Nach der Ironie: David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität [1. Aufl.] 9783839421178

Ist es möglich, im Zeitalter der unendlichen Ironie authentische Kunst zu schaffen oder ein sich originell anfühlendes L

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German Pages 242 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Prolog
Einleitend
ERSTER TEIL
Erstens: Ein lachender Kafka
Zweitens: Kafka’sche Soap
Drittens: Fogle als Existentialist
Viertens: Der postmoderne Jesuit
Fünftens: Fogle folgend
Sechstens: Drinion und Meredith
Sechstenseinhalb: Konstruktionen
Siebtens: Meredith und Drinion
Achtens: Auf der Rennbahn
Neuntens: Schokoriegel und Pferde
ZWEITER TEIL
Zehntens: Get Out
Elftens: Von Systemen
Zwölftens: Buch zum Film
Dreizehntens: Letzte Ausfahrt Lynch
Vierzehntens: Die vierte Perspektive
Fünfzehntens: Fremdschämend
Sechzehntens: Vom Maler, der seiner Inspiration vertraute
DRITTER TEIL
Siebzehntens: Expressionismus hoch zwei
Achtzehntens: Das Authentische
Neunzehntens: Country and Western
Zwanzigstens: Verwandlungen
Abschließend
Epilog
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Nach der Ironie: David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität [1. Aufl.]
 9783839421178

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Roman Halfmann Nach der Ironie

Lettre

Roman Halfmann (Dr. phil.) lehrt Literaturwissenschaft an der Peking Universität. Seine Forschungsschwerpunkte sind Einflussforschung, Intertextualität und die Phänomenologie der Originalität.

Roman Halfmann

Nach der Ironie David Foster Wallace, Franz Kafka und der Kampf um Authentizität

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Roman Halfmann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2117-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Prolog | 7 Einleitend | 9

E RSTER T EIL Erstens: Ein lachender Kafka | 19 Zweitens: Kafka’sche Soap | 29 Drittens: Fogle als Existentialist | 35 Viertens: Der postmoderne Jesuit | 43 Fünftens: Fogle folgend | 53 Sechstens: Drinion und Meredith | 67 Sechstenseinhalb: Konstruktionen | 71 Siebtens: Meredith und Drinion | 83 Achtens: Auf der Rennbahn | 91 Neuntens: Schokoriegel und Pferde | 99

Z WEITER T EIL Zehntens: Get Out | 109 Elftens: Von Systemen | 119 Zwölftens: Buch zum Film | 125 Dreizehntens: Letzte Ausfahrt Lynch | 137 Vierzehntens: Die vierte Perspektive | 143 Fünfzehntens: Fremdschämend | 155 Sechzehntens: Vom Maler, der seiner Inspiration vertraute | 167

D RITTER T EIL Siebzehntens: Expressionismus hoch zwei | 181 Achtzehntens: Das Authentische | 195 Neunzehntens: Country and Western | 203 Zwanzigstens: Verwandlungen | 209

Abschließend | 217 Epilog | 227 Siglenverzeichnis | 231 Literaturverzeichnis | 233

Prolog

Beide sind sie nervös. Der eine steht an der schmalen Tür des Saales im Jüdischen Rathaus zu Prag, einmal mehr das Schicksal bedenkend, das ihn hierher trieb, insgeheim Ausflüchte ersinnend, Phantasien vom Weggehen – ja, er sieht sich schon die Blicke der Freunde, Maxens und Jizchaks vor allem, ignorierend, Hände, Worte, Gesten, das Manuskript der am Abend zuvor dann doch in äußerster Ruhe aufgesetzten Rede achtlos fortwerfend und dabei in Richtung Wohnung schlendernd, Vater wissend, Mutter ahnend, Schwester schon verzeihend, sich ins Bett legend schon den Tagebucheintrag bedenkend, der all dies als Scheitern feststellen und ihn damit entlasten würde. Doch er bleibt. Wie ja auch der andere seine Position an der Tür zum Saal hin nicht verlässt, wohl aber von Zigaretten träumt, von drei Zigaretten gleich hintereinander bis hin zu Übelkeit und Schwindel, vom mit süßesten Bonbons verstopften Mund, der Selbstaufgabe in frontaler Haltung vor dem Fernseher, embryonaler werdend; die Entspannung allein angesichts des Denkens über die Möglichkeit der endgültigen Selbstaufgabe, des Eingeständnisses, hier und jetzt die Entscheidung getroffen und also aufgegeben zu haben – indes die klebrige Süße der Bonbons aus den Mundwinkeln suppt, der Kopf indes völlig leer ist oder allmählich leer wird, die verkrampften Hände sich derweil gemächlich öffnend, widerwillig zuerst, später dann bereitwillig. Doch auch er bleibt. Und so betreten beide Männer scheinbar ungerührt die jeweiligen Bühnen, die Reden in altmodisch anmutender Geste vor sich haltend und, sich sehr ähnlich jetzt, die Münder schon geöffnet. Doch könnten zwei Menschen unterschiedlicher nicht sein: Franz Kafka und David Foster Wallace, Autoren aus verschiedenen Welten, historisch,

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kulturell, selbst menschlich. Einer 1883 in die Monarchie hineingeboren, die unter seiner Zeugenschaft zerbrechen wird, unter den Umständen eines nie für möglich gehaltenen Weltkrieges. Zudem als Jude immer heftigeren Anfeindungen ausgesetzt, führt er verbeamtet eine recht unscheinbare Existenz, die geringe literarische Anerkennung eher genießend, wie auch seine Familie hassliebend. Privat vollzieht er die Lust am Asketischen, durchleidet intime, pervers anmutende Seelenzustände, gibt sich aber in der Öffentlichkeit stets harmlos, nett und anständig. – Nun, wir kennen unseren Kafka. Knapp 80 Jahre später wird der andere in völlig andere Umstände hineingeboren: Sein Land, Amerika, garantiert trotz Vietnamkrieg und schwelender innerer Konflikte ein sorgloses Aufwachsen, indes der junge Wallace als hochintelligenter Schüler und überaus talentierter Tennisspieler umfassend gefördert und unterstützt wird. Später wendet er sich dann der Philosophie zu und erarbeitet aus einer kritischen These über Ludwig Wittgenstein seinen ersten Roman, der ein respektabler Erfolg wird. Einige Jahre danach veröffentlicht er ein sagenhaft umfangreiches, zutiefst komplex anmutendes Buch, welches zum Symbol einer Generation avanciert und dem Autor den zweifelhaften Ruf eines Genies einbringt – eines sehr oft Fuck kundtuenden Genies mit Kopftuch wohlgemerkt. Auch die schriftstellerischen Arbeiten finden in anderen Universen statt, ohne irgendeine Verbindung: Geht es dem einen um die Darstellung von Schuld, der Frage nach dem wahren Leben und daran anzulegendem Strafmaß, manchmal religiös aufgeladen oder zumindest mythisch dargestellt, zumeist aber als behördliche, geradezu technische Struktur in nüchternen Worten, so beschreibt der andere eine Welt der Medien, Drogen und des Konsums. Werden bei Kafka die Protagonisten von einer unheimlichen und undurchdringlichen Behörde hingerichtet, sterben bei Wallace die Menschen wegen eines Films, der so unterhaltend ist, dass man sich vergisst und verhungert. Bedenkt man all dies, so scheint es einmal mehr einleuchtend, dass auch die beiden Vorträge – Kafka sprach 1912 über das Jiddische, Wallace im Jahre 2005 über das Leben – kaum zu vergleichen sind. Nun, wir werden sehen.

Einleitend

Schon im Vorfeld der Veröffentlichung des postum herausgegebenen und notgedrungen fragmentarisch gebliebenen Romans The Pale King konnte man1 hellhörig werden, hieß es doch, der 2008 per Selbstmord aus dem Leben geschiedene David Foster Wallace habe mit diesem, seinem letzten Roman angestrebt, Finanzbehörden zu fiktionalisieren und zugleich die damit inhaltlich und konzeptionell einhergehende Langeweile zu literarisieren; dies im bewussten Gegensatz zur ausufernden und wenigstens größenwahnsinnigen Phänomenologie des Spaßes unserer Zeit, sprich: des Infinite Jest. – Und als das neue Werk dann schließlich auf dem Markt und zu etwa einem Sechstel gelesen war, bestätigte sich jener vage vorhandene Verdacht sozusagen schlagartig; doch lesen wir zuerst das solcherart aufrüttelnde Kapitel in voller Länge, es ist das zehnte: Notwithstanding Justice H. Harold Mealer’s famous characterization, included in the Fourth Appellate Circuit’s majority opinion on Atkinson et al. v. The United States, of a government bureaucracy as ‚the only known parasite larger than the organism on which it subsists,‘ the truth is that such a bureaucracy is really much more a parallel world, both connected to and independent of this one, operating under its own physics and imperatives of cause. One might envision a large and intricately branching system of jointed rods, pulleys, gears, and levers radiating out from a central operator such that tiny movements of that operator’s finger are transmitted through that system to become the gross kinetic changes in the rods at the periphery. It is at this periphery that the bureaucracy’s world acts upon this one.

1

Wenn man sich für Wallace, Kafka und eventuell der theoretischen Darlegung von Originalität interessiert zumindest.

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The crucial part of the analogy is that the elaborate system’s operator is not himself uncaused. The bureaucracy is not a closed system; it is this that makes it a world instead of a thing. (PK, 86)2

Kafka! Immerhin ist hier die Rede von einem mächtigen System, der amerikanischen Finanzbehörde, welches als autopoietisch in einem Sub- oder gar Metaraum vorliegt, weshalb die Selbstbezüglichkeit zum bestimmenden Merkmal wird. Demgegenüber bleibt der Kontakt zur Realität3 auch für dieses System erforderlich, weshalb es nicht als vollkommen autark definiert werden kann, werden doch Dateneingaben von Außen benötigt. Ein solcher Systemgedanke im Sinne auch des autoritären Potentials, denn dass die Steuerbehörde tatsächlich eine undurchdringliche, scheinbar völlig abgehoben vom realen Geschehen agierende Autorität ist, dies muss hier nicht näher dargelegt werden, gemahnt selbstverständlich an Kafka. So hat Franz Kafka zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht allein eine vielschichtige Phänomenologie der Autorität vorgelegt, eindringlich wie selten und vor allem so komplex wie sicherlich noch niemals zuvor. Er hat, wie es Benno Wagner beschreibt, sozusagen nebenbei das Sozialsystem Österreichs, welches in dieser Zeit sich zu etablieren begann, in Form von Unfall-Metaphern beschrieben und damit literarisiert.4 Wenn David Foster Wallace nun die amerikanische Steuerbehörde als ein solches System zu Beginn des neuen Jahrhunderts thematisiert, dann kann man tatsächlich von einer inhaltlichen Aufnahme Kafka’scher Implikationen ausgehen.

2

Alle Hervorhebungen innerhalb der Zitate sind im Original.

3

Dass Wallace diesen Begriff nicht mit einer Fußnote problematisiert und also in die dringend notwendige Ambivalenz überführt, kann zwei Gründe haben: Zuerst einmal sieht er eventuell keine Notwendigkeit mehr dazu, immerhin sind seine Fußnoten schon längst zum Klischee geworden und damit parodistisches Material (wir werden hierauf noch eingehen) – man erwartet also diese Fußnote, weshalb er aus Gründen der eigenen Würde und auch der vollbrachten Vorarbeit darauf verzichten kann. Der zweite Grund kann weitaus profaner im unabgeschlossenen Charakter des Werkes gesucht werden: So hat Wallace vielleicht eine solche Fußnote vorgehabt, doch kam der Selbstmord dazwischen.

4

Siehe Wagner, Benno: Kafkas Poetik des Unfalls. S. 421-454. Und besonders: Ders.: ‚Die Majuskel-Schrift unseres Erden-Daseins‘. S. 327-363.

