von allen uns damals endgültig von dem Joch befreite, weiterhin weiter zu müssen. Wir hatten allen vorangegangenen Generationen nun etwas voraus. Wir verzichteten auf all die Lockungen des Weiter und gingen zurück. Nicht im Sinne der Nostalgie nach einem Ursprung, wie es ihn [!], wie gesagt, immer in Bohemias Bewegungen gegeben hat, sondern im Sinne eines Rückgriffs auf geschriebene Zivilisationsgeschichte. Zunächst primitiv, durch den Rückgriff auf geile, glamouröse Epochen, die offensichtlich der unseren ähnlich waren, [...] bis hin zu einem formalisierten Spiel mit Stil-Zitaten, die ihren Wert und ihre Kraft daher bezogen, daß sie eben offen und offensiv nicht mehr an die Idee der Originalität glaubten, nicht mehr an die Innovation oder dem immer noch nicht gebrochenen, in Wirklichkeit längst totgetrampelten Tabu hinterherrannten. / Die Befreiung, die wir so von 1974 an Stück für Stück erlebten, nahm bald ungeheure Ausmaße an. Zunächst konnten wir uns Dinge erlauben, die unter dem kategorischen Imperativ der Mehr!, Weiter!, Tiefer! und den Attributen natürlich, spontan und unkommerziell verpönt waren. Schüchtern und zaghaft griffen wir erst auf alten Jazz [...] zurück, dann auf Soul [...], schließlich auf alberne Trivialitäten aller Art. Es war plötzlich ein Arbeiten mit Bedeutungen möglich, die vorher nur von ihren Auftraggebern und Autoren her gesehen und verstanden wurden, ohne einzukalkulieren, daß ihre Kombinatorik in unseren Kunstwerken, aber auch unseren Lebensstilen völlig neue Möglichkeiten des stilistisch-intellektuellen Patchworks bot. Wir lernten Abba lieben. (SB 89f.)

Diederichsen tritt in Sexbeat als Historiker in eigener Sache auf, der von der Anwendung der beschriebenen Prinzipien auf popkulturelle Gegenstände weitgehend absieht und vielmehr an der retrospektiven Konstruktion eines Epochenumbruchs interessiert ist. Potenzierter schlechter Geschmack (»Das ist so Scheiße, dass es schon wieder gut ist«114), wie er nun fast schon topisch an der Wertschätzung für ABBA festgemacht wird, gilt ihm als Paradigma einer reflexiven ›Second-Order-Haltung‹, die ursprünglich als Mangel an Innovationskraft und Originalität, später jedoch als Befreiung vom »Joch« einer ästhetischen Fortschrittsideologie wahrgenommen wurde. Ausgeprägtes historisches Bewusstsein und souveräner Zugriff auf die popkulturellen Archive sind Kernelemente einer Postmodernismus, der sich von der ›regressiven‹ Orientierung an einer ›unschuldigen‹ Popkultur unterscheidet. Diederichsen unterstreicht den rezeptionsorientierten, von der Autorintention absehenden Ansatz der Camp- und Trash––––––––

113 114

Spex 5/1984, zit. n. Goetz 1986: 85f. Teipel 2001: 322.

57

ästhetik. Der eigenen Alterskohorte schreibt er auf Kosten der etwas jüngeren Punkgeneration eine Vorreiterrolle zu. Das Programm der Rekombination bekannter ästhetischer Formen umfasst dabei künstlerische Tätigkeiten im engeren Sinn, die entsprechende journalistische Berichterstattung und Interpretation sowie eine allgemeine Lebenskunst. Dabei kommt es Diederichsen darauf an, dass die beschriebene Haltung sich bereits Mitte der 70er Jahre im Zusammenhang mit Glam Rock – hier durch Roxy Music vertreten, deren erstes Album mit dem Song Re-Make/Re-Model ein historistisches Statement enthält – abgezeichnet und im Rahmen eines Lernprozesses entfaltet habe.115

4.4 ›Machbare‹ Identitäten Die Gegengegenkultur übernimmt Diederichsen zufolge die Establishmentkritik der Vorgängergeneration weitgehend und hält an gegenkulturellen Zielen fest, betont aber die Differenzen zur bestehenden Subkulturpraxis. Als Angriffspunkt dienen dabei formale Gemeinsamkeiten zwischen Verlautbarungen des Establishments und denen des Undergrounds […], die zwar vorgaben, konträren Inhalts zu sein, aber sich der gleichen Sprache befleißigten und einen dran denken ließen, dass da jemand denen ihr Spiel spielt. (SB 163)

Wie das kursiv gesetzte Zitat aus Ken Keseys Rede vor dem »Vietnam Day Committee« zeigt, die Diederichsen wohl aus Rock Power kannte, bezieht die Gegengegenkultur ihr zentrales Argument – die partielle Identität von Establishment und Underground – von der Gegenkultur selbst.116 Auf die Auflösung oppositionaler Strukturen antworten programmatische Entwürfe theatralischer und ironischer Abgrenzung vom Alternativmilieu, die vordergründig als Affirmation gegenkulturintern negativ bewerteter Positionen erscheinen. Ziel ist die Entlarvung unangemessener Selbstbeschreibungen nach dem Muster von New-Wave-Bands wie Devo. Zugleich thematisieren die Journalisten die logisch komplexen und ethisch fragwürdigen Positionierungen, die aus der gegengegenkulturellen ›Negation der Negation‹ folgen. In der Tradition Kritischer Theorie sprechen sie von einer »Dialektik von Affirmation und Negation« und einem »gefährlichen Drahtseilakt zwischen Anpassung und Überwindung«.117 Etwa von 1979 bis 1983 –––––––– 115 116

117

58

Zur Bedeutung von Roxy Music für den Popdiskurs siehe Schumacher 2001a. Zur »Schlüsselrolle« (SB 28), die Diederichsen der Rede Ken Keseys vor dem »Vietnam Day Committee« für den Übergang von der »First-Order-Hippness« (SB 28) zum Second-Order-Programm der eigenen Generation zuweist vgl. SB 18 und 28f. Vgl. auch oben S. 28. Sounds 11/1980: 46. So noch zwei Jahrzehnte später Büsser (2003: 151), der Punk und New Wave mit Adorno (1970: 39) als »Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete« deutet.

betrachtet Diederichsen diese Imitation des Konformen und Ephemeren als wirksames Mittel gegen Vereinnahmung: Warum nicht einfach das Modell des Angepaßten, den ja auch die offiziellen, stets zu konstruktiver Andersartigkeit ermunternden Organe unseres Systems immer geißeln, für unsere Zwecke nutzen. Warum nicht die Substanzlosigkeit, wahres Greuel aller Lehrer, Soziologen und Feuilletonisten, in unserem Sinne nutzen. Das war die Idee der Wave-Rebellion. Die man nicht spürte, die im Verborgenen fraß und zersetzte, der unsichtbare Wurm, der nachts kommt und dem Establishment die Kinder wegnimmt und ihnen das Gift seiner fundamentalen Distanz, seines Andersseins bei gleichem Aussehen einflößt. (SB 128)

Weil die »Strategie der Affirmation«118 jede Festlegung auf konkrete gesellschaftliche Ziele ausschließt, ist Helmut Salzingers Kritik nachvollziehbar, »bei dieser neuen alien culture« bestünde keine »Gefahr der Anpassung« mehr, »denn angepaßt sind sie [die Anhänger der New Wave, C. R.] schon«.119 Gleiches gilt für Salzingers Einwand, die von der New Wave in Aussicht gestellten Veränderungen beträfen wohl vornehmlich die »Konsumgewohnheiten«120. Doch das von Diederichsen oder Thomas Meineckes Band Freiwillige Selbstkontrolle verfolgte Subversionsprogramm erhebt durchaus Anspruch auf politische Dissidenz und unterscheidet sich damit vom offen eingestandenen Eskapismus mancher Punks der ersten Stunde.121 Vorbild ist weniger Punk als die ironische Gesellschaftskritik der New Yorker (Talking Heads, Blondie) und der britischen (Heaven 17, Haircut 100) New Wave, deren positive Haltung zum kommerziellen Erfolg freilich ›dialektisch‹ gedeutet wird.122 Ähnlich wie schon Salzinger erkennt man – dem griffigen, aber näherer Prüfung wohl kaum standhaltenden Motto »Zerstören durch Einsteigen«123 folgend – im Eingehen auf die Wünsche des breiten Publikums einen Beitrag zur Destruktion herrschender Geschmacksübereinkünfte und Marktstrukturen. Die eindeutigere Haltung der 68er-Generation beschreibt Diederichsen in Sexbeat an einer Stelle unter dem Vorzeichen eines unpolitischen Vitalismus (»das Wort des Studentenführers verblaßte anläßlich der kristallklaren, göttlichen Tat des Steinwurfes«, SB 27). Zwar übernehmen viele Sounds-Autoren zum Teil die politische Rhetorik der Studentenbewegung, doch die Selbstbezeichnung »Salonkommunisten«124 nimmt schon vorweg, dass mit konkretem politischen Engage––––––––

118 119 120 121

122 123 124

Sounds 9/1982: 44. Sounds 3/1981: 41. Sounds 3/1981: 41. Johnny Ramone in Sounds 11/1978: 14: »Die Welt ändern, das wollen Chicago, nicht wir. Politik ist für die Politiker. Ein wirklicher Punk sollte sich darum nicht kümmern. Wir sind zur Unterhaltung da, damit die Kids sich eineinhalb Stunden von zu Hause erholen können, okay?« Zu FSK siehe Sounds 5/1982: 16. Diederichsen 1996a: 41. Sounds 11/1980: 46. Sounds 8/1982: 36. Vgl. 9/1982: 4.

59

ment nicht zu rechnen ist. Im Übrigen geht Diederichsen in Sexbeat davon aus, dass die zeitgenössisch noch einigermaßen stabilen weltanschaulichen Leitunterscheidungen angesichts der ideologischen Entspannung zwischen Ost und West weiter an Orientierungswert verlieren werden. Hellsichtig ist seine Vermutung, wenn Gorbatschow weiter freie Hand habe, werde die »Idee einer politischen Andersartigkeit« (SB 123) bald der Vergangenheit angehören. Ein hinreichend solides, antagonistisch strukturiertes politisch-moralisches Koordinatensystem bildet aber die Voraussetzung für die ironischen Inversionen des Pop. Diesem System und ihrer Unbekanntheit verdanken journalistische Newcomer wie Diederichsen, insbesondere wenn sie nicht für das ›Hausblatt‹, sondern beispielsweise für konkret schreiben, ihr Provokationspotential. Selten wird das so deutlich ausgesprochen wie von Hermann L. Gremliza, der im Gespräch mit Spex darauf hinweist, dass die »Einschätzung, [...] welchen Stellenwert bestimmte kulturkritische Ansätze haben«, davon abhänge, »daß sich derjenige, der sie äußert, identifiziert. Der Leser muß das kontinuierliche Werk eines Kritikers kennen, um zu wissen, der hat die politische, gesellschaftliche Position«.125 Abschließend sind nun Konzepte personaler Identität vorzustellen. Diederichsen und andere Autoren kritisieren ein naturalisierendes gegenkulturelles Identitätsverständnis, das auf der Vorstellung eines einheitlichen und stabilen ›Selbst‹ und einem unzeitgemäßen Ideal der Übereinstimmung von Überzeugung und Handeln beruht. Dem setzen sie den Entwurf eines aller Kohärenzzwänge entbundenen, seine Identität beliebig manipulierenden postmodernen Subjekts entgegen. Diese euphorische »Machbarkeitsbehauptung«126 ist eine Folge des von Gerhard Schulze beschriebenen Übergangs zur Überfluss- und Erlebnisgesellschaft, der eine Verlagerung der »Problemperspektive […] von der instrumentellen auf die normative Ebene« nach sich zieht: »[A]n die Stelle der technischen Frage ›Wie erreiche ich X‹ tritt die philosophische Frage ›Was will ich eigentlich?‹«127 bzw.: ›Welches Selbst will ich haben?‹ Die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Veränderungen kulminieren nach langem historischen Vorlauf in der Nachkriegszeit. Der oben geschilderte Inklusionsschub führt auf breiter sozialer Basis zur Multiplizierung von Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten sowie zur Ausweitung des Bereichs freier und revidierbarer Entscheidungen in Bezug auf Kleidung, Nahrung, Informationsangebote, soziale Beziehungen usw.128 Mit der tendenziellen Ersetzung ›disziplinierender‹ protonormalistischer ›Außenlenkung‹ durch flexible ›Innensteuerung‹ gewinnt ein modernes, auf Autonomie und Selbstreflexion

––––––––

125 126 127 128

60

Spex 2/1984: 35. Schulze 2000: 58. Schulze 2000: 33. Schulze 2000: 55.

zielendes Individualitätsverständnis an Bedeutung, demzufolge man »sich selbst als Person […] entwerfen und […] variieren«129 könne: Die als gestaltbar angenommenen Bereiche der Alltagswirklichkeit haben ungeahnte Dimensionen angenommen. Psyche, Beziehung, Biographie, Körper, all dies gilt zunehmend als machbar, reparierbar, revidierbar. […] Damit eröffnen sich neue Möglichkeitsräume, die vorher durch kognitive Barrieren (Fatalismus, Schicksalsbegriff, Vorstellung der Gottgegebenheit) verschlossen waren.130

Die Idee unbegrenzter Automanipulation lässt sich, ähnlich wie das frühromantische Konzept existentieller Ironie, als hypertrophe Variante der ›Machbarkeitsbehauptung‹ beschreiben, wobei der Popdiskurs empirische psychische, körperliche und soziale Einschränkungen wie auch den Zwang zur ›Selbsterfindung‹ in der »Multioptionsgesellschaft«131 ausblendet. Der mentale Anpassungsdruck wird fast durchgehend als »positive[] Verunsicherung«132 erfahren und unter dem Einfluss postmoderner Theorie zu einer Lebenshaltung verallgemeinert, die einander widersprechende, inkommensurable und situationsgebundene Orientierungen verbinden kann: »Heute Disco, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie«133 (Thomas Meinecke). Besonders deutlich wird das anhand des entgrenzten Lebensstilbegriffs, der bei Rainald Goetz »von [...] der Entscheidung zu einem bestimmten Lebenstempo, einem bestimmten Gang, der Auswahl eines letzten kleinen scheinbar bedeutungslosen Accessoires, bis hin zur entschlossenen Negation dieser Arbeit«134 reicht und vor biologischen Gegebenheiten nicht Halt macht (»die Natur wird bekriegt. Der Körper wird nach dem Hirn geformt«135). Dieser Begriff legt eine Denkweise nahe, die nicht haltbare Gewissheiten produzieren soll, sondern als rekursiver, sich selbst korrigierender und unabschließbarer Prozess modelliert wird: »[D]ie neuen Fehler richtig kräftig deutlich machen, um sie möglichst rasch zu korrigieren, anschließend Korrektur des Korrigierten, dann Korrektur der Korrektur undsofortadinfinitum«136. Bei aller Spekulation korrespondieren derartige Ideen doch mit den biographischen Erfahrungen der Akteure, welche die Hinwendung zu bestimmten Subkulturen und Szenen und die Abweichung vom vorgezeichneten bürgerlichen Lebenslauf als selbstbestimmte Neukonstitution personaler Identität interpretieren: Es muß Anfang 1979 gewesen sein, da hörte ich in meiner verschlafenen Kleinstadt, dass Punks einfach in Müllsäcken stecken. Sauber, glatt und total modern. Das

–––––––– 129 130 131 132 133 134 135 136

Schulze 2000: 55. Schulze 2000: 58. Gross 1994. Keupp 2000: 11. Meinecke 1986: 36. Spex 5/1984, zit. n. Goetz 1986: 72f. Goetz 1986: 83. Spex 2/1984, zit. n. Goetz 1986: 39.

61

gefühlsmäßig graue Leben rechts und links konnte dem abgepackten Menschen nichts anhaben. Er war abwischbar. Ich hielt das für eine gute Idee. [...] Und anstatt mich mit clever ausgefüllten Formularen für eine endgültige Übernahme im mittleren nichttechnischen Verwaltungsdienst zu empfehlen, bastelte ich mir einfach eine neue Identität – teils wie ich gerne gewesen wäre, teils wie ich damals wohl wirklich gewesen sein muß – und stellte sie in meinem eigenen Fanzine zur Schau.137

Die Rede von der ›Abwischbarkeit‹ des »abgepackten Menschen« verweist auf ein Persönlichkeitsideal, das sich von permanenter Revisionsbereitschaft Schutz vor emotionaler Enttäuschung in einer ›grauen‹ Welt verspricht. Georg Simmel hat diese Distanzhaltung zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ›Blasiertheit‹ des Großstadtmenschen und Produkt der »Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge« beschrieben, »nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird«.138 Die Zufälligkeit und der transitorische Charakter städtischer Sozialkontakte begünstigt den Drang, »sich pointiert, zusammengedrängt, möglichst charakteristisch zu geben«139. Auf diese Funktion ist Diederichsens »Entwurf […] einer ideologisch klaren Persönlichkeit ohne Schlacken«140 abgestimmt. Zur Attraktivität einer reservierten Haltung tragen darüber hinaus der kompromittierte politische Idealismus der Vorgänger wie auch die allgegenwärtigen Korruptionsvorwürfe und die hohen Anforderungen an gegenkulturelle Integrität bei. Das Konzept eines ›diskontinuierlichen‹ und deshalb nicht zur Verantwortung zu ziehenden Ichs erlaubt es, sich dem zu entziehen. Der plakative, kaum an einer eingehenden Herleitung aus philosophischen oder soziologischen Theorien interessierte Gestus, in dem diese Ideologeme verkündet werden, weist auf die lebensweltliche Relevanz der Bezugsprobleme hin. Wer glaube noch, fragt ein Leser in Sounds, an das Märchen der Identität (der Musiker, der Musikjournalisten, der Musikhörer, des Lebens?) […] Die neue Welle [...] spielte von vornherein mit sich selbst, mit ihrer Identität, denn da wo keine Identität mehr ist, können ihr Vermarktungsstrategien auch nichts anhaben. Ich brauche über meine verlorene Identität nicht zu jammern, wenn es gar nicht die eigene war (sofern es überhaupt eine gibt) [...]. Ich kann also irgendeine annehmen, spiele damit, verkleide mich, kann mir kleine Sentimentalitäten leisten [...]. Dabei ist das Ding mit den Identitätsspielchen so alt wie die Marktstrukturen selbst, wenn nicht älter, ist doch auch jegliche Kommunikationssituation ’ne Art Marktplatz, wo das Spiel mit dem Ich ganz gut funktioniert. Für jeden augenfällig sollte dies Spiel aber doch spätestens mit der Popart Warhols u. a. geworden sein; danach ist Bowie damit ein Popstar geworden. [...] [D]ie Verkleidungen verdecken Wunden, Narben und Schwächen. Und das ist gut so, das befreit. [...] [F]ür den, der’s

–––––––– 137 138 139 140

62

Teipel 2001: 7. Simmel 1957: 232. Simmel 1957: 240. Diederichsen 1982: 92.

durchschaut, gibt’s nichts Schöneres als Mythen in Tüten, als selbstgemachte Mythen mit Sahne und Schokoladenstreusel.141

Der komplementäre Vorwurf an die ältere Generation lautet, sie hielte mit »heilige[m] Ernst« am einheitlichen und stabilen Ich fest und beweise damit ihre »Unfähigkeit, über Schatten zu springen« und »kognitive Dissonanzen auszuhalten« sowie ihre »Sucht nach alles verbindenden Einheiten« (SB 126f.). Positiv bewertet werden mentale Techniken, welche die Sozialpsychologie als ›psychische Spaltungskompetenz‹142 und »Ambiguitätstoleranz«143 bezeichnet, über die aufgrund der Komplexität und Disparatheit moderner Lebenswelten jeder bis zu einem gewissen Grad verfügen müsse, »um nicht verrückt zu werden«144. Poptypisch ist ihre Überhöhung als generationsspezifische ›Leistung‹ und ihre polemische Instrumentalisierung im Kampf mit der Vorgängergeneration. Anders als die 68er, bei denen kohärente politische Sinnmuster das Gefühl »ontologische[r] Bodenlosigkeit«145 in Schach gehalten haben dürften, das sich als Folge einer radikalisierten und popularisierten ›Machbarkeitsbehauptung‹ einstellt, können sich die Vertreter der Popgeneration für einige Jahre ganz diesem Gefühl überlassen und es auskosten. Ihre Identitätsspiele erfüllen dabei nicht zuletzt eine kompensatorische Funktion – »die Verkleidungen verdecken Wunden, Narben und Schwächen«146. In diesem Sinn versucht der Autor des erwähnten RosenbergArtikels die Künstlerin vorm Blick ›hinter die Kulissen‹ zu schützen, denn »dort würde man – du hast es dir vielleicht schon gedacht – lediglich Allzumenschliches, Mühseliges finden, das, was jeder an sich selbst ausreichend studieren kann«147. Diese Hochstimmung kommt spätestens mit dem Ende von Sounds 1983 zum Erliegen. Bereits 1982 distanziert sich Diederichsen im referierten Artikel über die Hausbesetzerszene ebenso von einer »neue[n] Flut gedankenloser Popper«148, welche das New-Wave-Programm ›usurpieren‹, ohne sich noch emanzipatorischen und gesellschaftskritischen Zielen verpflichtet zu fühlen: »Der saubere, nicht renitente Waver war irgendwann nur noch eine Spielart des genußsüchtigen, gewissenlosen Poppers, vielleicht eine ganz angenehm anzusehende, mit schön viel Aktualitätszeichen behaftete. Nicht mehr.« (SB 129) Konfrontiert mit diesem als Folge eigener Propaganda interpretierten Verfall, bezieht Diederichsen 1985 in Sexbeat Stellung gegen einen neuen Konservativismus (SB 112), unterzieht das Mimikrymodell einer ironischen Selbstkritik und räumt ein, der drei Jahre zuvor

––––––––

141 142 143 144 145 146 147 148

Sounds 5/1982: 4. Keupp 2000: 7. Keupp 2000: 11. Keupp 2000: 7. Keupp 2000: 6. Sounds 5/1982: 4. Sounds 5/1981: 39. Sounds 9/1982: 45.

63

propagierte »Subversions-Überbau« sei »ziemlich aus der Luft gegriffen« gewesen (SB 129): Eine schöne Idee. Nur etwas zu kompliziert. Das Ergebnis war, daß ein paar Intellektuelle ihre Freude daran hatten und einmal mehr eine Rechtfertigung fanden, den allertrivialsten Späßen wie Fußball und Human League-Platten eine geheime, hochwichtige Bedeutung zukommen zu lassen. Alles geschieht im Dienste der Subversion. Denn selbst, wenn wir vor dem Fernseher, biertrinkend und Salzstangen knabbernd die Bundesligaergebnisse betrachteten, taten wir es ja mit einem anderen Bewußtsein. Wir knabberten subversiv. Und der HSV wurde subversiv deutscher Meister. (SB 128f.)

Auch Rainald Goetz setzt sich frühzeitig von vermeintlichen Trivialisierungen ab. 1984 kommt er in Spex auf die deutsche, vom britischen Musikjournalisten und »oberschlaue[n] Kalkülkalkül-Denker« Paul Morley betreute Band Propaganda zu sprechen, mit der die »Popsubversion« bei der »Bankangestellten-Intelligenz« angekommen sei.149 Thomas Meinecke macht das Ende des »modernen Traum[s] von der Subversion« in Das waren die achtziger Jahre (1986) daran fest, dass ihn eine »Suborganisation der FDP um ein Referat zu diesem Thema« gebeten habe.150 Im Zuge dieser Verfallsdiagnosen schrumpft der Zeitraum, der für die Vordenker als Epoche genuiner Denkansätze gelten kann, so dass er bei Meinecke schließlich nur noch wenige Jahre um den Jahrzehntwechsel umfasst. Manch einer habe, so Meinecke augenzwinkernd, den »Dolchstoß bereits am Sylvesterabend 1980« zu erkennen geglaubt, »nachdem sich Langhaarige seiner Talking Heads-Platten bemächtigt hatten«.151 Wehmütig und trotzig nimmt dagegen Goetz Abschied: Ja zur Lüge, Zeit für spielerische Philosophie, Mode und Pop. Wie gerne würde ich all das noch einmal feiern. Doch es ist angekommen, es ist das denkbar Angekommenste und wird nun, wie alles Angekommene, wie das Angekommene stets, ohne Sentiment und mit Lust zu Stück gehaut.152

4.5 Selbstkanonisierung: Sexbeat Die Aufmerksamkeit, die das Feuilleton Popliteraten wie Benjamin von StuckradBarre und Christian Kracht entgegenbrachte, war noch nicht erloschen, als sich Diedrich Diederichsen 2002 entschloss, das zu diesem Zeitpunkt längst vergriffene Sexbeat wieder verfügbar zu machen. Es liegt nahe, dies als Versuch zu deuten, der jüngeren Autorengeneration ihren Innovationsanspruch streitig zu machen oder doch wenigstens Traditionslinien aufzuzeigen, die in Vergessenheit zu geraten drohten. Hier ist vor allem an Florian Illies’ Verkaufserfolg Generation Golf –––––––– 149 150 151 152

64

Goetz 1986: 62. Meinecke 1998: 117. Meinecke 1998: 115. Goetz 1986: 59.

(2000) zu denken, das auf dem gleichen soziologisch-literarischen Prinzip wie Sexbeat beruht, der Darstellung und Konstruktion eines generationspezifischen Mentalitätsprofils anhand gemeinsamer prägender (pop-)kultureller Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Schon mit der Erstveröffentlichung von Sexbeat sollte der Gegenwart die eigene Vorreiterrolle im Rahmen eines autobiographischen Rückblicks vor Augen gehalten werden. Das 1983 bis 1985 konzipierte und geschriebene Buch rekapituliert nicht nur die popkulturelle, von Diederichsen seit 1979 als Journalist begleitete Entwicklung seit Punk, sondern führt in die frühen 70er Jahre zurück.153 Die im ersten Kapitel (»Die Frau, die keine Frau war«, SB 15ff.) enthaltenen Anekdoten exponieren Vor- und Frühformen der später in Sounds ausgearbeiteten Programmatik und stellen so den Vorsprung der eigenen Altersgruppe heraus. Pointiert gesagt demonstriert Diederichsen in Sexbeat, dass er lange vor der Popularität ›subversiver‹ Praktiken einschlägige Erfahrungen sammeln konnte, so wie er gegenwärtig längst davon Abschied genommen hat, während andere immer noch daran festhalten. Denn nicht erst mit Punk, sondern bereits 1973 überstürzten sich die Ereignisse. André und Andi hatten die schönsten langen Haare. Der eine blond, der andere braun. Sie spielten lange, virtuose Blues-Duette auf ihren beiden Gitarren, wie Johnny Winter und Rick Derringer zwei Jahre zuvor in der Musikhalle. Eines Tages stieg ich in den 174er, am gewohnten Tag, zur gewohnten Stunde, und die Haare waren ab. / Wir fuhren zum »Blu 2000«. Wie jedes Wochenende. Sogar aus der Stadt kamen die Leute damals angereist, die ganze U1-Route bis Volksdorf, um hier ein Zehnerpiece zu kaufen und vor dem Lokal oder im Park nebenan zu lungern und zu dämmern. André und Andi hatten ein Mädchen dabei. Ein unnatürlich großes Mädchen mit einer goldenen Handtasche, langen Wimpern, langen blonden, zur Seite gescheitelten Haaren und einem herben, campy HollywoodGesicht. Doch von Camp wußte ich damals noch nichts. Ich hielt sie nur für böse. Zweifellos verachtete sie mich, weil ich mir nicht wie ihre beiden Begleiter die Haare abgeschnitten hatte. / Eine verunsichernde Episode. (SB 15)

Erzählt wird eine Urszene popkultureller Marginalisierung. Aus Sicht des erlebenden Ichs bedeuten Andrés und Andis Kurzhaarfrisuren eine schroffe Zäsur im Szenealltag. ›Verunsichernd‹ ist weniger der Verstoß gegen die Gepflogenheiten als die damit einhergehende abrupte Verschiebung der szeneinternen Normalitätsgrenze, die den immer noch langhaarigen Protagonisten ohne sein Zutun in eine periphere Stellung drängt und der Verachtung des großen blonden Mädchens aussetzt. Stempeln er und seine Freunde die Anhänger der rasch um sich greifenden Mode wie den ›smarten‹ Haschischdealer Dieter zunächst als »völlig durchgedreht« (SB 16) ab, so wird bald klar, dass diese sich in einem neu festgelegten Normalbereich bewegen, während das erlebende Ich als ›Traditionalist‹

–––––––– 153

Auf den Untertitel der Erstausgabe »1972 bis heute« wurde bei der Neuauflage von 2002 verzichtet.

65

an den Rand gedrängt und folglich von ›Denormalisierungsangst‹ (Jürgen Link) ergriffen wird. Kurze Haare stehen dabei metonymisch für ein Ensemble neuer Verhaltensformen und kultureller Präferenzen, das sich gleichsam über Nacht etabliert. So tritt die Sex- und Leistungsdroge Kokain an die Stelle bewusstseinsverändernder Drogen der Hippiekultur wie Haschisch und LSD. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Figur Ernst von Gizicky. Sie ist ein ›Original‹ aus dem engeren Bekanntenkreis des Protagonisten und zeichnet sich, ohne dass dies ausdrücklich vermerkt würde, durch einen kultivierten schlechten Geschmack aus, der sich Sexbeat zufolge erst gegen Ende der 70er Jahre durchsetzen wird. Gizicky zeigt eine Vorliebe für die im Alternativmilieu gering geschätzte ›Volksdroge‹ Bier, bedient sich trotz seines Adelstitels einer vulgären, ›proletarischen‹ Ausdrucksweise und setzt sich schroff vom Rest der Clique ab, ohne Ausschluss fürchten zu müssen. Er bekennt sich zur CDU und zum theatralischen Glam- und Horror-Rocker Alice Cooper, den die anderen ablehnen, seit er – ein Hinweis auf die ›bornierte‹ gegenkulturelle Einstellung zu wirtschaftlichem Erfolg – »kommerziell« (SB 16) geworden sei. Wie David Bowie, Kiss oder Roxy Music zählt Cooper zur ersten neuen Welle von Rockmusikern, die nach dem ›goldenen Zeitalter‹ der späten 60er Jahre psychedelische Bands wie die Doors oder Grateful Dead ablösen. Die Nennung von Roxy Music hat Signalcharakter, weil das historistische, dem Recycling ungleichzeitiger popmusikalischer Stile verpflichtete erste Album der Band später im Text zum Auftakt der Pop-Postmoderne erklärt wird.154 Offenbar orientiert sich der Haschischdealer Dieter mit seiner exzentrischen Garderobe am Roxy Music-Frontmann Bryan Ferry, einem von der Pop-Art inspirierten, in eleganten Anzügen auftretenden Kunstlehrer. Erneut ist der Held der Geschichte unfähig, kalkulierte stilistische Abweichungen angemessen einzuordnen, und lässt sich durch das irritierende Selbstbewusstsein der ›Avantgardisten‹ aus dem Konzept bringen: Dieter stand mit seinem ebenso smarten Freund so smart und cool wie immer an eine Außenmauer des Blu gelehnt und grinste uns an. Er und sein stummer, ewig grinsender Freund hatten sich nicht nur ihre Po-langen, mißfarbenen Haare abgeschnitten, sie hatten sie schwarz gefärbt, hatten sie zu obskuren Tollen gefettet, trugen violettrote, bzw. blaue Dinner-Jacketts, Rüschenhemden und schwarze Samtbinder. Sie sahen aus wie … / Wie? Das wußte keiner von uns so genau. (SB 16)

Ein weiterer Vorausgriff auf nachfolgende Entwicklungen ist die Erwähnung Lou Reeds, des ehemaligen Sängers und Gitarristen von Velvet Underground, der auf seinem zweiten, von David Bowie produzierten und programmatisch Transformer (1972) betitelten Soloalbum ein ›Re-Modeling‹ zum Rock-Transvestiten vollzogen hatte. Sein offensives Spiel mit Geschlechterrollen steht dem in Sexbeat entfalteten Epochenmodell zufolge für Kontinuität wie Diskontinuität im Übergang zur ––––––––

154

66

Vgl. auch Sounds 11/1980: 36–39. Meinecke 1986: 7.

postmodernen Phase der Rockkultur, deren Vorliebe für Verkleidung und Verstellung er gleichsam vorwegnimmt. Das Transvestitismus-Motiv setzt Diederichsen anhand des blonden ›Mädchens mit den männlichen Gesichtszügen‹ (SB 17) in Szene, das Andi und André begleitet und das erlebende Ich in Verlegenheit bringt. Erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass es sich in Wirklichkeit um einen als Frau verkleideten Jungen handelt. Entscheidend ist, dass die Simulation für die Freunde des ›falschen Mädchens‹ wie für den Rückschau haltenden Erzähler vollständig durchschaubar ist. Das erlebende Ich wird durch die ›unnatürliche‹ Größe und die ›herben‹ Gesichtszüge umso stärker irritiert, weil außer ihm niemand daran Anstoß nimmt. Die dargestellten Konfrontationen verdeutlichen die nach außen diskriminierende und gruppenintern solidarisierende Funktion einer Simulationspraxis, die nur für einen Teil der Adressaten transparent ist. Diederichsen dokumentiert damit den Reifeprozess, den er seit den geschilderten Erlebnissen durchlaufen hat. Die Erzählweise reaktualisiert die Ironie, der das erlebende Ich einst zum Opfer fiel – und bannt sie gewissermaßen. Auch der ›vordatierte‹ Übergang zur Epoche »nach der Epoche des ›Gegen‹«155 wird ironisch relativiert: »Sommer ’73. Roxy Music, Lou Reed. Die Welt aus Haschisch, Doors und Grateful Dead brach zusammen. Und wir waren noch nicht einmal 16« (SB 17). Der Hinweis aufs zarte Alter der Generationsangehörigen lässt an Erfahrungen von existentieller Wucht denken, die eher mit Kriegserlebnissen und politischen oder sozialen Umwälzungen in Verbindung zu bringen wären als mit einem bloßen Zeitgeistwandel. Diederichsen räumt damit die Überschätzung der Bedeutung kultureller Sozialisationsfaktoren für die Formierung einer Generation ein und stellt das zentrale Prinzip von Sexbeat zu Beginn des Textes implizit in Frage. Diese skeptische Einschätzung der gleichwohl aufrechterhaltenen These, die 70er Jahre stellten eine Epochenschwelle der Popkulturgeschichte dar, schlägt sich im weiteren Textverlauf in der Betonung von Strukturen nieder, die den Epochenumbruch überdauern. Der Erzähler entdramatisiert die Verstörung des erlebenden Ich, indem er vergangene Ereignisse auf der Basis später erworbener Kenntnisse sicher auf Begriffe bringt (»doch von Camp wußte ich damals noch nichts«) und ihre zeitgenössische Deutung als ›Zusammenbruch‹ einer »Welt« relativiert. Der Epochenumbruch erscheint tendenziell als bloßer Austausch modischer Leitbilder, der tragende Strukturen des historischen ›Systemzusammenhangs Subkultur‹ – im Fortgang des Textes als ›Bohemia‹ bezeichnet – und vor allem die identitätsstiftende Grenze zur Mehrheitskultur nicht antastet. Bohemia ist das »Land der willkürlichen, autochthonen Kraftakte« (SB 17), der »Außenseiter« (SB 18), die sich, in jeder Generation erneut, aufmachen, »einzureißen, was es einzureißen gab: Hörgewohnheiten, sexuelle Tabus, Gesellschaftsordnungen, Sehgewohnheiten, spirituelle Schranken, Charakterpanzer« (SB 18). Die von Gizicky, Dieter und dem –––––––– 155

Diederichsen 1982: 93f.

67

›falschen‹ Mädchen repräsentierte Umstellung auf eine Anti-Anti-Haltung, subversives crossing kulturell verfestigter Unterscheidungen und transparent simulierte Affirmation stellt, systemtheoretisch gesprochen, lediglich eine Wechsel auf Programmebene dar, beeinträchtigt jedoch nicht die Autopoiesis des Systems, die fortlaufend eine Differenz zur Umwelt erzeugt. Wichtig ist, dass die gegen die Subkultur gerichtete Negationsattitüde des Sonderlings Gizicky die Differenz zwischen Bohemia und dem Rest der Welt zwar auf den ersten Blick verwischt, aber letztlich zu ihrer Verfestigung beiträgt. Dies geschieht durch systeminterne Ausgrenzung eines Bereichs, der Merkmale der Systemumwelt in sich aufnimmt – zur Schau gestellter ›Konservativismus‹, ›Oberflächlichkeit‹, Trivialität –, die im Zuge ironischer Aneignung und in Kombination mit ›originären‹ subkulturellen Erkennungszeichen wie der langen »Matte« (SB 16) Gizickys in Symbole sekundärer Abweichung umgeformt werden. Die hieraus resultierende kapriziöse Mischung aus Subkultur- und Mainstream-Elementen signalisiert Abstand zur mehrheitskulturellen wie zur subkulturellen Normalität und ist dabei innerhalb des Subkulturfeldes lokalisiert. Damit präfiguriert sie das später in Sounds ausformulierte Pop-Programm. Besonders augenfällig wird das anhand des Leitsymbols gegenkultureller Abgrenzung, der Haarlänge. Kurze Haare stellen eine Überschreitung der Grenze zwischen gesellschaftlicher Normalität und Subkultur dar. Das systeminterne Erkennungsmerkmal ›lange Haare‹ wird durch sein Gegenteil ersetzt, ohne dass deshalb der Unterschied zur Umwelt kollabieren würde, denn über Zugehörigkeit zur Subkultur entscheiden nicht einzelne, mehr oder weniger unbewusst übernommene Zeichen, sondern gezielt gewählte und gestaltete Zeichenensembles. In Verbindung mit einer Attitüde, die Abstand zur Normalkultur zum Ausdruck bringt, exkludiert die Kurzhaarfrisur ihren Träger nicht aus dem subkulturellen Verband, sondern verschafft ihm eine respektierte Position im ehemaligen Grenzbereich jugendkultureller Normalität, der sich im Verlauf der Popularisierung des Merkmals als neuer Normalbereich etabliert. Diesem Muster folgen sämtliche der im Anfangskapitel von Sexbeat geschilderten Transgressionen, egal, ob sie sich auf Konsummittel, Kommunikationsstile oder geschlechtsspezifische Merkmale beziehen. Eine signifikante Häufung zeichnet sich bei den Abweichungen ›nach unten‹ ab, wofür Gizickys Sympathie fürs bürgerliche Lager ein Beispiel ist. Aufschlussreich im Hinblick auf die Autorposition ist dabei, dass Gizickys Verhalten nicht opportunistisch motiviert ist, denn aus der Bundestagswahl 1972 geht Willy Brandt als großer Gewinner hervor. Dies ist auch vor dem Hintergrund der zur Zeit der Niederschrift von Sexbeat herrschenden politischen Konstellation zu sehen: Die sozial-liberale Regierungskoalition unter Helmut Schmidt ist beendet, was Diederichsen trotz seiner auch in Sexbeat artikulierten Aversion gegen die Sozialdemokratie keineswegs positiv

68

beurteilt.156 Die positive Darstellung Gizickys beruht auf der Annahme, derartige ›Nestbeschmutzungen‹ seien nur berechtigt, solange die Linke den politischen Mainstream dominiert. Hier zeigt sich erneut, welche Funktion der uneigentlichen Grenzüberschreitung zugeschrieben wird: Aufgrund einer Tendenz zum Stilbruch kann Gizickys anarchischer Individualismus kaum mit einer gewöhnlichen konservativen Einstellung verwechselt werden, wie der Auftritt Gizickys bei einer zur Wahl Willy Brandts veranstalteten Party zeigt: »Gizicky torkelte in seiner unvergleichlichen Art, die Matte aus der Stirn werfend, in den Party-Keller und gröhlte: ›Wahl scheiße, aber Alice Cooper war geil!‹« (SB 16) Diederichsen kommt es also auf politisch mehrdeutiges Verhalten an, das innerhalb eines höherstufigen Interpretationsrahmens desambiguisiert werden kann. Die axiologische Dimension dieses Deutungsmodells besteht aus zwei Beobachtungsebenen. Auf der Stufe einer Beobachtung zweiter Ordnung muss die Möglichkeit einer ›Re-version‹ ironischer Inversionen gegeben sein. Auf der ersten Beobachtungsebene, das heißt mit Blick auf ›Attrappen‹ wie ›Konservativismus‹ oder ›Weiblichkeit‹, gilt dagegen: Je vieldeutiger, anstößiger und spektakulärer, desto besser. Als ästhetischer und politischer Wertmaßstab fungiert dabei die Unmotiviertheit der Zeichen im Verhältnis zur ›wahren‹ Identität oder Überzeugung der Zeichenverwender. So hebt Diederichsen im Zusammenhang mit dem jungen Transvestiten hervor, dieser sei »nicht einmal schwul« (SB 17). Wäre er homosexuell, so lässt sich ergänzen, bestünde eine ursächliche und leicht nachvollziehbare, ›natürliche‹ Entsprechung zwischen ›Wesen‹ – sexueller Neigung – und ›Erscheinung‹, die weniger verblüffend wäre und auf weniger Souveränität im Umgang mit Bedeutungskonventionen schließen ließe. Es ist sekundär, mit welchen Namen die in Sexbeat thematisierten Spielarten (transparenter) Simulation bezeichnet werden. ›Pop‹ erweist sich als ebenso geeignet wie ›Camp‹, doch bietet sich aufgrund des Gender-Aspektes der Anekdote über das ›falsche‹ Mädchen eher ›Camp‹ an. Betrachtet man die anschließende Begriffserläuterung, so zeigt sich die gleiche zweistufige Struktur, die dem emphatischen Popkonzept in Nette Aussichten zugrunde liegt und die laut Diederichsen als Schlüssel für das Verständnis vieler subkultureller Phänomene gelten kann: »Camp, heißt es in einem Buchtitel über diese ursprünglich schwule Ästhetik, ist die Lüge, die die Wahrheit sagt. Etwas, das für viele Konfigurationen der Subkultur gilt.« (SB 17)157 Der damit exponierte Motivkomplex spielt in so gut wie allen weiteren Publikationen von Diederichsen eine zentrale Rolle. Ebenso wird auch die Darstellungsweise beibehalten, Retrospektive und Standortbestimmung, autobiographische Selbstvergewisserung und Zeitdiagnostik, Popkultur-Historiographie und politische Essayistik miteinander zu verknüpfen. Die zwischen genealogischer ––––––––

156 157

»Ich hatte dieses wunderbare Frühjahr [1982, C. R.] genossen. Wir hatten Rap und Videospiele und Haircut 100 und immer noch eine Regierung Schmidt« (SB 42). Vgl. Core 1984.

69

Rekonstruktion und anachronistischer Rückprojektion changierende Eingangspassage von Sexbeat ist repräsentativ für einen Ansatz, der Vergangenes stets aus einem von gegenwärtigen Auffassungen und Interessen bestimmten Blickwinkel und im Hinblick auf nachfolgende Entwicklungen analysiert und bilanziert.

70

5. Wege in die »Ironiefalle«: Automatisierung und Entpolitisierung

5.1 ›Kontrollgesellschaft‹ Seit dem letzten Drittel der 1990er Jahre etabliert sich auch außerhalb von Foren wie Spex ein Diskurs über Ironie und Pop, an dem sich Diederichsen ausgiebig beteiligt. Bevor eine Analyse der Positionen erfolgen kann, die Diederichsen dabei einnimmt, müssen veränderte konzeptuelle Rahmenbedingungen skizziert werden, die den Ausschlag für eine veränderte Einstellung zum Motivkomplex Ironie geben. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Diederichsen das vor allem durch die Popliteratur popularisierte Schlagwort ›Ironie‹ übernimmt. Der Ironiebegriff rückt dabei an die Stelle von Konzepten wie »Sprache des Pop«, ›Subversion‹ oder ›Überaffirmation‹, an denen Diederichsen teilweise noch zu Beginn der 90er Jahre festhält, die er jedoch auch schon aus historischer Perspektive kritisiert.1 Der Übergang zur Benennung strukturell analoger Phänomene als ›ironisch‹ gegen Ende des Jahrzehnts geht mit einer massiven Häufung des Wortes im Feuilleton einher, das heterogene Zeiterscheinungen wie ›gute schlechte‹ Unterhaltungskünstler oder den Zynismus bestimmter Politiker ebenso darunter subsumiert wie die Popliteratur. Diederichsen sucht Anschluss an diesen Diskurs, als er im Oktober 2000, ein Jahr nach Erscheinen des popliterarischen ›Manifestes‹ Tristesse Royale, einen Vortrag mit dem Untertitel »Wege aus der Ironiefalle«2 hält. Seine prinzipiell ablehnende Haltung zur Ironie steht dabei außer Frage, doch bleibt zu klären, welche inhaltlichen Gemeinsamkeiten er zwischen aktuellen Phänomenen und dem Popdiskurs der 80er Jahre ausmacht. Indem Diederichsen zeitgenössische kulturelle Erscheinungen als ›ironisch‹ beschreibt und sie zum Teil auf das frühere Pop-Programm zurückführt, kann er zwar die ›Erfindung‹ der Popironie für sich reklamieren und sich von den ›Epigonen‹ abgrenzen; gleichzeitig stellt sich ihm jedoch die Aufgabe, das ursprüngliche Modell auf Ansatzpunkte späterer Verfallserscheinungen zu prüfen. Damit kommt eine ethische Dimension ins Spiel, da sich Diederichsen eine Teilverant-

–––––––– 1 2

Siehe dazu Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz in Diederichsen 1993b: 33–52. Diederichsen 2000c.

71

wortung für gegenwärtige Missstände zuschreibt, die er im Rahmen einer differenzierten historischen Rekonstruktion aufarbeitet. Von entscheidender Bedeutung sind dabei die Rahmenkonzepte der Gesellschaftsbeschreibung, denn wie gezeigt hängt die Evaluation der Ironie von der Funktion ab, die ihr im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft zugeschrieben wird. Nun besteht um 2000 ein weitreichender, weltanschauliche Differenzen überbrückender Konsens darüber, dass nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten ein Mangel an Leitunterscheidungen wie links/rechts oder Subkultur/Mehrheitskultur besteht. Einig ist man sich vor allem darin, dass es keinen Konsens mehr gibt. So befindet sich die zeitgenössische Jugendkultur Diederichsen zufolge in einem Zustand der Desintegration: »Es gibt weder ein Generationen-›Wir‹, noch ein politisch-künstlerisches ›Wir‹. Ich kann, zumindest in meinem Koordinatensystem, keine Gemeinsamkeit herausfiltern.«3 An anderer Stelle verallgemeinert Diederichsen diese Beobachtung zu einem umfassenden Krisenbefund: Wir vermissen die Wirklichkeit, den gemeinsamen Gesprächsgegenstand [...]. Den anderen werfen wir immer vor, sie lebten nicht in dieser Welt. Oder aber wir haben uns gerade ›ganz bewusst‹ von dieser Welt abgewandt: weil sie nämlich nicht die wirkliche ist, die echte, relevante. [...] [U]nterschiedliche Überzeugungen darüber, [...] was denn nun wirklich ist, was wichtig, was echt ist, in welcher Welt du eigentlich lebst, prägen unsere Gespräche. Gruppen, Szenen, Minderheiten, Zirkel und Cliquen stellen ihren spezifischen Weltzugang über jeden anderen, verabsolutieren seine Mittel – Drogen, Sex, Theorie, Aktion, Kontemplation, Schmerz, Wahnsinn, Nüchternheit und deren spezialisierte Ableitungen. Und erklären ihre Methoden und Ergebnisse als die einzig möglichen oder zumindest fortgeschrittensten. Die Krise äußert sich ferner in Symptomen wie der Konjunktur von Verschwörungstheorien, Tendenzismus, panischen Pamphleten gegen das Ausgedachte und für das Echte, in der Kunst wie im Leben, und schrillen Schreien nach mehr Wirklichkeit überhaupt. Lauter Zeichen dafür, dass der Zugang zur Welt sich nicht mehr von alleine ergibt. Weiß keiner mehr? Geschieht etwas, und wir wissen nicht, was es ist?4

Diesen Befund können nicht nur Autoren unterschreiben, die wie Diederichsen an emanzipatorischen Zielen festhalten und deshalb ein Minimum an diskursiver Integration für nötig halten, sondern auch Verfasser ›panischer Pamphlete gegen das Ausgedachte und für das Echte‹ wie etwa Botho Strauß, die Desintegration aus konservativ-antimoderner Perspektive problematisieren. Grundsätzliche Übereinstimmung findet sich auch bei Beobachtern wie Rainald Goetz, die in der neuen sozialen und ideologischen Unübersichtlichkeit die Einlösung des mit Pop verbundenen Versprechens eines Abbaus starrer weltanschaulicher Fronten sehen. Dissens zeichnet sich erst ab, wenn man von der Feststellung zur Bewertung übergeht. So vermerkt Goetz 1997 in einem euphorischen Aufsatz über die zum Sinnbild des wiedervereinigten Deutschlands stilisierte Loveparade, deren ––––––––

3 4

72

Fuchs/Seidel 2003. Diederichsen 1999: 15ff.

Teilnehmer seien nicht nur »immer hübscher« und »nackiger angezogen«, sondern auch »immer verschiedenartiger«.5 Kritiker dieser Entwicklung bevorzugen dagegen Begriffe wie Chaos und Entropie.6 Die moralische, ästhetische und politische Bewertung der Situation hängt jeweils davon ab, ob Unordnung als verunsichernder Kontingenzschub oder positiv als Zeichen der Überwindung überkommenen Lagerdenkens gedeutet wird. Wichtige Impulse gehen dabei von den politischen Ereignissen der Jahre 1989/90 und dem andauernden Trend zur ›postindustriellen‹ Gesellschaft aus, die als Ursache eines Relevanzverlustes von Unterscheidungen wie progressiv/konservativ oder Arbeit/Freizeit diskutiert werden.7 Unternehmer und Politiker (einschlägig ist hier die ›Ruck-Rede‹ des Bundespräsidenten Roman Herzog) fordern Mobilität, Unsicherheitstoleranz und lebenslanges Lernen, da nur so mit der technologischen Entwicklung Schritt zu halten sei.8 Die sinkende Zahl von Vollzeitstellen auf der Basis unbefristeter Verträge und der häufige Wechsel zwischen Beschäftigung und Nichtbeschäftigung führen zu unsteten und uneinheitlichen Erwerbsbiographien. Arbeitnehmer sehen sich dem »Zwang einer flexiblen Verwertung der eigenen Arbeitskraft«9 ausgesetzt und begreifen sich zunehmend als »Unternehmer in eigener Sache«10. Die problematische Freisetzung aus den Zwangsverhältnissen der »Hochindustrialisierungsepoche«11 und die hieraus resultierende Auflösung fest umrissener Identitätsmuster beschreibt Diederichsen metaphorisch als Wechsel von Aggregatszuständen: »Halten nicht heute flüssige Verhältnisse flüssige Subjekte so unter Kontrolle wie früher feste Verhältnisse feste Subjekte?«12 Unabhängig vom weltanschaulichen Standpunkt der genannten Autoren basieren derartige Zeitdiagnosen in der Regel auf Zwei-Ebenen-Modellen, die zwischen ungeordneter Oberfläche, dem ›Gesicht‹, das die Verhältnisse den Menschen darbieten, und tiefenstruktureller Ordnung unterscheiden. So heißt es bei Botho Strauß in explizitem Anschluss an konservative Traditionen: Dass der Mensch der Moderne [...] zusammenhanglos lebt, empfindet und spricht, hat der Konservative früh beklagt. Aber war die ›Zusammenhanglosigkeit‹ etwas anderes als das Versteck einer aufregenderen Ordnung, die wir Zug um Zug erst entdecken sollten? Die Teile tanzen, und es ist ein Tanz mit vielen Sprüngen und Kehren. Er

–––––––– 5 6 7 8 9 10 11 12

Goetz 1999a: 221. Sautter 2002. Clermont/Goebel 1998: 143. Clermont/Goebel 1998: 129. Bonß 2000. Clermont/Goebel 1998: 137. Wehler 2008: 58. Diederichsen 1999: 29.

73

bildet wohl auch ein schönes Ganzes, das offenbar intelligenter ist als das Denken in Zusammenhängen, die wir nicht mehr erkennen können.13

Ähnlich wie Strauß versucht auch der Publizist Mark Siemons, die Tiefenstruktur mithilfe der Traditionsmetapher ›invisible hand‹ zu erfassen. Im Essay Jenseits des Aktenkoffers nimmt er die Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft zum Anlass, das Porträt einer »ideale[n] Angestellten-Gesellschaft«14 zu zeichnen: Das wäre ein scheinbar chaotisches, in Wahrheit höchst sinnvoll vernetztes System von permanent in Bewegung befindlichen Monaden, einem großen Ameisenhaufen nicht unähnlich – jede einzelne mit dem Selbstbewußtsein eines Unternehmers, also völliger Freiheit, doch zugleich gelenkt von einer unsichtbaren Hand, die ihre Marionetten spielerisch zu einem größeren Ganzen zusammenzufügen versteht.15

Modelle dieses »größeren Ganzen« nehmen häufig an Stalinismus und Faschismus Maß, wobei keiner der Autoren Totalitarismus und Massendemokratie unvermittelt in eins setzt.16 Häufig erscheinen die ›Monaden‹ dabei lediglich an der Oberfläche als frei und nonkonform, während auf der Tiefenebene Konformität herrscht, die nicht Ergebnis planvollen Handelns einer zentralistischen gesellschaftlichen Macht, sondern Folge individueller Selbststeuerung ist. Diederichsen verwendet zur Beschreibung der Tiefenstruktur Begriffe wie Kontrollgesellschaft oder Postfordismus und zielt damit auf Veränderungen der Erwerbsarbeit seit den 70er Jahren (Digitalisierung, Deregulierung des Arbeitsmarktes und Abbau staatlicher Sicherungssysteme, ›flache‹ Hierarchien, eigenverantwortliches Arbeiten usw.).17 Der von Gilles Deleuze im Anschluss an Foucaults Konzept der ›Disziplinargesellschaft‹ geprägte und von den SpexAutoren Tom Holert und Mark Terkessidis in den Popdiskurs eingeführte Begriff Kontrollgesellschaft betont stärker die Subjektseite der erwähnten Entwicklungen.18 Er fokussiert die tendenzielle Ersetzung normierender ›Zurichtung‹ durch flexible, modulierbare Arten der Herstellung von Konformität, die Phantasie, Eigensinn und Alterität nicht unterbinden, sondern zum Zweck kapitalistischer Verwertung fördern. Mit Hilfe der Unterscheidung von Disziplinar- und Kontrollgesellschaft gliedert Diederichsen die Nachkriegsepoche in eine dominant repressive, eine Übergangsund schließlich eine libertäre Phase. Im Vorwort zur Neuauflage von Sexbeat datiert er die Durchsetzung einer »globale[n], digitale[n] und tendenziell poststaatliche[n] Organisation von Kapital« auf die 90er Jahre und stellt dem die »disziplinargesellschaftlichen Nachkriegsformationen« gegenüber (SB XXVI). In den 50er und frühen 60er Jahren addierten sich demzufolge –––––––– 13 14 15 16 17 18

74

Strauß 2004b: 155. Siemons 1997: 66. Siemons 1997: 66f. Zu Strauß siehe Sautter 2002. Bonß 2000: 381, vgl. Hirsch/Roth 1986. Deleuze 1993. Holert/Terkessidis 1996.

der disziplinarische Fabriken- und Massenproduktions-Kapitalismus und die Staatlichkeit des Kalten Krieges zu einer einzigen betonierten und aggressiven Front, die zunächst auch minimale Abweichungen nicht duldete. »System« – das Wort für den Zusammenhang von Staat und Wirtschaft – war noch der Name einer inklusiven Festung, nicht der einer nach innen (repressiv) toleranten, nach außen (gleichgültig) repressiven globalen Ordnung. (SB XXVI).

Die Verwendung von Herbert Marcuses Formel »repressive Toleranz« indiziert eine Verwandtschaft zwischen dem Kontrollgesellschaftsparadigma und den Gesellschaftskonzepten der Kritischen Theorie. Wie oben ausgeführt, kannte bereits die Gegenkultur der 60er und 70er Jahre das Konzept eines anpassungsfähigen und dynamischen ›Systems‹. Auch Diederichsen entwirft 1985 in Sexbeat die »Geschichte von ›Second Order Hipness‹« als »Geschichte von Bohemia im Zeitalter maximaler Permissivität« (SB 18). Im Vorwort von 2002 relativiert er diese Periodisierung, indem er den Zeitraum »von den späten 60ern bis in die mittleren 80er Jahre« im Vergleich zu den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten zwar als »libertärer« einstuft, aber zugleich darauf besteht, dass auch in der Übergangsphase »noch immer […] Zwang von staatsförmigen und fixen Institutionen« ausgegangen sei, »gegen die ein Bündnis aus Lebensstilavantgarde und bis zu einem gewissen Grade Kapitalismus-kompatiblen gegenkulturellen Konstruktionen sinnvoll war« (XXXVI). »Aber erst seit gut einem Jahrzehnt« – also etwa seit 1990 – »hat es sich vollständig erübrigt oder sogar als unsinnig oder gefährlich erwiesen, politische Bemühungen noch am Kampf um Lockerungserfolge auszurichten« (SB XXVII). Damit legitimiert Diederichsen retrospektiv die partiell prokapitalistische, auf »Lockerungserfolge« abzielende ›Pop-Subversion‹, indem er sie einer von ›disziplinargesellschaftlichen Restbeständen‹ geprägten Zwischenphase zuordnet. Dieser Gliederung der Nachkriegsepoche in Disziplinargesellschaft – Zwischenstadium – Kontrollgesellschaft entsprechen unterschiedliche Einschätzungen popaffiner Verfahren und Haltungen. In der zu ›Deregulierung‹ tendierenden Kontrollgesellschaft der 90er und 2000er Jahre ist die »Sprache des Pop« Diederichsen zufolge kontraproduktiv, da sie aufgrund ihrer entgrenzenden Wirkung der allgemeinen Entwicklung in die Hände arbeitet. Nicht nur Diederichsen sieht Ironie als Stabilitätsfaktor einer skeptisch bis ablehnend beurteilten gesellschaftlichen Ordnung. »Die denkbar schärfste Kritik am Status quo«, schreibt Mark Siemons, »zielt heute mitten in das Herz jener Ideologie, die diesen insgeheim zusammenhält: die Ironie«.19 Diese Kritik zieht sich durch Diedrichsens Publikationen seit den 90er Jahren. Hervorzuheben sind die Aufsatzbände Freiheit macht arm (1993), Politische Korrekturen (1996) und Der lange Weg nach Mitte (1999) sowie die umfangreichen Vorworte zu den gesammelten Rezensionen 2000 Schallplatten (2000) bzw. zur Neuauflage von Sexbeat (2002). Vor dem Hintergrund der skizzierten –––––––– 19

Siemons 2001: 20.

75

Epochenkonstruktion differenziert Diederichsen dort verschiedene Pop- und Ironiekonzepte und stellt ihnen unterschiedliche Oppositionsbegriffe wie unbedingte Überzeugung oder emphatische Gemeinschaft gegenüber, die eine Bezugnahme auf zeitgenössische Tendenzen und Ereignisse wie das Erstarken einer rechtsradikalen Jugendbewegung oder die Renaissance religiöser Fundamentalismen ermöglichen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die These, ›Kritik‹ als ehemalige Zielscheibe der Gegengegenkultur befinde sich gesellschaftlich auf dem Rückzug. Gleichzeitig mit diesen inhaltlichen Verschiebungen verändert sich der institutionelle und mediale Rahmen, in dem Diederichsen publiziert. 1990 gibt er seinen Redaktionsposten bei Spex auf, bleibt dem Magazin jedoch weiterhin als Herausgeber verbunden. Er arbeitet fortan »mehr an Hochschulen, für Symposien, Kongresse, Treffen«20, schreibt für diverse Tageszeitungen, darunter auch die bürgerlich-konservative FAZ, und kooperiert mit staatlichen Institutionen wie dem Bundespresseamt.21 Sein vormals auf ein jugendliches und subkulturelles Publikum eingeschränkter Adressatenkreis erweitert sich also. Dem entspricht, dass Diederichsen der Tendenz nach von linksradikalen Positionen Abstand nimmt, vergleichsweise gemäßigte linke und linksliberale Standpunkte vertritt und die früher als Alibi des ›Systems‹ verworfene pluralistische Medienöffentlichkeit als Forum gesellschaftskritischer Publizistik akzeptiert.

5.2 Schlechter ›guter schlechter Geschmack‹ Ironiekritik konzentriert sich bei Diederichsen seit den 90er Jahren unter anderem auf popularisierte Formen des ›guten schlechten Geschmacks‹ (Susan Sontag). Diederichsen beruft sich dabei auf die massive öffentliche Aufmerksamkeit für Medienphänomene wie den um 2000 erfolgreichen selbstironischen Schlagersänger Guildo Horn, die im Feuilleton Diskussionen über einen »Kult des Banalen«22 auslösen. Ehemalige Verfechter der Trashästhetik wie Diederichsen oder Thomas Meinecke problematisieren diese Entwicklung, welche ihnen zufolge die Distinktionskraft geschmacklicher Abweichungen zweiter Stufe gefährdet. Bereits 1986 stellt Meinecke fest: An allen Straßenecken begegnete man jetzt selbstbewußten Gecken, welche diese Socken oder jene Krawatten allein aus einem Grund (und zwar für einen Spottpreis) erstanden hatten, weil sie nämlich schon wieder gut waren.23

–––––––– 20 21 22 23

76

Diederichsen 1993b: 13. Den erwähnten Vortrag Die Leude woll’n, daß was passiert hält Diederichsen im Rahmen eines vom Bundespresseamt mitveranstalteten Kongresses. Assheuer 1998. Meinecke 1998: 119.

1992 bemängelt Diederichsen, die poptypische reflexive Aneignung von ›Schund‹ und ›Kitsch‹ – »der ostentative Genuß der eigenen Entfremdung als Authentizität zweiter Ordnung« – stelle kein »elitäres Phänomen« mehr dar.24 Gegen Ende des Jahrzehnts sieht er sich mit einer Vielzahl »exzentrische[r] Konformisten«25 konfrontiert, die aus dem vor ein paar Jahren noch exklusiven Trash-theoretischen Gedanken (größtmögliche Authentizität entstehe nicht im Beherrschen, sondern im Verfehlen eines gleichwohl begehrten kulturindustriellen Standards) die bekannte Guildo-HornBewegung gemacht haben. Das Prinzip der Trash-Begeisterung diente einst dandyistischen Geschmacks-Subkulturen zur nonkonformistischen Selbststilisierung. Sein Witz war, daß es ein Bekenntnis zu ungeschützter Emotionalität – von Schlagern, BMovies, besonderen Outfits – mit einer schützenden Geschmackskultur kurzschloß. Darüber hinaus spielte ein ähnliches Prinzip eine nicht unwesentliche Rolle für einen kulturpolitischen Aspekt schwuler Identitätspolitik. Dieses Prinzip ist nun massenfähig geworden und dient allem Möglichen: Wer gerade noch seinen Platz im Konkurrenzkampf behauptet hat, entledigt sich seiner psychischen und sentimentalen Investitionen in Verlierer-Kultur – repräsentiert durch den Schlager – in einer rituellkollektiven Ironie-Orgie. Andere mögen gerade in der Verbindlichkeitserklärung des Unverbindlich-Ironischen oder des Scheiternden tatsächlich authentische Entlastungen erleben, die ausgelassene Feiern wert sind.26

Diederichsen begründet seine Ablehnung also nicht nur mit der Automatisierung des bad taste, sondern auch im Rahmen einer sozialpsychologisch argumentierenden Kapitalismuskritik: Die »rituell-kollektive Ironie-Orgie« der Schlagerbewegung dient als Ventil für Frustrationen, die sich im Kampf um Arbeitsplätze und Einkommen angestaut haben. Ein mittelständisches Publikums eignet sich den zur Massenbelustigung herabgesunkenen ›guten schlechten Geschmack‹ an, indem es sich dem ›Unterschichtenphänomen‹ Schlager zuwendet, nimmt symbolisch eine subalterne soziale Position ein und befreit sich damit kurzzeitig von seinen Abstiegsängsten. Dem stellt Diederichsen minoritäre und nonkonformistische ›dandyistische Geschmacks-Subkulturen‹ entgegen, die eine komplexere Struktur aufweisen, da sie »ein Bekenntnis zu ungeschützter Emotionalität« – zur Sentimentalität eskapistischer Trivialkultur – mit eigengesetzlichen, aus subkultureller Praxis erwachsenen Rezeptionsformen verbinden, die zugleich eine Distanzierung von der Rührseligkeit des Kitsches erlauben. Allerdings schränkt der letzte Satz die Kritik ein: Wurden zuvor ›Verfallsformen‹ potenzierten schlechten Geschmacks pauschal verworfen, so weist Diederichsen nun auf mögliche Ausnahmen hin. Nicht näher bestimmten ›Anderen‹ billigt er zu, qua »Verbindlichkeitserklärung des UnverbindlichIronischen« »authentische Entlastungen« zu erleben, »die ausgelassene Feiern wert sind«. Der Authentizitätsbegriff zielt hier nicht auf ›naive‹ Wertschätzung von ––––––––

24 25 26

Diederichsen 1993b: 235. Diederichsen 1999: 279f. Diederichsen 1999: 279.

77

Kitsch und steht nicht in Opposition zu potenzierter Geschmackspraxis und allgemein zu ›Beobachtungen zweiter Ordnung‹ (Niklas Luhmann), denn als solche wären auch die ›kollektiven Ironie-Orgien‹ der neuen Schlagerfans zu sehen. Als Wertbegriff, der ähnlich wie bei Adorno auf Originalität und ›Gelungenheit‹ hindeutet, dient er Diederichsen vielmehr zur Evaluation verschiedener Formen reflektierten schlechten Geschmacks.27 Die im Zusammenhang mit der positiven Variante verwendete Formulierung »Verbindlichkeitserklärung des UnverbindlichIronischen« zeigt das Unterscheidungskriterium an: Authentisch und gelungen ist Trash dann, wenn er anders als der belanglose Freizeitspaß der Guildo Horn-Fans auf pointierte und paradoxe Weise Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit kombiniert. Damit bezieht sich Diederichsen auf traditionelle gegenkulturelle Werte wie ›Intensität‹, Beharrlichkeit, Selbstständigkeit, Widerständigkeit, Anspruch auf Verbindlichkeit und Dauerhaftigkeit, mit denen zeitgenössische Erscheinungsformen des potenzierten schlechten Geschmacks, wie sie beispielsweise das Autorenduo Clermont und Goebel im populärsoziologischen Essay Tugend der Orientierungslosigkeit (1998) beschreibt, in der Tat wenig gemein haben. Clermont und Goebel entwerfen ein Bild moderner ›Lebensästheten‹, die sich vor dem permanenten sozialen Druck, ihr Dasein als ansprechendes und in sich stimmiges ›Kunstwerk‹ zu gestalten, in karnevalistische Überschreitungen von Geschmacksgrenzen flüchten: Und so landet die Packung lila und blau gefärbter Zuckerwatte namens Fluffy-Stuff […] im Einkaufswagen neben dem lebensästhetisch korrekten Biobrot (›Guck mal, ich hab’ was besonders Blödsinniges gekauft!‹). Ein solcher Kauf in Anführungsstrichen bietet Entlastung von ständigem Identitätszwang und bildet eines der unzähligen kleinen Ereignisse, die das Lebenskunstwerk ornamentieren.28

Mit Nonkonformismus hat dies nichts zu tun. Dass es sich um einen »Kauf in Anführungszeichen« handelt, spricht für Diederichsens kapitalismuskritische Kontextualisierung. Der Unterschied zu emphatischem bad taste lässt sich auch daran ablesen, dass die Autoren von »gelegentlichen Übertretungen«29 sprechen: Lebensästheten nehmen sich »hin und wieder« »Urlaub« von den »eigenen ästhetischen Richtlinien«, während Diederichsen zufolge authentische Devianz aus dauerhaftem Widerstand gegenüber gesellschaftlichen Zwängen entspringt.30 Der Vergleich rückt eine weitere Differenz ins rechte Licht, denn ›progressiver‹ schlechter Geschmack zweiter Stufe deckt für Diederichsen eine ›höhere Wahrheit‹ auf, indem veraltete oder anderweitig diskreditierte kulturelle Formate und Inhalte ––––––––

27

28 29 30

78

Ein Beispiel für diese Begriffsverwendung: Adorno (1990: 60) bescheinigt Goethes Wanderers Nachtlied die »unbedingte Authentizität« einer noch nicht von der Industriegesellschaft in Mitleidenschaft gezogenen Poesie. Clermont/Goebel 1998: 122. Clermont/Goebel 1998: 121. Hervh. C. R. Clermont/Goebel 1998: 121.

zugleich distanziert und begeistert angeeignet werden: »Der letzte mögliche, fortschrittliche Pop-Mythos war der von den durchschauten, auf Distanz gehaltenen, beherrschten falschen Verhältnissen, dem Lachen und Tanzen auf dem Groove des Falschen, das etwas Richtiges, Souveränes, Wirkliches abwirft.«31 Der Griff zur »Zuckerwatte namens Fluffy-Stuff« könnte diesem Anspruch nur genügen, wenn er von dauerhafter, aufrichtiger und überwältigender Sympathie motiviert wäre und zugleich von intellektueller Reserve begleitet würde, denn erst dadurch unterscheidet sich Diederichsen zufolge emphatischer Trash von banalen Transgressionen und »verwandte[n], aber spießige[n] Methoden wie Ironie, Satire, Kabarett«, denen es an »Liebe« zum Gegenstand fehlt.32 Dennoch ist die Gemeinsamkeit zwischen ›progressivem‹ schlechten Geschmack und seinen trivialen Nachfolgemodellen kaum zu übersehen. Beide basieren auf der Fetischisierung von Waren bzw. marktförmigen Verhaltensweisen und setzen ökonomischen Wohlstand voraus. Mit Blick auf Diederichsen wie auf Clermont und Goebel deutet der eher orthodox-marxistisch argumentierende Kritiker Robert Kurz deshalb ›intensive‹ und ›dissidente‹ ebenso wie ›affirmative‹ und ›triviale‹ Trashkultur als Auswüchse einer ›Spaßgesellschaft‹, die von der Produktivität älterer Generationen zehrt, soziale Auseinandersetzungen nur mehr durch eine ›kulturalistische‹ Brille wahrnimmt und ein ökonomisches wie ästhetisches »Leben aus zweiter Hand«33 führt, bis zukünftige Wirtschafts- und Finanzmarktkrisen dem ein Ende setzen. Wie Kurz tendiert auch das Feuilleton dazu, Heterogenes – die Pop-Art Andy Warhols, Camp-Phänomene, Madonna, Guildo Horn, Helge Schneider, den Big Brother-Kandidaten Zlatko und die Moderatorin Verona Feldbusch – mittels Schlagwörtern wie ›Spaßgesellschaft‹, ›Pop‹ oder ›Kult‹ zu homogenisieren. Kanonisierte Kunst gerät dadurch in die Nachbarschaft von als ephemer und trivial geltenden Modephänomenen, so dass Diederichsen und Goetz die Seriosität der Pop-Art herausstellen. Goetz zufolge wird Warhols »Sehnsucht nach Glamour und Frieden«34 erst vor dem Hintergrund der biographischen Prägung des Künstlers durch die Not und Armut während der Nachkriegszeit verständlich. Diederichsen argumentiert, die Pop-Art dürfe nicht auf die Verwendung populärkulturellen Materials reduziert werden und sei nur im Hinblick auf vorangegangene und zeitgleiche Kunstrichtungen wie die Minimal Art und den abstrakten Expressionismus angemessen zu deuten.35 Diese Ehrenrettung leuchtet nicht immer ganz ein, denn der Kult um Prominente ohne erkennbares Talent wie Feldbusch weist durchaus Ähnlichkeit zu Warhols willkürlicher Ernennung von ›Superstars‹ auf, –––––––– 31 32 33 34 35

Diederichsen 1993a: 21. Diederichsen 2000a: 15. Kurz 1999: 109. Goetz 2001: 138. Diederichsen 2001c.