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Überhaupt ist die Idee, nämlich einen Roman der Langeweile zu schreiben, schon nichts weniger als ein heroischer, an Kafkas Prosawerke erinnernder Akt: Denken wir etwa an den Proceß oder an Das Schloß, so geht es in diesen Romanen ja auch darum, Untätigkeit zu ertragen. Josef K., der Verurteilte, kann die angeordnete Untätigkeit, die das Gericht ihm ja immer wieder anempfiehlt, nicht hinnehmen und gerät daraufhin in einen sinnlosen Aktionismus, der zwar die Handlung vorantreibt und im Grunde erst ermöglicht, dessen Sinnlosigkeit aber von den Vertretern des Gerichtes stets benannt wird. Auch im Schloß agiert allein K., die anderen Protagonisten und Vertreter des Dorfes sowie des Systems leben in einer Art Stasis, die durchaus mit dem Begriffsfeld der Langeweile beschrieben werden kann. Letztlich wird in beider Schreiben, also bei Wallace und Kafka, die Langeweile als Zustand und auch als existentielles Problem sichtbar: Es geschieht eben nichts. Wallace hebt die Langeweile vom Spaß ab, einem Spaß, der im Denken des Amerikaners oder überhaupt des Vertreters westlicher Kulturen immer wieder mit Unterhaltung im Sinne von Entertainment in Verbindung gebracht wird – und mit Schuld: Es ist hochinteressant, wenn Wallace in seiner Beschreibung des eigenen Fernsehverhaltens geradezu manisch auf das Faktum des Selbstbetrugs verweist und damit den Spaß mit Schuld auflädt, im neuen Roman daher eventuell einen Daseinszustand beschreibt, der das Individuum schuldlos, aber gelangweilt belässt. Auch Josef K. wird kurz vor seiner Hinrichtung und dem Ende des Prozesses feststellen, stets „mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren“5 zu wollen, wie seine Schuld auch als Lebenslüge und einer Ablenkung vom Wesentlichen deutbar ist6. Soviel haben wir bisher immerhin: Schuld, Systeme, Macht – all dies sind eng mit Kafka verknüpfte Vokabeln, geradezu Kafka’sche Termini,

5

Kafka, Franz: Der Proceß, S. 308.

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Wohlgemerkt nicht deutbar sein muss, aber es existieren im Proceß durchaus sehr markante Reflexionen über einen Daseinszustand, der nicht lebenswert und deshalb schuldhaft ist, nämlich dem Zustand des falschen Lebens entspricht, welcher bei Kafka immer wieder im Zusammenhang mit Ablenkungen vom Wesentlichen vorkommt – tatsächlich entspricht dies einer Deutung, die bei und mit Max Brod beginnt und somit den geradezu klassischen Interpretationsweg aufnimmt, siehe hierzu: Engel, Manfred: Der Process, S. 200.

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die nun im Roman The Pale King vorkommen und so durchaus gewisse Parallelen zu Kafka andeuten. Oder etwa nicht? Letztlich sind jene Begriffe und damit verbundenen Fragestellungen allgemeiner Natur und Wallace also nicht zwangsläufig von Kafka beeinflusst, nur weil er von Macht und Langeweile schreibt. Und nähme Wallace hier Kafka’sches Gedankengut auf, wäre dies wenig überraschend, immerhin gehört Kafka nicht allein zum literarischen Kanon, sondern ist Allgemeingut geworden; dies ist nicht nur (hoch)kulturell zu verstehen, sondern im Sinne populärkultureller Kontexte: Kafka ist Pop, somit dankbarer Bezugsrahmen intertextueller Spielchen. Tatsächlich findet sich in Wallaces Romanerstling The Broom of the System ein so zu verstehendes Zitat, in welchem die ausufernde Mutation des Kafka-Klischees persifliert wird: As Greg Sampson awoke one morning from uneasy dreams, he discovered that he had been transformed into a rock star. He gazed down at his red, as it were leatherclad, chest, the top of which was sprinkled with sequins and covered with a Fender guitar strapped tightly across his leather shoulders. It was no dream. (BS, 348)

Doch dies ist eher intellektuelle Spielerei mit fraglos kritischer, aber selbst schon zum Klischee gewordener Note und für uns daher ohne weiteren Belang7. Schließlich stellt sich angesichts eines denkbaren intertextuellen Anschlusses stets die Frage, ob die Intertextualität überhaupt relevant ist: Nutzt es etwas, wenn wir postulieren, Wallace operiere beim Verfassen seines Romans vom Pale King mit Kafka’schen Anschlüssen? Oder neh-

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Interessanterweise schätzt Wallace seinen Erstling insgesamt so ein, erklärt nämlich: „I was like twenty-two when I wrote the first draft of that thing. And I mean a young twenty-two.“ (McCaffery, Larry: An Interview, S. 136.) – Natürlich können derartige intertextuelle Markierung als Spiele mit dem Bezug reizvolle Folgen nach sich ziehen, doch geht es vor allem darum, spielerisch, und sicher auch bildungsbeflissen, im intellektuellen Hinweis auf die Klassiker eine Art von Witz im Text zu etablieren, wobei das Wort Witz hier noch im Sinne von gewitzt gebraucht wird, nämlich als intelligente und verspielte Art des Humors. – Träger der Haltung ist zumeist die einfache Allusion, die aber folgenlos bleibt.

E INLEITEND | 13

men wir wiederum allein an einem literaturwissenschaftlichen Spiel teil, welches für Tagungen und vielleicht noch zum Drucke taugt, aber kaum weiterführt: Betreten wir demnach mit dieser Frage nach einer eventuellen Beziehung zwischen Kafka und Wallace allein das Selbstbespiegelungskabinett literaturwissenschaftlicher Arbeitsbeschaffung – vergleichbar mit dem oben dargelegten System der Steuerbehörde, nur weitaus sinnloser, da überhaupt kein Anschluss mehr an die Realität gegeben ist? – Wir werden in dieser Schrift zeigen, dass Wallace mit seinem Bezug zu Kafka weitaus grundlegender vorgeht, als es selbst durch eine direkte intertextuelle Markierung im Sinne eines bloßen Aufgreifens von Topoi oder Sujets zu erreicht wäre: Kafka, so die These, spielt in Wallaces Denken eine weitaus bedeutendere Rolle. Tatsächlich ist David Foster Wallace in der bisherigen Forschung so gut wie ausschließlich in der amerikanischen Literaturtradition verortet worden8, gleichwohl er selbst in seinen Essays derartige Beschreibungsversuche nicht gerade herausfordert: Der Artikel Joseph Frank’s Dostoevsky aus dem Jahr 1996 etwa beschäftigt sich mit der damals vierbändigen und entsprechend ambitionierten Dostojewskij-Darstellung des Literaturwissenschaftlers Frank; unter anderem vermerkt Wallace in diesem Zusammenhang: Upon his finishing Frank’s books, though, I think that any serious American reader/writer will find himself driven to think hard about what exactly it is that makes many of the novelists of our own place and time look so thematically shallow and lightweight, so morally impoverished, in comparison to Gogol or Dostoevsky (or even to lesser lights like Lermontov and Turgenev). Frank’s bio prompts us to ask ourselves why we seem to require of our art an ironic distance from deep convictions or desperate questions, so that contemporary writers have to either make jokes of them or else try to work them in under cover of some formal trick like intertextual quotation or incongruous juxtaposition, sticking the really urgent stuff inside asterisks as part of some multivalent defamiliarization-flourish or some such shit. (CL, 271)

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„The majority of published critical and academic writing to date has concentrated on Wallace’s position in relation to irony and postmodernism, and his status as a ‚post-modern‘ author.“ (Hering, David: Preface, S. 6.)

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Man sollte dies als ausdrückliche Antithese zur postmodernen Situation lesen. In einem Interviewband, der aufgrund seiner Herausgeberschaft sicherlich mit Vorsicht zu genießen ist9, erläutert Wallace nochmals seine Affinität zur realistischen Schreibweise, die er an der experimentellen Prosa reflektiert und zu bevorzugen scheint: Yeah. That whatever the project of surrealism is works way better if 99.9 percent of it is absolutely real. And that you can’t just – you know. And that’s something ... I wouldn’t even be able to put it that clearly if I didn’t teach. Where I see my students, you know – ‚not enough of this is real, you know?‘ ‚But it’s supposed to be surreal.‘ ,Yeah, but you don’t get it.‘ Surrealism doesn’t work. I mean, most of the word surrealism is realism, you know? It’s extra-realism, it’s something on top of realism.10

Es geht Wallace nicht allein um den Realismus, sondern auch und insbesondere um die Möglichkeit eines Beschreibens der Wahrheit, wie immer diese auch geartet sei; Dostojewskij jedenfalls habe, so Wallace, die wahren und somit einzig relevanten Themen behandelt: The thrust here is that Dostoevsky wrote fiction about the stuff that’s really important. He wrote fiction about identity, moral value, death, will, sexual vs. spiritual love, greed, freedom, obsession, reason, faith, suicide. And he did it without ever reducing his characters to mouthpieces or his books to tracts. His concern was always what it is to be a human being – that is, how to be an actual person, someone

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Es ist der arg persönliche Zugang, der den Forscher vorsichtig werden lässt: Lipsky beschreibt seine Interview-Reise mit Wallace sehr empathisch und ein klein wenig zu pointiert; es wird viel gedeutet und die Fragen sind stellenweise wenig sinnvoll, da Lipsky sich als ebenbürtig erweisen möchte und überhaupt sehr viel über seine Situation angesichts eines Gesprächs mit Wallace reflektiert: Diese Tage mit Wallace dürften für Lipsky sicherlich bedeutend gewesen sein, doch wirken diese wenig erhellenden Reflexionen auf den Leser mit der Zeit enervierend und schmälern den Wahrheitsgehalt empfindlich. Ein wenig erinnert diese Situation an Kafka, nämlich an den Gesprächsband von Gustav Janouch, als Gespräche mit Kafka 1951 veröffentlicht und aufgrund des persönlichen Zugangs kaum für wissenschaftliche Zwecke zu nutzen.

10 Lipsky, David: Although, S. 175.

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whose life is informed by values and principles, instead of just an especially shrewd kind of self-preserving animal. (CL, 265)

Menschlich gehe es demnach bei Dostojewskij zu – und nicht nur bei den Russen, denn wir werden noch sehen, dass Wallace auch und vor allem Franz Kafkas Werk in diesen Kontext einordnet und damit von der Gegenwart als Ideal absetzt – denn heutzutage, so Wallace in dem DostojewskijAufsatz weiter, könne ein Autor nicht mehr auf eine solche Weise schreiben, dies sei geradezu undenkbar, denn: Can you imagine any of our own major novelists allowing a character to say stuff like this (not, mind you, just as hypocritical bombast so that some ironic hero can stick a pin in it, but as part of a ten-page monologue by somebody trying to decide whether to commit suicide)? The reason you can’t is the reason he wouldn’t: such a novelist would be, by our lights, pretentious and overwrought and silly. The straight presentation of such a speech in a Serious Novel today would provoke not outrage or invective, but worse – one raised eyebrow and a very cool smile. Maybe, if the novelist was really major, a dry bit of mockery in The New Yorker. The novelist would be (and this is our own age’s truest vision of hell) laughed out of town. (CL, 273)

Obgleich es undenkbar scheine, heutzutage und demnach unter dem Schatten der Postmoderne so zu schreiben wie etwa Dostojewskij, sollten die Autoren es dennoch versuchen: „How – for a writer today, even a talented writer today – to get up the guts to even try? There are no formulas or guarantees. There are, however, models.“ (CL, 274) Bezug der Gegenwartsliteratur Amerikas sollen daher Schriftsteller wie Dostojewskij oder Kafka sein, die literarische Moderne demzufolge. So experimentell und postmodern Wallace auch wirkt, kann er durchaus in der Moderne und damit mittelbar in der Zeit Kafkas verortet werden. So ist sein Werk folgerichtig auch mit den herkömmlichen Techniken der Literaturwissenschaft zu beschreiben; soll heißen, die von beispielsweise Greg Carlisle ernsthaft vertretende These, nach welcher Wallace „is shifting the way we think about reading and writing fiction so much that we don’t know how to talk about it yet“11, kann getrost belächelt und dann vergessen