79

die »nicht für etwas berühmt«36 waren. Diederichsen besteht jedoch auf dem Qualitätsunterschied und beschreibt Warhols ›Superstars‹ als Exzentriker mit überwältigender Präsenz und ›Strahlkraft‹, die Feldbusch, Horn oder Zlatko in den Schatten stellen. Außerdem hat das Phänomen eine quasi-demokratische Dimension, die an Diederichsens früheres Programm einer paradoxen Verbindung von Exklusivität und Inklusion erinnert: »[J]eder, der will und kann, soll mitmachen, kein Geburtsrecht oder andre Prä-Amerikana sollen ihn qualifizieren und hindern. Denn ist nicht das der große Zug der Popkultur, ihr (unmögliches) Projekt: Dandyismus für alle?«37 Der aus einfachen Verhältnissen stammende, für seine mangelhafte Bildung gefeierte Aufsteiger Zlatko könnte auch als Beleg für die Realisierung dieses Projekts gedeutet werden. Überdies kommt der Kult um ›B-‹ und ›CProminente‹ ohne die elaborierte und exklusive Begrifflichkeit des Popdiskurses aus, erreicht im Gegensatz zu Musikzeitschriften wie Spex ein Massenpublikum und löst insofern auch Goetz’ Pop-Utopie ein: »Gerechtigkeit. Ich stelle mir ja immer [...] vor: daß ALLE so privilegiert werden, so reich und schön und glücklich, wie [Boris, C. R.] Becker.«38 Doch weder er noch Diederichsen würdigen das »von blöden Halbintellektuellen zu Hype und Ironie stilisiert[e]«, »selbstgefällige Proletarier-Kultur-Getue« um Horn oder Zlatko als Popularisierung von Pop.39 Gelungene Devianzästhetik gehört für Diederichsen einer abgeschlossenen Vergangenheit an. Er knüpft die ihm als Ideal vorschwebende, unwahrscheinliche Synthese ästhetizistisch-individualistischer und sozial-aktivistischer Elemente an einen Kairos: »Der schöne Moment des Punk, an den sich alle [...] erinnern, besteht darin, daß vorübergehend offen blieb, ob es gegen das Leben (Biologie) oder gegen die Welt (Politik) ging, daß Dandy und Revolutionär eins waren.«40 Anschließend setzt eine Regression aufs Mittelmaß ein, die gegensätzlichen, vorübergehend verbundenen Elemente ›Ästhetizismus‹ und ›Politik‹ treten wieder auseinander: »[D]en Dandies fehlt der Glanz des Heroismus, den Revolutionären die politische Energie und Eindeutigkeit der Provokation. […] Sie können nun getrost als Dandy-Spießer oder linke Spießer einen Sinn finden.«41 Weil das Ideal eines sozialrevolutionären Ästheten gegenwärtig unerreichbar scheint, konstruiert es Diederichsen im Katalog zur Albert-Oehlen-Ausstellung Für eine Gesellschaft ohne Knäste (1993) mithilfe einer stilistisch eigentümlichen, ›wilden‹ Dialektik und Begriffspoesie: Die Jugend sieht den Gegenstand, die Welt von außen und liest ihn auf zweierlei Weise (wobei sie ihn neugierig haßt oder ängstlich begehrt): [...] Aus der ersten Lesart

–––––––– 36 37 38 39 40 41

80

Diederichsen 2005d. Diederichen 2000a: 102. Goetz 1999b: 500. Goetz 2001: 193. Diederichsen 1993c: 19. Diederichsen 1993c: 20.

entwickelt sich entweder politisches Engagement oder Karrierismus, aus der zweiten Ästhetizismus / Dandyismus oder Geisteskrankheit [...]. Wenn die erste und die zweite Lesart ein formal ähnliches Verhalten verursachen (also der zukünftige Karrierist und der zukünftige Geisteskranke sich die gleichen Klamotten anziehen, z. B.), kann man aus dieser Form sowohl ablesen, was Zukunft hat als auch die einzig angebrachte Kritik zu einer Zeit erkennen. Da, wo physisch-ahistorischer Haß auf das Leben den politisch-historischen, von den jeweiligen Versprechungen der Epochen enttäuschten Einwand gegen die Gesellschaft mit Gefühlen, Frisuren und Anzügen alimentiert.42

Mit herkömmlicher politischer Essayistik oder Kunstkritik hat das nur mehr wenig gemein, denn der eher einer assoziativen als logisch-sukzessiven Ordnung folgende Gedankengang erschließt sich erst bei mehrfacher Lektüre (und vielleicht auch dann nicht). In einem alchimistisch anmutenden Synthese- und Trennungsverfahren wird aus den Ingredienzien Neugier/Haß und Angst/Begehren das gewünschte Mischungsverhältnis – der engagierte Dandy – hergestellt, wobei Kombinationen wie »Karrierismus« oder »Geisteskrankheit« zu vermeiden sind. Dieser popkulturelle ›Stein der Weisen‹ weist auf den Typus des Pop-Dandy zurück, der um 1980 als zeitgemäße, mit ansprechenden »Frisuren und Anzügen« ausgestattete Version des renitenten Jugendlichen begriffen wurde. Seit den 90er Jahren streitet Diederichsen vor allem an zwei Fronten: Zum einen grenzt er sich von Massenkultur und dem ›seriösen‹ Kulturjournalismus ab, die beide Pop und Trash als Formen der Beobachtung zweiter Ordnung für sich entdeckt haben, hält die zugrunde liegenden Konzepte jedoch nach wie vor für tragfähig. Zum andern kritisiert er die kulturkonservativen Feinde des ›Sekundarismus‹ und Verfasser »panische[r] Pamphlete[] gegen das Ausgedachte und für das Echte, in der Kunst wie im Leben«.43 Zu denken ist hier an Botho Strauß’ Vorwort zur 1991 publizierten deutschen Ausgabe von George Steiners Real presences (1989), das den Titel Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit trägt.44 Strauß gibt auch deswegen den idealen Gegner ab, weil sich bei ihm der Affekt gegen programmatisch selbstbezügliche wie gegen populäre Kunst mit einem ›rechten‹ politischen Gestus verbindet, am spektakulärsten in Anschwellender Bocksgesang (1993).45 Zugleich ist seine Denkweise anschlussfähig, weil sie wie die seiner ›Antipoden‹ auf Seiten des Popdiskurses in der Kritischen Theorie wurzelt.46 Und obgleich Strauß Diederichsen mit Stichwörtern wie ›Sekundarität‹ die Vorlage liefert, um ›reaktionäre‹ kulturkritische Positionen anzugreifen, sind die Standpunkte weniger gegensätzlich, als zu erwarten wäre. Strauß tendiert zwar in der Tat zum ––––––––

42 43 44 45 46

Diederichsen/Oehlen 1993: 3. Diederichsen 1999: 16. Wiederabdruck in Strauß 2004a: 39–53. Vgl. Steiner 1989. Strauß 2004a: 55–78. Dazu Sautter 2002: 60ff. Meines Wissens hat Diederichsen sich nie detailliert mit Strauß auseinandergesetzt. Vgl. die eher summarischen Bemerkungen in Diederichsen 1993b: 117–157.

81

Antimodernismus und Antirationalismus, wählt aber oft literarisch-uneigentliche Ausdrucksweisen. Darüber hinaus bezieht er nicht durchgehend wie in Aufstand gegen die sekundäre Welt gegen Zitatcharakter und Selbstbezüglichkeit Stellung. Dort wendet er sich gegen eine »rationale[] Sprachtheorie«47 und (post-)moderne Ästhetik, die das Kunstwerk als Zeichen für etwas anderes in einem geschlossenselbstbezüglichen kulturellen Verweisungszusammenhang situieren.48 Dem setzt er ein metaphysisches, von der christlich-eucharistischen Transsubstantiationslehre inspiriertes Modell entgegen, das enthusiastische Hingabe an die im Werk manifestierte ›Realpräsenz‹ (George Steiner) eines »zweifellosen und rational nicht erschließbaren Sinn[s]« fordert, der »von der Gegenwart des Logos-Gott zeugt«.49 Demnach muss die Kunst von der »Diktatur der sekundären Diskurse«50, von »Vermittlungen, Moderationen und Interpretationen«51 und der »Übermacht der sekundären, medialen, indirekten Sprechweisen«52 befreit werden. Diederichsen greift das Reizwort ›sekundär‹ 2004 im Rahmen einer Abwehr ›reaktionärer Eigentlichkeitsfixierung‹ auf. Er verteidigt mediale Vorstrukturierung der Wahrnehmung, Fokussierung auf ›Kultur‹ statt ›Welt‹ und die Reflexion von Kulturrezeption in Kulturprodukten, wie sie exemplarisch in der Popmusikkritik zum Ausdruck kämen, deren zentrale Aufgabe darin besteht, sich und anderen bei (qualifizierten) Rezeptionsvorgängen (qualifiziert) zuzuschauen. […] Natürlich klingt in dieser Beschreibung so etwas wie eine Geißelung dieser sekundären Welt an, in der, wie Jerry Garcia es einmal beschrieb, das Abenteuer, einer Band hinterherzureisen, an die Stelle von Kriegserlebnissen, Liebesabenteuern und Wanderschaft getreten ist. Nichts liegt mir ferner. Es lebe das sekundäre Leben. Es gibt auch kein anderes.53

Auffälligerweise tendieren Diederichsen wie Strauß zur Universalisierung des Sekundären und Artifiziellen. Auch bei Strauß stellt Steiners Kunstmetaphysik, welche die Stelle des Primären dem ›Logos-Gott‹ zuweist, keine textübergreifende Lösung dar. An anderer Stelle heißt es: »Alles ist künstlich und künstlich erzeugbar. Träume, Kinder, Weltbilder. An die schöpferische Naturwidrigkeit ist der Mensch gefesselt. In Wahrheit ist seine Geschichte ein unaufhörliches Programm der Verkünstlichung.«54 Beide Autoren sind von der »Sache selbst«55 fasziniert, die es in Anbetracht des verabsolutierten Sekundären nicht geben dürfte, und besetzen die Leerstelle des ––––––––

47 48 49 50 51 52 53 54 55

82

Strauß 2004a: 41. Strauß 2004a: 50. Strauß 2004a: 41. Strauß 2004a: 41. Strauß 2004a: 44. Strauß 2004a. 46. Diederichsen 2005a: 15. Strauß 1999: 55. Strauß 1999: 90.

›Primären‹ mit Motiven aus den Bildbereichen Krieg und Liebe: ›Kriegserlebnisse, Liebesabenteuer und Wanderschaft‹ stehen bei Diederichsen in Opposition zu einer Realitätserfahrung ›aus zweiter Hand‹. Auch bei Strauß repräsentieren Krieg und Gewalt Unmittelbarkeit und transzendieren mediale und selbstbezügliche Erfahrungsmuster. Materieller Überfluss, Autoreferentialität und ›Posthistoire‹Bewusstsein bilden einen Problemzusammenhang, der nur durch einen Wirklichkeitsexzess überwunden werden kann: Wie hermetisch ist das Spiel, das wir spielen? / Ist es nicht alles in allem: den Blitz erbittend, der ihm dazwischenfährt? / Unsere Reden: Insgeheim nur Flehgebärde ums Ende. / [...] / Zeit ohne Vorboten. Wer sähe noch anderes kommen? Prolongationen, Vorgabeerfüllungen, Sättigungen. Der Mensch in seinem Hamsterrad. Das Anderswerden abgeklungen. Endlich alles peripher! / Wie verklären sich plötzlich dem Menschen im Schutz und unter der Last seines steigenden Wohlstandes die kurzen grausamen Perioden der Geschichte, die Revolutionen, die Speerspitzen-Verengungen des Blicks, der helle Verlust an Gedächtnis, das sich zugunsten von Entwurf und Vorstoß verjüngt ... welch ein Jungbrunnen müßte sie sein, die rücksichtslose Zeit!56

Das ›Außen‹ des Diskurses ist die gemeinsame Idée fixe von Strauß, Diederichsen und Rainald Goetz, nur Strauß jedoch suggeriert, von diesem ›Außen‹ aus zu sprechen, auch wenn es sich de facto als Haus in der Uckermark herausstellt und Strauß seine Essays im Spiegel veröffentlicht.57 Er hält Abstand zum Kulturbetrieb und beansprucht eine Adlerperspektive auf Kultur und Gesellschaft, doch seine thematischen Schwerpunkte wie auch seine Veröffentlichungspolitik weisen ihn als Autor aus, der teilhat an jenem ›Geist des Journalismus‹, den er zugleich attackiert und würdigt: [D]as Imperium der Abschwörung und der Leugnung mit seinen unzähligen radikalen Provinzen und subversiven Satyrspielen des Intellekts konnte sich erst nach Zweitem Weltkrieg und Nazikult, als häßliche Aufklärung des Hassenswerten unbegrenzt entfalten. Das kritisch-soziale Zeitalter war geboren. Sein Genius ist laut Steiner der Journalismus. Der Journalismus als letztlich die einzige, die höchststehende kulturelle Leistung der Nachkriegsdemokratie; längst nicht mehr nur als Institution zur Verbreitung von Nachricht und Meinung, sondern vielmehr als eine umfassende Mentalität des Sekundären, die tief eingedrungen ist in die Literatur, in die Gelehrsamkeit, die Philosophie und nicht zuletzt in den Glauben und seine Ämter.58

Als Verächter der »Mentalität des Sekundären« hat Strauß diese doch soweit akzeptiert, dass der behauptete Rückzug in eine elitäre, autarke und von selbstbewusster Ignoranz gekennzeichnete Position eher einem Wunschbild als der –––––––– 56 57

58

Strauß 2004a: 98. Dazu Sack 2001. Vgl. den Umschlagtext zu Die Fehler des Kopisten (1997, Strauß 1999): »Ein Mann hat sich auf einem Hügel eine Haus gebaut, in der Uckermark, nordöstlich von Berlin: einen erhöhten Aussichtspunkt, von dem aus er die Dinge beobachtet im Wechsel der Jahreszeiten. […] Strauß’ analytischer Blick erfasst den Stand der Kunst und Kultur, daneben den der Politik und Gesellschaft.« Strauß 2004a: 44.

83

tatsächlichen literarisch-publizistischen Praxis entspricht. In diese Richtung deuten auch poetologische Überlegungen, die das ›Gerede‹ des (medialen) Alltags nicht ausblenden, sondern ›dialektisch‹ zum Gradmesser von ›Authentizität‹ erheben: Nur wo sie [die Sprache, C. R.] Wort für Wort die Probe auf ihren eigenen Tiefenschwund macht, kann sie etwas Authentisches sagen. Der Autor, der diesem gezeitenhaften Entzug, dieser in aller Munde zurückweichenden Sprache, nicht innesteht, ihn nicht einmal bemerkt, ist bloß ein Täuscher. Deshalb haben wir jetzt so viel geschickte und gescheite Sprache, die hohl klingt, weil man das Simulieren besser beherrscht als jedes andere Handwerk.59

Das ist nicht die Argumentationsweise eines Dichter-Einsiedlers, der sich standhaft Zeitung, Fernsehen und Internet verweigert, weil die Sprache dort von der Masse missbraucht wird. Zwar verkommt Sprache Strauß zufolge mit der Unaufhaltsamkeit von Naturgewalten zu ›Gerede‹, doch kann und soll der Dichter sich demgegenüber nicht soweit verschließen, dass der Bezug zur Alltagssprache verloren ginge. Die zeitgenössische Kultur bildet den (negativen) Referenzpunkt dieser Poetik, welche damit der von Hubert Winkels im Zusammenhang mit der (Pop-)Literatur der 80er Jahre formulierten Auffassung ähnelt: »Literatur heute erzählt nach dem Fernsehen. Ihr Stoff ist gesendet, selbst dort, wo er einfach nur auf der Straße zu liegen scheint. [...]. Wenn Literatur das ignoriert, wird sie unerheblich«60. Strauß ist jedoch im Gegensatz zu den Emphatikern des Sekundären davon überzeugt, der Dichter könne dieser Naturgewalt ›innestehen‹ und ihr eine originäre Sprache entgegensetzen. Daher seine Aversion gegen ›Zitatkunst‹: Ich wurde ein Gefühl der instinktiven Abwehr nicht los, als ich den scheußlichen Film ›Pulp fiction‹ sah, den mir seine filmischen Qualitäten nur noch abstoßender machten. Auf dieser Ebene des introvertierten Kinos habe ich nur das Empfinden, ein neusynthetisiertes Material zu berühren. Das geht einher mit der Weiterentwicklung von polymeren Werkstoffen … Dazu der Plastikdreck aus dem Mund. […] Dieser zur bloßen Geschicklichkeit verfeinerte mediale Narzissmus wird dennoch aus seiner selbstbezüglichen Welt heraus seine Ablösung, seine Überwindung erzeugen.61

Strauß nutzt die Differenz primär/sekundär bzw. originär/zitathaft (›synthetisch‹) nicht als Analyse-Instrument. Über Pulp Fiction hat er wenig zu sagen, außer dass ihm der Film widerwärtig ist, doch lehnt er ›introvertierte‹ Kunst nicht in toto, sondern lediglich in ihrer bloß ›geschickten‹ und ›raffinierten‹ Form ab. Er selbst sieht sich dagegen – der Titel Die Fehler des Kopisten (1997) macht es deutlich – als kreativer Nachahmer und ›demütiger‹ Nachlassverwalter der hochliterarischen Tradition. Als Schriftsteller kennt Strauß keine Alternative zum »Schon-Geschriebene[n] der Welt, dem wir begegnen müssen, um zu leben, denn Leben ohne ZuSatz kann es nicht geben«62. Strukturell gleicht das den ästhetischen Konzepten –––––––– 59 60 61 62

84

Strauß 1999: 74. Winkels 1999: 9. Strauß 1999: 94. Strauß 1999: 90.

von Diederichsen, gerade auch was die Forderung betrifft, der ›Beobachter zweiter Ordnung‹ müsse dem verwendeten Material in ›Liebe‹ verbunden sein. Die Rede vom ›Schon-Geschriebensein der Welt‹ und ihre Kehrseite, die Beschwörung des unvermittelten, gewaltsamen Ereignisses, ist ein Gemeinplatz des Kulturdiskurses der 90er und 2000er Jahre. Das zeigt sich auch daran, dass sie wie bei Goetz humoristisch – »[l]eider fehlt im echten Leben der Fernsehton, der einem erklärt, was man gerade sieht. […] Wie die Elster lebt und wo sie im Winter hinfliegt«63 – oder bei Joachim Lottmann satirisch aufgegriffen wird: »Kriege und Rockkonzerte sind die letzten Primärgroßerlebnisse. Da verliert einer sein Bein oder ein Trommelfell, oder die Freundin setzt sich die Überdosis. Dagegen sieht das Internet alt aus.«64 Gleichwohl unterscheiden sich die genannten Autoren in ihrer Einstellung zur ›allumfassenden Vermittlung‹. Rainald Goetz gilt der Forschung als Antipode von Strauß.65 Goetz erscheint dabei als Fanatiker des Sekundären, doch mit Blick auf seine poetologische Selbstbeschreibung relativiert sich diese Opposition. Seine Verwendung von Begriffen wie Authentizität und Realismus bzw., als Gegenbegriff, Fiktivität, ist in diesem Zusammenhang so tentativ und variabel, dass sich eine polare Gegenüberstellung mit entsprechenden (ihrerseits variablen und ambivalenten) Konzepten bei Strauß nicht halten lässt. Goetz benutzt ›authentisch‹ in Bezug auf Literatur zuweilen in der Bedeutung von ›selbst erlebt‹, ›autobiographisch‹. Demnach wäre Goetz ein ›authentischer‹ Dichter in der Tradition Bernward Vespers, Rolf Dieter Brinkmanns und Hubert Fichtes, der sein Leben als Materialquelle für seine Dichtung nutzt. Freilich findet sich keine solche Selbstbeschreibung bei Goetz, was eng mit einer zweiten Verwendungsweise von ›authentisch‹ zusammenhängt, die auf vollständige, nichtselektive literarische Darstellung von Wirklichkeit abzielt – ein laut Goetz in der Praxis nicht einzulösendes Ideal. Der Grund hierfür ist die unvermeidbare Perspektivierung des Dargestellten: Je authentischer man zu werden versucht, je genauer an den Erlebnissen der Realität dran man erzählt und berichtet, umso stärker merkt man die Diskrepanz zum Wirklichen, die Unfaßbarkeit des Geschehenen, die Konstruktion, die Auswahl, das, zugespitzt gesagt, schlicht FIKTIVE des Resultats, der Darstellung in ihrer schriftlich fixierten Form. Man müßte einen neuen, ganz simplen Realismus-Vorbehalt vorausschicken: alle hier auftretenden Personen, alle Schauplätze und Geschehnisse sind echt, alles hier Erzählte ist wirklich passiert, aber was sich in Wirklichkeit in echt zugetragen hat, kann ich nicht sagen. Ich kann nur berichten, wie es gewirkt hat, auf mich.66

–––––––– 63 64 65 66

Goetz 1999b: 126. Lottmann 2005a. Schumacher 2001b. Goetz 1999b: 685.

85

Authentisch wäre es demzufolge, als Autor von realen Schauplätzen und Geschehnissen zu berichten, denen man als Zeuge beigewohnt hat. Diese Form der Authentizität ist steigerbar, indem man »genauer« von der Realität erzählt. Unmöglich ist dagegen Authentizität im Sinne einer nicht standortgebundenen Beobachtung. Soweit ist der Gedanke nachvollziehbar. Schwieriger wird es, wenn Goetz die (unmögliche) Standortungebundheit des Beobachters mit ›Realismus‹ gleichsetzt und erwägt, der um Authentizität bemühte Autor müsse einen »Realismus-Vorbehalt vorausschicken«. Problematisch ist schließlich die dramatisierende Gleichsetzung von Standortgebundheit mit »Unfassbarkeit« und Fiktivität, da die Beobachtung realer Tatsachen nicht fiktiv im Sinne von ›erfunden‹ sein kann. Eine passende Beschreibung für das eigene autobiographische Schreiben, das um seinen konstruktiven Charakter und seine epistemologischen Einschränkungen weiß, findet Goetz schließlich in der Bezeichnung »authentoide[r] Schreiber«67, die zum einen die Uneinlösbarkeit des Vollständigkeitsanspruches der Darstellung betont und zum andern einer fälschlichen Identifizierung von Autor und Erzähler vorbeugt: Homestory, Fluch oder Segen? / […] Man könnte auch sagen, es hängt von der Art von Literatur ab, die man schreibt. Je erzählerischer [je weniger selbst erlebt, C. R.] die Werke, desto größer das Bedürfnis der Autoren, man möge sie persönlich kennen. Und der andere Autor, der AUTHENTOIDE, kann all das auch direkt selber in seine Bücher hineinschreiben.68

Komplizierter stellt sich der Zusammenhang dar, wenn man die Intertextualität des literarischen Werks und seine Referenz auf textexterne Kommunikation miteinbezieht – also das, was Diederichsen und Strauß Sekundarität nennen. So bringt Goetz die Vertextung von Wirklichkeit in ein Oppositionsverhältnis zu unmittelbarem Erleben: Wenn er aktuelles Geschehen in Notizen festhält und mediatisiert, ›zerstört‹ er die natürlich-unmittelbare Atmosphäre des Augenblicks, doch irritiert dies im Grunde nur die anderen Anwesenden, denn für ihn selbst »besteht die [Unmittelbarkeit der Situation] eh nicht«69. Der Grund hierfür ist Goetz’ Einstellung zum (Kommunikations-)Geschehen – zumeist handelt es sich um Gespräche: Zum einen beobachtet er diese Gespräche auf eingeschliffene Redeweisen und stereotype Formulierungen hin, das heißt auf sprachliche Strukturen, auf welche die aktuellen Ereignisse mittelbar bezogen sind. Zum andern lassen seine Gesprächsnotate an eine mögliche zukünftige Literarisierung des Augenblicks denken, der damit seiner Unmittelbarkeit beraubt wird. Dass Goetz gelegentlich Realität und Kommunikation tendenziell gleichsetzt, ist wohl auf seine Auseinandersetzung mit kommunikations- und sprachzentrierten Modellen wie Diskurs- und Systemtheorie sowie insbesondere auf die intensive ––––––––

67 68 69

86

Goetz 2001: 186. Goetz 2000: 155f. Goetz 1999b: 642. Vgl. die literarische Darstellung dieser Vertextungs- und Literarisierungsmanie in Joachim Bessings contrazoom, dazu unten S. 144.

Lektüre der Schriften Niklas Luhmanns zurückzuführen. Luhmann ist für Goetz mehr als nur eine Inspirationsquelle: »Ich lese Luhmann und kriege Mut. Er ist der Vater und Bruder und Weise«70. Anders als Luhmann neigt Goetz jedoch zur Identifikation von (nicht nur: sozialer) Realität und Kommunikation bzw. Sprache: Er [Bodo Kirchhoff] hat mal für ein Buch das Motto verwendet: Sprache, sonst nichts. […] Und ich dachte mir: genau, so ist das. Falsch, kurz gesagt. Für mich schaut die Weltsicht des Schreibers tendentiell genau umgekehrt aus: alles ist aus Sprache, das ist die Realität. Und im Geschriebenen ist die Sprache praktisch so egal, daß das Motto heißen könnte: natürlich die Welt, was denn sonst?71

Das erinnert weniger an Luhmanns Theorie des Gesellschafts- als Kommunikationssystems, die nichtkommunikative, zum Beispiel psychische oder biologische Systeme nicht leugnet und überdies Kommunikation nicht auf Sprache reduziert, als an die experimentelle Literatur der 1960er und 1970er Jahre und deren Tendenz zur konzeptionellen Aufhebung der Differenz von Sprache und Wirklichkeit.72 Goetz zufolge ist sein Weltverhältnis als Schriftsteller primär durch den Bezug auf schon ›Geschriebenes‹ (Strauß) und ›Gesendetes‹ (Winkels) bestimmt. Die Welt, auf welche seine Texte referieren, begreift er wesentlich als ›Text‹ bzw. ›Sprache‹, und insofern dieser ›Welt-Text‹ auf andere Texte Bezug nimmt, erhöht sich der Vermittlungsgrad. Goetz führt das in der Frankfurter Poetikvorlesung anhand der Harald Schmidt Show aus, die mit ihrer satirischen Thematisierung der Diskursroutinen des Medienalltags selbst ein Beispiel für Beobachtung zweiter Ordnung darstellt. Als Zuschauer der Show wird Goetz zum Beobachter dritter Ordnung: »Der Satz dazu, bei Harald Schmidt, heißt immer: ›der Satz dazu heißt immer‹«73. Goetz’ Tendenz zum ›Pankommunikationismus‹ korrespondiert mit unterschiedlichen Stimmungslagen wie der Angst davor, mögliche intertextuelle Bezüge der eigenen Rede nicht mehr kontrollieren zu können, dem erhabenen Gefühl, einen Beobachtungsstandpunkt zweiter Ordnung einzunehmen, oder Mischformen: »[E]rsticke / im Wahnsinn meiner Papiere / schönes Gefühl«.74 Und auch bei Goetz entspricht dem Hang zur Totalisierung von Kommunikation und Metakommunikation eine Faszination am ›Außen des Diskurses‹, dem er paradoxerweise ebenfalls sprachlichen Status zuspricht: »Wie kommt man raus aus der Sprache, zu den normalen Sachen, zu den echten Worten, zu neuen Erfah-

––––––––

70 71 72 73 74

Goetz 2001: 143f. Goetz 1999b: 208f. Dazu Scheffer 1987. Goetz 1999b: 297. Goetz 1999b: 17.

87

rungen, zum Nichtsprachlichen und superalltäglich Alltagssprachlichen, zur Welt eben.«75 Die Gegenüberstellung Goetz/Strauß bzw. Medienkritik und Originalitätspoetik vs. postmodernistische Diskursrekapitulation kann sich also nicht auf fundamentale Differenzen hinsichtlich der Einstellung zur Intertextualität stützen, denn beide Autoren erkennen an, dass Literatur sich nolens volens auf Prätexte im weitesten Sinn bezieht und hieraus ästhetische Konsequenzen zu ziehen sind. Signifikante Unterschiede bestehen vielmehr im Hinblick auf die Frage nach der angemessenen künstlerischen Antwort. Goetz bedient sich als Protokollant des (medialen) Alltags einer oft kunstvoll stilisierten Umgangssprache, die Wirklichkeitsnähe suggerieren soll. Das ›superalltäglich Alltagssprachliche‹ garantiert hier ›Realismus‹. Der Traditionalist Strauß hält es dagegen mit der Schriftsprache und distanziert sich durch deren korrekte Handhabung vom ›Gerede‹, das gleichwohl Bezugspunkt des literarischen Schreibens bleibt. In dieser Stilfrage führen die Wege von Goetz und Strauß dann tatsächlich weit auseinander: Über eine Stunde mit Botho Strauß unterwegs, durch Sein und Zeit, in der Faz. Erst kopfschüttelnd, dann wütend, und irgendwann mußte ich dauernd nur noch brüllend lachen. Der Gestus ist so geil. […] Bester Satz: ›Kaum etwas, das nicht schwände.‹ Klar. Nur, warum nicht: schwünde. Oder schwönde? […] Klassik für Prolls, gehobene Sprache für geistig leicht Unterernährte, Ressentiments für Fernseh-Moderatorinnen und Kulturzeit-Redakteurinnen. Das ist der Zucker von Botho Strauß.76

5.3 Verloren in der ›Neuen Mitte‹ Neben der ästhetischen formuliert Diederichsen seit den 90er Jahren auch eine stärker politisch akzentuierte Ironiekritik. Sie ist vor dem Hintergrund einer Auflösung der einstigen Doppelorientierung des Pop an Genuss und Individualismus einerseits und Gemeinwohl, Solidarität und Emanzipation andererseits zu sehen. Rückblickend erscheint Diederichsen die Ost/West-Teilung des Kalten Kriegs als Garant dieser Verbindung. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks löst sich ihm zufolge der poptypische psychologische Eudämonismus von einem politisch-moralischen Ethos, das konsumistischen und individualistischen Exzessen bislang Einhalt geboten hat. Im Vorwort zu Der lange Weg nach Mitte ist zu lesen: Eine These dieses Buches behauptet, daß die Verbindung von Kultur und Politik trotz gegenteiliger Bekenntnisse verloren geht. Die Vervielfältigung kultureller Milieus und als ›Realität‹ empfundener Einzugsbereiche von Weltanschauungen haben nicht nur

–––––––– 75

76

88

Goetz 1999b: 346. – Diese Opposition ist ein Gemeinplatz im zeitgenössischen Feuilleton: »Wie kommt man [...] hin zu echten Gefühlen, wo doch alles schon medial aufbereitet ist?« (Schmidt 2001) Goetz 1999b: 840.

Stimmen und Ausdrucksmöglichkeiten vermehrt, sondern gleichzeitig auch die selbstverständlichen Verbindungen zwischen kulturellen und politischen Orientierungen gekappt. Dies wird aber durchaus auch von denen, die diese Vervielfältigung begrüßen, als Verlust empfunden und durch einen gesteigerten Konsum warenförmiger Weltbilder oder ein dauerhaftes Sich-Einrichten in der kognitiven Dissonanz kompensiert: Was ich gern tue, muß nicht mehr richtig sein. Auch in Deutschland nicht.77

Die Schlussbemerkung spielt auf den zeitlichen Abstand zum Nationalsozialismus und die Wiedervereinigung als symbolischen Schlusspunkt einer von Zweitem Weltkrieg und Holocaust überschatteten Nachkriegszeit an. Suggeriert wird, die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen hätte als eine Art ›moralische Bremse‹ Konsumbereitschaft, Ideologieanfälligkeit und Zynismus in Zaum gehalten. Wie man sieht, hat sich die Einstellung zu vormals positiv konnotierten Motiven wie Konsum oder kognitive Dissonanz grundlegend gewandelt. Die nachlassende Effektivität ethischer Diskursregulative, welchen Diederichsen um 1980 im Rahmen pluralismuskritischer Äußerungen teilweise die Berechtigung abgesprochen hatte, löst nun Besorgnis aus. Wie zu zeigen ist, wächst im gleichen Zuge auch die Skepsis gegenüber dem Subversionsmodell, weil dessen ›Spielregeln‹ nicht mehr feststehen. Die Rollenspiele des Pop sind nicht mehr in den vereindeutigenden Rahmen ideologischer, sozialer und kultureller Oppositionen eingebunden und verlieren damit ihre emanzipatorische Bedeutung. In welchem Verhältnis steht diese politisch-ethische Entgrenzung zur Öffnung des ›Eisernen Vorhangs‹? Wie gezeigt waren avancierte Jugendsubkulturen während des Kalten Krieges keineswegs der offiziellen Ideologie des Ostblocks verpflichtet. Ebenso lehnten sie die Freiheits- und Wohlstandsideologie des Westens nicht gänzlich ab, sondern positionierten sich vielmehr quer zum politischen Systemdualismus. Der Idee nach konnte Popironie die vorherrschenden polaren Gegensätze umkehren und damit gleichsam ›Konsum‹ sagen und ›Sozialismus‹ meinen. Ihre Anhänger verstanden sich, wie es in Diederichsens Roman Herr Dietrichsen aus dem Jahr 1987 heißt, in Analogie zu Jugoslawien unter Tito und Kuba unter Castro als »blockfrei«78. Im Roman betont der die Geschichte des ermordeten Kommunisten Dietrichsen erzählende Maler B., er glaube nicht »an das Eine«, sondern an die Alternative und ich glaube an das Gleichgewicht. Ich glaube an die zwei Blöcke. Ich glaube, daß keiner der zwei Blöcke wesentlich geschwächt werden darf. [...] Die freie, aber nivellierte, kalte, spannungslose, unwichtige Gesellschaft des Westens braucht das Bild und die Menschen einer Welt, die einfach und barbarisch, aber warm, sexuell und voller Leben ist. Die rückständige, heiße, verbindliche Welt des Ostens braucht einen Westen, der ihr ein Nachher, eine spannungslose Auflösung

–––––––– 77 78

Diederichsen 1999: 9f. Diederichsen 1987: 58.

89

der wichtigen und nötigen Dinge des Lebens vorführt und die Möglichkeit, sich zu retten aus dem Heißen. Er [Herr Dietrichsen] lachte mich wieder nur aus.79

Die Blockkonfrontation ermöglicht auf beiden Seiten die Orientierung an einem alternativen Gesellschaftsmodell. Wie noch auszuführen ist, schafft sie erst die Voraussetzung für die Inversionen des Pop. Nicht ohne Grund ist der Roman Herr Dietrichsen neben der damaligen Freundin des Autors auch »[i]n Dankbarkeit für Schutz und Unterstützung […] den Streitkräften der Sowjetunion gewidmet«. Als diese Grundlage nach 1989 wegbricht, verliert der mit Pop assoziierte ›Dritte Weg‹ jenseits von Kapitalismus und Realsozialismus seinen Resonanzboden: Nur in der strikt zweiteiligen Welt des Kalten Krieges konnte die Idee so gut gedeihen, dass es auch eine ganz andere Welt geben könnte. Niemand hatte dabei direkt an den Realsozialismus gedacht, aber die pure Möglichkeit einer anderen Welt schien er zu bestätigen. So konnte sich die Grundidee der Popmusik entwickeln (und auch so lange halten), derzufolge individueller Hedonismus und Selbstverwirklichung des Subjekts sowie eine universelle politische Programmatik von Befreiung und Emanzipation eng zusammengehören. Wer sich befreit und den Mühlen der Repression entrinnt, trägt in dieser selten ausgesprochenen Logik zur Befreiung aller bei. Der ideologischen Grundidee des liberalen Kapitalismus, dass Eigennutz Gemeinnutz generiere, ist das gar nicht so fern: mein persönliches Selbstverwirklichungsglück als Vorwegnahme von Utopie.80

Diese Utopie geht weder in der Ideologie des Ostens noch in der des Westens auf, sondern beinhaltet Elemente beider Seiten (etwa die liberale Idee, »dass Eigennutz Gemeinnutz generiere«). Nicht um ein konkretes Gesellschaftsprojekt geht es, sondern um Bedingungen, die eine Infragestellung der bestehenden Gesellschaftsordnung wahrscheinlich machen und mit deren Auflösung die Poputopie an Plausibilität verliert. Als in den frühen 90er Jahren rechtsradikale Jugendliche in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zu Musik aus Ghettoblastern Asylheime angreifen, bestätigt sich für Diederichsen, dass Jugendkultur und linke politische Orientierung nicht mehr automatisch gleichzusetzen sind. Er verabschiedet ältere Konzeptionen von Jugendkultur, die »nicht mehr in der Lage [scheinen], die fundamentale Differenz, die allen Projekten zugrunde liegt, die wir je in jugendkultureller Praxis gesehen haben, festzustellen. Den Unterschied zwischen Nazis und ihren Gegnern«81. Der alarmistische Ton lässt zwar in der Folge nach, doch die Unsicherheit angesichts fehlender eindeutiger Leitdifferenzen hält an. Dabei besteht das längerfristige Problem, wie sich im Laufe der 90er Jahre zeigt, in der Auflösung eines bislang vorausgesetzten politischen Minimalkonsenses, auf dem auch das Popideal eines »Dandyismus für alle«82 beruhte. Mit ––––––––

79 80 81 82

90

Diederichsen 1987: 64. Diederichsen 2006: 8. Spex 11/1992: 30. Diederichen 2000a: 102.

dem sozialdemokratischen Programm ›Wohlstand für alle‹ hatte dieses Ideal vielleicht mehr gemein, als die linksradikale Attitüde mancher Popintellektueller vermuten lässt. Dies ist jedoch erst erkennbar, seit sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Pop nicht notwendigerweise mit einer linken politischen Grundhaltung korrespondiert. Zwar lässt die Tendenz zu postmaterialistischen Werten wie politische Partizipation schon seit den Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen der 70er Jahre nach und weicht einer Rückbesinnung auf Karriere, Wohlstand und Sicherheit;83 doch Diederichsen macht diese Trendumkehr bevorzugt an zeitgeschichtlichen Ereignissen und symbolischen Daten wie der Abwahl Helmut Schmidts und dem Regierungsantritt Helmut Kohls fest, die für das Ende einer Phase unbeschwerter, gegen den vermeintlichen Puritanismus und die kulturelle Rückständigkeit ›sozialdemokratischer‹ Politik gerichteter Konsumfreude stehen (SB 42). Mit dem Erstarken marktliberaler und kulturkonservativer Kräfte erübrigt sich Pophedonismus als Korrektiv eines linksliberalen Konsenses. Gleichwohl steht Helmut Schmidt aufgrund seines autoritären und machtbewussten Politikstils als Sozialdemokrat nicht nur für das ›kleinere Übel‹ im Vergleich zu den ›Neoliberalen‹, sondern noch in den frühen 90er Jahren auch für eine Form politischer Herrschaft, die vom linksradikalen Standpunkt aus zu bekämpfen ist. In diese Richtung weist eine Bemerkung im 1991 oder 1992 entstandenen Essay Subversion – Kalte Strategie und heiße Differenz. Der ›Subversion‹, so heißt es dort, sei es angelegen, grenzenloses Einverständnis mit der Machtausübung zu verkünden, denn daß die Scheiße mit sich selbst identisch bleibt, ist ihr mehr Grund zur Freude als wenn sie durch den Dialog mit Oppositionellen die Gelegenheit bekommt, sich selbst als reformfreudig zu inszenieren. Der Fehler der Kritik und des Protestes in den Augen der Subversion ist es, daß sie der Herrschaft immerzu vorwerfen, Fehler zu machen, dabei sei doch eine gelungene Herrschaft noch viel schlimmer als die armselige, mißlingende, vertrottelte. Subversive machen keine Kohl-Witze, der Subversion ist ein Kohl oder Louis Philippe immer lieber als ein Schmidt oder Napoleon.84

Dieser etwas undurchsichtigen Logik zufolge müsste die korrekte Antwort auf die ›mißlingende, vertrottelte Herrschaft‹ Helmut Kohls eigentlich in sarkastischer Affirmation und nicht in kritischer Spöttelei und »Protest« bestehen, während einer linksliberalen Regierung, die sich den Anliegen der außerparlamentarischen Opposition öffnet, mit »Dialogverweigerung«85 zu begegnen wäre. Helmut Schmidt steht hier jedoch nicht für eine reformorientierte Politik, wie sie Willy Brandt vertrat, sondern – man denke an seine Unnachgiebigkeit gegenüber den Entführern Schleyers – für eine konservativ-sozialdemokratische ›Law and Order‹Haltung. Durch die Gleichsetzung mit Napoleon wird der feldherrenartige –––––––– 83 84 85

Dazu Glaser 1997: 487 und Klein 2003, bes. 100–104. Diederichsen 1993: 38. Diederichsen 1993b: 38.

91

Politikstil Schmidts zum Garant eindeutiger Freund/Feind-Verhältnisse erklärt, die mit dem Regierungsantritt Kohls der Vergangenheit angehören. Wurde die Ära Helmut Kohls anfänglich vielleicht noch als beruhigendes Signal dafür wahrgenommen, »daß die Scheiße mit sich selbst identisch bleibt«, steht sie für Diederichsen spätestens ab Mitte der 90er Jahre im Zeichen einer bedrohlichen Entfesselung des Marktes, die auch nach der Abwahl Kohls im Jahr 1998 anhält. Wie die Aufsätze in Der lange Weg nach Mitte (1999) zeigen, tendiert Diederichsen in der Folge zu einer eher traditionellen linken Kritik am Primat der Ökonomie, die im Vergleich mit der vormaligen ambivalenten Haltung zum Kapitalismus deutlich entschiedener ausfällt und im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung eine antinationalistische Stoßrichtung erhält: Denn hier gründen sie die Berliner Republik. Und die ganze Vielfalt […] wird schließlich restlos aufgesogen von der Gravität pragmatischer Politik und Kann-nichtanders-Kapitalismus. Seiner nationalen und kapitalistischen Schwerkraft kann anscheinend kein subkulturelles Milieu widerstehen. Man kommt sich sogar schon komisch vor, wenn man noch ›sie‹ schreibt, sich selbst von diesem Vorgang ausnehmend. Die neue Mitte.86

Das Eingeständnis, es bereite Schwierigkeiten, sich von der Kritik auszunehmen, ist der politischen Normalisierung im Zuge der Wiedervereinigung geschuldet. Die Formulierung neue Mitte verweist auf Berlin-Mitte als Zentrum der neuen Hauptstadt wie auf ›Neue Mitte‹ als politischen Integrationsbegriff und deutet die Tragweite eines Vereinheitlichungsprozesses an, der durch die Wirtschaftsentwicklung verstärkt wird. Der Anziehungskraft einer von rechts- und sozialstaatlichen Restriktionen entlasteten Ökonomie haben auch vormals widerständige Milieus nichts mehr entgegenzusetzen. Der ökonomische bellum omnia contra omnes führt zwangsläufig zur Ausbildung oligarchischer Strukturen: Die großen Gebäude im Zentrum des neuesten Nationalstaates repräsentieren nicht mehr Marken und Produkte, sondern Konzerne und Corporations, große, abstrakte Gebilde. Privatstaaten eben. Berlin heute: Manager bauen Paläste, schützen ihre Interessen mit Schäferhunden, und arbeitslose Lumpenproleten bewaffnen sich mit Pitbulls und Rassismus. Ausrufezeichen.87

In den 2000er Jahren wird überdies der Versuch unternommen, Pop im Sinne einer marktliberalen Ideologie zu (re-)interpretieren. Der damalige Welt-Redakteur und mit einer von Diederichsen begutachteten Dissertation zur DJ Culture hervorgetretene Ulf Poschardt wirbt vor der Bundestagswahl 2005 für die FDP, die ihm zufolge popaffine Werte wie Innovativität, Selbstverantwortung und Risikobereitschaft repräsentiert.88 Als die von Poschardt gewünschte schwarz-gelbe Koalition nicht zustande kommt, erklärt ein erleichterter Diederichsen dies mit der nach wie ––––––––

86 87 88

92

Diederichsen 1999: 12. Diederichsen 1999: 31f. Poschardt 1996, 2005a. Vgl. Rapp 2005.

vor wirksamen Aversion »urbane[r] Geschmacksbürger«89 gegenüber Christdemokraten und Liberalen: [D]er Restbestand einer Klassenverrats-Ethik als Ekel-Sperre gegen bürgerliche Parteien [ist] noch vorhanden. Und dieser Ekel lässt sich nicht wegdiskutieren, denn dahinter steckt das zuverlässige Wissen, dass ein Leben, das nicht auch gegen materielle Interessen gelebt wird, zum Sterben langweilig ist. Genauso langweilig ist das Leben der meisten urbanen Geschmacksbürger zwar längst geworden. Doch sie spüren: ein Kreuz auf dem Wahlzettel wäre die Ratifizierung dieses Elends.90

Dennoch driften Diederichsen zufolge hedonistische Lebensästhetik und linke politische Überzeugung zunehmend auseinander. Die noch verbliebene radikale Linke, die sich im Kampf um die ›reine Lehre‹ in eine »formalisierte StrategieMathematik« und ein »ganz abstrakt gewordene[s] Spiel von Subversion und Vereinnahmung« verstrickt, koppelt sich von konkreten politischen Auseinandersetzungen ab und verschließt sich gegenüber der ›Kulturlinken‹.91 So erklärt sich, warum die »Sprache des Pop« für Diederichsen ihre Attraktivität verliert, denn aufgrund ihrer polarisierenden Wirkung könnte sie die Desintegration der Linken nur vorantreiben. Folglich empfiehlt Diederichsen im programmatisch Der Boden der Freundlichkeit betitelten Essay von 1998 den untereinander zerstrittenen Linksradikalen aus dem Umfeld der Zeitschrift konkret, bei internen Auseinandersetzungen auf persönliche Invektiven zu verzichten und den Graben zwischen ›Polit-‹ und ›Kulturlinken‹ zu schließen. Angesichts der zunehmenden Kluft zwischen Kunst und Politik stellt sich für Diederichsen die Frage, wie eine als Kunstkritik ernst zu nehmende Popkulturanalyse mit politisch-ökonomischer Fundamentalkritik zu verbinden wäre. Immer wieder bemängelt er den ökonomischen Reduktionismus einer orthodox-marxistischen Kulturkritik, der es nicht nur an ästhetischem Urteilsvermögen fehlt, sondern die auch unempfänglich für das euphorisierende und gemeinschaftsstiftende Potential der Popkultur ist. Dieses Potential birgt für Diederichsen jedoch auch die Gefahr, zu blinder unpolitischer Begeisterung zu verkommen. Diederichsen veranschaulicht diese von zwei Seiten drohende Depotenzierung von Pop als sinnlich-ekstatischer und politisch-progressiver Macht anhand des Sirenenmotivs der Odyssee.92 Die sich die Ohren mit Wachs verstopfenden Weggefährten des Odysseus stehen dabei für die lustfeindlichen Theoretiker der Linken, welche die Rettung vor den eskapistischen Verlockungen von Kunst und Entertainment mit dem Verzicht auf ein intensives und genussreiches Leben bezahlen. Der an den Mast gekettete Odysseus dagegen vertritt die Pop–––––––– 89 90 91 92

Diederichsen 2005e. Diederichsen 2005e. Diederichsen 1998: 48. Diederichsen 1999: 15–72, bes. 63ff. Prätext ist das Odysseus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung und das dort beschriebene Verhältnis von Kunst und Aufklärung bzw. Lust und Vernunft (Adorno/Horkheimer 1995: 50ff.)

93

enthusiasten, die den Sirenengesang zwar auskosten, dafür aber politisch handlungsunfähig werden. Vor diesem Hintergrund rekonstruiert Diederichsen in Großstadtmelodie die Subkulturgeschichte seit Punk und New Wave: Die Stabilität dieser Negation des Establishments durch die alte Linke war Voraussetzung dafür, daß sich im Gegenzug wieder eine nun doppelt negative Gegnerschaft entwickeln konnte. Gleichzeitig gegen die alte Kultur und gegen ihre spiegelbildliche, also falsche Negation durch die 68er-Linke wandten sich die 80er-›Befreiungen‹ und deren Fortsetzungen (Punk, Feminismus, Vernunftkritik, Lifestyle-Kultur, partikulare Emanzipationen, ›Patchwork der Minderheiten‹, Identitätspolitik etc.), die so aber immer noch vor dem Horizont emanzipativer Zielsetzungen stattfanden. Denn es ging ja darum, die mit dem Ziel der Emanzipation angetretene alte Linke und alte Negation des Bestehenden – im Namen der Emanzipation – wegen ungenügender Ideen und Praktiken zu kritisieren und zu korrigieren. / In den 90ern, wo diese Stabilität der alten Linken nicht mehr gegeben war, verkamen viele Elemente dieser Bewegungen und Stile zur bloßen Affirmation des ganz normalen konkurrenzgesellschaftlichen, postfordistischen Individualismus, sozusagen die doppelte Negation, minus mal minus ergibt plus, zur Position vollendend.93

Die (Jugend-)Kulturgeschichte seit den 60er Jahren erscheint als eine Abfolge von Potenzierungen des gegenkulturellen Impulses, deren Fluchtpunkt die aktuell dominierende Affirmation ist. Einen ersten Schritt dorthin stellt die Gegengegenkultur der 80er Jahre dar. Sie bildet die erste Potenz einer damals noch stabilen ›68er-Linken‹. Diederichsen wiederholt seine Kritik an einer unzureichenden, weil negativ auf die ›alte Kultur‹ fixierten Gegenposition der 68er und legitimiert so die »doppelt negative Gegnerschaft« der »80er-›Befreiungen‹«. Hierauf folgt die gegenwärtig vorherrschende Form potenzierter Kritik, die ihr gegenkulturelles Erbe verleugnet und – »minus mal minus ergibt plus« – eine positive Haltung zur Gesellschaft einnimmt. Nach dieser Logik entspräche jedoch bereits die »doppelt negative Gegnerschaft« von Punk und New Wave einer affirmativen Haltung. Dem ist nicht so, weil Diederichsen der Gegengegenkultur der 80er Jahre eine zweifache negative Referenz zuschreibt: Sie verneint sowohl die Gegenkultur als auch das Establishment und findet »immer noch vor dem Horizont emanzipativer Zielsetzungen« statt. Diederichsen legt das nahe, indem er Punk in eine Reihe mit Bewegungen stellt, die anders als Punk erklärtermaßen emanzipatorische Ziele verfolgen wie etwa der Feminismus. Gegen diese Simplifizierung ließen sich auf der Grundlage des letzten Kapitels Einwände formulieren. Gleiches gilt für die Interpretation von Punk als Korrektiv einer defizitären Gesellschaftskritik. Für Diederichsen selbst mag diese Deutung zutreffen, da sich sein 1982 in Nette Aussichten ausformuliertes Reformprojekt einer »Sprache des Pop« solidarisch mit gegenkulturellen Grundprinzipien zeigt, doch generalisieren lässt sie sich wohl nicht. –––––––– 93

94

Diederichsen 1999: 19.

Diederichsen zufolge eignen sich die ›Jasager‹ um 2000 das alte gegengegenkulturelle Legitimationsmuster einer provokativen Infragestellung von Konsenszumutungen und restriktiven Sprachregelungen an. Um einen Minderheitenbonus einzustreichen, perpetuieren sie das Feindbild einer übermächtigen linken ›Gesinnungspolizei‹: Viele derer, die nur noch affirmativ operierten oder nach rechts drifteten, inszenierten sich altlinke Pappkameraden als gefährliche Gegner – ›Gutmenschen‹, ›Political Correctness‹ –, um den eigenen Konformismus als Transgression und Tabubruch inszenieren zu können. Denn das ist es, was höher angesehen ist als bloße Unterwerfung: Konformität als Ergebnis eines mutigen, männlichen Tabubruchs.94

Dieser Rebellion linker Renegaten und ›Gutmenschen‹-Kritiker gegen eine angeblich hegemoniale, die Meinungsfreiheit einschränkende linke Intelligenzia hält Diederichsen entgegen, ihre Feindbilder seien ohne Realitätsgehalt. Beide Seiten argumentieren auf der Basis unterstellter Quantitäten, sprechen sich wechselseitig den minoritären und antikonformistischen Status ab und werfen dem jeweils anderen Lager eine historisch überholte Einstellung vor. So erweisen sich für Norbert Bolz in Die Konformisten des Andersseins. Ende der Kritik (1999) »alle Linksintellektuellen, die ihre Identität mit der Utopie des ›dritten Wegs‹, des ›Sozialismus mit menschlichem Antlitz‹ verknüpft haben«, angesichts des 1989/90 eingetretenen »Ende[s] der Geschichte« als »Reaktionäre der postmodernen Welt«.95 Der von Bolz propagierte souveräne Verzicht auf Utopien und sein Plädoyer für ein ›entkrampftes‹ Verhältnis zur Nation ist repräsentativ für eine »sich als weltläufig inszenierende[] Rechte[]«96, die laut Diederichsen »einen gewissen als männliche Desillusioniertheit daherkommenden Zynismus als Attribut von New York und großer Welt aus den 80ern herübergerettet und in den aktuellen Sozialstaatsabbaukontext harmonisch integriert«97 hat. Diederichsen wendet den Motivzusammenhang Urbanität, Ironie und Zynismus ins Negative, indem er ihn mit prekären wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in Verbindung bringt.98 Statt der abweichenden Meinung anderer durch Hinterfragen der eigenen Perspektivgebundenheit gerecht zu werden, diskreditieren ›reaktionäre‹ Ironiker jede Meinung – außer der eigenen, man habe sich wirtschaftlichen Sachzwängen zu beugen – als realitätsferne Zumutung. Im Zuge dieser historischen Herleitung des Gegenwartsbefundes aus den 80er Jahren bedient sich Diederichsen des Handlungsmusters der negativen Entwicklungsgeschichte. Als Held tritt ein typisierter Sozialcharakter auf, der durch eine idealistische, mit dem symbolischen Datum ›1968‹ bezeichnete Phase hindurchgeht und nach der Wiedervereinigung ins Reifestadium ›männlicher ––––––––

94 95 96 97 98

Diederichsen 1999: 19f. Bolz 1999: 38. Diederichsen 1996b: 181. Diederichsen 1996b: 181. Vgl. oben S. 8.

95

Desillusioniertheit‹ eintritt. Vom ›einfachen‹, ohne Begründung für seine affirmative Haltung auskommenden Konformisten unterscheidet ihn die aus Legitimierungsgründen aufrechterhaltene Behauptung, er habe sich notwendigerweise von weltfremden politischen Wunschvorstellungen distanziert – laut Diederichsen ein Alibi für den Verzicht auf ›richtige‹, aber inopportune Positionen. Bezeichnenderweise greift Diederichsen bei der Illustration dieses Sozialcharakters auf eine Theatermetaphorik zurück, die er auch zur Veranschaulichung von Popstrategien verwendet, und unterstreicht damit die Auffassung, ehemals progressive Verfahren würden von rückschrittlichen Kräften aufgegriffen: »Maskiert sich hier als rebellisch und unerschrocken, was in Wahrheit das Abstreifen der letzten Reste ehemaliger (politischer, moralischer und ästhetischer) Ansprüche darstellt?«99 Als Beispiel aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre bietet sich die Kontroverse um Steffen Heitmann an. Heitmann, der Wunschkandidat Helmut Kohls für die Bundespräsidentenwahl im Jahr 1993, hatte sich mit ultra-konservativen Äußerungen zur Familien- und Frauenpolitik ins Abseits manövriert und war daraufhin von einigen Journalisten mit dem Argument verteidigt worden, als Ostdeutscher sei er nicht mit der ›politisch korrekten‹ Nomenklatur vertraut – für Diederichsen ein Beleg dafür, dass rechtsorientierte Politiker und Journalisten sich zum Opfer einer linken ›Gesinnungspolizei‹ stilisieren: Es geht demnach zu weit, einfach aus den Äußerungen eines Politikers politische Inhalte abzuleiten. [...] Diese Rede bewegt sich in demselben, sich viel auf seine Weltläufigkeit und Frivolität einbildenden Yuppie-Denkstil, der politischer Kritik, neben Humorlosigkeit und zu großer Inhaltlichkeit, vor allem vorwirft, überhaupt noch an eine politische Bedeutung offizieller politischer Figuren und Auftritte zu glauben, um damit auch die altlinken verschwörungstheoretischen Zuschreibungen an das monolithische, unangreifbare DAS SYSTEM in das neue postpolitisch-generalzynische Stadium der eigenen Biographie zu retten. Fast bewegt sich also dieses Argument der Heitmann-Verteidigung selbst in einem trivial-dekonstruktiven, protoyuppiehaften Kunstdiskurs und übernimmt den Früh-80er-Desillusionierungssarkasmus, alle Politik sei doch Show – Blixa Bargelds berühmt-berüchtigter Spruch ›El Salvador gibt es doch gar nicht‹.100

Im Rückgriff auf Pop-Topoi vergleicht Diederichsen die Argumentationsweise der Heitmann-Apologeten mit dem »Desillusionierungssarkasmus« des Sängers der New-Wave- und Industrialband Einstürzende Neubauten Blixa Bargeld. Zu beachten ist, dass im politischen Kontext nicht schon die bloße Popularisierung dieser Haltung der Distanzierung bedarf, denn noch 1989 konstatiert Diederichsen keineswegs besorgt »ein neues, ganz alltägliches und weit über Jugendkulturen hinaus verbreitetes Trash-Bewußtsein, das keine offizielle Äußerung mehr so

–––––––– 99

100

96

Diederichsen 1996b: 12. Diederichsen 1996b: 107f. Vgl. Glaser 1997: 435.

behandelt, wie sie gemeint ist«101. Erst wenn die konservative Seite zu ähnlichen Strategien greift, sieht sich Diederichsen genötigt, zwischen trivialer und anspruchsvoller Theatermetaphorik (›alle Politik ist Show‹) zu differenzieren. Die Causa Heitmann ist darüber hinaus aufschlussreich, denn die Entgleisungen des Ostdeutschen wurden, wie Diederichsen befriedigt zur Kenntnis nimmt, »in der politischen Mitte (und links davon) mit einiger erschrockener Aufmerksamkeit wahrgenommen«102. Die Alarmsysteme der Medienöffentlichkeit funktionierten, Heitmann zog sich zurück. Damit relativiert sich die von Diederichsen vertretene Auffassung, linke Positionen hätten seit den 80er Jahren einen drastischen Bedeutungsverlust erlitten. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Diederichsen sich hier positiv auf die vormals verachtete ›politische Mitte‹ bezieht. Diese Annäherung an den politischen Mainstream ist angesichts der in Politische Korrekturen vorherrschenden, rigoristischen Rhetorik leicht zu übersehen. Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist ein mehr oder weniger offenes Bekenntnis zur linken Seite des parlamentarischen Spektrums, wie sich spätestens nach der Wahlniederlage von Rot-Grün im Jahr 2005 zeigt. Als deutlich wird, dass die Bildung eines schwarz-gelben Regierungsbündnisses nicht möglich ist, verweist Diederichsen auf die strukturelle Mehrheit von SPD, Grünen und der Linken im Parlament.103 Rückblickend versucht Diederichsen nun, den Zeitpunkt zu ermitteln, zu dem poptypische Verfahren »die Seite gewechselt«104 haben. Diese Frage drängt sich auch deshalb auf, weil Pop um 2000 zunehmend historisiert wird. Ein Beispiel ist Tom Holerts Aufsatz Abgrenzen und durchkreuzen im Sammelband »alles so schön bunt hier«. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute« (1999). Holert deutet die Figur »Subversion durch Affirmation«105 im Sinne des hier vorgeschlagenen Modells als potenzierte Abweichung und Mimikry ans Normale, die sich von normalisierter Abweichung abzugrenzen sucht. Er situiert die Ironiker des 80er-Pop auf der ›guten‹ Seite eines übersichtlichen Machtverhältnisses: »Affirmation, das ist die […] Verwendung von Zeichen der Etabliertheit aus einer Position des Nicht-etabliert-Seins«106. Progressiv ist das ›Kreuzen‹ der Unterscheidung demzufolge nur dann, wenn es von einer Position sozialer Schwäche aus vorgenommen wird und ihm die richtige Gesinnung ––––––––

101 102 103 104

105 106

Diederichsen 2000a: 16. Diederichsen 1996b: 107. Diederichsen 2005c. Schmidt 2003. Mit einem ähnlichen Problem beschäftigt sich Peter Sloterdijk in Kritik der zynischen Vernunft (1983) – einem Text, der im Ironiediskurs der 90er und 2000er Jahre meines Wissens nie aufgegriffen wurde. Auch Sloterdijk unterscheidet retrospektiv zwischen der aufklärerischen, gleichsam didaktischen Affirmation schlechter Konvention – ›Kynismus‹ – und einem Herrschaftszynismus. Dazu Sautter 2002: 229ff. Holert 1999: 26. Holert 1999: 26f.

97

zugrunde liegt. Aus dieser Perspektive scheint es folgerichtig, dass Diederichsen und andere Verteidiger emanzipatorischer Konzepte die Epigonen des Pop zu simulierenden Ironikern erklären, die wie die Heitmann-Verteidiger ihre ernst gemeinten ›schlechten‹ Überzeugungen als ›inverse Hypokrisie‹ rechtfertigen und im Tabubruch eine Waffe gegen ›politisch korrekte‹ Diskursverknappung sehen. Diederichsen thematisiert die Nähe von Reflexion und Ironie zum Zynismus nicht nur im Zusammenhang mit rechts-, sondern auch mit linksextremistischen Positionen und fragt sich, ob ›Aufgeklärtheit‹ über die eigenen Voraussetzungen und Beschränkungen nicht zum Verlust des radikalen Elans führt. Exzessive Selbstreflexion mündet, so der Tenor seiner Überlegungen, in amoralischen Narzissmus, Relativismus und Passivität. Das zum alternativlosen Entweder-Oder stilisierte Verhältnis von Selbstreferenz (Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Dissidenz) und Fremdreferenz (dissidentes, ›revolutionäres‹ Handeln) legt einen ›poetischen‹ Schreibmodus nahe, wie er in Für eine Gesellschaft ohne Knäste vorherrscht: Radikale wollen nur das eine nicht: so lassen. Ihnen sind die Bedingungen ihrer Radikalität, sonst könnten sie nicht radikal sein, nicht klar. Zum Beispiel bilden sie sich ein, das Volk zu lieben. Man muß für einen gesunden Gerechtigkeitssinn niemanden lieben. Radikalität braucht aber einen blinden Fleck der Blödheit. Aufklärung über die eigene Bedingtheit ist nicht immer wünschenswert und selten produktiv. Eine Welt ohne Fanatiker? Das wäre der Supermarkt »Pavillion’s«, Ecke Melrose und Vine. Optimale Aufgeklärtheit über das Spiel ist der größte Feind der Revolution. Größte Aufgeklärtheit verursacht im besten Fall den Seufzer [...]. Im schlimmsten Fall bringt sie den zynischen Untertanen hervor: einen, der alles weiß über die Fremdbestimmtheit seiner Genußfähigkeit, aber es sich trotzdem schmecken läßt.107

Schon im Roman von 1987 äußert sich die Figur Herr Dietrichsen ganz ähnlich: Man kann nur reparieren, was man vorher restlos zerstört hat. Sonst bilden sich Nachkriegsgesellschaften, was heißt: Jahrzehnte endlosen Leids und wackere Wiederholungen. Distanziertheit muß endlich der Ergriffenheit weichen. Jeder muß sich von allem betroffen fühlen. Nichts wünschen wir uns mehr, als eine Fanatikergesellschaft.108

Nicht zufällig sind beide Texte mehr oder weniger deutlich als literarisch ausgewiesen, denn andernfalls wäre die Nähe zu ›rechten‹ Beschwörungen von Enthusiasmus und Fanatismus, wie man sie bei Botho Strauß findet, wohl zu irritierend. Im Fall von Herr Dietrichsen signalisiert bereits die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ Literarizität und Fiktionalität, in Für eine Gesellschaft ohne Knäste funktioniert die eigentümliche Verbindung von apodiktischem Manifeststil, theoretischer Abhandlung und bildlicher Konkretion als Äquivalent. Beide Texte zeichnen sich durch Hyperbolik (»Jahrzehnte endlosen Leids«), Alliterationen (»wackere Wiederholungen«) und ein zwischen historischer Referentialisierbarkeit –––––––– 107 108

98

Diederichsen/Oehlen 1993: 3. Diedrichsen 1987: 77.

und poetischer Entreferentialisierung changierendes Vokabular (»Nachkriegsgesellschaften«) aus. Darüber hinaus zielen beide Texte auf die praktische Folgenlosigkeit der Diskussionen über Pop und Politik: Fängt man erst an, aus einer Distanzhaltung heraus die »Bedingungen der Radikalität« zu reflektieren, verflüchtigt sich die ›revolutionäre‹ Tatkraft, die den Gegensatz zu »Aufgeklärtheit«, ›Zynismus‹ und »Distanziertheit« bildet. Ausdrücke wie »Radikalität« und »Revolution« sind bei Diederichsen nicht weniger auratisch als in einem linksradikalen Flugblatt von 1968, werden jedoch unter Fanatismus subsumiert, was darauf hinweist, dass es trotz der Rede vom »Gerechtigkeitssinn« weniger um den links/rechts-Schematismus als um die allgemeine Unterscheidung zwischen »Ergriffenheit« und »Distanziertheit« geht. Distanz wird dabei mit Wohlstand (»der Supermarkt ›Pavillion’s‹«) und einer repetitiven, sterilen Posthistoire-Kultur assoziiert, die den Wunsch nach Unmittelbarkeit, Handlungsstärke und Gewalt provoziert. Von analogen Antithesen wie Reichtum und Ratio auf der einen, Totalitarismus, Theokratie und »Blutopfer«109 auf der anderen Seite wie bei Botho Strauß ist das nicht weit entfernt. Einen Ausblick bietet in diesem Zusammenhang die Einleitung der Essaysammlung Musikzimmer von 2005, wo Diederichsen schreibt: »Heute heißen Parfüms und Proseccos ›Revolution‹ […]: Revolution ist eine ebenso leere Kategorie geworden wie ›exquisit‹ oder ›exzellent‹.«110 Der Reizwert des Ausdrucks ›Revolution‹ zum Beispiel in Für eine Gesellschaft ohne Knäste scheint weniger auf seiner Verwendung innerhalb der linken Tradition als auf seinen ›sozialradikalen‹ Konnotationen zu beruhen. Helmuth Plessner zufolge strebt der soziale Radikalismus eine Vernichtung des Bestehenden im Namen ›höherer‹, rationaler oder irrationaler Prinzipien sowie eine Auflösung sozialer und individueller Differenzen in der Gemeinschaft an.111 Wenn Diederichsen in den oben zitierten Texten das Lob der »Ergriffenheit« anstimmt und die Forderung nach allgemeiner Zuständigkeit (»[j]eder muß sich von allem betroffen fühlen«) erhebt, so artikuliert sich darin ein vergleichbares Begehren nach Irrationalität und Konzessionslosigkeit, das im Rahmen uneigentlich-literarischer Rede ausgelebt wird. Die nostalgische Einfärbung des entsprechenden Vokabulars verdankt sich dem Entstehungszeitpunkt der Texte (1987 bzw. 1993), zu dem die historischen Auseinandersetzungen, auf die Wörter wie ›Revolution‹ verweisen, endgültig der Vergangenheit anzugehören scheinen und in den Industrienationen die drängendsten ökonomischen Probleme vorerst als gelöst gelten können. 1993 ist absehbar, dass auch Moskau bald dem »Supermarkt ›Pavillion’s‹, Ecke Melrose und Vine« gleichen werde. In den westlichen Staaten und der ehemaligen Sowjet–––––––– 109 110 111

Strauß 2004a: 59. Diederichsen 2005a: 19. Siehe oben S. 10.

99

union scheint eine »Welt ohne Fanatiker« greifbar zu sein – umso größer der intellektuelle thrill, der von Enthusiasmus und Radikalität ausgeht. Diese Diskussion nimmt eine unvorhersehbare Wendung, als anlässlich der Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 islamistische Fanatiker in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit rücken. Die Stellungnahme von Diederichsen zeigt die Variabilität der Poptopoi und der damit verbundenen Wertungen. Sie demonstriert, wie mithilfe mehr oder weniger homologer, substituierbarer Unterscheidungen wie Reflexion/Aktion, Selbstreferenz/Fremdreferenz, kognitive Distanz/Ergriffenheit, Ironie/Unbezweifelbarkeit und Ereignisinszenierung/›die Sache selbst‹ flexibel auf beliebige Ereignisse reagiert werden kann. Im Fall des Terroraktes steht nicht die oben thematisierte Obsession für Begeisterung und Fanatismus im Zentrum, sondern eine postmoderne Perspektive, aus der Ereignisse in erster Linie als Zeichenkomplexe erscheinen, die unter Inszenierungs- und Wirkungsgesichtspunkten zu beurteilen sind. Diederichsen greift Feuilletonartikel zum 11. September auf und rechnet mit einem hochspekulativen Medienkonstruktivismus à la Jean Baudrillard ab – »Das WTC hat es gegeben!«112. Die kaum in Zweifel zu ziehende physische Realität der Anschlagsopfer sei ein Zeichen für das »überfällige Ende der seit zwei Jahrzehnten kursierenden Überzeugung«, wonach »›die Medien‹ eine einzige andere und geschlossene Welt wären«.113 Wie in der Heitmann-Affäre verwendet Diederichsen bekannte Argumentationsfiguren, wechselt allerdings die Stoßrichtung und zitiert erneut Blixa Bargeld, um die Untauglichkeit und Antiquiertheit des einschlägigen postmodernen Vokabulars herauszustellen: Mit dem Baudrillardismus müsste man jetzt aufhören können. ›Vielleicht gibt es El Salvador gar nicht‹, wie es einmal berühmt-berüchtigterweise Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten (sic!) stellvertretend für viele stolz kritische Medienskeptiker in den frühen 80ern formulierte, als diese Überzeugung noch einigermaßen frisch war.114

In der Tat waren im Feuilleton sofort bekannte medienphilosophische und konstruktivistische Denkfiguren bemüht worden.115 Frank Böckelmann, ehemaliges Mitglied der »Subversiven Aktion», die es im Kontext der Studentenbewegung zu einiger Berühmtheit gebracht hat, vergleicht die Berichterstattung über die Terrorakte mit Katastrophenfilmen Hollywoods. Seiner Meinung nach erschütterten die Terroristen das Realitätsverständnis des Westens, indem sie eine Kontamination der Wirklichkeitswahrnehmung mit fiktionalen Darstellungskonventionen herbeiführten.116 Den anschließenden Krieg in Afghanistan deutet er ––––––––

112 113 114 115 116

100

Diederichsen 2001b. Diederichsen 2001b. Diederichsen 2001b. Theweleit (2003) hat einen Teil des umfangreichen Materials zusammengestellt und kommentiert. Zur »Subversiven Aktion« siehe Holmig 2007.

als »Versuch«, »eine neue Scheidung zwischen realen und irrealen Bedrohungen zu erzwingen«.117 Abschließend drückt Böckelmann seine Hoffnung aus, die militärische ›Wiedergewinnung der Realität‹ möge mit einer Besinnung auf die Identität Europas einhergehen: Vielleicht aber erzwingt der opferreiche Kampf mit dem Unfassbaren eine Fassbarkeit des Westens respektive des zur Selbstverteidigung befähigten Europas: eine positive, gebundene Toleranz, die sich nicht tautologisch, als bloße Verneinung von Intoleranz, definiert, und eine positive, gestaltende Weltoffenheit.118

Angesichts einer öffentlichen Rhetorik, die den Konflikt mit den islamischen Ländern als Kampf der Kulturen begreift, fordert Diederichsen eine Rückkehr zu den »politischen Sachen selbst«119 und einen Verzicht auf Baudrillards Simulationsbegrifflichkeit, bei der auch er sich um 1980 ausgiebig bedient hat.120 Entsprechend dokumentieren auch die autobiographischen und historiographischen Texte, die um den Jahrtausendwechsel entstehen, eine Re-Interpretation und Neubewertung des Pop-Programms der 1980er Jahre, die teils kritische, teils apologetische Züge aufweist. Für die defensive Variante steht der in Ist was Pop? (1997) unterbreitete Vorschlag, historisch zwischen »Pop 1« und »Pop 2« zu unterscheiden, wobei sowohl die klassische Gegenkultur als auch deren spätere Gegenspieler Punk und New Wave in die erste, die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre kulminierende Popularisierung von Pop jedoch in die zweite Kategorie fallen.121 Die Differenzierung zielt darauf, frühere schroffe Distanzierungen von kritisch-emanzipatorischen Projekten abzuschwächen und die Gemeinsamkeiten von Gegen- und Gegengegenkultur hervorzuheben. Dominierendes Thema ist in diesem Zeitraum die Restitution trennscharfer und tragfähiger politisch-moralischer Grenzen. Immer wieder stößt Diederichsen dabei auf das in Für eine Gesellschaft ohne Knäste aufgeworfene Problem, ob eine politisch wirksame und popaffine Haltung auf nicht weiter zu hinterfragenden, willkürlich gesetzten Letztbegründungen basieren und einen »blinden Fleck der Blödheit«122 in Kauf nehmen müsse. In diesem Zusammenhang spielt die Unterscheidung zwischen Ironie, Distanz und Selbstaufklärung auf der einen und Begeisterung, ›Ergriffenheit‹ und Kollektivität auf der anderen Seite eine entscheidende Rolle. Doch anders als in den behandelten älteren, literarischen Texten verzichtet Diederichsen nun darauf, Begeisterung in Verbindung mit Irrationalismus und Fanatismus zu thematisieren, sondern bevorzugt linke, vormals skeptisch beurteilte Traditionsbegriffe wie Engagement, Protest und Ideologiekritik. In diese Richtung weist auch seine Funktionszuweisung an die Popmusik, –––––––– 117 118 119 120 121 122

Böckelmann 2001. Vgl. Kaiser 2001. Böckelmann 2001. Diederichsen 2001b. Siehe etwa Diederichsen 1983. Diederichsen 1999: 272–286. Diederichsen/Oehlen 1993: 3.