11 Carlisle, Greg: Introduction, S. 17.

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werden; wie auch die These, Wallaces innovative Kraft, ja, „the essence of Wallace’s innovation“, bestehe in einer Haltung, die man als „meta-ironic“ bezeichnen könnte12: Wallace selbst deutet sich durchaus in gewissen Traditionen beheimatet, Traditionen, die mit Kafka entweder ihren Anfang nehmen oder diesen durchdringen. Dostojewskij und, wie wir sehen werden, Kafka sind in diesem Verständnis literarische Vorbilder, wobei Wallace sich bewusst ist, dass diese Autoren nicht einfach wiederholt werden können, immerhin ist die Moderne vorbei und die Postmoderne eine Tatsache, die sich nicht wegdiskutieren lässt: Die beiden Autoren sind ihm eher Inspiration und Anleitung auf dem steinigen Weg zur originären Selbstfindung und kulturellen Neudefinition, wobei nicht nur die Postmoderne bewältigt und sich ihr übersteigernd entledigt werden muss, letztlich geht es Wallace um eine völlige und umfassende Neuschöpfung – ganz im Sinne eines Kafka. Höhepunkt dieser zumindest riskanten literarischen Neuausrichtung ist, wie wir zeigen werden, der postume Roman The Pale King, der tatsächlich nicht allein vollkommen neuartige inhaltliche Sujets zu etablieren sucht, sondern auch poetologisch Originäres andeutet – stets unter Bezugnahme auf Kafka, so unsere These. Mit The Pale King, so wird im folgenden eruiert, endet eine ans Manische grenzende Suche nach dem Originellen in einer kulturellen Situation, die von Wallace als zutiefst und notwendig originalitätsfeindlich gedeutet wird, eine Suche, die in einem ironischen und damit postmodernen Zusammenhang als einerseits gescheitert und gleichwohl aufgrund des Scheiterns als Erfolg gedeutet werden kann.

12 Boswell, Marshall: Understanding David Foster Wallace, S. 15f. Die MetaIronie ist in der Tat ein Begriff, der jeden vertretbaren Rahmen sprengt.

Erster Teil

Erstens: Ein lachender Kafka

„Underqualified“ sei er, so hebt die Rede Laughing with Kafka1 recht bescheiden an, eine Einschätzung, die sich im Verlauf jedoch als ungerechtfertigt herausstellen wird, denn tatsächlich ist Wallaces Verständnis der Kafka’schen Prosa umfassend und äußerst subtil, erweist sich zudem als interkulturell fundiert – 1998 gehalten, ist jene Interkulturalität noch frisch und wird hier im besten Sinn praktiziert, nämlich als Versuch der Beschreibung einer Kultur unter Abgleich anderer kultureller Ausrichtungen und Vorstellungen. Und so konzentriert Wallace sich auf seine Erfahrungen der Kafka-Lektüre mit amerikanischen Studenten, wobei zwei große Verständnisprobleme abgegrenzt werden, beiderseits an dem reflektiert, was er als Kafkas Humor definiert. Der Witz in Kafkas Werk ist ihm maßgebliches Merkmal von Kurzgeschichten, die vor allem auf der Kunst der „compression“ (LK, 23) beruhen, einem Terminus, den er mit dem Schlagwort der „exformation“ (ebd.) zu erklären sucht, womit ein Fass geöffnet wird, welches gewisse Abteilungen der Kafka-Forschung eine gesamte Tagung lang beschäftigen könnte. Wir kürzen dies hier ab, möchten ja auf den Kern der Bezugnahme stoßen, wozu aber natürlich auch die Deutung der Kafka’schen Prosa gehört,

1

Diese Rede hielt Wallace im März 1998 anlässlich eines Kafka-Symposiums, in welchem eine Neuübersetzung des Schloß-Romans ins Amerikanische thematisiert wurde; diese Rede wurde in der Juli-Ausgabe des Harper’s Magazine im Jahre 1998 abgedruckt und schließlich in den Essay-Band Consider the Lobster unter dem Titel Some Remarks on Kafka’s Funniness from Which Probably Not Enough Has Been Removed aufgenommen. Wir zitieren aus dem Harper’s Magazine.

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die in diesem Fall nicht umfassend gemeint ist; sein Zugang ist vertrackter, stellt nämlich die Frage, was Studenten und also Literaturinteressierte2 an praktikablen Einsichten aus Kafkas Werken beziehen können – man kann durchaus sagen, dass dies ein ökonomischer Zugang zur Literatur ist: In den Creative-Writing-Kursen lesen die Studenten ja letztlich auch zu dem Zweck, die Spreu vom Weizen zu trennen – also wirksame Literatur gegen gescheiterte zu setzen; geleitet sind derartige Kurse also von einem evolutionär fundierten Verständnis: Gelesen werden die Werke allein aufgrund ihres Erfolgs oder Misserfolgs, studiert werden sie dann auch als potentielle Kandidaten zur mimetischen Wissensbereicherung – die Studenten kopieren gelungene Mittel, Stoffe und Sujets. All dies sollte als Basis des Essays einbezogen und mitbedacht werden – auch die anfangs von Wallace erwähnte Angabe, Kafka eben nicht mehr in diesen Kursen anzubieten, deren Begründung wir nun näher darstellen und im Anschluss problematisieren werden. Kafkas Humor, so Wallace, sei eine Form der Exformation, wobei er sich bei diesem Terminus auf die Kommunikationswissenschaften bezieht, sicherlich auf Tor Nørretranders und dessen in diesem Jahr, also 1998, auf dem amerikanischen Markt erschienener Darstellung The User Illusion.3 Wallace seinerseits definiert den Begriff als notwendige kommunikative Begleitinformation, „which is a certain quantity of vital information removed from but evoked by a communication in such a way as to cause a kind of explosion of associative connections within the recipient.“ (LK, 23) Der Leser einer gelingenden Kurzgeschichte wie eines glückenden, da zündenden Witzes, die Wallace in Wirkung und grundlegendem Aufbau gleichsetzt, erschafft während der Rezeption Assoziationen, welche beide Medien nicht explizit beinhalten, sondern sozusagen nebenher wachrufen –

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So leitete Wallace Creative-Writing-Kurse, eine in Amerika übliche Art von Seminar, die aber in Europa noch relativ unüblich ist, ja, ein wenig verunglimpft wird – weshalb man daher als europäischer Leser seinerseits interkulturelles Geschick anwenden sollte.

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Dies ist in Hinsicht unserer später zu etablierenden Originalitätsdarlegung bemerkenswert, denn Wallace wird sich in der Folge als ausgesprochen theorielastiger Autor entpuppen, als Denker demnach, der sich sehr umfassend an Theorien orientiert und seine Leistungen sehr prägnant anhand von Vorleistungen einzuordnen versucht.

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diese Assoziationen stauen sich in gut gemachten Beispielen bis hin zur Pointe und werden schlagartig entladen. Letztlich ist dies eine herkömmliche Humordefinition, gekoppelt mit dem modern anmutenden Begriff der Exformation, der aber im Grunde ebenfalls längst bekannte Kommunikationssituationen zu erklären sucht; was Wallace aber vor allem interessiert, ist die Unfähigkeit der amerikanischen Studenten, hier eine Verknüpfung zum Kafka’schen Elaborat auf eine Weise zu erreichen, die ein Etablieren der exformativen Assoziationen ermöglicht – wir werden noch sehen, warum dies den Studenten nicht mehr möglich sein soll, da Wallace sich nun erst einmal auf die Situation des Dozenten konzentriert. Regelrecht sinnlos wird die Kafka-Lektüre ja in dieser Lehr-LernSituation, weil eine solche Verknüpfung oder besser: metakommunikative Beziehung vom Dozenten nicht künstlich hergeleitet werden kann; wie man einen guten Witz im Grunde niemals erklären kann, da in der Erklärung das explosive Moment fehlt und die Assoziationsreihungen nicht im Individuum selbst entstanden sind, sondern von Außen zugeführt werden, was der eigentlichen Definition der Exformationen und auch das altbekannten Witzes widerspricht. Kafka kann in seiner umfassenden Wirkung demnach nicht erklärt werden, wie ja auch das umfassende Verständnis eines gutes Witzes mit einem gewissen Humorverständnis zu tun hat, einer charakterlichen Anlage sozusagen oder, um einen heutzutage im Bildungsbetrieb unbequemen Ausdruck heranzuziehen, der Begabung. Wallace erläutert dies folgendermaßen: This is a lot like the teacher’s feeling at running a Kafka story through the gears of your standard undergrad-course literary analysis – plot to chart, symbols to decode, etc. Kafka, of course, would be in a unique position to appreciate the irony of submitting his short stories to this kind of high-efficiency critical machine, the literary equivalent of tearing the petals off and grinding them up and running the goo through a spectrometer to explain why a rose smells so pretty. (LK, 23)

Kafka, soviel ist bisher klar, kann also nicht erklärt werden, weshalb Wallace ihn auch aus dem Curriculum geworfen hat. Doch ist da noch das Problem der fehlenden Befähigung seiner Studenten zur Setzung einer exformativen Beziehung zum Text – es ist hierbei bezeichnend, dass Wallace es sich nicht so einfach macht und seinen Schülern etwa fehlende Bega-

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bung attestiert oder allgemein den Verfall der Bildungssysteme bemüht. Bezeichnend ist dies, da Wallace hier als Vertreter seiner Zeit argumentiert: Hatte man in den Jahrzehnten zuvor noch eine gewisse elitäre Haltung einhalten und also Studenten in begabte und weniger begabte einteilen können, so ist dies mit der Generation Wallaces beendet; als Kinder der 68erGeneration sind derartige Niveauebenen obsolet. Dies ist der eine Grund für die folgenden Überlegungen, aber nur ein marginaler, denn tatsächlich geht es Wallace in den nun folgenden Ausführungen um weitaus mehr4: Von zwei Seiten umkreist Wallace nun die Leere zwischen Kafka und Student. Zuerst Kafka. Der als ausdrückliche Besonderheit die Befähigung habe, ohne jeden Einfluss zu schreiben oder besser: dessen exformative Setzungen allein Unterbewusstes ansprechen; so erklärt Wallace: Another handicap, even for gifted students, is that – unlike, say, Joyce’s or Pound’s – the exformative associations Kafka’s work creates are not intertextual or even historical. Kafka’s evocations are, rather, unconscious and almost sub-archetypal, the little-kid stuff from which myths derive; this is why we tend to call even his weirdest stories nightmarish rather than surreal. (LK, 23)

Kafkas Erzählungen bauen demnach ein exformatives Potential auf und suchen den Anschluss zum Rezipienten, der dann seinerseits exformativ reflektiert und so die Pointe in sich aufbauen und zum explosiven Abschluss bringen kann – wobei diese Kafka’schen Erzählungen ganz besonders in ihrer Exformatität aufgebaut seien, nämlich in einer Art, die selbst

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Wobei dieses Mehr natürlich auch wieder seiner Zeit geschuldet bleibt – es gehört zu dem, was Wallace im Text als „modern complexity“ (LK, 26) bezeichnet und eine Art des Zugangs kennzeichnet, der eindimensionale und lineare Zuordnung nicht mehr zulässt: Die gegenwärtige Bewusstseinslage ist eine mehr als ambivalente, da die Ambivalenz ja schon dazu gehört und nochmals reflektiert wird. So ist die Rede ein Glanzstück historischen Charakters, da immer wieder, natürlich in einem kleinen Rahmen, erreichte Konklusionen nochmals aufgenommen, gebrochen und in der Problematisierung vertieft werden – ein Prozess, der grundsätzlich endlos angelegt ist, was ja einerseits, wie wir noch sehen werden, auf Kafka verweist, und zusätzlich die Grundverfassung der Gegenwart andeutet.