101

die sich nicht wesentlich von Helmut Salzingers Konzeption Anfang der 70er Jahre unterscheidet: Die emotionale und gemeinschaftsstiftende Wirkung der Musik wird in den Dienst emanzipatorischer Projekte gestellt.123 Damit scheint die sich seit Sexbeat abzeichnende Abwendung vom Subversionsparadigma der 80er Jahre und die Rückkehr zum Protestmodell besiegelt, indes distanziert sich Diederichsen weiterhin von einer traditionsmarxistischen Kritik der Warenästhetik: Die von vielen Autoren auf der Suche nach Alternativen zu Markt (und Staat) […] im Flirt mit Metaphysik und Religion gewitterte Möglichkeit, Letztbegründungen und Renitenz zu setzen, gibt es schon und viel besser in von Pop-Musikerlebnissen abgeleiteten Szenen: nämlich ohne Religion und fast ohne Metaphysik. Dies sind […] unformulierte Unterschiede: von jungen oder neuartigen Subjekten »in the making« vorgebracht und gelebt […]. Ein Unterschied, der nichts verkaufen will, mit niemandem diskutieren, aber auch niemanden überzeugen oder ausschließen. Für diese Artikulation von Unterschied eignen sich die unbestimmte Deutlichkeit von Musik und gerade auch die Leere der Ware besonders gut. / Nur so kann andere soziale Organisation anfangen. Leider fällt sie später nur zu oft an Ideologien unmittelbarer Gemeinschaft und andere politische Romantik. Bestenfalls wird sie in Repräsentationsversuche innerhalb einer von kapitalistischen Zwängen vergifteten Demokratie eingetragen: als Protest.124

Abschließend ist auf ähnliche Motivzusammenhänge und Problemkonstellationen bei Rainald Goetz und Botho Strauß einzugehen, um den Diskussionskontext der behandelten Texte von Diederichsen deutlich zu machen. Anders als Diederichsen kehrt Rainald Goetz in der Werkgruppe Heute Morgen nicht zu der Auffassung zurück, die solidarisierende Wirkung von Popmusik habe oppositionellen Bewegungen zu dienen und »andere soziale Organisation« vorzubereiten. Die »unbestimmte Deutlichkeit von Musik« und die davon abhängige unmittelbar körperliche Gemeinschaftserfahrung gelten ihm vielmehr als Selbstzweck. Eine ideologische Instrumentalisierung steht dabei Goetz zufolge nicht zu befürchten, im Gegenteil: Die in Rave und Celebration verherrlichte dionysische Party ist Ausdruck von Entideologisierung und kommt, darin Diederichsens Wunschvorstellung nicht unähnlich, »fast ohne Metaphysik« aus. Goetz interpretiert den politisch-ideologischen ›Differenzschwund‹ der Nachwendejahre als Einlösung der Poputopie. Ironie, Potenzierung und Umkehrung, die Hauptwaffen der um 1980 angetretenen Kohorte, zielen für Goetz auf den Abbau diskursiver und politischer Fronten.125 Mit dem Ende der DDR realisiert sich dieser Wunsch. ›Blockfrei‹ wäre für Goetz eine adäquate Beschreibung des postdualistischen Status quo, wie seine Evokation ekstatischer Erfahrungen im Zusammenhang mit der Techno-Bewegung und der Loveparade zeigt. Anders als Diederichsen und Strauß stützt sich Goetz’ Darstellung von Masseneuphorie auf persönliche Erlebnisse, weshalb er es ablehnt, Kollektiv––––––––

123 124 125

102

Vgl. oben S. 24. Diederichsen 2005a: 16f. Vgl. oben S. 47.

begeisterung generell unter Ideologieverdacht zu stellen. Zwar finden sich in seinen Texten zahlreiche religiöse und kunstmetaphysische Anspielungen, nach Warnungen vor ›politischer Romantik‹ sucht man jedoch vergebens. Der Berliner Massenumzug ist »Jubelhochamt, Kirche der Ununterschiedlichkeit«126 – aber das lustvolle Aufgehen in der Masse ist nicht an einen dauerhaften Individualitätsverlust gebunden. Aus diesem Grund verwehrt sich Goetz im Essay Hard Times, Big Fun vom Juli 1997 dagegen, die Parade in die Nähe totalitärer ›Gleichschaltung‹ zu rücken und mit der NS-Zeit zu assoziieren: Genau, die Kriegsgeneration. Sie hat andere Kollektive gesehen, im Namen der Politik, mitgewirkt, meist wahrscheinlich ziemlich unbegeistert, an Verbrechen, Stumpfsinn, Krieg und Genozid. Wenigstens nie mehr begeistert sein; aufpassen mit so gefährlichen Sachen wie mit ›Idealen‹; ganz was Schlimmes: die sogenannte ›Masse‹.127

Die von Diederichsen benannten Elemente eines positiven Gemeinschaftserlebnisses finden sich bei Goetz wieder, doch wo der eine Inklusion als verlorenes oder zukünftig zu realisierendes Ideal entwirft, kann der andere aus positiven Erfahrungen im Hier und Jetzt schöpfen. Entscheidend ist dabei die Aufhebung sozialer und intellektueller Zugangsschranken. Die Loveparade wird so zum Symbol eines nicht mehr gespaltenen Deutschlands, wo eine riesige, ausgebrannte Staatsruine, die noch vor 5 Minuten 20 Millionen Menschen beherbergt hat, heute da einfach so in der Landschaft herumsteht, schwarz, verlassen, am Fluß. […] Gerade auch dem hat Techno sich völlig unspektakulär und ohne missionarische Hintergedanken geöffnet. Die anfangs noch Nachtleben-typische Sozialmelange machte schon sehr bald einem denkbar weitest-gefächerten Sozialspektrum Platz. Keiner kennt sie nicht: die unglücklichen Kreaturen, all die Mühseligen und Beladenen, die massenhaft Stumpfen, Trostlosen, Kaputten und Verblödeten, die auch mitstapfen dürfen, wie fucking jeder, der will, zu dem einen Beat.128

Für Goetz ändert die Teilnahme am Kollektiverlebnis nichts an seinem Status als intellektueller Außenseiter. Als teilnehmender Beobachter geht er vorübergehend in einer höheren Einheit auf, ohne dabei irgendwelchen ›missionarischen Hintergedanken‹ zum Opfer zu fallen. Doch meidet Goetz den Bezug zur Politik keineswegs. Der emotionale Gleichklang ist ihm ein Sinnbild für die Demokratie: »Manchmal empfindet man wie alle. Das sind für mich glückliche Momente für, ich wiederhole, die Demokratie.«129 Denn »isoliert, dissident, allein und unglücklich bin ich eh, wie jeder andere auch […]. Das kann doch nicht Ziel von

––––––––

126 127 128 129

Goetz 1999a: 217. Goetz 1999b: 209. Hervh. C. R. Goetz 1999a: 221ff. Goetz 1999a: 233.

103

Politik sein.«130 Deswegen sind bei Goetz Begriffe wie ›Kritik‹, die Diederichsen dem ›gesinnungslosen‹ Hedonismus entgegen setzt, negativ besetzt: Der Staatsanwalt, der das Reich einer besseren Welt vertritt, die da dereinst kommen wird, er nennt sich stolz und bitterlich auch heute noch ›Kritik‹ – so wie er zuvor jahrhundertelang ›Glaube‹ geheißen hatte – erhebt Anklage gegen die Parade, gegen ›Spaß‹, gegen ›Glück‹, gegen diesen gigantischen Aufmarsch der ›Affirmation‹, der ›Körper‹, des ›Sex‹.131

Personifiziert in der Figur des Staatsanwalts, nimmt Kritik die Stelle repressiver Institutionen ein. Goetz kehrt den Pophedonismus und die ›gegengegenkulturelle‹ Metakritik am ›kritischen Reflex‹ gegen die neupositionierten Mitstreiter von einst und assoziiert Kritik mit dem negativen Bezugspunkt der postfaschistischen deutschen Linken, dem Staat: Wo keine Front war, wurde mit seltsam bürokratischer Selbstverständlichkeit eine aufgemacht: ›Politik‹. Leute, die im Real-Polit-Jahrzehnt der 80er-Jahre mitgearbeitet hatten an einem hochenergetischen Zerstäubungsprozeß politischer Ideen und Ideale in die reale Welt hinaus, und zwar über das komplizierte Ideen-Verbreitungs-System Pop, – kehrten zurück, immer eine schreckliche Bewegung, zu ihren vergessenen Wurzeln: Kader, Partei, klare Linie, schlechte Laune, lange Haare.132

Wie gezeigt stehen die Zeichen der Zeit für Diederichsen in der Tat eher auf Aggregation als auf ›Zerstäubung‹, doch als Rückfall in den K-GruppenDogmatismus wird man das kaum deuten können. Im Gegensatz zu Goetz’ Einschätzung scheint es eher, als bewege sich Diederichsen in der zweiten Hälfte der 90er Jahre auf eine gemäßigte und pragmatische Position zu. Der radikale Gestus schleift sich ab, und parallel dazu verliert reformistische Kritik ihren Hautgout, wie beispielsweise an der ›sozialdemokratischen‹ Metaphorik in Der Boden der Freundlichkeit (1998) abzulesen ist. Dem »abstrakten Antikapitalismus« der ›Politlinken‹ hält Diederichsen die »gewerkschaftlich orientierte Gegen-Empfehlung« entgegen, »sich doch wenigstens dem eigenen Interesse entsprechend – ›gewerkschaftlich‹ organisiert – optimal ›verwerten‹ zu lassen«.133 Der lange Weg nach Mitte neigt sich seinem Ende zu. Das kaum verhohlene Bekenntnis zur demokratischen Linken nach der Bundestagswahl 2005 markiert den vorläufigen Endpunkt eines langwierigen und verschlungenen Entradikalisierungsprozesses.134 Etwas anders verhält es sich mit Goetz, der die politische Lage Ende der 90er Jahre im Rahmen der auch von Diederichsen verwendeten Denkfigur »minus mal minus ergibt plus«135 reflektiert. Da Goetz am gegengegenkulturellen Muster –––––––– 130 131 132 133 134 135

104

Goetz 1999a: 221. Goetz 1999a: 205. Goetz 1999a: 212. Diederichsen 1998a: 48. Diederichsen 2005c. Diederichsen 1999: 19.

festhält, kann er sich dem generellen Verdikt Diederichsens über demonstrativ ›unkorrekte‹ Sprechweisen nicht anschließen. Ebenso wenig stellt ›Affirmation‹ für ihn ein Tabu dar. Goetz berücksichtigt jedoch die von Diederichsens vorgebrachten Einwände gegen eine Affirmation, welche »die doppelte Negation, minus mal minus ergibt plus, zur Position«136 vollendet. So erkennt er in der Frankfurter Poetikvorlesung an, dass provokative Infragestellung restriktiver Diskursregeln auf Stammtischniveau absinken könne. Gleichwohl reiht er sich unter Skandalautoren der 90er Jahre wie Peter Handke und Botho Strauß ein, die aus Widerwillen gegen den (kritischen) Konsens affirmative Standpunkte bezogen haben und dafür von Seiten der Öffentlichkeit kritisiert worden sind: Ja, das Ja. Faszinierendes Problem in dem Zusammenhang. Politik also. Ein besonders alltäglicher Zugang ist ja, wenn man sich zum Beispiel für Musik interessiert, das tendentiell kollektive Nein des Underground; das darin eingebaute logische Problem einer gemeinsamen Zustimmung zum gemeinsamen Ablehnen. [...] Aus Nein-Trotz, weil man dieses Nein so nicht bejahen will, mit anderen, kommt man auf gefährliches Gelände: in das Reich des Ja. Es ist eigentlich fast ganz egal, was konkret bejaht wird, jedes öffentlich geäußerte Ja hat sofort extrem hohen Nerv-Faktor. Ja zum Leben in der Stille in der Uckermark. Ja zu Techno, Ja zu Serbien. Nächste Haltestelle immer gleich: heim ins Reich.137

Während Diederichsen das Potenzierungsmodell vor allem zur historischen Periodisierung verwendet, dient es bei Goetz eher der Veranschaulichung einer strukturellen, scheinbar paradoxen Problemkonstellation: Auf der Basis von Abgrenzung konstituierte Gruppen sind mit der Frage konfrontiert, wie sie es mit der gemeinsamen Abgrenzung halten wollen und ob dagegen wiederum opponiert werden soll, was durch Affirmation des ursprünglichen negativen Bezugspunkts zu erreichen ist. Dieses klassische Problem der Boheme gründet in der ›grenzenlosen‹, also stets nach dem gleichen negativen Prinzip und rekursiv operierenden »Liebe zum Anderssein«138. In einem gleichgesinnten Umfeld drängt der von »Nein-Trotz« angetriebene Autor »in das Reich des Ja« – und muss sich dafür im Extremfall eine faschistoide Tendenz vorwerfen lassen. Goetz führt das anhand ›inkorrekter‹ Bezeichnungen wie ›Maus‹ (für Frauen) oder ›Schoko‹ (für Schwarze) aus, die automatische Abwehrreaktionen auf Seiten eines aufgeklärten und fortschrittlichen Milieus hervorrufen, das mit besorgten Rückfragen seine Borniertheit unter Beweis stelle. Als überzeugter Anti-Sexist und -Rassist weigert sich Goetz, seine Gesinnung auf Zuruf auszuweisen, »[d]enn wo man politisch steht, steht fest«139. Dem liegt im Gegensatz zu Diederichsens Auffassung die Vorstellung einer nach wie vor hinreichend verlässlichen politischen Unterscheidungsordnung zugrunde, welche die Decodierbarkeit von ––––––––

136 137 138 139

Diederichsen 1999: 19. Goetz 1999b: 334f. Hugo Ball 1946: 50. Goetz 1999b: 332.

105

Provokationsironie garantiert. Allerdings erkennt auch Goetz an, dass sich der Eindeutigkeit verbürgende Kontext partiell aufgelöst habe: Nun sind die Zeiten politisch wirklich härter geworden, und so sehr ich mich auch weigere, den neuen Bierernst der neuen Diskurslinken in aller Bierernsthaftigkeit anzuerkennen, so muß sich doch die eigene Methode Texttrotz genau dieselbe Frage gefallen lassen: ob sie inzwischen vielleicht nicht doch bißchen ZU oft wiederholt worden ist, an diesen bestimmten, speziell sensiblen Stellen, – [...] zu oft, um noch die ursprünglich ganz interessante Frage aufzuwerfen: wie kritisch ist denn der selbstgewiß kritische Gestus des kritischen Durchblickens wirklich und in echt? Und daß also diese Texttrotz-Methode, zugespitzt gesagt, anstelle der Kritik-Subversion plötzlich was wirklich Reaktionäres produzieren würde. Kann das sein? Ja, natürlich.140

Auch bei Botho Strauß kommt die »Texttrotz-Methode« zum Einsatz. Strauß teilt die Meinung, die alten Unterscheidungen seien ins Wanken geraten, und bewertet diesen Vorgang in manchen Punkten ähnlich kritisch wie Diederichsen, während im Verhältnis zu Goetz eher die Unterschiede auffallen. Das Verhältnis von einzelnem und Gesellschaft modellieren Diederichsen, Goetz und Strauß jedoch mithilfe ähnlicher Bilder und Argumentationsfiguren. Auch Strauß greift auf das Bild des Massenumzugs zurück: Die sexuellen Propaganda-Umzüge werben mit einem etwas zopfigen Outfit des Lasters, während sie doch das ganz gewöhnliche Laster sozialer Ansprüche verfolgen. Der Syndikalismus libidinöser Vorlieben. Die Forderungen nach Recht und Billigkeit richten sich weniger gegen ein paar verstockte Puritaner, die heute eher die schützenswerte Minderheit abgäben, als vielmehr an den Staat, den letzten ideellen Gesamtkleinbürger. Die Straße lebt, das Zimmer stirbt. […] Da bleibt als Letztes nur dies Reizgemisch aus Exhibitionismus und stinknormalem Bürgerprotest.141

Offenbar hat Strauß Veranstaltungen wie den Christopher-Street-Day im Sinn, die für Toleranz gegenüber ›abweichender‹ sexueller Neigung werben. Strauß bedient sich exakt der von Goetz kritisierten Beschreibungsweise und ruft Assoziationen mit den Mobilisierungs- und Einschüchterungsmethoden politischer Extremisten (»Propaganda-Umzüge«, ›die Straße lebt‹) hervor. Darüber hinaus entlarvt er den sekundären Konformismus der Protestbewegungen auf ähnliche Weise wie die Popjournalisten der 80er Jahre: »Das Populäre […] pflegt die Idolatrie des Außenseiters, und man kreiert für die Massen die Außenseiter-Konfektion. Gleichzeitig kennt die totale Öffentlichkeit keinen Außenseiter mehr. Sie ist unüberschreitbar und allgegenwärtig.«142 Fluchtpunkt der Überlegung ist eine totale, jede Abweichung einbeziehende Öffentlichkeit. Für Strauß löst der Imperativ, sich von der Lustfeindlichkeit zu emanzipieren, die Ideologie des Lustverzichts ab. »Nein-Trotz« treibt ihn zur doppelten Negation –––––––– 140 141 142

106

Goetz 1999b: 333. Strauß 2004b: 115. Strauß 2004b: 114.

bzw. ins »Reich des Ja« (Goetz): »Ich will mich nicht befreien – außer von allem, was mit dieser verrückten Idee, sich von irgend etwas befreien zu müssen, zusammenhängt.«143 Der vermeintliche Zwangscharakter der Emanzipationsrhetorik motiviert den Vergleich mit totalitärer Herrschaft, doch scheut Strauß die unmittelbare Gleichsetzung und behauptet die »Selbigkeit des Verschiedenen«144 nur im Modus der Ironie: Wär’s dir also lieber, eine uniformierte Schar zöge unter deinem Fenster vorbei, gestiefelt und behelmt? Schlechte Frage, schlechte Bezugsgröße. Aber bleiben wir ironisch und sagen: Meinem Zimmer als Lust- und Lebensraum würde damit ein beträchtlicher Aufschwung gewährt. Dem Karneval des Sozialen bleibe ich verbunden, bin unweigerlich Teil von ihm, die formierte Schar hingegen hat mich nicht und ich sie nicht in mir. Ich wäre meines Unbeteiligtseins ganz sicher. Der Karneval bietet alle erdenklichen Freiheiten und verhindert lediglich die eine: jemals befreit von ihm zu sein.145

›Ironisch‹ gesprochen bestärkt die »uniformierte Schar« den Schreibenden im Gefühl seiner Selbständigkeit, denn von der Konformität der Marschierenden hebt sich seine Individualität ab. Der »Karneval des Sozialen« dagegen lässt keine Absonderung zu, da angesichts seiner Heterogenität das Anderssein des Autors nicht auffällt. Dieser ist »unweigerlich Teil« des Karnevals. Diese Teilhabe affiziert auch die Überzeugungen, die im Rahmen einer pluralistischen Öffentlichkeit mit einer Vielzahl gegensätzlicher Meinungen konfrontiert sind. Ähnlich wie Diederichsen zu Sexbeat-Zeiten sieht Strauß darin die Gefahr einer Nivellierung und Entwertung: Da man es als demokratischer Mensch unzählige Male hinnehmen muß, von irgendeiner Gegenseite überstimmt zu werden, bildet sich auf Dauer eine natürliche Labilität der persönlichen Überzeugung heraus. Nicht nur kann man der Gegenseite immer häufiger ›etwas abgewinnen‹, es regt sich zunehmend auch der Verdacht, daß man den gegnerischen Standpunkt ohne Einbuße an Identität ebensogut selbst vertreten könnte.146

Auch Strauß’ rückblickende Deutung des Kalten Krieges als Garant von Ausgleich und Übersichtlichkeit ähnelt der Einschätzung von Diederichsen: »Wir haben ein uns blendendes Zeitalter hinter uns, Verwöhnte, mit einem Eisernen Vorhang, der in Wahrheit die Goldene Waage war.«147 Die aufschlussreichste Übereinstimmung zwischen Diederichsen, Goetz und Strauß betrifft die Selbstdarstellung als Außenseiter des kulturellen Feldes, deren Abweichung zweiter Stufe, die auf die Popularisierung des Modells ›Kritik‹ in den 60er und 70er Jahren antwortete, sich nun ihrerseits stabilisiert hat. Im Zuge der ––––––––

143 144 145 146 147

Strauß 2004: 95. Luhmann 1995: 38. Strauß 2004b: 115f. Strauß 1999: 119f. Strauß 1999: 91.

107

Reflexion auf diese Entwicklung erkennen die Autoren ihre Determination durch den wechselnden Zeitgeist und problematisieren ihr obsessives antizyklisches Verhalten, doch nur Strauß beansprucht, den Zwang, ›wider den Stachel zu löcken‹, überwunden zu haben: Dabei ist meine Geschichte die eines Bedürfnislosen, der mit ein bißchen Wein und seiner Katze den Abend allein verbringt […]. Dem es wohl ansteht, freundlich zu sein […]. Er hat seiner Ausdauer, seiner natürlichen Anlage, zu harren, zu wohnen, zu säumen, den idealen Raum verschafft. Einen Raum, wo es nichts Kurzatmiges gibt und wo ihm keine abrupten Äußerungen mehr abverlangt werden. Kein Klappern in den Pappelblättern, das noch zum Handwerk gehörte. Völlige Freiheit vom Holterdiepolter. Und auch die Übung, wider den Stachel zu löcken, gegen den Strom zu schwimmen, gehört nun nicht mehr zur täglichen Ertüchtigung. Der eigne Wille (oder nur: der Eigensinn) scheint endlich unabhängig von Stachel und Strom.148

Strauß zielt auf ein Problem, das Diederichsen als »Verurteiltsein zum Taktischen« bezeichnet: Noch die Negation der vorherrschenden Meinung ist durch diese fremdbestimmt, das ist der »Preis der ›absoluten Zeitgenossenschaft‹«.149 Dass die Selbstbeschreibung als Eremit, der sich vom eigenen Widerspruchsgeist emanzipiert hat, illusionär ist, zeigt sich daran, dass Strauß es sich nicht nehmen hat lassen, angesichts des 11. Septembers einmal mehr am »Klappern in den Pappelblättern« teilzunehmen. Strauß deutet die Terrorakte jedoch nicht als Antwort auf die »Flehgebärde ums Ende«, die er lange vorher zu erkennen meinte, nicht als »Blitz«, der dem ›hermetischen Spiel‹ dazwischenfährt und die ›wohlstandsverwöhnte‹ Mediengesellschaft zur Umkehr bewegt.150 Er sieht sich durch die rasche Rückkehr zur Normalität nach den Anschlägen vielmehr in seiner Diagnose bestätigt: »Der Schlag schreckte kurz den Hedonisten auf – er verdrückte kurz die sprichwörtlichen Krokodilstränen und sank in das Seine zurück. Lust auf Metanoia?«151 Die Medienphrase, nichts werde mehr sein, wie es war, und die raunenden Beschwörungen einer Zeitenwende ziehen Strauß zufolge keine Konsequenzen nach sich. Der Aufruf zur Umkehr – ›Metanoia‹ (wörtlich: ›Sinnesänderung‹), eine tiefgreifende Änderung der Weltanschauung und Lebensweise in Folge einer Krise – bleibt ein Lippenbekenntnis, das den Schriftsteller nicht zufrieden stellen kann: »Denn nichts mehr wird sein, wie es war ... Das möchte man erleben.«152

––––––––

148 149 150 151 152

108

Strauß 2004b: 80. Diederichsen 2000a: VII. Strauß 2004a: 98. Strauß 2001. Strauß 2001.

5.4 Grenzen der Machbarkeit Nach den Schwerpunkten Kunst und Politik sind nun Konzepte personaler Identität zu besprechen, wobei an die Ausführungen im letzten Kapitel angeschlossen werden kann. Dort wurde die poptypische Prämierung eines postmodernen psychischen Selbstmanagements erläutert und gezeigt, dass die behandelten Autoren souverän gehandhabte soziale Rollendistanz im Bild- und Begriffsfeld der Ironie beschreiben. Diese Euphorie erschöpft sich bald, und damit verflüchtigt sich auch der aggressive Anti-Authentizismus des frühen Popdiskurses. Diederichsen reflektiert die Unzulänglichkeit des postmodernen Psycho-Vokabulars und zieht im OehlenKatalog Oppositionen in Zweifel, die elementar für eine Verständigung über die Bedingungen und Modi personaler Selbstverhältnisse zu sein scheinen: Man fragt sich, was schlimmer ist, Leute, die behaupten an Persönlichkeitsspaltung zu leiden, Leute, die behaupten Persönlichkeitsspannung als Spannung zu genießen oder Leute, die Persönlichkeitsspannung therapieren wollen. Vorstellungen wie Harmonie und Dissonanz sind schwer zu besiegende Ausprägungen der Schreckensherrschaft der müden Mühle.153

Die Ablehnung richtet sich gleichermaßen gegen das überkommene Konsistenzideal einer harmonischen, im Zweifelsfall psychotherapeutisch herzustellenden Einheit mit sich selbst, zum andern gegen die im Rahmen postmoderner Subjektdiskurse glorifizierte Lust am Auseinanderklaffen von Überzeugung und Handeln. Die zugrunde liegende Opposition »Harmonie«/»Dissonanz« ist als konventionalisiertes, normierendes und scheinbar alternativloses Denkmodell Teil der ›schwer zu besiegenden Schreckensherrschaft der müden Mühle‹. Der literarischuneigentliche Rahmen erlaubt es, beide Seiten der Opposition ersatzlos zu verwerfen. Dieser Extremposition steht im Popdiskurs der 90er Jahre eine Kritik an Identitätskonzepten gegenüber, wie sie Holert und Terkessidis in Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft (1996) formulieren. Im Vorwort wird die Unterscheidung zwischen ›Manager-Ich‹ und kontingenten Ich-Rollen aufgegriffen, doch anders als zur Hochzeit des Postmodernediskurses begreifen Holert und Terkessidis dieses ›Manager-Ich‹ nicht mehr unter emanzipatorischem Vorzeichen, sondern als Einfalltor gesellschaftlicher Fremdbestimmung.154 Das ›Herrscher-Ich‹ überwacht die Einhaltung gesellschaftlicher Normen wie Jugendlichkeit: »Und so wurde Jugend zu einem Instrument der ständigen Kontrolle: Sehe ich noch gut genug aus? Bin ich noch beweglich genug? Bin ich noch nicht zu alt für meinen Job? Habe ich diese Tapete nicht schon seit Jahren?«155 –––––––– 153 154 155

Diederichsen/Oehlen 1993: 3. Vgl. oben S. 10. Holert/Terkessidis 1996: 16.

109

Holert und Terkessidis heben auf einen Funktionswandel der hedonistischen und flexiblen Lebensweise ab, die ihren Gegenhalt in einer Moral des Verzichts, der Wohlanständigkeit und der Beständigkeit verloren hat und nun vom herrschenden Neoliberalismus vereinnahmt wird: ›Pop in der Kontrollgesellschaft‹ ist Bestandteil eines Normsystems, das den Menschen nicht als äußerliche und fremde Macht gegenübertritt, sondern sich als verlängerter Arm der Gesellschaft in den Subjekten deren Narzissmus zunutze macht. Während der traditionelle moderne Subjektdiskurs die Aufspaltung in beobachtendes und beobachtetes Ich als Emanzipationsleistung und Zeichen von Souveränität würdigte, erscheint das Beobachter-Ich aus der Sicht postmoderner Popkritiker als Vollstrecker gesellschaftlicher Imperative wie Fitness, emotionale Ungebundenheit und Mobilität. Damit ändert sich auch die Einschätzung »existentielle[r] Ironie«156 als Rollendistanz. War um 1980 das »Andersseinkönnen«157 des Subjektes emphatisch als Freiheitsgewinn verstanden worden, so kritisieren Diederichsen und Holert und Terkessidis nun ein ›Andersseinmüssen‹. Mit den Selbstverwirklichungsprogrammen der Illustrierten und Talk-Shows tritt ein banaler ›Tapetenwechsel‹ an die Stelle einer »fortgehende[n] Kette der ungeheuersten Revolutionen«158. Rainald Goetz, der sich um 1980 zur ›Arbeit am Selbst‹ (»Der Körper wird nach dem Hirn geformt«159) bekannte, reflektiert diesen Verfall im Zusammenhang mit der zweiten Big Brother-Staffel: Neulich war er [Zlatko] in der zweiten Staffel zu Besuch. Da hat sich gezeigt, wie so jemand mit 24 in einem halben Jahr ein neuer Mensch wird, vom Depp mit Charakter zum Star. Auch im Vergleich zu dem sogenannten Harry, der da für die Prollrolle gecastet war, der reaktionäre Langhaarbiker mit Gitarre, ein widerlicher Fleischberg und Vollidiot und Grapscher. Allein wie der isst, das war so unfassbar eklig bei dem alles, wie so einer sich körperlich gehen läßt, völlig selbstgefällig. Zlatko dagegen: rumdumrasiert, Körperkultfreak, der hat sich jetzt schon Fett absaugen lassen, gehungert, der arbeitet an sich. Der will es echt wissen.160

Diäten, Ganzkörperenthaarung und plastische Chirurgie aus ästhetischen Gründen sind Eingriffe in die ›Natur‹, die mit dem Aufstieg der »kalifornischen Ideologie« (SB XXVI) des Körperkults und Fitnesswahns zunehmend an Akzeptanz gewinnen. Die Antithese zu Zlatko, der in kurzer Zeit zum ›neuen Menschen‹ und »Star« avanciert, bildet der ›triebgesteuerte‹, sein Äußeres »selbstgefällig« hinnehmende »reaktionäre Langhaarbiker« Harry. Er verkörpert das veraltete Ideal der Selbstakzeptanz, während Zlatkos Optimierungsprogramm den zweifelhaften Erfolg der postmodernen Machbarkeitsideologie dokumentiert.

–––––––– 156 157 158 159 160

110

Diederichsen 1999: 37. Oesterreich 1990: 140. Schlegel 1967: 255. Goetz 1986: 83. Goetz 2001: 194.

Ein Beispiel für die Kollision von Machbarkeitsbehauptung und Realität liefert Jürgen Teipel im Vorwort zu Verschwende deine Jugend. Teipels oben dargestellter Identitätswechsel im Zusammenhang mit seinem Einstieg in die Punkszene erweist sich im Nachhinein als weniger tief greifend denn vermutet.161 Den im Zuge der Recherchen für seinen ›Doku-Roman‹ aufgesuchten ehemaligen Bekannten geht es ebenso: »[S]ie alle konnten, genau wie ich, ihre alte Identität nie ganz abstreifen. Man war nicht zu dem neuen Menschen geworden, für den man sich gerne ausgab.«162 »Alle hatten inzwischen erfahren, dass man eben nicht abwischbar war.«163 Die Charakterstruktur überdauert den Bruch mit der bürgerlichen Identität. Teipels Einsicht in die Grenzen der ›Selbsterfindung‹ steht im größeren Kontext popskeptischer Kommentare zur Lebensuntauglichkeit des in Zeitschriften wie Spex tradierten Weltbilds und zu den damit vorprogrammierten Krisenerfahrungen. Bei Oliver Fuchs wird die ›Popkrise‹ zum Bestandteil eines Sozialisationsnarrativs. Aus Anlass von »Fünfzig Jahre[n] Rock’n’Roll« berichtet der Journalist von seiner Wehrpflicht, während der er von Unteroffizieren zusammengebrüllt [wird]. Dass er ›ironisch‹ zur Bundeswehr gegangen ist, in der Hoffnung, das System ›subversiv‹ auszuhöhlen, durch ›affirmative Übercodierung‹ – dieser Plan hilft ihm jetzt nicht weiter. Er verflucht die Musikzeitschrift, die ihm diese Strategien eingetrichtert hat. Der junge Mann macht eine sehr harte Zeit durch. Die erste Lebenskrise. Die erste Pop-Krise. In so einer Situation erliegt man leicht der Verführungskraft jener anderen großen, dunklen Macht: des Rock.164

Die ironische Bejahung schlechter Konventionen zum Zweck ihrer Zersetzung erweist sich als folgenlos. Wie Diederichsen in Sexbeat muss Fuchs erkennen, dass der »Subversions-Überbau […] ziemlich aus der Luft gegriffen« (SB 129) ist, und gerät damit in die Einflusszone des entgegengesetzten Pols ›Rock‹, mithin des ›authentizistischen‹ Ideals der Übereinstimmung von Überzeugung und Verhalten. Musikjournalisten wie Diederichsen, die Fuchs »diese Strategien eingetrichtert« haben, sind unterdessen in einen hermetischen akademischen Diskurs abgedriftet, den Fuchs anlässlich einer Pop-Tagung in Tutzing spöttisch kommentiert: Er [Diederichsen] zeigte eindrucksvoll, wie man einen Gedanken drei Mal über Bande spielt und um zehn Ecken herumdenkt, um schließlich – die ›Mille Platteaux‹ lassen grüßen – auf der tausendsten Meta-Ebene zu landen. […] Wer ihm […] zuhörte, konnte kaum glauben, daß Diederichsen früher auch Kurz-Kritiken in der Spex schrieb, oft sogar lustige. […] ›DD‹, so stand es kürzlich im AutorenbiographieKästchen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, »ist Professor in Stuttgart«. / Treffender kann man es nicht ausdrücken.165

–––––––– 161 162 163 164 165

Siehe oben S. 61. Teipel 2001: 7. Teipel 2001: 8. Fuchs 2004. Fuchs 2001.

111

Dem bei Fuchs verwendeten Handlungsmuster der Popkrise folgt auch Diederichsens autobiographischer Rückblick im zweiten Vorwort zu 2000 Schallplatten (2000). Er zieht hier folgendes Resümee: »Reine Nicht-Authentizität läßt sich nicht wirklich leben.«166 Freilich ist der ›Held‹ solcher Geschichten bei Diederichsen nicht nur ein Individuum, sondern ein kollektives ›Generationssubjekt‹, das einen negativen Bildungsprozess durchläuft: Die »selbst erfundene«, »offensiv-künstliche« Figur der frühen 80er zerbröselte in zwei Teile: einen nur noch bunt kostümierten, schrillen Vogel, der gerade schräg genug war, um als Produkt wie als Kunst erkannt zu werden, und eine zähe IchSubstanz, die nach und nach alles zurücknehmend wieder ängstlich normal wurde.167

Im Zuge dieses Zerfallsprozesses lösen sich konstruierte Persona und »zähe IchSubstanz« von einander ab. Übrig bleibt erstens ein »schriller Vogel«, dessen Anormalität (›Schrägheit‹) durch den Kunstvorbehalt entschärft ist, und zweitens das aufs Normalmaß zurechtgestutzte, ›kontrollgesellschaftlich‹ vereinnahmte Subjekt ›hinter der Maske‹: Natürlich erwies sich diese Konstruktion [...] bald als kompatibel mit einem neuen Konkurrenz-Individualismus […]. Natürlich hatte am Ende nur noch der Markt Recht. Alle abstrakten, von ihren historischen Rahmenbedingungen abgelösten HabitusNovitäten der frühen 80er (Apodiktik, Schrillness, demonstrative Unkorrektheit etc.) wurden im Laufe der 80er und erst recht in den 90ern als Design-Elemente nicht nur marktförmiger, sondern verkamen zu auch inhaltlich abstoßenden und überaus sichtbaren Teilen der Raab/Schmidt/Kracht-Massenkultur.168

Ausgehend von diesem Dekadenzbefund unterzieht Diederichsen im Vorwort zu Sexbeat (2002) das Selbstkonstruktionsprogramm einer Revision und kritisiert, die Machbarkeitsbehauptung sei um 1980 nicht radikal genug vertreten worden. Frauen beispielsweise habe man keine zeichenhafte und artifizielle Identität zugestanden, sondern sie aus naturalisierender Perspektive verdinglicht. »Insofern beginnt hier der Part, wo ich anfangen muß, mich für ›Sexbeat‹ zu entschuldigen« (SB XVII ). Es könne nämlich nicht nur darum gehen […], die eigene Programmierung, die generationstypische kulturelle Verfaßtheit als künstlich, zitiert, klischeehaft und daher manipulierbar zu verstehen, sondern eben erst recht das in Frage zu stellen, was man von den anderen […] zu wissen glaubte. Bis zur Hälfte gehe ich in »Sexbeat« ja diesen Weg: Ich beschreibe alle Subjekttypen und -positionen, die mir begegnen, als ihre eigenen Klischees und als im Kampf damit beschäftigt. Doch traue ich dann wieder nur bestimmten Typen zu, allen voraus eben mir und meinesgleichen, in diesem Kampf und Gemache mit der eigenen Zitiertheit produktiv zu werden, zu Ergebnissen vorzustoßen. Die anderen, darunter die Frauen und Mädchen, sind

–––––––– 166 167 168

112

Diederichsen 2000a: V. Diederichsen 2000a: VII. Diederichsen 2000a: V.

plötzlich ganz stabil ›Welt‹. Und die sie betreffenden Zeichen scheinen auf direktem Wege einen ganz natürlich zugehörigen, eben ihren Gegenstand zu finden. (SB XXII)

Die unreflektierte Übernahme konventioneller Geschlechterstereotypen soll nun durch eine nachträgliche Beschreibung ›natürlicher‹ Sexualität als kulturell codiert und variabel aufgeklärt werden: »Nichts ist uneigentlicher als Sex, nur die Hardware, auf der das Programm läuft, der Körper und die Schichten des Psychischen und des Unbewußten, die die Verbindung halten, sind schwer zu hacken« (SB XVII). Im selben Zusammenhang kritisiert Diederichsen die binäre ontologische Basis der poptypischen Schauspielmetaphorik: [D]ie Maske ist eine Idee, die immer noch ein heiles, normales und alt-authentisches Subjekt voraussetzt. Es maskiert sich, um heil zu bleiben, um einmal mehr – womöglich noch ungehinderter – souverän zu sein. Es attackiert nicht den unmarkierten Kern seiner Subjektivität, seine Normalität. Natürlich haßten wir auch damals schon den konventionellen Clown oder den am Schluß seiner Performance die Perücke vom Kopf reißenden Transvestiten, aber die Gegenentwürfe unserer Generation waren nur so weit gekommen, die Darstellung bereits fertiger, klassifizierter Rollen zugunsten von atemberaubender Ambivalenz zu verweigern. (SB XVIII)

An diesem Zwei-Stufen-Modell der Wirklichkeit, das dem in Anlehnung an Stars wie David Bowie entwickelten Simulationskonzept zugrunde liegt, kritisiert Diederichsen die Bestätigung der Natürlichkeit und Souveränität des ›Schauspielers‹ durch eine eindeutig als Rolle markierte, fiktionale Identität. Ihm zufolge camoufliert die offensichtliche Verkleidung die Tatsache der kulturellen Konstruiertheit des Darstellers. Dieser ontologisiert sein Sosein und entzieht sich der Kritik. Es soll nun ein Blick auf autobiographische Passagen im Vorwort zu Sexbeat (2002) geworfen werden, die auf paradigmatischen Oppositionen wie Pop/Rock, Ironie/Authentizität oder Gegengegenkultur/Gegenkultur basieren. Biographie gestaltet sich dabei als Oszillation zwischen diesen Polen. Diederichsen stellt seine Biographie als eine Reihe von weltanschaulichen Kehrtwenden dar, die durchaus mit einer Entwicklung und ›dialektischen‹ Anreicherung einhergehen, aber nicht zu einem Zielpunkt führen, in dem alle Entwicklungsstationen ›aufgehoben‹ wären. In einem spiralförmigen Prozess durchläuft der Held vielmehr die gleichen Pole auf jeweils höherer Stufe. Ursache dieses aufsteigenden Zickzackkurses ist die zeitgeschichtliche Konstellation, die während der Jugend des Protagonisten vorlag. Er wird in der Umbruchsphase der 70er Jahre sozialisiert, als Fortschrittsglaube und postmoderne Fortschrittsskepsis miteinander konkurrieren. Aus diesem Grund ist noch seine emphatische Abkehr vom Progressionsmodell diesem verpflichtet: Was ich damals als »Befreiung vom kategorischen Imperativ des Weiter« feiere, fühlt sich dennoch als nächste Stufe und steht daher noch ganz und gar unter genau diesem Befehl, gefälligst nicht nutzlos in der Geschichte rumzustehen, sondern sich an die Front zu verfügen, wo die neuen Sachen stattfinden. Weiter! Atemlos keucht der Band vor lauter Anti-Heroismus, der auch nur von Helden erzählen will. Das mag daran

113

liegen, daß den Ich-Erzähler wirklich noch beide Seiten der Zeitenwende geprägt haben, daß er das Gefühl einst ebenso begehrte, die Haare lang wachsen zu lassen, wie sie sich plötzlich und mit grandioser Geste abzurasieren – was er dann auch tatsächlich seitdem in fünfjährigen Zyklen wie ein Sklave seiner Jugend wiederholt: Haare lang, Haare kurz, Haare lang, Haare kurz. John Lennon, Lou Reed, John Lennon, Lou Reed. (SB XI)

Die Denksysteme, deren Austausch in den 70er Jahren die biographische Oszillation begründet, werden metonymisch repräsentiert: Der für den Weltfrieden kämpfende, langhaarige John Lennon verkörpert das gegenkulturelle Solidaritätsideal und die Negation der bürgerlichen Gesellschaft, während der kurzhaarige, ›coole‹ Lou Reed für Weltverachtung und gegengegenkulturelle, potenzierte Negation steht. Das lange Haar ist als antinormalistisches Statement Ausdruck von linkem Protest und Glauben an eine bessere Welt. Kurze Haare signalisieren Utopieskepsis und eine höherstufige, ethisch fragwürdige ›ultrabohemistische‹ Abweichung vom Mainstream. Die Konversionen des Protagonisten gehen jeweils mit einer ›grandiosen Geste‹ einher, die den Einstellungswechsel überhöht und an sich ein Objekt des ›Begehrens‹ darstellt. Als zyklisches Ritual verleiht sie der Biographie eine sinnhafte Form. Darüber hinaus hat sie Zwangscharakter und spiegelt die bipolare Prägung des Helden wider, der zum ›Sklaven seiner Jugend‹ wird. Nimmt man die zwei Jahre früher formulierte Idee des »Verurteiltsein[s] zum Taktischen« hinzu, das als »Preis der ›absoluten Zeitgenossenschaft‹« zu zahlen sei, kommt eine weitere Determinante des intellektuellen Zickzackkurses in den Blick:169 Die Kehrtwenden korrelieren mit dem jeweiligen Stand der öffentlichen Meinung. Der euphorische Postmodernismus der frühen 80er Jahre negiert moderne Fortschrittsgläubigkeit, der rigoristische Kritizismus der mittleren 90er Jahre richtet sich gegen ein politisches ›Anything Goes‹. Diese Negativdeterminierung durch den Zeitgeist reflektierend, stellt Diederichsen beide Paradigmen in Frage und sucht nach Alternativen. So etwa 2005 im Artikel Ein anderer werden170, in dem Diederichsen seine Vorstellung von einem »perfekten Tag«171 im Rückgriff auf drei Popsongs darlegt: Holiday von der frühen Madonna, It Was A Good Day des Rappers Ice Cube und Lou Reeds Perfect Day vom Album Transformer. In Holiday ist Glück an Freizeit geknüpft. Urlaub steht als geregelte Ausnahme vom Arbeitsalltag für zeitlich begrenzte Sorglosigkeit. In eine ähnliche Richtung deutet Ice Cubes Song. An einem ›good day‹ gibt es ausnahmsweise keine Gewaltopfer im schwarzen Ghetto. Hier wie dort verdankt sich das Glück, wie Diederichsen ausführt, einer Unterbrechung der schlechten Normalität. Dagegen schildert Lou Reed in Perfect Day einen vergleichsweise gewöhnlichen Tag: –––––––– 169 170 171

114

Diederichsen 2000a: VII. Diederichsen 2005f. Diederichsen 2005f.

Just a perfect day, / Drink Sangria in the park, / And then later, when it gets dark, / We go home. / Just a perfect day, / Feed animals in the zoo. / Then later, a movie, too, / And then home. // Oh it’s such a perfect day […] // Just a perfect day, / Problems all left alone, / Weekenders on our own. / It’s such fun. / Just a perfect day, / You made me forget myself. / I thought I was someone else, / Someone good.172

Dieser »Bruch mit der Logik der glücklichen Ausnahme«173 besteht darin, dass – wenn auch im Rahmen einer Liebesgeschichte – alltägliche Freuden wie ein Spaziergang im Park besungen werden. Anders als in den Songs von Velvet Underground oder den übrigen Stücken auf Transformer, die eine transgressive, antibürgerliche und radikal-hedonistische Stoßrichtung aufweisen und Ausbrüche »in die andere, die befreiende, weitende Richtung«174 evozieren, folgt Lou Reed in Perfect Day einer ›ultrabohemistischen‹ Logik und kommt durch rekursive Negation schließlich wieder bei der Biederkeit des Bürgers an, von der er sich ursprünglich distanziert hat. Reed besingt das »Glück einer spießig normalen Ausnahme von einer andauernden und längst zu Ende gelebten Libertinage. Es muß Middle-Brow sein, denn es ist Urlaub von der Bohème. Slumming bei der Mittelschicht«.175 Nur auf diese Weise, so Diederichsen, kann das Ich, für das die Grenzüberschreitungen des Underground reizlos geworden sind, »someone else« werden. Die Interpretation bildet die Struktur gegengegenkultureller Negation ab. Im Kontext des biographischen Oszillationsmodells wäre damit freilich nur eine ›grandiose Geste‹ vollzogen, die als Windung der Spirale eine Konversion in Richtung Pop, Ironie und Flexibilität einleitet: »Doch wenn man das Glück der Neuerfindung wirklich ernst nimmt, dann muß man bereit sein, sich voller Courage als das neu zu erfinden, was keine weitere Wandlung mehr zuläßt: Als Sonntagsspaziergeher.« 176 Potenzierter Antinormalismus mündet hier in einen dauerhaften und ›authentischen‹ Zustand, den Diederichsen nicht weiter bewertet. Gegen Ende zu kommt er auf das Thema Perfektion zurück. »Perfekt sind Einstellungen in Filmen und Sätze in Texten. Noch perfekter sind Waren und Neurosen. Wer so das Leben will, will womöglich was anderes. Und kriegt die falsche Alternative von Flexibilität und Authentizität zur Sangria serviert.« 177 Sowohl die einfache und befreiende Grenzüberschreitung des Bohemiens, die potenzierte Transgression des ›Ultrabohemiens‹ als auch die Konversion zum authentischen Spaziergänger sind gleichermaßen problematische, durch die »falsche Alternative von Flexibilität und Authentizität« eingeschränkte Optionen. Erst jenseits davon scheint »womöglich

––––––––

172 173 174 175 176 177

Lou Reed: Transformer, RCA 1972. Diederichsen 2005f. Diederichsen 2005f. Diederichsen 2005f. Diederichsen 2005f. Diederichsen 2005f.

115

was anderes« auf. Der Text endet mithin, ähnlich wie Für eine Gesellschaft ohne Knäste, mit dem Ausblick auf eine Leerstelle.

5.5 »Wege aus der Ironiefalle«? Eine der prononciertesten Stellungnahmen gegen den ironischen Zeitgeist ist Diedrich Diederichsens Vortrag Die Leude woll’n, daß was passiert. Wege aus der Ironiefalle: Für eine Wiedergeburt des Politischen aus dem Ungeist der Freizeitkultur. Gehalten im Oktober 2000 auf einem Kongress zum Thema »Zerstreute Öffentlichkeiten«178, bündelt der Text bekannte zeitkritische Motive mit Hilfe des Ironiebegriffs. Anders als in den Vorworten zu 2000 Schallplatten und Sexbeat wählt Diederichsen keinen autobiographischen Ausgangspunkt, sondern setzt beim Utopieverlust seit der Wiedervereinigung und der damit einhergehenden Diskreditierung gesellschaftskritischer Positionen und kollektiver Sinnentwürfe an. Um den vorherrschenden Fatalismus zu attackieren, schlüpft er in die Rolle eines zeittypischen Intellektuellen: Das auch zur Zustimmung eingesetzte, noch von Einfluß, Überzeugung und Verantwortung eingesetzte Vokabular ist, das weiß ich längst, völlig unangemessen für die heutigen, längst entschiedenen geschichtlichen Abläufe. [...] [N]ur noch das ironische Einverständnis in das, was ohnehin geschieht, läßt sich formulieren – als ein eben nicht komplettes Einverständnis.179

Aus Angst davor, für gestrig erklärt zu werden, kann der repräsentative Intellektuelle seine Aversion gegen den Kapitalismus nicht in eine dezidierte Haltung überführen, sondern begnügt sich mit einer unverbindlichen Reserve. Diederichsen sieht darin das Verfallsprodukt einer nicht-affirmativen ironischen Mentalität und nimmt eine historische Differenzierung verschiedener Stadien des Niedergangs vor. Wenn ich vor vierzig Jahren einem Anhänger des politischen Status quo gesagt hätte, ich würde ein sozialistisches System einem kapitalistischen vorziehen, so hätte man versucht mich vom Gegenteil zu überzeugen, messianisch oder aggressiv: Sozialismus sei Barbarei, Unfreiheit oder – geh doch nach drüben! Vor zwanzig Jahren hätte man begonnen, mich zu belächeln, Sozialismus sei doch eine unterkomplexe Idee, außerdem totalitär und funktioniere auch nicht. Heute würde der Betreffende mich zwar auch nur ungläubig anlächeln, aber dann hinzufügen, daß er persönlich an den Kapitalismus auch nicht glauben könne, er sei nur unvermeidlich.180

Im zweiten Szenario, also etwa um 1980, wird der bekennende Sozialist ›belächelt‹, im dritten verliert seine Utopie ihre Überzeugungskraft komplett. Die unbestimmte Abneigung gegen die bestehende Gesellschaftsordnung kann sich nun –––––––– 178 179 180

116

Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c.

nicht mehr auf eine politische Alternative stützen: »Es ist alles entschieden, und ich mag das nicht, aber wenigstens kann ich über die lächeln, die noch nicht einmal das wissen.«181 Diese zeitgenössische Ironie ist für Diederichsen Folge und Faktor einer zunehmenden Entkopplung von Politik und Kultur, der er die enge Verknüpfung beider Bereiche in der Gegenkultur der späten 60er Jahre entgegenhält. Ironisch ist der dominierende Intellektuellentypus nur im Verhältnis zur Politik. In Bezug auf Privatleben, Freizeitaktivitäten, Kunst, Sport usw. legt er eine ›authentizistische‹ Mentalität an den Tag, die auf Selbstverwirklichung, Ganzheitlichkeit und Intensität zielt und das Erbe nonkonformistischer Subkulturen um dessen politischen und sozialen Allgemeinheitsanspruch verkürzt. Diese Trennung von Privatleben und Öffentlichkeit widerruft den 68er-Wahlspruch, das Private sei politisch: Meine Emotionen sollen [...] wieder mir und meinem Selbstmanagement gehören. Das allein schon deshalb, weil sie da immer hingehört haben und erst von einer durchgeknallten Achtundsechziger-Kultur von ihrem angestammten Platz – Liebe, Familie, Naturerlebnis und Kunsterschütterung – entführt und politisiert worden sind. 182

Um diese zeitgenössische Mentalität zu beschreiben, analysiert und kombiniert Diederichsen verschiedene Ironiebegriffe. »Ironie I«, »die landläufige«, ist synonym mit rhetorischer Inversionsironie, die nur aus »aus taktischen Gründen« als Mittel von Herrschaftskritik sowie zur Umgehung von Zensur legitim, ansonsten aber ›unehrlich‹ und ›langweilig‹ ist.183 »Ironie II« schließt an Richard Rortys Weiterführung romantisch-idealistischer Konzepte des Relativismus und Perspektivismus an und entspricht einer skeptischen, nominalistischen und antiessentialistischen Haltung gegenüber aktuell verwendeten philosophischen und politischen ›Vokabularen‹.184 Diederichsen zufolge ist sie grundsätzlich optimistischer Natur, da sie Zweifel stets im Hinblick auf zukünftige bessere Vokabulare artikuliert, wobei er offenbar gesellschaftskritische Theorien vor Augen hat. ›Ironie II‹ überschneidet sich demnach mit dem Konzept einer »Sprache des Pop«, die dogmatische Verhärtungen kritischer Positionen auflöst und diesen Positionen dennoch verbunden bleibt. »Ironie III« schließlich ist »die böse Synthese aus I und II«.185 Wie die Rortysche Relativitätsironie stellt sie die Einseitigkeit und Vorläufigkeit jeglicher Beschreibung heraus, ohne jedoch Alternativen vorzusehen. Im Rahmen dieser nicht dem Inversionsmodell folgenden Variante distanzieren sich Sprecher graduell von ihrer gesellschaftlich affirmativen Haltung. Dies umschreibt Diederichsen wie folgt: –––––––– 181 182 183 184 185

Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Rorty 1999. Dazu oben S. 11. Diederichsen 2000c.

117

[S]chon genau das meinen, was man sagt, aber nicht ganz so ernst. Dies nun aber gerade nicht aus Anerkennung der Unabschließbarkeit und Nichtendgültigkeit des eigenen Vokabulars, sondern im Gegenteil aus Resignation vor gerade der Endgültigkeit und Abgeschlossenheit der Unmöglichkeit jedes politischen Handelns, das sich noch auf Werte jenseits der Ökonomie beruft.186

Diederichsen konstatiert eine allgemeine »Müdigkeit von den Ausdrucksformen und Spaltungen der Ironiekultur«. ›Negativ fixierte‹ Gegenreaktionen wie »Pathos«, »Empörung, Betroffenheit und Trauer« versprechen ihm zufolge jedoch keine Abhilfe, weil sie eine »emotionale[] Zuständigkeit« implizieren, »die von ihrer alltäglich erfahrenen politischen Machtlosigkeit ständig dementiert wird«.187 Unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen müsse eine affektive und idealistische Haltung gegenüber öffentlichen Angelegenheiten zwangsläufig enttäuscht werden, die »Lächerlichkeit des Gutmenschentums« stecke »allen Betroffenen noch in den Knochen«.188 Die vor solchem Enttäuschungsrisiko schützende Leidenschaftslosigkeit – unschwer ist hier die ›Versicherung‹ gegen die ›Peinlichkeit des echten Anliegens‹ im Kontext der »Sprache des Pop« wieder zu erkennen – verselbständigt sich nach Diederichsen jedoch, so dass sich ein Großteil der Intellektuellen einer »kalten Ironie« überlässt, »Nachfolger der alten Rede vom schmutzigen Geschäft«189 der Politik. In diesem Zusammenhang problematisiert Diederichsen das Paradigma Ironie/Authentizität, das die Diskussionen über Politik und Ironie unnötig einschränke, indem es als Alternative zur politischen Teilnahmslosigkeit nur das enttäuschungsanfällige ›authentische‹ öffentliche Engagement zulasse.190 Darüber hinaus führt Diederichsen einen sozialen Unterschied ein und komplettiert so das Gesellschaftsporträt. Im Gegensatz zur gebildeten Mittelschicht, die über die mentale ›Spaltungskompetenz‹ verfügt, privaten ›Authentizismus‹ und öffentliche Leidenschaftslosigkeit zu vereinbaren, befindet sich die Unterschicht im Griff eines durch Realityshows wie Big Brother (Motto: »Leb so, wie du wirklich bist!«191) gestützten Authentizitätsregimes, das in jeder Hinsicht Eigentlichkeit und Aufrichtigkeit fordert. Die »da unten« glauben zwar »noch in einem heißen Sinne an Authentizität«; was sie auf dieser Basis an Überzeugungen in die Öffentlichkeit einbringen können, ist jedoch einem konservativen bis reaktionären Weltbild verpflichtet:192 »[D]as ›offene‹ Reden über Sex in der Massenkultur hat nur den Stammtisch verstärkt, nicht seine Homophobie oder seinen Sexismus aufgelöst.«193 Der Authentizismus der Unterschicht funktioniert –––––––– 186 187 188 189 190 191 192 193

118

Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Vgl. oben S. 47. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c.

nur auf konformistischer Basis: »Authentizist darf man nur sein, wenn man eben nur das sein will, was sowieso alle sind, nur eben ein bißchen authentischer.«194 Die sozial Privilegierten verzichten demnach auf eine Harmonisierung des Öffentlichen und des Privaten, weil ihre ›wahren‹ Überzeugungen noch von einem gegenkulturellen Ethos geprägt sind, das angesichts der Verhältnisse nur zu Demütigungen führen kann. Dagegen immunisieren sie sich durch Ironie. Die Unterprivilegierten pflegen einen Lifestyle zwischen Big Brother und »Ballermann- oder Club-Ferien«, der adäquater Ausdruck ihrer reaktionären Gesinnung ist, und benötigen deshalb kein »insuläre[s] Selbst« als Träger ihrer eigentlichen Ansichten und keine Psychotechniken für das Management »kognitiver Dissonanzen«.195 Der ideologische ›Gehalt‹ ihrer Freizeitkultur ist von vornherein auf den vorherrschenden Traditionalismus vor allem im Bereich der Geschlechterordnung abgestimmt – eine These, die angesichts der keineswegs durchweg negativen Darstellung Homosexueller in Formaten wie Big Brother nicht ganz überzeugt. Was kann Diederichsen der ›schlechten Alternative‹ Ironie/Authentizität entgegensetzen? Er fordert eine erneute Verknüpfung von Politik und Kultur nach dem Vorbild von »Beatniks und Punks, Gruppe 47 und Charta 77«196. Freizeitgewohnheiten sollen wieder ideologiekritisch gedeutet, kulturelle Bewegungen an emanzipatorische Projekte angebunden werden: Man sollte die auch durchaus bereichernden Erfahrungen der Freizeitkultur mit ihren impliziten politischen Dimensionen konfrontieren. Ob in der ideologiekritischen Version – ›Windsurfen ist reaktionär‹ – oder einer ermächtigenden und ermächtigten Version – ›Das Ecstasy-Erlebnis ist so far-freakin’ out, ich möchte darauf eine befreite Gesellschaft ohne Klassen, Rassismus und Sexismus gründen‹ –, ist zunächst einmal egal.197

Eine solche Politisierung der Freizeitkultur rückt für Diederichsen angesichts einer fortschreitenden Abkopplung der Kultur von politischen Diskursen jedoch in weite Ferne. Es lässt allerdings aufhorchen, dass er in diesem Zusammenhang auf das ›Ecstasy-Erlebnis‹ zu sprechen kommt und damit auf die optimistische Interpretation der Technobewegung etwa bei Rainald Goetz anspielt. Techno ist in den 90er Jahren eine Massenbewegung, die mit ihrer Vorliebe für ›Pschodrogen‹ an die psychedelische Hippiebewegung der 60er und 70er Jahre erinnert, von der sie sich andererseits durch ihren unpolitischen Charakter unterscheidet. Darauf weist die bewusst anachronistische Formulierung »so far-freakin’ out« hin.198 Die Hoffnung, zeitgenössische Jugendkulturen könnten Drogenerlebnisse zur Grund–––––––– 194 195 196 197 198

Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Diederichsen 2000c. Zur Kritik an Techno siehe Diederichsen 2006: 11.

119

lage eines umfassenden gesellschaftlichen Befreiungsprogramms machen, ist damit als zweifelhaft markiert. Mit der Entkopplungs- und Immunisierungsthese greift Diederichsen einen zeitgenössischen Diskurs auf, zu dem auch Mark Siemons’ erwähnter Essay Jenseits des Aktenkoffers (1997) zu rechnen ist. Angelehnt an Siegfried Kracauers berühmte Studie zur Angestelltenkultur der Weimarer Republik beschäftigt sich Siemons mit der Mentalität einer zu zwei Dritteln aus Angestellten bestehenden ›postindustriellen‹ Gesellschaft.199 Siemons zufolge wird im Arbeitsalltag der Mittelschicht über potentiell konfliktträchtige Themen ausschließlich ironisch gesprochen. Auf diese Weise kann Dissens vermieden werden: »Wenn […] einmal nicht über Personalfragen […] gesprochen wird, sondern über Ereignisse der Politik, der Kultur, des privaten Lebens, so geschieht dies immer […] mit einer Stimme, die die ständig mitgemeinten Anführungszeichen hörbar macht.«200 Wie Diederichsen beobachtet Siemons ein wachsendes Bedürfnis nach emphatischen Überzeugungen, das mit der Generalisierung von Ironie einhergeht. Doch der typische Angestellte »durchschaut die Illusion, ausbrechen, ein anderes Leben führen zu wollen, als pure Selbstüberhebung«201 und weiß, daß alle Fluchtversuche vergeblich sind: sei es in einen fernen Erdteil, in das einfache Leben auf dem Land, in das multikulturelle Leben in der großen Stadt, in den Glamour, in die Intellektualität, in die Strenge, in den Hedonismus. Er weiß, daß nur sein Verhältnis zum Unternehmen wahr und aufrichtig ist, alles andere dagegen Lug und Trug und Heuchelei.202

Siemons führt Antithesen zum ›uneigentlichen‹ Alltagsleben an (Exotismus, idyllisches Landleben, Askese), auf die im Zusammenhang mit der Popliteratur zurückzukommen ist. Ähnlich wie Strauß entwirft er das Schreckensszenario einer Wirtschaftskrise, die den herrschenden ›Ironismus‹ in Fanatismus umschlagen lässt. Dann werde sich der Angestellte gezwungen sehen, in Ermangelung eines materiellen Überschusses einen neu entstehenden Überschuß an immateriellen Werten zu verwalten. Dann stellt er sich dem ganz Anderen, nach dem es ihn immer verlangte, vielleicht ganz zur Verfügung. Dann würde eine Moral, ein System, eine Ideologie an die Stelle des Unternehmens treten und es dem Angestellten gestatten, seinen Lebensstil der uneingestandenen Abhängigkeit zu erhalten. Erfolgreich würden dann wieder diejenigen sein, die es verstehen, sich den neuen Ideen mit dem Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit zu verschreiben. Die Brauchbarkeit der Angestellten würde wohl immer noch groß sein, der Schrecken, den sie verbreiten, allerdings auch.203

–––––––– 199 200 201 202 203

120

Vgl. Kracauer 2004. Siemons 1997: 119. Siemons 1997: 139. Siemons 1997: 140. Siemons 1997: 142f.

In den USA deutet sich die Schlüsselstellung des Ironiebegriffs im Rahmen zeitdiagnostischer Diskurse bereits in den 80er Jahren an. Abgesehen von Richard Rortys liberal-optimistischem Relativismus dominieren jedoch eher pessimistische Einschätzungen, wie nicht zuletzt die Assoziation von Ironie mit Totalitarismus zeigt, mit der die geläufige Gegenüberstellung von Relativismus bzw. Saturiertheit und Unterdrückung konterkariert wird. So zeichnet Mark Crispin Miller im Essay Big Brother Is You, Watching vor dem Hintergrund von Orwells Dystopie 1984 das Bild einer Mediokratie, die sich durch Selbstironie in Fernsehshows und der Werbung gegen Kritik immunisiert. Nach Miller wird dem Konsumenten suggeriert, er durchschaue sämtliche Manipulationsversuche: All televisual smirking is based on, and reinforces, the assumption that we who smirk together are enlightened past the point of nullity, having evolved far beyond whatever datedness we might be jeering, wether the fanatic’s ardor, the prude’s inhibitions, the hick’s unfashionable pants, or the snobs obsession with prestige.204

»[T]elevisual irony« spiegelt dem Zuschauer vor, sich gegen Prüderie, Fanatismus und Genussfeindlichkeit mittels Freizügigkeit und Konsum zur Wehr setzen zu müssen. Als »a sort of commercial antibody« verhindert sie im Gegensatz zu rhetorisch-kritischer Ironie ›echte‹ Aufklärung.205 Wie später Diederichsen illustriert Miller seine düstere Diagnose im Rückgriff auf Orwell. Das Motiv der gigantischen Bildschirme aufgreifend, die in 1984 die Dauerbewachung durch den ›Großen Bruder‹ in Erinnerung rufen, deutet er die zeitgenössische Medienherrschaft als optimierte Diktatur. Den Einwohnern Ozeaniens steht eine totalitäre Partei gegenüber, die identifizierbar und daher auch zu bekämpfen ist, während den gegenwärtigen Fernsehkonsumenten aufgrund der Abwesenheit unmittelbarer Repression entgeht, dass sie manipuliert werden. Sie werden selbst zum ›Großen Bruder‹ und wachen darüber, dass ihr Zustand der Indifferenz anhält. Das ›Ironietraining‹ der Sitcoms und Late-Night-Shows stellt sicher, dass Kritikwürdiges allenfalls mit einem müden Lächeln quittiert wird. Ein viel beachteter Aufsatz zum gleichen Thema stammt von dem kürzlich verstorbenen Schriftsteller David Foster Wallace. Ebenfalls medienkritisch argumentierend, vergleicht Wallace in E Unibus Pluram: Television and U. S. Fiction (1993) die zeitgenössische ›Diktatur der Ironie‹ mit einem autokratischen Regime in der ›Dritten Welt‹: Think, if you will for a moment, of Third World rebels and coups. Rebels are great at exposing and overthrowing corrupt hypocritical regimes, but seem noticeably less great at the mundane, non-negative tasks of then establishing a superior governing alternative. Victorious rebels, in fact, seem best at using their tough cynical rebel

–––––––– 204 205

Miller 1988: 326. Miller 1988: 15.

121

skills to avoid being rebelled against themselves – in other words they just become better tyrants. / And make no mistake: irony tyrannizes us.206

Wallace unterscheidet zwischen einer älteren, minoritären und emanzipatorischen Ironie, die in den 60er und 70er Jahren eine kritische Aneignung populärer Kultur durch die Intellektuellen ermöglichte – man kann hier an Susan Sontag oder Tom Wolfe denken –, und der zeitgenössischen hegemonialen ›Massenironie‹, die Einwänden vorausgreift, indem sie signalisiert: »I don’t really mean what I say«207. So what does irony as a cultural norm mean to say? That it’s impossible to mean what you say? That maybe it’s too bad it’s impossible, but wake up and smell the coffee already? Most likely, I think, today’s irony ends up saying: »How very banal to ask what I mean.«208

Auch der Amerikaner Jedediah Purdy vertritt in For Common Things: Irony, Trust, and Commitment in America Today (dt. 2002) die These, der populäre Ironismus verdanke sich vor allem der Angst, zum engstirnigen Bedenkenträger gestempelt zu werden: »So far as we are ironists, we are determined not to be made suckers«.209 Wie ihre deutschen Kollegen suchen die US-Autoren nach einem tragfähigen Gegenmodell, das keinen Rückfall in den Kulturkonservativismus bedeuten würde. »One obvious option is for the fiction writer to become reactionary, fundamentalist«210, doch damit ist laut David Foster Wallace nichts gewonnen, da auch der Fundamentalismus beispielsweise in seiner christlichen Variante mit dem Neoliberalismus kooperiert, dem sich die Relativierungsironie verschrieben hat. Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich der zeitgenössische Intellektuelle für das geringere Übel: »Most of us will still take nihilism over neanderthalism.«211 Mit einiger Verspätung und nicht zuletzt in Reaktion auf den Erfolg von Tristesse Royale greift auch das deutsche Feuilleton die Ironiedebatte auf. So deutet etwa Christopher Schmidt die Entschuldigung des italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi, er habe seinen Vergleich eines deutschen Europapolitikers mit einem KZ-Wächter ironisch gemeint,212 als ›schein-ironische‹ Rechtfertigungsstrategie, die dem von Diederichsen beschriebenen Muster folgt: »schon genau das meinen, was man sagt, aber nicht ganz so ernst«213. Mit diesem ›Seitenwechsel‹ verwandelt sich die Ironie Schmidt zufolge in Herrschaftszynismus. Viel Aufmerksamkeit erlangt auch ein Text des titanic-Kolumnisten Max Goldt, der die unter Intellektuellen zu beobachtende frivole Begeisterung für Bild, den »Kriegs––––––––

206 207 208 209 210 211 212 213

122

Wallace 1993: 183. Wallace 1993: 183. Wallace 1993: 183. Purdy 2000: 14. Wallace 1993: 183. Wallace 1993: 183. Schmidt 2003. Diederichsen 2000c.

gewinnler des ironischen Zeitalters«214, kritisiert und im Stil eines ›neuen Moralismus‹ klare Grenzen einfordert: Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. [...] Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.215

–––––––– 214 215

Lehnartz 2003. Goldt 2001: 14.

123

6. »Ironic-Hell«. Popliteratur um 2000

6.1 »Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen«. Zur Kontinuität des ›PopPrinzips‹ Die Verbindung zwischen Popliteratur und Popdiskurs der 80er Jahre ist nicht schwer herzustellen. Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht berufen sich in Interviews auf ein aktuelles und funktionstüchtiges ›Pop-Prinzip‹, das zentrale Merkmale der »Sprache des Pop« aufweist: [Kracht:] Das Sprechen über Inhalte ist zum Scheitern verurteilt. Man produziert immer nur Missverständnisse. / [Interviewer:] Führt dieser Blick auf das Leben nicht zwangsläufig in die Depression? / [Kracht:] Nein, denn das Sprechen um der reinen Unterhaltung willen ist ja noch möglich: Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen, das sind alles Mechanismen, die noch gut funktionieren.1 Kracht: Ich stelle meinem Verlag grundsätzlich nur Urlaubsfotos zur Verfügung. Da sieht man gut aus, ist schlank, braun gebrannt. Und das kann Isolde Ohlbaum nicht leisten, wenn sie Schriftsteller mit Füllfederhalter im Mund vor dem Bücherregal fotografiert. / Stuckrad-Barre: Das ist das Pop-Prinzip: vorgaukeln, behaupten, verfälschen, täuschen.2

Die Thematisierung von Verstellung, Dissimulation und Ästhetisierung der Kommunikation (»um der reinen Unterhaltung willen«) legt es nahe, im Fall der Popliteratur von einem komplexen Verhältnis zwischen Bestätigung und Negation auszugehen. Das Programm »vorgaukeln, behaupten, verfälschen, täuschen« zielt auf (durchschaubare) Simulationen, die auf einer »contradiction of affirmation and denial«3 beruhen, und impliziert eine Verwendung des Schemas Affirmation/Negation, die keiner der beiden Seiten dieser Unterscheidung zuzuordnen ist. Es scheint deshalb fragwürdig, die Popliteratur wie Martin Büsser auf ›bloße Affirmation‹ des gesellschaftlichen Status quo festzulegen und von der kritischsubversiven ›Überaffirmation‹ des Popjournalismus der 80er Jahre abzugrenzen: Das darin [in Mode und Verzweiflung, der u. a. von Thomas Meinecke herausgegebenen Zeitschrift, C. R.] proklamierte »Ja zur modernen Welt« darf allerdings nicht mit der affirmativen Haltung junger Popliteraten zur Gesellschaft gleichgesetzt werden, wie sie etwa 1999 in »Tristesse Royale« ihren Ausdruck fand.

–––––––– 1 2 3

124

Amend/Lebert 2000. Philippi/Schmidt 1999. Knox 1989: 19.

Die jüngere Generation – Autoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht – zeichnen sich vor allem durch eine Ironie aus, die in Harald-Schmidt-Manier stilsicher alles kritisiert oder der Lächerlichkeit preisgibt, was aufgrund interner und medialer Codes als unzeitgemäß und also peinlich gilt. Diese Form der Kritik läßt allerdings jenseits von Style- und Coolness-Regeln keinen weltanschaulichen Überbau mehr erkennen, was bei der als Scheinaffirmation bezeichneten Haltung von Punk und Wave durchaus möglich ist.4

Aus ihrem Alter und der fehlenden Verankerung im Alternativmilieu wird man den Autoren keinen Strick drehen können. Der Vorwurf der Kritiklosigkeit ist erst noch zu belegen und kontrastiert im Übrigen mit dem Selbstverständnis einiger der in Frage stehenden Autoren. So begreift etwa Stuckrad-Barre seine Arbeit als Gagschreiber für die Harald Schmidt Show als ›aufklärerisch‹.5 Und warum das in Tristesse Royale beschworene ›Anything Goes‹ (TR 126) nicht als »weltanschaulicher Überbau« gelten soll, ist auch nicht ohne weiteres einzusehen – es sei denn, man versteht darunter mit Ralf Hinz das linksradikale Vokabular der 60er und 70er Jahre, das bei der Popliteratur in der Tat fehlt. Hinz bezieht sich auf Diederichsen und dessen Kritik an der Vereinnahmung von Pop: Die nach 1982 einsetzende Frustration über karriereorientierte junge Angestellte, die von den Zeitgeistmagazinen [...] versorgt werden, sich über Alternativkultur und Alt68er lustig machen, sich in Distinktion gegenüber weniger raffinierten proletarischen Konsumenten und gegenüber einem von hoffnungslos veralteten Vorstellungen geprägten bildungsbürgerlichen Milieu üben – also das, was mit der üblichen literarisch-feuilletonistischen Verspätung in den neunziger Jahren exklusiv in Deutschland als Pop-Literatur und -Journalismus versammelt werden wird –, führt den Autor [Diederichsen, C. R.] nicht zu der schlichten Erkenntnis, dass der auftrumpfende Hedonismus und die radikale Kritik an Hippie- und Alternativkultur in den frühen achtziger Jahren hilflos der Aneignung durch ein an Lifestyle-Distinktion interessiertes Publikum ausgesetzt ist [!], wenn seine zunächst enge Verknüpfung mit einer marxistischen Kritik an der kapitalistischen Lebensweise aufgebrochen wird.6

Es fragt sich, ob diese These einer Entkopplung von ›marxistischer Kritik‹ den älteren Popjournalisten nicht ein allzu konsistentes, ideologisch klar verortetes Programm unterstellt und damit deren lebensstilistische Abgrenzungskämpfe und karrierefördernden Selbstinszenierungen herunterspielt. Dennoch liefern Büsser und Hinz wichtige Stichwörter zur historischen Einordnung der Popliteratur und markieren Differenzen zur Programmatik der 80er Jahre wie den Bedeutungsverlust politischer Bezüge, aber auch durchgängige Motive wie das Feindbild des ›68ers‹, die Furcht vor der ›Peinlichkeit‹ und die Abgrenzung von Trivial- wie Hochkultur. Die Gemeinsamkeiten hebt Dirk Frank hervor: Ein dominanter Strang innerhalb der neuesten Pop-Literatur [...] verdankt der so genannten Punk- und New-Wave-Generation eine bestimmte Grundhaltung: Man

–––––––– 4 5 6

Büsser 2003: 153. Vgl. unten S. 185. Hinz 2003: 305.

125

verweigert sich der Kommunikation mit der Vorgängergeneration, greift auf Protestformen zurück, die vor allem von denen nicht verstanden werden, die Kritik und Aufklärung institutionalisiert haben.7

Das Verhältnis der beiden Autorengenerationen ist schwer zu bestimmen, weil die Popliteraten Bekanntes unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen reproduzieren. Ob sie dabei Modifikationen vornehmen, ist keineswegs geklärt, auch wenn Frank zufolge die ›Nachfahren der Gegengegenkultur‹ das Popkonzept gerade dadurch dekontextualisieren, dass sie es unverändert übernehmen. Er führt das anhand der ›metakritischen‹ Attitüde des Erzählers in Christian Krachts Faserland (1995) aus, der sich von den »Vertretern des Andersseins« absetzt, die für ihn lediglich Wiedergänger ihrer Protest-Eltern sind. Dieser simplifizierende Blick auf die Gegenwart ist damit zu erklären, dass der Held die Frontstellung der Achtziger (Punk und New Wave versus orthodoxe Protestkultur) auf die Neunziger appliziert.8

In diesem Kontext weist Frank darauf hin, dass Florian Illies sich in Generation Golf (2000) auf Faserland und Stuckrad-Barres Soloalbum (1998) beruft und »die schon in den späten siebziger Jahren einsetzende Infragestellung der 68er nicht kennt beziehungsweise nicht nennen will«9. Anders Kracht, der mit dem Romantitel 1979 (2001) auf jene popmusikalische und -journalistische Phase anspielt, der er auch mit dem Titel des »Kompendiums« New Wave (2006) seine Referenz erweist. Dass es im Zuge dieses Traditionsanschlusses zu einer Potenzierung der Ironie und einer ›Subversion der Subversion‹ kommt, ist ein weiterer Grund dafür, sich nicht mit der verhältnismäßig groben Unterscheidung kritisch/affirmativ zu begnügen.10 Einer eingehenden Interpretation popliterarischer Texte vor dem Hintergrund dieses Traditionszusammenhangs, dafür sprechen zumindest die Aufsätze von Büsser und Hinz, scheinen bislang nicht zuletzt weltanschauliche, wohl auch generationsbedingte Aversionen auf Seiten der Forscher im Wege gestanden zu haben. Der an die Autoren um Kracht gerichtete Vorwurf, sie seien ausschließlich von Karriereinteressen geleitet, geht sicher auch auf die vorübergehende mediale Überpräsenz der Popliteraten zurück. Er dürfte überdies mit den bevorzugten Gattungen und Schreibweisen der Autoren zu tun haben, die weder einer minoritären Undergroundliteratur noch dem Theorie-Pop von Diederichsen oder Thomas Meinecke (z. B. Tomboy, 1998, Hellblau, 2001) zuzuordnen sind. Auch was ihre Positionierung im etablierten Literatur- und Kulturbetrieb betrifft, kommt den Popliteraten kein Außenseiterstatus zu.11 Allerdings distanzieren sie sich von –––––––– 7 8 9 10 11

126

Frank 2003: 219. Frank 2003: 225. Frank 2003: 223. Vgl. Conter 2004. Kracht, der Faserland noch in den Redaktionsräumen von Tempo schrieb (Kracht 1995), und Stuckrad-Barre veröffentlichen bei Kiepenheuer und Witsch, der damit

der Sphäre »auratische[r] Hochkultur«12, in die sie sich gleichwohl begeben, und thematisieren die hieraus entstehende Spannung wie etwa in Joachim Bessings Erzählung contrazoom. Dem entspricht zum Teil auch ihr Umgang mit literarischen Konventionen, die zum Beispiel von Kracht zugleich bestätigt und unterlaufen werden. Die Hinwendung zu ›seriöser‹ Literatur weist auf eine veränderte Bewertung des Mediums in popkulturorientierten Kreisen hin. In den 80er Jahren, erinnert sich Peter Glaser, Herausgeber der Pop-Anthologie Rawums (1984), sei Literatur der »Status einer alten Dame« zugekommen, »der über die Straße geholfen werden mußte. Literatur war das Letzte [...]. Aber Musikjournalismus war absolut respektiert«13. Noch 1996 schreibt Andreas Neumeister: Die meisten Textproduzenten, die sich von Pop richtig angefixt zeigen, [...] sind alles andere als Schriftsteller; die klassischen Medien und Orte des Literaturbetriebes sind für diese Autorenmusiker, Fanzineschreiber, Musikjournalisten oder Werbetexter nie relevant gewesen. Für sie [...] ist das ganze Metier behaftet mit einem penetranten Peinlichkeitsstigma.14

Wenn nun Kiepenheuer und Witsch, Deutsche Verlags-Anstalt, aber auch Ullstein, Argon und Goldmann als Foren genutzt und ausgedehnte Lesereisen unternommen werden, scheint sich dieses Stigma verflüchtigt zu haben. Zwar wird auch Diederichsen bei Kiepenheuer und Witsch verlegt, doch wendet sich die zu Recht oft als ›leicht lesbar‹ apostrophierte Popliteratur, anders als dessen vergleichsweise schwer zugänglichen Essaysammlungen oder die bei Suhrkamp erscheinenden, eher experimentellen Texte von Rainald Goetz und Meinecke, an ein breiteres Publikum.15 Es dominiert die Romanform – neben Krachts Faserland und 1979 ist etwa Bessings Wir Maschine (2001) anzuführen – und die fiktionale bzw. faktographische Erzählung, doch werden auch journalistische Schreibweisen und Formen wie Feuilleton, Glosse oder Reportage mit fiktionalen Darstellungsweisen kombiniert (Stuckrad-Barres Soloalbum). Hinzu kommen Essays wie Illies’ Generation Golf sowie feuilletonistische Kleinformen, die, in Sammelbänden (z. B. Stuckrad-Barre, Remix, 1999) herausgegeben, Anspruch auf kulturelle Dignität anmelden und von Kritikern »plötzlich groß abgefeiert werden, wenn Literatur drübersteht«16. Sachtexte spielen vor allem in der Endphase des ›Hypes‹ um die ––––––––

12 13 14 15

16

seine Stellung als Verlag für Poptexte behauptet und ausbaut. Der Erfolg Krachts und Stuckrad-Barres erleichterte es auch den Autoren in ihrem Umfeld, verlegt zu werden und in überregionalen Tageszeitungen und Magazine zu publizieren. Malchow 2003: 255. Schäfer 2003. Neumeister 1996. Im Zusammenhang mit Kiepenheuer und Witsch ist auch auf Joachim Lottmanns dort publizierten Roman Mai, Juni, Juli (1987) hinzuweisen, der als »eine Art Vorläufer von Christian Krachts ›Faserland‹« (Malchow 2003: 254) bezeichnet wurde. Freilich ist er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Faserland schon fast vergessen. Kuhlbrodt 2000.

127

Popliteratur eine bemerkenswerte Rolle. Alexander von Schönburg veröffentlicht 2003 den Ratgeber Der fröhliche Nicht-Raucher, Joachim Bessing 2004 eine Streitschrift mit dem Titel Rettet die Familie! Hervorzuheben ist schließlich die in Tristesse Royale, neben Faserland der Schlüsseltext der Popliteratur, verwendete Dialogform als eher randständige Gattung. Der große Publikumserfolg der Popliteratur – Illies’ Generation Golf dürfte mit angeblich über 700.000 verkauften Exemplaren an der Spitze stehen17 – kann unter anderem auf das Identifikationspotential der genannten Texte zurückgeführt werden. Nicht immer zu Unrecht spricht die Forschung deswegen von einer ›Verständigungsliteratur‹18, die keine hohen Reflexionsansprüche stellt, bekannte Alltags- und Medienrealitäten wiedergibt und damit beim anvisierten jugendlichen und jungerwachsenen Publikum einen ›So-ist-es-Effekt‹ bewirkt. Zur formgeschichtlichen Einordnung der eher konventionellen Literatur der 90er und 2000er Jahre hat Ulrich Greiner einen erwägenswerten Vorschlag gemacht: Die experimentellen Texte der 60er und frühen 70er Jahre trafen auf eine Lage, die als stabil wahrgenommen wurde, »da durfte die Literatur gerne instabil sein«19. Dreißig Jahre später sind die »Verhältnisse […] instabil, und folglich erwarten wir von der Literatur Sinngebung und Lebenshilfe«20. Bei aller Zuspitzung erweist sich diese Beschreibung gerade in Bezug auf den Popkontext als plausibel. Um 1980 herrscht hier noch ein vom Kalten Krieg geprägtes Gesellschaftsbild vor, das fixe soziale, politische und kulturelle Grenzen aufweist, worauf die Popjournalisten mit kontingenzbetonenden und komplexitätssteigernden Texten reagieren. Da die Nachwendezeit dagegen eher als ungeordnet und unübersichtlich wahrgenommen wird, liegt es nahe, die Konventionalität und das Identifikationsangebot der Popliteratur als komplexitätsreduzierende Antwort auf diese Entwicklung zu deuten. Diese These ist allerdings im Hinblick auf die narrative Gestaltung der genannten Texte zu relativieren. Wie Krachts Lektor Martin Hielscher hervorhebt, wird das in Faserland angelegte Identifikationspotential durch eine unzuverlässige Erzählinstanz konterkariert. Unmittelbare Zustimmung oder Ablehnung der Erzählerwertungen basieren mithin auf einer unangemessenen Rezeptionshaltung: Die offenbar so schwer auszumachende und so schwer zu ertragende Zumutung dieses Romans [Faserland] ist, daß er sich einer bequemen ideologischen Zuordnung eben entzieht und sie keineswegs bestätigt, wie die von Ressentiment blinden »Leser« ebenso dachten wie die sich zur kultischen Verehrung sammelnden Fans. […] In dem Augenblick, in dem man sich in den scheinbar so meinungsstarken Büchern von Kracht zum Abnicken anschickt, ist man schon in die Irre gegangen.21

–––––––– 17 18 19 20 21

128

Gaus 2003. Vgl. Lange 2000. Greiner 2006. Greiner 2006. Hielscher 2004: 105.

Anders verhält es sich mit Soloalbum oder Generation Golf, die über weite Strecken ein solches »Abnicken« nahe legen.22 Die ›Nachfahren der Gegengegenkultur‹ beziehen gegen ihre Vorgänger Stellung. In Tristesse Royale vertritt Bessing eine dezidiert antintellektualistische, gegen Spex gerichtete Position, die inhaltlich an Rainald Goetz erinnert, aber schärfer formuliert wird.23 Bessing und Kracht verwerfen die von Diederichsen seit dem Erstarken des Neonationalismus in den frühen 90er Jahren geforderte Repolitisierung im Zeichen ›Politischer Korrektheit‹ als substanzloses Projekt und Bevormundung: Es gab Anfang der neunziger Jahre das von Diedrich Diederichsen und anderen diktierte Verlangen nach einer alles und jeden durchdringenden Politisierung, und diese schnell durchzuführende Politisierung wurde damals auch streng auf die Richtigkeit ihrer Durchführung überwacht. […] Ausgehend von Diedrich Diederichsens eigenem Essay ›The Kids Are Not Alright‹, in dem für ihn der Bruch mit der Jugend daraus resultierte, daß Malcolm-X-Kappen tragende Jungs brennende Bierflaschen auf Flüchtlingshäuser im Osten geworfen hatten. […] Dann folgte der ganze Mist aus deutschen Übersetzungen der Malcolm-X-Biographie, Judith Butlers gendertheory und Malcolm X im exegetischen Vergleich mit Rostock und Lichtenhagen. Es wurde allen Ernstes darüber nachgedacht, und in manchen eher Fanzine zu nennenden Zeitschriften geschieht das immer noch, ob es sich bei Homosexualität, Transvestitismus, Sadomasochismus und Windelfetischismus um nachahmenswerte Formen politischen Widerstandes handelt. [...] Als dies alles aber durchlebt und überwunden war, und Diedrich Diederichsen sich auf sein Altenteil an der Stuttgarter Merz-Akademie zurückgezogen hatte, mußte man sich die Frage, ob man politisch ist oder nicht, zum Glück nicht mehr stellen. [...] / Der Fotograf verlässt türenschlagend den Raum. Ein Spex-Button kullert über den Teppichboden bis hin zum Kamin, wo er blechern eiernd auf den Marmorfliesen zu liegend kommt. (TR 98f.)

Bei näherem Hinsehen erweist sich der Graben zwischen den Popgenerationen jedoch als weniger tief denn vermutet. Es bestehen auffällige Gemeinsamkeiten auf thematischer, motivischer und formaler Ebene, wie Christian Krachts Faserland zeigt.

6.2 Pathologisierung und Psychologisierung: Faserland Die histoire von Faserland ist reich an Variationen des »Pop-Prinzip[s]: vorgaukeln, behaupten, verfälschen«24. Von »Mechanismen, die noch gut funktio––––––––

22 23

24

Zu Generation Golf siehe Karaseks Studie von 2008, die hier nicht mehr berücksichtigt werden konnte. Goetz gutes Verhältnis zu den Popliteraten zeigt sich auch daran, dass er StuckradBarre bei Lesungen unterstütze und eine Fotoserie zu Krachts Erzählanthologie Mesopotamia (1999) beisteuerte. Philippi/Schmidt 1999.

129

nieren«25, kann aber nicht die Rede sein. (Transparente) Verstellung tritt fast durchgängig in negativ konnotierten Zusammenhängen in Erscheinung und geht an den Gelenkstellen der Handlung mit entsprechend sanktionierten Normverstößen einher. So im ersten Kapitel, als der Erzähler auf Sylt die attraktive Karin küsst, die ihn womöglich aus seiner sozialen Isolation befreien könnte. Während des Kusses blickt er jedoch in ihre »blaugefärbten Kontaktlinsen« (F 19) – ein Zeichen für ihre Zugehörigkeit zur Welt des ›Scheins‹, des Betrugs und der Ironie, der sich die namenlose Hauptfigur stets zu entziehen versucht. Nach Karins Weggang verschlimmert sich die ohnehin trübe Stimmung des Helden: »Ich schenke mir aus der Champagnerflasche nach, aber der Roederer perlt nicht mehr, und als ich einen Schluck davon trinke, schmeckt er schal und flach und abgestanden und nach Asche.« (F 19) Zu dem in Aussicht gestellten Wiedersehen am nächsten Tag kommt es nicht, weil der Erzähler die Insel verlässt. Die Crux der anti-simulatorischen Haltung des Helden ist, dass sie im Widerspruch zu seinem Handeln steht. Da ihm Ironie, Täuschung und Spott ›in Fleisch und Blut übergegangen‹ sind, fürchtet er nichts mehr, als entsprechenden Verhaltensweisen zum Opfer zu fallen. Als er in Heidelberg eine Kneipe aufsucht, laden ihn Studenten an ihren Tisch ein: »Alle sind sehr, sehr nett. Ich glaube, keiner meint es ironisch. [...] Vielleicht bin ich aber auch zu betrunken und nicht mehr vorsichtig genug. Vielleicht merke ich die Ironie einfach nur nicht« (F 92). Sein Argwohn bestätigt sich allerdings, als sich ihm der zuvorkommende Eugen im Anschluss mit eindeutigen sexuellen Absichten nähert, woraufhin der Erzähler erneut flüchtet. Fast das gesamte Personal des Romans teilt diesen habitualisierten und kaum mehr zu beherrschenden Zug zu Ironie, Verstellung und Relativierung, der sich auch in der Sprechweise des Erzählers niederschlägt. Zugleich einschränkende und verstärkende Redeweisen wie »Sylt ist eigentlich super schön« (F 11) modalisieren jede seiner Aussagen und sind Ausdruck einer zwanghaften Selbstrelativierung.26 Dem entspricht der konfuse Geisteszustand des Helden: »Es interessiert mich auch nicht, aber eigentlich interessiert es mich doch.« (F 25) Offenbar ist die problematische Persönlichkeitsstruktur des Protagonisten Folge außer Kontrolle geratener Handlungsstrategien, die ursprünglich der Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen dienten. Sein sexueller Reifeprozess ist hochgradig gestört, wie die Erinnerung an eine Übernachtung im Haus der Eltern einer Freundin vor Augen führt. Damals defäkierte der Held ins Gästebett (F 28f.). Die Angst davor, das Gesicht zu verlieren, ist jedoch nicht die einzige Erklärung für sein Verhalten, das darüber hinaus auch milieuspezifisch geprägt ist. Die Freunde und Bekannten des Erzählers sind wie er wohlhabend und sozial inkompetent, weshalb sie auf die gleichen Verhaltensweisen zurückgreifen. So trägt etwa Nigel, einer der Jugendfreunde des Helden, bevorzugt T-Shirts mit aufgedruckten –––––––– 25 26

130

Amend/Lebert 2000. Dazu Baßler 2002: 118, Frank 2003: 224, Döring 1996: 226–233.

Konzernlogos und meint damit wohl ein originelles ironisches Statement abzugeben. Außerdem ist Nigel »immer ein bißchen schäbig angezogen«, aber »nicht so direkt schäbig«, sondern »so indirekt« (F 27). Er steht damit in der subkulturellen Tradition demonstrativer Unterbietung von Geschmacksstandards. ›Schäbige‹ Bestandteile der Kleidung sind in diesem Kontext kein Ausweis sozialer Unterprivilegierung, sondern signalisieren im Gegenteil ein Spiel mit Kleidungskonventionen, das als Ausdruck von ›Snob-Geschmack‹27 (Susan Sontag) wie »eine Art Geheimkode«28 und »Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen«29 funktioniert. Ähnlich wie im Rahmen der Campästhetik geht der »gute[] Geschmack des schlechten Geschmacks«30 mit einer Ironisierung der verwendeten Zeichen einher: [M]eistens trägt er [Nigel] irgendwelche T-Shirts, auf denen das Logo einer Firma steht, ich meine so richtige Firmen wie Esso oder Ariel Ultra oder Milka. Ich weiß auch nicht, warum er das macht, er hat es mir einmal erklärt, da waren wir ziemlich betrunken, und da hatte er mich in eine ekelhafte Kneipe auf dem Kiez geschleppt, die hieß Cool, glaube ich, und da hat er mir erklärt, daß das die größte aller Provokationen sei, T-Shirts mit den Namen bekannter Firmen drauf zu tragen. Wen will er denn provozieren damit, hab ich ihn damals gefragt, und er hat gesagt: Linke, Nazis, Ökos, Intellektuelle, Busfahrer, einfach alle. Ich habe das damals nicht ganz verstanden, aber ich habe es mir gemerkt. (F 27)

Dass die nötige Erklärung des Kleidungscodes in einer ›ekelhaften‹ Szenekneipe namens »Cool« stattfindet, verweist auf die Funktion des Codes, Individualität und Überlegenheit zu signalisieren. Das Bekenntnis zu Großkonzernen und Markennamen zielt darauf, Personen mit unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Einstellung zu impulsiven Abwehrreaktionen zu provozieren und dem Provokateur damit eine symbolische Außenposition zu sichern. In die gleiche Richtung deutet die Erwähnung eines Eintracht FrankfurtAufnähers, den Alexander, ein anderer enger Freund, an seine Barbourjacke angebracht hat. Als der Erzähler die Jacke stiehlt, entfernt er den Aufnäher, denn ich [will] nicht mit so einem Ding an der Jacke herumlaufen. Das gehört sich einfach nicht. Ich meine, ich verstehe ja im Grunde, warum Alexander den Aufnäher da hingenäht hat, so aus halb witzigen, halb Proletensolidaritäts-Gründen, aber ich fühle mich mit so was Aufgenähtem nur dumm und gar nicht witzig. (F 87f.)

Auch Alexander ist Anhänger einer Trashästhetik und versucht, aus einem Stilbruch – die Barbourjacke als Index gehobener Herkunft und der FußballAufnäher als Hinweis auf Unterschichtengeschmack – Distinktionskapital zu schlagen. Das dahinter stehende Verlangen, kapriziös und geistreich zu erscheinen, kommentiert der Erzähler negativ. Doch er selbst verfolgt ähnliche Strategien und –––––––– 27 28 29 30

Sontag 2004: 338. Sontag 2004: 322. Sontag 2004: 322. Sontag 2004: 340.

131

scheut beispielsweise nicht davor zurück, Statussymbole wie teure Markenkleidung gnadenlos gegenüber Unterlegenen auszuspielen (z. B. F 49). Seine Kritik am Abgrenzungsverhalten der Freunde trifft auch auf ihn zu, und obgleich er es nicht ausspricht, liegt es nahe, dass Selbsthass den Grund für seine Dauerdepression darstellt. Die expliziten Selbstdeutungen des Erzählers sind in einer umständlichen, umgangssprachlichen und fehlerhaften Diktion abgefasst, zeugen aber dennoch von rudimentärer Selbstreflexivität. Intuitiv erfasst der Held die innerhalb seines Milieus vorherrschende agonale Grundkonstellation und stellt die erwähnten Distinktionsverfahren in einen größeren zeitgeschichtlichen Kontext: Es gibt so Momente, in denen ich alles genau verstehe, so wie mit Nigel und seinen TShirts, und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles. Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben, und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das verstehe ich ja noch. Aber manchmal verstehe ich den ganzen Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise, und dann frage ich mich, ob das immer schon so war und ob ich nicht vielleicht auch so bin, eben für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. (F 66)

Dem Erzähler scheint aufzugehen, dass kalkulierte Stilbrüche, ironische Überaffirmation und Provokation Waffen in einem allgemeinen Konkurrenzkampf sind. Er führt dies auf das ›grauenhafte Nazi-Leben‹ in Deutschland zurück, das die obsessive, Verständigung unmöglich machende »Kampfhaltung« motiviert, die er und seine Freunde an den Tag legen. Offen bleibt, ob er sich einer hyperbolischen Sprechweise bedient oder ob ein kausaler Zusammenhang mit der NSVergangenheit hergestellt werden soll. Diese diffuse historische Erklärung erinnert an Botho Strauß, der die Nachkriegsepoche als »Imperium der Abschwörung […] mit seinen unzähligen radikalen Provinzen und subversiven Satyrspielen des Intellekts« deutet, das sich »erst nach Zweitem Weltkrieg und Nazikult, als häßliche Aufklärung des Hassenswerten unbegrenzt entfalten« konnte.31 Bei Strauß geht diese Entwicklung mit dem Aufstieg einer »umfassende[n] Mentalität des Sekundären«32 einher, die dazu führt, dass Dinge und Zeichen nicht mehr ›als sie selbst‹, sondern in übertragener Bedeutung aufgefasst werden. Auf ähnliche Weise beschreibt der Erzähler in Faserland die Zeichenpraxis Nigels und Alexanders als »indirekt« (F 27) und suggeriert, die mit den Mitteln der Ironie ausgetragenen Stilkämpfe der Gegenwart seien eine Folge der gestörten deutschen Nationalmentalität. In einer Schlüsselpassage malt sich der Erzähler ein imaginäres Natur- und Familienidyll in den Schweizer Alpen aus und stellt sich vor, zusammen mit der Schauspielerin Isabella Rossellini und den gemeinsamen Kindern in »einer kleinen Hütte« (F 148) zu ––––––––

31 32

132

Strauß 2004a: 44. Dazu oben S. 83. Strauß 2004a: 44.

wohnen. Er träumt davon, »Ausflüge […] bis an die Baumgrenze« zu unternehmen und dabei »von Deutschland« zu erzählen, von dem großen Land im Norden, von der großen Maschine, die sich selbst baut, da unten im Flachland. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bißchen schlechter. Und daß die Auserwählten nur durch den Glauben weiter leben können, sie würden es ein bißchen besser tun, ein bißchen härter, ein bißchen stilvoller. / Von den Deutschen würde ich erzählen, von den Nationalsozialisten mit ihren sauber ausrasierten Nacken, von den Raketen-Konstrukteuren, die Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer weißen Kittel stecken haben, fein aufgereiht. Ich würde erzählen von den Selektierern an der Rampe, von den Gewerkschaftern, die immer SPD wählen, als ob wirklich etwas davon abhinge, und von den Autonomen mit ihren Volxküchen und ihrer Abneigung gegen Trinkgeld. (F 148f.)

Räumliche Distanz ist in diesem Szenario Voraussetzung für den ›objektiven‹ Blick auf die Distinktionskämpfe im fernen »Flachland«. Sie dispensiert den Erzähler gleichsam davon, sich zu den »Auserwählten« zu rechnen. Hervorzuheben ist die Parallele zwischen der – aus Sicht des Helden letztlich haltlosen – Hoffnung, sich durch graduelle kulturelle Unterschiede auszuzeichnen, und den nationalsozialistischen »Selektierern an der Rampe«. Die Juxtaposition beider Bereiche ist durch das gemeinsame Moment der ›Auswahl‹ motiviert. Hier sortieren Angehörige der ›Herrenrasse‹ bestimmte Häftlinge zum Tod in den Vernichtungslagern aus, dort pochen stilbewusste ›Auserwählte‹ auf die ›feinen Unterschiede‹. Mit dieser Überblendung wird der zeitgenössische kulturelle Konkurrenzkampf negativ überhöht. Der Erzähler ist dabei eingeschlossen, denn an früherer Stelle heißt es, dass Nigels »Nacken immer sauber ausrasiert ist, wie mein Nacken auch« (F 27). Der typische Popper-Haarschnitt der 80er Jahre – »vorne lang und hinten ziemlich kurz« (F 27) – entspricht den »sauber ausrasierten Nacken« der Nationalsozialisten. Kracht rückt die modebewussten, geschmacklich hypersensiblen und versnobten »Auserwählten« der Überflussgesellschaft in die Nähe totalitärer Massenmörder. Bei näherem Hinsehen zeigt sich darüber hinaus, dass die Simulations- und Ironiestrategien des Erzählers an entscheidender Stelle ihr Ziel verfehlen, sich gegen ihn richten und letztlich einer Selbsttäuschung Vorschub leisten. Auf der Geburtstagsparty seines Freundes Rollo, die den Wendepunkt der Handlung bildet, flirtet der betrunkene Erzähler mit zwei vermeintlich homosexuellen Kellnern: Die beiden Barmänner tauschen so einen heimlichen Schwuletten-Blick aus und denken, ich merke das noch nicht mal. Deswegen streiche ich mir mit der Hand die Haare aus der Stirn und schwanke so ein bißchen herum, damit sie denken, ich wäre Alkoholiker, was ich ja eigentlich auch bin. Dann grinse ich sie an, so von unten, das kann ich ja ganz gut. Die blöden Kellner fühlen sich geschmeichelt [...]. Der Likör brennt ein bißchen in der Kehle. / Ich schüttele mich so halb gespielt, denke in dem Moment, Gott, jetzt habe ich es zu weit getrieben, merke aber, daß man solche Model-

133

Kellner nie zu weit treiben kann. Die nehmen einem immer alles ab. Die beiden sind jetzt hin und weg. (F 127, Hervh. C. R.)

Von seinem feinen Sensorium für Täuschung überzeugt, meint der Protagonist die dissimulierende Taktik der Barmänner zu durchschauen und reagiert, indem er einen ›aus der Rolle fallenden‹ Betrunkenen spielt. Obgleich er sich eingestehen muss, dass seine Simulation der Wahrheit entspricht, behält er seine ›Tarnung‹ bei und gibt nun vor, seine Neigung zu den beiden Männern nicht mehr verbergen zu können. Analog zum simulierten Alkoholismus drängt sich hier der Verdacht auf, dass die angebliche Verstellung in Wirklichkeit dazu dient, tatsächlich vorhandene Bedürfnisse auszuleben und dies vor sich selbst zu rechtfertigen. Anschließend stehen sich der mittlerweile physisch und psychisch stark angeschlagene Erzähler und sein depressiver und suizidgefährdeter ›Doppelgänger‹ Rollo gegenüber: Im gleichen Moment höre ich, wie Rollo neben mir steht und sagt: Yo soy feliz y tu tambien. Ich verliere fast die Fassung, weil es mich so erschreckt. […] Er sagt tatsächlich auf Spanisch: Ich bin glücklich, und du bist es auch. / Ich sehe in sein Gesicht. Er hat schon einige Sherrys mit Eis getrunken und dazu mehr Valium genommen als normal. Er hat so einen dummen Ausdruck im Gesicht, dasselbe Grinsen, das er hat, nachdem er einen Witz erzählt, so, als ob da gleich noch was kommt. Es kommt aber gar nichts. Er steht einfach da, klammert sich an sein Sherryglas und grinst dämlich. / Ich schaue ihn an, wie er dasteht in seiner weißen Hose und der schwarzen Fliege, die ein bißchen schlampig gebunden ist. Er wankt in den Knien, und seine Augenlider flattern, weil er so voll ist mit Alkohol und Valium. Anstatt etwas zu sagen, egal was, grinse ich zurück. Er schwankt auf mich zu, legt den Arm um meine Schultern, trinkt seinen Sherry in einem Schluck aus, dann drehen wir uns um und bestellen noch einen Drink. Ich fühle mich ungefähr eine Sekunde lang schuldig, weil ich nichts gesagt habe. Das geht aber schnell vorbei, weil ich weiß Gott Besseres zu tun habe als mit wegen Rollo ein schlechtes Gewissen zu machen. (F 127f.)

Rollos Feststellung, sie beide seien glücklich, steht im Widerspruch zu ihrer psychischen Verfassung und ist als zynischer Kommentar, aber auch als beschönigende Lüge deutbar, denn beide versuchen vor allem, ihr Gesicht zu wahren und ihre Verstörung zu verbergen. Unterschwellige Feindseligkeit ist greifbar, wenn der Erzähler selbst in diesem Augenblick, in dem Rollo »mehr Valium genommen« hat »als normal« und sich damit ernsthaft in Gefahr bringt, einen scharfen Blick für Unstimmigkeiten im äußeren Erscheinungsbild des Gegenübers bewahrt und beiläufig dessen unordentlich gebundene Fliege erwähnt. Rollos unangebrachte Bemerkung kontert der Held, indem er ebenfalls grinst, um sich so in ein bitter-ironisches Einverständnis mit Rollo zu setzen und damit den Ernst der Lage einzuräumen oder aber seine Verunsicherung zu überspielen. Zwischen den Figuren besteht also ein völlig symmetrisches Verhältnis. Die Formulierung »Anstatt etwas zu sagen, egal was, grinse ich zurück« deutet darauf hin, dass der Erzähler sich seines Fehlverhaltens bewusst ist. Seine Kritik an den Partygästen, die Rollos selbstzerstörerischem Verhalten tatenlos zusehen, trifft auch auf ihn selbst zu:

134

Aber das sind doch nicht seine Freunde. Seine Freunde würden ihm doch sagen, daß er aussieht wie ein Alkoholiker und tablettensüchtig ist. Sie würden sagen, komm Rollo, du mußt jetzt ins Bett, und dann würden sie ihn ins Schlafzimmer bringen und bei ihm sitzen, bis er einschläft. Freunde würden die ganze Nacht da sitzen bleiben, und danach noch zwei Wochen bei ihm bleiben und jeden Drink, den er sich macht, und jede Valium, jede Lexotanil ihm aus den Händen nehmen, so lange, bis er wieder klar denken könnte. (F 134f.)

Die Behauptung des Erzählers, er habe »weiß Gott Besseres zu tun […] als mir wegen Rollo ein schlechtes Gewissen zu machen«, erscheint vor diesem Hintergrund als Selbstbetrug oder blanker Zynismus. Auch während der letzten Begegnung mit dem nun völlig aufgelösten Rollo, der sich ans Ufer des angrenzenden Bodensees zurückgezogen hat, versäumt es der überforderte Protagonist, seinem Freund beizustehen: Als er den Druck meiner Hand spürt, fängt er an, unkontrolliert zu zittern, und dann heult er richtig. […] Ich denke, daß ich das nicht lange ertragen kann, dieses Schluchzen und das Weinen. Es ist einfach zuviel. / […] [I]ch sage ihm, daß durch die Tabletten das Zittern doch noch schlimmer werden würde […]. / Mehr sage ich nicht, obwohl ich es vielleicht gekonnt hätte. Ich drücke seinen Arm noch einmal und sage ihm, ich will mir ein Getränk holen, und dann lasse ich ihn da stehen, auf dem Bootssteg. / Ich weiß genau, daß ich mir kein Getränk holen werde, und noch viel genauer weiß ich, daß ich Rollo nicht wieder sehen werde. (F 141, Hervh. C. R.)

Rollo ertrinkt in dieser Nacht unter ungeklärten Umständen im See, wovon der Erzähler jedoch erst im folgenden Kapitel erfährt. Allerdings evoziert schon der kriminalistische Einschlag des anschließenden Handlungsverlaufs das Schuldbewusstsein des Helden, der Rollos Sportwagen stiehlt, damit in die Schweiz fährt und ihn, nachdem er sorgfältig die Fingerabdrücke auf dem Lenkrad entfernt hat, am Züricher Flughafen abstellt (F 144). Ironie und Simulation kommen in Faserland, anders als im Popkonzept der 80er Jahre vorgesehen, nicht mehr nur in öffentlichen Zusammenhängen zum Einsatz, sondern tragen als verselbständigte und teils wider Willen angewandte Sozialtechniken entscheidend zur Zerrüttung von Privatbeziehungen bei. Gegenmodelle wie die von Diederichsen vorgeschlagene Repolitisierung erweisen sich als gleichermaßen problematisch, wie die Feindseligkeit des Helden gegenüber Alexanders Freundin Varna demonstriert. Varna verkehrt in Bohemekreisen, in denen Zeitschriften wie Texte zur Kunst und Spex den Ton angeben und man in »Elendskneipen« (F 68) »den letzten Text von Diedrich Diederichsen« (F 69) bespricht. Eifersüchtig auf Varna, der Alexander von seinen Reisen »wahrscheinlich längere Briefe« (F 69) als dem Erzähler schreibt, reagiert dieser mit ätzendem Spott auf Varnas Warnung vor dem »aufkeimenden Rechtsradikalismus« (F 68) und ihre Überschätzung der politischen Wirkung von Popmusik. »Hip Hop«, so äfft sie der Held nach, »das wäre die neue Punk-Musik, die echte Auflehnung und so weiter, in einem fort, ohne Ende« (F 68). Sein Hass auf Varna führt schließlich zum Bruch mit Alexander. Klar ist aber auch, dass Dialogverweigerung und unvermittelter Widerspruch (»also habe ich […] manchmal etwas völlig Konträres gesagt, nur um irgend etwas 135

zu sagen«, F 69) gegenüber »liberal-dämlich[en]« (F 69) Idealisten wie Varna in Faserland nicht als befriedigende und tragfähige Haltung propagiert werden. So entzündet sich eine Auseinandersetzung zwischen dem Erzähler und Alexander an der Frage, ob man »große Arschsäcke« wie den Filmregisseur Wim Wenders auf ihre künstlerischen und politischen Absichten ansprechen oder ob man sie »am besten völlig ignorieren« sollte (F 57), wie Alexander im Gegensatz zum Protagonisten meint. Da hat Alexander gesagt, ich wäre ein blöder Hippie, der glaubt, er könne Sachen verändern durch Diskussionen. Da hab ich gesagt, er solle das Maul halten, und dann sind wir zum Bahnhof Zoo gegangen, Junkies gucken, aber es war irgendwie nicht mehr so wie früher. Irgendwas war kaputtgegangen durch diesen Streit. (F 58)

Das enge Verhältnis der ehemaligen Schulkameraden nimmt ernsthaft Schaden, als der Erzähler die totale Anti-Haltung Alexanders, des »größte[n] Hasser[s] aller Zeiten« (F 58), in Frage stellt. Auch seine Ablehnung altruistischer, ›hippieesker‹ Gemeinschaftsideale ist nicht eindeutig. Zwar werden deren Repräsentanten als anachronistisch und lächerlich bloßgestellt, etwa wenn der Held und Rollo, »ein harter Zyniker« (F 105), auf einem Open-Air-Rave einem Techno-Anhänger Valiumtabletten als Ecstasy-Pillen andrehen. Der Held ahnt jedoch, dass die Tänzer um ihn herum, so bizarr und clownesk sie in ihren »orangefarbenen TShirts und Bundeswehr-Hosen« (F 103) auch erscheinen, ein euphorisches Zusammengehörigkeitsgefühl erleben, das Egozentrikern wie ihm und Rollo versagt ist. Zwar könne man diese »Hippies« »überhaupt nicht ernstnehmen […], aber auf eine bestimmte Art haben sie alle recht, viel mehr recht als Rollo oder ich. / Ich weiß nur noch nicht, auf welche Weise sie recht haben. Vielleicht sind wir ja auch schon zu alt« (F 104f.). Der Versuch, an solchen Gemeinschaftserfahrungen teilzuhaben, scheitert jedoch daran, dass der Protagonist überall Künstlichkeit und Verstellung wittert. Als er auf einer Party selbst Ecstasy nimmt, beschwert er sich zunächst über das konspirative Verhalten der anderen, ebenfalls unter Drogen stehenden Gäste, ihr »offensives, eigentlich ziemlich dummes Zwinkern. Warum tun bloß alle so schwul, das verstehe ich nicht« (F 38). Als ihm ein schwarzes Model durch die Haare streicht, erscheint ihm dies »unwirklich und irgendwie auch nicht echt und deswegen peinlich, weil einerseits macht mir das Spaß, […] und andererseits ist das nur wie gespielt« (F 37). Zwar berichtet er von einem angenehmen Körpergefühl, genießt die Musik und kommt mit einer Frau ins Gespräch, deren Hand er ergreift und der er ins Badezimmer folgt. Als sie sich allerdings in die Badewanne übergibt, entfernt er sich. Ein intensives Wir-Gefühl und positiv erfahrene körperliche Nähe sind an vorübergehende Ausnahmezustände gebunden, die auf der Aufhebung üblicher Regeln des sozialen Miteinanders beruhen. In einem solchen unverbindlichen Rahmen handeln und erleben die Beteiligten auf ›unechte‹, ihrem ›wahren‹ Wesen widersprechende Weise. Dies gilt auch für Nigel, den der Erzähler insgeheim für einen »asoziale[n] Mensch[en]« hält, der Partys liebt, »weil das so rechtsfreie Räume sind, wo er funktionieren kann, ohne kommunizieren zu müssen« (F 32). 136

Im ›rechtsfreien Raum‹ sind die Interagierenden davon entbunden, aufrichtig über ihre Person Auskunft zu geben. Diese artifizielle und defizitäre Form von Intimität lehnt der Erzähler ab, wie sich auch daran zeigt, dass er den erwähnten Open-AirRave in der Nähe von München mit einem apokalyptischen Gemälde von Hieronymus Bosch assoziiert, das den Höllensturz malträtierter Sünder zeigt (F 107). Zur vordergründigen Lösung der Probleme des Helden führt die erwähnte Fahrt in eine als positiver Gegensatz zu Deutschland stilisierte Schweiz. Der nicht durch die Bomben des Zweiten Weltkrieges aufgerissene Boden in Zürich steht für ein unproblematisches Verhältnis zur Geschichte, eine ununterbrochene Traditionskette (F 143f.). Für den Helden scheint sich hier alles zum Besseren zu wenden. Zum ersten Mal gelingen ihm Rauchkringel, und im Gespräch mit einem Kellner kommt es zu einer wunderbaren Gedankenübertragung: »Er versteht nicht, was ich will, und ich mache noch einen Rauchring, und dann versteht er plötzlich« (F 135). Die an den Ortswechsel geknüpften Hoffnungen erweisen sich jedoch als trügerisch, da die Schweizstilisierung des Protagonisten jeder soliden Grundlage entbehrt. So bleibt etwa völlig unklar, warum das »Feine an der Schweiz« gerade darin bestehen soll, »daß auf den Türen der Geschäfte Stossen steht und nicht Drücken« (F 143). Als die Hauptfigur aus der Zeitung von Rollos Tod erfährt, begibt sie sich zum Friedhof von Kilchberg und sucht vergebens nach dem Grab Thomas Manns, woraufhin sie sich von einem Fährmann über den Zürichsee rudern lässt. Der Text bricht ab, als die Mitte des Sees fast erreicht ist. Mit diesem auf den mythischen Unterweltfluss Acheron anspielenden offenen Ende wird auf einen Selbstmord verwiesen, der als Sanktionierung für die Mitschuld am Tod Rollos zu deuten wäre. Freilich kann die Fahrt ›ans andere Ufer‹ auch als allegorisch verschlüsseltes Coming-out des Erzählers interpretiert werden.33 Die reale Schweizidylle zerbricht, doch auch das Wunschbild reibungsloser innerfamiliärer Kommunikation mit Isabella Rossellini und den gemeinsamen Kindern erweist sich bei genauem Hinsehen als problematisch: Jetzt, wenn der Sommer kommt, würden die Bienen summen, und dann würde ich mit den Kindern Ausflüge machen bis an die Baumgrenze, [...] und wir würden uns Ameisenhaufen ansehen, und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ich könnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer Recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr. (F 148)

Diese utopische Gegenwelt ist nicht gegen Simulation und Ironie gefeit, sondern im Gegenteil der ideale Wirkungsrahmen für einen zwanghaften Täuscher, denn die Kinder haben aufgrund ihrer räumlichen Isolation keine Möglichkeit, die Erzählungen des Vaters auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Die positive Antithese zu ›Deutschland‹ ist hinfällig, die Ausweglosigkeit total. Überdies ergeht es dem –––––––– 33

Auf die vermeintliche Homosexualität des Erzählers zielt Baßler (2002: 113) ab.

137

Leser ähnlich wie den Kindern, denn auch er bezieht sämtliche Informationen über die erzählte Welt aus einer unzuverlässigen Quelle. Allerdings kann er sein kulturelles Wissen einbringen und dem Erzähler so Lügen und Fehler nachweisen. Walther von der Vogelweide, soviel steht fest, war kein Maler (F 63). Andere Behauptungen erwecken lediglich Zweifel, ohne dass auf Textbasis eine konsistente Version des tatsächlichen Geschehens rekonstruiert werden könnte. So beispielsweise die doppelt widerrufene Geschichte der Flucht vor dem zudringlichen Eugen in Heidelberg. Angeblich war dabei Rollo behilflich, doch über ihn heißt es an anderer Stelle, der Erzähler habe ihn erst später in München getroffen (F 103, 114). Was auf der Party in Heidelberg zuletzt wirklich passiert ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Doch nicht die mimetische, sondern die normative Unzuverlässigkeit des Erzählers ist der Grund dafür, dass sich die »scheinbar so meinungsstarke[]«34 Prosa Krachts auf den zweiten Blick als Spiel mit dem Identifikations- und Abgrenzungsbedürfnis des Lesers erweist. Das lässt sich beispielsweise anhand der Konfrontationslust des Erzählers zeigen, der ›Spießer‹ mit Vorliebe als ›Nazis‹ beschimpft und sich so vermeintlich als ernstzunehmender Zeitgenosse disqualifiziert. Der Grund hierfür wurde in der Forschung sicher nicht ganz zu Unrecht in der Provokationslust des Autors gesucht.35 Das reicht aber nicht aus. Der Erzähler steht in einer jugendkulturellen Tradition, im Rahmen derer Faschismusvorwürfe als drastische Beleidigungen eingesetzt werden;36 seine maßlosen und flapsig formulierten Urteile entwickeln darüber hinaus auf den zweiten Blick oft eine gewisse Plausibilität. Dass der Rentner, der auf Sylt fast die erwähnte Karin überfährt und sie daraufhin »wie ein Berserker« beschimpft, dem Erzähler zufolge »sicher ein Nazi« (F 16) ist, lässt sich noch als Übertreibung abtun. Wenn Karin die Bemerkung mit einem Lachen quittiert, scheint sie das zu bestätigen. Bei anderen ›Opfern‹ des Erzählers sind seine Beleidigungen jedoch etwas plausibler motiviert. Der als »armes dummes Nazischwein in einem Trainingsanzug« (F 34) titulierte Taxifahrer hat zuvor gefordert, »daß man das Gesocks da« (F 33) – die Hausbesetzerszene in der Hamburger Hafenstraße – »wegsprengen« (F 33) müsse. Die in Interpretationen häufig monierte Bereitschaft des Protagonisten, seine privilegierte soziale Position brutal auszuspielen, relativiert sich vor diesem Hintergrund und erweist sich als teilweise anti-rassistisch und -nationalistisch motiviert.37 So auch im Fall des vermeintlichen »Betriebsratsvorsitzenden« (F 49), der auf dem Hamburger ––––––––

34 35 36 37

138

Hielscher 2004: 105. Zur Unterscheidung normative/mimetische Unzuverlässigkeit siehe oben S. 7. Niefanger 2004: 97. In Sexbeat heißt es: »Wer sich über Kleinigkeiten aufregt, ist zumindest ein Blockwart und Kryptofaschist. Das haben wir gelernt« (Diederichsen 2002: 116). Kritisch zum Vorwurf, »Kracht zelebriere […] ›Herrenmenschentum‹«: Baßler 2002: 112.

Flughafengelände seine Missbilligung zum Ausdruck bringt, weil der Protagonist sich freizügig beim Buffet der Lufthansa bedient. Als er sich dafür als »SPD-Nazi« beschimpfen lassen muss, wird das zumindest hypothetisch begründet: [W]enn ich ein Ausländer wäre und kein Jackett anhätte, wofür er einen halben Monatslohn hergeben müßte, dann hätte er auch bestimmt etwas gesagt. Und weil er so frech guckt und gar nicht aufhört damit, stopfe ich mir noch zwei Ballistos in die Tasche und noch zwei Joghurts und nehme mir auch noch acht weiße Plastiklöffel. Dann esse ich ganz schnell hintereinander zwei Joghurts auf. Während ich das tue, starre ich dem Mann ins Gesicht, bis er wegkuckt, denn konfrontiert werden mag er ja auch nicht, dieses SPD-Schwein. […] Der Mann ist jetzt richtig erbost und murmelt: So eine Frechheit oder irgend etwas ähnlich Belangloses, und ich starre ihn an und sage ganz leise, aber so, daß er es hört: Halt’s Maul, du SPD-Nazi. (F 49)

Sicher dienen derartige Ausfälle in erster Linie dazu, die Umwelt auf Abstand zu halten und sich nach allen Seiten hin abzugrenzen, und wohl mag es Leser geben, die gerade das sympathisch finden. Doch der Text sabotiert eine solche Lesehaltung, die sich auf »Abnicken«38 oder Ablehnen beschränkt, beispielsweise an Stellen wie dieser: Der Held sieht sein Spiegelbild in einer Glasvitrine, es zeigt einen jungen Mann mit Stahlhelm, weil hinter der Scheibe ein Werbeplakat für den Film Stalingrad befestigt ist (F 93). Die Passage ist das Gegenstück zum symbolischen Ausschluss aus dem Gesellschaftsverband, der mit dem Panoramablick aufs ›Flachland‹ vollzogen wird. Das ›beschränkte‹ Geschichtsbild des Erzählers, sein ›Nazifimmel‹ und seine scheinbar so naive »Deutsch-Leistungskurs-Diktion«39 sind einen zweiten Blick wert. Natürlich kann man annehmen, dass hier eine satirische Auseinandersetzung mit einem zur Routine verkommenen Diskurs intendiert ist, der bei beliebigen Themen auf die NS-Vergangenheit als Dreh- und Angelpunkt der deutschen Geschichte rekurriert. Es ist jedoch nicht zu unterschätzen, dass ein Erzähler vom Typus ›Narr‹ immer auch als Vermittler ›höherer‹ Wahrheiten in Betracht kommt.40 In jedem Fall ist nicht davon auszugehen, dass die Autorintention sich durchgängig mittels Umkehrung der Erzählerwertungen nach dem rhetorischen Ironiemodell identifizieren lässt. Im Zusammenhang mit dieser Ironisierung des Erzählers wurde in der Forschung auf mögliche Vorbilder wie Salingers Catcher in the Rye sowie Less than Zero und American Psycho von Bret Easton Ellis verwiesen.41 Ein detaillierter Nachweis thematischer und motivischer Parallelen zu Ellis steht allerdings noch aus.42 Als wichtiges strukturelles Merkmal dürfte sich dabei der Einsatz eines unzuverlässigen, sich gleichsam selbst entlarvenden Ich-Erzählers erweisen. ––––––––

38 39 40 41 42

Hielscher 2004: 105. Baßler 2002: 114. Vgl. dazu das Kapitel »Funktionen des Schelms« in Bachtin 1989. Baßler 2002: 113. Vgl. erste Ansätze bei Mertens 2003.

139

Freilich handelt es sich nicht um ein popspezifisches, sondern ein traditionsreiches, häufig im Hinblick auf den Picaro-Roman diskutiertes erzählerisches Verfahren.43 Kracht greift in Faserland wie auch in 1979 darauf zurück, um den doppelten Interpretationsrahmen zu nutzen, der durch unzuverlässiges Erzählen konstituiert wird. Hinter den Lügen, Missverständnissen und ›blinden Flecken‹ der Erzählerfigur zeichnet sich die Autorintention ab, die jedoch nicht eindeutig zu fixieren ist. Mit dieser Ambiguisierung sämtlicher im Text enthaltener Wertungen führt Kracht das auf histoire-Ebene problematisierte ›Pop-Prinzip‹ »Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen«44 auf der Formebene des Textes wieder ein und relativiert so den tragisch-melancholischen ›Hyperauthentizismus‹ der Hauptfigur. Damit hat er der neueren deutschen Popliteratur den Kurs vorgegeben.

6.3 »Irony is over«? Selbstblockaden und postmoderner Fanatismus Auf dem Umschlag der von Kracht herausgegebenen Anthologie Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends (1999) ist der Slogan »Irony is over« abgedruckt, ein Zitat aus dem Song Day after the Revolution vom Album This is Hardcore (1998) der britischen Band Pulp. Die sechzehn hier versammelten Erzählungen – Rainald Goetz hat die Fotostrecke Samstag, 5. Juni 1999 beigesteuert – legen es also nahe, dass Ironie und Simulation ähnlich wie in Faserland unter negativem Vorzeichen thematisiert werden. Diese Vermutung bestätigt beispielsweise Alexander von Schönburgs vermutlich autobiographische Erzählung In Bruckners Reich, die den prekären Grenzbereich zwischen kritischem Sarkasmus und zynischer Bestätigung gesellschaftlicher Missstände zum Gegenstand hat. Der Ich-Erzähler, ein Boulevardjournalist, der die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato im Frühjahr 1999 ›herbeischreibt‹, um damit die Auflage seiner Zeitung in die Höhe zu treiben, lenkt sich am Arbeitsplatz mit skurrilen Meldungen aus dem Bereich ›Vermischtes‹ ab. In Brandenburg, irgendwo östlich von Berlin, ist ein 47 Jahre alter Mann bei dem Versuch ums Leben gekommen, ein Stromkabel von der Hochspannungsleitung abzukappen. Ihm fehlte zuhause ein Kabel, er wollte es stehlen. Als ich das las, mußte ich laut lachen. Worauf meine Kollegen mich vorwurfsvoll anschauten und meinten, ich würde mich über die Armut der Menschen lustig machen.45

Die »Vielzahl von Zivilisationsbeschwerden wie Karies, das überfettete Herz, Krebs und Hämorrhiden [!]« und den verkommenen Zustand der Berliner Straßen deutet die Zentralfigur als »Symptome einer Zivilisation im Fin de siècle«.46 Dies gibt Anlass zu Reflexionen über eine Reihe eher lose verbundener Themen wie ––––––––

43 44 45 46

140

Bauer 1993. Amend/Lebert 2000. Schönburg 1999: 33f. Schönburg 1999: 35.

etwa Anton Bruckners siebte Symphonie, Hobbes’ Leviathan, das nationalsozialistische System und militärische Initiationsrituale. Fluchtpunkt dieser Überlegungen ist die Frage nach dem ›Bösen‹ und den gesellschaftlichen Bedingungen, die seine Entfaltung hemmen oder fördern. Die ironisch-zynische Haltung des Erzählers wird dabei vor allem im Hinblick auf ihre kompensatorische Funktion thematisiert. Als psychologischer Schutzmechanismus erlaubt sie es, täglich einer »schreckliche[n] Arbeit«47 nachzugehen, ohne daran zu verzweifeln. Die ätzende Zivilisationskritik des Erzählers, die seine Arbeitskollegen für Schadenfreude halten, führt ihn nicht zu der Konsequenz, seine Stelle zu kündigen, sondern signalisiert allenfalls ein grundsätzliches Nichteinverstandensein. Sie macht die kognitiven Dissonanzen erträglich, die aus dem Widerspruch zwischen Überzeugung und faktischem Verhalten resultieren. Die immunisierende Funktion des Sarkasmus spiegelt sich im Leitmotiv der anästhesierenden Salbe wider, mit der die Hauptfigur ihr Hämorrhoidal-Leiden behandelt. Während einer Aufführung der erwähnten Symphonie Bruckners lässt die Wirkung der Salbe nach, woraufhin sich eine Selbsterkenntnis anbahnt: »Die Wunde in meinem After loderte jetzt, sie fühlte sich so an, als seien alle meine schlechten Eigenschaften auf diesen Punkt konzentriert. Alle meine Fehler, die dunkle, unzufriedene Seite meines Selbst pochten jetzt im Zentrum«48. Der im Laufe des Konzertes zunehmende Schmerz führt, gemeinsam mit den abgründigen »Blut-und-Boden-Töne[n]«49 der Symphonie, zu einer Einsicht. Vermittelt über Bruckners »Nazi-Kunst«50, die an »heidnisch-romantische Instinkte«51 appelliere, kommt der Erzähler auf die »simplen Prinzipien«52 des Faschismus zu sprechen: »Um ein guter Faschist zu werden, muß man nicht über sich hinauswachsen. Habgier und Ablehnung muß man nicht lernen.«53 Wie die Mitläufer in totalitären Systemen rechtfertigen sich dem Erzähler zufolge auch die Protagonisten der zeitgenössischen Mediengesellschaft damit, »nur ihre Pflicht«41 zu tun. Unausgesprochen scheint der Erzähler diese Einschätzung auch auf sich selbst zu beziehen. Als er den Konzertsaal verlässt, wird die Zeitung des nächsten Tags am Ausgang verkauft. »JETZT KOMMT DER GROSSE KRIEG! schrie die Titelzeile. Der Verkäufer wurde die Zeitung schnell los.«54 Wenn der Erzähler »nach Hause, in die rettende Obhut meiner Hämorrhidialsalbe«55 eilt, lässt dies darauf schließen, dass der Erkenntnisprozess vermutlich folgenlos bleibt. Mit dieser Perspekti––––––––

47 48 49 50 51 52 53 54 55

Schönburg 1999: 33. Schönburg 1999: 37. Schönburg 1999: 37. Schönburg 1999: 37. Schönburg 1999: 37. Schönburg 1999: 38. Schönburg 1999: 39. Schönburg 1999: 41. Schönburg 1999: 41.

141

vierung der Funktionsweise von Sarkasmus erinnert In Bruckners Reich an die Immunisierungsthese, die Diederichsen, David Foster Wallace und andere im Zusammenhang der zeitgenössischen Ironiediskussion vertreten. Mit narrativen und bildlichen Mitteln transportiert von Schönburg moralische Kritik an einer Haltung, die ein »dauerhaftes Sich-Einrichten in der kognitiven Dissonanz kompensiert«56. Einen anderen Ansatzpunkt wählt Joachim Bessing in seinem Beitrag zu Mesopotamia. Im Mittelpunkt der Erzählung contrazoom steht ein Verhaltensmuster, das sich am besten anhand des rhetorischen Ironiemodells ›Ausdruck von Tadel durch Lob‹ erläutern lässt. Erzählt wird von einem Besuch der Frankfurter Buchmesse, den der Erzähler zusammen mit einer Figur namens Christian Kracht unternimmt. Diese tritt dabei als eine Art Mentor auf und weiht den Erzähler in agonale ironische Praktiken ein. Auf dem Hinweg stellt Kracht dem Erzähler in Aussicht, dieser werde »es« – die Buchmesse – »schauen«.57 Die unangemessene Wortwahl deutet bereits an, dass der Zweck der Reise in einer Herabwürdigung des Literaturbetriebs besteht. Wie 1983 Rainald Goetz nach Klagenfurt, so scheinen Kracht und der Protagonist zum »Nullenanschauen«58 nach Frankfurt zu fahren. Und in der Tat ist damit umrissen, was sich auf dem Buchmessegelände ereignet: Am Stand gegenüber sah ich Christian wieder. Er kniete dort vor einem Mann in einem schwarzen Lederanzug. Neben dem Mann stand ein kurzhaariger Junge, den ich nicht kannte. Der Junge sang dem Ledermann ein Lied vor. Es war, glaube ich, ›Kristallnaach‹ von BAP, und eigentlich machte er auch nur die Gitarrenmelodie nach. Christian bat mich, ebenfalls zu knien. Der Mann sei Ingo Schulze – der schönste Dichter, den seine Augen jemals schauen durften. Ich stellte den Sektbecher auf einem Bücherstapel ab und kniete mich hin. / Von unten aus betrachtet sah Ingo Schulze noch elementar unangenehmer aus. […] Seine Haut war fleckig und gerötet, er wirkte verwirrt.59

Damit ist vorgezeichnet, in welcher Weise die nacheinander ins Blickfeld des Erzählers kommenden Autoren, Schauspieler und Journalisten dargestellt werden. Der Erzähler unterwirft sie einer minutiösen Beobachtung, wobei sie als grimassierende Heuchler mit tierischen Zügen erscheinen. Kleine Verhaltensauffälligkeiten und körperliche Details, die die wahren Absichten der Beobachteten verraten, werden wie unter dem Mikroskop vergrößert – deshalb wohl der Titel ›contrazoom‹, der ein filmisches Verfahren bezeichnet, bei dem sich die Proportionen zwischen Darstellungsgegenstand und Hintergrund in unnatürlicher Weise zu verschieben scheinen. Besondere Beachtung findet dabei das ›maskenhafte‹60 Äußere der anwesenden Menschen, die Interesse vorgeben, doch in Wirklichkeit –––––––– 56 57 58 59 60

142

Diederichsen 1999: 9f. Bessing 1999b: 97. Goetz 1986: 18. Bessing 1999b: 106. Bessing 1999b: 101.

aneinander vorbeischauen und -reden. Deutlich greifbar ist die inhaltliche Kritik am ›Eventcharakter‹ der Messe, vor dessen Hintergrund die in den Büchern verhandelten Themen zweitrangig und beliebig wirken. Selbst eine »Diskussion über die Wehrmachtsausstellung«61 stellt nur einen abzuhakenden Tagespunkt auf der Agenda prominenter Besucher dar. Umso mehr der Erzähler die ›Hohlheit‹ der Veranstaltung durchschaut und umso höher sein Alkoholpegel steigt, desto eifriger ahmt er Kracht nach und brüskiert die versammelte Gesellschaft durch ironische Demutsgesten und weihevolle Aussprüche: »Ich war jetzt wirklich betrunken und sagte: ›Ich werde es schauen‹«62. Was zunächst als Satire auf den Literaturbetrieb angelegt zu sein scheint, schlägt etwa in der Mitte des Textes in eine Phantasmagorie um. Der Erzähler, Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre, der »kurzhaarige Junge« neben Ingo Schulze, fahren ins Hotel, um sich für eine Abendveranstaltung umzukleiden. In dieser Passage wird deutlich, dass sich der ›böse Blick‹ des Erzählers verselbständigt und sich nun auch auf die Freunde richtet. So hält der Erzähler beispielsweise fest, dass Stuckrad-Barre offenbar unfähig ist, eine Krawatte zu binden. »Das fand ich schon ein bißchen komisch«63. Vorbereitet ist das durch eine an den Leser adressierte Bemerkung am Anfang der Geschichte, als der Erzähler betont, der Kragen von Krachts Hemd sei »nicht heruntergeknöpft, wie es sich gehört«.64 Dieses pedantische Beharren auf einer korrekten Erscheinungsweise steht bereits in Faserland für einen Konflikt zwischen Freundschaftsethos und lebensästhetischen Normen. In der zweiten Hälfte der Erzählung kehrt sich diese tendenziell feindselige stilkritische Haltung gleichsam gegen den Erzähler. Zuvor schon verliert er die Kontrolle über sein Verhalten, welches das der Messebesucher an Skurrilität und Widerwärtigkeit noch übertrifft. Als ein persischer Wurstverkäufer, bei dem die Gruppe Station macht und den der Erzähler für einen Homosexuellen hält, nachfragt, ob das ausgeschenkte Bier auch kalt sei, schreit der Erzähler: »So kalt wie eine stählerne Faust in meinem Arschloch!«, was ihm unmittelbar darauf »so peinlich wie noch nie etwas in meinem Leben« ist.65 Bei einer Verlagsfeier im Hotel »Frankfurter Hof« trifft die Gruppe auf Eckhart Nickel, dem ein Kurier Kokain in einer Pappschachtel liefert. Nachdem es gemeinsam konsumiert wurde, nimmt die Verwirrung des Erzählers weiter zu. Die Macht- und Beobachtungsverhältnisse, die im ersten Teil zugunsten der Popliteraten ausfielen, scheinen sich umzukehren: Nun ist es der Erzähler, der von seiner Umwelt gemustert wird. Immer mehr groteske Figuren treten auf, die sein Verhalten in der einen oder anderen Form aufzeichnen. Ihm begegnet ein ––––––––

61 62 63 64 65

Bessing 1999b: 108. Bessing 1999b: 108. Bessing 1999b: 112. Bessing 1999b: 98. Bessing 1999b: 111.

143

»schrecklich«66 aussehender alter Mann, der ihn mit einer Videokamera filmt und auf die Frage, ob er ein »Nazi« sei, antwortet: »wissen Sie, ich bin einfach nur stolz, zu den Sturmtruppen Adolf Hitlers zu gehören«67; eine Frau, die der »Koksgräfin auf dem Bild von Otto Dix« ähnelt und ihn »ununterbrochen« anstarrt;68 ein ständig photographierender Bulgare, der »von germanischen Flugscheiben erzählt und von sechs Meter großen Riesenmenschen, die im Inneren der Erde lebten«69. Schließlich treffen Bessing, Kracht, Nickel und Stuckrad-Barre auf Rainald Goetz, der das Geschehen wie gewohnt in seinem Notizbuch festhält.70 Gerade Goetz gegenüber entwickelt der Erzähler einen starken Argwohn. Die Fragen, die Goetz an die Gruppe richtet, erscheinen ihm als bloßer Vorwand, um Stoff für zukünftige Bücher zu sammeln: »Seit seinem Buch ›Rave‹ waren wir nämlich alle sehr misstrauisch geworden. Darin hatte er die belauschten Drogengespräche vieler unserer Bekannten einfach aufgeschrieben, und denen war das im nachhinein ziemlich peinlich gewesen.«71 Als man sich gemeinsam in eine Toilettenkabine zwängt, um das Kokain zu nehmen, beobachtet der Erzähler, dass Goetz lediglich vortäuscht, er ziehe das Pulver durch einen Geldschein in die Nase. Vor allem aber registriert er dessen übertrieben euphorischen Ton: »Sein Gesicht war verschwitzt, und er riß seine Augen ganz weit auf. ›Hey super. Ihr hier. Was hast du denn da für einen supertollen Streifen an deinem Hemd?«72 »›Super‹, flüsterte Rainald und lachte immer noch. ›Ehrlich, ich find’s so super!‹«73 Der Grund für das Misstrauen liegt auf der Hand: Das Verhalten von Goetz scheint demselben Muster zu folgen, das auch Krachts höhnischen Demutsgesten zugrunde liegt. Die durch Kracht eingeleitete ›Initiation‹ des Helden ist mit einer gesteigerten Sensibilität für simulatorische oder ironische Handlungsweisen verbunden. Am Rande sei vermerkt, dass Rainald Goetz für Mesopotamia ursprünglich eine Erzählung mit dem Titel KOKAIN74 geplant hatte, die denselben Abend auf der Frankfurter Buchmesse zum Gegenstand haben sollte, von dem auch contrazoom berichtet. Das Projekt scheiterte, da Goetz seine ästhetischen Vorstellungen nicht umsetzen konnte. Der Abend in Frankfurt hat jedoch Spuren in Goetz’ Tagebuch Abfall für alle hinterlassen. Interessanterweise fokussieren die knappen Aufzeichnungen ebenso Krachts Gewohnheit, sein Gegenüber durch übermäßiges Lob zu irritieren: –––––––– 66 67 68 69 70 71 72 73 74

144

Bessing 1999b: 115. Bessing 1999b: 117. Bessing 1999b: 115. Bessing 1999b: 116. Dazu oben S. 86. Bessing 1999b: 114. Bessing 1999b: 113. Bessing 1999b: 114. Goetz 2000: 135ff.

Christian Kracht hat einen, glaube ich, NOCH gestörteren Sozial-act als ich. Der macht mit Komplimenten einen Terror, das ist Wahnsinn. Er trägt so dick auf, bis man nicht mehr kann. Man wehrt sich, es tut längst richtig weh, man bettelt schon fast, es reicht. Da legt er erst richtig los, haut gleich nochmal zehn Pfund drauf und nach. Dusch, bumm, zack. Nimm auch noch dies.75

contrazoom stellt diesen ›Terror mit Komplimenten‹ als Element einer automatisierten Verhaltensstrategie dar, die außer Kontrolle gerät. Die Geschichte endet damit, dass der Erzähler morgens aus dem Frankfurter Hof taumelt, wo die Feier sich zu einer Orgie entwickelt hat, die der völlig desorientierte Erzähler als düster und unheilsschwanger wahrnimmt. Bereits zu Beginn der Erzählung hält er fest, er habe den Kontakt zu Kracht abgebrochen, was auf eine Kritik der durch Kracht repräsentierten Haltung schließen lässt.76 Ähnlich wie In Bruckners Reich stellt contrazoom das Motiv (transparente) Verstellung in den Kontext einer allgemeinen Dekadenzkritik und setzt es in Bezug zu zügellosem Hedonismus und sozialer Desintegration. Bessing wie Schönburg mögen sich dabei an der konzeptuellen Vorgabe des Erzählbandes Mesopotamia orientiert haben, der im Untertitel Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends ankündigt. Beide greifen auf das in Faserland verwendete Erzählverfahren zurück, eine Sprechinstanz vorzuführen, die sich unter Verzicht auf explizite Selbstkritik indirekt denunziert. Bessing bezieht darüber hinaus ein zentrales Handlungsmotiv aus Krachts Debüt, indem er die Verabsolutierung lebensästhetischer Stilnormen in ihrer destruktiven Wirkung auf Freundschaftsbeziehungen darstellt. Insofern ist die Forschungsthese, die »jüngere Generation« zeichne »sich vor allem durch eine Ironie aus, die […] stilsicher alles kritisiert oder der Lächerlichkeit preisgibt, was aufgrund interner und medialer Codes als unzeitgemäß und also peinlich gilt«, in diesem Fall nicht zu halten.77 Von einer affirmativen Einstellung zu »Style- und Coolness-Regeln«78 kann nicht die Rede sein. Des Weiteren zeichnet sich im agonalen Verhältnis zwischen Neulingen und älteren, etablierten Vertretern des Kulturbetriebs, das contrazoom entwirft, eine Grundkonstellation der 1980er Jahre ab. Die ›Außenseiter‹ bedienen sich des »Pop-Prinzip[s]: vorgaukeln, behaupten, verfälschen, täuschen«79 als Waffe gegen Heuchelei, Inauthentizität und Eitelkeit. Ihr ironisches Lob lächerlicher Repräsentanten des literarischen Lebens zielt auf deren Decouvrierung als Lügner oder Schauspieler wider Willen. Kritik an einer naiven oder auf Karriereinteressen basierenden politischen, kritisch-emanzipatorischen Attitüde, wie sie die Auseinandersetzungen um 1980 prägt, spielt hier dagegen keine Rolle.

–––––––– 75 76 77 78 79

Goetz 1999b: 640. Bessing 1999b: 113. Büsser 2003: 153. Büsser 2003: 153. Philippi/Schmidt 1999.

145

Ein zentraler Punkt, der die Thematisierung und Bewertung ironischen Verhaltens betrifft, lässt sich anhand des in contrazoom dargestellten Umschlags von kritischer Beobachtung zum Beobachtetwerden verdeutlichen. Die Einführung des Erzählers in die Simulationspraxis führt dazu, dass er nun selbst ins Visier dubioser Figuren gerät. Indem sich die Hauptfigur auf den uneigentlichen Verhaltensmodus einlässt, macht sie sich gemein mit dem Betrieb, den sie eigentlich auf Distanz halten will. Sie wird nun Gegenstand eines Blicks, der den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufdeckt und fixiert. Ihr Eintritt in die kulturelle Kampfzone führt zwangsläufig dazu, dass ihr Status als externer Beobachter aufgegeben wird. Dass diese durchweg negative Perspektivierung von Ironie nicht repräsentativ für die Texte der Adlon-Gruppe ist, zeigt Benjamin von Stuckrad-Barres 1998 publizierter Roman Soloalbum. Wie die Forschung zu recht feststellt, verzichtet Stuckrad-Barre – anders als Kracht in Faserland – auf einen prägnanten Plot.80 Dennoch gibt es eine Art Rahmenhandlung, die sich um den Liebeskummer der männlichen Hauptfigur und deren Versuche dreht, die ehemalige Freundin zurück zu gewinnen. Die drohende private Isolation des beruflich erfolgreichen Protagonisten motiviert idiosynkratische und elegische Alltagsbetrachtungen, die sich oft kaum von feuilletonistischen Texten des Autors unterscheiden, wie sie in Remix (1999) versammelt sind. Darüber hinaus weist Soloalbum einen thematischen und symbolischen roten Faden auf, der eng mit der rudimentären Liebesgeschichte zusammenhängt und sich am besten an der Obsession des Erzählers für Oasis festmachen lässt. Dass die Wahl auf diese britische Rockband fällt, scheint zunächst nicht zwingend. Ausschlaggebend ist die Begeisterung des Helden, die im Kontrast zu seinem Liebesleid und trostlosen Alltag steht. Oasis stehen zudem jedoch für eine postmoderne Ästhetik, aufgrund derer die Gruppe für ihre Funktion innerhalb des Romans prädestiniert ist. Es handelt es sich um eine Rockband in traditioneller Besetzung, die auf verzerrten Gitarrensound, Lautstärke, eingängige Melodien und Euphorie setzt. Hinzu kommen unzählige Skandale aus der Rubrik ›Sex, Drugs and Rock’n’Roll‹ um die beiden Kernmitglieder Noel und Liam Gallagher. Außerdem kultivieren die beiden Brüder eine arrogante und betont männliche Attitüde. Oasis sind mithin der Musterfall einer Band, die im Vokabular von Sounds und Spex als ›rockistisch‹ zu bezeichnen wäre. Sie weist typische Merkmale einer traditionsverhafteten Rockkultur auf, die seit Ende der 70er Jahre aufgrund ihrer Formelhaftigkeit unter Beschuss geraten ist. Ihr renitenter Gestus müsste im Kontext des ambitionierten Musikjournalismus als Ausdruck »naturhaft-animalisch[er]« männlicher »Souveränität« bewertet werden – als Prolongation des ›essentialistischen Rockmythos‹.81 ––––––––

80 81

146

So mit Bezug auf Hubert Winkels Baßler 2002: 102. Sounds 9/1980: 22.

Andererseits sind die Kompositionen und Arrangements der Band nicht nur traditionalistisch, sondern in hohem Maße zitathaft und eklektisch, ohne deswegen als Parodie intendiert zu sein. Sie beziehen sich in der Regel auf klassische Rockgruppen der späten 60er Jahre (Beatles, Rolling Stones, Who). Wie Ralf von Appen ausführt, übernehmen Oasis zwar wesentliche Stilelemente der genannten Gruppen, nicht aber deren gegenkulturellen Überbau.82 Sie verzichten auf politische Botschaften und Distanzierung von der ›Industrie‹. Noel Gallagher begreift die Musik seiner Band weder als soziales Bindemittel für Protestbewegungen noch als Medium authentischer und unverstellter Artikulation persönlicher Bedürfnisse, sondern als Entertainment. Ingesamt ergibt sich eine paradox wirkende Spannung zwischen ›rockistischen‹ und popaffinen, postmodernen Elementen. Oasis »stehen abgesehen von allen postmodernen Merkmalen (durch die sie sich für Stuckrad-Barre legitimieren) auch für das Verlangen nach ironiefreier Unmittelbarkeit, für Spaß und kompromißloses Fan-Sein«83. Dieser Kontrast prädestiniert sie dafür, für den Schlussakkord von Soloalbum zu sorgen. Der Ich-Erzähler reist mit einer Gruppe – »natürlich nur Herren« – zu einem Konzert nach Berlin, wo Oasis ihr neues Album »Be Here Now«84 vorstellen. Oasis sind ja die Größten, das sagen wir, das sagen die. […] Männerbündelei, die gerade noch in Ordnung geht, das erleben wir hier. […] Das Klischee der ›Jungs‹ wird von Oasis durch groteske Übersteigerung der Anfechtbarkeit enthoben. […] Man stünde schon auch gerne da oben. Ganz klare Ansage, Noel und Liam steigen aus einer dekorativen Telefonzelle, ihre Blicke fragen, was wir denn nun wieder wollen. […] Und dann ist es passiert, schon beim ersten Gitarrenton, also ganz kurz davor sogar, geht ein monströser Ruck durch Adlon-City, und die ersten kippen um. […] Es ist freundlich, aber natürlich auch nicht unbrutal. […] Die Jungs würden es nie wagen, dieses Konzert bloß ›schön‹ zu finden. […] Ganz bestimmt haben sich die Herren auf der Bühne am wenigstens Mühe gegeben, mühelos cool auszusehen: Das Hemd von Noel ist sogar richtig scheiße, aber der body ist die Botschaft, ach, der Bierbauch, und er könnte wohl auch Tennissocken – hat er bestimmt auch, der darf das, darf alles.85

Die eigentümliche Spannung zwischen gegensätzlichen Eigenschaften, welche die Band auszeichnen, setzt sich in dieser Beschreibung fort. Auf der einen Seite bedenkt der Erzähler Oasis mit Superlativen, die jeder Fan für ›seine‹ Band reserviert. Seine rückhaltlose Begeisterung schließt auch den herben und virilen Charme der Musiker und die körperlich erfahrbare Wucht des Live-Erlebnisses ein. Den Auftritt der Gallagher-Brüder versteht er als ›ganz klare Ansage‹, dem Konzert kommen also Qualitäten wie Unmissverständlichkeit, Eindeutigkeit und Entschiedenheit zu. Es steht damit im Gegensatz zu dem Zustand, in dem sich der unter Selbstzweifeln leidende Erzähler zumeist befindet. Die Band ist »der ––––––––

82 83 84 85

Dazu ausführlich: Appen 2003: 158ff. Appen 2004: 162. Stuckrad-Barre 1998: 243. Stuckrad-Barre 1998: 243–245.

147

Anfechtbarkeit enthoben«, die Euphorie mit Worten wie ›schön‹ nicht angemessen zu beschreiben. Es handelt sich um einen aus dem Alltag herausgehobenen Moment emphatischen Daseins, wie ihn der Albumtitel »Be Here Now« evoziert. Dem steht allerdings eine Reihe von Einschränkungen gegenüber, die einen eher ambivalenten Eindruck hinterlassen. So geht etwa die ›Männerbündelei gerade noch in Ordnung‹. Der Machismo der Gallaghers erscheint dem Erzähler als so maßlos übertrieben, dass er ihn als Uneigentlichkeitssignal deutet. Mit Blick auf die Band wirkt das nicht sehr plausibel, doch offenbar geht es weniger darum, ob Oasis tatsächlich beabsichtigen, das »Klischee der ›Jungs‹ […] durch groteske Übersteigerung« der Kritik zu entziehen; entscheidend ist vielmehr, dass das Bühnengeschehen auf den Erzähler wirkt, als sei es auf ironische Rezeption hin angelegt. Wichtig ist das deswegen, weil dem Erzähler der ›Rockismus‹ der Band offensichtlich auch widerstrebt. Die Überzeichnung des Männlichkeitswahns macht diesen erträglich und funktioniert als »Lizenz für Prollerei und Dosenbier und überhaupt auch Schweinerock«86, als Rechtfertigung für die temporäre Aussetzung sonst gültiger ästhetischer und sozialer Wertmaßstäbe. Die Begeisterung des Erzählers gründet sich darauf, dass er sich des Ausnahmecharakters der Situation bewusst ist. Bei näherem Hinsehen erweist sich auch der Albumtitel »Be Here Now« als ambivalent: »›Be Here Now‹ – das kann ja alles heißen! ›Be Here Now‹ kann nicht nur, sondern will auch unbedingt – alles heißen«87. Obgleich der Titel zunächst auf einen einzigen und unvergleichlichen Moment gemünzt zu sein scheint, lassen sich mit ihm zahllose und beliebige Momente bezeichnen. Tom Holert hat die zugrunde liegende Konzeption von ›Fantum‹ umrissen. Der Held in Soloalbum verkörpert das Paradoxon des reflektierten, des postmodernen Fans, der über die üblichen Widersprüche einer Fan-Existenz informiert ist. Darüber, daß jeder Fan es mit blinden Flecken zu tun hat: ihm selbst verborgenen Beweggründen, realitätsfremden Überhöhungen, sozialen Zwängen usw. Entweder diese Flecken bleiben blind, also unerkannt. Oder sie werden aktiv ignoriert: dann entsteht ein neues Verhältnis zur eigenen popkulturellen Existenz.88

Dieses selbstbezügliche und reflexive ›postmoderne Fantum‹ basiert unter anderem darauf, dass der ›Fanatiker‹ »über die eigene Besinnungslosigkeit aufgeklärt ist«89, ein feines Sensorium für Toleranzschwellen entwickelt und sich vorbehält, im Fall ihrer Überschreitung seine Gefolgschaft aufzukündigen. In diesem Sinne ist der Hinweis des Erzählers zu verstehen, die »Männerbündelei« auf dem Konzert gehe »gerade noch in Ordnung«. Solange aber der kritische Punkt nicht erreicht ist, können denkbare Einwände unterdrückt werden. Dass Liam Gallagher einen ––––––––

86 87 88 89

148

Stuckrad-Barre 1998: 243. Stuckrad-Barre 1998: 245. Holert 1999: 28. Holert 1999: 28.