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den Verweis auf den Surrealismus unpassend werden lässt, da das Surreale ein historisch-intertextueller Anknüpfungspunkt ist. Für Wallace ist die eigentliche Kontextualität Kafkas daher nicht mit den herkömmlichen Begriffen zu fassen, da diese einen bestimmten historischen oder literaturwissenschaftlichen Hintergrund evozieren, wohingegen Kafkas Erzählungen eher rudimentäre Assoziationen als Exformationen wachrufen – was ja, verbleibt man auf dieser Ebene, den Studenten im Gegenteil den Zugang erleichtern müsste, da die historische und kulturelle Hürde fehlt: derartige Konnotationen sind nach der von Wallace gegebenen Definition allgemein zugänglich und daher weitaus umfassender. Doch Wallace, und dies ist bemerkenswert, zieht den umgekehrten Schluss, fährt nämlich fort, that the particular sort of funniness Kafka deploys is deeply alien to kids whose neural resonances are American. The fact is that Kafka’s humor has almost none of the particular forms and codes of contemporary U.S. amusement. There’s no recursive word-play or verbal stunt-pilotry, little in the way of wisecracks or mordant lampoon. There is no body-function humor in Kafka, nor sexual entendre, nor stylized attempts to rebel by offending convention. No Pynchonian slapstick with banana peels or rapacious adenoids. No Rothish satyriasis or Barthish metaparody or arch Woody-Allenish kvetching. There are none of the ba-bing ba-bang reversals of modern sit-coms; nor are there precocious children or profane grandparents or cynically insurgent co-workers. Perhaps most alien of all, Kafka’s authority figures are never just hollow buffoons to be ridiculed, but are always absurd and scary and sad all at once, like ‚In the Penal Colony‘’s Lieutenant. (LK, 23f)

Hier wird der Widerspruch der Deutung Kafka’scher Exformativität deutlich: Einerseits ist Kafkas Humor, und damit sein poetologisches Geheimnis, wenig mit spezifischen Kontexten aufgeladen und eher universell, doch selbst dies ändert sich wenige Absätze später, so heißt es: What Kafka’s stories have, rather, is a grotesque and gorgeous and thoroughly modern complexity. Kafka’s humor – not only not neurotic but anti-neurotic, heroically sane – is, finally, a religious humor, but religious in the manner of Kierkegaard and Rilke and the Psalms, a harrowing spirituality against which even Ms. O’Connor’s bloody grace seems a little bit easy, the souls at stake pre-made. (LK, 26)

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Jene komplexe religiöse Aufladung widerspricht den vorher gemachten Implikationen, immerhin ist die Religiosität von Kierkegaard oder Rilke hochkomplex und deutlich in den jeweiligen Kulturen verankert, also nicht einfach nachvollziehbar für Vertreter anderer Kulturräume. Die Beispiele, die Wallace nun als Gegensätze zu Kafkas Kontextlosigkeit anbringt, also Philip Roth, Woody Allen und Thomas Pynchon, sind ihrerseits hochgradig problematisch: Obgleich stets mit Adjektiven belegt – so sei Roths Humor satyrisch, der von Woody Allen jüdisch, Pynchon wiederum am Slapstick orientiert und so weiter – scheinen sie insgesamt eine Verankerung in der amerikanischen Kultur zu evozieren; da man diese Beispiele stets als Antipoden zur Diskussionsgrundlage lesen sollte, erschließt sich zwangsläufig eine solche Deutung. Hiergegen spricht zweierlei, zuerst die Tatsache, dass diese Autoren allesamt auch in anderen kulturellen Kontexten wirken, vor allem in Europa, wo alle genannten Schriftsteller mal mehr und mal weniger erfolgreich sind, immerhin oftmals den literarischen Markt nicht unwesentlich bestimmen, Philip Roth sei hier als herausstechendes Beispiel genannt, da wir den Erfolg Woody Allens vor allem in Europa nicht weiter ausführen müssen. Zudem entstammen die Beschreibungsmerkmale nur teilweise einer spezifisch amerikanischen Kulturtradition: Die Metaparodie, der Slapstick, der jüdische Humor, das Satyrische – all dies ist sicherlich als ebenso allgemein zu definieren wie die Merkmale, die Wallace an Kafka anlegt. Dennoch erklärt Wallace jene Elemente zu den spezifisch amerikanischen Formen des Humors, was wir nun hinnehmen müssen: Sicherlich würde Wallace, um dem Widerspruch zu entgehen, angesichts des Erfolgs der Autoren in beispielsweise Europa erwidern, dass diese Kulturen zunehmend amerikanisiert seien und deshalb diese spezifisch amerikanischen Kulturgüter leichter aufnehmen könnten. Die diagnostizierte Kontextlosigkeit, die wir trotz der obigen Bemerkungen weiterhin annehmen wollen, erleichtert nun also keineswegs den Zugang für die Studenten – nicht ihr Fehler, so Wallace weiter und damit seine eigentliche Botschaft transportierend, nun angesichts der spezifischen Kafka’schen Humormethode, die er als kontextlos, religiös und existentiell definiert, erläuternd: And it is this, I think, that makes Kafka’s wit inaccessible to children whom our culture has trained to see jokes as entertainment and entertainment as reassurance. It’s

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not that students don’t ‚get’ Kafka’s humor but that we’ve taught them to see humor as something you get – the same way we’ve taught them that a self is something you just have. No wonder they cannot appreciate the really central Kafka joke – that the horrific struggle to establish a human self results in a self whose humanity is inseparable from that horrific struggle. (LK, 26)

Hier stoßen wir in den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung vor, die Kritik am amerikanischen System und der Unterhaltungstradition: Ausgehend von der Erfahrung mit den zur Kafka-Lektüre unfähigen amerikanischen Studenten erläutert Wallace die Gründe dafür – und erkennt sie in einer Fehlleistung des amerikanischen Systems, welches Unterhaltung als eskapistische Form der Weltflucht definiert; hierzu nochmals Wallace, der in einer Fußnote die amerikanische Kultur als im Stadium der Pubertät zu erkennen glaubt: There are probably whole Johns Hopkins U. Press books to be written on the particular lallating function humor serves at this point in the U.S. psyche. Nonetheless, a crude but concise way to put the whole thing is that our present culture is, both developmentally and historically, ‚adolescent.‘ Since adolescence is pretty much acknowledged to be the single most stressful and frightening period of human development – the stage when the adulthood we claim to crave begins to present itself as a real and narrowing system of responsibilities and limitations – it’s not difficult to see why we as a culture are so susceptible to art and entertainment whose primary function is to ‚escape.‘ Jokes are a kind of art, and since most of us Americans come to art essentially to forget ourselves – to pretend for a while that we’re not mice and all walls are parallel and the cat can be outrun – it’s no accident that we're going to see ‚A Little Fable‘ as not all that funny, in fact as maybe being the exact sort of downer-type death-and-taxes thing for which ‚real‘ humor serves as a respite. (LK, 27)

Wallace findet in der Konklusion zu einer Prämisse, die maßgeblich seinen Roman Infinite Jest ausmacht, vor allem natürlich die Metapher von dem Film, der beim ersten Ansehen so süchtig macht, dass man schließlich stirbt: Es geht Wallace um eine Phänomenologie des Entertainments, eines Phänomens der Moderne, welches in Infinite Jest anhand von Drogen, Fernsehen und Sport diskutiert und als unausweichliches Problem einer

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Kultur dargestellt wird, die einen Großteil ihres Selbstverständnisses aus den Unterhaltungsformaten bezieht. Vor allem in dem schon erwähnten Interviewband David Lipskys, entstanden im Schatten des Romans Infinite Jest, reflektiert er über die Gründe der stets als passiv definierten Unterhaltungssucht, die den Rezipienten völlig in Beschlag nimmt, ohne sinnvollen Gewinn: „I’ll zone out in front of the TV for five or six hours, and then I feel depressed and empty. And I wonder why.“5 Ausgehend von diesen Beobachtungen kann man ableiten, dass der Infinite Jest auf individuellen Reflexionen beruht und Wallace sein Konsumverhalten problematisierend in einen generativen Zusammenhang stellt, dahingehend nun auch anhand der Prosa Kafkas reflektiert – so könnte in dem Roman eine Reflexion stattfinden, in welcher einer der Protagonisten angesichts der Kafka’schen Werke verzweifelt: Erzogen durch, in und mit den gesellschaftlichen Kontexten, welche Amerika bilden, scheitert er an der existentiellen Tiefe, die das Gegenteil eskapistischer Kunst bedeutet. Kafka fungiert also als Gegenentwurf zu der Problematik, die Wallace anhand der amerikanischen Kultur nachweist – ein Gegenentwurf, der eindeutig positiv konnotiert ist: Tatsächlich scheint Kafka als Symbol zu fungieren, das einen Ausweg aus dem amerikanischen Dilemma anbieten könnte, welches in Infinite Jest und vielen kürzeren Arbeiten als ausweglos beschrieben wird. 1998 auf jeden Fall scheint für Wallace das amerikanische Konsumverhalten zutiefst kulturell verankert und daher nicht ohne Weiteres wandelbar; obgleich, soviel darf wohl interpretiert werden, eine Änderung dringend nötig wäre. So schreibt Wallace in einer Fußnote über das exzessive Verhalten amerikanischer Jugendlicher an den Universitäten: You think it’s a coincidence that it’s inn college that most Americans do their most serious falling-down drinking and drugging and reckless driving and rampant fucking and mindless general Dionysian-type reveling? It’s not. They’re adolescents, and they’re terrified, and they’re dealing with their terror in a distinctively American way. Those naked boys hanging upside down out of their frat-house’s windows on Friday night are simply trying to get a few hours’ escape from the stuff that any decent college has forced them to think about all week. (LK, 27)

5

Lipsky, David: Although, S. 84.

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Schuldlos scheinen ihm die Beteiligten demnach zu sein, da die Amerikaner das System von Beginn an so vorfinden, sich diesem notgedrungen unterwerfen6 und sich also kaum Alternativen darbieten, da ja auch das Reflektieren über Alternativen, wie das Reflektieren überhaupt, sich allein in einem gegebenen Rahmen bewegen kann7, wobei der hier gemeinte Rahmen der kulturelle und damit sicherlich der prägnanteste und einflussreichste ist. Wallace vermerkt am Ende der Rede auf ironische Weise das eigentliche Dilemma und damit die soziologisch-pädagogisch gemeinte Konklusion, erklärt nämlich, dass es ja eventuell auch gut für die Studenten sei, Kafka nicht zu verstehen, immerhin sei Kafka eben nicht in einem amerikanischen Sinne auf Ablenkung aus, sondern darauf, die spezifisch komplexe und wenig anheimelnde Wahrheit der Existenz unverfälscht zu benennen; verstehen die Studenten dies nicht, so ist dies ein Zeichen einerseits für eine gewisse Leichtigkeit im Ergreifen und Begreifen der Existenz, bedeutet aber auch, dass die Existenz irgendwann nicht mehr nur als leicht interpretiert, sondern gleichfalls so empfunden wird: Interpretationen, die ja kulturell fundiert sind, beeinflussen selbstverständlich Interpretationsgegenstand sowie Interpret.

6

Obgleich dies ein zu starkes Wort für den ganz normalen Vorgang der kontextu-

7

Natürlich, es existieren Wege einer Reflexion, die sich aus dem kulturellen

ellen Einbettung markiert. Rahmen bewegt, doch ist dies äußerst selten und kann an dieser Stelle keine Rolle spielen. – Wallace selbst immerhin, amerikanisch erzogen, scheint eine solche Ausnahme zu sein, wobei wir uns noch der Frage zu stellen haben werden, wie diese Ausnahmesituation zu beschreiben ist.

Zweitens: Kafka’sche Soap

Wallace rezipiert Kafka geradezu unauffällig in dem gleichsam genügsamen Rahmen eines Universitätsdozenten1, der zu erklären versucht, warum seine Studenten Kafka nicht verstehen, vor allem den Humor nicht, der essentiell für das Verständnis sei, aber gleichsam spontan nachvollzogen werden müsse, ohne verstandesmäßige Vorleistung2: Verstehen wird hier demnach zu einem intuitiven Akt.

1

Die Darstellung aus der spezifischen Perspektive des Lehrers scheint für Wallace sehr inspirierend zu sein, immerhin erklärt er ja David Lipsky im weiter oben verwendeter Bemerkung, allein aufgrund seiner Situation als Lehrer auf bestimmte Fragestellungen überhaupt erst gekommen zu sein.