Bierbauch hat, ist »egal, fast egal«.90 Ähnlich wie im Rahmen des frühromantischen Konzeptes existentieller Ironie werden Enthusiasmus – als vollständiges Aufgehen in einer bestimmten Rolle und Situation – und Reflexion auf die Begrenztheit von Rolle und Situation nicht als einander ausschließende Gegensätze begriffen.91 Da das Problempotential des Intensitätserlebnisses (Besinnungslosigkeit, Primitivität usw.) »absichtlich vergessen«92, aber auch jederzeit wieder erinnert werden kann, ist es möglich, ›Fanatismus‹ in sozial akzeptabler Weise auszuleben.93 Vor diesem Hintergrund klärt sich der Hinweis des Erzählers in Soloalbum, vor der Konzertbühne gehe es »nicht unbrutal« zu. Der Erzähler ›heult mit den Wölfen‹, um ganz in eine Welt von »Prollerei und Dosenbier« einzutauchen, ohne sich deswegen auf Primitivismus und Chauvinismus festlegen zu lassen. Der Romanschluss bringt diese ›paradoxe‹ Kombination von Verabsolutierung und Relativierung auf den Punkt, wobei erneut ein Albumtitel von Oasis Pate steht. Ein letztes Mal erwägt die Hauptfigur, die Exfreundin aufzusuchen und die gescheiterte Beziehung zu retten. »Aber das würde wahrscheinlich auch nichts ändern. Man weiß es nicht. Ja. ›Definiteley Maybe‹, das ist der beste LP-Titel aller Zeiten.«94 Stuckrad-Barre hat sich dem gleichen Thema in der Humoreske Ironie (1999) gewidmet. Ausgangspunkt ist der Befund einer allgegenwärtigen Ironie, wie sie unter anderem anhand von T-Shirts mit ironischen Aufschriften diskutiert wird. Ähnlich wie in Tristesse Royale ist die Innovations- und Entwertungsdynamik der Mode ein wichtiger Bezugspunkt. Den fiktionalen Rahmen des Textes bildet eine von der Nachbarin des Erzählers geplante Protestveranstaltung: –––––––– 90 91 92 93

94

Holert 1999: 28. Vgl. oben S. 10. Schlegel 1967: 185. Der Versuch, Autonomieverlust auszukosten und ihn zugleich reflexiv zu kontrollieren, wird in Tristesse Royale im Zusammenhang mit religiösen Sekten thematisiert. ›Gehirnwäsche‹ erscheint vor diesem Hintergrund als Entlastungsangebot für Menschen, die von der zunehmenden Vereinzelung und vom Werterelativismus überfordert sind. Hier lässt sich ein Bezug zu tatsächlichen Sektenmitgliedern herstellen, welche vorgeben, religiöse Indoktrination als ›Abenteuer‹ zu erleben. So schildert ein ehemaliges Mitglied der japanischen Aum-Sekte, die man in Europa vor allem wegen ihres Giftgasanschlags auf die Tokioter U-Bahn im Jahr 1995 kennt (zeitwillig fanden sich Informationen zu Aum auf Christian Krachts Homepage), seine Zeit bei der Sekte wie folgt: »Aum war für mich auch ein Abenteuer. Will man sich eine neue, unbekannte Welt erschließen, dann muß man deren System bis zu einem gewissen Grad tolerieren – sozusagen mit den Wölfen heulen. Daher wollte ich mich mit diesem System vertraut machen, ohne die damit verbundene Weltsicht ganz zu übernehmen. Einerseits wünschte ich mir, ganz in die Welt von Aum einzutauchen, andererseits wollte ich jedoch auch einen Schritt zurücktreten und die ganze Sache nüchtern und distanziert betrachten« (Murakami 2002: 385). Stuckrad-Barre 1998: 245.

149

Meine Nachbarin bereitete mit ihren Freunden eine Demonstration vor, das hatten sie schon lange nicht mehr gemacht. [...] Sie wollten gegen die Ironie demonstrieren, und das war nur allzu gut verständlich, die Ironie würde uns noch umbringen. Inzwischen war ja jedermann ironisch, man bekam, ob beim Bäcker, in Zeitungen, im Fernsehen, in der Werbung, auf Anrufbeantwortern, in Einladungen, Regierungserklärungen, Postkarten oder in den Charts, überhaupt nur noch ironische Auskünfte. Wäre das Leben eine Bruchzahl, dann würde man all die Ironie unterm und überm Strich einfach wegkürzen können, um danach etwas klarer zu sehen.95

Ubiquitäre Ironie ›einfach wegzukürzen‹ erweist sich jedoch als Illusion, die offenbar auf einem Konzept problemlos decodierbarer Gegenteilsironie beruht. Mit dem Vorhaben der Nachbarin ist allerdings eine komplexere Problemlage anvisiert: Die Demonstration gegen die Ironie teilt mit dieser das Moment der Negation. Bei dem Versuch, Ironie ihrerseits aus kritischer Perspektive zu thematisieren, verwickeln sich die Figuren in einen performativen Selbstwiderspruch und sehen sich mit dem »Wunsch« und der »Unmöglichkeit« konfrontiert, »die Figur der Ironie zu negieren«.96 Auf erste Probleme verweist die Begründung, die Nachbarin und ihre Freunde hätten »das […] schon lange nicht mehr gemacht«. In welchem Verhältnis steht der Wunsch nach Abwechslung zu der Befürchtung, »die Ironie würde uns noch umbringen«? Die Krux liegt jedoch schon in der häufig parodierten Kommunikationsform ›Demonstration‹, die den Teilnehmern als historisch überholt gilt und deswegen nicht ernst genommen werden kann: Ich setzte mich dazu und tat das, was man vor vielen 100 Jahren »sich einbringen« nannte, jetzt aber nicht mehr so nennen durfte, weil diese Redewendung durch die Drüberlustigmachmühle gegangen war, aber die eigentlich interessante Frage war ja nicht, ob man es weiterhin so NANNTE, sondern, ob man es trotzdem noch MACHTE. Ich wußte darauf keine Antwort – und brachte mich also ein.97

Wer sich obsoleter Formulierungen wie »sich einbringen« bedient, muss damit rechnen, dass ihm dies als kulturhistorisches Zitat ausgelegt wird. Die Frage lautet dann, ob der Uneigentlichkeitsverdacht nur die Formulierung oder auch die damit bezeichnete Handlungsweise betrifft. Im zweiten Fall muss auch die Protestaktion selbst als ironisch gelten. Es ist deshalb nur konsequent, dass die geplante Demonstration zur »Selbstanzeige«98 ausgeweitet wird. Die aporetische Zuspitzung des Ironieproblems führt zu komischen Selbstblockaden: Ich kochte Kaffee, weil ich Tee trinken wollte wie alle anderen auch, aber Tee war das Demonstrationsgetränk schlechthin, und dies zu kopieren wäre unmöglich gewesen, nämlich wieder ironisch. Vielleicht. Oder einfach nur lecker. Du, ich mach’ uns erst

–––––––– 95 96 97 98

150

Stuckrad-Barre 1999: 84. Meid 2005: 59. Stuckrad-Barre 1999: 84. Stuckrad-Barre 1999: 87.

mal ´n Tee, das war doch Standardhalbsatz im allerbilligsten Spaßmacherrepertoire, und die Leute lachten gerne darüber, weil sie glaubten, selbstironisch zu sein.99

Wie in Soloalbum und Tristesse Royale werden auch Antithesen zur Ironie thematisiert, Konzepte stabiler Überzeugung und enthusiastischer Hingabe: »Es gibt ja T-Shirts, die man nicht nur getragen hat, an die hat man GEGLAUBT«100. Doch dieser Glaube erweist sich als instabil, sobald seine Abhängigkeit von kontingenten zeitlichen und sozialen Umständen reflektiert wird: Der Liebhaber meiner Nachbarin berichtete, das Lied »Freiheit« von Marius Müller Westernhagen habe ihn bei den Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig so euphorisch werden lassen, ganz ehrlich, und mittlerweile wüßte er einiges mehr über Musik, das zumindest sei sein Eindruck, und vielleicht auch über die sogenannte Freiheit, und eine ihm unlösbare Frage sei: Wer ist schlimmer, Westernhagen oder ich damals, daß ich ihm auf den Leim gegangen bin, oder sogar ich heute, weil mir überhaupt kein Leim einfällt, von dem ich nicht nach spätestens einer Woche wieder abgleite. / Wie schön doch mal ein langklebender Leim wäre!101

Am Beispiel des DDR-Bürgers, der sich in seiner Auflehnung gegen die SEDDiktatur von dem genannten Lied inspirieren lässt, wird die Situationsabhängigkeit euphorischer Stimmungen veranschaulicht. Westernhagens Beschwörung der Freiheit kann ihre Wirkung nur in einem politischen Kontext entfalten, der sich durch Beschränkung der verfügbaren Informationen auszeichnet. Als Bürger eines abgeschotteten Territoriums hat der Freund der Nachbarin weder unbegrenzten Zugriff auf Popmusik noch Gelegenheit, Erfahrungen mit der »Freiheit« zu machen. Erst nach dem Mauerfall hat er Gelegenheit, bessere Musik wie auch die Schattenseiten des Lebens im ›freien‹ Westen kennen zu lernen. Er erkennt nun in seinem früheren Nichtwissen die Voraussetzung seiner Euphorie. Zugleich gewinnt der imaginäre Gegenentwurf eines kontextunabhängigen und damit dauerhaften ›Glaubens‹ an Faszinationswert: »Wie schön doch mal ein langklebender Leim wäre!« Unbedingte Überzeugungen stehen jedoch wie in Soloalbum unter politisch-moralischem Vorbehalt: »Sehnsucht nach Fremdbestimmung und Deckelung, perfekter Nährboden für eine Diktatur«102, so deutet die Nachbarin den Wunsch ihres Freundes. Mit der Relativierung emphatischer Überzeugungen von einem historischrelativistischen Standpunkt aus wächst die Sehnsucht nach kontextunabhängigen und stabilen Überzeugungen, die konventionell in die Nähe von Autoritarismus und Kollektivismus gerückt werden. Und selbst noch dieser Zusammenhang wird als Bestandteil einer Diskursroutine vorgeführt. Auch die Interpretation der Nachbarin ist aufgrund ihrer Erwartbarkeit nicht dagegen gefeit, als uneigentlich und demonstrativ anachronistisch verstanden zu werden, denn noch während die –––––––– 99

100 101 102

Stuckrad-Barre 1999: 87. Stuckrad-Barre 1999: 85. Stuckrad-Barre 1999: 87f. Stuckrad-Barre 1999: 90.

151

Nachbarin doziert, »schaute [ich] aus dem Fenster, um nicht durch ihren Blick Gewissheit darüber zu erlangen, ob sie auch das wieder postirgendwie meinte«103.

6.4 Tristesse Royale: Funktionsschwächen der ›postmodernen Lösung‹ Als einem nachträglich redigierten Gesprächsprotokoll kommt Tristesse Royale innerhalb der von Erzähltexten dominierten Popliteratur ein formaler Sonderstatus zu.104 Die Überarbeitung scheint aber nicht darauf abgezielt zu haben, das Rohmaterial übersichtlich und nachvollziehbar zu machen, denn der Argumentationszusammenhang der Unterhaltungen ist lückenhaft und verworren. Mit der Selbstbezeichnung als, so der Untertitel, »popkulturelles Quintett«, inszenieren sich Kracht, Stuckrad-Barre, Bessing, Schönburg und Nickel medienwirksam als Autorengruppe und verorten sich in einem mit Musikzeitschriften wie Spex assoziierten Diskussionszusammenhang. Obgleich aus dieser Konstellation keine weiteren Texte hervorgegangen sind, hat das Gemeinschaftswerk nicht nur das öffentliche Bild der beteiligten Autoren geprägt, sondern auch ihre weiteren Veröffentlichungen beeinflusst. Zentrale Themen und Motive begegnen nicht nur in Christian Krachts Roman 1979 wieder. Die Gruppe stellt sich die Aufgabe, ein »Sittenbild unserer Generation« zu schaffen und herauszufinden, was »ihre Welt im Innersten« (TR 11) zusammenhält. Diese Bestandsaufnahme steht jedoch, wie das angestaubte Bildungszitat und die anachronistische Formulierung »Sittenbild« unterstreichen, unter Vorbehalt. Der hybride Anspruch des Projektes wird damit bereits zu Beginn eingeräumt. Überzogen sind auch die gesellschaftlichen und kulturellen Problembefunde der Gruppe. An erster Stelle steht dabei die gesellschaftliche Normalisierung und Banalisierung von Ironie, was anhand einer Werbeanzeige für die deutsche Rockband Scorpions demonstriert wird, in der es heißt: Fit für das neue Rock-Jahrtausend, die Skorpione ’99: neuer Wein in alten Schläuchen. Wir erkennen sie kaum wieder – Groove-lastig, kompakt und kurzgeschoren kommt ›eye to eye‹ daher. […] Peinliches Pathos wurde dieses Mal einer neuen Ironie geopfert. Keine Frage – mit ›eye to eye‹ verlässt Deutschlands Hard-’n’-heavyFlagschiff die gewohnte Fahrrinne und geht auf Expeditionskurs. Und wo es elektronisch beept und faucht, erklingt auch Klaus Meines Stimme jugendlich, kontrastiert er Schenkers schwere Gitarren-Glocke mit der nötigen Wucht. Klar ist das noch der alte Wein. Aber schmeckt der nicht sowieso am besten? (TR 127).

Auf das damit aufgeworfene Glaubwürdigkeitsproblem einer Anpassung an den Zeitgeist kommt die Runde mehrfach zu sprechen. Gleiches gilt für den Bruch mit Ausdruckskonventionen und ›peinlichem Pathos‹, der seinerseits zur Konvention erstarrt zu sein scheint, wenn selbst die ›provinziellen‹ Scorpions ihr Image –––––––– 103 104

152

Stuckrad-Barre 1999: 90. Meinecke/Stuckrad-Barre u. a. 2007: 390.

halbherzig (›klar ist das noch der alte Wein‹) mit Kurzhaarfrisuren und einer »neuen Ironie« aufzupolieren versuchen. Das Zitat versammelt wesentliche Merkmale einer mittlerweile automatisierten ›antirockistischen‹ Pop-Attitüde der 80er Jahre. Die Adlon-Gruppe problematisiert Ironie ähnlich wie Kracht in Faserland durch eine Kontrastierung mit überzeichneten Kommunikationsidealen der Aufrichtigkeit, Intimität und Konzessionslosigkeit. Zu diesem Zweck entwirft Joachim Bessing ein imaginäres Szenario: »Du stehst in Zukunft zu Hause vor dem Plattenschrank mit einer Frau, die du begehrst. Und dann legst du ›Blue Lines‹ von Massive Attack auf, zwinkerst ihr zu. Dann lacht ihr beide. So wird es sein. IronicHell« (TR 144). Die Verbreitung und allgemeine Beliebtheit von Blue Lines macht es zum Fauxpas, das Album in einer Situation abzuspielen, in der es darauf ankommt, dem potentiellen Partner gegenüber Originalität und Individualität unter Beweis zu stellen, das Problem kann aber mittels Ironie umgangen werden. Thematisiert wird die postmoderne Musterlösung des Originalitätsproblems der Moderne, wie sie beispielsweise Umberto Eco umschrieben hat: Die postmoderne Antwort auf die Moderne besteht in der Einsicht und Anerkennung, daß die Vergangenheit, nachdem sie nun einmal nicht zerstört werden kann, da ihre Zerstörung zum Schweigen führt, auf neue Weise ins Auge gefaßt werden muß: mit Ironie, ohne Unschuld. Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: »Ich liebe dich inniglich«, weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: »Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.« [...] Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit [....]. Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden.105

Als Kommunikationsmedium transformiert Ironie die Unwahrscheinlichkeit der Annahme von Originalitätsbehauptungen in Wahrscheinlichkeit, indem sie den Trivialitätsverdacht vorwegnimmt und entkräftet.106 Eco bedenkt allerdings nicht, dass sich dieses Medium durch fortgesetzten Gebrauch verbraucht. Auch gespielte Naivität wirkt nicht dauerhaft originell und setzt sich kommunikativen Annahmerisiken aus. Dieser Funktionsverlust wird in Tristesse Royale negativ überhöht, indem Ironie dämonisiert und mit Aufrichtigkeitsforderungen kontrastiert wird, denen gegenüber sie als pathologische Abweichung und moralisches Fehlverhalten erscheint, obgleich sie das Aufrichtigkeitsgebot in Wahrheit nicht verletzt. Verantwortlich für die »Ironic-Hell« ist Bessing zufolge der Lifestyle- und Popjournalismus der 80er Jahre: Schuld daran ist meiner Meinung nach für unsere Generation die Zeitschrift Tempo in den achtziger Jahren, die mit ihrem Werbespruch »Anything Goes« und der gleich-

–––––––– 105 106

Eco 1987: 78f. Vgl. Appen 2004: 161 u. Frank 2003: 224, 230. Dazu oben S. 46.

153

lautenden Haltung und ihren Inhalten und Bildern dieses ganze Schlamassel erst angerichtet hat. (TR 162)

Voller ›Sündenstolz‹ – mehrere der im Adlon versammelten Autoren haben für Tempo gearbeitet – nennt Bessing bezeichnenderweise nicht Sounds oder Spex, sondern ein Magazin ohne dezidierten ›gegenkulturellen Überbau‹. Dementsprechend beziehen sich die Selbstanklagen in Tristesse Royale anders als bei Diederichsen nicht auf einen politischen, sondern einen kulturellen und moralischen Niedergang: »Wir haben alle so eine Schuld auf uns geladen, das kann man nicht wiedergutmachen. Niemals« (TR 183). Joachim Bessing kommt im zwei Jahre nach Tristesse Royale publizierten Roman Wir Maschine noch einmal auf Blue Lines und Massive Attack zurück. Der Roman handelt von dem letztlich scheiternden Karrieristen Gumbo, der durch eine Liebesbeziehung mit der erfolgreichen Barbara Zugang zur glamourösen Werbebranche erhält. Nachdem sich Barbara zurückgezogen hat und der Protagonist aus einem prestigeträchtigen Projekt gedrängt wurde, scheint sich jedoch alles zum Besseren zu wenden. Barbara ist anscheinend bereit, zu Gumbo zurückzukehren, doch während eines Rendezvous läuft in Barbaras Wohnung das sechste Stück der ersten LP von Massive Attack, Unfinished Sympathy, – und das ausgerechnet jetzt, wo er mit Barbara zum ersten Mal seit sieben Monaten und fünfzehn Tagen wieder auf ihrem Bett liegt, genau dieses Stück von dieser LP … das verwirrt ihn noch mehr, und Barbara sieht den Ausdruck auf seinem Gesicht und zwinkert ihm schon wieder zu, und das macht alles nur noch schlimmer.107

Wie in Tristesse Royale stehen Massive Attack für einen Uneigentlichkeits- bzw. Täuschungsverdacht, den das anschließende Zwinkern Barbaras aus Sicht des verunsicherten Gumbo bestätigt. Gumbo verzweifelt an seiner Unfähigkeit, Barbaras wahre Gefühle ihm gegenüber zu erkennen: »Ich möchte du sein, weil ich wissen will, ob du mich liebst. Ob du dich irgendwo in dir versteckt hältst.«108 Seine Furcht davor, einer Intrige zum Opfer zu fallen, erweist sich als berechtigt, da Barbara ihm im Schlaf mittels einer obskuren Maschine eine Substanz, wahrscheinlich Heroin, verabreichen lässt und ihn damit in die Abhängigkeit treibt. Die Antithese (uneinlösbares) Authentizitätsideal/(transparente) Verstellung liegt auch einer Anekdote in Tristesse Royale zugrunde, die den im Popkontext traditionsreichen, auch in Faserland aufgegriffenen Topos ›Homosexualität als simulatorische Lebensform‹ in Szene setzt. Im Mittelpunkt stehen der Modedesigner Helmut Lang, genannt Bu-Bu, und dessen Wiener Mäzen, der Restaurantbesitzer ›Motto-Franze‹. Als dieser eines Tages entdeckt, dass Bu-Bu ihn mit einem anderen Mann betrügt, greift er sich das große Chef-Messer [...] und schneidet sich rein in den Arm, und dann tröpfelt das Blut heraus. Motto geht hinein in den Gastraum, wo viele Menschen

–––––––– 107 108

154

Bessing 2001: 169f. Bessing 2001: 173.

sitzen, und zeigt denen das tropfende Blut und schreit: »Der Bu-Bu ist weg. Er kummt nimmer wieder.« Das Problem war aber dann, daß er sich nicht tief genug geschnitten hatte, es blutete nur stark. Es war nur Homo-Ernst. (TR 180)

Als theatraler, ›nur‹ zeichenhafter Akt wird die Selbstverletzung Mottos dessen emotionalem Ausnahmezustand nicht gerecht. Die einzig angemessene Konsequenz aus seiner Enttäuschung wäre ein Suizid. Auf der Opposition existentiell/zeichenhaft beruhen auch viele der in Tristesse Royale diskutierten Pseudolösungen für das Ironieproblem. Rock, Spiritualität, Islam, Krieg und Sektencamp stellen ›maßlose Gegenwürfe‹109 zur kontingenten, ›wohlstandsverwahrlosten‹ und als unwirklich erfahrenen »Ironic-Hell« dar. Sie versprechen »[s]aubere Verhältnisse« (TR 179), also beispielsweise strikte Geschlechtertrennung (TR 185), und »klare Struktur« (TR 58), mithin keine mehrstufige Kommunikation, sondern überschaubare und direkte Sozialbeziehungen, emotionale Betroffenheit und ideologischen Eifer. Häufig handelt es sich dabei um behavioristische Schreckensszenarien totaler Abhängigkeit, die das »Glück der Unfreiheit« in Aussicht stellen und alles andere als »zweitrangig« erscheinen lassen (TR 161). Der Übertritt in diesen Zustand absoluter Determination bedeutet eine Befreiung von Desorientierung und ist als ›Weg ohne Zurück‹ konzipiert: »Jetzt möchte ich wissen: Wer von uns entscheidet sich für die komplette Ironisierung, wer für den Rock?« (TR 144) Diese Gegenwelten unterstreichen die Ausweglosigkeit der Ausgangssituation und sind zugleich als Ausgeburten von Sehnsüchten und Alpträumen gekennzeichnet. Eckhard Schumachers Aufsatztitel »Sinnsuche als Kitsch«110 trifft den Nagel auf den Kopf. Wie die verkitschte Schweiz in Faserland erweisen sich auch die maßlos überzeichneten Gegenbilder in Tristesse Royale als durchschaute sentimentale oder phantasmagorische Projektionen.111 Gleiches gilt für die in Tristesse Royale diskutierten Konversionsmodelle, die als illusionäres Versprechen einer ›Heilung‹ gekennzeichnet sind. Überdies werden sie von Bessing im Rahmen der ›falschen Alternative‹ (Diederichsen) Ironie/Authentizität und unter Ausschluss einer dritten Möglichkeit thematisiert. Alexander von Schönburg bringt das zum Ausdruck, als er auf Bessings Forderung nach einer Entscheidung für »komplette Ironisierung« oder »Rock« antwortet: ––––––––

109 110 111

Plessner 2001: 29. Schumacher 2002. Kracht korrigiert in Tristesse Royale seine Idyllisierung der Schweiz: »Ich habe so gelacht. Und gleichzeitig bin ich mir selbst so auf die Nerven gegangen mit meiner Schweiz-Stilisierung. Ich weiß doch gar nichts über die Schweiz. Die Menschen dort sind doch so richtig schlimm und unerträglich« (TR 185). Das hält Kracht aber nicht davon ab, sich auf seine Schweizer Staatsbürgerschaft und die Neutralität der Eidgenossenschaft zu berufen, als Journalisten ihn nach dem 11. September 2001 fragen, ob er sich freiwillig zum Kriegseinsatz melden werde, um den in Tristesse Royale beschworenen »Heldentod« (TR 139) zu sterben. Siehe Reents/Weidermann 2001.

155

Eine interessante Weggabelung. Oder möchte ich das jetzt durch das Wort Fegefeuer ersetzen? Ich glaube, es ist wie in dem abstoßenden Lied von Cat Stevens: »Father and Son«. Daß man sich bekehrt zu einem wirklichen Leben. / CHRISTIAN KRACHT: Aber das hat doch jetzt schon die ge-remodelte Madonna mit dem Kind und allem gemacht. (TR 144).

Kracht unterstreicht die Fragwürdigkeit der Option ›Bekehrung zu einem wirklichen Leben‹, indem er sie als Versatzstück massenmedialer Diskurse kennzeichnet: Die New-Age-Mystik von Popstars wie Madonna, die sich an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere fernöstlicher Spiritualität oder der Kabbala zuwenden, ist das unseriöse, aus Naivität oder Langeweile geborene Pendant zu traditionellen religiösen Bekehrungsmodellen, die einen Bruch mit dem bisherigen Leben voraussetzen und dem Konvertiten Beständigkeit abverlangen. Bei Madonna wird daraus ein imageförderndes, unverbindliches ›Re-Modeling‹, das der ›transnormalistischen‹ Sehnsucht nach dem ›ganz Anderen‹ schon aufgrund seiner Nähe zum Boulevard und seiner Massenkompatibilität nicht genügen kann. Allerdings ist Krachts Meinung nicht repräsentativ für die Gruppe. Schönburg weiß der Vorstellung eines ruhigen und selbstgenügsamen Lebens abseits des Trubels – »Find a girl, settle down, if you want you can marry« (vgl. TR. 46), wie es in Father and Son heißt – durchaus etwas abzugewinnen. Anders als die Gewalt- und Unterdrückungsphantasien seiner Kollegen ist sein Projekt ohne großen Aufwand zu realisieren: Morgen gebe ich das Rauchen auf. Dann ziehe ich nach Weimar, nehme mir eine Altbauwohnung irgendwo an der Ilm oder in der Schillerstraße, lasse mir morgens die New York Times vom Internet ausdrucken, gehe einen Kaffee trinken, auf einen Sprung ins Nietzsche-Archiv, dann esse ich irgendwo eine Thüringer Rostbratwurst oder gehe mit meiner Frau im Wald spazieren. (TR 63)

Den ersten Schritt auf dem Weg zur ›Gesundung‹ beschreibt Schönburg in seinem als Rowohlt-Taschenbuch publizierten Ratgeber Der fröhliche Nichtraucher (2003). Mehrfach greift er hier auf die Konversionssemantik von Tristesse Royale zurück, stilisiert den Nikotinentzug zur Wiedergeburt und erklärt das zigarettenfreie Leben zur authentischen Daseinsweise, deren ›Unmittelbarkeit‹ nicht mehr durch die Sucht gestört ist: »Seien Sie darauf vorbereitet, daß das Leben plötzlich sehr viel unmittelbarer wird, sobald dieser Schleier aus Rauch gelüftet wird.«112 In Tristesse Royale dagegen kann von auch nur halbwegs gelingenden Lebensentwürfen nicht die Rede sein. Darüber hinaus sind selbst die Phantasien einer terroristischen Wiederherstellung der Unmittelbarkeit durch Literatur, Film und Fernsehen vermittelt: Von innen bomben, das wäre mein Vorschlag. [...] Bomben aus Semtex bauen und die dann in Prada-Rucksäcken an die Art-Direktoren schicken, per Kurier. Oder das Cafe Costes oder das Adlon sprengen. Ich glaube eben die Bombardierung der Stätten des Falschen von innen heraus wird die Zukunft sein. (TR 156)

–––––––– 112

156

Schönburg 2004: 42.

Bessing spielt hier auf Bret Easton Ellis’ Roman Glamorama (USA, 1998) an. Dass die luxuriösen »Stätten des Falschen von innen heraus« zu attackieren sind, verweist auf die Totalisierung des in Tristesse Royale diskutierten Problemzusammenhangs. Zugleich bestätigt das Zitat die selbstreferentielle Geschlossenheit des Popdiskurses, für die in Tristesse Royale wie bei Strauß exemplarisch Quentin Tarantinos Pulp Fiction steht, der die Filmgeschichte zitiert und Figuren ›aus zweiter Hand‹ konstruiert, die ihrerseits von den Zuschauern kopiert werden, so dass ein geschlossener Kreislauf entsteht: »[A]us dem Zitat dieser Zitate entsteht die Kultur um uns herum« (TR 31). In die gleiche Richtung deutet Schönburgs Vergleich des Gemütszustandes seiner Generation mit dem Ennui, der die Kriegsbegeisterung von 1914 motivierte. Der Hinweis auf die latente Disposition zum vitalistischen Gewaltexzess überspitzt eine stereotype Kulturkritik: Junge Menschen sehnten sich nach Aufregung, nach Heldentum, ja, Heldentod letztendlich. [...] In einer ganz ähnlichen Verfassung befindet sich unsere Generation heute. Wir werden von vorne und hinten entertained. Die Spannung ist weg. Das geht sogar soweit, daß sich völlig gesunde und vernünftige Menschen, wie wir es sind, für Geld im Adlon einsperren lassen, um über ihre Wohlstandsverwahrlosung zu lamentieren. Wäre das hier Cambridge und nicht Berlin, und wäre es jetzt der Herbst des Jahres 1914 und nicht der Frühling des Jahres 1999, wären wir die ersten, die sich freiwillig meldeten. / Es wird dunkel. (TR 138)

Der Irrealis (»wären wir die ersten«) setzt den Kassandra-Ruf gleichsam in Klammern, die Regieanweisung übernimmt die Funktion bedrohlicher Filmmusik. Im Übrigen sind die Regeln des politisch Schicklichen eingehalten, da Schönburg nur für England in den Krieg ziehen würde. Die Projektion von Gegenentwürfen wie Terror, Krieg oder Sektencamp ähnelt dem Hase-und-Igel-Spiel: Wohin man auch flüchtet, ist dasjenige, wovor man floh, bereits da. Das gilt auch für Krachts mehr oder weniger fiktionalisierte Reportagen in Der gelbe Bleistift (2000), die das Thema ›Ausweglosigkeit‹ variantenreich durchspielen. Der Reisende stößt in entlegenen Ecken der Welt auf dieselbe profane ›Allerweltskultur‹. Tönt geheimnisvolles Fiepen aus einer Lehmhütte in Vietnam, in der ein Mann zu erkennen ist, dessen Oberkörper sich hin und her bewegt – dann betet er nicht, sondern spielt mit einem »Nintendo-Game-Boy«113. Der Gegensatz vertraut/unvertraut kollabiert, das Unterschiedene löst sich in Einheit auf und der Blick richtet sich auf das unmarkierte ›Andere‹ der Unterscheidung. So antwortet Kracht in Tristesse Royale auf Schönburgs Entscheidung für eine ›Bekehrung zu einem wirklichen Leben‹ und gegen die ›komplette Ironisierung‹: »Der Sinn des Lebens muß es doch sein, diesen beiden sehr deprimierenden Alternativen aus dem Weg zu gehen.« (TR 144f.) Weil dieser Raum jenseits der Unterscheidung aber unmarkiert bleibt, werden stets von neuem Dichotomien konstruiert, die dann zusammenfallen. Dies gilt auch –––––––– 113

Kracht 2000b: 124. Dazu Birgfeld 2007: 411.

157

für die temporalisierten Antithesen der popliterarischen Bekehrungsgeschichten, deren Stillage in Abhängigkeit von den profanen oder außergewöhnlichen Handlungskulissen variiert. Die Themen reichen von der Diät bis zur physischen Vernichtung im Arbeitslager: »In einem Camp mit einem Guru, der für dich sorgt. Wo du einfachste Feldarbeiten verrichten mußt, einen strengen Tagesablauf hast, keine Fragen mehr zu stellen, sondern nur noch zu erfüllen hast.« (TR 162) Den lebensweltlichen Bezugspunkt bildet dabei der Wunsch nach einem Neuanfang, wie Bessing anhand eines Popsongs ausführt: [W]ie es bei den Cardigans heißt: »Erase and Rewind«. Wie bei dieser Zaubertafel, die es früher gab – man malt darauf, dann zieht man am Schieber, die Fläche ist wieder blank, und alles ist weg, vielleicht nur die Hälfte davon, aber man kann jetzt von neuem anfangen. (TR 156f.)

Durch das Bild der Zaubertafel, einem Kinderspielzeug, wird der Wunsch nach einem Neuanfang als naiv ausgewiesen: Die Überzeugung, allein durch einen Willensakt mit dem Gewohnten brechen zu können, beruht auf einem magischen Weltbild. Ähnlich desillusioniert entgegnet Kracht auf Schönburgs Feststellung, er erlebe im Adlon eine Katharsis: »Die Katharsis ist doch der Scheitelpunkt der Tragödie und der Parabel. Das hieße, die verschmutzte Unterhose würde sich nach der Reinigung in einen sauberen Büstenhalter verwandeln« (TR 118). Der Richtungsänderung am Scheitelpunkt der Parabel entspricht das krisenhafte Bekehrungserlebnis, das als Folge der kritischen Selbstbefragung im Hotel Adlon eintritt. Schönburg nimmt für sich eine ›Reinigung‹ von ›falschen‹ Vorstellungen und Werten in Anspruch. Krachts einigermaßen kryptische Antwort macht den Geltungsrahmen der Behauptung sichtbar, indem sie die verwendete Schauspielmetaphorik aufnimmt und damit Schönburgs theatralischen Gestus unterstreicht. Zugleich profaniert Kracht den Katharsisgedanken, assoziiert mit ›Reinigung‹ eher Waschmaschine als antike Tragödie und problematisiert die Idee einer fundamentalen Umkehr: Denn ein und dasselbe Kleidungsstück kann zwar sauber gewaschen, aber ohne Zauberei nicht in ein ganz anderes verwandelt werden. Schönburgs Glaube an ›Metanoia‹ ist damit als irrationaler Wunschtraum diskreditiert. Kracht hinterfragt die Bedingungen der Möglichkeit einer »mentalen Peripetie«. Der Ausdruck stammt von Wolf Schmid, der narrative Handlungsmuster danach unterscheidet, ob wie in realistischen Romanen eine solche Umkehr realisiert wird. Bei Dostoevskij und Tolstoj manifestierte sich das Ereignis in einer mentalen Peripetie, in einer kognitiven, seelischen oder ethischen Umkehr. […] In einem solchen Weltmodell ist der Held fähig zur tiefgreifenden, wesentlichen Veränderung, zum Überschreiten seiner charakterologischen und ethischen Grenzen. / Im postrealistischen Erzählen wird die Möglichkeit solcher fundamentaler Veränderungen grundsätzlich in Frage gestellt. In der Prosa Anton ýechovs streben die Helden zwar nicht selten nach einer radikalen Umkehr ihres Lebens, aber ein authentisches Ereignis will aus diesem oder jenem Grund nicht zustande kommen. Entweder vollzieht sich die Wende der Lebensumstände nur im Wunschtraum oder in der Illusion, oder es bleibt bei der bloßen

158

Absicht, oder die Umkehr kommt zu spät, um noch einen Einfluss auf das Leben der Helden zu haben, oder sie wird durch Rückfälle annulliert und durch Wiederholung entwertet.114

Tristesse Royale und andere popliterarische Texte inszenieren solche Entwertungen von Ereignishaftigkeit und stellen damit Veränderungsfähigkeit generell in Frage. Man denke an das ›Re-Modeling‹ Madonnas, das Kracht als Musterfall einer unauthentischen, weil serienmäßigen Persönlichkeitstransformation darstellt: Madonnas Hinwendung zum Judentum ist mit einem emphatischen Verständnis von ›Neuerfindung‹, wie es auch Diederichsen in Ein anderer werden vertritt, nicht zu vereinbaren.115 Die Popliteratur demonstriert dies ex negativo durch Nachweis der Sinnlosigkeit und Unrealisierbarkeit entsprechender Vorhaben: »Wir [...] sind so unauthentisch, daß es sich gar nicht lohnen würde, uns zu re-modeln. Wir befinden uns schon unser ganzes Leben in ständiger Metamorphose« (TR 137). Wird sie wiederholt oder verdankt sie sich einer profanen »Lust auf Metanoia«116, verwandelt sich die fundamentale Umkehr in ihre eigene ›Trashversion‹. Konversionsmodelle bilden einen mythisch-religiösen Bodensatz zeitgenössischer Massenkultur und leben nicht nur in der erzählenden Literatur, sondern auch in den Diätprogrammen der Illustrierten, den Realityshows und den populärpsychologischen Ratgebern fort. Ein nahe liegendes Beispiel ist Alexander von Schönburgs erwähnte Anleitung Der fröhliche Nichtraucher. Wie man gut gelaunt mit dem Rauchen aufhört. Wie der Titel sagt, ist die Grundidee, Entwöhnung nicht mit Verzicht in Verbindung zu bringen und zu zeigen, dass es »Spaß macht, diesen Weg zu beschreiten«117. Doch zugleich warnt Schönburg davor, die Neuerfindung mit einer »Banalität«118 zu verwechseln: »[E]s wird von ihnen nichts Geringeres verlangt, als sich zu ändern.«119 Diese Versetzung des Motivs ›mentale Peripetie‹ in den pragmatischen Kontext von Ratgeberliteratur ist umso auffälliger, da Schönburg sich in Tristesse Royale für seine Beschwörung einer Katharsis Spott einhandelt, selbst Zweifel an seiner ›Reformierbarkeit‹ äußert und vor einer Entwertung durch Wiederholung warnt. Allerdings bittet er in seiner Anleitung darum, die Wandlung zum Nichtraucher »diskret«120 zu behandeln und daraus »nicht gleich eine Art regelmäßigen ›Relaunch‹ seiner selbst [zu] machen«121. Zweifeln an der Umsetzbarkeit begegnet er mit der Forderung nach »– Achtung, jetzt kommt ein großes Wort! – ––––––––

114 115

116 117 118 119 120 121

Schmid 2007: 101. Zur Erinnerung: »[W]enn man das Glück der Neuerfindung wirklich ernst nimmt, dann muß man bereit sein, sich voller Courage als das neu zu erfinden, was keine weitere Wandlung mehr zulässt« (Diederichsen 2005e). Strauß 2001. Dazu oben S. 108. Schönburg 2004: 11. Schönburg 2004: 11. Schönburg 2004: 11. Schönburg 2004: 23. Schönburg 2004: 24

159

Veränderungsbereitschaft«122. Nur auf dieser Basis kann der »Übergang zum Nicht-mehr-Rauchen […] zum Schlüsselmoment« werden, »von dem an das Leben eine interessante Wendung nimmt«.123 Schönburg verzichtet auf grundsätzliche Kritik am Konversionsmodell, betont dessen religiöse Dimension und macht den Leser mit einem »Turbo-Trick« bekannt, »einer mächtigen, nicht durch den Verstand erklärbaren Hilfe«, die »uns sozusagen« zu »übernatürlichem Rückenwind« verhilft: »Was von ihnen nun verlangt wird, ist ein Akt der Unterwerfung und der Demut gegenüber Gott«.124 Da Gott auch die Bitten der Nichtgläubigen erhört, muss man dafür noch nicht einmal religiös sein. Die größte Gefahr für das Projekt ›Endlich Nichtraucher‹ ist der durch Zweifel an der eigenen Willensstärke ausgelöste Rückfall: »Blicken sie nie zurück! Hinterfragen Sie keinen Schritt. […] Wer zurückblickt, wird gefressen«125. Der in diesem Zusammenhang herangezogene Mythos von Orpheus und Eurydike bestätigt die Ernsthaftigkeit von Schönburgs Unternehmen. Während die mythische Überhöhung des ›Neuanfangs‹ in Tristesse Royale satirischer Natur ist, dient sie im Fröhlichen Nichtraucher der Untermauerung einer praktischen Lebensanweisung. Als Resümee zu Tristesse Royale lässt sich festhalten, dass eine Deutung als Provokation und kalkulierter Verkaufserfolg dem Text nicht gerecht wird.126 Lässt man sich auf die verhandelten Inhalte und die performative Darbietungsform des Textes ein, zeigt sich, dass die Grundfigur einer totalisierten, sämtliche Antithesen ›schluckenden‹ Ironie auf das Problem der fortschreitenden Normalisierung sekundärer Abweichungen in der Postmoderne bezogen ist. Der Funktionsverlust des postmodernen Paradigmas einer Aushebelung des Originalitäts- und Normalisierungsproblems wird beklagt, ein Ersatz ist aber nicht in Sicht. Deswegen verwerfen die Autoren Ironie programmatisch und nutzen sie zugleich als durchgängiges Formprinzip. Dieser Widerspruch steht im Zentrum der ›Performance‹ Tristesse Royale, aus ihm versuchen die Autoren rhetorische Funken zu schlagen. Im Rahmen eines Gesellschaftsspiels werden Meinungsäußerungen und Gesellschaftsdiagnosen in ein »Sprechen um der reinen Unterhaltung willen«127 überführt, wie es das Vorwort in Aussicht stellt: »›Was soll das, das macht doch keinen Sinn‹, könnte der Leser jetzt behaupten. Und er hätte recht. / Aber auch: ›Das ist so schön, das kenne ich, das folgt ja alles einem höheren Gesetz der Schönheit‹« (TR 11). Die ––––––––

122 123 124 125 126

127

160

Schönburg 2004: 11. Schönburg 2004: 43. Schönburg 2004: 68. Schönburg 2004: 65f. Im Übrigen war die Ausbeute für die Beteiligten eher gering, wie Benjamin von Stuckrad-Barre Jahre später feststellt: »Wir haben dafür alle nur 1.000 Mark gekriegt damals, das ist echt wenig, wenn man bedenkt, was wir für eine Haue gekriegt haben, von wegen was für reiche Leute wir seien« (Meinecke/Stuckrad-Barre u. a. 2007: 390). Amend/Lebert 2000.

Voraussetzungen dafür liegen in der dialogischen Versuchsanordnung, die dem Text zugrunde liegt. Ihr verdanken sich die Eigendynamik des oftmals undurchsichtigen Gesprächsverlaufs und wohl auch einige gelungene Bonmots und bizarre Bilder. Insofern kommt der Text dem von Stuckrad-Barre aufgestellten Ideal recht nahe: Was man ja immer möchte, wenn man einen Dialog schreibt, man möchte ja gerne, dass der Wahnsinn, den man in einem Gespräch erlebt, das ist ja der größte Kick der Welt, den möchte man irgendwie reinkriegen. Und das haben alle, die halbwegs seriös mit Text umgehen, schon mal probiert mit nem Aufnahmegerät […].128

Dass dabei die nachträgliche Redaktion, bei der sich »alle enorm klug geschrieben haben und die Sätze so umformuliert haben, dass sie geschrieben sind und nicht mehr gesprochen«, nicht dazu geführt hat, dass der Text »irre langweilig« wäre, verdankt sich wahrscheinlich nicht zuletzt der ›Verfälschung‹ und ›Glättung‹, die Stuckrad-Barre beklagt.129 Denn gerade der Kontrast zwischen den Spuren der Mündlichkeit und den wahrscheinlich später eingefügten Aufzählungen und Manierismen verleiht dieser Programmschrift, die keine sein will, ihren eigentümlichen Reiz.

6.5 1979: Schwere Unterscheidungen und »light entertainment« Christian Krachts im September 2001 publizierter Roman 1979 steht in enger Verbindung zu Tristesse Royale. Kracht übernimmt die Grundfigur einer totalisierten Ironie und stellt ihr Motive und Bilder aus dem Fundus religiöser Heilslehren und politisch-ideologischer Fundamentalismen entgegen. Er erzählt eine Bekehrungsgeschichte mit Krise, Initiation und Erweckungserlebnis und greift dabei auf die profanen und mythischen Konversionsmodelle in Tristesse Royale zurück. Die hierbei verwendeten disjunkten Oppositionen und Vorher/NachherKonstruktionen werden allerdings wie gehabt unterlaufen, um so Veränderungsfähigkeit und Fortschrittsglaube in Frage zu stellen. Die historische Einbettung der Romanhandlung kommt dabei der Absicht entgegen, die Antithesen Hedonismus/Askese bzw. Ironie/Authentizität in Szene zu setzen. Das Geschehen setzt am Vorabend der islamischen Revolution im Iran ein, die bekanntlich zur Absetzung des autokratischen Schah-Regimes und letztlich zur Errichtung eines Gottesstaates führte. Die anfangs Seite an Seite kämpfenden marxistischen und islamistischen Gruppierungen stimmten in ihrer Ablehnung der ›gottlosen‹ und ›sittlich verkommenen‹ USA überein. Aufgrund seiner religiösen Komponente passt der Konflikt nicht recht ins ideologische Koordinatensystem des Kalten Krieges, weil er nicht auf die Opposition Kapitalismus/Kommunismus –––––––– 128 129

Meinecke/Stuckrad-Barre u. a. 2007: 389. Meinecke/Stuckrad-Barre u. a. 2007: 390.

161

zurückgeführt werden kann. Er steht quer zur dominanten Konfliktlinie und scheint auf den von Huntington beschriebenen ›Kampf der Kulturen‹ vorauszuweisen, der die Öffentlichkeit aufgrund der Anschläge Al Quaidas bereits vor dem 11. September 2001 beschäftigte. In einem Interview zu 1979 weist Kracht auf die paradigmatische Bedeutung des historischen Rahmens hin. Nicht die geschichtlichen Ereignisse selbst, sondern ihre Symbolfähigkeit steht im Vordergrund: 1979 wurde in Teheran ein Paradigmenwechsel vollzogen, von einer dekadenten Gesellschaft hin zu einer neuen, eher rigiden. Die islamische Revolution im Iran war ja etwas völlig Einzigartiges; ein sabbernder, amerikanischer Kokainist in Ausgehuniform – ich spreche jetzt nur von den Bildern – wurde durch etwas Schönes und Neues ersetzt, durch einen bärtigen, gottesfürchtigen Mann […].130

Zugleich markiert das Jahr 1979 wie ausgeführt einen ersten Höhepunkt ›postmoderner‹ Popmusik. Bezeichnenderweise hören die Hauptfiguren, ein auf Bildungsreise im Nahen Osten befindliches homosexuelles Paar, zu Beginn der Handlung Blondie und Devo (1979 17), wobei hervorgehoben wird, dass es sich um Christophers Kassetten handelt.131 Der Partner des namenlosen Ich-Erzählers verkörpert die Schattenseiten einer postmodernen Lebensweise und stirbt am Ende des ersten Teils. Zahlreiche andere Verweise auf die Popkultur und -theorie der späten 70er Jahre weisen diese als Bestandteile eines umfassenden ›Dekadenzsyndroms‹ aus. Im Zentrum des Sujetaufbaus steht ein Bekehrungserlebnis der Hauptfigur, die nach dem Tod Christophers mit ihrer bisherigen, eher luxuriösen Lebensweise bricht und sich im Auftrag des dubiosen und undurchsichtigen Rumänen Mavrocordato zu einer Pilgerfahrt nach Tibet aufmacht, um »das aus den Fugen geratene Gleichgewicht wiederherzustellen« (1979 117). Dort wird sie von chinesischen Soldaten verhaftet, interniert und im Sinne der maoistischen Ideologie ›umerzogen‹. Sie selbst wertet das Ergebnis ihrer Indoktrination als ›Besserung‹ (1979 183). Diese mit allerlei kulturhistorischen Referenzen angereicherte, zuweilen Elemente des Abenteuerromans aufgreifende Geschichte basiert auf einer sehr übersichtlichen Axiologie. Sowohl das Geschehen als auch die Symbolebene des Textes beruhen auf homologen Oppositionen wie schmutzig/rein oder Isolation/Gemeinschaft. Die plakative Antithetik wird freilich durch die narrative Ausgestaltung des Sujets unterlaufen, das zugrunde liegende Konversionsschema wird dekonstruiert. Zu Beginn steht die zerrüttete Beziehung der beiden deutschen Touristen im Mittelpunkt. Die Verachtung Christophers für seinen Freund geht so weit, dass er im eigenen Tod eine willkommene Demütigung des Partners sieht: »Ich finde Dich so langweilig. Ich habe dich schon immer langweilig gefunden. Ich wollte nur nicht alleine sein, das war alles. Und jetzt gehe ich weg und lasse Dich allein« ––––––––

130 131

162

Reents/Weidermann 2001. Hervh. C. R. Zur Bedeutung dieser Bands im Kontext der New Wave siehe oben S. 54ff.

(1979 77). Die Gegensätzlichkeit der beiden Figuren zeigt sich auf der Party eines reichen Teheraners, wo sich der hoch gebildete und schwer kranke, »viel zu gut aussehende blonde Zyniker« (1979 69) Christopher unter den internationalen Gästen sichtlich wohl fühlt, während der einfältige Erzähler wie ein Fremdkörper wirkt. Über dem Geschehen lastet eine Untergangsatmosphäre, denn während der Jet Set sich in der Villa auf den Bergen über der Stadt die Zeit mit Kognak und Kokain vertreibt und von erlesenem, mit Champagner gewaschenem Schuhwerk und aus der Schweiz eingeflogenen Bernhardinern die Rede ist, werden in der Stadt Straßensperren errichtet (1979 20, 46, 40). Der Hausherr führt das deutsche Paar zu einem »Haschwald« (1979 43), durch den ein Bach fließt, in den »jemand […] mehrere Eimer einer weißen Flüssigkeit […] geleert« (1979 43) hat. Angespielt wird auf das falsche Paradies des ›Alten vom Berge‹ Ibn-al-Sabbah, legendärer Führer einer schiitischen Sekte des 11. Jahrhunderts. Er soll seine ›Assassinen‹ – die Bezeichnung ist vielleicht von ›Haschisch-Esser‹ abgeleitet – unter Drogen gesetzt und ihnen vorgespiegelt haben, sie befänden sich im Paradies, um sie unter Androhung ihrer Vertreibung für Terrorakte einsetzen zu können.132 Der ebenfalls anwesende Mavrocordato spricht diese Parallele an, woraufhin der Held in Manier der Adlon-Gesprächsrunde erwidert: »Ich würde eher sagen, dieser Garten ist das genaue Gegenteil des Paradieses« (1979 53).133 Dass die Selbstbeschreibung des ›popkulturellen Quintetts‹ einen durchgängigen Subtext von 1979 bildet, wird spätestens dann klar, wenn Mavrocordato fast unverändert Joachim Bessings Text in Tristesse Royale zitiert: »Das [krank] sind wir alle. Sehen Sie sich das hier an. Wir können das alles nie wiedergutmachen, niemals« (1979 58).134 In diesem aus Versatzstücken konstruierten Dekadenztableau repräsentiert neben Christopher vor allem dessen Freund Alexander, ein ›Wiedergänger‹ der gleichnamigen Figur in Faserland, eine außer Kontrolle geratene Ironie.135 Alexander scheint mit seinem roten T-Shirt, dem aufgedruckten schwarzen Hakenkreuz und der Inschrift »THE SHAH RULES OK IN ’79« (1979 38) dem subversiven Affirmationsprogramm der späten 70er Jahre zu folgen. Das zynische Statement erinnert zwar an das poptypische ›mit den Wölfen heulen‹; doch im –––––––– 132

133 134 135

Um 1840 nannte sich ein Pariser Künstlerkreis, darunter Delacroix und Balzac, »Club des Hachichins«. Die Legende inspirierte Charles Baudelaire zum Titel seiner Essaysammlung Les Paradis artificiels: opium et haschisch (1860). Kupfer 1996: 18f., Fn. 30. Zur Formel das »genaue Gegenteil« siehe TR 149. Vgl. TR 183. In Faserland werden Fotos erwähnt, die den einen Joint rauchenden Alexander auf einer Yacht im Mittelmeer zeigen (F 63). Der Erzähler in 1979 erinnert sich daran, bei diesem Ausflug dabei gewesen zu sein (1979 37), was zeitlich eigentlich unmöglich ist, da der Alexander in Faserland zusammen mit dem Protagonisten das Internat Salem besucht hat (F 58) und damit ungefähr Ende der 60er Jahre geboren sein müsste. In den 70er Jahren wäre er demnach noch ein Kind gewesen.

163

Kontext eines autoritären Regimes erweist sich die von Diederichsen und anderen als ›aufklärerisch‹ interpretierte Provokation mittels NS-Symbolen als hinfällig. Der Gastgeber hat immerhin ein Porträt des Schahs in seiner Villa aufhängen lassen (1979 35). Auch eine Decouvrierung der ›Scheinliberalität‹ des ›Systems‹ wäre in diesem Zusammenhang ein absurdes Unterfangen. Überdies wäre es für eine Decodierung des Statements nach dem Inversionsmuster nötig, Alexander eine intelligible Absicht zu unterstellen, was jedoch kaum möglich ist, da er auf den Erzähler »völlig wahnsinnig« (1979 38) wirkt. Alexander assoziiert mit der Swastika ein wirres Gemisch aus esoterischem Arier-Kult und Popkultur. Auf sein T-Shirt angesprochen, faselt er vom »heiligen Berg Kailasch» (1979 38) und von »Shabu-Shabu. Crystal Meth. Die Nazi-Droge, das Biker-Glück, die neue Reinheit, Punkrock« (1979 39). Dazu ertönen im Hintergrund die »Nazi-Klänge von Throbbing Gristle« (1979 38), jener Industrialband, die 1982 das Vorbild für Diederichsens Mimikrymodell war.136 Diese Überzeichnung der moralischambivalenten Aspekte früher Popstrategien kontrastiert mit Diederichsens retrospektiver Einschätzung, der den Verfall des Subversionsprogramms auf die Zeit nach den frühen 80er Jahren datiert, als sich ›oberflächliche Popper‹ der NewWave-Rhetorik bemächtigen. Mit der Schilderung einer bizarren ménage à trois zwischen dem Erzähler, Christopher und dem Gastgeber im »Haschwald« greift Kracht ein weiteres Motiv des Postmodernediskurses auf. Verbunden über Gummischläuche an einer »hölzerne[n], taschenbuchgroße[n] Maschine« (1979 44), die sich der Hausherr um die Brust geschnallt hat, erwartet die beiden Deutschen offenbar ein bislang unbekanntes sexuelles Vergnügen. Der Erzähler steht der »étrange Maschine« (1979 47), die mit einer ›Abart‹ der von Wilhelm Reich postulierten kosmischen Energie ›Orgon‹ (1979 46) angetrieben wird, allerdings skeptisch gegenüber und bricht den Vorgang ab. Als Vorrichtung für einen technisch vermittelten Sexualakt ohne unmittelbaren Körperkontakt ist die Maschine dem im ersten Teil des Romans dominierenden Bereich des ›Widernatürlichen‹ zugeordnet. Sie steht für lustvolle Entfremdung und jenes von Postmoderne-Kritikern monierte »Leben aus zweiter Hand«137. Den Höhepunkt dieses ersten Abschnitts bildet der Tod des bei einem Sturz durch eine Glasscheibe verletzten Christophers. Auf dem Weg ins Krankenhaus erkennt der Erzähler dessen ›wahres‹ Wesen: Hinten röchelte Christopher. Es war zum Herzerweichen, aber als ich mich umdrehte und ihn ansah, wie er dalag, das rot-weiße Frotteehandtuch um den Kopf gewickelt, wie ein halbleerer Müllsack sah er aus, wie ihm seine schweißnassen Haare in die Stirn fielen und er auf sein Hemd blutete und sein linkes Auge glotzend halb offen stand, da sah ich ihn auf einmal in seiner ganzen, wirklichen, seiner linkischen

–––––––– 136 137

164

Vgl. S. 44. Kurz 1999: 109.

Erbärmlichkeit, und plötzlich, auf einmal, sah ich auch mich in meiner ganzen widerlichen Erbärmlichkeit. (1979 69).

Damit wird die bislang vorherrschende Dissoziation von Sein und Schein aufgehoben. Von Christophers imposanter, beängstigender und vom Erzähler mit einer übernatürlichen, nicht von Menschenhand geschaffenen Statue assoziierten Gestalt bleibt nur ein »halbleerer Müllsack« übrig (vgl. 1979 41). Die metaphorische Gegenüberstellung von Sein und Schein, Oberfläche und Tiefe wird durch eine Bemerkung Mavrocordatos vorbereitet, der mit Blick auf den exzessiven Drogenkonsum Alexanders von »halbgaren eleusischen Mysterien« (1979 60) spricht: »Stellen Sie sich den Alexander dort auf dem Rasen als jemand vor, der andere Menschen häutet und sich dann deren Haut anzieht« (1979 60). Diese Anspielung auf den Mythos von Persephones Wiedergeburt und Rückkehr aus dem Schattenreich, der den Mysterien von Eleus zugrunde lag, zielt auf den mythologischen Kern des popliterarischen Wandlungsmodells. Eine durch Ablegen der äußeren Hülle signalisierte, scheiternde ›Wiedergeburt‹ spielt auch in Faserland eine wichtige Rolle, wenn der Erzähler seine Barbourjacke auf dem Frankfurter Flughafen verbrennt, nur um sie durch eine Jacke der gleichen Marke zu ersetzen, die er Alexander entwendet hat (F 61). Popliterarische Motive wie das ›Re-Modeling‹138 verweisen je nach Kontext auf eine nachhaltige Lebenswende oder die trügerischen Versprechungen massenmedialer Lebensreformprogramme und esoterischer Heilslehren. Im schlimmsten Fall erscheint die Metamorphose als serienmäßiger »›Relaunch‹ seiner selbst«139. In diese Richtung deutet Mavrocordatos Urteil über Alexanders ›halbgare eleusische Mysterien‹ wie auch Alexanders Gerede über eine »neue[r] Reinheit«, aber auch »Punkrock« (1979 39). Da Alexanders Vorstellung von Metamorphose offenbar mit popkulturellem Gedankengut kontaminiert ist, traut ihm Mavrocordato keine substantielle Wandlung, sondern lediglich eine Aneignung fremder Identität zu, wie sie das Bild der Häutung evoziert. Der Erzähler bringt dagegen Mavrocordato zufolge die Voraussetzungen für ein ausgereiftes ›Mysterium‹ mit: »Sie haben Glück, Sie sind rein, Sie sind ein offenes Gefäß, wie der Kelch Christi, wie die Schale Josefs von Arimathea« (1979 60). Der Erzähler ist bereit für die von Mavrocordato prophezeite Transformation: Sie werden in Kürze halbiert werden, um dann wieder ganz zu sein. (1979 55) Sie werden noch viel mehr aushalten müssen, noch viel mehr […]. Es kann auch sein […], […] daß Sie halbiert werden, nicht ihre Beziehung, sondern Sie körperlich, wirklich halbiert. (1979 57)

Tatsächlich folgt die weitere Entwicklung der Hauptfigur nach dem Ableben Christophers dem Schema von Tod und Wiedergeburt. Mehrfach signalisiert der Text eine ›Erneuerung‹ des Helden. Das dabei zu erbringende ›Opfer‹ muss die –––––––– 138 139

Vgl. S. 159. Schönburg 2004: 24.

165

›Verfehlungen‹ des dekadenten Lebens an der Seite von Christopher aufwiegen. Zunächst hat es den Anschein, als könne sich der Wandel ohne die angekündigte körperliche ›Halbierung‹ vollziehen. Dass er stattfindet, wird symbolisch angezeigt: Auf seiner Pilgerfahrt zum Mount Kailasch im Himalayagebirge, den er auf Anraten Mavrocordatos umrunden soll, lässt der Held die edlen Schuhe Christophers, die den Anforderungen des Geländes nicht gerecht werden, am Fuße eines Hügels zurück, »hinter dem ich uriniert hatte« (1979 138). »Die besten Schuhe der Welt konnten noch nicht einmal einen Monat in den Bergen überstehen« (1979 127). Die von nun an getragenen Filzschuhe, die sein ihm zugetaner Bergführer heimlich angefertigt hat, versinnbildlichen eine Abkehr vom kostspieligen Luxus sowie eine Hinwendung zur Natur und zu einer von Nähe und Sympathie geprägten menschlichen Gemeinschaft. Doch selbst die Fröhlichkeit und naive Zutraulichkeit der tibetanischer Pilger, die gemeinsam mit dem Erzähler die rituelle Bergumrundung durchführen, wiegt nicht schwer genug, um, wie von Mavrocordato vorhergesagt, »das aus den Fugen geratene Gleichgewicht wiederherzustellen« (1979 117). ›Wiedergutmachung‹ kann erst durch die prophezeite ›Halbierung‹ erlangt werden. Es wirkt deshalb wie der Eingriff einer höheren Macht, wenn ›zufällig‹ chinesische Soldaten auf den Plan treten, die Pilger und den Erzähler gefangen nehmen und damit eine kurze Phase der Zufriedenheit beenden, während der die Hauptfigur »das wunderbare Gefühl« hat, »Teil einer Gemeinschaft zu sein« (1979 145). Offenbar lenkt eine numinose Macht das Geschehen in Richtung einer existentenzbedrohenden Situation. Nun beginnt der Leidensweg des Erzählers, der in verschiedene Arbeitsund Umerziehungslager gebracht wird. Was dort mit ihm geschieht, entspricht einer ›protonormalistischen Subjektdressur‹140 durch Folter und Indoktrination, die den bislang herrschenden Mangel an eindeutigen normativen Orientierungen behebt. Das Lagerleben erfüllt die erwähnten, in Tristesse Royale aufgestellten Anforderungen an ein »Camp« (TR 162). Insbesondere Nahrungsentzug erweist sich dabei als effektives Instrument der Gedankenkontrolle: Um ein Uhr durfte man Wasser lassen, bis ein Uhr fünfzehn. Wer wegen der Ernährung Durchfall hatte, und das hatte jeder, mußte dies ebenfalls bis ein Uhr fünfzehn erledigt haben, sonst mußte mit Durchfall weitergearbeitet werden, der den Gefangenen dann die Beine herunter und auf die Holzpantinen lief. (1979 172) Das Denken wurde geleitet und abgebremst, ich hatte das Gefühl, als sei dieser verordnete Durst vollkommene Absicht, als sei er Teil des Umerziehungsmechanismus des Lagersystems. Ähnlich wie die Gedanken an und die Sehnsucht nach dieser halben Tasse Wasser fühlte ich wirklich tief in mir den Wunsch nach Besserung, nach etwas, das einer Verpflichtung gleichkam und Halt bedeutete, Verpflichtung und Moral dem Volk und den Arbeitern gegenüber. (1979 162)

–––––––– 140

166

Siehe dazu oben S. 17.

Auf der Basis eines strengen Zeitregimes, der Unterbindung selbständigen Denkens und der Fokussierung auf Kernbegriffe maoistischer Ideologie überwindet die Hauptfigur ihren bisherigen, durch Zeitvergeudung und kontingente Bedürfnisse gekennzeichneten Zustand. Die ›Umerziehung‹ erweist sich als ›Kur‹ für den ›wohlstandsverwahrlosten‹ Helden. Eine künstlich herbeigeführte Mangelsituation und die ›behavioristischen‹ Dressurtechniken eines totalitären Regimes beheben den in der Überflussgesellschaft vorherrschenden Orientierungsmangel. Dieses »Glück der Unfreiheit« (TR 161) ist freilich durch die Naivität des Erzählers hinreichend motiviert.141 Die Darstellung dieser ›mentalen Peripetie‹ (Wolf Schmid) ist vor dem Hintergrund des auch in Tristesse Royale verwendeten Bekehrungsmodells zu sehen. 1979 stellt Konzepte wie ›Umkehr‹ und ›Wiedergeburt‹ in Frage, indem die mythische Grundstruktur der Handlung, deren finale Motivierung und die Schicksalsgläubigkeit des Erzählers bis ins Groteske überzeichnet werden.142 Die Wendepunkt-Passage ist dafür ein gutes Beispiel. Der Held sitzt am Sterbebett Christophers: [N]un wurde es Tag, es wurde hell; alles wurde größer, klar erkennbar, und ich sah mir meine Finger an, ich drehte und wendete die Hände vor dem Fenster hin und her. Und ich sah mir meine Hände an. / Und ich dachte: Was ist das Jungsein? Wie ist es beschaffen? Wie sieht es aus? Sieht es aus wie etwas, das man liebt? Ist es vorbei, ehe man es erkennt? Ist es hell, während alles andere dunkel ist? Bin ich eine alte Seele? Wo ist alles hin? Warum geht alles so schnell? Wo sind die Jahre hin? Warum bin ich nun alt, während um mich herum alles jung ist? Wo sind meine Muskeln hin? Kann ich alles zurückdrehen, indem ich Sport mache? Und wenn ich das tue, wie lächerlich ist das? Was ist es, das Leben? Und wie wird es besser? Und wenn es besser wird, wie kann ich es erkennen? / Ich will so nicht mehr weiterleben, dachte ich, so nicht. Irgend etwas muß sich ändern. (1979 79)

Topische Elemente von Bekehrungsgeschichten sind hier in den Vordergrund gerückt. Wie bei Buddhas Erleuchtung unter dem Baum der Erkenntnis oder bei Paulus in Damaskus wird die Erkenntnis der ›Scheinhaftigkeit‹ des bisherigen Lebens von einem strahlenden Licht begleitet. Der Blick auf die Hände als –––––––– 141

142

Die Überzeichnung der Willfährigkeit des Protagonisten relativiert sich angesichts von Kommentaren ehemaliger Mitglieder der erwähnten Aum-Sekte: »Psychologisch war das äußerst bequem. Man verrichtet hauptsächlich schwere Arbeiten. Ein paar asketische Übungen sind auch dabei [...]. Weder brauchte ich mich um zwischenmenschliche Belange zu kümmern, noch hatte ich Verantwortung zu tragen. Ich war ganz unten, als hätte ich neu in einem Betrieb angefangen, und musste nur befolgen, was die Vorgesetzten mir sagten (Murakami 2002: 312). Siehe dazu Matías Martinéz’ an Clemens Lugowskis Konzept des »mythischen Analogon« anschließende Unterscheidung zwischen kausaler und finaler Motivierung (Martinéz 1996a und 1996b, Lugowski 1976, Schlaffer 2005). Vgl. dazu auch Jurij Lotmans (1974: 45ff) narratologisches Tiefenstrukturmodell, das auf mythische Verlaufsschemata rekurriert.

167

menschliche Gestaltungswerkzeuge evoziert Handlungsstärke und Willenskraft. Anscheinend liegt das Leben des Erzählers ›in seiner Hand‹. Zugleich wird in poptypischer Weise neben der religiösen auch die an Jugendlichkeit und Schönheit orientierte, populäre Semantik der ›Neuerfindung‹ aufgerufen. Wie in Tristesse Royale ist der Eindruck ambivalent, da die metaphysisch-existentielle Bedeutung des Geschehens auf eine profane hin durchsichtig ist. So auch im Fall einer Rasur, die eine ›Verjüngung‹ des Protagonisten symbolisiert: Die Haut zwischen Nase und Mund war ganz weiß und roh. Ich fühlte mich nackt, aber eigentlich sah es gar nicht so schlecht aus. Im Grunde, dachte ich, während ich mich im Spiegel ansah, machte es mich viel jünger als vorher, mein Gesicht, so schien mir, hatte plötzlich etwas vollkommen Zeit- und Altersloses bekommen, etwas der Zeit Entrücktes. Es sah fast richtig gut aus, neu, dachte ich. (1979 92f.)

Der Punkt der Wandlung, an dem die Vergangenheit in die Zukunft umschlägt, ist ein Zustand der Bestimmungslosigkeit: »Ich schlief fast den ganzen Tag. […] Ich hatte während des langsamen Erwachens ein Gefühl des Nirgendwoseins« (1979 92). Parallel dazu befindet sich die iranische Gesellschaft in einer chaotischen Übergangsphase zwischen Diktatur und Gottesstaat: Etwas Neues war geschehen, etwas völlig Unfaßbares, es war wie ein Strudel, in den alles hineingezogen wurde, was nicht festgezurrt war, und selbst diese Dinge waren nicht mehr sicher. Es schien, als gäbe es kein Zentrum mehr, oder gleichzeitig nur noch ein Zentrum und nichts mehr darum herum. (1979 94)

Wohin die Veränderung des Helden führen soll, ist zunächst unklar. Feststeht nur: »Irgend etwas muß sich ändern« (1979 79), damit das Leben »besser« (1979 79) werden kann, womit der Ausgangszustand, das dekadente Leben mit Christopher, als negativ markiert ist. Aus dieser Perspektive beleuchtet Kracht im eingangs zitierten Interview den historischen Kontext der Romanhandlung: »Der Schah und seine Geheimpolizei, die Savak, soviel ist sicher, waren böse«143. Die anschließende Herrschaft des »bärtigen, gottesfürchtigen Mann[s]«144 Ajatolla Khomeini ist damit jedoch keineswegs als positiv ausgewiesen. Dem entspricht dramaturgisch, dass der Held von 1979 nicht im postrevolutionären, islamischen Iran bleibt, sondern nach Tibet reist. Doch ist es ihm auch nicht vergönnt, der »perfekte[n] Lebensaufgabe« (1979 146) nachzugehen und mit den herzlichen Tibetern weiter auf Knien um den Kailasch zu robben. Das »große[] Ereignis« (1979 141), die »plötzliche Einsicht« (1979 140) und das »Gefühl, […] die Welt reinzuwaschen von ihren Sünden« (1979 140) bleiben aus. »Es war, wenn ich das sagen darf, reichlich banal« (1979 140). Die Anstrengungen des Helden sind seiner ›Schuld‹ noch nicht angemessen: »[V]ielleicht war es für das Opfer, das ich bringen sollte, nötig, daß man mehr litt« (1979 144). Die Handlungsführung folgt dem teleologischen Schema Sünde/Wiedergutmachung, die kausale Motivierung –––––––– 143 144

168

Reents/Weidermann 2001. Reents/Weidermann 2001.

ist dagegen mehr als brüchig, wie die Gefangennahme durch die chinesischen Soldaten und das Wiedersehen mit Mavrocordato zeigen, in dessen unterirdische Wohnung den Protagonisten der Kellner eines zufällig aufgesuchten Cafés führt (1979 101f.). Diese Ereignisse treten nur ein, damit die Figur schließlich im Lager endet. Die Darstellung der ›Besserung‹ des Helden im Lager zielt auf Entlarvung eines illusorischen Glaubens an ›Verbesserungsfähigkeit‹. Wie in anderen Texten Krachts und in Tristesse Royale vollzieht sich die ›Metanoia‹ verdächtig reibungslos. Die »verschmutzte Unterhose« verwandelt sich auf zauberische Weise »in einen sauberen Büstenhalter«, doch der angestrebte Bruch lässt sich nicht glaubhaft vermitteln (TR 118). Ähnlich verfährt Kracht im Tagebuch der Entsagungen, einem autobiographischen Bericht von einer Diät des Autors in einer Klinik am Bodensee.145 Dieses Heilfasten ist als profanes Pendant zum Weg der Askese in 1979 konzipiert. Als Kracht in einem Fotostudio den Erfolg seines Fastens mittels eines Vorher-Nachher-Fotos dokumentieren möchte, gelingt es der Fotografin nicht, die Lichtverhältnisse auf beiden Aufnahmen identisch zu gestalten. Der Eindruck einer radikalen Transformation wird verfehlt, da man den Bildern ihren zeitlichen Abstand anmerkt. Hauptmittel zur Diskreditierung von Wandlungskonzepten ist in 1979 der unzuverlässige Erzähler, den Christopher als »etwas dämlich« (1979 19) bezeichnet und der unter dem gleichen ›Relativierungstick‹ wie sein Vorgänger in Faserland zu leiden scheint (»Es sah fast richtig gut aus«). Diese kognitivsprachlichen Einschränkungen wirken jedoch unspektakulär im Vergleich zu seiner ethischen Unzuverlässigkeit im letzten Teil des Romans. Nachdem er die Normen seiner Herren internalisiert hat, distanziert sich der Gefangene von seinen Emotionen: »Mir war meine eigene Aufsässigkeit zuwider« (1979 153). Auf die Antworten Ich weiß es nicht oder Ich verstehe nicht folgten immer Schläge, meist mit der flachen Hand, manchmal mit der Faust [...]. Später lernte ich, daß ich großes Glück hatte; die Selbstkritiken der anderen, asiatischen Häftlinge waren mit viel schlimmeren Strafen durchsetzt. [...] Ich lernte zuzugeben, daß ich zu den Ausbeutern gehörte, daß ich ein Parasit sei, daß ich gleichzeitig selbst aber auch ausgebeutet wurde und es deshalb für mich immer die Möglichkeit gab, mich zu bessern. Dabei, beim Umdenken, würde die Partei mir helfen, deshalb sei ich in diesem Lager. Durch einfachste Erziehungsmaßnahmen lernte ich, meine Antworten im Sinne ihres, wie sie es nannten, dialektischen Materialismus zu geben. (1979 158f.)

Nun tritt die in der Erkenntnisszene im Krankenhaus in Aussicht gestellte ›Besserung‹ ein. Groteske Euphemismen wie ›lernen‹, »Umdenken«, »helfen« und »bessern«, die für den Helden seine geistig-moralische Wende bezeichnen, rufen die »two-mindedness«146 fiktionaler Kommunikation in Erinnerung und unterstreichen die Differenz von Autor- und Erzählerstandpunkt. Ähnlich wie die ––––––––

145 146

Kracht 2006: 56. Cohn 2000: 309.

169

Helden vieler Picaro-Romane ist die Erzählerfigur nicht als psychologisch nachvollziehbarer ›round character‹ konzipiert, sondern fungiert als »GenreFormmaske«147 des Autors. Er kann ihr Äußerungen in den Mund legen, die sie in ihrer Tragweite nicht versteht. Kracht beschreibt diese Konstruktion wie folgt: »›1979‹ ist der Versuch, eine deutsche Ich-Figur zu erschreiben, die es nicht gibt, die nicht nur ein moralisches und Intelligenzvakuum darstellt, sondern auch ein physisches. […] Sie kann noch nicht einmal selbst sprechen«148 – und ist auf den Autor als Souffleur angewiesen. Die ›Irrealität‹ der Hauptfigur zeigt sich an der treuherzig-naiven Art, in der sie selbst auf abseitige Appelle anderer Figuren eingeht wie im Fall der Schuld-und-Sühne-Rede des radikalen Islamisten Massoud: »›[W]ir müssen alle ein Opfer bringen, damit Heilung kommt, Heilung, verstehen Sie? Jeder von uns. […]‹. / ›Oh je. Ich werde es versuchen‹« (1979 106). Wie Alice im Wunderland nimmt der Protagonist die verkehrte Welt, in die er versetzt worden ist, mit einem betulichen »Oh je« hin. Kracht hält die Frage nach der (Un-)Zuverlässigkeit des Sprechers jedoch in der Schwebe: »Christopher sagte […] immer, ich sei etwas dämlich, womit er ja auch vielleicht recht hatte« (1979 19, Hervh. C. R.). Dieses »vielleicht« setzt ein Fragezeichen auch hinter diejenigen Äußerungen, die scheinbar von unterdurchschnittlicher Intelligenz oder einer manipulierten Psyche zeugen wie der abschließende Kommentar: »Alle zwei Wochen gab es eine freiwillige Selbstkritik. Ich ging immer hin. Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen« (1979 183). Man fühlt sich an das Resümee in Orwells 1984 erinnert: Nach der Gehirnwäsche hat der Protagonist die Ideologie seiner Herren verinnerlicht und deutet seine Indoktrination als Befreiung. Da die Handlung allerdings mit dem Aufenthalt im Lager endet und die Narration wahrscheinlich in die Zeit der Gefangenschaft fällt, ist es denkbar, dass die gesamte Erzählung mit ihrer redundanten Reinigungs- und Heilungssymbolik durch die zweiwöchentliche »Selbstkritik« beeinflusst ist. Der Erzähler versucht möglicherweise, sich selbst, seine Wärter oder den Leser wie in einer ›Schelmenbeichte‹ von seiner Läuterung zu überzeugen. Außerdem reicht die Unzuverlässigkeit der Figur so weit, dass selbst die Foltermethoden der chinesischen Offiziere ihr Ziel nicht vollständig erreichen können. Immer wieder weicht sie vom vorgeschriebenen Programm ab, und dies nicht nur aus Gründen der Selbsterhaltung. Der Held weigert sich auf der ersten Station seiner Gefangenschaft, den ihm angebotenen Rettich zu essen (1979 151), verfeuert die ausgegebenen Holzpantinen (1979 153) und beteiligt sich an der Madenzucht auf dem Müllhaufen des letzten Lagers (1979 180ff.). Er ist im Grunde unreformierbar. Deshalb ist es nur konsequent, dass der Roman kein neues Leben nach dem Lager schildert, in dem sich der Protagonist zu bewähren hätte. ––––––––

147 148

170

Bachtin 1989: 101. Reents/Weidermann 2001.

Der Einwand von Seiten der Literaturkritik, Kracht sei mit der Aussparung eines Schlusskapitels über die Folgen der Läuterung ein handwerklicher Fehler unterlaufen, zielt deswegen ins Leere.149 Eine ähnliche Funktion wie das unzuverlässige Erzählen erfüllen die intertextuellen Bezüge des Romans, die ihre Wirkung erst in Kombination mit der IchErzählung entfalten. Dem Erzähler scheint nämlich zu entgehen, dass seine Rede voller Zitate und Anspielungen steckt. So spielt etwa die wiederholte Erwähnung von Fett und Filz während der Wanderschaft zum Mount Kailasch (1979 126ff.) auf Josef Beuys an, der diese Materialien in Verbindung mit einem biographischen Einschnitt gebracht hat:150 Als junger Kampflieger der deutschen Wehrmacht über der Krim abgeschossen und daraufhin von Tartaren mit Fett gepflegt und in Filz gewickelt, assoziierte Beuys diese Stoffe mit Liebe, Hilfsbereitschaft und Geborgenheit. Im Kontext von 1979 dienen sie der symbolischen Überhöhung des freundschaftlichen Verhältnisses zwischen dem Erzähler und dem Bergführer. Ein weiteres Beispiel ist das als Initiation semantisierte Abendmahl, das Mavrocordato und der Erzähler am Vorabend des Aufbruchs nach Tibet zu sich nehmen. Es werden ausschließlich »dunkle Gerichte« wie »Schwarzhirsch mit Pflaumensauce«, »schwarze[r] Reis mit Rosinen« und »Blutpudding mit dunklen Brombeeren« (1979 104) aufgetragen. Kracht zitiert Joris K. Huysmans À Rebours (1884), den »Inbegriff aller Décadence-Literatur«151. Bei Huysmans geht es allerdings noch edler zu, dort säumen mit schwarzer Tinte gefüllte Bassins den Weg zum Haus des Gastgebers, und die Bewirtung übernehmen nackte Negerinnen. Der Held Des Esseintes veranstaltet das ›schwarze Mahl‹ »anläßlich einer momentan toten Virilität«152, da die Fortpflanzungsunfähigkeit für den décadent Anlass zur Freude ist. Entsprechend versichert Mavrocordato in 1979, der Erzähler brauche sich bei der gemeinsamen Übernachtung in einem Bett vor Übergriffen nicht zu fürchten. Ähnlich wie in À Rebours markiert das Essen einen Abschied vom schal gewordenen Hedonismus, doch darüber hinaus repräsentiert es auch die dekadente Sucht nach erlesenen Genüssen. Der sich als Kellner betätigende Massoud weist denn auch darauf hin, »daß im neuen Iran diese ganzen verkommenen Spielchen hier nicht mehr erlaubt sind« (1979 105). Als Massoud das bevorstehende Alkoholverbot erwähnt, entschließt sich der Held zu einem vorzeitigen Verzicht, wobei sein Kommentar – »[d]as war also – tadaah – mein letztes Glas Alkohol« (1979 108) – nicht auf ein schwerwiegendes Opfer schließen lässt. Der Erzähler ahnt, »wie das Essen gemeint ist […]. Das Dunkel gegen das Weiß, oder?« (1979 105), worauf sein Mentor bestätigt: »Das Weiß ist ja das Sichtbarmachen, […] also je mehr Dunkles wir essen, desto weniger [...] kann uns ––––––––

149 150 151 152

Bürger 2001. Glaser 1997: 413. Koppen 1973: 39f. Huysmans 1981: 69.

171

eigentlich passieren« (1979 105). Auf diese Weise ›unsichtbar‹ gemacht, führen die beiden eine Guerilla-Aktion gegen die immer noch aktive, mit weißen Armbinden ausgestattete Polizei des Schahs durch (vgl. 1979 17). Mavrocordato richtet eine fest installierte Überwachungskamera auf einen mitgebrachten Monitor, der das von der Kamera Aufgezeichnete zeigt, so dass auf dem Bildschirm »jetzt der kleine Fernseher selbst zu sehen [war], in sich hundertmal gebrochen und verkleinert; er verlor sich in der Mitte des Bildschirmes im Unendlichen« (1979 111). Bei diesem »kleinen alchimistischen Trick« (110) ist nicht nur an den koreanischen Medienkünstler Nam June Paik und dessen »Closed Circuit«-Installationen, sondern auch an das frühromantische und postmoderne Motiv der unendlichen Spiegelung zu denken. Innerhalb des dichotomischen Normsystems der Erzählung entwickeln die genannten Motive allerdings eine systemsprengende Ambivalenz. Denn sowohl die dunklen Speisen als auch die durch den Kameratrick herbeigeführte Myse en abyme, mit deren Hilfe die Polizisten ›in den Abgrund geschickt‹ werden, entsprechen aufgrund ihrer Referenzen eher dem ironisch-dekadenten Zustand, gegen den sie gerichtet sind, als der zu erreichenden ›neuen Reinheit‹. Von dieser Variante des re-entry der Unterscheidung in die Unterscheidung – hier: ›verkommene Spielchen‹, die dem Kampf gegen eine ›verkommene‹ Gesellschaftsordnung dienen und damit die binäre Logik des Romans subvertieren – macht Kracht in 1979 ausgiebig Gebrauch. Immer wieder stößt man in einem der konträr semantisierten Teilräume der erzählten Welt auf Elemente, die dem jeweils anderen zuzuordnen wären. So etwa, als sich der Held im Gebirge mit einem Gehstock wilde Hunde vom Leib hält: »Ich gewöhnte mir an, während des Gehens mit der Spitze des Stockes Kreise in der Luft vor meinen Füßen zu beschreiben« (1979 126). Die damit aufgerufene Ikonografie des großstädtischen Dandys und Flaneurs passt jedoch weder zu dem Zweck, den der Stock im Roman zu erfüllen hat, noch zum Kontext der Stelle, der räumliche und geistige Distanz zur westlichen Überflussgesellschaft evoziert. Das Motiv fasst existentielle Notwendigkeit und dandyistischen Spleen zur in sich widersprüchlichen Einheit zusammen. Derartige Kippfiguren dekonstruieren das dichotomische Wertsystem der Erzählung. Deutlich ist das am Ergebnis der ›Umerziehung‹ des Helden im Arbeitslager zu sehen. Bald schon ist er wie vorhergesagt auf die Hälfte seines Gewichtes abgemagert, deutet diese lebensbedrohliche Situation jedoch immer noch vor dem Horizont zeitgenössischer Schönheitsideale: [A]b und zu befühlte ich meine Rippen und die Hüftknochen, die endlich, endlich weit vom Körper weg heraustraten, wie ich es immer schon gewollt hatte. / Ich dachte an Christopher, daran, daß ich mich immer schon zu dick gefühlt hatte, und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen. Das hatte ich ja nie geschafft; ein, zwei Kilo hatte ich mir früher herunterhungern können, aber jetzt waren schon mindestens zehn oder zwölf Kilo weg, Gott sei Dank. (1979 166)

172

»[Z]um Abspecken öfter mal in den ›gelben Gulag‹«153, so hat ein Rezensent das ›verkehrte‹ Normensystem des Romans beschrieben. Die meisten Kritiker stellen allerdings eher den antithetischen Aufbau heraus, ohne auf den re-entry zu achten. Manche deuten den Handlungsverlauf einseitig als Heilung vom Ästhetizismus154, andere gehen von einer Perfektionierung des Ästhetizismus155 aus. Wenn in den frühesten Rezensionen die zuerst genannte These dominiert, so ist die Ursache wohl auch in der Konjunktur von Umkehr-Appellen nach dem 11. September zu suchen, die zu der Fehldeutung führte, 1979 sei ein »Pamphlet gegen die Dekadenz und moralische Verrottung des Westens«156. Der Autor sieht es anders: Ich habe beim Schreiben immer laut lachen müssen, weil ich dachte, so einen Kitsch kann man jetzt nicht wirklich ernsthaft hinschreiben. Starke, bärtige, richtig behaarte Männer sind doch wirklich lustig. In meinem Roman gibt es ja nicht einen einzigen heterosexuellen Mann; alles ist so grotesk überhöht und camp, daß Sie sicher finden können, daß »1979« schlecht sei, aber ernst und tragisch ist es nun wirklich nicht. Es ist eher »light entertainment«, würde ich sagen, im Sinne von Busby Berkeley, Blake Edwards oder Henry Mancini.157

Demzufolge ist die Romanhandlung nicht als Übergang von einer dekadenten und ›kranken‹ zu einer ›gesunden‹ Lebensweise zu verstehen. Im Telos des Helden potenziert sich vielmehr die Negativität seiner Ausgangssituation: »Sich einem faschistischen System wie dem chinesischen Lagerleben unterzuordnen, sich zu ergeben, dort zum ersten Mal im Leben so etwas wie Heimat zu empfinden, das ist schon mehr als verkommen.«158 Kracht distanziert sich von einer Deutung des Romans als Ausdruck moralischer Zerknirschung des Westens und von der nach den Anschlägen um sich greifenden Ernstfallrhetorik: »Liegen Menschen am Straßenrand von Zürich und ritzen sich beschämt mit Tonscherben die Arme auf? Kostet das Kilogramm Rindfleisch in Berlin-Mitte inzwischen 600 Mark?«159 Dennoch wurde 1979 als literarischer Beitrag zur geforderten geistigmoralischen Wende verstanden. Den Erzähler, schreibt zum Beispiel Elke Heidenreich, quäle »dieselbe Angst, die wir alle zurzeit haben, Mavrocordato spricht es aus, indem er auf den Luxus [...] zeigt: ›Sehen Sie sich das hier an. Wir können das alles nie wiedergutmachen, niemals.‹«160

––––––––

153 154 155 156 157 158 159 160

Corino 2001. Spiegel 2001. Seibt 2001. Spiegel 2001. Reents/Weidermann 2001. Reents/Weidermann 2001. Reents/Weidermann 2001. Heidenreich 2001.

173

6.6 Generation Golf: Die Normalität der Ironie In Florian Illies’ Publikumserfolg Generation Golf (2000) wird ›allgegenwärtige‹ Ironie nicht dämonisiert, sondern allenfalls mit koketter Melancholie zur Kenntnis genommen. Darüber hinaus liegt das Bezugsproblem von Ironie für Illies weniger im Konsens – für die Adlon-Gruppe der Auslöser ironischer Distanzierungen (TR 27) –, sondern im Dissens: Die Toleranz unserer Generation grenzt […] oft an Ignoranz. Man akzeptiert etwas nicht, weil man noch Sprüche von Rosa Luxemburg im Ohr hat, wonach Freiheit immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist. Man hat vielmehr so viel mit sich selbst zu tun, daß man keine Energie darauf verschwenden möchte, sich über den Lebenswandel anderer Leute zu empören. Und bevor die Empörung kommen könnte, haben wir immer noch die weiten Arme der Ironie. Wenn man alles in Gänsefüßchen denkt, ist alles akzeptabel.161

Ironie entschärft potentielle Kontroversen und erlaubt einen sparsamen Einsatz von Ressourcen wie Aufmerksamkeit und emotionales Engagement, die zur Pflege des Selbstverhältnisses benötigt werden. Sie verspricht Geborgenheit und Schutz, ihr kommt aber auch ein moralisch ambivalenter Status zu, da sie auf der Grenzlinie zwischen Toleranz und Ignoranz angesiedelt ist. Mit der Gegenfigur ›öffentliches Engagement‹ beschäftigt sich Illies vor allem in der drei Jahre später erschienenen Fortsetzung seines Bestsellers, die auf zwischenzeitliche Krisen Bezug nimmt: »Alles ist vorbei. Die New Economy. Die Spaßgesellschaft. Die Popliteratur. Der Neue Markt.«162 Die Reaktion auf die Proteste gegen den Irakkrieg macht die Defizite der Generation Golf deutlich: Dass sich da Zehntausende von Schülern per SMS in Minutenschnelle zusammenfanden, dass sie tatsächlich demonstrierten, sich tatsächlich mit romantischem Eifer für die gute und richtige Sache einsetzten, das hatte uns ein bisschen traurig gestimmt. Weil wir in dem heiligen, entschlossenen Zorn der regenbogenfarbenen »Pace«Abzeichen-Trägerinnen genau das erkennen (oder auch nur schwärmerisch zu erkennen glauben), was uns fehlt: Engagement. Und das, obwohl wir glauben, dass dieses Engagement nichts bringt.163

Angesichts des Kriegs, der Zeitungskrise und des Börsencrashs werden ›Empörung‹ und Engagement als – zweifelhafte – Alternativen zur Leidenschaftslosigkeit der Generation Golf erwogen.164 Im Interview mit Günther Gaus, der das –––––––– 161 162 163 164

174

Illies 2001a: 193. Illies 2005: 62. Illies 2005: 231f. Schon im Frühjahr 2000 brechen die Börsenkurse ein. Der 1999 für die Börsendotierung junger Unternehmen eingeführte Index Nemax 50, der im März 2000 seinen Höchststand erreicht hat, tendiert gegen Null und wird im März 2003 abgeschafft (Bernard 2005: 143). Einer der spektakulären Betrugsfälle, die nun bekannt werden, betrifft die Firma EM-TV der Brüder Haffa, welche Illies im ersten Golf-Buch zu »vollwertige[n] Mitglieder[n] der eigenen Generation« (Illies 2001a: 192) erklärt.

Stichwort von der gelangweilten, nach »Stahlgewittern« dürstenden Wohlstandsgeneration liefert und wohl eher die ›Kriegslust‹ der Adlon-Gruppe als den moderaten Ennui der Generation Golf vor Augen hat, greift Illies auf das oben beschriebene Bekehrungsvokabular zurück.165 Ähnlich wie der Erzähler in 1979 fordert er: »Es muß sich etwas ändern«166. Die desaströse Lage des Staatshaushaltes zwingt, so Illies, »zum Nachdenken über sich selbst«167. Wie seine Altersgenossen befindet sich Illies in einer »Läuterungsphase«168 und zieht für sich die Konsequenz, Verantwortung zu übernehmen, sich für den Umweltschutz einzusetzen und die evangelische Kirche zu unterstützen. In Generation Golf zwei hält Illies an der Polarität Ironie/Engagement fest und unterläuft sie nicht wie etwa Stuckrad-Barre im Text über die Anti-IronieDemonstration.169 Bei Illies stehen sich ein ›uneigentliches‹, auf transparenter Selbstillusionierung beruhendes ›Leben wie im Film‹ und eine ›wirkliche Wirklichkeit‹ gegenüber, die sich als Störung der Illusion bemerkbar macht: Doch dann kam der 11. September. Und damit das Ende jenes Zustandes, der in Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt »Happy Ignorance« heißt: das Glück, unbeteiligt zu sein. Und wir glaubten uns ja sogar noch auf einer höheren Ebene: Weil wir unsere Selbsttäuschung nicht nur durchschauten, sondern sogar bejahten. Aber wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Wirklichkeit wirklicher sein konnte als »wie im Film«. In den Tagen nach dem 11. September schämte ich mich sehr für meine verdammt aufgeklärte Ignoranz […].170

Illies grenzt sich von den Distinktionsstrategien der Lebensstil-Avantgardisten ab. Als schlechtes Beispiel dient Harry, der über den gehobenen Normalgeschmack längst hinaus ist und die Freizeitgewohnheiten des modebewussten und gebildeten ›Juste Milieu‹ von Berlin-Mitte allenfalls ironisch imitiert: Es ist naiv zu glauben, man könne je mit einem Menschen wie Harry mithalten. Er ist immer schon einen Schritt weiter. Während ich also de facto im Strandbad-Mitte sitze und einen Latte Macchiato trinke, ist er dort nur im ironischen Sinne. Es ist inzwischen so verboten mainstreamig, dass es für Trendexperten wie ihn fast schon

––––––––

165 166 167 168 169 170

Etwa zeitgleich schrumpft das Anzeigengeschäft der Tageszeitungen um ca. 40 %. Im Jahr 2000 wachsen die Einnahmen um 490 Millionen Euro, 2001 sinken sie fast um das Doppelte (Littger 2002). In der Folge reduzieren viele Zeitungen nicht nur den Blattumfang, sondern streichen Prestigeobjekte wie die von Illies geleiteten Berliner Seiten der FAZ. Gaus 2003. Ähnliches hatte sich Jahrzehnte vorher Rudi Dutschke von Gaus anhören müssen (Gaus 2005: 443). Gaus 2003. Gaus 2003. Gaus 2003. Vgl. S. 149ff. Illies 2005: 105.

175

wieder cool ist. [...] Ich versuche das Latte-Macchiato-Glas so zu halten, als meinte auch ich das nur ironisch. [...] Offenbar wirkt es an mir leider sehr authentisch.171

Mit dieser augenzwinkernden Selbsterniedrigung bietet sich Illies Lesern, die sich von Trendexperten wie Harry düpiert fühlen, als Identifikationsfigur an. Dabei korrespondiert die Kritik an extremen, verstiegen-intellektualistischen Abgrenzungstechniken mit der Abwesenheit von Konzepten emphatischen Lebens, auf denen bei Diederichsen das Ironieprogramm beruht. Illies orientiert sich nicht am Wertmaßstab der ›Intensität‹ und ›Anormalität‹. Er unterscheidet ironische Aneignungen ›normaler‹ Verhaltensweisen nicht danach, ob sie eine ›authentische‹ Erfahrung zweiter Stufe ermöglichen. Die diffuse Kategorie des Authentischen spielt bei ihm keine Rolle. Darüber hinaus polemisiert Illies wider den ›Konformismus des Andersseins‹: »Wir verstanden, wenn nicht intellektuell, so doch instinktiv, was Niklas Luhmann meinte, als er sagte, Dagegensein ist eine Form des Dabeiseins«172. Insofern diese Kritik an Pseudoaußenseitern nicht als prinzipiell solidarische Korrektur kritischer Standpunkte gedacht ist, stellt sie ein Beispiel für die fatalistische Spielart zeitgenössischer Ironie dar, die Diederichsen in Wege aus der Ironiefalle beschreibt. Sie basiert nicht auf einer Gegnerschaft im Verhältnis zum etablierten Alternativmilieu und zum traditionellen Establishment. Illies tritt als wirtschaftsliberaler Konservativer auf, leitet seinen Standpunkt jedoch aus einer potenzierten Negationshaltung ab. Die Selbstkritik in Generation Golf zwei bezieht sich nicht auf einen politischen Utopieverlust, sondern auf den fehlenden Beitrag zur Funktionsfähigkeit der bestehenden Gesellschaft. Bezeichnend ist der Bildbereich, aus dem Illies schöpft, um die »Happy Ignorance« seiner Altersgenossen zu illustrieren: »Wir glaubten, daß Gesellschaft funktioniert, ohne daß man etwas dafür tun muß, so als hätte man eine ewigen Dauerauftrag aufgegeben.«173 »Wir waren ja nur stille Teilhaber der Deutschland AG.«174 Illies reklamiert für seine Alterskohorte Innovativität: »Wir sind wahrscheinlich die erste Generation, die ihr Leben nicht mehr als authentisch empfindet, sondern als einziges Zitat.«175 Er kennt den Popdiskurs der 80er Jahre nicht oder blendet ihn aus, verwendet jedoch die entsprechende Topik und greift auf das Motiv der Anführungszeichen zurück:176 »Wenn man alles in Gänsefüßchen denkt, ist alles akzeptabel.«177 Im Vergleich zu Susan Sontag (»Camp sieht alles in Anführungs-

––––––––

171 172 173 174 175 176 177

176

Illies 2005: 135. Illies 2001a: 163. Vgl. Luhmann 1996: 156–159. Illies 2001a: 191. Gaus 2003. Illies 2005: 21. Diederichsen wird in Generation Golf einmal im Zusammenhang mit Techno erwähnt (Illies 2001a: 134). Illies 2001a: 193.

zeichen«178) und Diederichsen (in der »Sprache des Pop«179 erscheint alles »in mehreren Anführungszeichen«180) fällt die umgangssprachliche und gleichsam verniedlichende Formulierung »Gänsefüßchen« auf. Illies bedient sich der traditionellen Theatermetaphorik (»die Existenz als das Spielen einer Rolle begreifen«181), ohne damit einen elitären, subkulturellen Anspruch zu verbinden. Hinsichtlich der Funktionsbestimmung fallen zunächst Gemeinsamkeiten mit dem älteren Popdiskurs ins Auge, da Ironie für Illies Distanz zur Lebenswelt schafft. Gleiches gilt für die erwähnte Defensivausrichtung. Wie bei Diederichsen beugt Ironie riskantem emotionalem Engagement vor, entbindet von Kritik an Missständen und hilft, die »Peinlichkeit des echten Anliegens«182 bzw. die ›Empörung‹ zu vermeiden. Die Stimmungslage ist bei Illies im Gegensatz zum frühen Diederichsen jedoch eher resignativ. Die Verteidigungshaltung wird nicht ›dialektisch‹ in ein Offensivprogramm umgedeutet. Ästhetisierungen der Erlebnisund Kommunikationsweise zielen weder auf einen emphatischen Wahrheitsbegriff noch auf die Ermöglichung spektakulärer Selbstinszenierungen. Wie die Entstehungsgeschichte von Generation Golf zeigt, hat Illies aus Quellen der 90er Jahre geschöpft. So beruft er sich bereits im Zeitungsartikel Ziellos. Die Generation Golf, der Keimzelle des späteren Buchs, auf Die Tugend der Orientierungslosigkeit von Clermont und Goebel, die das LebensästhetikParadigma der 90er Jahre aus der Jugendkultur der vorangegangenen Dekade ableiten.183 Vielleicht inspirierte Clermont und Goebels »Kauf in Anführungsstrichen«184 Illies zum Bild der »Gänsefüßchen«. Traditionell sind auch die zur Denunziation des Alternativmilieus eingesetzten Feindbilder (»Zigarettenselbstdreher«185, »Latzhosenträger[]«186). Pointiert gesagt unterschlägt Illies die 80er Jahre. Nicht Punk und New Wave, die Generation Golf vertreibt den »Muff von zwanzig alternativen Jahren«187, doch nicht um gegenkulturelle Kritik zu optimieren, sondern um die vor 1968 herrschende Ordnung wiederherzustellen. Illies wendet sich gegen die Auffassung, die Infragestellung der 68er bedeute keinen Rückschritt: –––––––– 178 179 180 181 182 183

184 185 186 187

Sontag 2004: 327. Diederichsen 1982: 94. Diederichsen 1982: 94. Sontag 2004: 327. Diederichsen 1982: 94. Illies 1998a. Clemont/Goebel 1998: 15f: »Die Achtziger waren zynisch und amoralisch. Unsere Leitbilder oszillierten zwischen Yuppie und Punk. Dabei ist beiden Leitbildern eines gemeinsam: das Primat des Ästhetischen über die Tugend. Beide wollten ›der Gesellschaft‹ die kalte Schulter zeigen, beides waren Rollenmodelle für eine radikale Individualisierung.« Clermont/Goebel 1998: 122. Illies 2001a: 164. Illies 2001a: 179. Illies 2001a: 181.

177

Nicht so richtig ist es, der These […] zu widersprechen, […] die Abwendung von traditionellen Werten durch die 68er müsse bei uns wieder zu einer Rückbesinnung auf die vertrauten Lebensläufe der Eltern führen. Clermont und Goebel […] glaubten hingegen, daß wir uns die Mühe machen würden, eine neue, eigene Sicht auf die Welt zu entwickeln […]. Ich bin mir da nicht so sicher. Man denke nur an den Zauberwürfel, der uns die Zeit in den großen Pausen vertrieb. Alles war schön bunt, aber wir wußten doch, daß es für jedes Klötzchen auch das richtige Plätzchen gab. Es braucht zwar seine Zeit, aber wenn man sich ordentlich bemüht, ist am Ende wieder alles so, wie es sich gehört. Blau bei Blau, Rot bei Rot, und die Welt ist wieder ein kleines Stück übersichtlicher geworden. Selbst wenn jemand diese Welt zerstörte, könnte man sie jederzeit durch bloßes Zurückdrehen wiederherstellen.188

Der mit dem Rubik’s Cube evozierte ›Widerruf von 68‹ zielt auf eine Restitution des Status quo ante. Wie der ungeordnete Zauberwürfel ist die durch die 68er geprägte Gesellschaft »schön bunt«, das heißt sie entbehrt übersichtlicher sozialer und kultureller Strukturen. Gegenbildlich repräsentiert der geordnete Würfel mit je monochromen Flächen eine klar gegliederte Gesellschaft mit je homogenen Teilbereichen. Die Generation Golf ist bemüht, »alles« gemäß einer ›natürlichen‹ sozialen und ästhetischen Ordnung so einzurichten, »wie es sich gehört«. Neben Kinderspielzeug kommt in Generation Golf vor allem dem Fernsehen, nicht aber der Popmusik eine gemeinschaftsstiftende Bedeutung zu. Auch Literatur spielt keine unwesentliche Rolle, da Illies seine Erfahrungen als Literaturkritiker der FAZ einfließen lässt. So erinnert er an Sommerhaus, später (1998) von Judith Hermann, deren »verträumte[s] Boheme-Foto hinten im Buchumschlag«189 ihn zum Umzug nach Berlin bewogen habe, dem Schauplatz einiger Geschichten des Erzählbands. »Die zerfledderten blauen Sommerhaus, später-Ausgaben, die ich dann in den Jahren darauf bei all den zugereisten Hessen, Schwaben und Rheinländern im Billy-Regal stehen sah, zeigten mir, dass ich zum Glück auch hier nicht der einzige gewesen war.«190 Auch die Faserland-Lektüre vermittelt Illies das beruhigende Gefühl, »nicht der einzige« zu sein: [D]ie Ernsthaftigkeit, mit der Kracht Markenprodukte einführte und als Fundamente des Lebens Anfang der neunziger Jahre vor Augen führte, wirkte befreiend. Nicht nur ich, so durfte man endlich sagen, finde die Entscheidung zwischen einer grünen und einer blauen Barbourjacke schwieriger als die zwischen CDU und SPD. Es wirkte befreiend, daß man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68erGeneration, den man immer als albern empfunden hatte, auch öffentlich albern nennen konnte.191

–––––––– 188 189 190 191

178

Illies 2001a: 61. Illies 2005: 149. Illies 2005: 149f. Illies 2001a: 154f.

Diese identifikatorische Lesart von Krachts Debüt zielt zwar, wie Moritz Baßler gezeigt hat, am Text vorbei;192 es kommt bei Illies freilich auch Kalkül hinzu. Im März 1998 kreidet Illies dem Roman eine Stimmung »coole[r] Trübsal«193 an. Der Oberflächenrealismus des Textes könne »nicht darüber hinwegtäuschen«194, dass existentielle Fragen ausgespart würden. Im September desselben Jahres heißt es über Krachts Ferien für immer, der Autor sei ein »Vorturner der YuppieGeneration«, der für die »Rückkehr zur Dreiklassengesellschaft« plädiere.195 Im Herbst 1999 nennt »flo« auf den Berliner Seiten der FAZ Faserland ein »sehr trauriges, sehr kluges Buch«196, während er es in Generation Golf als »wunderbares Buch«197 bezeichnet. Diese Perspektivverschiebung ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass Generation Golf dieselbe Zielgruppe anvisiert, die Faserland zum Erfolg machte. Doch anders als Kracht verfolgt Illies keine Hochkulturambitionen, sondern schreibt ein unterhaltsames Sachbuch fürs große Publikum. Der Leser wird ins erzählerische ›Wir‹ einbezogen und in seiner Bewertung bekannter Lebensweltelemente bestätigt. Damit unterscheidet sich Generation Golf von Faserland, das aufgrund seines Stils der sekundären Mündlichkeit zwar einen ähnlichen Identifikationseffekt provoziert, zugleich aber die Differenzen zwischen Sprecher, Autor und Leser herausstellt, durch Falschinformationen Distanz signalisiert und damit eine sympathetische Einstellung zum Erzähler erschwert. Wie dutzende von Rezeptionszeugnissen im Internet belegen, bedient Illies’ Generationsporträt das Verständigungsbedürfnis der Leserschaft. Es konstituiert eine Erinnerungsgemeinschaft und bietet Begriffe an, »die das eigene Leben gültig beschreiben«198. ›Ironie‹ ist dabei ein Element unter anderen, das Wiedererkennungs- und Bestätigungseffekte auslöst. Selbst ein 38jähriger SPDBundestagsabgeordneter, dem die Politikverdrossenheit des Autors eigentlich aufstoßen sollte, findet sich in Generation Golf wieder.199 Die breite Zustimmung basiert sicher auch auf der sprachlichen Gefälligkeit des Textes, der sich vom ›akademischen‹ Spex-Stil ebenso wie vom manieristischen Konversationsston in Tristesse Royale abhebt. Thema und Form zeichnen sich durch Verständlichkeit und »Allgemeinverbindlichkeit«200 aus. Die semantische –––––––– 192 193 194 195 196 197 198 199

200

Baßler 2002: 111ff. Illies 1998b. Illies 1998b. Illies 1998c. Illies 1999. Illies 2001a: 154. Weidermann 2000. Allerdings gehört Hans-Peter Bartels nach eigener Auskunft zu den jüngeren Genossen, die sich »heimlich« über die engstirnigen älteren Parteifreunde »ein wenig lustig« machen. Zustimmend zitiert er Illies: »Wer die Gänsefüßchen immer mitdenkt, muß sich nie wieder empören« (Bartels 2000: 83). Dazu Lange 2003.

179

Dachformel ›Generation Golf‹ überbrückt soziale wie kulturelle Differenzen und ähnelt der Werbekampagne für den Golf IV: sie ist »nichtssagend, ein bißchen blöd; und also wird sie sich durchsetzen«201. Illies kann sich dabei auf den Homogenisierungsschub durch die elektronischen Massenmedien stützen. Mit Fernsehsendungen wie Wetten, daß …? dürften viele in den 80er Jahren sozialisierte Leser familiäre Geborgenheit verbinden: Mir geht es gut. Es ist Samstag abend, ich sitze in der warmen Wanne, im Schaum schwimmt das braune Seeräuberschiff von Playmobil. […] Nachher gibt es Wetten, daß …? mit Frank Elsner. Dazu kuschle ich mich in den warmen Kapuzenbademantel, den meine Mutter vorgewärmt hat, damit ich mich auch wirklich nicht verkühle.202

Dass Illies Homogenität auf Kosten von Unterschiedlichkeit betont, zeigt der Rückblick auf die schulischen Konflikte zwischen Geha- und PelikanAnhängern.203 Ausschlaggebend ist, dass jeder in der Klasse sich einen Füller der genannten Firmen leisten kann. Da die Produkte etwa gleich teuer sind, spielt das Einkommen der Eltern keine große Rolle. Geschmacksurteilen kommt überdies in Generation Golf nicht die gleiche Bedeutung wie in Faserland oder Tristesse Royale zu, da sie nur bedingt über die dem Einzelnen entgegengebrachte Achtung entscheiden. Im Vordergrund steht, dass man mit Geha- oder Pelikan-Füller Teil eines homogenen Kollektivs sein und damit als normal gelten kann. Illies thematisiert auch die Verschiebung der Normalitätsgrenze durch das Wechselspiel zwischen Homogenisierung und reaktiver Abweichung. Er bagatellisiert sie humoristisch wie im Fall des erwähnten antizyklischen Trendexperten Harry, für den das ›verboten mainstreamige‹ »Strandbad-Mitte« »schon 204 wieder cool ist« . Harrys potenzierte Abweichung bringt den dynamischen Charakter von Normalität zum Ausdruck. Sie demonstriert die inflationäre Entwertung der vormals prämierten Option, einen künstlichen Strand in BerlinMitte aufzusuchen. Dass der Versuch des Erzählers scheitert, »das LatteMacchiato-Glas so zu halten, als meinte auch ich das nur ironisch«205, stellt jedoch kein ernsthaftes Problem dar, sondern verdeutlicht umgekehrt die Absurdität des ›überdrehten‹ guten Geschmacks und vermittelt die Botschaft: Man muss nicht zur Spitze zählen, es reicht, sich im oberen Drittel zu bewegen. Mit dieser normalitätsbestätigenden Tendenz hat sich Florian Illies unter älteren wie jüngeren Kollegen keine Freunde gemacht. Für Mark Terkessidis ist er der »klassische Spießer im neuen Gewande«206, Stuckrad-Barre weist hämisch auf Illies’ frühe Verrisse von Krachts Texten hin: »Da dachte man, wer ist denn dieser ––––––––

201 202 203 204 205 206

180

Illies 1998a. Illies 2001a: 9. Illies 2001a: 23. Illies 2005: 135. Illies 2005: 135. Terkessidis 2000.

90-jährige weltabgewandte Zinnsoldat.«207 Der von Illies in einer negativen Besprechung von Rave und Jeff Koons als »Techno-Opa[]«208 bezeichnete Rainald Goetz bezieht sich in seiner Retourkutsche auf Illies’ Herkunft aus dem oberhessischen Schlitz: Sie kennen sich so fabelhaft aus überall, die Provinzler, die Journalisten, der Gestus ist immer schon abgeklärt, von vorneherein abwinkend [...]. Gleich wird losgedröhnt, der ganzen Welt die Welt erklärt, als wäre alles immer wie daheim, alles eine einzige Provinz.209

In dieser Kontroverse zeichnen sich unterschiedliche ästhetische Positionen ab. Goetz’ experimenteller Schreibgestus, seine modernistisch-inkohärente Erzählweise (»Struktur und Inhalt […] sind […] nur in Ansätzen zu verstehen«210) und die Grenzüberschreitungsthematik seiner »Stakkato-Elogen auf die Freuden des nächtlichen Durchtanzens«211 hält Illies für bemüht und anachronistisch. Illies wendet sich damit gegen eine antinormalistische und modernistische Poetik nach dem Muster von Rolf Dieter Brinkmann, Bernward Vesper und Hubert Fichte, die eine Evokation außersprachlicher, ›unsagbarer‹ Wirklichkeit beispielsweise durch Satzabbrüche anvisiert (»Als wolle Rainald Goetz mit dem geschriebenen Wort zeigen, wie die Wirkung des geschriebenen Wortes nie an die der TechnoRhythmen heranreicht«212). Illies bevorzugt dagegen die sinnzentrierten, realistischen und dramaturgisch kompakten Kurzgeschichten Judith Hermanns, die sich nicht am sprachlichen Vermittlungsproblem abarbeiten. Eine letztlich auf die Aporie einer »Poesie ohne Worte«213 hinauslaufende Sprachskepsis ist aber ein Kernstück der bis in die 70er Jahre hinein maßgeblichen Poetik, auf die sich Rainald Goetz in der Frankfurter Poetikvorlesung beruft: »Wie kommt man raus aus der Sprache, […] zu neuen Erfahrungen, zum Nicht-sprachlichen […], zur Welt eben.«214 Mit dieser gezielten Überstrapazierung des Mediums Literatur haben Illies’ eher konventionell gestaltete journalistische Texte nichts gemein. Seine Texte sind weder sprachreflexiv noch lassen sie sich wie Kracht Romane als sekundäre Formbildung im Medium »geschichtlich bewährte[r], aber heute überholte[r]

––––––––

207 208 209 210 211 212 213 214

Serwe 2000. Illies 1998e. Goetz 1999b: 812. Illies 1998e. Illies 1998e. Illies 1998e. Vgl. Baßler 2002: 145: »Goetz will archivieren, was noch nicht Diskurs ist«. Braun 2003: 181. Dazu auch Kinder 1995. Goetz 1999b: 346. Auf die »älteren Brüder«, die »Kriegszeit-Geborenen« Brinkmann und Vesper, kommt Goetz ebd. S. 267 zu sprechen.

181

Formen«215 beschreiben. Kurz gesagt: Sie folgen weder einem modernistischen noch einem postmodernistischen Programm.

6.7 Ironie und Normalisierung Gesellschaftliche Normalisierung basiert auf einem Zusammenspiel von Homogenisierung und Differenzierung. Von der in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden Überbetonung vereinheitlichender Tendenzen zeugen die Vermassungsbefunde dieser Zeit. Die Politik hat sich dagegen häufig mit positiven Integrationsformeln wie ›Neue Mitte‹ (Willy Brandt, Gerhard Schröder, Angela Merkel) auf die ›nivellierte Mittelstandsgesellschaft‹216 bezogen. Die gegenkulturelle Reaktion bestand in einem forcierten ästhetischen und politischen Antinormalismus, der unter negativem Vorzeichen ebenfalls Gleichheit auf Kosten von Ungleichheit herausstellte und den Abstand zum ›Durchschnitt‹ zum Gradmesser gelungenen Lebens erklärte. Spätestens seit den 60er Jahren bemüht man sich auch jugendkulturintern um ein differenzierteres Gesellschaftsbild, das der Dynamik flexibler Normalisierung gerecht wird. Um die popliterarische Variante solcher Gesellschaftsbeschreibung zu konturieren, kann man noch einmal auf das imaginäre Deutschlandpanorama in Faserland zurückkommen.217 Dem dynamischen Aspekt von Normalisierung trägt der Erzähler Rechnung, indem er den Kampf um die ›feinen Unterschiede‹ als Motor kultureller Ausdifferenzierung beschreibt. Das Selbstwertgefühl der »Auserwählten« im »Flachland« beruht darauf, dass sie »gute Autos fahren«, »gute Drogen nehmen« usw. und auf diese Weise Abstand zu den Mitmenschen herstellen (F 149). Diese Differenzen fallen jedoch angesichts der Allgemeinverbindlichkeit und Einheitlichkeit des kulturellen Wertmaßstabs nicht weiter ins Gewicht, denn in der Umwelt der Auserwählten »[tun] alle dasselbe […], nur eben ein ganz klein bißchen schlechter« (F 149). Auf absolute Exklusivität muss aufgrund fehlender unüberschreitbarer sozialer Schranken wie Standes- oder Klassengrenzen verzichtet werden. Stattdessen orientiert man sich an graduierbaren Differenzen (»ein bißchen härter, ein bißchen stilvoller«, F 149), die einer ausweglosen Steigerungslogik unterliegen, denn »nur durch den Glauben« an die Distinktionskraft dieser sich verschiebenden Differenzen können die Auserwählten »weiter leben« (F 149). Insofern reproduziert sich dieses System selbst, ist es eine »eine Maschine, die sich selbst baut« (F 148f.). Die Verknüpfung mit der ›Selektion‹ von Todesopfern im KZ (F 149) unterstreicht den totalen Charakter des Systems. ––––––––

215 216 217

182

Luhmann 1998: 1148f. Schelsky 1955: 218. Dazu ausführlich oben S. 133.

Die futurisch-konjunktivische Rahmung der Passage zeigt die Unmöglichkeit einer ›objektiven‹ Selbstbeschreibung des Systems von einem Außenstandpunkt an. Der archimedische Punkt »da oben an dem Bergsee« (F 149) kann nur in der Imagination eingenommen werden. Auf ein verlässliches Bild muss solange verzichtet werden, als sich der Erzähler in diesem Bild befindet und mit allen Fehlern (Überheblichkeit, Statusdenken, zwanghaftes Abgrenzungsbedürfnis usw.) der Auserwählten behaftet ist. Das von Diederichsen entworfene, auf der Abschaffung von Herkunftsprivilegien beruhende soziale Inklusionsideal scheint dieser Beschreibung des Status quo zunächst entgegengesetzt zu sein. Dieses Ideal beinhaltet jedoch auch eine Ausdehnung kultureller Distinktionskämpfe. Das Paradox eines »Dandyismus für alle«218 zielt auf eine Snobgesellschaft, in der niemand düpiert wird. Faserland zeichnet dagegen ein realistischeres Bild der Folgen allgemeiner lebensästhetischer Konkurrenz. Im Kampf um kleine, aber signifikante Differenzen gibt es Sieger und Verlierer, auch wenn der lebensmüde Erzähler den Unterschied in Frage stellt. Diederichsens Kritik an sozialer Schichtung führt ihn letztlich dazu, Normalisierung positiv zu werten, insofern sie Chancengerechtigkeit steigert. Kulturelle Statusunterschiede, die sich auf dieser Grundlage ausbilden, lehnt er nicht ab, entschärft sie jedoch im Rahmen der Utopie allgemeiner Privilegierung. Gemessen daran ist Florian Illies’ Standpunkt in Anleitung zum Unschuldigsein (2001) als konservativ einzustufen. Illies rechtfertigt das Fortbestehen klassengesellschaftlicher Strukturen und erklärt das demokratische Gleichheitsideal zur Ideologie. Er greift auf die konservative Denkfigur einer natürlichen und legitimen, nur von Heuchlern und Idealisten bestrittenen Ordnung der Ungleichheit zurück: Unser klassenfeindliches Klassensystem hat leider niemandem mehr beigebracht, soziale und finanzielle Unterschiede als ein Naturgesetz zu akzeptieren [...]. In Deutschland, einem Land, das die Gleichheit zur Ideologie gemacht hat, soll man [...] ein schlechtes Gewissen haben, wenn man ungleich ist.219

Der Unterschied zwischen linker und konservativer Position macht sich auch in den jeweiligen Geschichtsbildern bemerkbar. Überraschenderweise stimmen Illies und Diederichsen jedoch in einem Punkt überein: Das Patt der Großmächte im Kalten Krieg erscheint hier wie dort als positiver Ordnungsgarant. Illies räumt zwar den geistigen Stillstand in den 80er Jahren ein, doch überwiegt die nostalgische Verklärung eines von ideologischer Entspannung und Wohlstand geprägten Zeitraums: »[S]o war eben jene Zeit. Es ging allen gut, man hatte kaum noch Angst, und wenn man den Fernseher anmachte, sah man immer Helmut Kohl.«220 Dementsprechend wird dem ›Einheitskanzler‹ auf der letzten Seite von Generation Golf Dank gesagt. –––––––– 218 219 220

Diederichen 2000a: 102. Illies 2001c: 159. Zur konservativen Tradition dieses Modells siehe Breuer 2001. Illies 2001a: 16.

183

Aus anderen Gründen weiß auch Diederichsen die frühere Stabilität zu schätzen und widmet den Roman Herr Dietrichsen (1987) den »Streitkräften der Sowjetunion«221. Der Kalte Krieg erscheint als ›Atempause der Geschichte‹. Sexbeat, so heißt es rückblickend, sei an einem »exterritorialen Ort« (SB XXXII) entstanden, »[e]chte Politik wie echte Geschichte« spielen im Buch keine Rolle, »weil der ›vorläufige‹ Status der BRD mehr oder weniger explizit mit der Sekundarität des Pop identifiziert wurde« (SB XXXII). Aufgrund seiner fehlenden Souveränität war Westdeutschland ein ›Staat in Anführungszeichen‹. Illies spricht in diesem Zusammenhang vom »Freizeitpark[] Deutschland«222, den er mit den ›Kinderparadiesen‹ der Ikea-Märkte vergleicht: »Ein riesiger Glaskasten, mit bunten Kugeln gefüllt, durch die man sich stundenlang durchwühlen kann, ohne daß man sich weh tut und ohne daß man irgendwo ankommt.«223 Wie die Metapher des ›exterritorialen Ortes‹ evoziert das Bild eine bequeme ›Entpflichtung‹ von politischer Stellungnahme. Dieser Zustand dauert für Illies auch nach der Wiedervereinigung an, die für Diederichsen umgekehrt die Notwendigkeit signalisiert, politisch ›Farbe zu bekennen‹. Für ihn garantiert das Gleichgewicht der Großmächte die Vorläufigkeit der ›kapitalistischen Lösung‹ und die Möglichkeit eines ›Dritten Wegs‹ jenseits von Kapitalismus und Sozialismus.224 Die popliterarische Reaktion auf die Normalisierung kritischer Haltungen wurde oben bereits umrissen. Sie reproduziert im Wesentlichen die gegengegenkulturelle Metakritik am Alternativmilieu und den antiautoritären ›68ern‹. Kritisiert werden Paternalismus, Selbstüberschätzung und moralische Überlegenheitsansprüche. Stuckrad-Barre und Illies wenden sich gegen einen prätentiösen Aufklärungsanspruch des investigativen Journalismus und des politischen Kabaretts. Didaktische Funktionalisierung von Unterhaltung wird als platt, aufdringlich und besserwisserisch abgelehnt. Mit ihrem programmatischen Verzicht auf direkte Adressierung gesellschaftlicher Probleme befindet sich die Neo-Popliteratur auf einer Linie mit dem Pop-Programm der 80er Jahre. Allenfalls indirekte satirische Kritik durch idealerweise unkommentierte Zitation fragwürdiger Meinungen gilt als akzeptabel. Die Popliteraten verstehen Humor und Satire als Beobachtungsformen zweiter Ordnung. Insofern ist ihr Humorkonzept im größeren Kontext einer Fokus––––––––

221 222 223 224

184

Diederichsen 1987. Illies 2001a: 112. Illies 2001a: 112. Diederichsen 1987: 64. Rainald Goetz interpretiert dagegen die deutsche Teilnahme am Militäreinsatz im Kosovo als Rückkehr zur ›Normalität der Geschichte‹: »Am Ende des Jahrhunderts der Kriege zeigt die Geschichte auf eine im Nachhinein noch relativ harmlose und doch erschreckende, erschütternde Weise, daß auch das weitergeht, wie alles andere auch, daß Krieg geführt wird, von jeder Generation neu. Daß die, die es selber nicht erlebt haben, immer wieder bereit sein werden, im Namen irgendwelcher Gründe und Begründungen zu sagen: wir müssen den Mord leider begehen« (Goetz 2000: 145).

verschiebung von ›den Sachen selbst‹ auf die entsprechenden Diskussionszusammenhänge zu sehen. So stellt etwa Christian Kracht in Tristesse Royale fest, die Diskussion über Pulp Fiction münde unweigerlich in eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen zu diesem Film, woraus Kracht pointiert folgert, es sei »eben nicht mehr möglich, eine Meinung zu haben«225, sprich von einem Beobachtungsstandpunkt erster Ordnung aus zu urteilen. Satire als potenzierte Beobachtung wird im Popkontext unter anderem anhand der meta-medialen Harald Schmidt Show thematisiert.226 Stuckrad-Barre diskutiert künstlerische und ideologische Aspekte der Show aus der Sicht des Praktikers, der als Gagschreiber für Schmidt 175 Mark pro gesendeten Witz verdient hat.227 Ihm zufolge basiert Harald Schmidts Komik vor allem darauf, den öffentlichen Diskurs zu zitieren. Aufgabe der Gaglieferanten ist es, Presse und Fernsehen nach potentiell komischen Äußerungen zu durchforsten: »Ausdenken müssen wir uns nichts. Alles muß ein anderer zuerst behauptet haben.«228 Die ästhetische Qualität der Show bemisst sich am Improvisationstalent Schmidts, dessen Liveauftritte vor Publikum ohne größere Nachbearbeitung gesendet werden, sowie am Verzicht auf allzu leicht decodierbare Ironiesignale wie komische » Mützen und Perücken«229. Gleichwohl ist der von Stuckrad-Barre beschriebene Überaffirmationsgestus des Showmasters nicht gerade subtil: »Wir finden alles toll, alles super.«230 Gefürchtet ist besonders Schmidts geheucheltes Interesse an seinen Gästen: »Toll, daß du da bist/Phantastisch siehst du aus/Wirklich supererfolgreich im Moment/Mir gefällt das sehr sehr gut/Die Zeit ist wie immer viel zu knapp/Komm uns ganz bald wieder besuchen.«231 Bezweckt wird nach Stuckrad-Barre keine Enthüllung verborgener Fakten oder Motive, sondern die Selbstdemontage der Gäste: »[R]ein äußerlich präsentiert sich die Gegenwart, und wir schauen dahinter, indem wir nicht verschwörerisch mutmaßen und kombinieren, sondern den Dingen ihre Oberfläche, ihr Image lassen.«232 Dieser Vorgehensweise schreibt Stuckrad-Barre eine kritische Funktion zu: »Am Ende ist es böser – und zugleich aufklärerischer –, jemanden einfach reden zu lassen, statt ihm penetrant mit seiner Stasi-Akte vor der Nase rumzuwedeln.« 233 Den Eindruck einer Bevormundung des Publikums gilt es dabei um jeden Preis zu vermeiden: »Man muß doch Meinung nicht mehr bilden, das wäre ja Unsinn. Oder Monitor. Unsinn eben.«234 Den Zuschauern soll nicht die »Wahrheit«, sondern die –––––––– 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234

Bessing 1999a: 27. Vgl. S. 87. Stuckrad-Barre 1999: 66. Stuckrad-Barre 1999: 66. Stuckrad-Barre 1999: 62. Stuckrad-Barre 1999: 63. Stuckrad-Barre 1999: 64. Stuckrad-Barre 1999: 63. Stuckrad-Barre 1999: 64. Stuckrad-Barre 1999: 66.

185

»Wirklichkeit« näher gebracht werden.235 Dieser Auffassung nach enthält das in der Show referierte und zitierte Material bereits die Bewertungsprinzipien, an denen es zu messen ist. Der Showmaster lässt die Gäste »einfach reden«236, und diese disqualifizieren sich durch ihre beschränkten Ansichten und Meinungen. Die Macher der Show vertrauen auf die geistige, geschmackliche, ethische und politische Urteilskompetenz der gebildeten unter den Zuschauern und ersparen sich explizite Bewertungen. Angesprochen wird ein Publikum, das den kühldistanzierten Humor Schmidts zu goutieren weiß, keinen ›Blick hinter die Kulissen‹ erwartet und sich nicht empört, »wenn die Saalwette bei Thomas Gottschalk abgesprochen war«237. Stuckrad-Barre unterstellt stabile Meinungsverhältnissen auf Seiten des Publikums, die durch die Sendung nur bestätigt, nicht aber verändert werden können, und unterschätzt den meinungsbildenden Aspekt der Show. Die Zuschauer reagieren ihm zufolge gemäß ihrer sozialen Position: »Ein Machowitz zum Beispiel. Hoho, lacht der Vorstädter und erzählt ihn weiter. Haha, lacht Martin Walser, wie lustig dort der Macho vor-, genauer: AUFgeführt wird.«238 Der Entertainer deckt dabei von einem unparteiischen Standpunkt aus die »Eitelkeit aller Dinge«239 auf. Im Gegensatz zu dieser Neutralitätsthese erklärt Florian Illies Harald Schmidt zum »Erzieher«240 der Generation Golf. Zwar steht auch für Illies im Vordergrund, dass Schmidt sich über alle lustig macht, die etwas »viel zu ernst nehmen«241, doch im gleichen Atemzug präzisiert Illies, es handle sich um Menschen, »die Kröten über die Straße tragen und hellblaue Buttons mit Friedenstauben tragen«242 – also weltfremde Idealisten und ›Gutmenschen‹, die seit den ausgehenden 70er Jahren im Fokus gegengegenkultureller Polemik stehen. Die Grenzen humoristischer und ästhetisch-›entpflichteter‹ Rede sind für Illies bei Themen wie der NS-Vergangenheit erreicht. Bei Betreten dieses moralisch verminten Geländes droht dem Satiriker Achtungsentzug. Der Druck steigt, zur Beobachtung erster Ordnung zurückzukehren und Stellung zu beziehen. Wie 1982 Diederichsen wählt auch Illies das Bild des »erhobenen Zeigefinger[s]«243, um moralischen Konformitätsdruck zu illustrieren. Er bleibt im Bild und hält es mit Harald Schmidt: »Die Finger weg, das ist bei manchen Fragen die einzige richtige, professionelle Haltung.«244 –––––––– 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244

186

Stuckrad-Barre 1999: 63. Stuckrad-Barre 1999: 64. Stuckrad-Barre 1999: 65. Stuckrad-Barre 1999: 63. Stuckrad-Barre 1999: 66. Illies 2001a: 121. Illies 2001: 180. Illies 2001: 180. Illies 2001a: 175. Illies 2001a: 175.

Doch daran halten sich weder Schmidt noch Illies, der in Anleitung zum Unschuldigsein (2001), einem an Paul Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein (1983) angelehnten ironischen Ratgeber, zu allgemein negativ beurteiltem Verhalten auffordert. Das Verfahren scheint auf dem Inversionsmodell zu beruhen und bedürfte keiner weiteren Erläuterung, wenn nicht stellenweise fraglich wäre, ob der unterstellte moralische Konsens auch in der Wirklichkeit vorauszusetzen ist. So gerät etwa die Empfehlung, auf Mülltrennung zu verzichten, zur frivolen Legitimation von Fehlverhalten.245 Dem stehen drastische Beispiele für Normverstöße gegenüber, die mit lässlichen ›Alltagssünden‹ in einen Topf geworfen werden. Hinzu kommt, dass Illies den Ertrag einer konsequent an ethischen Gesichtspunkten orientierten Lebensführung herunterspielt: Im Grunde genommen hat das schlechte Gewissen natürlich Recht, und man dürfte nie Autofahren, weil jede Autofahrt das Ozonloch ein klitzekleines bißchen größer macht und deshalb eine Kuh in Australien im Jahre 2009 vier Minuten früher Hautkrebs bekommt. […] Ich fahre also los […].246

Der Argumentationszusammenhang ist konfus, da Illies neben ›echten‹ Tabubrüchen auch allgemein akzeptierte, wenn auch nicht in jedem Fall als ethisch angemessen beurteilte Verhaltensweisen thematisiert (Anhalter oder Rosenverkäufer abzuweisen, sich als ›gesunder‹ Mensch Behinderten gegenüber nicht schuldig zu fühlen).247 Brisanter wird es, wenn Illies auf das »kollektive[] deutsche[] Basisschuldgefühl[]«248 angesichts der Nazi-Vergangenheit zu sprechen kommt. Nachweislich falsche Berichte über fremdenfeindliche Übergriffe, die öffentliche Betroffenheits- und Bußrituale ausgelöst haben, demonstrieren in diesem Zusammenhang einen deutschen Masochismus, der von linksintellektuellen ›Political-Correctness-Polizisten‹249 nach Kräften gefördert werde. Wie um 1980 lautet das Argument, der wahllos erhobene und ungerechtfertigte Faschismusvorwurf lenke von der wirklichen Gefahr ab – die allerdings eher vom Ausland her droht: Wenn es dereinst in jedem deutschen Eiscafé Venezia einen Eisbecher Mussolini und in der Pizzeria San Marco Tagliatelle Berlusconi gibt, die wir ganz selbstverständlich bestellen, dann werden wir immer noch zusammenzucken, wenn jemand Reichstag sagt.250

Die moralische Überregulierung der öffentlichen Meinung durch intolerante ›Gutmenschen‹ rechtfertigt es, angesichts von nicht zweifelsfrei ›korrektem‹ Verhalten nicht unter Gewissensbissen zu leiden. Illies gibt zu, »zwischen –––––––– 245 246 247 248 249 250

Illies 2001c: 19. Illies 2001c: 25. Illies 2001c: 40, 61. Illies 2001c: 26. Illies 2001c: 27. Illies 2001c: 111.

187

Peinlichkeit, verletzten Konventionen und begründet schlechtem Gewissen für unmoralische Handlungen nicht wirklich streng«251 zu unterscheiden und begründet diese analytische Schwäche des Textes damit, dass »wir [!] auch in unserem Kopf bei diesem Punkt leider nicht so sauber trennen, wie es gut wäre«252. Da der popliterarische Diskurs über Humor und Moral unterhalten will, gehört die Vermeidung komplexer Argumentation zum Programm. So bricht die AdlonGruppe eine Debatte über die »Positiv-Diskriminierung« von Homosexuellen ab, die ins Fahrwasser einer »Diedrich-Diederichsen-Diskussion« zu geraten droht (TR 92). Das darf aber nicht über die thematische Nähe zu den Schriften des ›Professors in Stuttgart‹253 hinwegtäuschen, der in Politische Korrekturen (1996) ebenfalls die Harald Schmidt Show heranzieht, um die alte Frage ›Was darf Satire‹ neu zu stellen. Diederichsen wendet sich gegen die ›Neutralitätsthese‹: Die gerne aufgestellte Behauptung praktizierender HumoristInnen und Satiriker, man richte sich gegen alle und alles, was einem vor die Flinte komme, ist naturgemäß falsch. Auch Satire agiert immer von einer Perspektive aus, sie bestätigt und stiftet Hierarchien, Konsensus, Unterwerfungen.254

Diederichsen bestreitet die Standortunabhängigkeit des Humoristen und betont dessen aktiven Beitrag zur Schaffung und Konsolidierung von Konsens. Und wenn eine linke satirische Zeitschrift wie ›titanic‹ sich auch über Linke lustig macht, dann im Namen einer Idee einer besseren Linken und damit anders als der politische Gegner (wobei das in letzter Zeit oft weniger deutlich ist). Wichtiger ist aber beim Sprechakt des Parodierens, Verhöhnens und Ridikülisierens, welche (falschen) Konventionen die anwesende oder erwartbar mitlesende, -hörende Mehrheit teilt.255

Mit der Forderung nach Explizierung politisch-moralischer Kriterien steht Diederichsen im Gegensatz zu Stuckrad-Barre, der jene Kriterien in Gagschreiber als selbstverständlich voraussetzt. Satirische Kritik an der Linken ist für Diederichsen nur dann legitim, wenn sie sich prinzipiell solidarisch zu ihrem Gegenstand verhält, was exakt Diederichsens Selbstdeutung als ›Metakritiker‹ entspricht. Deswegen fordert er von titanic, was ihm früher von 68ern wie Gremliza abverlangt wurde: das ›Ausflaggen‹ der eigenen Gesinnung.256 Diederichsen weiß die Uneindeutigkeit und Variabilität Schmidts nur dann zu schätzen, wenn dieser positive Publikumsreaktionen auf ›inkorrekten‹ Humor (z. B. Führerwitze) parodistisch kontert:

–––––––– 251 252 253 254 255 256

188

Illies 2001c: 235. Illies 2001c: 235. Fuchs 2001. Diederichsen 1996: 185f. Diederichsen 1996: 186. Siehe oben S. 60.

Eine Live-Sendung wie die Harald-Schmidt-Show ist dabei so besonders interessant, weil sie tatsächlich zwischen der Bestätigung des homophoben, sexistischen und rassistischen Freizeit-Idioten und dessen brillanter Infragestellung oszilliert. Das liegt aber nicht daran, daß Schmidt tatsächlich neutral wäre, wie er meint, und jede mögliche Pointe benutzt, sondern daran, daß er unsicher zwischen einer Komplizenschaft mit den dunklen Seiten seines Publikums und dem Mut zum Heraustreten und Infragestellen der Komplizenschaft schwankt, ja auf dieses Schwanken angewiesen ist. Zumal das Publikum nicht homogen ist – es repräsentiert Machtverhältnisse und Hierarchien von draußen und steht auch mal für einen zwar oppositionellen, aber selbstzufriedenen, kulturbürgerlich oppositionellen Zusammenhang, über den Schmidt sich zu Recht lustig macht, um dann kurz darauf eine Konvention zu bestätigen, die diese Leute mit noch schlimmeren Arschlöchern teilen.257

Wie generell in Politische Korrekturen reagiert Diederichen auf den politischen Unterscheidungsverlust der Nachwendezeit mit der Forderung nach allgemeiner Gültigkeit egalitärer Grundsätze. Sie richtet sich gerade auch an jene in linker Tradition stehenden Gruppen und Institutionen wie titanic, die sich der satirischen Kritik einer missglückten ›Performance‹ linksliberaler Prinzipien widmen. Diederichsen zufolge verdient es nur der ›selbstzufriedene, kulturbürgerlich oppositionelle« Teil des Publikums, also jene Gruppe, die neben »noch schlimmeren Arschlöchern« immer schon das Hauptangriffsziel gegengegenkultureller Kritik darstellte, verunglimpft zu werden. Dies aber nicht ihrer Überzeugungen wegen, sondern aufgrund ihres spießig-selbstgefälligen Auftretens. Insofern löst Diederichsen die moralische Ambivalenz humoristischer Beobachtung des gut/böse-Schemas auf, indem er vom Beobachter eine Selbstverortung auf der ›guten‹ Seite verlangt.258 Anders als Stuckrad-Barre, der nur grob zwischen ›Provinzlern‹ und Intellektuellen unterscheidet, stellt er die Heterogenität und Beeinflussbarkeit des Publikums heraus und findet sich nicht damit ab, dass Chauvinisten sich von transgressivem, ›bösem‹ Humor bestätigt fühlen könnten. Er verlangt vom Entertainer, die ›Komplizenschaft mit der dunklen Seite des Publikums‹ durch eine mutige Volte in Frage zu stellen und die von Zuschauerseite »erfahrene Bestätigung oder Absicherung, übermutig werdend, wie Treibstoff«259 zu verbrennen. Dieses Humorkonzept bewahrt den transgressiv-sarkastischen Gestus von Punk und New Wave, instrumentalisiert ihn aber zugleich für die gute Sache. Damit geht Diederichsen auf Distanz zur dumpfen Freude am Tabubruch wie zum Lob der ›entkrampfenden‹ Wirkung von Schmidts Humor, das Illies oder Norbert Bolz anstimmen.260 –––––––– 257 258 259 260

Diederichsen 1996: 186. Auf gleiche Weise handhabt er das Problem des potenzierten schlechten Geschmacks, der ein guter (intensiver, ›authentischer‹) Geschmack sein soll (vgl. oben S. 77). Diederichsen 1996: 187. Vgl. Bolz 1999: 164: »Lachen befreit von der Heuchelei. Die Zumutungen des politisch Korrekten werden erträglich durch das allabendliche TV-Training von Lässigkeit. Und es hilft. Deutschland wird laxer, lustiger, lockerer.«

189

In Krisensituationen tendiert insbesondere die Alltags- und massenmediale Kommunikation dazu, Moralkonzepte ontologisch zu handhaben, das Böse zu verdinglichen und so Komplexität zu reduzieren.261 Damit erhöht sich der Druck, zur Beobachtung erster Ordnung zurückzukehren und sich durch eindeutige Stellungnahmen moralisch auszuweisen. 1979 führt die Reifizierung des moralisch Schlechten im Kontext des deutschen ›Schulddiskurses‹ vor. Wie Illies setzt Kracht diesen Diskurs auf humoristisch-groteske Weise in Szene. Als der Erzähler nach Christophers Tod durch das von rivalisierenden politischen Kräften ins Chaos gestürzte Teheran irrt und ihn zwei persische Polizisten für einen amerikanischen Spion halten, flüchtet er sich in die deutsche Botschaft. Durch das anschließende Gespräch mit einem hochrangigen Diplomaten wird ein Zusammenhang zwischen dem Kollaps der staatlichen Ordnung und dem Bedürfnis nach moralischen Gewissheiten hergestellt. Vor der Errichtung des theokratischen Systems existieren »keine Seiten mehr« (1979 113), so dass die Situation dem ideologischen ›Vakuum‹ nach dem Ende des Kalten Krieges ähnelt. Bezeichnenderweise dreht sich die Unterhaltung mit dem Vizekonsul um Begriffe wie Demokratie, Vaterland und Moral, die auf potentielle Ordnungsgaranten verweisen. Die Flucht in die Botschaft entspricht dem Wunsch nach Selbstvergewisserung im Rahmen deutscher Nationalidentität. Als Zeichen der Hoffnung, das freilich auch den Sündenfall evoziert, wächst auf dem Botschaftsgelände »mitten im Kies« (1979 86) ein Apfelbaum. Ein Plakat in der Botschaft zeigt den Rhein, den Loreleyfelsen und ein Foto des Bundespräsidenten Walter Scheel«. Dieses vertraute und zugleich mythisch überhöhte Bild lässt Deutschland als rettende Enklave inmitten des Chaos erscheinen. Die Botschaft bietet jedoch keinen Schutz, denn auch der affektierte und undurchsichtige Vizekonsul zweifelt an der Identität des deutschen Touristen (1979 87). Die inländische »demokratische Ordnung« – ein Euphemismus angesichts des autokratischen Schah-Regimes – ist »futsch« (1979 89), aber auch die deutsche Nationalidentität scheidet als Inklusionsangebot aus, wie ein unvermitteltes Schuldeingeständnis des Diplomaten deutlich macht: »Mein Vater hat im zweiten Weltkrieg, in Belgrad, vier Juden erschossen. Er hat Juden erschossen, hören Sie? Ich schäme mich, jeden Tag, den ich auf der Welt bin, schäme ich mich. Überrascht Sie das? Überrascht Sie Deutschland?« (1979 89). Die Stelle erinnert an die Utopie, die der Erzähler in Faserland an das Wort »Neckarauen« (F 81) knüpft, das einen »ganz kirre im Kopf« macht und dem Deutschland ›gleichen‹ könnte, »wenn die Juden nicht vergast worden wären« (F 81). Die Herleitung des gegenwärtigen Elends aus einem zum metaphysischen Verhängnis stilisierten Schuldzusammenhang changiert zwischen Irrationalität und intuitiver Plausibilität. Auf ähnliche Weise wird in 1979 die in der Rede des Vizekonsuls anklingende Kollektivschuldthese grotesk verzerrt. Durch Hervor–––––––– 261

190

Luhmann 1998: 397f.

hebung archaisierender und ontologisierender Züge wird der Erklärungsansatz des Vizekonsuls als ›Sinnprothese‹ kenntlich gemacht. Er fragt den Erzähler: »›Glauben Sie an das Böse?‹ / ›Nein.‹ / ›Woher kommt das Böse?‹ / ›Ich weiß es nicht.‹ / ›War es schon immer da? War es schon immer in uns?‹ / ›Nein.‹« (1979 90). Damit wird das Deutungsangebot ›Schuld‹ ebenso diskreditiert wie die Sehnsucht nach einer unbelasteten Nationalheimat, wie sie sich beispielsweise hinter Illies’ satirischer Infragestellung des Vergangenheitsdiskurses abzeichnet. Zielscheibe satirischer Kritik ist im Kontext der Popliteratur wie bei den Vorgängern in den 80er Jahren vor allem der normalisierte Protest. Typischerweise werden die individuellen Beweggründe von Demonstranten hervorgehoben, die politischen Anlässe (Krieg, soziale Ungerechtigkeit, Umweltverschmutzung usw.) dagegen eher ausgeblendet. Moniert wird vor allem die Überschätzung der ›Macht des Wortes‹. Auf eigene Erfahrungen zurückgreifend, schildern Illies und Stuckrad-Barre Demonstrationen gegen Atomendlager oder den ersten Golfkrieg als »Kaffeekränzchen auf den Straßen« (TR 97), die Gelegenheit zum Schuleschwänzen bieten. Wer von der Sache überzeugt ist, gilt als naiv und unauthentisch: Wir standen also am Kölner Neumarkt, um uns herum ganz viele Liegeradfahrer, Zigarettenselbstdreher und Feministinnen […]. [E]s wirkte wie früher, wenn man stolz war, den Pulli des älteren Bruders anziehen zu dürfen. Und so hatten sich ein paar eben für diesen Tag auch eine Gesinnung ausgeliehen. Ich selbst wollte eigentlich viel lieber mit Franziska am Rhein entlangspazieren, aber ihr war nicht danach zumute.262

Eine performative Variante der Entlarvung weltfremder Ansprüche findet sich in Tristesse Royale. In schicken Anzügen nimmt die Adlon-Gruppe an einer Protestveranstaltung gegen den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr teil. Der Stilbruch unterstreicht die ironisch-kritische Absicht, dennoch werden die fünf Autoren von anderen Teilnehmern für Mitglieder einer K-Gruppe gehalten (TR 94). Auf dem Alexanderplatz findet eine Abschlusskundgebung statt, bei der ein »Vortrag über Empfängnisverhütung mittels Hodenbaden« (TR 93) angekündigt wird. So fragwürdig wie diese alternative Verhütungsmethode, so unbedarft sind nach Meinung der Autoren die leidenschaftslos ihr Programm abspulenden Kriegsgegner. Nicht deren Ziele, sondern die mangelhafte ›Performance‹ steht im Fokus der Satire: »Es war eigentlich die unmotivierteste Demonstration, die ich je schaute« (TR 94). Häufig wird Protest überdies unter erlebnisästhetischen Gesichtspunkten beurteilt: »Wenn ich schon diese Panzerfahrzeuge sehe, dann möchte ich doch auch die Steine fliegen sehen, die Knüppel oder Dachlatten, den Qualm. Napalm vielleicht« (TR 94). Ähnlich sieht es der Erzähler in Faserland:

––––––––

262

Illies 2001a: 164.

191

[I]ch bezahle den Taxifahrer, der zum Glück während der Fahrt kein einziges Wort gesagt hat, weil er sauer war, daß wir beide gleich alt sind und ich ein Kiton-Jackett trage und er auf Demos geht. / Obgleich, wenn ich es mir überlege, hätte ich gern mit ihm geredet und ihm gesagt, daß ich auch auf Demonstrationen gehe, nicht, weil ich glaube, damit würde man auch nur einen Furz erreichen, sondern weil ich die Atmosphäre liebe. Es gibt nämlich nichts Besseres als den Moment, in dem die Polizei sich überlegt loszuschlagen, weil wieder ein paar Flaschen geflogen sind, und dann gibt es einen Adrenalinrausch bei der Polizei und auch einen bei den Demonstranten, und dann rennt die Polizei los, eine Leuchtspurrakete fliegt über die Straße, und ein paar Flaschen fliegen hinterher, und dann stolpert ein Demonstrant, irgend so ein armes Schwein, der sich die Schnürsenkel an seinen blöden Doc Martens nicht gescheit zugebunden hat, und dann fallen ungefähr achtzig Polizisten über den her und prügeln auf ihn ein. Davon gibt es dann Fotos in der Zeitung, und dann wird wieder diskutiert, ob die Polizei zu gewalttätig ist oder die Demonstranten oder beide und ob die Gewaltspirale eskaliert. Das ist wieder so ein unglaublicher Satz. Daran läßt sich doch alles ablesen über diese Welt, wie unfaßbar verkommen alles ist. Aber das würde der Taxifahrer nicht verstehen, weil er sonst ja auch ein Kiton-Jackett tragen würde, sich die Haare anständig schneiden und kämmen und seinen Regenbogen-FriedensNichtraucher-Ökologen-Sticker von seinem Armaturenbrett reißen würde. Also zahle ich dem Taxifahrer seinen Fahrpreis und gebe ihm noch ein dickes Trinkgeld, damit er in Zukunft weiß, wer der Feind ist. (F 26)

Polizei und Demonstranten erscheinen als aufeinander eingespielte Gegner, die von den Medien in routinierter Weise in Szene gesetzt werden. Ihr Konflikt steht pars pro toto für ein selbstbezügliches, endlos wiederholtes und obsoletes Spektakel, das sich dem Schwarz-Weiß-Denken der Beteiligten verdankt. Der Protagonist bestätigt dieses Denkmuster, indem er ein übertrieben hohes Trinkgeld gibt. Sein Zynismus ist dabei durch das vermeintliche soziale Ressentiment des Fahrers wie auch durch seine indirekte Charakterisierung als zwanghafter Charakter motiviert, der potenzierte Kritik in ihrer exzessiv-selbstzerstörerischen Variante verinnerlicht hat. Sekundärabweichungen werden in der Popliteratur vornehmlich unter dem Gesichtspunkt ihrer inflationären Entwertung problematisiert, wie oben anhand des ›Remodelings‹ der Scorpions zur ironisch-zeitgemäßen Band erläutert wurde. In Tristesse Royale personifiziert der »Trend-Scout« (TR 150) den Normalisierungsmechanismus. Im Auftrag von Firmen und Großkonzernen sucht er nach zukunftsträchtigen Novitäten und leitet ihre massenhafte und standardisierte Produktion ein. Dabei kann es sich auch um längst bekannte Produkte handeln, die in anderen sozialen Kontexten oder auf neue Weise verwendet werden wie die Turnschuhe von Adidas, die »über die Nachtclubs […] wieder nach oben gekommen« (TR 150) sind. Ironisch ist dieses Recycling, wenn das Produkt gegensätzlich zu seiner ursprünglichen Bedeutung semantisiert wird. Insofern der Trend-Scout zum mainstreaming ›postmodern‹ wiederaufbereiteter Gegenstände und Verhaltensweisen beiträgt, stößt er eine Proliferation von Ironie an. Ihm kommt deswegen eine Schlüsselfunktion für die beklagte Automatisierung von Ironie und potenzierter Abweichung zu.