2

Diese Aufreihung erstellt einen weiteren Bezug, an den Wallace mit Sicherheit gedacht haben wird, wenngleich er dies nicht weiter ausführt; gemeint ist Philip Roths Essay Looking at Kafka aus dem Jahre 1973, den wohl jeder literarisch interessierte Amerikaner kennt und in welchem eine gänzlich andere Sichtweise der amerikanischen Kafka-Rezeption gezeigt wird – so ernsthaft angelegt, so gezeichnet vom Holocaust und der grundsätzlichen Schwere familiärer, künstlerischer und existentieller Fragen, dass Wallaces eher leicht daherkommende, anscheinend doch recht oberflächliche Auseinandersetzung wohl auch als ironischer Kommentar angesehen werden kann. – Hierbei muss man bedenken, dass Wallace sich in Auftreten, Schreiben und Denken deutlich von den amerikanischen Autoren der Vorgängergeneration, also Roth, Updike, Pynchon und so weiter, absetzen will und dies geradezu zwanghaft zu unternehmen scheint: Die Rede kann und sollte daher auch als Dokument der versuchten Befreiung von den Alten verstanden werden.

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Die Angaben, die Wallace im Verlauf über sein Verständnis von Kafka offenbart – etwa die Unsubtilität –, deutet er letztlich als Gegenentwurf zu den von ihm bereits in Infinite Jest diagnostizierten Verhältnissen in Amerika: Seine Interpretation ist daher produktiver Natur, da sie weniger von den Fakten ausgeht, sondern eher weiterführende Reflexionen ausgehend von spezifischen Überlegungen des Interpreten versucht. Es ist dies ein wohlbekannter Topos der Kafka-Rezeption, im Guten und natürlich auch im Schlechten.3 Tatsächlich ist diese Kafka-Rezeption sehr ähnlich zu umdeutenden Bezugnahmen, wie sie repräsentativ ein Albert Camus vornimmt, nämlich Franz Kafka recht rigoros als Autor der Absurdität definiert, ähnlich wie Melville oder Dostojewski, die allesamt in dem grundlegenden Essay Le Mythe de Sisyphe, 1942 erschienen, als Kronzeugen des absurden Romans aufgeführt werden – wobei diese Absurdität wohlgemerkt eine Idee von Camus selbst ist und die Interpretation der Romane Kafkas bewusst gegen den Strich gebürstet werden. Es soll nun hier nicht um Camus oder um die Kafka-Rezeption insgesamt gehen4, sondern um eine vorsichtige Einordnung und Bewertung der Rezeption Wallaces, der seinerseits ebenfalls die Werke Kafkas aus einem speziellen Blickwinkel und unter besonderer Berücksichtigung höchst eigener Reflexionen liest oder geradezu gegenliest. In beiden Fällen haben wir es nicht mehr mit dem eigentlichen Kafka zu tun, da Kafka zu diesem Zweck zumindest einseitig, wenn nicht gar falsch interpretiert wird – doch ist dies ein Akt des Fehllesens, der sozusagen gewollt ist und als produktiv im Sinne einer Vereinnahmung gilt. So kann man deuten, dass die Kafka’sche Unsubtilität, die Wallace im Jahre 1998 feststellt, als poetologisches Programm den Roman The Pale King

3

Wobei eine produktive Kafka-Rezeption zuerst einmal neutral, nämlich eine künstlerische Auseinandersetzung ist – gut oder schlecht kann der Bezug dann etwa unter Rücksicht auf die Originalität des Zugangs sein: Wird Kafka originär, einzigartig und also neuartig rezipiert? Oder wird er, auch dies ein Merkmal und Bewertungskriterium, so verzerrt, dass der Bezug beliebig wird? – Man merkt schon, wie schwer und kontrovers ein Maßstab für Bewertungen intertextueller Bezüge ist.

4

Siehe dazu: Halfmann, Roman: Kafka kann einen Schriftsteller lähmen, S. 1436.

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vordeutet und maßgeblich bestimmt: Immerhin geht es in diesem Roman um die Darstellung des gegenständlichen, also letzten Endes ziellosen sowie monotonen Lebens, um einen Hyperrealismus sozusagen, der natürlich kein Naturalismus sein kann, sondern eher das, was Wallace Jahre zuvor in der Kafka’schen Prosa zu erkennen glaubt. So erläutert Wallace die Grundidee des Werkes in einer Notiz: „Central Deal: Realism, monotony. Plot a series of set-ups for stuff happening, but nothing actually happens.“ (PK, 546) Ist in einer Unterhaltungskultur – einer Kultur also, die zu einem großen Teil auf Entertainment und den damit verknüpften Aspekten beruht – jedes Ereignis bis zur Grenze der sinnhaften sowie strukturellen Belastbarkeit mit Scheinbedeutung aufgeladen, so besteht die Realität, wie wir alle zur Genüge wissen, aus vielen kleinen Begebenheiten und Wiederholungen, die scheinbar zu nichts führen und zufällig miteinander verbunden scheinen: Das Leben setzt sich aus derart partikulären Ereignissen zusammen, die in sich einen Sinn ergeben können, der aber nur für das Dasein selbst gilt: Gleich einem Wort, welches allein im Satz- und weiter im Textgefüge Sinn erhält und ohne dieses Gefüge bedeutungslos ist. Wobei dieses Satzgefüge zweifach mit Bedeutung aufgeladen wird, nämlich einmal als Satz selbst und zudem als Teil eines Textes – rückführend auf unsere Ebene wäre dies der Sinn des individuellen Daseins einerseits, andererseits des Daseins als Teil der Gesellschaft. Allein, diese Bedeutungen – deren letztere Ebene etwa mit Hilfe des Systems der Steuern sehr anschaulich gemacht werden kann, da das Individuum hier für die Gemeinschaft von seinem Besitz abgibt – liegen nur abstrakt vor, sind mitunter allein reflektierend zu erreichen, mit intellektueller Arbeit sozusagen, durch welche das Abstrakte mit Bedeutung gefüllt wird. Bleibt diese Arbeit aus, wird das Dasein bei näherer Ansicht, welche es nach Meinung der meisten Menschen zu meiden gilt, sinnlos. Dies wird durch Entertainment verdrängt, was bedeutet, dass dem Rezipienten etwas für sein Geld, seine Zeit, seine Sucht, letztlich seine innere Leere – die nur Abbild der äußeren Sinnlosigkeit ist – gegeben werden muss: Unterhaltung vollzieht dann eine Sinnaufladung, wenngleich fragiler Natur, da der Sinn geradezu autopoietisch allein auf das Medium beschränkt bleiben muss und die Fragilität allein scheinbar stabilisiert wird, da das Stabile nur innerhalb des Systems gilt: Entertainment suggeriert also nur Bedeutung, weshalb Wallaces obige Überlegung einer spannungsarmen

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Handlung im Pale King zutiefst doppelsinnig einerseits die Realität, andererseits aber auch die kritisierten Unterhaltungsformate beschreibt. Doch ist die Problematik, wie eigentlich immer, doch komplexer und will auf diese Weise nicht ganz aufgehen, da sie dies auch gar nicht kann: Die Unterhaltungskultur ist ja unmöglich in der Lage, ein ganzheitliches, wahrhaftiges Ereignis aufzutischen, da der Konsument im Idealfall endgültig befriedigt, also kein Konsument mehr wäre; diese Alternative thematisiert Wallace ja bekanntlich im Infinite Jest, doch kann ein Film, der so unterhaltend ist, dass er tötet, natürlich keinesfalls für die Industrie von Interesse sein, im Gegenteil – die Soaps sind hierfür ein gutes Beispiel, da in diesen Endlosserien zwar immer etwas passiert, dies mit atemberaubenden Tempo, doch sind es stets nur scheinbar kathartische Erlösungen, da ja jedes Ereignis sogleich ein weiteres nach sich zieht, welches abermals die große Bedeutsamkeit suggeriert und abermals nicht einlösen wird. Und all dies ist dem Konsumenten ja stets deutlich vor Augen, was eine Art masochistische Bindung an das Medium etabliert – es ist eine höchst komplexe Beziehung zwischen Medium und Konsument, weshalb es kein Wunder ist, dass Wallace immer wieder in Erstaunen ob der Unterhaltungsindustrie und der zugrundeliegenden Mechanismen verfällt.5 In diesem Zusammenhang sind auch die Romane Kafkas den heutigen Seifenopern sehr ähnlich, da ja auch beispielsweise Josef K. stets die große Erlösung suggeriert wird, er sich aber stattdessen umso tiefer im Dilemma wiederfindet – und so fort; es sind die zirkulären Bewegungen, die Spannung vortäuschen, diese aber immer wieder vertagen, bis hin zum offenen Ende.6 Wir werden uns also noch genauer zu überlegen haben, ob Kafka in

5

Wallace spricht in dem Interviewband von David Lipsky beispielsweise sehr offen über sein Suchtverhalten; so berichtet er, nicht ein Bier trinken zu wollen, sondern mehr, viel mehr: „I would have, like, twelve. You know? And then I always feel shitty, and always pound my head and wonder why I did it.“ (Lipsky, David: Although, S. 146.) So bekannt ein solches Suchtverhalten auch ist und so logisch es die Psychologie der Sucht ausdrückt, so rätselhaft bleibt es eben doch – und verallgemeinerbar auf eine Gesellschaft, die sich in jeder Hinsicht mehr bewusst als unbewusst in derartige Abhängigkeiten begibt.

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Wobei ja interessanterweise auch klar ist, dass eine Soap offen bleiben wird, was das Konsumverhalten jedoch nicht beeinflusst, da die Konsumenten derar-

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der Tat in diesem Konzept Wallaces zu finden ist oder ob wir es mit einer Fehldeutung zu tun haben, denn Wallace hat ja nun keine Soap im Sinn, sondern geradezu im Gegenteil die Beschreibung einer ereignislosen Aufreihung von Ereignissen – ein Konzept, welches er, wie gezeigt, nichtsdestotrotz auch von Kafka bezieht oder zumindest an diesem reflektiert. Es verwundert daher nun kaum noch, wenn in The Pale King das zu Beginn dieses Aufsatzes zitierte Behördensystem in geradezu Kafka’scher Manier vorgestellt wird, doch sollten wir an dieser Stelle etwas tiefer in den Roman gehen und ihn als tatsächlich von der Kafka’schen Poetologie geleitet begreifen – wobei es weniger darum gehen kann, den Roman nun auf mögliche Kafka-Motive hin abzuklopfen, sondern eher darum, den Kafka zu entdecken, den Wallace für den Roman entwickelt und in der Rede definiert hat, sozusagen die Umdeutung, die Wallace vornimmt und mit der er dann ein poetologisches Konzept aufstellt und ganz im Sinne Camus’ ein Vorbild etabliert, welches selbst erzeugt wurde7.

tiger Fernsehprogramme sehr genau über die Mechanismen in Kenntnis gesetzt sind: Man weiß es, macht es aber dennoch – oder gerade deshalb. 7

Es ist dies natürlich eine Idee von Jorge Luis Borges, zu finden in der Schrift Kafka und seine Vorläufer, in welcher sehr deutlich gesagt wird, dass Kafka sich seine Vorbilder selbst erschaffen hat. Doch verbleibt dies in der eindimensionalen Abhängigkeit, die dann umgekehrt wird. Camus und Wallace arbeiten komplexer und sozusagen mit den Rückkopplungseffekten eines solchen Verhältnisses – ein solcher Effekt der Rückkopplung ist so neu nicht und in der Rezeptionsforschung gemeinhin bekannt. Neuartig ist eventuell die als selbstbezügliche Rückkopplung zu bezeichnende Rezeptionsart des amerikanischen Autors Philip Roth, der im Laufe seines Werkes sich selbst als Vorbild nimmt und dementsprechend in eine intertextuelle Bezugnahme zum Frühwerk gerät, damit das Spätwerk stabilisiert. – Wir werden hierauf zurückkommen, da auch Wallace dies in Maßen unternimmt.