192

Aus gegenkultureller Sicht ist der Trend-Scout eine moralisch dubiose Figur, die aus kommerziellen Gründen ›Geheimwissen‹ preisgibt und den Exklusivitätsanspruch avancierter Gruppen und Zirkel untergräbt. Joachim Bessing beschreibt ihn dagegen eher technisch nicht als ›Verräter‹, sondern »Beschleuniger« (TR 150), der den Kreislauf zwischen Innovation, Kooptation durch den Mainstream, Entwertung und sekundärer Abweichung dynamisiert. Diese »Spirale« (TR 150) setzt sich wie ein »Zauberwerk in Gang« (TR 151) und leitet eine exzessive Denormalisierung ein: ein »Ständig-noch-verrückter-werden müssen«, das »bald direktemang zu einem hölzernen Helm ohne Sehschlitze« führt, »wie ihn zum Beispiel Hussein Chalayan verkauft« (TR 151). Bessing übertreibt die Abweichungsverstärkung und blendet die ›zentripetale‹, renormalisierende »›Gravitation‹ des Durchschnitts«263 aus, die das ›Durchdrehen‹ (Jürgen Link) in der Regel verhindert. Als Abwehrmaßnahme gegen den Trend-Scout wie gegen Imitation überhaupt diskutiert die Adlon-Gruppe Ironie: »Ich glaube daß diese Looks und die Ironie in allem, in der Art zu sprechen und zu meinen – Haltung eben – von der Angst herkommt, vom Trend-Scout entdeckt zu werden. Deshalb bricht man sich selbst durch Ironie« (TR 152). Demzufolge verdankt sich die Ironiekonjunktur der Hoffnung, der Trendexperte scheitere an der Entschlüsselung des Codes und übersehe das jeweilige Accessoire oder Kleidungsstück. Was sich – man denke an die Scorpions – als Fehleinschätzung erweist, da auch Ironie decodiert und kopiert wird. Diese Sensibilität für die Imitation und Entwertung postmoderner Ironie, von der auch die etwa zeitgleich entstehenden Texte von Diederichsen zeugen, unterscheidet die Adlon-Gruppe von den Popjournalisten der 80er Jahre. Stuckrad-Barre behandelt dieses Thema anhand derselben Sängerin, die schon 1981 in Sounds exemplarisch für das Phänomen ›Kult‹ steht.264 Sein Text über Marianne Rosenberg dokumentiert die inflationäre Entwertung von Camp und Trash: »Bevor alles Kult war, gab es sie schon. Nun ist sie ein Kult unter vielen.«265 Anders als in Sounds erscheint Rosenberg nicht als attraktives und erfolgreiches, aber naives Mädchen, sondern als halb autistische Exprominente und »Untote«266, die den Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit noch nicht aufgegeben hat: »Sie wirkt […] etwas zerzaust, redet stockend und in sich gekehrt, scheint abwesend und entzieht sich dem Gespräch.«267 Kid P.s Verehrung der Chanteuse basierte auf ihrem marionettenhaften Auftreten und ihrer Fremdbestimmung durch Plattenfirma, Management und Journalisten, die Rosenberg erst im Rückblick durchschaut: ––––––––

263 264 265 266 267

Link 2006: 354. Vgl. oben S. 55. Stuckrad-Barre 1999: 81. Stuckrad-Barre 1999: 81. Stuckrad-Barre 1999: 82.

193

War denn die alte Zeit wenigstens eine gute? Oh nein, »ich mußte in Interviews auswendig meinen Weg zur Musik als Märchen vom Aschenputtel erzählen, mußte abspecken und lernen, mit einem Buch auf dem Kopf zu gehen, weil alle sagten, ich gehe wie ein Junge«.268

Das Tragische an dieser eigentlich erfreulichen Emanzipationsgeschichte ist, dass nun der Erfolg ausbleibt. Überdies ist Rosenberg nach wie vor ein ›Opfer‹, weil sie von ihren Fans auf ihre alte Rolle als »Ikone jeder rosafarbenen Engtanzparty«269 reduziert wird und ihrer Plattenfirma dankbar dafür sein kann, auf die üblichen Werbetouren geschickt zu werden. In Sounds hieß es, sie wisse »wohl selbst nicht, was sie da tut, aber sie tut das Richtige«270. Stuckrad-Barre schreibt, sie »tut alles, wenn man sie lässt: Lippen bewegen, Platte hochhalten, Hände schütteln«271. Über die Schattenseiten des Showgeschäfts zu sprechen, ist für Rosenberg jedoch tabu: »Leiden sie unter dem Wahnsinn dieser Branche, Frau Rosenberg? / Der Maskenbildner legt die Finger auf die Lippen. Denn jetzt ist der Mund dran. Millimeterarbeit. / Stillhalten, bitte.«272 Das Porträt der Schwulenikone verdeutlicht die Alterserscheinungen einer Campästhetik, die einst antrat, ein überkommenes Originalitätsgebot auszuhebeln, und nun selbst als obsolet gilt. Massenhaft imitiert, verliert der gezielte Verstoß gegen Geschmacksnormen seine Exklusivität. ›High Trash‹ entsteht aus der Veredelung von Massengeschmack, die Masse eignet sich das wiederaufbereitete Produkt jedoch erneut an und ›entweiht‹ es in den Augen der Liebhaber. Während diese ›ihre‹ Dietrich, Garbo oder eben Rosenberg beharrlich und mit Inbrunst verehren, degradieren die ›Normalos‹ den Kult zum belanglosen, spießigverklemmten und austauschbaren Freizeiterlebnis, wie Stuckrad-Barre auf einer Linie mit Diederichsen feststellt: »Nach ein paar Schnäpsen in einer heruntergekommenen Bar hat auch manch Heterosexueller […] bestimmt mal ›Marleen‹ in der Jukebox gesucht.«273 An anderer Stelle konstatiert Stuckrad-Barre, dass potenzierte Abweichung zum Auslaufmodell verkommt, wenn die Indirektheit ironischer Kommunikation durch Erläuterungen ad absurdum geführt wird: Tennissocken sind fürchterlich, keine Frage, aber ist nicht das zwangsverordnete Drüberlachen noch schlimmer? Und dann tragen also Leute wieder Tennissocken, aus Protest, und das ist vielleicht zu verstehen, aber ja auch so krank, weil sie damit also, nur der Abgrenzung wegen, schlimme Socken tragen. Und dann nicht einfach still diese Socken dünnlaufen, sondern tatsächlich ERKLÄREN, warum sie die tragen, um sich zumindest, oh ja, INHALTLICH zu unterscheiden von jenen, die diese Socken

–––––––– 268 269 270 271 272 273

194

Stuckrad-Barre 1999: 81. Stuckrad-Barre 1999: 81f. Sounds 3/1981: 15. Stuckrad-Barre 1999: 82. Stuckrad-Barre 1999: 83. Stuckrad-Barre 1999: 82.

nicht schon wieder, sondern immer noch tragen. Irgendwie muß man die Neuzeit rumkriegen.274

Wer erklärt, verblüfft nicht und macht sich außerdem durch die Offenlegung des Prinzips angreifbar. Die Popliteraten schlagen deshalb den umgekehrten Weg ein und distanzieren sich vom ›Kult‹: »Tod diesem Wort!«275 »Selbstironisches Musikmachen oder Anziehen sind möglicherweise immer noch erklärbar, aber nie wieder gut« (TR 29). Als Alternative bieten sich »bleibende[] Werte« (TR 148) an, die nicht auf einem crossing der Unterscheidung akzeptabel/nicht-akzeptabel basieren, nicht erst die Spirale aus Entwertung und Wiederaufwertung durchlaufen müssen und damit von der Aufgabe entbinden, festzustellen, wann etwas so sehr aus der Mode ist, dass es wieder als interessant gelten kann. Doch vermag Krachts Hinweis auf die Levis-Jeans 501 nicht recht zu überzeugen, denn die »ist in etwa ein so bleibender Wert, wie der Goldene Schnitt in der Malerei es ist« (TR 148) – also überholt. Einen »definitiven Look« (TR 148) der Gegenwart kann die Gruppe nicht erkennen. Bleibt noch die Rückkehr zur konventionellen Definition des guten Geschmacks als Geschmack der sozial Privilegierten, bei dem eine Entwertung durch Proliferation nicht zu befürchten steht, denn wer kann sich leisten, wie Kracht »von der Privatbank Conrad Hinrich Donner betreut« (TR 23) zu werden: »[I]ch möchte niemals in meinem Leben wählen müssen zwischen Deutscher Bank, Dresdner Bank, Hamburger Sparkasse und wie sie alle heißen, weil ich finde, daß sie alle schlimm aussehen (TR 23).276 Dieser Bruch mit dem neodandyistischen Ideal schichtunabhängigen guten Geschmacks lässt sich allerdings auch als Korrektur der aus dem Nachkriegswohlstand geborenen Utopie einer nicht mehr ökonomisch determinierten Kulturhierarchie interpretieren. Stuckrad-Barres Replik zeigt indes die Begrenztheit des popliterarischen Verdikts über Trash und Camp: »Ich mag das provinzielle Aroma, das die Sparkassen verströmen. Dieses angenehme Flair von Eduard Zimmermanns Aktenzeichen XY, das dort durch die Schalterräume weht, finde ich nett« (TR 23). Auch die gesellschaftspolitische Dimension von Sekundärabweichungen kommt in diesem Zusammenhang zur Sprache. Im Mittelpunkt steht dabei die prekäre Nähe von Metakritik und Konservativismus. Wie dargestellt strebt Diederichsen in diesem Zusammenhang eine ›synthetische‹ Lösung an, die bewahrenswerte Errungenschaften der Alternativkultur in sich ›aufhebt‹. Dem stellt er eine ›undialektische‹ Variante gegenüber, die – »minus mal minus ergibt plus«277 – einen Rückfall in konservative Rollenmuster bedeutet. Nur sie wird in Tristesse ––––––––

274 275 276 277

Stuckrad-Barre 1999: 89. Stuckrad-Barre 1999: 81. Vgl. dazu auch ein Interview, in dem Kracht ähnlich auftrumpft: »[I]ch bin ja sehr reich« (Philippi/Schmidt 1999). Diederichsen 1999: 19.

195

Royale thematisiert, ein eindeutiges Bekenntnis zur Tradition ist damit jedoch nicht verbunden: BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE: Aber an und für sich kommt die Heirat heute auch als Rebellion gegen die Rebellion in Frage. / CHRISTIAN KRACHT: Die Rebellion gegen die Rebellion wäre eine Reaktion. Also ist das Heiraten ein reaktionärer Akt. […] Aber das heiraten konservativ ist, das wissen wir doch nun schon länger. (TR 48)

Wenn Kracht aus Überdruss am Potenzierungsmodell abwinkt, dementiert er implizit die daran geknüpften Fortschrittshoffnungen der ›Polit-Fraktion‹ um Diederichsen. Kein ›doppelter Bruch‹ mit bürgerlichem Establishment und Alternativkultur, kein ›dialektisches‹ Fortschreiten ist vorgesehen. Die Reflexion auf die Bedingungen potenzierter Kritik führt gleichwohl zu ähnlichen Ergebnissen wie bei Diederichsen: Die Negativreaktionen sind durch die je vorherrschenden Macht- und Mehrheitsverhältnisse determiniert. Als Zeitgenosse im emphatischen Sinne ist der (Pop-)Intellektuelle ›zur Taktik verurteilt‹ und kann nicht anders, als ›wider den Stachel zu löcken‹.278 Diskussionsinhalte erscheinen aus dieser Perspektive als bloße Funktionen im Abgrenzungskampf, doch während Diederichsen spätestens seit den 90er Jahren versucht, Sozial-, Zeit- und Sachdimension zu berücksichtigen, verabsolutiert die Adlon-Runde soziale und temporale Aspekte: Meinen kommunistischen Kunstlehrer hielt ich mir mit neokonservativem Spott vom Leib. Fünfzehn Jahre vorher [...] war es genau andersherum. [...] Diese Auflehnung ist natürlich in beiden Fällen inhaltsfrei – es kommt entschieden darauf an, was von oben kommt. (TR 122)

Diese poptypische Bagatellisierung von Inhalten geht gewöhnlich mit einer Abwertung sachlich begründeter Standpunkte einher, die entweder auf den Status interessengebundener ›Ideologie‹ reduziert oder als naiv diskreditiert werden. Freilich neigen Anhänger eines ›realpolitischen‹ Pragmatismus wie Florian Illies dazu, sich als überparteilich zu verstehen, obgleich sie durchaus Stellung gegen bestimmte Gesellschaftsgruppen und politische Positionen beziehen. Aus ihrer Sicht befinden sich die Ideologen zumeist im linken Lager, wie Illies’ Kommentar zum Rücktritt des SPD-Finanzministers Oskar Lafontaine zeigt: Wahrscheinlich spürten wir, daß mit Lafontaine der letzte Politiker abgetreten war, der noch eine Gesinnung hatte, der noch an Utopien und Ideale glaubte und nicht nur so tat. [...] Und der deshalb auch nicht für die höhere Vernunft, die die Generation Golf glaubt, für sich gepachtet zu haben, empfänglich war. Lafontaine war eine Unperson. Sein Abgang bestärkte die Generation Golf in dem Glauben, daß nun auch in der Politik die Zeit der Ideologien und Überzeugungen vorbei ist.279

–––––––– 278 279

196

Vgl. oben S. 108. Illies 2001a: 122.

Obgleich Illies ein Fragezeichen hinter die »höhere Vernunft« der Generation Golf setzt, lässt er keinen Zweifel daran, dass Lafontaine den Schritt zur postmodernen, nüchternen Realpolitik nie vollzogen hat und irrtümlicherweise noch an Zielen (›Utopien‹) wie sozialer Gerechtigkeit festhält, die über den Statuserhalt hinausgehen. Nicht grundlos beruft sich Illies in diesem Zusammenhang auf Niklas Luhmann als paradigmatisch antikritizistischen Gesellschaftstheoretiker.280 Entsprechend hält Illies der pauschal abqualifizierten ›Gesinnung‹ eine ›realistische‹ Einstellung entgegen, die allerdings in entscheidenden politischen Fragen auf Meinungsenthaltung hinausläuft, weil die Verhältnisse angeblich kein klares Ja oder Nein erlauben. So etwa im Fall deutscher Militäreinsätze nach der Wiedervereinigung: »Mit den Kriegen in Bosnien und im Kosovo wurde uns dann endgültig klar, daß die Welt zu kompliziert war, als daß man noch für oder gegen irgendwas sein konnte.«281 Anders als Illies gibt die Adlon-Runde zu verstehen, dass sie popaffine Verfahren wie ›inverse Hypokrisie‹ und Mimikry ans Normale weder für Errungenschaften ihrer Altersgruppe noch für besonders originell hält. Sie verreißt jene Politclownerie, die ihre Heimstätte im Hamburger »Pudel-Club« hat, dem »Epizentrum dieser verfluchten Selbstironie« (TR 28): »Der Pudel-Club ist das Allerverkommenste. Dort tritt Tobias Albrecht unter seinem Künstlernamen Rocko Schamoni auf und spielt einen Kreistagsabgeordneten der FDP. Alle finden das dort lustig. Es ist das Grauen« (TR 28). Damit sägt das »popkulturelle Quintett« freilich an dem Ast, auf dem es sitzt (vgl. TR 164), da etwa seine Aktion gegen die Antikriegsdemonstranten vor dem Brandenburger Tor einer vergleichbaren, keineswegs innovativeren gegengegenkulturellen Logik folgt. Stuckrad-Barre räumt das auch ein und stellt die Stilkritik an den Demonstranten ihrerseits in Frage: »Es ist kein neuer Gedanke, daß die Hausbesetzer, Friedensbewegten und so weiter eher Menschen sind, die es nicht verstehen, sich so herzurichten, daß es einem gefällt« (TR 95). Da die Entlarvung eines unter Selbstüberschätzung leidenden Protestmilieus in erster Linie auf eine fragwürdige ›Performance‹ zielt, bleibt weitgehend offen, wie es die Autoren mit den Zielen des Protestes halten und ob sie in einem weniger ›peinlichen‹ Rahmen ›Farbe bekennen‹ würden. Eine solche Situation entwirft Kracht in einer unmittelbar an Tristesse Royale anschließenden Reportage in der Welt am Sonntag, die von einem Aufenthalt in Kambodscha berichtet, wohin er und Bessing nach Beendigung der Gespräche im Adlon reisen. Zunächst schildert Kracht die ›Subversion‹ des Berliner Protestmarsches und betont die formelhaften, diffusen und halbherzig vorgetragenen Parolen der Kriegsgegner. Danach beschreibt er die angenehmen Lebensbedingungen der beiden deutschen Touristen in Phnom Penh, die sich wenig von der ›wohlstandsverwahrlosten‹ Welt des Adlon unterscheiden, auch wenn ringsum Elend herrscht. Kracht und Bessing besuchen ––––––––

280 281

Siehe oben S. 176. Illies 2001a: 164f.

197

den Foreign Correspondents Club of Cambodia, der alle Annehmlichkeiten eines westlichen Clubs bietet. Doch [d]ann gab es einen Stromausfall. Die Ventilatoren über uns und die Straßenlaternen unter uns gingen aus, und langsam, aber immer näher kommend, schob sich eine demonstrierende Menschenmenge den verdunkelten Boulevard hinunter. Viele von ihnen trugen Lumpen. Einige Demonstranten hatten nur ein Bein. Es blitzte am Himmel. Schwerbewaffnete Militärpolizei ging an den Straßenkreuzungen in Stellung. Die Menschen, die dort unten demonstrierten, forderten für sich nur eines: Die Erhöhung des kambodschanischen Mindestlohns von monatlich vierzig US-Dollar auf sechzig. / Joachim Bessing und ich waren zu feige, mitzumarschieren. Was uns vor wenigen Stunden in Berlin noch als herrlich subversive Tat vorgekommen war, nämlich das wahllose Mitmarschieren bei unsinnigen Demonstrationen, hielt uns hier mit einem lastwagengroßen Spiegel unser wahres Gesicht vor: Wir waren feige Popper. Und wir erkannten: Hier in Kambodscha hört die Popkultur auf. Es gab hier keinen ironischen Bruch zwischen dem, was ist, und dem, was sein sollte. Hier ging es um zwanzig Dollar mehr im Monat.282

Weil die Demonstration nicht leicht als unsinnig abzutun ist, verspüren die »Popper« offenbar ein Verlangen, teilzunehmen, sei es, um ihre »herrlich subversive Tat« zu wiederholen und sich endgültig als Zyniker auszuweisen, oder aus Übereinstimmung mit den Forderungen der Protestierenden. Doch so oder so sind sie zu feige, um mitzumarschieren. Im Lichte dieses Vorfalls erscheint die poptypische Heuchelei- und Naivitätskritik als bequeme und anmaßende Haltung, was Kracht begrüßt: »Es war gut und richtig, wieder in Asien zu sein.«283

6.8 Institutionalisierter Pop: Literatur als »License zur Nullposition« Im vorangegangenen Abschnitt wurde die neuere Popliteratur mit dem älteren Popdiskurs verglichen. Darüber hinaus konnten Gemeinsamkeiten und Differenzen im Verhältnis zur zeitgenössischen Essayistik von Diederichsen herausgearbeitet werden, was nun durch die Darstellung von Diederichsens Kritik an der Popliteratur ergänzt wird. In seinem Beitrag Die License zur Nullposition zur von der taz veranstalteten Reihe Goldene Zeiten für Literatur konzentriert sich Diederichsen auf »eine Sorte Popliteratur: von Kracht bis Naters, von von Lange bis zu von Stuckrad-Barre, von www.ampool.de bis zur Tristesse Royale«284. Ihm zufolge handelt es sich um leicht zu konsumierende, keinen hohen Reflexionsaufwand fordernde Texte für »ein spezifisches, stilistisch hellhöriges und empfindliches, nämlich jungerwachsenes Publikum«, das zu Identifikation sowie »euphorische[r] Zustimmung« eingeladen ––––––––

282 283 284

198

Kracht 2000b: 141f. Kracht 2000b: 142. Diederichsen 2000b.

wird und das »falsche Töne leichter erkennt als falsche Positionen«.285 Diese Unterscheidung zwischen Geschmack und weltanschaulich-politischen Fragen gibt die aus anderen Texten des Kritikers bekannte Argumentationslinie vor, die auf eine Kopplung von Ästhetik und Politik abzielt bzw. auf eine Kritik an der Entkopplung beider Bereiche. Konkret geht Diederichsen nur auf ein Feuilleton Alexander von Schönburgs ein, verzichtet weitgehend auf andere Belege und wertet die Popliteratur pauschal als unterkomplex ab. Die auf der Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz beruhende reflexive, vordergründig auf affirmative oder auch negative Reaktionen, in Wirklichkeit jedoch auf ›Komplementärlektüre‹ angelegte Erzählstruktur von Texten wie Faserland nimmt er dabei nicht in den Blick.286 Gleiches gilt für die tendenziell triftige Kritik an den »ranzigen Feindbildern bei Kracht und StuckradBarre«287, die durch eine vergleichende Lektüre von Faserland und Soloalbum unschwer differenziert werden könnte, wobei der Motivierung entsprechender Klischees bei Kracht durch den Charakter des Erzählers Rechnung zu tragen wäre.288 Diederichsen räumt die ›technische‹ Gelungenheit der Popliteratur ein, kritisiert jedoch die konventionellen Sujets und Formen sowie den Verzicht auf »Fremdheiten und fremdartige[] Perspektiven«289, was mit Blick auf Illies’ und StuckradBarres frühe Texte nachvollziehbar ist, an Krachts Werk jedoch vorbeizielt. Wie gezeigt spielen Exotismusmotive in Krachts Reportagen eine große Rolle, wobei sich das Fremde häufig als Vertrautes erweist. Den Vorwurf der Konventionalität präzisiert Diederichsen im Hinblick auf das das »innere und äußere Leben der Protagonisten« und deren »heterosexuell[e], weiß[e], deutsch[e] und auch sonst ganz normal[e]« Identität.290 Abgesehen von der Fragwürdigkeit eines literaturkritischen Maßstabs, der an der (A-)Normalität des Personals ausgerichtet ist, ließe sich dies wiederum mit Verweis auf die anomische Psychostruktur und die sexuelle Orientierung von Krachts Erzählerfiguren bestreiten. Erwägenswert ist dagegen Diederichsens historische Situierung der Popliteratur: »Die biografisch neuen, die jungen Leute, verständigen sich im Modus ihres subjektiven Neuheitserlebnisses über das objektiv Neue, den historischen Moment.«291 Hier könnte eine Diskussion über das Traditionsbewusstsein von Autoren wie Kracht und Illies sowie über eine mögliche Verwechslung ›biografischer‹ und ›historischer Neuheit‹ ansetzen, die auch das kurze Gedächtnis des Kulturbetriebs zu berücksichtigen hätte. Allerdings konzediert –––––––– 285 286 287 288 289 290 291

Diederichsen 2000b. Bauer 1993: 2. Diederichsen 2000b. Vgl. dagegen das Hippie-Feindbild bei Stuckrad-Barre 1998: 26f. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b.

199

Diederichsen, dass sich der problematische Anspruch der Popliteraten auf Neuheit in gewisser Weise selbst bewahrheit: Ein Wahrheitseffekt entsteht durch die Gleichzeitigkeit neuer Stimmen und eines neuen Publikums in einem ansonsten konventionellen Rahmen. […] Dagegen hilft auch keine Schnöselkritik. Es sei denn eine, die den Schnöseln Langweiligkeit nachweist, nicht mangelnde Kritikfähigkeit. 292

Durchschlagender als die Kritik am vermeintlichen Snobismus der Autoren ist es demnach, den Unterhaltungswert ihrer Texte zu bestreiten. Indem Diederichsen die Normalität der Popliteratur in sachlicher (vertraute Themen und Sujets), sozialer (weiße männliche Mittelklasse-Identität) und zeitlicher (Zeitgeistnähe) herausstellt, spricht er ihr Intensität und Irritationskraft ab. Er argumentiert dabei wie gewohnt ›antinormalistisch‹ und assoziiert Abstand zum sozialen und kulturellen ›Durchschnitt‹ mit Intensität. Deswegen lässt er die von Georg M. Oswald vertretene These nicht gelten, wonach die ›affirmative‹ Haltung der Popliteraten als postmoderne Überwindung des modernen ›Originalitäts- und Kritikzwangs‹ zu würdigen sei.293 Dass auch »der Vorstandsvorsitzende«, wie Oswald geltend gemacht hatte, »Adorno zitiert«, spreche unter Umständen für die »Produktivität der Kritik«.294 Außerdem unterschätze Oswald das Reflexionsniveau aktueller Gesellschaftskritik, die keinen objektiven Außenstandpunkt für sich in Anspruch nehme. Schließlich sei »Affirmation, Oswalds brandneue Alternative«295, nur vor dem Horizont anderer Möglichkeiten eine ernst zu nehmende Option. Diederichsen zufolge ist die von Oswald propagierte potenzierte Negation bzw. Affirmation normalisiert, nicht mehr als Abweichung zu erkennen und damit ›langweilig‹: »Da wo […] nur noch Affirmation möglich wäre, wäre sie auch das Ödeste.«296 Anschließend kommt Diederichsen auf einen Popbegriff zu sprechen, der auf das »Setzen von Unterschieden«297 kultureller und sozialer Art zielt und deswegen inkompatibel mit der inklusionistischen Poputopie sei, wie sie beispielsweise Rainald Goetz vertrete. Doch auch im Hinblick auf jüngere Popautoren wie Stuckrad-Barre, der Pop in Tristesse Royale als Wechselspiel von Abgrenzung nach außen (Differenz) und gruppeninterner Homogenisierung (Gleichheit) beschreibt, ist dieser Begriff nicht zu halten: »Pop basiert gleichzeitig auf dem Prinzip des Ausschließens und des Konsenses. Pop entsteht aus […] dem Segmentieren und in [!] einer Gegenbewegung, die dann wiederum vielen einleuchtet.« (TR 27) Übereinstimmend spricht Diederichsen vom »Setzen von Differenzen für eine Gruppe und gegen alle anderen«298 und korrigiert damit in gewisser Weise ––––––––

292 293 294 295 296 297 298

200

Diederichsen 2000b. Oswald 2000 bedient sich dabei freilich nicht der oben verwendeten Terminologie. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b.

sein Inklusionsprogramm »Dandyismus für alle«299, da er Ausschlussmechanismen größere Relevanz zuschreibt. Dieser Exklusionseffekt von Pop wird aber nicht generell verworfen. Diederichsen bemängelt vielmehr die fehlende Verbindung zwischen kulturellen und politischen Differenzen. Lebensästhetische Unterschiede substituieren ihm zufolge die »bodenlos« gewordenen »alten politischen Gemeinschaften der Arbeiterorganisationen, der Parteien und der Bewegungen«:300 Mit schwindender Bedeutung des politischen Überbaus wird die Distinktionslogik des Pop in schlechter Weise ›autonomisiert‹. Geschmack steht nicht mehr wie früher für eine bestimmte Gesinnung. Diese Entkopplung ist aber nicht total, weil beispielsweise die Popliteraten versuchen, den noch verbliebenen »moralisch-politischen Beigeschmack in der Form des Setzens von Differenzen aufrechtzuerhalten und als Legitimitätsressource auszubeuten«.301 Diese Beobachtung deckt sich in gewisser Weise mit der in Faserland erstellten Diagnose: Minimale Geschmacksunterschiede werden mit einer Vehemenz verteidigt, als handle es sich um religiöse oder weltanschauliche Kontroversen, müssen dabei aber rhetorisch amplifiziert werden, um noch als Differenzen wahrnehmbar zu sein. Sie »erschöpfen sich in kraftvollen, aber zunehmend leeren Geschmacksunterschieden«302. Doch während Krachts Erzähler die ›große Maschine‹ zur Erzeugung von Differenzen »da unten im Flachland« (F 149) hinter sich lassen möchte und sich in regressive Wunschträume flüchtet, strebt Diederichsen eine Repolitisierung lebensästhetischer Abgrenzungskämpfe an. Als Beispiel für die Bedeutungslosigkeit unpolitischer Stilkämpfe führt er ein von Kracht und Stuckrad-Barre veranstaltetes Autodafé von CDs des TV-Entertainers Stefan Raab an: Natürlich gibt es kaum einen schweren, benennbaren weltanschaulichen, politischen Dissens dieser Autoren mit Raab. Dennoch muss, um die Währung der Coolness, mit der sie spekulieren, nicht ins Bodenlose fallen zu lassen, eine dramatische Differenz zu Raab inszeniert werden. Solche dramatischen und dann wieder ins Selbstironische kippenden Differenzen um nichts sind das Material, aus dem sich Individualität […] heute generiert. […] Ähnlich ist das Bekenntnis zu werten, Ironie sei vorbei. Der Verdacht nämlich, nichts als Ironie zu produzieren, war zu massiv geworden. Aber es ist keine andere Haltung an ihre Stelle getreten. 303

Demzufolge muss der in Anspruch genommene Ausnahmestatus symbolisch gegen Mitläufer verteidigt werden. Als ›inhaltsfrei‹ erscheint die erwähnte Aktion freilich nur dann, wenn der behauptete Unterschied zwischen den Entertainment-

–––––––– 299 300 301 302 303

Diederichsen 2000a: 102. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b.

201

Qualitäten von Kracht bzw. Stuckrad-Barre und Raab vor der Folie politischer Auseinandersetzungen betrachtet wird. Nach Diederichsen weisen Stilunterschiede »immer weniger Korrelate und Bezugspunkte außerhalb des Stils«304 auf, wodurch ökonomische Faktoren in den Vordergrund treten. Allerdings räumt er ein, dass Kracht in Faserland eine Aufdeckung dieses Zusammenhangs intendiert. Diederichsen zufolge »überantwortet« sich ein verabsolutierter Lebensstil der ohnehin obwaltenden gesellschaftlichen Gravitation. Unterschiede ohne näher markierte Inhalte erweisen sich letzten Endes als bloße Funktionen nackter Statusunterschiede. Zu dem Programm einiger Autoren, wie etwa Kracht, gehört es, dies auch herauszustellen. Dabei kann man zu seinen Gunsten annehmen, dass die klebrigbittere Verzweiflung, die man in seinen Texten findet, sich auch der so geschilderten Ausweglosigkeit verdankt, dass am Ende nichts bleibt außer Status und Privileg. 305

In diesem Punkt konvergieren poptheoretische Analyse und popliterarische Darstellung, da Kracht wie Diederichsen die den kulturellen Hierarchien vorgeschalteten ökonomischen Machtverhältnisse beleuchten. Analogien zum Pop-Programm der 80er Jahre kommen bei Diederichsen nur andeutungsweise in den Blick, wenn er die ›geschmäcklerische‹ Popliteratur-Kritik Matthias Polityckis zurückweist, der einen »intelligent gemachten gegen den dummen Pop«306 verteidigt und damit popkulturintern zwischen ›U‹ und ›E‹ unterscheidet. Diederichsen verwirft diese Position als prätentiös und erinnert an ihre Diskreditierung durch Punk und New Wave: »So einiges, dachte ich, hatten wir doch in den 80ern schon geklärt.«307 Gleichwohl hält er die zeitgenössische Popliteratur im Wesentlichen für eindimensional und setzt ihr Texte aus den 80er Jahren entgegen, in denen eine »gezielte Mischung aus Wissenstypen«308 gelinge: Naturwissenschaft, Journalismus, Privatsprachen, Politik, Sex, Dritte Welt – und Pop. Dies als genuine Chance der Literatur als Erkenntnisform, die verschiedene Denkund Diskursformen integrieren und konfrontieren kann: gegen den schon damals anschwellenden Chor des Wieder-erzählen-Dürfens, der verschiedenen Rückrufe zur Ordnung.309

Forderungen nach thematischer und formaler Innovation werden den postmodernistischen Literaturparodien von Kracht oder Moritz von Uslar jedoch nur bedingt gerecht. Erklärungsbedürftig ist auch die angedeutete Analogie zwischen narrativem Traditionalismus und politischem Rückschritt. Diederichsens antinormalistische Argumentationsweise zeigt sich daran, dass er der neueren, in jeder –––––––– 304 305 306 307 308 309

202

Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Vgl. Politycki 2000. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b.

Hinsicht ›normalen‹ Popliteratur die »expansiven«310 Texte des homosexuellen, ethnologisch und religionswissenschaftlich interessierten und in der modernistischexperimentellen Tradition verwurzelten Hubert Fichte als Positivbeispiel gegenüberstellt. Auch die Ironiethematik verknüpft Diederichsen mit dem Normalitätsvorwurf: »Deutsche Schriftsteller produzieren wieder eine Ironie, die auf einem Normalfall aufruht, einer deutschen Mittelklasse-Normalität, für die sich keiner mehr schämt.«311 Als Beispiel zitiert er ein in manieriert-betulichem Ton abgefasstes Feuilleton Alexander von Schönburgs: ›Das Kaiser’s-Geschäft kann man, Richtung Bergmannstraße gehend, nicht passieren, ohne von dort herumlungernden Gestalten angesprochen zu werden. Meistens wollen die jungen Leute, die wahrscheinlich durch Rauschgiftabhängigkeit ins soziale Elend gerutscht sind …‹ Die elende Verschmitztheit, mit der hier ein innerer Spazierstock stolz antiquierte Ausdrücke aufspießt, weiß, dass weder Ressentiment gegen die Penner noch Solidarität oder Mitleid irgendwie in Frage kommen […]. Man hat mit allem nichts zu tun und kann es deswegen so schön beschreiben und benutzen. Billig, darauf zu hoffen, dafür das Kompliment dandyistisch einstreichen zu dürfen.

Auf einem problematischen ›Normalfall‹ basiert die Ironie dieses Flaneurs, weil sie von einer privilegierten sozialen Position aus formuliert ist. Dass sie »wieder« gesellschaftsfähig ist, evoziert einen historischen Rückschritt hinter das Gleichheitsideal der ›sozialdemokratischen‹ Ära. Hier ließe sich einwenden, dass sich auch um 1980 junge weiße Männer aus der Mittelschicht wie Diederichsen im Spott über ›Sperrholz-Linke‹ usw. besonders hervortaten. Die ästhetisierendzitathafte Schreibweise Schönburgs (»schön beschreiben und benutzen«) und die genüsslich ausgekostete ›Entpflichtung‹ vom ›echten Anliegen‹ (»man hat mit allem nichts zu tun«) erinnert an das ältere Pop-Programm. Die New-Wave-Polemik zielte jedoch auf Hausbesetzer, ›Spontis‹ und ›Ökos‹, freiwillige Außenseiter, die selbstbewusst Ansprüche erhoben. Schönburg nimmt sich dagegen jugendliche Penner vor und schickt keine Erläuterung im Stil von »Ich bin ja auch für Hausbesetzungen, aber«312 hinterher, die seine Rede ins rechte Licht rückte (und ihr die Spitze nähme). Weder die Person des Autors noch der Veröffentlichungskontext, die Berliner Seiten der FAZ, sprechen zwingend für eine Lesart nach dem Muster rhetorischer Inversionsironie. Dass Diederichsen den Autonomieanspruch der (Pop-)Literatur gegenüber kunstfremden (moralischen, politischen) Anforderungen nicht generell attackiert, zeigt seine Zurückweisung von Maxim Billers Kritik am gesellschaftlichen Indifferentismus der Popautoren.313 Biller gegenüber pocht Diederichsen auf die Eigenlogik des Literarischen: »Literatur kann moralischen Imperativen nicht ohne ––––––––

310 311 312 313

Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Sounds 9/1982: 45. Vgl. oben S. 35. Biller 2000. Dazu Jähner 2000.

203

Verlust genau des ihr spezifischen Erkenntnisvermögens gehorchen, sie kann nur in Verbindung stehen mit moralisch-politisch begründeten Entwürfen und Bewegungen.«314 Worin diese Verbindung bestehen könnte, sagt Diederichsen nicht, er weist lediglich darauf hin, dass früher »damit« – gemeint ist wohl das politisierte Klima der 70er und 80er Jahre – »jeder neugierige junge Mensch automatisch in Verbindung stand«315. Nicht die Autonomie des ›alten Mediums‹ Literatur ist also das Problem, sondern ihr Missbrauch als »License zur Nullposition. Aus der Chance zur Offenheit und Ambivalenz wird ein Schutzraum, wo ich keine Position zu haben brauche. Ob man das nun erbärmlich findet oder an Regentagen gut verstehen kann«316. Kunstvorbehalt und institutionalisiertes uneigentliches Sprechen dienen als Alibi für die Flucht in die Positionslosigkeit, die Diederichsen immerhin in Grenzen für nachvollziehbar hält. Die Auseinandersetzung mit der Popliteratur hat in Diederichsens um 2000 publizierten Texten ihre Spuren hinterlassen. Autoren wie Kracht und Illies stehen hier pars pro toto für ein misslungenes zeitgenössisches Popkonzept und eine »Raab/Schmidt/Kracht-Massenkultur«317. Mit dieser polemischen Gleichmacherei unterschreitet Diederichsen zwar das Niveau seiner einlässlichen Überlegungen zu Schmidt oder Kracht, an anderer Stelle nimmt er den »Wahrheitseffekt […] neuer Stimmen und eines neuen Publikums«318 jedoch gelassen zur Kenntnis – »[d]ie nächste Generation hat immer Recht«319! Von der Kritik am Innovationsanspruch der jüngeren Generation geht ein Anstoß zur Historisierung des Popdiskurses aus. Zwar hält sich Diederichsen in den Vorworten zu Sexbeat (2002) bzw. 2000 Schallplatten (2000) mit dem Vorwurf der Epigonalität meist zurück, doch lässt er keine Zweifel daran, dass die zeitgenössischen Erfolgsautoren nach bekanntem Rezept verfahren: Man konnte ja auch nicht ahnen, daß noch so manche Generation ins Land schreiten würde, die dasselbe nochmal und nochmal aufs Neue entdecken würde: Daß nämlich die 68er Linken in einen Gegensatz zu sich selbst geraten und so konservativ wie korrupt geworden waren […]. Daß die eigenen Bildungserlebnisse mit Konsumartikeln und behüteter Kindheit auch ganz toll gewesen waren. [...] Man konnte nicht ahnen, daß die Erfahrungen, die ich vor 83 gemacht hatte, noch zwanzig Jahre lang, bis heute, immer wieder neu gemacht und als neu empfunden und ausgegeben werden konnten, inzwischen aber derartig gesättigt und vorstrukturiert sind mit den vorverdauten und vorverarbeiteten Erfahrungen anderer, daß irgendwann ein massenkompatibler Diskurs daraus entstehen konnte, ein Genre. Coming Of Cynicism. (SB X)

–––––––– 314 315 316 317 318 319

204

Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000b. Diederichsen 2000a: V. Diederichsen 2000b. Diedrichsen im Interview mit Fuchs/Seidel 2003.

Der Hinweis auf stereotype 68er-Kritik und »Bildungserlebnisse mit Konsumartikeln« spielt wahrscheinlich auf die Sozialisationsanekdoten in Generation Golf an. Unerwähnt bleibt die bereits in Sexbeat angedeutete und für die Popliteratur zentrale ›Popkrise‹ als irritierende Erfahrung, dass der »Subversions-Überbau […] ziemlich aus der Luft gegriffen« (SB 129) bzw. »die Wirklichkeit wirklicher […] als ›wie im Film‹«320 ist. Dabei erweist sich dieser Genre-Baustein auch in den erwähnten Vorworten als Kernstück des Pop-Sozialisationsnarrativs. Einen biographischen Einschnitt bildet hier die Erkenntnis, dass sich »[r]eine NichtAuthentizität […] nicht wirklich leben«321 lässt. Diederichsen weist auf das Missverhältnis zwischen stabilisierter Poptopik und fortschreitender gesellschaftlicher Entwicklung hin. In der Tat ist etwa StuckradBarre mit der Frühphase des Popdiskurses nicht vertraut, weshalb ihm thematische und formale Gemeinsamkeiten mit der eigenen Arbeit nicht auffallen können. Die gegenwärtige Position früherer Pop-Protagonisten wird nicht als mehr oder weniger konsequente Weiterentwicklung früherer Standpunkte erkannt. Hinzu kommt, dass der Auseinandersetzung mit den Vorgängern das sperrige und ›intellektualistische‹ ›Spätwerk‹ Diederichsens im Weg steht: Als Nachgeborener dachte ich immer, das ist wahrscheinlich irre wichtig, was der Herr Diederichsen da redet, und hab’s immer kompletten Schwachsinn gefunden. […] [W]as redet der denn, über Musik, das ist doch Musik? Der erzählt mir nichts, kapier ich null.322

Stuckrad-Barre bevorzugt die jüngeren Autoren der Tempo-Riege, die den Popjournalismus der frühen 80er Jahre beerben, ohne die Wendung ins ›Akademische‹ mitzuvollziehen. Stuckrad-Barre liest nicht Diederichsen, sondern Moritz von Uslar: Ah, das ist mein Mann, mein Thema, meine Sprache, mein Leben. […] Das hab ich kapiert, wie der über Musik gesprochen hat und da trotzdem abgehoben ist zu anderen Dingen … […] Ich hab dann auch zum ersten Mal ein Bild von Uslar gesehen und dachte, geil, sieht der toll aus, so würde ich auch gerne aussehen. Und als ich Diederichsen dann mal gesehen hab, Merz-Universität, so nen Bart und irgendwie festgewachsene Brille, da dachte ich, auf gar keinen Fall […].323

Bezeichnenderweise weist Eckhard Schumacher im Gespräch mit Stuckrad-Barre darauf hin, dass seine eigene ›Popinitiation‹ von der Diederichsen-Lektüre und den »frühen ›Sounds‹-Sachen« ausging (»ich fand das einen irren Ton«), worauf Stuckrad-Barre feststellt, dass diese Erlebnisse sich um »Jahre versetzt« in ähnlicher Weise vollziehen.324 Euphorisch gestimmte, originelle und eher unkomplizierte Texte entwickeln dabei offenbar die größte Anziehungskraft. Wenn ––––––––

320 321 322 323 324

Illies 2005: 105. Diederichsen 2000a: V. Meinecke/Stuckrad-Barre u. a. 2007: 375. Meinecke/Stuckrad-Barre u. a. 2007: 375f. Meinecke/Stuckrad-Barre u. a. 2007: 376.

205

Stuckrad-Barre sich auf Moritz von Uslar bezieht, der sich seinerseits wahrscheinlich an Rainald Goetz orientiert hat, zeichnet sich damit eine Traditionslinie ab, die freilich keiner stetigen und stringenten Weiterentwicklung entspricht. So erklärt sich Diederichsens Eindruck, der Diskurs trete auf der Stelle. Er blendet damit freilich die individuellen und zeitspezifischen Züge des Popdiskurses aus, die zu den ›genrehaften‹ hinzutreten.325 Zum politischen Problem wird diese ›Genrehaftigkeit‹ für Diederichsen, wenn in Faserland oder Generation Golf stereotype Feindbilder wie der ›Hippie‹326 zur Diskreditierung linker Überzeugungen und zur Legitimierung von Positionslosigkeit eingesetzt wird.327 Die autobiographischen Skizzen im Vorwort zu Sexbeat und der Einführung in 2000 Schallplatten zielen darauf ab, die Popeuphorie um 1980 als zeitgemäß und politisch ›richtig‹ zu rechtfertigen. Gleichzeitig macht Diederichsen klar, dass er aktuell über diese mittlerweile kontraproduktive und politisch ›falsche‹ Haltung hinaus ist. Er macht ›Urheberrechte‹ auf die Popversion der Coming-Of-AgeGeschichte geltend, die sich ihm zufolge zum ›massenkompatiblen Diskurs‹ entwickelt hat. Dabei stellt sich freilich das Problem, dass der gegenwärtige Verfall nach Meinung von Diederichsen bereits in der postmodernen Wende um 1980 angelegt war. Auf intrikate Weise verknüpft Diederichsen Selbstanklage und apologie: Gemessen an seiner aktuellen Einstellung gehört sein ehemaliger chauvinistischer ›Jungshumor‹ »unter Quarantäne«, »gerade weil er heute (auf natürlich viel niedrigerem Niveau, hehe) in der einschlägigen Presse noch viel verbreiteter ist«328. Mit dem gleichen Hinweis auf die frühere Singularität und Subtilität rechtfertigt Diederichsen auch den Pophedonismus, der gegenwärtig außer Kontrolle geraten sei. Gleichwohl gibt sich Diederichsen Mühe, nicht als puritanischer ›Moralapostel‹ und Kulturpessimist zu erscheinen (SB V). Er zeigt sich empfänglich für die »totale, wahrscheinlich glückliche Immanenz« (SB XXIX) von Techno, der er zugleich misstraut, da sie keine Verbindung zu gesellschaftspolitischen Projekten aufweise und damit »das Ende des Prinzips Gegenkultur« (SB XXIX) repräsentiere. Weniger konziliant beurteilt Diederichsen die antipluralistische Polemik in Sexbeat, die ihm zufolge Gemeinsamkeiten mit Argumentationsfiguren der –––––––– 325

326

327 328

206

Siehe dagegen Rainald Goetz’ begeisterte Rezeption von Tristesse Royale und Soloalbum (Goetz 2001: 27, 1999a: 544). Von einem postmodernistischen Standpunkt aus nimmt Goetz die ›strukturkonservative‹ Popliteratur nicht vor dem Hintergrund von Originalitätsnormen wahr. Vgl. dazu auch seine positive Einschätzung des historischen Eklektizismus von Oasis (Goetz 1999b: 197, dazu auch oben S. 147). Vgl. dagegen bereits Diederichsen 1982: 90: »Wenn im folgenden vom Hippie die Rede ist, so meint das […] einen mit allen Irrungen und falschen Ideen der 70er behafteten konstruierten Typus, einen Zustand des Scheiterns. Das typische Element jeder Hippie-Ideologie: der Sinn, die Message.« Vgl. Diederichsen 1999: 19f. Diederichsen 2000a: II.

Rechten aufweist. In der Tat hat die Untersuchung gezeigt, dass eine gewisse Nähe zur Medienkritik bei Botho Strauß besteht. Die Auseinandersetzung mit der ›neuen Rechten‹ mag bei Diederichsen den Sinn für ›reaktionäre‹ Tendenzen des eigenen Frühwerks geschärft haben. Insbesondere der totalitäre Gestus, mit dem in Sexbeat auf die nivellierende Wirkung der Massenmedien, den »Terror der Meinung« (SB 122), reagiert wird, erweist sich rückblickend als problematisch: ›Pluralismus‹ steht [in Sexbeat, C. R.] für einen alles entwertenden, verramschenden Trick der Herrschenden, die Äußerungen der Beherrschten unschädlich und wirkungslos zu machen. In der Entscheidung, für die allgemeine Verblendung ausgerechnet das Institut der Meinungsfreiheit verantwortlich zu machen, könnte man einerseits eine rechte Denkfigur erkennen – die vielen beliebigen Meinungen entwerten jede Wahrheit. Oder andererseits eine besonders raffinierte linke Dialektik – gerade da, wo scheinbar alle zu Wort kommen, kommen sie auf eine ganz besonders perfide Weise nicht zu Wort. Es war etwas von beidem in dieser Idee. (SB XXIV)

Daneben unterzieht Diederichsen auch die geschichtsphilosophische Überhöhung der Gegengegenkultur zur notwendigen Antithese des gegenkulturellen Fortschrittsoptimismus einer Revision: »Dieser Text leitete ein historisches Recht, ein im-Recht-sein daraus ab, daß meine Pubertät und frühe Adoleszenz so verlaufen war, wie sie verlaufen war, also angeblich im Einklang mit den Wünschen des Weltgeistes« (SB VII). Vor allem die narrativ-autobiographischen Passagen im Sexbeat-Vorwort verknüpfen bekenntnishafte Selbstbezichtigung, retrospektive Rechtfertigung und Zeitkritik. Die Entstehung von Sexbeat fällt in eine Phase persönlicher ›Verwahrlosung‹, die den unverantwortlichen Individualismus und Hedonismus der Gegenwart antizipiert. Auch hier gilt das Motto (dem Diederichsen gerade nicht folgen will): »Ich hab es durchgemacht, bevor ihr es durchgemacht habt!« (SB XII) Nach dem Ende von Sounds im Frühjahr 1983 brechen sämtliche berufliche wie weltanschauliche Sicherheiten weg. Diederichsen reist für längere Zeit nach New York, wo ihn zwar Geldsorgen plagen, er durch Kontakte zu einflussreichen Personen jedoch Zugang zu den angesagten Clubs und den »üblichen Stimulanzien« (SB IV) erhält. Als erste Prominente der »neuen Sex-Krankheit« (SB II) AIDS zum Opfer fallen, kündigt dies das Ende einer Ära sorgloser Promiskuität an. Diederichsen ist mehr oder weniger unmittelbar Zeuge der Geburtsstunde popkultureller Trends, die noch über den Jahrtausendwechsel hinaus anhalten werden. Er verkehrt in Diskotheken, »wo ein Jahr zuvor die mittlerweile rulende Madonna noch hinter der Theke arbeitete« (SB III). Er hört die »Megamixes«, »von sogenannten DJs produziert«, in der »›Paradise Garage‹, wo man nichts anderes machen kann, als zu einer Musik tanzen, die einmal House heißen wird […]. Nach einer Stunde tanzen schaue ich auf die Uhr, und es waren acht Stunden« (SB II). Auch den hedonistischen Exzess kostet Diederichsen aus. Zurück in Deutschland »folgen noch ein paar durchgeknallte Abschiedsparties« (SB IV), bevor er das Arbeitsangebot einer Werbeagentur annimmt und sich damit dem Typus des ›Yuppies‹ annähert, den er später in Sexbeat geißeln wird. Wohl platziert ist in 207

diesem Zusammenhang die Erwähnung von Bret Easton Ellis, Autor der YuppieSatire American Psycho (1991) und Vorbild der Popliteraten. Zwar ist 1984, als Diederichsen nach Düsseldorf übersiedelt, um besagten Job anzutreten, noch nichts von Ellis erschienen; doch ähnelt das Zeitklima der Atmosphäre seiner Romane. Diederichsens Zustand gleicht einem auf den Kopf gestellten Orwellschen Dystopia: 1984 macht seinem Namen alle Ehre, aber andersrum. Nicht als Totalitarismus, sondern als in Horror kippender Hedonismus. Düsseldorf ist dem New York des letzten Jahres nicht so unähnlich. Langsam senkt sich der Horizont einer frühen BretEaston-Ellis-Welt über dem Rhein, man gibt der Schwerkraft der eigenen Asozialität nach. (SB IV)

Unverantwortlichkeit und Gesinnungslosigkeit führen dazu, dass die Arbeit der zurückliegenden Jahre und das Scheitern »der postmodernen Linken« (SB X) nicht aufgearbeitet werden. Diederichsen lässt mehrere Abgabetermine für Sexbeat verstreichen, »so wie ich damals wortlos aus Wohnungen in Düsseldorf zu verschwinden pflegte, ohne zu kündigen oder aufzuräumen« (SB V). Die Verlockung, sich »der (ökonomischen) Schwerkraft der Verhältnisse« (SB VIII) hinzugeben, wird emblematisch in einer Ein-Satz-Anekdote verdichtet: »Als ich einmal nachts um fünf im Schanzenviertel Gerd Fröbe dabei erwische, wie er mich aus einer vorbeifahrenden Limousine heraus seltsam neugierig betrachtet, kriege ich es mit der Angst.« (SB IV) Als Darsteller des Millionärs, Superschurken und Gegenspielers James Bonds ›Goldfinger‹, der seine Opfer mit Gold überzieht und so ums Leben bringt, steht Fröbe hier für die Versuchung durchs Kapital.329 Aufgrund seiner Rolle als pädophiler Mörder in der Dürrenmatt-Verfilmung Es geschah am hellichten Tage (1958), der sich das Vertrauen kleiner Mädchen mit Süßigkeiten erschleicht, evoziert die Fröbe-Episode darüber hinaus die Verführbarkeit des Exredakteurs Diederichsen, der nun erkennt, dass ein »nach allen Seiten offenes und prekäres Leben« (SB VII) in Wirklichkeit »fies und finster, der Ursprung aller Käuflichkeit« (SB V) ist. Beinahe also vollzieht Diederichsen jene Entkopplung von hedonistischem PopEudämonismus und linkem Ethos, die er den Popliteraten vorwirft. Doch mit der ersten Revision des Pop-Programms in Sexbeat und einem Redaktionsposten bei Spex bekommt er »dann bald wieder eine Art Boden unter den Füßen« (SB VI). Nun zeichnet sich bereits die in den 90er Jahren voll durchschlagende Repolitisierung ab.

–––––––– 329

208

James Bond wird von Diederichsen in einer noch in New York verfassten Rezension ›dialektisch‹ als Vorkämpfer des Sozialismus gedeutet (SB III).

6.9 Literarisches ›Slumming‹: Davos Zum Abschluss sei noch einmal ein Beispiel für die literarische Umsetzung der »Sprache des Pop« angeführt. Moritz von Uslars Erzählung Davos eröffnet Krachts Anthologie Mesopotamia. Erzählt wird ein kurioses Liebeserlebnis eines jungen Manns, der mit einem befreundeten Paar vier Tage Skiurlaub in Davos verbringt. Thematischer Kern der Geschichte ist das Verhältnis von Konventionalität und Außergewöhnlichkeit, das anhand des Motivs ›Urlaub‹330 behandelt wird. Die rudimentäre Handlung endet mit der knappen Schilderung eines Flirts, der wahrscheinlich zum transitorischen Ausnahmezustand eines One-Night-Stands führt. Diese Begegnung wird am Anfang der Geschichte vorbereitet, als der Erzähler zusammen mit seinem älteren Freund, dessen Partnerin bereits in Davos wartet, mit dem Auto in Richtung Schweiz fährt. Er träumt davon, beim Aprés-Ski einem »Ski-Haserl« (D 23) zu begegnen, das »fast zu gesund« aussieht, »man hätte auch Angst haben können vor ihrer strahlenden Natur« (D 20). Allerdings bestehen Zweifel darüber, ob eine solche Ferienbekanntschaft den wirklichen Wünschen des Protagonisten entspricht, da er sich mit einem bürgerlichen Lebensplan beschäftigt, der eine feste und dauerhafte Bindung beinhaltet. Das wirft die Frage auf, ob der mehrfach geäußerte Wunsch nach Urlaub und Erholung auf ein kurzweiliges erotisches Abenteuer zielt, das nach einer langen Arbeitsphase Abwechslung bringen soll, oder auf »Erholung« vom Junggesellendasein durch Eintritt in den Ehestand. Offenbar hadert der Erzähler mit seinem Singledasein: [I]ch muß dummes Zeug denken. Daß Frauen glücklich machen schwer geht. Daß meine Zeit abläuft, die, in denen [!] Van Morrison, Johnny Cash und Elton John, meine Popstars, Freundinnen sein können. Wir werden nicht jünger, alle […] miteinander, nur älter immerzu. Und mit dem Alter, das spürt man, verschwindet jedes Gefühl. Ich brauchte Urlaub, dringend, wußte aber nicht wie. (D 27)

Der vertrauliche Umgang des befreundeten Paars »Tofix« und »Kafix« führt dem Helden die Defizite seiner Lebensweise vor Augen (»Fehlt Ihnen sonst noch was? […] So ziemlich alles, mein Herr!«, D 27), doch zugleich schreckt er vor der Enge und Routine eines gemeinsamen Alltags zurück. Die Aussicht auf ein »ewige[s] Leben« mit »Kindern, Windhunden, großem und dem kleineren Wagen, Silberaschenbechern und einem rotweiß geblümten Teegeschirr« ist verlockend, aber auch beängstigend, weil es Verzicht bedeutet, wie dem Erzähler plötzlich aufgeht (D 27): »Es war dies der Moment, wo mir ein Stück des Teppichs […] so heftig irgendwohin stach – von mir aus in die Seele –, daß mir die Tränen kamen. […] Ich konnte viel darin sehen, und was schlimmer war, auch das, was in Zukunft fehlen würde« (D 28). Grund für diese Befangenheit ist nicht zuletzt die Banalität der Beziehung von Kafix und Tofix, denn die meiste Zeit verbringt das Paar –––––––– 330

Vgl. dazu oben S. 114.

209

liegend vor dem Fernseher. Er achtet kaum noch auf sein Äußeres, sie ist etwas prüde und zeigt Anzeichen eines Sauberkeitswahns. Dieser Durchschnittsbeziehung fehlt es an Intensität, doch auch der gehobene Lebensstil des Erzählers und seiner Bekannten ist unspektakulär im Vergleich zu dem der Snowboarder, um die das Gespräch der beiden Männer während der Autofahrt kreist. Für den Erzähler ist Snowboardfahren mit Jugendlichkeit und Risikobereitschaft konnotiert und zahlt sich unmittelbar im Erfolg bei Frauen aus: »Ihnen, den Boardern, gehört der Pop, die Werbung, Miller’s-Genuine-Draft-Bier, alle weichen Drogen und die harten. Sie haben die Mädchen.« (D 19) Als Skifahrer repräsentieren der Held und sein Freund dagegen nur das Mittelmaß. Zwar können sie sich teure und elegante Kleidung leisten, um sich damit von den Snowboardern mit ihren billigen »H&M-Anoraks« (D 19) abzusetzen, doch geht die Rechnung nicht auf, weil sich die finanzielle Überlegenheit nicht unmittelbar in Attraktivität umsetzen lässt. »Man müßte eben eigentlich auch Snowboarder sein.« (D 19) Außerdem kauft die Clique des Erzählers ihre Kleidung bei »Fashion-Stage« »zum halben Preis« (D 16) und reduziert damit den Distinktionswert der Waren. Damit sind die Möglichkeiten einer Abgrenzung ›von oben nach unten‹ eingeschränkt. Der Erzähler geht den umgekehrten Weg einer demonstrativen Unterschreitung von Geschmacksgrenzen, verlegt sich aufs ›Slumming‹ und gibt dem Billigen, Oberflächlichen und Ungesunden den Vorzug: Kaugummi – gibt’s immerzu. Zum Essen einiges, Bifi-Sandwich, die Richtung, auch ein angebissener Riegel, der sich ›Kinder-Country‹ nennt. Da drückt sich jetzt vorne der weiße Schaum raus. Ein guter Riegel, der ist später dran. Die Bunte, Gala, Süddeutsche vom Wochenende auf dem Rücksitz. – Wer liest das? Warum noch graues Papier, wenn es auch bunt bedrucktes gibt? (D 16)

Der Protagonist kultiviert einen schlechten Geschmack und deckt sich mit Boulevardblättern ein, wobei die seriöse SZ für den nötigen Stilbruch sorgt. Die Kluft zwischen gehobenem Journalismus und Klatschpresse entspricht den Grenzgängen Uslars in seinen Stilkritiken und Interviews mit Prominenten für das Magazin der SZ.331 Die Erwähnung des »grauen Papiers« stellt den literarischen Status des Textes heraus, der damit in ein Spannungsverhältnis zum ›bunten Papier‹ der Populärkultur gesetzt wird. Aufgeworfen wird die Frage, ob es das »alte Medium«332 Literatur im ›Zeitalter des Journalismus‹333 mit der Konkurrenz aufnehmen kann. Vom Willen zum Stilbruch zeugt auch die Musikauswahl während der Autofahrt nach Davos. Zum einen treffen Pop und Klassik – der Erzähler strapaziert die Nerven des Autofahrers mit Wagners Tristan und Isolde –, zum andern ›Höhenkamm‹-Pop wie Van Morrison und ›Massenware‹ wie Cher und Bon Jovi ––––––––

331 332 333

210

Uslar 2004. Diederichsen 2000b. Vgl. oben S. 204. Strauß 2004a: 44. Siehe oben S. 83.

aufeinander. Im Gegensatz zur anspruchsvollen Popmusikkritik schätzt der Erzähler Chers Welthit »Do you believe in love [!] after love« (D 18) für die profunde Weisheit des Songtextes, wundert sich darüber, »[w]ie okay« (D 21) Bon Jovi sind, deren Songs »im Konsens aller zu den ekligsten überhaupt« (D 21) zählen, und nimmt sich vor, nach dem Urlaub alle Platten der Gruppe zu kaufen. Die Aufwertung des Trivialen korrespondiert mit der Autofahrt, die nicht nur »weiter, immer weiter weg« vom Heimatort München führt, sondern auch vom guten Geschmack: »Es muss alles weiter, breiter, einfacher werden, heller bitte auch – das wäre mein Kurzurlaub!« (D 17) Als Symbol des Nicht-Alltäglichen steht ›Urlaub‹ hier für die Lizenz, die Regeln des guten Geschmacks zeitweise außer Kraft zu setzen. Hier kann an Andy Warhols Ausflug nach Los Angeles in den frühen 60er Jahren erinnert werden.334 Warhol war überwältigt von der Allgegenwärtigkeit überdimensionierter und aufdringlich-greller Werbetafeln an den Schnellstraßen der USA. Die eigene Arbeit hatte ihn dafür empfänglich gemacht, dass derartige Werbung gleichsam ihr eigenes Dementi enthält. Aufgrund maßloser stilistischer Überhöhung transzendiert sie das ihr zugrunde liegende kommerzielle Kalkül und nimmt eine erhabene ästhetische Qualität an. Mit der gleichen Sensibilität blickt der Erzähler in Davos aus dem Autofenster: »So schön war es. […] Da tauchte riesenhaft, neongelb, orange und silbern ein Raststättengebilde auf mit der Werbetafel ›Steak 300 Gramm plus Pommes plus Salat 14 Mark 90« (D 17). An dieser Stelle eine Brücke zur Pop-Art zu schlagen, leuchtet auch deswegen ein, weil dem Lieblingsmusiker des Erzählers, Elton John, mit Warhol eine anti-elitäre Haltung verbindet. Elton John konnte – auch aus philanthropischen Gründen, wie der Erzähler meint – nicht anders, als popularistisch zu sein: »Er war nie Underground. Dazu war er einfach zu häßlich. Dazu ist sein Herz zu groß. Er schrieb die Liebeslieder für die Dicken, Doofen, Einäugigen, die Arbeitslosen und Moonwashed-Jeans.« (D 17f.) Die Urlaubsreise nach Davos steht im Zeichen des schlechten Geschmacks, dem die Männer ihren Umgangston anpassen: »›Du Tofix, was issen des für an Cellophanpapier, das mir andauernd da am Schuh vorn klebt?‹ […] ›Wowas? Ah, des! Des is an Cellophanpapier. Verstehst?‹ […] ›An Cellophanpapier oder was?‹ / ›Ja, logisch‹« (D 16). Solche Nonsens-Dialoge dienen nicht der Informationsvermittlung, sondern dem Zeitvertreib. Aus den Zwängen pragmatischer Kommunikation entlassen, funktionieren sie als ästhetisches Spiel. Wie manche Kinder auf längeren Autofahrten unterhalten sich die Freunde in einem Privatidiom, dessen beschränktes Repertoire endlos variierbar ist. Da jeder Name wie bei Asterix auf ›ix‹ endet, wird aus Tristans Knappe Kurwenal »[d]er Kurwix« (D 19). Analog zum musikalischen ›Slumming‹ weist auch das stark dialektal eingefärbte »Sprücheklopfen[]« (D 29) Kennzeichen einer Unterschreitung sozialer Grenzen

––––––––

334

Vgl. oben S. 27.

211

auf. Zugleich schweißt der Code die beiden Männer aneinander und separiert sie vom Rest der Welt: »Da brauchte jetzt niemand kommen« (D 16). In Davos angekommen, muss jedoch Tofix’ Freundin Karin, »der Kafix«, miteinbezogen werden, allerdings ist eher der Erzähler das fünfte Rad am Wagen. Karin wacht penibel über die Einhaltung der Hausordnung und weiß mit den maßlosen Bekräftigungen des Helden nichts anzufangen: »Du, wollen wir uns setzen?« Gern! »Fernsehen?« Aber supergern! »Willst du eigentlich einen Joghurt?« So einen wunderbaren Apfel-Zimt-Sahnejoghurt von Danone? Zum Fernsehen? Supersupergern! Der Kafix, bißchen auf Abstand, weil so ein Joghurt so besonders ja nun auch wieder nicht ist: »Du, es ist hier eigentlich alles ganz supereasy. Nur ab und an muß einer Staubsaugen.« Aber staubsaugen macht doch Spaß, macht keinen Spaß? »Du ehrlich.« Ganz überlegenes, supersexy KafixGrinsen. »Ich kann mir Schöneres vorstellen.« (D 24)

Ohne nennenswerte Ereignisse ziehen sich die Tage hin, auch die eingangs erwähnte Krise des Erzählers ändert daran nichts. Gegen Ende wird vermerkt, dass die beiden Männer ihre »Kunst, das Sprücheklopfen, perfektioniert« (D 29) haben. Dann allerdings geschieht doch noch etwas: An Silvester, es war gegen halb vier früh, lernte ich im Davoser Nachtclub »Chäshütta« das Pistenhaserl Conny kennen. Sie blies durch eine Trillerpfeife, und als ich Hallo sagen wollte, trötete sie einfach weiter. / Sie, die Conny genannte, fragte: »Schämst’ die nütt?« Natürlich tat ich das! Es lief eine Technolied, dessen Refrain aus der Wortfolge »And up! And down! And up! And down!« bestand, und wenn es »And up!« hieß und sie mitsang, was sie aus voller Brust tat, dann deutete sie mit dem Daumen nach unten. So eine. Sie sah, im Ernst, kein bißchen gut aus. Aber das störte nicht. (D 29)

Das »Pistenhaserl Conny« spricht wie erhofft Schweizerdeutsch, ist jedoch keine Ausnahmeschönheit. Sie sieht im Gegenteil »kein bißchen gut« aus, ist geschmacklos und vital bis zur Grobschlächtigkeit, womit sie als offizielle Partnerin ausscheidet, denn dass ›so eine‹ nicht wie »der Kafix« »was zum Heiraten« (D 28) ist, versteht sich von selbst. Für seine Avancen gegenüber Conny müsste der Erzähler sich eher ›schämen‹. Aber eben damit passt sie in die Reihe der vorher thematisierten guilty pleasures. Der Situationsrahmen, die AufreißerAtmosphäre des Nachtclubs »Chäshutta«, in dem geistloser, von Trillerpfeifen unterstützter Techno läuft, erlaubt es, Ansprüche an Geschmackssicherheit und gehobene soziale Lage auszusetzen, weshalb Abweichungen vom halb sehnsüchtig, halb ängstlich projizierten Ideal einer Traumfrau nicht ›stören‹.335 So ist ein Teil des Problems, die Furcht vor der ›Dauerlösung‹, wenigstens für den Augenblick gelöst. Der Beginn des ›ewigen Lebens‹ im großbürgerlichen Ambiente wird noch einmal hinausgeschoben, es bleibt beim Kurzurlaub, einem sexuellen Zwischenspiel, das der Refrain des Technostücks (»And up! And ––––––––

335

212

Von »so rechtsfreie[n] Räumen‹ (F 23) würde der Erzähler von Faserland wohl sprechen.

down!«) andeutet. Damit bezieht sich Uslar auf den Anfang der Erzählung, wo die Autofahrt beschrieben wird: »Das bisschen Auf. Und Ab. Mal rechts und links. Und weiter Sitzenbleiben dabei. Auto fahren eben.« (D 16) Der mehr oder weniger akzeptable Normalzustand des Protagonisten wird also durch Abenteuer unterbrochen, die nichts an seinem Singlestatus ändern und nicht in eine dauerhafte Partnerschaft münden. Das unterstreichen bereits die ersten Sätze der Erzählung, die das erotische Sujet exponieren und zugleich Bilanz ziehen: »Wie so eins zum anderen kommt und daraus dann die Sprüche entstehen. […] Es entsteht nie: der Spruch. […] Um Himmels willen! Das ist ja gerade das Erholsame. War dann am Ende ein super Kurzurlaub, der in Davos.« (D 15) Anders als Kracht oder das »popkulturelle Quintett« vermeidet Uslar ›schwere Zeichen‹ wie Krieg, Terror oder Selbstauslöschung. Die politische Dimension des Popdiskurses blendet er weitgehend aus. Wie im 2006 publizierten Romandebüt steht die humoristisch-melancholische Darstellung einer verlängerten Adoleszenzphase im Mittelpunkt.336 Doch im Unterschied zu thematisch verwandten Texten von Illies und Stuckrad-Barre spielen bei Uslar literarische Referenzen eine wichtige Rolle. Vermittelt über das Motiv ›Kurschatten‹ bilden klassische Texte wie Thomas Manns Tristan und Der Zauberberg sowie Anton ýechovs Die Dame mit dem Hündchen den intertextuellen Anspielungshorizont der Erzählung. Uslar räumt der ›Liebesgeschichte‹ (noch) weniger Platz ein, als ihn beispielsweise die Darstellung von Hans Castorps Verhältnis zu Madame Chauchat im Zauberberg in Anspruch nimmt. Zwar schlägt das banale und leichtsinnige Abenteuer nicht wie bei ýechov in leidenschaftliche Liebe um, doch Uslar wählt ein offenes Ende, indem er den Rest des letzten Urlaubsabends ausspart, so wie ýechov keine Antwort darauf gibt, ob die Beziehung seiner Protagonisten über eine Affäre hinausgehen wird. Andererseits ist kaum zu vermuten, dass sich in Davos das Erlebnis in der »Chäshütta« auch nur zur Affäre ausweitet. Uslar radikalisiert die Handlungsarmut der Prätexte und handelt das Zusammentreffen mit Conny in wenigen Zeilen kurz vor dem Ende der Erzählung ab. Anders als Thomas Mann überhöht er ›ungeregelte‹ Sexualität nicht negativ durch eine thematische Verknüpfung mit Krankheit, er spielt jedoch auf die morbide Atmosphäre im Zauberberg an. Kurz nach der Begegnung mit Conny heißt es: »Ich dachte an die Schwindsüchtigen, die in Davos seit 1868 kuriert werden, und daß es blöd sein mußte, echt krank zu sein.« (D 29) Die Bagatellisierung schwerer Krankheit entspricht der Banalität des Geschehens und reflektiert die Normalisierung irregulärer Erotik im Rahmen einer Party- und Eventkultur. Der symbolisch camouflierte Geschlechtsakt zwischen Hans Castorp und Madame Chauchat findet bei Mann im Rahmen einer Maifeier statt; über die Anklänge an die Walpurgisnacht ist damit ironisch gebrochen die ›dämonische‹ Dimension außerehelicher Sexualität präsent. Mit verbundenen Augen malen die Gäste des ––––––––

336

Uslar 2006.

213

Sanatoriums ein Schwein, Symbol des Sexuell-Triebhaften. Auch im Davoser Nachtclub sind die Alltagsgesetze außer Kraft gesetzt. Kurzzeitig befreit vom Zwang des bürgerlichen Lebensentwurfs, kann die Hauptfigur unter Niveau agieren. Insofern die Ausnahme die Regel bestätigt, konfirmiert Davos damit ›normale‹, auf soziale und kulturelle Homogenität zielende Regeln der Partnersuche. Bei Uslar ersetzt bad taste den Jahrhundertwende-Ästhetizismus Thomas Manns. Ähnlich wie Detlev Spinell in Tristan schwärmt der Erzähler in Davos von ›sagenhaft schönen‹ (D 23) Dingen. Wie sich die musischen, aber problematischen Naturen bei Mann zu den lebenstüchtigen hingezogen fühlen, träumt der Erzähler in Davos von einer Frau, die »fast zu gesund« (D 20) aussieht. In ihrer Gewöhnlichkeit gleicht sie dem »Traumpaar« (D 24) Tofix und Kafix. Die Schwärmerei des Erzählers richtet sich also zugleich auf ein Idealbild und eine suboptimale Lösung. Auf ähnliche Weise konterkariert Davos auch die Verknüpfung von ›wahrer Liebe‹ mit Hochkultur, denn die gleiche sentimentale Ergriffenheit, die der Erzähler mit Wagners Tristan und Isolde »in der Aufnahme Suthaus/Flagstad/Wilhelm Furtwängler von 1952« (D 18) verbindet, stellt sich auch bei Elton Johns Don’t shoot me, I’m only the piano player ein. Des Weiteren modifiziert Uslar bekannte literarische Schemata, wenn der Erzähler während der »Davos-Kur« (D 23) die Freizeitgewohnheiten seiner verheirateten Bekannten übernimmt, an Gesellschaftsspielen teilnimmt und sich Gedanken über das richtige Menu für den Silvesterabend macht. Im Gegensatz zum Zauberberg signalisiert die Entfernung vom Flachland keine Distanz zur bürgerlichen Lebensweise, die Tage in Davos erscheinen vielmehr als »Slumming bei der Mittelschicht«337. Uslar stellt das übliche epische Muster der Denormalisierung auf den Kopf und nutzt das literarische Material ähnlich wie Elton John die Popgeschichte: als »Müllkippe […], auf der man, spielend, schöne Dinge entdecken kann« (D 18). Die Distanz zu den hochliterarischen Prätexten ist am leichtesten an Uslars parataktischem und elliptischem, stark an die Umgangssprache angelehntem Stil festzumachen, der für das nötige Gegengewicht zum verbrauchten Sujet sorgt. Mit Formulierungen wie »pistenmausimäßig supersüß« (D 22) setzt Uslar das auch thematisch zentrale Prinzip der Unterbietung von Geschmacksgrenzen formal um, entautomatisiert die verwendeten Muster und entzieht sich dem »Peinlichkeitsstigma«338 der Hochkultur. Aufgrund der Nähe zur Alltagssprache könnte man in Davos die Antwort auf die poetologische Frage sehen, die Rainald Goetz in der Frankfurter Poetikvorlesung aufwirft: »Wie kommt man raus aus der Sprache, zu den normalen Sachen, zu den echten Worten, zu neuen Erfahrungen, zum Nichtsprachlichen und superalltäglich Alltagssprachlichen, zur Welt eben«339? –––––––– 337 338 339

214

Diederichsen 2005f. Neumeister 1996. Goetz 1999b: 346.