Drittens: Fogle als Existentialist

Es muss daher nicht unbedingt Zufall sein1, erinnert eine der Erweckungsgeschichten innerhalb des Pale King, genauer im 22. Paragraphen, markant an ähnliche Ereignisse der existentialistischen Literatur: In jenem Kapitel soll Chris Fogle berichten, welche Ereignisse in seinem Leben dazu führten, sich als Steuerbeamter zu verdingen. Dies wird nun von Fogle sehr genau und pflichtschuldig nachvollzogen und kann durchaus auf den ersten Blick als Entwicklungsroman gelesen werden, wobei ganz im existentialistischen Sinn die Entwicklung fehlt: Zeichnet den herkömmlichen Entwicklungsroman das oftmals sehr gründliche Nachvollziehen der Motive, Einflüsse und Begebenheiten aus, so fällt diese Herleitungsstruktur als Ursache-Wirkungs-Verhältnismäßigkeit in der existentialistisch gemeinten Darstellungsweise meist an entscheidender Stelle fort – denkt man an L’Etranger oder an La Nausée, deren Protagonisten aus kaum nachvollziehbaren und daher auch nicht mehr darstellbaren Gründen sich ekeln oder morden, so wird auch klar, was genau die Existentialisten an Kafka fasziniert: Auch in Kafkas Werk ist kaum eine Entwicklung oder gar eine Bildungsgeschichte festgehalten, Wandlungen der Protagonisten vollziehen sich eher in Sprüngen, bleiben irrational und nicht herzuleiten – Gregor Samsa verwandelt sich in einen Käfer und selbst die-

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Clemens J. Setz geht einen anderen Weg und hofft einfach mal, in recht durchtriebener Umkehrung der Einflussangst, Wallace habe in dem Pale King die Ideen so umsetzen wollen, wie Setz selbst sie interpretiert. Siehe: Setz, Clemens J.: Die Sinnlosigkeit des Glücks. David Foster Wallace: The Pale King. In: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/david-foster-wal lace-the-pale-king-die-sinnlosigkeit-des-gluecks-11514.html.

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se, immerhin die gesamte Erzählung tragende Ungeheuerlichkeit geschieht abrupt und wird auch in der nachträglichen Reflexion nicht verständlich; so wie ja auch die Frage nach dem Mordmotiv des L’Etranger im Grunde sinnlos ist und daher absurd bleibt. Wallace schließt hier wahrscheinlich an, wenn er seine postmoderne Parabel2 von dem typisch amerikanischen Studenten erzählt, der irgendwann beschließt, Steuerbeamter zu werden. Werden wir genauer und widmen uns diesem Abschnitt etwas ausführlicher, denn wie wir sehen werden, finden sich hier einige Elemente der besprochenen Kafka-Rede: Fogle nämlich, eine der Hauptpersonen des Romans3 und der, nach Meinung Wallaces, typische Studenten Amerikas4, der sein Leben völlig planlos unter den verheißungsvollen Schatten der Unterhaltungskultur verbringt und, trotz immer wieder aufschimmernder und geradezu genüsslich zelebrierter Schuldgefühle, kaum in der Lage scheint, dies zu ändern; so heißt es: The truth is I was not even aware of the obvious double entendre of ‚You’re watching As the World Turns‘ until three days later—the show’s almost terrifying pun about the passive waste of time of sitting there watching something whose reception through the hanger didn’t even come in very well, while all the while real things in

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Letztlich sind die existentialistischen Erzählungen ja Parabeln im strengen Sinn der Definition, wobei die Existentialisten die Absurdität ohne Skrupel bis zum Ende durchhalten und also bewusst als Stilmittel und natürlich inhaltliches Surrogat einsetzen, während eine traditionelle Parabel doch unter Aufbringung von Reflexionsarbeit eine sinnvolle Geschichte verspricht. – Kafka wiederum gehört zu denen und hiervon zu den wichtigsten, die zum ersten Mal diesen beruhigenden und wohltuenden Anspruch der Parabel vorsätzlich ad absurdum führen und also die versprochene Auflösung auf geschickte Weise verweigern und dennoch vorgaukeln: Weshalb es noch logischer scheint, wenn die Existentialisten sich auf Kafka beziehen.

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Auf jeden Fall ist dieses 22. Kapitel sicherlich ein Schlüsselkapitel des Romans.

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Und mit aller Wahrscheinlichkeit ein Alter Ego des Autors, was aber wohl keinerlei Relevanz hat, da dieser, wie schon erwähnt, recht problemlos und vorbehaltlos seine individuellen Einsichten verallgemeinert – so unter anderem ja auch seine Tennis-Karriere in Infinite Jest zu einem mehr oder weniger eingängigen Topos umformt, welches von nun an die Literaturgeschichte heimsucht.

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the world were going on and people with direction and initiative were taking care of business in a brisk, no-nonsense way (PK, 222).

Das Bewusstsein des eigenen Tuns ist demnach durchaus vorhanden, wird aber zugeschüttet vom Unterhaltungsprogramm, hier einer Soap. Wir haben es demnach mit der anvisierten sozialen Gruppe zu tun, die Wallace schon in der Rede thematisiert: gebildet, studierend und sich vor allem ihrer selbst bewusst, geraten sie doch in die Fänge des Entertainment und dessen Auswirkungen, nämlich Passivität, Eskapismus, zunehmendes Schuldgefühl bis hin zur neurotischen Haltung zu sich selbst, stets gepaart mit dem dumpfen Gefühl, unter Wert unterhalten zu werden, aber trotzdem und gerade deshalb nicht davon freizukommen. Fogle gelingt jedoch der Ausstieg – was ja bemerkenswert ist, bedenken wir, wie vehement Wallace in Infinite Jest und auch in der Kafka-Rede dieses Konsumverhalten als zutiefst mit der amerikanischen Kultur verknüpft deutet und kaum Hoffnung auf ein Ende durchschimmern lässt, wir haben dies dargestellt. Und nun diese lapidar anmutende Offenbarung: After that, the first thing I can remember doing over the holiday recess in Libertyville was getting a haircut. I also then went to Carson Pirie Scott’s in Mundelein and bought a dark-gray ventless wool suit with a tight vertical weave and doublepleat trousers, as well as a bulky box-plaid jacket with wide notched lapels, which I ended up almost never wearing, as it had a tendency to roll at the third button and produce what almost looked like a peplum when it was buttoned all the way. I also bought a pair of Nunn Bush leather wing tips and three dress shirts – two white oxfords and one light-blue sea island weave. All three collars were of the button-down type. (PK, 233f)

Und so weiter. Plötzlich also findet in Fogle eine völlige Umkehrung der Werte statt, aus dem passiven Studenten5 wird ein Steuerbeamter – zuerst äußerlich durch die bürokratische Uniform, doch sollte diese Ironie nicht

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Er ist nicht faul: Nimmermüde an Reflexionsarbeit, gestaltet sich das Leben Fogles durchaus normal und anscheinend auch als Anstrengung – das Problem ist, dass die Aufmerksamkeit und somit die Lebenszeit von der passiven Unterhaltung aufgesogen wird.

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überbewertet werden6, wir wollen stattdessen den intertextuellen und interkulturellen Doppelsinn der Meta-Ebene goutieren: Immerhin war in den 1968ern die umgekehrte Verwandlung vom konformistischen hin zum alternativen Lebensentwurf gang und gäbe und ist in dieser Form auch zum Topos nicht nur der amerikanischen Kultur geworden: der Aussteiger als Motiv der westlichen Freiheitsmystik; so ist es sicherlich konsequent, wenn Wallace in den 80er Jahren einen Richtungswechsel diagnostiziert und pointiert darstellt.7 Verbleiben wir bei den Motiven der Wandlung, die auch als Verwandlung dargestellt ist – als Metamorphose im zudem existentiellen und damit Kafka’schen Sinn; so werden der Tod seines Vaters, aufgrund eines UBahn-Missgeschicks grausamer Natur, und vor allem der zufällige Besuch eines Kurses über Finanzsysteme zu auslösenden Ereignissen gedeutet. Es ist der Dozent des Seminars8, der in einer abschließenden Rede seine Sicht der Welt vorstellt und damit den Protagonisten beeindruckt – diese Rede wiederum verbalisiert auf prägnante Weise die Grundtendenz des Romans; so erklärt der Dozent, „actual heroism receives no ovation, entertains no one. No one queues up to see it. No one is interested“ (PK, 229), womit er gegen die seiner Ansicht nach pubertären Vorstellungen der Studenten über Heroismus und letzten Endes auch die Vorstellungen einer amerikanischen Kultur urteilt, die sich die Unterhaltung, das Extrem und die Selbstverwirklichung auf die Fahne geschrieben hat. Interessanterweise erinnert jene Dozenten-Auslassung wohl nicht zufällig an die nun recht berühmte Rede, die Wallace 2005 vor einer Abschlussklasse hielt und die als This is Water einige Bekanntheit erlangt hat.

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Leser von Wallace wissen um dessen Kalauerhang, der oftmals jeden Rahmen sprengt und uns wissenschaftlich Arbeitende nicht aus der Ruhe bringen sollte; wie auch Wallace selbst dies erwähnt und sich schilt, „that I have a grossly sentimental affection for gags, for stuff that’s nothing but funny, and which I sometimes stick in for no other reason that funniness.“ (McCaffery, Larry: An Interview, S. 129.)

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Wir werden uns ohnehin noch die Frage zu stellen haben, warum der Roman

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Interessanterweise als ein Jesuit gekennzeichnet, womit eine religiöse Deu-

ausgerechnet in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts stattfindet. tungsebene anvisiert wird, Fogles Erlebnis demnach einer – natürlich ironisch gebrochenen – Erleuchtung nahekommt.

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Wallace gemahnt die Studenten an das reale Leben, an die Langeweile, die enervierenden Zustände und stumpfsinnigen sowie abstumpfenden Geschehnisse, an die Realität in ihrer deprimierenden Schlichtheit also – um dann in einem überraschenden Manöver diese Zustände positiv aufzuladen: Das Enervierte sei, so er, nur in den Köpfen der so Gekränkten und demnach eine Sache der Einstellung: „I can choose to force myself to consider the likelihood that everyone else in the supermarket's checkout line is just as bored and frustrated as I am, and that some of these people probably have harder, more tedious and painful lives than I do.“9 Das ist naiv, zugleich eine Art existentielles und poetologisches Programm: Tatsächlich sind beide Reden Wiederholungen des Kafka-Dilemmas und Versuche, poetologische und philosophische Reflexionen verständlich zu machen. Wobei der Dozent die Sachlage weitaus schärfer ausdrückt: True heroism is you, alone, in a designated work space. True heroism is minutes, hours, weeks, year upon year of the quiet, precise, judicious exercise of probity and care—with no one there to see or cheer. This is the world. Just you and the job, at your desk. You and the return, you and the cash-flow data, you and the inventory protocol, you and the depreciation schedules, you and the numbers. (PK, 230)

Und weiter: „Routine, repetition, tedium, monotony, ephemeracy, inconsequence, abstraction, disorder, boredom, angst, ennui—these are the true hero’s enemies, and make no mistake, they are fearsome indeed. For they are real“ (PK, 231). Interessanterweise argumentiert er mit einer im Grunde lächerlichen oder wenigstens bedenklichen Heroisierung dieses Alltags, erklärt: ‚A baker wears a hat,‘ he said, ‚but it is not our hat. Gentlemen, prepare to wear the hat. You have wondered, perhaps, why all real accountants wear hats? They are today’s cowboys. As will you be. Riding the American range. Riding herd on the unending torrent of financial data. The eddies, cataracts, arranged variations, fractious minutiae. You order the data, shepherd it, direct its flow, lead it where it’s needed, in the codified form in which it’s apposite. You deal in facts, gentlemen, for which

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Der Text ist im Internet schnell gefunden, beispielsweise hier: http://moreintel ligentlife.com/story/david-foster-wallace-in-his-own-words.