7. Fazit

Als Folge soziokultureller Nivellierung und Liberalisierung zeichnet sich seit den ausgehenden 1950er Jahren ein Wandel des dominanten Vergesellschaftungsmodus ab. ›Normalität‹ ist nicht mehr primär das Ergebnis von Repressionsandrohungen, sondern Folge einer teilautonomen Selbststeuerung der Individuen, die ihre Lebensweise flexibel dem gesellschaftlichen ›Durchschnitt‹ anpassen. Normalitätszonen werden nicht mehr möglichst eng definiert, sondern als breite, expandierende Toleranzzonen. Antinormalistische gesellschaftliche Strömungen wie die Studentenbewegung und die Gegenkultur der 60er/70er Jahre tragen durch ihre Vorstöße ins bislang ›Anormale‹ zur Dynamisierung von Normalität bei, indem ihre innovativen Verhaltensmuster von Seiten der Mehrheitskultur adaptiert und dabei freilich auch entschärft werden. Die Gegenkultur thematisiert flexible Normalisierung als einen ›Trick des Systems‹, das sich mittels ›repressiver Toleranz‹ gegen Kritik und Abweichung immunisiert. Gleichwohl nimmt sie ihren eigenen Beitrag zur Abweichungsverstärkung und -dämpfung zur Kenntnis. Selbstbeschreibungen, die das Verhältnis von Gegen- und Mehrheitskultur als statische Opposition modellieren, verlieren aufgrund der fortschreitenden Popularisierung des jugendkulturellen Lebensstils an Plausibilität. Gleiches gilt für die Vorstellung, die Gesellschaft von einem Außenstandpunkt kritisieren und damit moralische Superiorität beanspruchen zu können. Zweifel können jedoch bis in die 70er Jahre hinein durch Mitläuferkritik, Klagen über die Elastizität des ›Systems‹ sowie Binnendifferenzierungen in ›wahre‹ und ›falsche‹ Gegenkultur abgefangen werden. Popjournalisten der Musikzeitschrift Sounds schließen um 1980 an diese Flexibilisierungskritik an und propagieren eine »Sprache des Pop« (Diedrich Diederichsen), die zur Abgrenzung von einer homogenisierten Gegenkultur dient. Da eine einfache Negation der Gesellschaft nicht mehr ausreicht, um Differenz herzustellen, weichen die Protagonisten des Popdiskurses auf potenzierte Abweichungen und eine ›Mimikry ans Normale‹ aus, die teils schwer von bloßem Opportunismus zu unterscheiden ist. Um als Abweichung erkennbar zu sein, muss diese Potenzierung von Kritik im Modus transparenter Verstellung, also ironisch, vollzogen werden. Inspiriert von der Punkbewegung, invertiert die ›Gegengegenkultur‹ weltanschauliche Oppositionen wie links/rechts, kritisch/affirmativ oder Mehrheits-/Gegenkultur. Weil das ideologische Klima in der Endphase des Kalten Krieges noch einigermaßen stabil ist, geht die Rechnung auf: Karnevalistische Umkehrungen und simulierte Normalität können nach dem Muster rhetorischer Gegenteilsironie meist problemlos als gesellschaftskritisch intendiert erkannt 215

werden. Ziel ist es, dogmatisch fixierten oder aber korrumpierten ›Alt-68ern‹ ihre Beschränktheit bzw. ihren naiven politischen Optimismus vor Augen zu führen. Wer die Popironie nicht versteht und abwehrend reagiert, disqualifiziert sich. Die Anhänger einer neuen, reformierten Gegenkultur versprechen sich davon die Wiederherstellung einer klaren Grenze zur Mehrheitskultur. Diedrich Diederichsen entwirft darüber hinaus ein theoretisch weiter ausgreifendes Ironieprogramm, das auf eine umfassende Rhetorisierung und Ästhetisierung jugendkultureller Kommunikation und eine ›Entpflichtung‹ von direkter Gesellschaftskritik abzielt. Der anvisierte zitathaft-eklektizistische Stil setzt Inhalte »in mehrere Anführungszeichen« (Diederichsen) und stellt Jugendkultur unter ›Kunstvorbehalt‹. Die Funktion dieser Lizenz zur ›Inhaltslosigkeit‹ ist es, Enttäuschungsrisiken zu minimieren, die aus den überzogenen politischen und ästhetischen Ansprüchen der Vorgängergeneration resultieren. Im Mittelpunkt steht dabei ein Verzicht auf öffentliches, stark emotional besetztes Engagement. Auf der Basis eines generalisierten ›Als-Ob‹ sollen untragbar scheinende Maximalforderungen und emphatische Differenzansprüche wieder formulierbar werden. Diese Entpragmatisierung der Kommunikation ermöglicht es Autoren wie Goetz, Diederichsen oder Meinecke, sich durch spektakuläre und polemische Selbstinszenierungen im Kulturbetrieb zu etablieren und arrivierte Kollegen ›links zu überholen‹ oder durch ›reaktionäre‹ Statements vor den Kopf zu stoßen. Bezugsproblem einer im engeren Sinn ästhetischen Pop-Programmatik ist der auf Dauer unerfüllbare popkulturelle Innovations- und Originalitätszwang. Dieser führt zur fortschreitenden Automatisierung von Abweichungen und schlägt sich in einer stereotypen Kritik an den verbrauchten Spontaneitäts- und Authentizitätsgesten einer traditionsverhafteten, formelhaft expressiven Rockmusik nieder. Die journalistische New Wave antwortet mit Sekundärabweichungen im Modus des ›Als-ob‹. Neodandyistische Distinktionspraktiken einer demonstrativen Unterbietung des popkulturellen ›Normalgeschmacks‹ wie ›Trash‹ und ›Camp‹ sollen den Vorwurf mangelnder Originalität durch ausgestellte Theatralität, Geschmacklosigkeit und Historizität vorwegnehmend entkräften. Diederichsen beschreibt diese Umstellung von Protest und Authentizität auf ›Subversion‹ und Ironie als Übergang zu einer Beobachtung zweiter Ordnung (»Second Order Hipness«). Als Wortführer einer radikalhedonistischen, in Grenzen prokapitalistischen und egalitaristischen Strömung innerhalb des Alternativmilieus grenzt er sich sowohl von reformistischen (Neue Soziale Bewegungen) als auch von dogmatisch-radikalen Nachfolgern der Studentenbewegung ab. Gegenkulturelle Leitwerte wie Intensität, Leidenschaftlichkeit und Dissidenz sollen dabei nicht verabschiedet, sondern auf höherer Ebene restituiert werden. Die Inversion von Codes wie intensiv/langweilig, authentisch/unauthentisch und anormal/normal lässt diese im Kern unangetastet. Das Pop-Programm der 80er Jahre zielt auf eine Authentizität zweiter Stufe. Diederichsens Ironie- und Popkritik seit 1982/83 ist im Zusammenhang mit einer ›neoliberalen Wende‹ zu sehen: Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Flexibilisierungsschub in den 80er und 90er Jahren rückt den Wandel von 216

repressiven, auf Außenlenkung basierenden hin zu permissiven Vergesellschaftungs- und Subjektivierungsformen ins Blickfeld. Diederichsen und andere deuten diese Entwicklung als Ergebnis einer Umstrukturierung der Erwerbsarbeit (›Postfordismus‹), die mit einer Enttabuisierung hedonistischindividualistischer Einstellungen einhergeht. Damit erübrigen sich »Lockerungserfolge« (Diederichsen) im Kampf gegen eine ›asketische‹ Moral. Die mit Pop assoziierte ›Machbarkeitsbehauptung‹ (Gerhard Schulze), der Glaube an unbegrenzte Selbstmanipulation und Selbstschöpfung des Individuums, erscheint Diederichsen und anderen nun als Bestandteil ›kontrollgesellschaftlicher‹ Zwangsverhältnisse, die auf eine Optimierung von Ausbeutung durch individuelle Selbststeuerung, Mobilität, Bereitschaft zu lebenslangem Lernen usw. ausgerichtet sind. Für Diederichsen büßt die existentielle Ironie des ›Andersseinkönnens‹ ihr emanzipatorisches Potential ein und verwandelt sich in ein fremdbestimmtes ›Andersseinmüssen‹. In der Folge häufen sich im Popkontext narrative Darstellungen von ›Popkrisen‹, welche aus der Kollision emphatischer Selbstverwirklichungsmodelle mit der Realität resultieren. Die zunehmende Kritik am Inversionsmodell der Popironie stützt sich auf die politische Entdifferenzierung im Zuge der Wiedervereinigung. Oppositionen wie links/rechts verlieren ihre Eindeutigkeit, wodurch provokative Grenzüberschreitungen ins moralische Zwielicht geraten. Diederichsen zufolge kann (simulierte) Affirmation nicht mehr ohne weiteres als ›progressiv‹ gewertet werden, der Unterschied zwischen gegengegenkultureller und konservativer Metakritik an der Linken verschwimmt. Diederichsen kritisiert die Adaption ehemals aufklärerischer pluralismuskritischer Entlarvungstaktiken und antiliberaler Tabubrüche auf konservativer Seite. Seiner Meinung nach dienen karikierende Darstellungen des Alternativmilieus nun zur generellen Diskreditierung linker Gesellschaftskritik. Er stellt die Pop-Leitdifferenz Flexibilität bzw. Ironie/Authentizität als ›falsche Alternative‹ in Frage, da weder eine überkommene essentialistische und moralistische Haltung noch die den Verhältnissen in die Hände spielende Relativierungsironie tragfähige Antworten auf die gesellschaftliche Entwicklung zu bieten scheinen. Diederichsen rehabilitiert Traditionsbegriffe wie Engagement, Protest und Ideologiekritik. Er distanziert sich von einer fundamentalskeptischen Ironie, die nicht die Begrenztheit und Vorläufigkeit gesellschaftskritischer ›Vokabulare‹ (Richard Rorty) aufzeigt, um diese zu optimieren, sondern Standpunktlosigkeit legitimiert. Seiner Auffassung nach ist die grundsätzlich solidarische Kritik am Fortschrittsoptimismus der 68er zur fatalistischen Verteidigung des Status quo verkommen. Gleiches gilt für eine popularisierte Theatermetaphorik, im Rahmen derer die öffentliche Meinung als von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgekoppelte Inszenierung wahrgenommen wird. Diese Sichtweise untergräbt Diederichsen zufolge den Glauben an die Wirksamkeit öffentlichen Engagements. In den rechtsradikalen Tendenzen im wiedervereinigten Deutschland und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sieht er das Fanal einer Rückkehr zu den ›politischen Sachen selbst‹. 217

Retrospektiv entschärft Diederichsen die ironischen Grenzüberschreitungen der 80er Jahre, indem er die Bipolarität des damaligen ideologischen Kontextes und die aufklärerische Funktion der Popironie hervorhebt. Er unterstreicht die Gemeinsamkeiten von Gegen- und Gegengegenkultur und grenzt beide von einem unpolitischen und tendenziell reaktionären zeitgenössischen Pop ab. Die (Jugend-) Kulturgeschichte seit 1968 modelliert er als iterative Potenzierung, die von der gegenkulturellen Negation der Gesellschaft über die gegengegenkulturelle Infragestellung dieser Negation zur aktuellen Affirmationshaltung führt. Das Patt der Großmächte im Kalten Krieg garantierte Diederichsen zufolge die Möglichkeit eines ›Dritten Weg‹ jenseits von Kapitalismus und Sozialismus. Der von ihm symbolisch an den Regierungswechsel im Jahr 1982 und den Mauerfall geknüpfte ›Rechtsrutsch‹ zeichnet sich jedoch bereits seit der ›Tendenzwende‹ in den 70er Jahren ab, die mit einer Rückbesinnung auf Karriere, Wohlstand und soziale Sicherheit einherging. Im Gegensatz zu Diederichsen interpretiert Rainald Goetz die politische Desaggregierung in der Nachwendezeit und den Aufstieg einer ›Spaß- und Eventkultur‹ als Einlösung des an Pop gebundenen Versprechens einer Aufweichung verhärteter ideologischer Fronten. Diederichsens Forderung nach einem klaren Bekenntnis zu egalitaristischen und linksemanzipatorischen Werten weist Goetz als doktrinär zurück. Auf die Entgrenzung des Kapitalismus nach 1989/90 antworten Diederichsen, einige der Popliteraten und kulturkonservative Autoren wie Botho Strauß mit einer metaphorischen Beschreibung der pluralistischen zeitgenössischen Gesellschaft als ›totalitäres‹ System. Hinzu kommt eine nostalgische Auratisierung der Semantik des Fanatismus und der Euphorie. Diederichsen konzentriert sich dabei vor allem auf das gesellschaftsutopische Potential musikalisch vermittelter Ekstase- und Gemeinschaftserlebnisse, auf deren Basis sich seiner Meinung nach neue gegenkulturelle Bewegungen konstituieren könnten. In kulturprogrammatischer Hinsicht wendet sich Diederichsen gegen trivialisierte potenzierte Abweichungen. Zeitgenössische Erscheinungsformen des ›guten schlechten Geschmacks‹ (ironisches Schlagerrevival, Kult um Semi-Prominenz) verfehlen ihm zufolge das Ideal einer ›Authentizität zweiter Stufe‹. Zugleich verteidigt Diederichsen die popästhetischen Prinzipien der Selbstreferentialität und demonstrativen Intertextualität gegen Apologeten einer metaphysisch verankerten Kunst wie Strauß, die eine originäre Formsprache zur Bedingung gelungenen ästhetischen Ausdrucks erklären. In dieser vordergründig als Konflikt zwischen Postmodernisten und Traditionalisten erscheinenden Auseinandersetzung tendieren beide Seiten dazu, die Mediatisierung von Kunst und Leben zu verallgemeinern. Diese Universalisierung des ›Sekundären‹ korreliert mit einer wachsenden Faszination am weder sprachlich noch technisch vermittelten ›Außen des Diskurses‹, das häufig mit ekstatischen Zuständen, Masseneuphorie und körperlicher Gewalt assoziiert wird. Gemeinsamkeiten bestehen darüber hinaus in der Beantwortung der Frage, wodurch sich belanglose und missglückte von ›authentischer‹ selbstreferentieller Kunst unterscheidet: Für Strauß wie Diederichsen basiert letztere auf leidenschaftlicher Verbundenheit mit dem 218

zitierten und neu arrangierten Material. Uneinig sind sich die Autoren, was die angemessene Umsetzung einer solchen Kunst der ›zweiten Worte‹ betrifft. Goetz votiert für Imitation und Stilisierung alltagssprachlicher Kommunikation sowie für massenmediale Referenzen, Strauß dagegen für eine höhenkammorientierte Literatursprache und ein Selbstverständnis als ›kreativer‹ Kopist der großen Vorgänger. Die Popliteraten nehmen das Ironieprogramm seit Mitte der 90er Jahre wieder auf und blenden dessen Vorgeschichte teilweise aus. Seine fundierende gesellschaftliche Problematik bleibt jedoch erhalten: Die Erzähltexte, Essays und Feuilletons von Kracht, Stuckrad-Barre, Illies und anderen fokussieren soziale und politische Folgen flexibler Normalisierung, wobei wie zeitgleich bei Diederichsen die Normalisierung von Sekundärabweichungen, potenzierter Negation und Ironie in den Mittelpunkt rückt. Von zentraler Bedeutung ist dabei die inflationär entwertete postmoderne Musterlösung des Originalitätsproblems durch die vorausgreifende Entkräftung des Trivialitätsverdachts. Dieser Funktionsverlust schlägt sich in einer generalisierten, vorwiegend melancholisch-resignativen Kritik an der Artifizialität und ›Scheinhaftigkeit‹ zeitgenössischer Sozialbeziehungen und künstlerischer Ausdrucksformen nieder. Ironie wird pathologisiert und dämonisiert, indem die Autoren sie mit überzogenen Authentizitätsidealen konfrontieren. Die Blaupause liefert Krachts Romandebüt Faserland, das (transparente) Verstellung in psychologischer, gesellschaftlicher, politischer und historischer Perspektive problematisiert und im Unterschied zum älteren Popdiskurs Freundschafts- und Liebesbeziehungen ins Zentrum stellt. Provokations- und Relativierungsironie erscheinen dabei als habitualisierte und außer Kontrolle geratene Kompensationsstrategien und Waffen im Distinktionskampf, die zu Vertrauensverlust, sozialer Isolation und psychischer Destabilisierung führen. Die ›Adlon-Gruppe‹ thematisiert in erster Linie die Dysfunktionalität von Prinzipien wie ästhetische Entpflichtung und Inversionsironie. Trotz ihrer vordergründigen Distanzierung vom theoretisch elaborierten Diskurs der ›Polit-Fraktion‹ um Diederichsen kommt sie zu vergleichbaren Befunden: Eine weltanschaulich ungebundene Ironie untergräbt die Bereitschaft, Gesellschaftskritik zu äußern, und läuft Gefahr, schlechte Konventionen zynisch zu bestätigen. Die gegen Heuchelei und Eitelkeit gerichteten Demaskierungstechniken wenden sich zuletzt gegen ihre Benutzer. Die totalisierte Schauspielmetaphorik des Pop führt dazu, dass jede Meinungsäußerung unter Uneigentlichkeitsverdacht gerät. Sie zersetzt Halt gebende Gewissheiten und generiert so eine Sehnsucht nach dogmatischer Fixierung (geistiger ›Deckelung‹, Stuckrad-Barre), Individualitätsverzicht und Überantwortung an ›sozialradikale‹ Überzeugungsgemeinschaften. Ähnlich wie Diederichsen kommen die an Tristesse Royale beteiligten Autoren zu dem Ergebnis, dass die Leitdifferenz Ironie/Authentizität Denk- und Lebensmöglichkeiten auf eine ›deprimierende Alternative‹ einschränkt. Typischerweise setzen popliterarische Texte bei der zugespitzten Diagnose an, die gegenwärtige Kultur und Gesellschaft sei von ubiquitärer Ironie und 219

exzessivem Hedonismus geprägt. Dem werden gleichermaßen hyperbolische, idyllisierte oder negative überhöhte Gegenkonzepte wie emphatische Überzeugung, authentische Lebensweise und soziale Inklusion entgegengesetzt, die sich jedoch spätestens auf den zweiten Blick als Pseudolösungen erweisen. Die zuvor konstruierten Dichotomien kollabieren, die erstrebte Authentizität erweist sich als höherstufige, auf Ironie und Simulation beruhende Variante der Ausgangssituation. Diese »postmoderne Dauerschleife zwischen der klaren Positionierung auf festem Grund […] und den ›Spielarten der ironischen Selbstbespiegelung‹«340 ist wie bei Diederichsen mit Determination und ›Ausweglosigkeit‹ konnotiert (Leitmotiv der ›Spirale‹). Auch was die Wiedereinführung von Ironie in die Unterscheidung Authentizität/Ironie auf Seiten des Authentischen betrifft, gibt Kracht den Kurs vor. Die auf Handlungsebene dargestellte Suche nach ›Eigentlichkeit‹ wird durch unzuverlässige, zu Täuschung und Ironie neigende Erzählinstanzen vermittelt und damit gleichsam in Anführungszeichen gesetzt. Auf diese Weise konterkarieren einige der Popliteraten das Identifikations- und Verständigungsangebot einer Literatur, die sprachlich leicht zugänglich ist und sich durch thematisch-inhaltliche Nähe zur Lebenswelt der jungerwachsenen Leserschaft auszeichnet. Dabei sind idealtypisch zwei stilistische Richtungen zu unterscheiden: In Tristesse Royale und den Romanen Krachts und Bessings dominiert ein grotesker, bilder- und pointenreicher Manierismus, der das Komische und Burleske mit dem Monströsen und Grauenerregenden verbindet und zu Mythisierung, Exotismus und Phantastik neigt. Stuckrad-Barre, Illies und Uslar tendieren dagegen eher zu einer identifikatorisch angelegten, realistischen und humoristisch-versöhnlichen Darstellungsweise. Beide Richtungen thematisieren tragfähige Alternativen zum ›uneigentlichen Weltverhältnis‹ primär ex negativo, durch Überzeichnung von Antithesen: In Szene gesetzt werden nicht positive Gemeinschaftserlebnisse, sondern totalitärer Kollektivismus; nicht Enthusiasmus, sondern Besinnungslosigkeit; nicht halbwegs stabile weltanschauliche Orientierungen, sondern Indoktrination und behavioristische ›Dressur‹; nicht ›intensives‹ Dasein, sondern ›Heldentod‹ (Tristesse Royale). Eine Ausnahme bildet Stuckrad-Barres postmodernes Konzept des ›Fantums‹, in dem poptypische Gegensätze wie Skepsis/Fanatismus, Reflexion/Kontrollverlust und soziale Distanz/Aufgehen in der Masse transitorisch aufgehoben sind. Viele popliterarische Texte unterziehen personale und gesellschaftliche Fortschrittsmodelle einer satirischen Kritik. Inszeniert werden Konversionen, die zwischen existentieller Neuorientierung und einem trivialen, serienmäßigen ›ReModeling‹ oder ›Relaunch‹ der Persönlichkeit changieren. Erzählerisch wird dies durch Annullierung von Ereignishaftigkeit und die Darstellung scheiternder ›mentaler Peripetien‹ (Wolf Schmid) umgesetzt. –––––––– 340

220

Baßler 2002: 124.

Wie ihre Vorgänger reflektieren die Popliteraten die Normalisierung kritischer Positionen in einem elastischen und anpassungsfähigen Gesellschaftssystem, das keinen Anspruch auf eine objektive Außenperspektive erlaubt. Hieraus ergibt sich für den Gesellschaftskritiker, der wider Willen Teil der ›Neuen Mitte‹ (Diederichsen) bzw. des ›sozialen Karnevals‹ (Strauß) ist, die Notwendigkeit, sich in die Kritik miteinzuschließen. Exemplarisch kommt dies im Deutschlandpanorama des Erzählers in Faserland zum Ausdruck, das auf einem utopischen ›Selbstausschluss‹ des Protagonisten beruht und damit indirekt dessen Verstrickung thematisiert. Für eine eher exoterische Variante des Popdiskurses steht Illies’ Generation Golf. Illies problematisiert Ironie mit Blick auf die Grenzfigur Toleranz/Ignoranz und sieht wie Diederichsen in verabsolutierten Theatrum-mundi-Metaphern (›Leben wie im Film‹) die Ursache eines umfassenden ›Wirklichkeitsentzugs‹. Auf spielerisch-humorvolle Art stellt er die Folgen einer Haltung kognitiver Distanz dar, die zwar emotionale Verletzungsrisiken minimiert, aber zu sozialer Indifferenz und einem Rückzug ins Private führt. Im Zentrum stehen übers Ziel hinausschießende Gegenreaktionen auf die um 1968 propagierte Politisierung des Privaten. Anders als Diederichsen zielt Illies nicht auf eine Fortsetzung des aufklärerischen ›Projekts der Moderne‹ (Jürgen Habermas), sondern kritisiert lediglich Extremformen der Entpolitisierung und neigt ansonsten zur Bestätigung der ›neuen Normalität‹. Mit der Abwesenheit von Konzepten ›emphatischen Lebens‹ korrespondieren bei Illies ein gefälliger Schreibstil und weithin anschlussfähige Motive, die zur Konstitution einer generationsspezifischen und massenmedial geprägten Erinnerungsgemeinschaft dienen. Aufgrund dieser ›normalitätsbestätigenden‹ Tendenz wird Illies von Kollegen zum ›ewigen Spießer‹ und von Seiten der Literaturwissenschaft zum Epigonen erklärt. Kritik zieht vor allem sein historisch unreflektierter Rückgriff auf das Negativstereotyp des weltfremden und naiv-optimistischen ›68ers‹ bzw. ›Hippies‹ auf sich, ebenso wie die gemeinplatzartige Polemik gegen den ›Konformismus des Andersseins‹ (Norbert Bolz), die ›formelhafte Unkonventionalität‹ (Diederichsen) und das ›Dagegensein als Dabeisein‹ (Niklas Luhmann). Anders als die Gegengegenkultur liebäugelt Illies mit einem konservativen ›Widerruf von 68‹. Angesichts der gegen Illies erhobenen Vorwürfe stellt sich die Frage, ob bereits das um 1980 entworfene, politisch codierte ästhetische Entpflichtungsmodell eine Übergangslösung im langfristigen Prozess der ›Abwicklung‹ von Solidaritäts- und Fortschrittsprogrammen darstellte. Der Abschied von Fundamentalkritik und sozialistischer Utopie scheint leichter gefallen zu sein, insofern er als Kritik zweiter Stufe interpretiert werden konnte. Diederichsens Rückkehr zum älteren Protestmodell und seine Annäherung an ›sozialdemokratische‹ Positionen sprechen dafür, dass sich die Ästhetisierung von Leben und Politik insgesamt als Fehlschlag erwiesen hat. Auch der ironische ›Metanormalismus‹ des Pop konnte die seit den 70er Jahren rückläufige antinormalistische Tendenz nicht umkehren. Darüber hinaus hat sich das verabsolutierte ›uneigentliche‹ Lebensmodell als nicht tragfähig herausgestellt. Letztlich kommen beide Popgenerationen auf unterschiedlichen 221

Wegen zu dem gleichen Ergebnis: ›Reine Nicht-Authentizität ist nicht wirklich lebbar‹ (Diederichsen) bzw. das Leben ist ›wirklicher als wie im Film‹ (Illies).

222

Siglenverzeichnis

1979

=

Christian Kracht. 1979. Köln 2001.

D

=

Moritz von Uslar: Davos. In: Christian Kracht (Hg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. 2. Aufl. Stuttgart 1999, S. 13–29.

F

=

Christian Kracht [1995]: Faserland. München 1997.

SB

=

Diedrich Diederichsen [1985]: Sexbeat. Köln 2002.

TR

=

Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad Barre. Berlin 1999.

223

Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1970. – Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno u. a. Bd. 2. Noten zur Literatur. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1990, S. 49–68. – [1951]: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. 1993. – /Max Horkheimer [1944]: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 1995. Amend, Christoph: Symphonie des Untergangs. Der Popliterat bereist das Jahr 1979. In: Der Tagesspiegel vom 10.10.2001. – /Stephan Lebert: Der schlechteste Journalist von allen. In: Der Tagesspiegel vom 1.7.2000. Appen, Ralf von: Kein Weg aus dem Dilemma von Rock und Ironie. Die Musik in den Schriften Benjamin von Stuckrad-Barres. In: Pankau 2004, S. 153–166. Arend, Ingo: Der Gesang des Pennälers. Christian Krachts umstrittener Roman »1979« ist ein Spiel mit dem Feuer. In: der Freitag vom 7.12.2001. Arnold, Heinz Ludwig/Jörgen Schäfer (Hg.): Pop-Literatur. edition text + kritik. Sonderband 10 (2003). Assheuer, Thomas: Der Kult des Banalen. Verona Feldbusch, Helmut Kohl und Guildo Horn geben der Kulturkritik schwere Rätsel auf. Was hat Popkultur mit Politik und der allgemeine Nonsens mit dem Kapitalismus zu tun? In: Die Zeit vom 7.5.1998. Baacke, Dieter [1968]: Beat – die sprachlose Opposition. München 1972. Baacke, Dieter/ Wilfried Ferchhoff: Von den Jugendsubkulturen zu den Jugendkulturen. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 2 (1995), S. 33–46. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hg. v. Edwald Kowalski und Michael Wegner. Frankfurt a. M. 1989. Bacia, Jürgen/ Klaus-Jürgen Scherer: Paßt bloß auf! Was will die neue Jugendbewegung? Berlin 1981. Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002. – [2003] Pop-Literatur [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2007, S. 123f. Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Tagebücher 1912 bis 1921. Luzern 1946. Bartels, Hans-Peter: Wühlen im Kinderparadies. Hans-Peter Bartels über die von Florian Illies erfundene »Generation Golf«. In: Der Spiegel vom 21.02.2000. Bauer, Matthias: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart, Weimar 1993.

224

Beck, Ulrich [1986]: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 2003. Behler, Ernst: Klassische Ironie. Romantische Ironie. Tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt 1972. Beise, Marc: Gute Bilanzen und weniger Jobs. Deutsche Unternehmen zeigen der Politik, daß Kostensenkung ein Weg aus der Krise sein kann. In: Süddeutsche Zeitung vom 12./13.11.2005. Bell, Daniel: The Coming of Postindustrial Society. A Venture of Social Forecasting. New York 1973. – Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus. Mit einem Vorwort zur deutschen Neuausgabe. Frankfurt a. M., New York 1991. Bernard, Andreas: Die Einflößung der Gegenwart in die Gegenwartsliteratur. Keine Scheu vor dem Gebrauch vorgefertigter Formulierungen: Moritz Baßlers Buch über den »deutschen Pop-Roman«. In: Süddeutsche Zeitung vom 14.6.2002. – u. a. (Hg.): Lexikon des frühen 21. Jahrhunderts. München 2005. Bessing, Joachim (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad Barre. Berlin 1999a. – (1999b): contrazoom. In: Kracht 1999, S. 95–118. – Wir Maschine. Stuttgart, München 2001. – Rettet die Familie. Eine Provokation. München 2004. Biendarra, Anke S.: Der Erzähler als »Popmoderner Flaneur« in Christian Krachts Roman Faserland. In: German Life and Letters 55 (2002), H. 2, S. 164–179. Biller, Maxim: Feige das Land, schlapp die Literatur. In: Die Zeit vom 13.04.2000. Birgfeld, Johannes: Christian Kracht als Modellfall einer Reiseliteratur des globalisierten Zeitalters oder Vorschlag zu einer Neubewertung des angeblichen Dandys und Popliteraten Kracht. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Bd. 9. Kulturkonflikte in der Reiseliteratur. Hg. von Annakutty V. K. Findeis u. a. Bern 2007, S. 405–411. Böckelmann, Frank: Vom Terror zum Horror. Der Krieg in Afghanistan als Versuch, die Realität wiederzugewinnen. In: Süddeutsche Zeitung vom 27./28.10.2001. Bolz, Norbert: Die Konformisten des Andersseins. Ende der Kritik. München 1999. Bonß, Wolfgang: Was wird aus der Erwerbsgesellschaft? In: Die Zukunft von Arbeit und Demokratie. Hg. von Ulrich Beck. Frankfurt a. M. 2000, S. 327–415. Booth, Wayne C. [1961]: The Rhetoric of Fiction. 2. Aufl. Chicago 1983. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1987. Braun, Michael: Rolf Dieter Brinkmann [Art.]. In: Lexikon deutschsprachiger Gegenwartsliteratur seit 1945. Bd. 1. Hg. von Thomas Kraft. München 2003, S. 179–182. Braungart, Wolfgang (Hg.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen 2002. – Ironie als urbane Kommunikations- und Lebensform. Über Cicero, Quintilian und Friedrich Schlegel. In: Neue Beiträge zur Germanistik 3 (2004), H. 5, S. 9–24.

225

Breuer, Stefan: Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen. 1871 – 1945. Darmstadt 2001. Broder, Henryk M./Reinhard Mohr: Die faselnden Fünf. In: Der Spiegel vom 6.12.1999. Briegleb, Till: Pflege deine Zähne. Die Hamburger Deichtorhallen blicken mit der großen Werner-Büttner-Werkschau »Verkehrte Welt« zurück in die ironischen achtziger Jahre. In: Süddeutsche Zeitung vom 9.07.2003. Buchhofer, Bernd u. a.: Alter, Generationsdynamik und soziale Differenzierung. Zur Revision des Generationsbegriffs als analytisches Konzept. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 22 (1970), S. 300–334. Bürger, Jan: Lager Light. Wie ein Popautor einen Schnösel in die Hölle schickt und dabei groß wirkt. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 12 (2001), S. 52f. Busch, Dagmar: Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster. In: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hg. von Ansgar Nünning. Trier 1998, S. 41–58. Büsser, Martin: »Ich steh auf Zerfall«. Die Punk- und New-Wave-Rezeption in der deutschen Literatur. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 149–157. Clermont, Christoph/Johannes Goebel [1997]: Die Tugend der Orientierungslosigkeit. 3. Aufl. Berlin 1998. Cohn, Dorrit: Discordant Narration. In: Style 34 (2000), H. 2, S. 307–316. Conter, Claude D.: »Rebellion gegen die Rebellion«. Gesellschaftsdiagnosen der Popliteratur der 1990er Jahre zwischen Selbstmord und Ehe. In: Pankau 2004, S. 49–67. Core, Philip: Camp. The lie that tells the truth. London 1984. Corino, Karl: Abspecken im Gelben Gulag. Zeitreise mit Pop-Literat Christian Kracht in den Iran der islamischen Revolution. In: Die Welt vom 7.10.2001. Daum, Thomas: Die 2. Kultur. Alternativliteratur in der Bundesrepublik. Mainz 1981. Deleuze, Gilles [1990]: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Deleuze: Unterhandlungen. 1972 – 1990. Frankfurt a. M. 1993, S. 254–262. Despoix, Philippe/Justus Fetscher: Ironie [Art.]. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. von Karlheinz Barck u. a. Bd. 3. Stuttgart, Weimar 2001, S. 196–244. Diederichsen, Diedrich: Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze. In: Staccato. Musik und Leben. Hg. von Diedrich Diederichsen. Heidelberg 1982, S. 85-101. – Die Auflösung der Welt – Vom Ende und Anfang. In: Diederichsen u. a.: Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 166–188. – Herr Dietrichsen. Köln 1987. – Offene Identität & zynische Untertanen. In: Diederichsen u. a.: Das MadonnaPhänomen. Hg. von Diedrich Diederichsen u. a. Hamburg 1993a, S. 7–25. – Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll. 1990-93. Köln 1993b. – Als die Kinder noch in Ordnung waren. In: Neue Soundtracks für den Volksempfänger. Nazirock, Jugendkultur und rechter Mainstream. Hg. von Max Annas u. a. Berlin 1993c, S. 11–28.

226



Ein paar Figuren auf dem Weg durch eine bestimmte Zeit… In: Die Beute 1 (1994), S. 85–88. – Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Pop. Technik. Poesie. Die nächste Generation. Hg. von Marcel Hartges u. a. Hamburg 1996a. – Politische Korrekturen. Köln 1996b. – Der Boden der Freundlichkeit. Von der Unmöglichkeit Politik zu machen, ohne Kultur zu betreiben. In: Die Beute. Neue Folge 1 (1998), S. 37–54. – Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln 1999. – 2000 Schallplatten. 1979-1999. Höfen 2000a. – Die License zur Nullposition. Goldene Zeiten für Literatur (XIII): Deutsche Schriftsteller produzieren wieder eine Ironie, die auf einer Normalität ruht, für die sich keiner mehr schämt. In: die tageszeitung vom 07.08.2000b. – Die Leude woll’n, daß was passiert. Wege aus der Ironiefalle: Für eine Wiedergeburt des Politischen aus dem Ungeist der Freizeitkultur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.10.2000c. – Die Gegengegenkultur. 68 war Revolte, 77 war Punk – warum nur 68 zum Mythos wurde. In: Süddeutsche Zeitung vom 24./25.2.2001a. – Das WTC hat es gegeben. Der 11. September war das überfällige Ende der seit zwei Jahrzehnten kursierenden Überzeugung, dass »die Medien« eine einzige andere und geschlossene Welt wären. Mit dem beliebten Baudrillardismus müsste man jetzt endlich aufhören können. In: die tageszeitung vom 6.10.2001b. – Panik vor Pop. Ernsthaft – wenn Warhol danach war. In: die tageszeitung vom 19.11.2001c. – [1985]: Sexbeat. Köln 2002. – Musikzimmer. Avantgarde und Alltag. Köln 2005a. – Sei mal authentisch! Bestaunt, verachtet, schnell vergessen: Die Gladiatoren der Medienarena rekrutieren sich aus der neuen Unterschicht. In: Süddeutsche Zeitung vom 23.3.2005b. – Gespaltene Zunge. In: die tageszeitung vom 20. September 2005c. – Ein Star muß strahlen. Kein Schnitt, starre Kamera, und immer das gleiche Licht: Andy Warhols Filme sind Versuche über das Wesen der Zeit. Bei der Retrospektive der Viennale werden diese Raritäten nun gezeigt. In: Die Zeit vom 29.9.2005d. – Neoliberal ist cool. Wie eine Wende herbeigeredet wird. In: Süddeutsche Zeitung vom 21.10.2005e. – Ein anderer werden (Mein perfekter Tag 17). In: Süddeutsche Zeitung vom 21.05.2005f. – Das letzte Jahr des Westens. In: 1988. Ein Jahr und seine 20 Songs (SZ Diskothek 1988). Hg. von Philipp Oehmke u. a. München 2006, S. 7–17. – /Albert Oehlen: Für eine Gesellschaft ohne Knäste. Ausstellung im K-Raum Daxer. München 1993. Döring, Jörg: »Redesprache, trotzdem Schrift«. Sekundäre Oralität bei Peter Kurzeck und Christian Kracht. In: Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Hg. von Jörg Döring u. a. Opladen 1996, S. 226–233.

227

Drügh, Heinz J.: Verhandlungen mit der Massenkultur – Die neueste Literatur(-wissenschaft) und die soziale Realität. In: IASL 26 (2001), H. 2, S. 173–200. Eco, Umberto [1983]: Nachschrift zum ›Namen der Rose‹. 8. Aufl. München 1987. Eibl, Karl: Einführung. Zur Problematik literarhistorischer Begriffe: Geschichtlicher Prozeß und terminologische Fixierung. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 357–362. – Zurück zu Darwin. Bausteine zur historischen Funktionsbestimmung von Dichtung. In: Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. von Michael Titzmann. Tübingen 1991, S. 347–366. – Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a. M. 1995. – Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte – und »Das Warum der Entwicklung«. In: IASL 21 (1996), H. 2, S. 1–26. – Autonomie und Funktion, Autopoiesis und Kopplung. Ein Erklärungsangebot für ein literaturwissenschaftliches Methodenproblem mit einem Blick auf ein fachpolitisches Problem. In: Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Hg. von Martin Hubert und Gerhard Lauer. Tübingen 2000, S. 175–190. – Eibl, Karl: Der ›Autor‹ als biologische Disposition. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. von Fotis Jannidis u. a. Tübingen 1999, S. 47–60. – Kritik der imposanten Metapher. In: Scientia Poetica 5 (2001), S. 216–229. – Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004. – Naturwissenschaft [Art.]. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hg. von Thomas Anz. Bd. 2. Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2007, S. 486–495. Ernst, Thomas: Popliteratur. Hamburg 2001. Flender, Reinhard/Hermann Ranke: Popmusik. Aspekte ihrer Geschichte, Funktionen, Wirkung und Ästhetik. Darmstadt 1989. Fludernik, Monika: Unreliability vs. Discordance. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit. In: Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Hg. von Fabienne Liptay und Yvonne Wolf. München 2005, S. 39–59. Frank, Dirk: Die Nachfahren der ›Gegengegenkultur‹. Die Geburt der »Tristesse Royale« aus dem Geist der achtziger Jahre. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 218–233. Frank, Thomas: The Conquest of Cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. Chicago, London 1997. Friedrich, Hans-Edwin: Hausgreuel – Massenschund – radikal Böses. Die Karriere des Kitschbegriffs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Braungart 2002, S. 35–58. Frith, Simon: Art Ideology and Pop Practice. In: Marxism and the Interpretation of Culture. Hg. von Lawrence Grossberg und Cary Nelson. Urbana/Chicago 1988, S. 461–475. Fuchs, Oliver: Traurige Popen. »Pop ist, wenn ich sage, deine Turnschuhe sind scheiße, und nicht sage, warum«: Eine Tagung in Tutzing, bei der die Birne schwirrte. In: Süddeutsche Zeitung vom 27.11.2001.

228



Da-Damm-Da-Damm. Fünfzig Jahre Rock’n’Roll: Der Elefant mit Taktgefühl macht einfach weiter. In: Süddeutsche Zeitung vom 17./18.04.2004. – /Christian Seidel: Die nächste Generation hat immer Recht. Diedrich Diederichsen über seine eigene Vergangenheit, die Pop-Gegenwart und die Zukunft der »Superstar«-Suche. In: Süddeutsche Zeitung vom 24.04.2003. Gaus, Günter: Wir wollen nicht mehr mitlaufen. Günter Gaus trifft Florian Illies – Ein Streitgespräch zwischen der Generation Käfer und der Generation Golf. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13.7.2003. – Rudi Dutschke: Eine Welt gestalten, die es noch nie gab. In: Gaus: Was bleibt, sind Fragen. Die klassischen Interviews. Berlin 2005, S. 432–451. Geitner, Ursula: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992. Genette, Gérard: Die Erzählung. München 1994. Gießmann, Ulrike: Ironie in sprachwissenschaftlicher Sicht. In: Sprachwissenschaft 2 (1977), S. 411–421. Glaser, Hermann: Deutsche Kultur 1945 – 2000. München, Wien 1997. Glaser, Peter [1984]: Zur Lage der Detonation – Ein Explosé. In: Rawums. Texte zum Thema. Hg. von Peter Glaser. Köln 2003, S. 9–21. Goetz, Rainald Maria: Der macht seinen Weg. Privilegien. Anpassung. Widerstand. In: Kursbuch 54 (1978), S. 31–43. Goetz, Rainald: Hirn. Frankfurt a. M. 1986. – Rave. Frankfurt a. M. 1998a. – Jeff Koons. Frankfurt a. M. 1998b. – Celebration. 90s. Nacht. Pop. Frankfurt a. M. 1999a. – Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt a. M. 1999b. – Dekonspiratione. Frankfurt a. M. 2000. – Jahrzehnt der schönen Frauen. Berlin 2001. – /Westbam: Mix, Cuts & Scratches. Berlin 1997. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart. München 1999. Grabienski, Olaf: Christian Krachts Faserland. Eine Besichtigung des Romans und seiner Rezeption. http://www.olafski.de/arbeiten/kracht.pdf. 2000/1 [zuletzt besucht am 27.07.2010]. Greiner, Ulrich: Trost und Rat. Die Literatur, die wir haben, verrät, wie wir uns fühlen. In: Die Zeit vom 12.01.06. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a. M. 1994. Hartge, Caroline/Ralf Zühlke (Hg.): querFalk. Buch über eine Zeitschrift. Ostheim/Rhön 2007. Hecken, Thomas: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld 2009. Heidenreich, Elke: Nichts wird je wieder gut. Christian Kracht erzählt in seinem verstörenden Roman »1979« vom Elend der Dekadenz und dem Zwang zum Opfer in einer brutalen, unverständlichen Welt. In: Der Spiegel vom 8.10.2001. Heilbrunn, Jacob: Der Ernst des Lesens. Ein Abgesang auf die deutsche Popliteratur. In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 5.10.2001.

229

Henscheid, Eckhard [1987]: Sudelblätter. Zürich 1991. Hermand, Jost: Pop International. Eine kritische Analyse. Frankfurt a. M. 1971. – Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland. 1965 – 1985. München 1988. Hielscher, Martin: Und es hat Rawums gemacht. Goldene Zeiten für Literatur (XII): Über einen Mentalitätswandel und diverse Kampfzonen. In: die tageszeitung vom 29.07.2000. – Pop im Umerziehungslager. Der Weg des Christian Kracht. Ein Versuch. In: Pankau 2004, S. 102–109. Hinz, Ralf: Cultural Studies und Pop. Zur Kritik der Urteilskraft wissenschaftlicher und journalistischer Rede über populäre Kultur. Opladen 1998. – Pop-Theorie und Pop-Kritik. Denk- und Schreibweisen im avancierten Musikjournalismus. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 297–310. Hirsch, Joachim/Roland Roth: Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Postfordismus. Hamburg 1986. Hoffmann, Abbie: Steal this Book. New York 1971. Holert, Tom: Abgrenzen und durchkreuzen. Jugendkultur und Popmusik im Zeichen des Zeichens. In: »alles so schön bunt hier«. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute. Hg. v. Peter Kemper u. a. Stuttgart 1999, S. 21–33. – /Mark Terkessidis: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin, Amsterdam 1996. Holmig, Alexander: Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung. Subversive Aktion, Kommune I und die Neudefinition des Politischen. In: 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung. Hg. von Martin Klimke und Joachim Scharloth. Stuttgart, Weimar 2007, S. 107–118. Huysmans, Joris K. [1884]: Gegen den Strich. Zürich 1981. Illies, Florian: Ziellos. Die Generation Golf. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.1.1998a. – Ein Freund, ein Freund. Jakob Arjounis Erzählungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.3.1998b. – So leben wie er. Endstation Sehnsucht: In Bruce Chatwins Reisebüro. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.9.1998c. – Die Traumwandlerin. Judith Hermanns erster Erzählungsband. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.10.1998d. – So schauste aus. Rainald Goetz ackert sich weiter ab: Wo die Sprache war, soll Rhythmus sein, und wo Haß war, sieht man nur noch Schweiß. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.11.1998e. – (flo): Durch diese Tür kehrt Christian Kracht zurück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten vom 21.10.1999. – [2000] Generation Golf. Eine Introspektion. Frankfurt a. M. 2001a. – Generation Neid. In: Kursbuch 143 (2001b), S. 54–56. – Anleitung zum Unschuldigsein. Das Übungsbuch für ein schlechtes Gewissen. Berlin 2001c. – [2003]: Generation Golf zwei. München 2005. Jähner, Harald: 95 Prozent Papierleichen. Sind Deutschlands Literaten Schlappschwänze? Eine Tagung über die Kraft der Literatur. In: Berliner Zeitung vom 4.4.2000.

230

Kaiser, Jost: Immer im Werden und niemals im Sein. Identitätsclownerien und Staatstheater: Seit den Anschlägen im September steht das ironische Verhältnis zur Demokratie endgültig in Frage. In: Süddeutsche Zeitung vom 25.10.01. Karasek, Tom: Generation Golf: Die Diagnose als Symptom. Produktionsprinzipien und Plausibilitäten der Populärliteratur. Bielefeld 2008. Keupp, Heiner: Identitäten im gesellschaftlichen Umbruch. In: PsychotherapeutenFORUM 1 (2000), S. 5–12. Kinder, Hermann: Formen dargestellter ›Subjektivität‹. R. D. Brinkmanns ›Keiner weiß mehr‹ und die ›Tendenzwende‹. In: Kinder: Von gleicher Hand. Aufsätze, Essays zur Gegenwartsliteratur und etwas Poetik. Eggingen 1995. Kindt, Tom/Hans-Harald Müller: Der ›implizite Autor‹. Zur Explikation und Verwendung eines umstrittenen Begriffs. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. von Fotis Jannidis u. a. Tübingen 1999, S. 273–287. Klein, Markus: Gibt es die Generation Golf? Eine empirische Inspektion. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003), H. 1, S. 99–115. Klockow, Reinhard: Gänsefüßchen-Semantik. Eine Ergänzung zu Lakoffs ›Hedges‹. In: Sprachtheorie und Pragmatik. Akten des 10. Linguistischen Kolloquiums. Bd. 1. Hg. von Heinrich Weber und Harald Weydt. Tübingen 1976, S. 235–245. Knox, Dilwyn: Ironia. Medieval and Renaissance Ideas on Irony. Leiden 1989. Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin, New York 1973. Koselleck, Reinhart [1972]: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte. In: Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1995, 107–129. Kracauer, Siegfried [1930]. Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Neuausgabe Frankfurt a. M. 2004. Kracht, Christian: Die legendärste Party aller Zeiten. Christian Kracht über seinen Roman »Faserland«, über Grünofant-Eis, Busfahrer und die SPD. In: Berliner Zeitung vom 19.07.1995. – [1995]: Faserland. München 1997. – (Hg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. 2. Aufl. Stuttgart 1999. – Die feinen Unterschiede. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Berliner Seiten vom 22.05.2000a. – Kracht, Christian: Der gelbe Bleistift. Mit einem Vorwort von Joachim Bessing. Köln 2000b. – Camera Obscura. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. Juni 2003. – Das ägyptische Furnier. Auf der Buchmesse in Kairo war Deutschland Ehrengast. Eine Arabeske. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 5.2.2006. – 1979. Köln 2001. – New Wave. Ein Kompendium 1999 – 2006. Mit einem Vorwort von Volker Weidermann. Köln 2006. – /Eckhart Nickel [1995]: Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt. Mit einem Vorwort von Moritz von Uslar. München 2001.

231



/Eckhart Nickel: Der Waldverherrlicher. Muß man Hesse lieben? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.06.2002. Kreuzer, Helmut: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968. Koenen, Gerd [2001]: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967– 1977. Frankfurt a. M. 2002. Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle. Berlin, New York 1973. Kuhlbrodt, Detlef: Neue Heimat Sprache. Goldene Zeiten für Literatur (XIV): Nach dem Abschied von den Kriegsteilnehmern. In: die tageszeitung vom 12.08.2000. Kupfer, Alexander: Die künstlichen Paradiese. Rausch und Realität seit der Romantik. Ein Handbuch. Stuttgart, Weimar 1996. Kurz, Robert: Die Welt als Wille und Design. Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise. Berlin 1999. Lachner, Harry: David Bowie. In: Rock-Klassiker. Bd. 1. Hg. von Peter Kemper. Stuttgart 2003, S. 166–187. Lange, Carsten: »Allgemeinverbindlichkeit«. Strategien popliterarischen Erzählens in Florian Illies’ Generation Golf. In: Pankau 2004, S. 120–130. Lange, Nadine: Invasion der Freundinnen. Goldene Zeiten für Literatur (XII): Fräuleinwunder ist ein lächerliches Wort. Doch unter dem falschen Motto findet zurzeit genau die richtige Party statt. In: die tageszeitung vom 15.07.2000. Lapp, Edgar: Linguistik der Ironie. Tübingen 1992. Lausberg, Heinrich: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960. Lehnartz, Sascha: Der Kahn in uns. Benimm-Bibeln, Style-Berater, Design-Führer? Reicht alles nicht. Eigentlich müssen wir über Moral nachdenken. Nur daraus kann sich Haltung entwickeln. In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 27.6.2003. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 3., erg., überarb. und neu gestalt. Aufl. Göttingen 2006. Littger, Peter u. a.: Sparen, Schließen, Schassen. Deutschlands Zeitungsverlage stecken in der schwersten Finanzkrise ihrer Geschichte. Erstmals entläßt die FAZ jetzt Redakteure. Der Qualitätsjournalismus gerät in Gefahr. In: Die Zeit vom 27.6.2002. Lotman, Jurij M.: Die Entstehung des Sujets typologisch gesehen. In: Lotman: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hg. von Karl Eimermacher. Kronberg 1974, S. 30–66. Lottmann, Joachim [1987]: Mai, Juni, Juli. Köln 2003. – Das ist der Urschlamm, Baby. Eine kleine Feldforschung zum Stand der Popmusik. In: Süddeutsche Zeitung vom 12./13.3.2005a. – Hör mal, sie spielen unser Lied. Was ist ein ›secret gig?‹ Tut das weh? Und warum taumelt Casablancas? Die ›Strokes‹ in Berlin. In: Süddeutsche Zeitung vom 14.12.2005b. Lugowski, Clemens [1932]: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M. 1976. Luhmann, Niklas: Alternative ohne Alternative. Die Paradoxie der »neuen sozialen Bewegungen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.07.1986.

232



Das trojanische Pferd. In: Luhmann: Archimedes und wir. Interviews. Berlin 1987, S. 108–124. – Status quo als Argument. In: Luhmann: Universität als Milieu. Kleine Schriften. Bielefeld 1992, S. 16–29. – [1980] Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 1. Frankfurt a. M. 1993, 9–71. – Kultur als historischer Begriff. In: Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1995, S. 31–54. – Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Hg. von Kai-Uwe Hellmann. Frankfurt a. M. 1996. – [1995] Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. – [1997] Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1998. Lyotard, Jean-François [1979]: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. von Peter Engelmann. Graz u. a. 1986. Malchow, Helge: Nachwort. In: Lottmann 2003, S. 250–256. Mailer, Norman: Reklame für mich selber. Frankfurt a. M., Berlin 1986. Marcus, Greil [1989]: Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1992. Marcuse, Herbert [amerik. 1964, dt. 1967]: Der eindimensionale Mensch. München 1994. Martínez, Matías: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996a. – Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hg. von Matías Martínez. Paderborn 1996b. Martínez, Matías/ Michael Scheffel [1999]: Einführung in die Erzähltheorie. 6. Aufl. München 2005. Meid, Georg: Erzählungen der Gegenwart: Von Judith Hermann bis Bernhard Schlink. München u. a. 2005. Meinecke, Thomas [1986]: Mode und Verzweiflung. Frankfurt a. M. 1998. – /Benjamin von Stuckrad-Barre u. a.: Pop hat eine harte Tür. In: Pop seit 1964. Hg. von Kerstin Gleba und Eckhard Schumacher. Köln 2007, 365–399. Mertens, Mathias: Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin v. StuckradBarre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby. In: Arnold/Schäfer 2003, S. 201–217. Miller, Mark Crispin: Boxed In. The Culture of TV. Evanston, IL 1988. Modick, Klaus, Mo Salzinger, Michael Kellner (Hg.): Humus. Hommage à Helmut Salzinger. Hamburg 1996. Müller, Wolfgang G.: Ironie, Lüge, Simulation, Dissimulation und verwandte rhetorische Termini. In: Zur Terminologie der Literaturwissenschaft. Akten des IX. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hg. von Christian Wagenknecht. Stuttgart 1989, S. 189–208. – Ironie [Art.]. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Hg. v. Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 185–189.

233

Murakami, Haruki [1997/98]: Untergrundkrieg. Der Anschlag von Tokyo. Köln 2002. Neumeister, Andreas: 50 Jahre Nachkriegselend. Wieviel Gegenwart verträgt die Nachkriegsliteratur? In: Süddeutsche Zeitung vom 17.10.1996. Niefanger, Dirk: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur. In: Pankau 2004, S. 85–101. Nietzsche, Friedrich [1882]: Die fröhliche Wissenschaft. In: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 3. 2. Aufl. München 1988, S. 343–651. Oesterreich, Peter Lothar: Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit. Hamburg 1990. – Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs aus der Antike und dem deutschen Idealismus. Darmstadt 1994. Orwell, George [1949]: Nineteen Eighty-Four. Essex 1991. Oswald, Georg M.: Subversion is over. In: die tageszeitung vom 8.7.2000. Pankau, Johannes G. (Hg.): Pop Pop Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Bremen 2004. Philippi, Anne/Rainer Schmidt: »Wir tragen Größe 46«. Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht wollen mit einer neuen Kombination berühmt werden: Für Mode werben und Bücher schreiben. In: Die Zeit vom 9.9.1999. Plessner, Helmuth [1924]: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Frankfurt a. M. 2001. Plett, Heinrich F.: Ironie als stilrhetorisches Paradigma. In: Kodikas/Code 4/5 (1982), S. 75– 89. Politycki, Matthias: Das Medium ist die Massage. Goldene Zeiten für Literatur (IV): Die neue deutsche Plapperprosa ist die meisterliche Umsetzung des »Get-up-Prinzips«. In: die tageszeitung vom 25.05.2000. Poschardt, Ulf: An der der Luftgitarre. Bislang galt die Popkultur immer als links und wählte auch so. Das wird nun anders: Wahrhaft rebellisch ist es, für die FDP zu sein. In: Die Zeit vom 08.09.2005a. – Wir müssen reden. In: die tageszeitung vom 30.09.2005b. Purdy, Jedediah [1999]: For Common Things. Irony, Trust, and Commitment in America Today. New York 2000. Reents, Edo/Volker Weidermann: »Ich möchte ein Bilderverbot haben«. Christian Kracht über die Asketen des Islam. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30.09.2001. Rorty, Richard [1989]: Kontingenz, Ironie und Solidarität. 5. Aufl. Frankfurt a. M. 1999. Ross, Andrew: No Respect. Intellectuals and Popular Culture. New York, London 1989. Röttgers, Kurt [1982]: Kritik [Art.]. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. im Auftrag des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte e. V. Bd. 3. Stuttgart 2004, S. 651–675. Sack, Adriano: Kampf um Deutungshoheit. Die Kritiker haben den Begriff Popliteratur geboren und zur Waffe gegen junge Autoren gemacht. Der Verleger Helge Malchow wirbt für mehr Toleranz. In: Die Welt vom 14.10.2001. Salzinger, Helmut: Rock Power oder Wie musikalisch ist die Revolution. Ein Essay über Pop-Musik und Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1972.

234

Sander, Uwe/Ralf Vollbrecht: Jugend. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 6. 1945 bis zur Gegenwart. Erster Teilband: Bundesrepublik Deutschland. Hg. von Christoph Führ und Carl-Ludwig Furck. München 1998, S. 192–216. Sautter, Günter: Politische Entropie. Denken zwischen Mauerfall und dem 11. September 2001 (Strauß, Enzensberger, Walser und Sloterdijk). Paderborn 2002. Schäfer, Frank: Das Echo des Rawums. In: Jungle World vom 10.12.2003. Scheffer, Bernd: Die Literatur der Moderne läßt sich nicht länger sprachtheoretisch begründen – Helmut Heißenbüttels Literaturtheorie als Beispiel. In: Merkur 40 (1986), H. 7, S. 565–577 Schelsky, Helmut: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme. Stuttgart 1955. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Erw. Ausg. Frankfurt a. M. 2005. Schlegel, Friedrich: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. und eingeleitet von Hans Eichner. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 2. München u. a. 1967. Schmid, Wolf: Erzähltextanalyse. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Hg. v. Thomas Anz. Bd. 2. Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2007, S. 98–120. Schmidt, Christopher: Alles muß wieder grilliger werden. Petitesse Royale oder Manche Menschen sind einfach zu geil für diese Welt: Moritz von Uslars »Freunde II« in Hannover uraufgetalkt. In: Süddeutsche Zeitung vom 8.10.2001. – Finita la Commedia. Berlusconis Nazi-Vergleich ist keine Ironie – aber Ironismus. In: Süddeutsche Zeitung vom 4.7.2003. Schmitt, Oliver Maria: Die schärfsten Kritiker der Elche. Die neue Frankfurter Schule in Wort und Strich und Bild. Berlin 2001. Schönburg, Alexander von: In Bruckners Reich. In: Kracht 1999, S. 31–41. – [2003]: Der fröhliche Nicht-Raucher. Wie man gut gelaunt mit dem Rauchen aufhört. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2004. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1992. Schumacher, Eckhard: »Re-make/Re-model« – Zitat und Performativität im Pop-Diskurs. In: Zitier-Fähigkeit. Findungen und Erfindungen des Anderen. Hg. v. Andrea Gutenberg und Ralph J. Poole. Berlin 2001a, S. 271–291. – From the garbage, into The Book: Medien, Abfall, Literatur. In: Sound Signatures. PopSplitter. Hg. v. Jochen Bonz. Frankfurt a. M. 2001b, S. 190–213. – Tristesse Royale. Sinnsuche als Kitsch. In: Braungart 2002, S. 197–211. – Das Ende der Ironie (um 1800/um 2000). In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (2003), S. 18–39. Seibt, Gustav: Dunkel ist die Speise des Aristokraten. Das Jahr »1979« und der Zerfall der schönen Schuhe: Christian Kracht ist ein ästhetischer Fundamentalist. In: Süddeutsche Zeitung vom 12.10.2001. Serwe, Elke: Das literarische Terzett. In: Max vom 1.9.2000. Siegfried, Detlef: Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Göttingen 2006.

235

Siemons, Mark: Jenseits des Aktenkoffers. Vom Wesen des neuen Angestellten. München, Wien 1997. – Verwahrlosung. Kleine Ethnologie der Ratlosigkeit. In: Erniedrigung genießen. Kapitalismus und Depression III. Hg. v. Carl Hegemann. Berlin 2001, S. 9–36. Simmel, Georg [1903]: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Simmel: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susman hg. v. Michael Landmann. Stuttgart 1957, S. 227–242. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1983. Sontag, Susan [1964]: Anmerkungen zu ›Camp‹. In: Sontag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Hamburg 2004, S. 322–341. Spiegel, Hubert: Wir sehen uns mit Augen, die nicht die unseren sind. Der Blick auf die Oberfläche reicht nicht mehr: Aus Christians Krachts Roman »1979« spricht der Selbsthaß als Lebensgefühl des Westens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Literaturbeilage) vom 9.10.2001. Steiner, George: Real presences. Chicago 1989. Strauß, Botho [1997]: Die Fehler des Kopisten. München 1999. – Der Schlag. In: Der Spiegel vom 8.10.2001. – [1999]: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München, Wien 2004a. – Der Untenstehende auf Zehenspitzen. München, Wien 2004b. Stuckrad-Barre, Benjamin von: Soloalbum. Köln 1998. – Remix. Köln 1999. Teipel, Jürgen: Verschwende Deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave. Frankfurt a. M. 2001. Tenbruck, Friedrich H.: Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Opladen 1989. Terkessidis, Mark: Gezierte Kontaktaufnahme. Hoch im Kurs – Neue Freunde und Feinde der Massenkultur. In: der Freitag vom 28.4.2000. Theweleit, Klaus [2002]: Der Knall. 11. September, das Verschwinden der Realität und ein Kriegsmodell. Frankfurt a. M. 2003. Tooby, John/Leda Cosmides [2001]: Schönheit und mentale Fitness. Auf dem Weg zu einer evolutionären Ästhetik. In: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Hg. v. Uta Klein u. a. Paderborn 2006, S. 217–243. Uslar, Moritz von: Davos. In: Kracht 1999, S. 13–29. – 100 Fragen an … Köln 2004. – Waldstein oder der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005. Köln 2006. Vesper, Bernward [1977]: Die Reise. Romanessay. Ausgabe letzter Hand. Reinbek bei Hamburg 2003. Wallace, David Foster: E Unibus Pluram: Television and U.S. Fiction. In: Review of Contemporary Fiction 13 (1993), H. 2, S. 151–194. Warhol, Andy: The Philosophy of Andy Warhol. From A to B and back again. London, New York 1975. – /Pat Hackett: POPism. The Warhol ’60s. London, New York 1980. Warning, Rainer: Ironiesignale und ironische Solidarisierung. In: Das Komische. Hg. Wolfgang Preisedanz und Rainer Warning. München 1976, S. 416–423.

236

Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5. Bundesrepublik und DDR. 1949 – 1990. München 2008. Weidermann, Volker: »Danke Florian«. Goldene Zeiten für Literatur (IX): Auf der Suche nach der eigenen Biografie – der neue deutsche Leser schreibt im Internet. In: die tageszeitung vom 27.06.2000. Weinrich, Harald [1966]: Linguistik der Lüge. München 2000. Winkels, Hubert: [1997]: Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und neue Medien. Köln 1999. – Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995 bis 2005. Köln 2005. Zymner, Rüdiger: Uneigentlichkeit. Studien zu Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn u. a. 1991.

237

Namensregister

ABBA 54f., 57 Adenauer, Konrad 26 Adorno, Theodor W. 48, 55, 58, 78, 200 Albrecht, Tobias 197 Appen, Ralf von 147 Arimathea, Josef von 165 Baacke, Dieter 20 Ball, Hugo 27 Balzac, Honoré de 163 Banaski, Andreas 35, 55f., 193 Bangs, Lester 22 BAP 142 Bargeld, Blixa 96, 100 Bartels, Hans-Peter 179 Baßler, Moritz 2, 179 Baudelaire, Charles 163 Baudrillard, Jean 100f. Becker, Boris 80 Bell, Daniel 51 Berkeley, Busby 52, 173 Berlusconi, Silvio 122, 187 Bernhard, Thomas 48 Bernstein, F.W. 19 Bessing, Joachim 1, 86, 127–129, 142, 144f., 152–155, 157f., 163, 193, 197f., 220 Beuys, Josef 171 Biller, Maxim 203 Bismarck, Otto von 26 Blondie 45, 54f., 59, 162 Böckelmann, Frank 100f. Bolz, Norbert 95, 189, 221 Bon Jovi 210f. Booth, Wayne 7f. Bosch, Hieronymus 137 Bourdieu, Pierre 50 Bowie, David 43f., 62, 66, 113 Brandt, Willy 30, 68f., 91f., 182 Braunsteiner, Ewald (siehe Diederichsen, Detlef) Brecht, Bertolt 44f.

238

Brinkmann, Rolf Dieter 1, 85, 181 Bruckner, Anton 141f., 145 Buddha 167 Büsser, Martin 58, 124–126 Butler, Judith 129 Carstens, Karl 36 Cash, Johnny 209 ýechov, Anton Pavloviþ 158, 213 Chalayan, Hussein 193 Charley’s Girls 40, 53 Cher 210f. Cicero, Marcus Tullius 5 Clermont, Christoph 78f., 177f. Cohn, Dorrit 8 Cooper, Alice 66, 69 Dankwart, Ludwig-Sigurt 55 Delacroix, Eugène 163 Deleuze, Gilles 74 Derringer, Rick 65 Devo 54f., 58, 162 Diederichsen, Detlef 41 Diederichsen, Diedrich 1–3, 22f., 35– 49, 54f., 57–60, 62–65, 67–69, 71– 86, 88–90, 92–122, 125–127, 129, 135, 142, 154, 159, 164, 176f., 183f., 186, 188f., 193–196, 198–208, 215– 222 Dietrich, Marlene 194 Dix, Otto 144 Dorau, Andreas 53 Dostoevskij, Fëdor Michajloviþ 158 Dürrenmatt, Friedrich 208 Dutschke, Rudi 25, 30, 175 Eco, Umberto 153 Edwards, Blake 173 Eibl, Karl 5, 10 Einstürzende Neubauten 96, 100 Elliott, T. S. 51 Ellis, Bret Easton 139, 157, 208

Elsner, Frank 180 Erhard, Ludwig 20 Eurydike 160 Fehlfarben 40 Feldbusch, Verona 79f. Ferry, Bryan 66 Fichte, Hubert 85, 181, 203 Fiedler, Leslie 1 Flagstad, Kirsten 214 Foucault, Michel 74 Frank, Dirk 2, 126 Frank, Thomas 29 Freiwillige Selbstkontrolle 59 Frith, Simon 22 Fröbe, Gerd 208 Fuchs, Oliver 111f. Furtwängler, Wilhelm 214 Gallagher, Liam 146–148 Gallagher, Noel 146–148 Garbo, Greta 194 Garcia, Jerry 82 Gaus, Günther 174f. Genesis 53 Gernhardt, Robert 19 Glaser, Peter 2, 127 Goebel, Johannes 78f., 177f. Goethe, Johann Wolfgang von 78 Goetz, Rainald 37, 46–48, 56, 61, 64, 72, 79f., 83, 85–88, 102–107, 110, 119, 127, 129, 140, 142, 144, 181, 184, 200, 206, 214, 216, 218f. Goldt, Max 122 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 60 Gottschalk, Thomas 186 Grateful Dead 66f. Greiner, Ulrich 128 Gremliza, Hermann L. 60, 188 Guevara, Che 28 Habermas, Jürgen 31f., 221 Haferkamp, Hans 14 Haffa, Florian 174 Haffa, Thomas 174 Haircut 100 59, 69 Handke, Peter 42, 105 Hapgood, Hutchins 28 Harry 110 Harry, Debbie 45, 55 Heaven 17 59 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 31

Heidenreich, Elke 173 Hein, Peter 40f. Heino 57 Heitmann, Steffen 96, 97f., 100 Henscheid, Eckhard 19, 48 Hermann, Judith 178, 181 Herzog, Roman 73 Hielscher, Martin 128 Hilsberg, Alfred 35f. Hinz, Ralf 125f. Hitler, Adolf 26, 44, 144 Hobbes, Thomas 141 Hoffman, Abbie 28f. Holert, Tom 74, 97, 109f., 148 Horkheimer, Max 55 Horn, Guildo 76–80 Huntington, Samuel P. 162 Huxley, Aldous 175 Huysmans, Joris K. 49, 171 Ibn-al-Sabbah, Hasan 163 Ice Cube 114 Illies, Florian 1, 64, 126–128, 174–181, 183f., 186f., 189–191, 196f., 199, 204, 213, 219–222 Jagger, Mick 24, 54 Jefferson Airplane 33 Jesus Christus 165 John, Elton 209, 211, 214 Jones, Tom 57 Joplin, Janis 26 Joyce, James 51 Kafka, Franz 51 Kesey, Ken 25, 27–29, 58 Khomeini, Ajatolla 168 Kid P. (siehe Banaski, Andreas) Kirchhoff, Bodo 87 Kiss 66 Kohl, Helmut 91f., 96, 183 Koons, Jeff 181 Koppen, Erwin 49 Kracauer, Siegfried 120 Kracht, Christian 1f., 64, 112, 124–129, 133, 138, 140, 142–146, 149, 152f., 155–158, 161, 164, 168–173, 178– 181, 185, 190, 195–199, 201f., 204, 209, 213, 219f. Krahl, Hans-Jürgen 25 Kraus, Karl 48 Kreuzer, Helmut 28

239

Kurz, Robert 79 Lafontaine, Oskar 196f. Lang, Helmut 154f. Lange, Alexa Hennig von 198 Leary, Timothy 27 Leimbacher, Ed 33 Lennon, John 114 Liala 153 Link, Jürgen 16–18, 21, 66, 193 Lotman, Jurij 167 Lottmann, Joachim 2, 127 Louis Philippe I. 91 Lugowski, Clemens 167 Luhmann, Niklas 4, 20, 32, 46, 78, 87, 176, 197, 221 Luxemburg, Rosa 174 Lyotard, Jean-François 31–33 Madonna 79, 114, 156, 159, 207 Mailer, Norman 23, 27 Malcolm X 129 Mancini, Henry 173 Mann, Thomas 137, 213f. Marcus, Greil 22, 34 Marcuse, Herbert 29, 75 Martínez, Matías 8, 167 Marx, Karl 32 Massive Attack 153f. MC5 24 Meine, Klaus 152 Meinecke, Thomas 2, 35, 59, 61, 64, 76, 124, 126f., 216 Merkel, Angela 182 Merry Pranksters 27f. Miller, Mark Crispin 121 Mittagspause 40, 53 Morley, Paul 64 Müller, Wolfgang G. 5, 7 Müller-Westernhagen, Marius 151 Mussolini, Benito 187 Napoleon Bonaparte 91 Naters, Elke 198 Neumeister, Andreas 127 Nickel, Eckhard 1, 143f., 152 Nietzsche, Friedrich 156 Oasis 146–149, 206 Ödipus 7 Odysseus 93 Oehlen, Albert 80, 109

240

Oehlen, Markus 53 Ohlbaum, Isolde 124 Orpheus 160 Orwell, George 121, 170 Oswald, Georg M. 200 P. Orridge, Genesis 44 Paik, Nam June 172 Parsons, Tony 55 Paulus 167 Picasso, Pablo 51 Piwitt, Hermann Peter 48 Plessner, Helmuth 10f., 99 Politycki, Matthias 202 Pollock, Jackson 51 Poschardt, Ulf 92 Pound, Ezra 51 Propaganda 64 Pulp 140 Purdy, Jedediah 122 Quintilian, Marcus Fabius 5 Raab, Stefan 112, 201f., 204 Ramone, Johnny 59 Random, Jessica 26 Reed, Lou 66f., 114f. Reich, Wilhelm 164 Riesman, David 29 Rorty, Richard 11f., 117, 121, 217 Rosenberg, Marianne 55f., 63, 193f. Rossellini, Isabella 132, 137 Roxy Music 57f., 66f. S.Y.P.H. 41 Salinger, Jerome David 139 Salzinger, Helmut 22–25, 28–30, 59, 102 Sanders, Ed 25 Schah Pahlavi, Reza 164, 168, 172, 190 Schamoni, Rocko (siehe Albrecht, Tobias) Scheel, Walter 190 Scheffel, Michael 8 Schenker, Rudolf 152 Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich von 3f., 8–10 Schleyer, Hanns Martin 91 Schmid, Wolf 158, 167, 220 Schmidt, Christopher 122 Schmidt, Harald 87, 112, 125, 185–189, 204

Schmidt, Helmut 68f., 91f. Schneider, Helge 79 Schönburg, Alexander von 1, 128, 140, 142, 145, 152, 155–160, 199, 203, 220 Schröder, Gerhard 92, 182 Schulze, Gerhard 60, 217 Schulze, Ingo 142f. Schumacher, Eckhard 2f., 155, 205 Scorpions 152, 192f. Siegfried, Detlef 20 Siemons, Mark 74f., 120 Simmel, Georg 62 Sinclair, John 25 Siouxsie and the Banshees 42 Sloterdijk, Peter 97 Solanas, Valerie 26 Sontag, Susan 50–52, 76, 122, 131, 176 Springsteen, Bruce 43 Steiner, George 81–83 Stevens, Cat 156 Strauß, Botho 72f., 81–88, 98, 99, 102, 105–108, 120, 132, 207, 218f., 220 Stuckrad-Barre, Benjamin von 1, 64, 124–127, 129, 143f., 146f., 149, 152, 160f., 175, 180, 184–186, 188f., 191, 193–202, 205f., 213, 219f. Suthaus, Ludwig 214 Talking Heads 36, 59, 64 Tarantino, Quentin 157 Teipel, Jürgen 111 Terkessidis, Mark 74, 109f., 180 Teufel, Fritz 25 The Beatles 20, 24, 147 The Byrds 29 The Cardigans 158 The Doors 39, 66f.

The Fugs 24f. The Rolling Stones 24, 26, 147 The Velvet Underground 66, 115 The Who 147 Theweleit, Klaus 100 Throbbing Gristle 45, 164 Tito, Josip Broz 89 Tolstoj, Lev Nikolaeviþ 158 Ton Steine Scherben 24, 39 Tristan 211 Uslar, Moritz von 202, 205f., 209f., 213f., 220 Van Morrison 209f. Vesper, Bernward 21, 85, 181 Vogelweide, Walther von der 138 Wagner, Richard 210, 214 Wallace, David Foster 121f., 142 Walser, Martin 186 Warhol, Andy 27, 36, 62, 79f., 211 Watzlawick, Paul 187 Wehler, Hans-Ulrich 14–16 Wenders, Wim 136 Wilde, Oscar 49 Winkels, Hubert 2, 84, 87, 146 Winter, Johnny 65 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 32 Wolfe, Tom 27f., 122 Yes 53 Zahl, Peter-Paul 26 Zappa, Frank 23, 35 Zimmermann, Eduard 195 Zlatko 79f., 110

241