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there has been a market since man first crept from the primeval slurry. It is you – tell them that. Who ride, man the walls, define the pie, serve.‘ (PK, 233)

Das ist natürlich ironisch zu verstehen, zudem der selbstentlarvende Versuch, die positive Aufladung der Langeweile mit Hilfe einer Anpassung an die Muster der Unterhaltungsformate zu leisten. Während Wallace in This is Water die Langeweile als Faktum behält und die innere Einstellung dazu hinterfragt, also eine irgendwie geartete Aufladung der Langeweile selbst vermeidet, deutet der Dozent des Romans die Langeweile zum neuen Heldentum um und bläst damit die Finanzbeamten in einer kaum ernst zu nehmenden Wendung zu modernen Cowboys auf, womit er ein Genre zitiert und aufruft, welches von der Kulturindustrie zu einem signifikant unterhaltenden Topos aufgebaut wurde, einem uramerikanischen Mythos sozusagen. Zwei Strategien sind demnach denkbar, wobei diejenige, die Wallace in seiner Rede vorführt, sehr eng an die Ausführungen über Kafka angelehnt ist, während die Argumentation des Dozenten innerhalb des Romans kritischer zu sehen ist: Kafka und Wallace bemühen sich ja, die Realität auf eine unsubtile Weise zu deuten, indes der Dozent letztlich einfach nur die bekannten Unterhaltungsmuster nimmt und diese nun mit dem Faktum der Langeweile verknüpft oder besser: die Langeweile nun dramatisiert, nämlich mit einem Potential auflädt, welches dem eigentlichen Sinn des Begriffs der Langeweile widerspricht. Der Protagonist, Fogle, wiederum sieht die Dozentenrede ebenfalls kritisch und erläutert angesichts seiner Wandlung: To me, this remembered clarity is a further sign of the clear demarcation in my own awareness and sense of direction before and after the substitute in Advanced Tax. It wasn’t so much the rhetoric about heroism and wrangling, much of which seemed a bit over-the-top to me even then (there are limits). I think part of what was so galvanizing was the substitute’s diagnosis of the world and reality as already essentially penetrated and formed, the real world’s constituent info generated, and that now a meaningful choice lay in herding, corralling, and organizing that torrential flow of info. This rang true to me, though on a level that I don’t think I even was fully aware existed within me. (PK, 240)

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Fogle reagiert also weniger auf die Heroisierung der Langeweile als auf die Tatsache, dass die Langeweile nun einmal als Faktum die Realität zum größten Teil ausmacht: Seine Erkenntnis von der reinen Verwaltungstätigkeit des Realen ist, soviel wird klar sein, unbedingt auch poetologisch und somit kulturell zu lesen – Fogle insistiert hier ja auf der Meta-Ebene, dass die kulturelle Welt auf irgendeine Weise fertig, als Projekt geradezu abgeschlossen ist, weshalb nun ein neuer Zugang erforderlich sein wird, ein Zugang, der verwaltend wirkt, umstrukturierend und also nicht mehr unbedingt innovativ, sondern allein bewahrend: Die Künstler werden so zu Erbverwaltern, also Beamten.

Viertens: Der postmoderne Jesuit

Der Dozent argumentiert postmodern – in der Art seines Verweises und damit verbundenen parodistischen Grundierung. Wobei wir betonen müssen, dass wir es von nun an mit der Postmoderne im Verständnis Wallaces zu tun haben: Intertextualität gibt es immerhin lange vor der Postmoderne, auch die Parodie – Verweis sowie Pastiche ohnehin; doch kann man wohl recht ungefährdet erklären, dass mit und in der Postmoderne diese intertextuellen Bezüge weitaus stärker problematisiert werden, da die Sensibilität für Eigenes, Tradiertes und den Bereich dazwischen sich intensiviert – immerhin steht ja das Subjekt selbst zur Disposition1. Wallace wiederum problematisiert seinerseits die Postmoderne, wobei seine Reflexionen letztlich so neu nicht sind und um die Frage nach dem Originären kreisen: Haben die Autoren der 50er und 60er Jahre noch Pionierarbeit geleistet und damit die Postmoderne eingeleitet, sind die von ihnen erbrachten Techniken und Ideen im Lauf der Jahre nicht nur literari-

1

Siehe etwa die Darstellung von Fredric Jameson: Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham: Duke University Press 1992, wobei die folgende Definition der postmodernen Parodie durchaus auf den jesuitischen Dozenten passen könnte: „Pastiche is, like parody, the imitation of a peculiar mask, speech in a dead language: but it is a neutral practice of such mimicry, without any of parody’s ulterior motives, amputated of the satiric impulse, devoid of laughter and of any conviction that alongside the abnormal tongue you have momentarily borrowed, some healthy linguistic normality still exists.“ (S. 65).

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sches Allgemeingut geworden 2 , sondern auch von den Massenmedien übernommen und damit klischeeisiert: „The fact is that for at least ten years now, television has been ingeniously absorbing, homogenizing, and representing the very same cynical postmodern aesthetic that was once the best alternative to the appeal of Low, over-easy, mass-marketed narrative.“ (FT, 52) Mit bedenkenswerten Folgen: „What do you do when postmodern rebellion becomes a pop-cultural institution?“ (Ebd., 68) Die Poetologien der Postmoderne sind als erste Konsequenz aus dieser Entwicklung für Wallace obsolet, nicht mehr originell und daher für die gegenwärtige Literatur kaum zu nutzen – und zwar aus zweierlei Gründen, die beide unmittelbar an die Erkenntnisse auch der Kafka-Rede anschließen. Zuerst einmal verfasst Kafka seine Werke in dem Sinn, in welchem Wallace in seinem Interview mit Larry McCaffery den originellen Künstler beschreibt: „Maybe our touchstone now should be G. M. Hopkins, who made up his own set of formal constraints and then blew everyone’s footwear off from inside them.“3 – So wird auch seine Kritik am Humor Philip Roths, Woody Allens und den weiteren genannten Namen verständlicher: Problematisch ist nicht dieser Humor an sich; wir können durchaus davon ausgehen, dass Wallace den Humor Philip Roths für seine Zeit als sinnvolle künstlerische Auseinandersetzung mit der Realität begreift und akzeptiert. Auch Philip Roth müht sich ja, wie er in dem 1961 erschienenen Essay Writing American Fiction sehr deutlich zeigt, die amerikanische Gegenwart der 50er und 60er Jahre souverän künstlerisch zu fassen, trotz und vor allem wegen der beginnenden Massenmedien, deren Auswirkungen auch Philip Roth spürt und denen er ebenfalls eine Poetik entgegenhält. Anhand eines Medienspektakels, dem Mord an zwei jungen Frauen in Chicago und der sich daran anschließenden Berichterstattung, stellt Philip Roth fest,

2

Und, wie Wallace beschreibt, zudem auch unter Einfluss dieser Massenmedien haben entstehen können: „This high-cultural postmodern genre, in other words, was deeply informed by the emergence of television and the metastasis of selfconscious watching“ (FT, 34). Hier hebt dann die Ironie an, die Wallace in der Folge angeht.

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McCaffery: An Interview, S. 149f.

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that the American writer in the middle of the twentieth century has his hands full in trying to understand, describe, and then make credible much of American reality. It stupefies, it sickens, it infuriates, and finally it is even a kind of embarrassment to one’s one meager imagination. The actuality is continually outdoing our talents, and the culture tosses up figures almost daily that are the envy of any novelist.4

Die Wirklichkeit hat demnach, so Roth, die Einbildungskraft des Autors längst überflügelt: „[A]ll of it“, so Roth bezüglich des Wahlkampfs von Kennedy und Nixon, „was so beside the point, so fantastic, so weird and astonishing, that I found myself beginning to wish I had invented it.“5 Die Medien verzerren die Wirklichkeit, und die Imagination des Autors kann daher, so er weiter, nicht mehr mit der Realität Schritt halten, Folge davon sei die Entfremdung des Autors: „However, for a writer of fiction to feel that he does not really live in his own country – as represented by Life or by what he experiences when he steps out of the front door – must seem a serious occupational impediment. For what will his subject be? His landscape? One would think that we might get a high proportion of historical novels or contemporary satire – or perhaps just nothing. No books.”6 Roth diskutiert zwei mögliche Wege, um sich mit dieser Situation auseinander setzen zu können. Zum einen stellt er eine Art Aufgehen in dieser medialen Welt fest, wie er es etwa für Norman Mailer deklariert, der „his life as a substitute for his fiction“7 definiere – und scheitere, da er sich damit den Anforderungen und Aufgaben des Schriftstellers entziehe. Einen denkbaren zweiten Ausweg diskutiert Roth anhand der Werke Bernard Malamuds und Saul Bellows, kommt dabei zu der Erkenntnis, „that the vision of self as inviolable, powerful, and nervy, self imagined as the only seemingly real thing in an unreal-seeming environment, has given some of our writers joy, solace, and muscle.”8 Es sei dabei kein Zufall, dass gerade die jüdisch-amerikanischen Autoren zu dieser Art Kunstverständnis Zugang gefunden haben, da sie, als Immigranten erster, zweiter oder dritter Generation, das konventionelle Erbe nicht derart als Belastung verspürten wie die

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Roth, Philip: Writing American Fiction, S. 167f.

5

Ebd., S. 168.

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Ebd., S. 169.

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Ebd., S. 171.

8

Ebd., S. 181.

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amerikanischen Schriftsteller: „When writers who do not feel much of a connection to Lord Chesterfield begin to realize that they are under no real obligation to try and write like that distinguished old stylist, they are likely enough to go out and be bouncy.“9 Die Hinwendung zum Individuum, „a celebration of the self”10, wird als mögliche Lösung des Konflikts dargestellt. – Ein Ausweg, der Wallace selbst verschlossen bleibt, da Roth diesen Weg aufgetan hat, um es überspitzt zu formulieren. In diesem Verständnis ist Wallace sozusagen auf den Spuren Roths und bewegt sich in ähnlichen Reflexionen, immerhin geht es beiden um die Auswirkungen der Medien auf die Literatur, kommt aber nicht zu dessen poetologischen sowie philosophisch-existentiellen Schlüssen – warum? Nicht nur, weil Wallace die Einflussangst treibt11 , sondern weil diese von Roth etablierten Techniken – auch die des Humors – zum Klischee geworden sind, also zum Teil des Problems. War die Haltung Roths also in den 60er Jahren sinnvoll und erkenntniserweiternd, so haben die Epigonen und Massenmedien diese Haltung übernommen und zum weiteren Baustein der Misere werden lassen12: If I have a real enemy, a patriarch for my patricide, it’s probably Barth and Coover and Burroughs, even Nabokov and Pynchon. Because, even though their selfconsciousness and irony and anarchism served valuable purposes, were indispensa-

9

Ebd., S. 178.

10 Ebd. 11 Sie treibt ihn zweifellos, doch geht die Auseinandersetzung tiefer. 12 Vor allem in den Kurzgeschichten, die ja zumeist nicht wirklich kurz sind, beschreibt Wallace dieses Phänomen, welches wohl am besten in der kulturellen Frage nach dem Mainstream und der Independent-Nische zu beleuchten ist: Die Gegenkultur setzt sich ja notwendigerweise von der Massenkultur ab, wird aber von dieser vereinnahmt und dann Teil des Mainstreams, womit die Antihaltung in einem ironischen Sinn eingekauft und Teil des Mainstreams wird. Es ist interessant, dass dies vor allem während der 80er und 90er Jahre des letzten Jahrhunderts erst in aller Ausführlichkeit deutlich wurde und Probleme mit sich brachte, die bis in die Gegenwart reichen und von Wallace stets sehr interessiert beobachtet wurden; wir werden dies in der Folge noch näher darstellen.

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ble for their times, their aesthetic’s absorption by U.S. commercial culture has had appalling consequences for writers and everyone else.13

Doch ist dies ja nun in der Tat eine ganz normale kulturelle und also auch literarische Entwicklung, die beispielsweise schon Jurij Tynjanov zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit der Vorstellung einer literarischen Evolution zu beschreiben sucht14. Neu ist dies also wahrlich nicht, wird aber in dem Hinweis auf die fehlende Intertextualität in Kafkas Texten als Wunsch für Wallaces eigenes Schreiben reflektiert. Bedeutsamer wird dieser Diskurs nicht wegen der Feststellung einer Klischeeisierung, sondern in der Beurteilung Wallaces, es mit einem ganz besonderen Artefakt zu tun zu haben, welches zum Klischee wird: nämlich der postmodernen Ironie, die insgesamt schwerverdaulich daherkommt, auch und insbesondere als Klischee. Tatsächlich ist die Ironie für Wallace das entscheidende Merkmal der Postmoderne, positiv wie negativ: Irony in postwar art and culture started out the same way youthful rebellion did. It was difficult and painful, and productive – a grim diagnosis of a long-denied disease. The assumption behind early postmodern irony, on the other hand, were still frankly idealistic: it was assumed that etiology and diagnosis pointed toward cure, that a revelation of imprisonment led to freedom. (FT, 66f)

„There’s“, so fährt er an anderer Stelle fort, „some great essay somewhere that has a line about irony being the song of the prisoner who’s come to love his cage.“15 Gemeint ist damit, dass die postmoderne Ironie einerseits nützlich war, um gewisse Klischees sowie Meinungen aufzubrechen, diese Ironie dann aber zum Selbstzweck und damit selbst zum Klischee wurde, was ja der herkömmlichen evolutionären Entwicklung entspricht. Nun ist es aber zudem so, dass Ironie nach dem Wegbrechen der Grenzen letztlich zu nichts weiter führt: „Sarcasm, parody, absurdism and irony are great ways to strip off stuff’s mask and show the unpleasant reality be-

13 McCaffery, Larry: An Interview, S. 146. 14 Siehe: Tynjanov, Jurij: Über literarische Evolution. In: Tynjanov, Jurij: Die literarischen Kunstmittel und die Evolution in der Literatur. Frankfurt: Suhrkamp 1967. S. 37-60. 15 McCaffery, Larry: An Interview, S. 147.

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hind it. The problem is that once the rules for art are debunked, and once the unpleasant realities the irony diagnosis are revealed and diagnosed, then what do we do?“16 So markiert die Ironie eine Haltung, keine originäre Erweiterung oder inhaltliche Weiterführung: „Anyone with the heretical gall to ask an ironist what he actually stands for ends up looking like an hysteric or a prig.“ (FT, 68) Zudem kann auch die Ironie, wie erwähnt, zum Klischee und also von den Massenmedien vereinnahmt werden, sich damit von der eigentlichen Wirkung entfernen und geradezu gegen die beabsichtigte Wirkung stellen.17 So bewegen wir uns in einem Kafka’schen Dilemma, ganz im Sinne des Vogels, der seinen Käfig suchen ging, oder, wie Wallace es in der Rede beschreibt, hierzu wieder die Unterrichtssituation aufgreifend: You can ask them to imagine his art as a kind of door. To envision us readers coming up and pounding on this door, pounding and pounding, not just wanting admission but needing it, we don’t know what it is but we can feel it, this total desperation to enter, pounding and pushing and kicking, etc. That, finally, the door opens ... and it opens outward: we've been inside what we wanted all along. (LK, 26f)

Eben dies geschieht mit der Ironie in den Nachwehen der massenmedialen Postmoderne: „And herein lies the oppressiveness of institutionalized irony, the too-successful rebel: the ability to interdict the question without attending to its subject is, when exercised, tyranny. It is the new junta, using the very tool that exposed its enemy to insulate itself.“ (FT, 68) Es bleiben der Literatur dann zwei Möglichkeiten, das völlige Ein- und Aufgehen in den Mechanismen der Unterhaltungskultur oder die so genannte ernste Kulturrichtung – wobei klar sein sollte, dass die Verdrängungsleistung nicht allein in den Soaps, dem Bedienen der Klischees oder anderen Unterhaltungsmedien stattfindet: Nur weil eine Literatur sich in

16 Ebd. 17 Was die Rückkopplungseffekte bewirkt, die Wallace beschäftigen: Wenn in Infinite Jest das Videogespräch beschrieben wird, die Tatsache, dass die Menschen dies zuerst akzeptieren, dann aber ihr Aussehen optimieren bis hin zur Ersetzung ihrer selbst durch Masken, womit das System zusammenbricht, dann beschreibt Wallace hier Rückkopplungseffekte, die schließlich zum Zusammenbruch führen. (IJ, 110-114)

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der Tradition etwa der Postmoderne bewegt, müsse sie nicht zwangsläufig wertvoll sein. Klischees gelten auch in der so genannten ernsthaften Literatur – deutlich wird dies beispielsweise in der Kritik der Romane Bret Easton Ellis’, die seiner Meinung nach mit den Mitteln des Sarkasmus eine mit Sarkasmus gesättigte Welt beschreiben, doch: In dark times, the definition of good art would seem to be art that locates and applies CPR to those elements of what’s human and magical that still live and glow despite the time’s darkness. Really good fiction could have as dark a worldview as it wished, but it’d find a way both to depict this dark world and to illuminate the possibilities for being alive and human in it.18

Jenes Diktum – „Fiction’s about what it is to be a fucking human being“19 – sondert sich ab von der Verdrängungsleistung einer Literatur, die entweder oberflächlich den Eskapismus betreibt oder in Form epigonal anmutender Übernahmen bereits klischeeisierter Techniken diesen Eskapismus auf höherer Ebene ausführt – und zudem die Literaturen, die einem strengen Realismus verhaftet sind, also die für Wallace dunkle Gegenwart allein aufzeichnen, ohne Alternativen zu bieten: „It got something to do with love“20, fährt Wallace fort, womit er sich sicherlich vom Rest der amerikanischen Literaturszene absetzt und also gegen die Ironie, gegen den Zynismus die Liebe setzt.21

18 McCaffery, Larry: An Interview, S. 131. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 148. 21 Man sollte hier den Zeitpunkt des Interviews und der damit verbundenen Überlegungen einbeziehen, denn in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts geschieht ein regelrechter Boom des Zynismus in der Kultur und vor allem wohl der Literatur, nicht allein ausgehend vom amerikanischen Markt, aber doch wieder einmal von den Amerikanern zum größten Teil angetrieben. Es ist eine Literatur, die sich in der zynischen Beschreibung des Alltags gefällt, jedoch kaum, womit Wallace also zuzustimmen ist, Auswege aus der Situation anbietet. In diesem Zusammenhang ist dann auch der Verweis auf die Liebe verständlich, immerhin markiert der ungewöhnliche Begriff eine Naivität, die Wallace nun gegen diesen Zynismus setzt.

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Auf keinen Fall ist damit eine naive Literatur gemeint, also die einfache Etablierung der naiven Haltung inmitten einer zynischen Welt – dies kann schon wegen der Ironisierung der Diskurse kaum funktionieren: Immerhin ist Wallace ja in diese Entwicklung gesetzt und seinerseits Opfer der Ironie, weshalb er selbst nicht in der Lage ist, aus dem Stand und allein unter den Vorzeichen einer Art von Gegenpoetologie naiv zu schreiben22. Es ist eher so, dass die Naivität auf der Meta-Ebene eingesetzt wird und eine Haltung des Autors ausrückt, eine kommunikativ offene Ausrichtung zum Leser hin: Ausgehend von den Überlegungen über die immense Bedeutung von Kommunikation als zeitweilige Aufhebung der Einsamkeit fällt der Literatur eine bedeutende Rolle zu: „We all suffer alone in the real world; true empathy’s impossible. But if a piece of fiction can allow us imaginatively to identify with character’s pain, we might then also more easily conceive of others identifying with our own.“23 Wenn Wallace jene Naivität nun im Kafka-Essay interpretiert, dann ist dies natürlich auch als Versuch einer Absetzung von der Postmoderne anzusehen, ganz in dem Sinn produktiver Rezeptionsbewegungen, in deren Verlauf beispielsweise Camus das Absurde im Proceß und Philip Roth das Jüdische im Leben Kafkas betonen, oftmals unstatthaft akzentuiert, gleichwohl dies natürlich aus künstlerischer Sicht nicht zu bewerten, sondern allein zu registrieren ist. Zurück zum Naiven, so Wallace also mit Blick auf Kafka, zurück damit auch zum Originären. Letztlich gestaltet sich bei näherer Betrachtung das gesamte poetologische Programm Wallaces als Absetzung vom Tradierten, welches die Postmoderne mit all ihren Implikationen nun einmal geworden ist. Zusammengeführt jedoch können all diese Vorstellungen durchaus in dem altmodisch und im Grunde gänzlich obsolet wirkenden Begriff der Originalität, um die es Wallace also in Wahrheit geht – und dies immer und ständig, auch und gerade in The Pale King.

22 Es ist bezeichnend, wie häufig Wallace in seinen Schriften eine These unter Hinweis auf jene Klischeehaftigkeit eben dieser These aufstellt und sich also zu diesem distanzierenden Schritt genötigt sieht. In der Rede This is Water scheint es doppelt problematisch, da ja auch die Distanzierung vor den gänzlich ironisierten jungen Menschen wieder eine klischeehafte Bewegung ist. 23 McCaffery, Larry: An Interview, S. 127.

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Diese Konklusion mag angesichts der bisherigen Rezeption der Werke Wallaces zumindest überraschend sein, zeigt der als zuhöchst komplex gesehene Autor sich nun doch unvermittelt einem traditionellen Problem ausgesetzt, welchem er mit traditioneller Methode die eigene Poetik entgegenhalten möchte: Und an dieser Stelle kommen wir auf The Pale King zurück, den wir nun als Roman dieser Problematik und dem Versuch einer Lösung verstehen.

Fünftens: Fogle folgend

Erinnern wir uns, wie Fogle im 22. Kapitel des Pale King aus dem Unterhaltungsdilemma, welches das Werk Wallaces bis zum diesem Zeitpunkt maßgeblich ausmacht, ausbricht und sozusagen eine Art existentialistischer, geradezu Kafka’scher Verwandlung hin zum Finanzbeamten erlebt. Signifikant ist, was hierzu kontextuell ablaufen muss: Zuerst stirbt der Vater, der zu Lebzeiten ein solcher Typus des Finanzbeamten war. (PK, 155f) Dessen Tod kann daher durchaus als nötige Ausschaltung des Einflusses der Tradition gewertet werden: Solange der Vater nämlich als notwendig negatives Vorbild dem Sohn das Gegenprogramm seiner Selbst, also die Rebellion, abverlangt, kann der Sohn seinerseits nicht vernünftig und also verbeamtet werden, sondern ist dem Rebellionszwang unterworfen. Psychologisch und auch philosophisch ist ja die Rebellion der Jungen gegen die Alten eine notwendige und natürliche Pubertätsbewegung, die dann irgendwann, bei erfolgreich verlaufender Rebellion, zur Eigenständigkeit 1 führt. Eine in der vorliegenden Schrift vertretene These besagt, dass diese Rebellion gegenwärtig nicht mehr erfolgreich ausgeführt werden kann und die Heranwachsenden im Stadium der Pubertät verharren und eine Art Stasis sich etabliert – wobei wir dies in der Folge noch näher ausführen werden.2 Mehrere Ursachen für diese Entwicklung werden aber in dem

1

Siehe hierzu: Halfmann, Roman: Kafka kann einen Schriftsteller lähmen, S. 99133, wo aus dieser affirmativ-kritischen Absetzungsbewegung eine neue Theorie der Intertextualität versucht wird.

2

Wallace deutet dies unter anderem in einem Interview an: „I get the feeling that a lot of us, privileged Americans, as we enter our early 30s, have to find a way

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Fogle-Kapitel zumindest angedeutet – immerhin handelt der Bericht von den Gründen der Verbeamtung und ist keine Reflexion über der gegenwärtig unmögliche Revolution der Kinder gegen ihre Eltern. Eine denkbare Ursache ist angesichts des Berichtes natürlich aus den Eltern selbst abzuleiten, die – wie im Falle Fogles die Mutter – als Vertreter der 68erGeneration ihrerseits eine Revolutionshaltung an den Tag legten und daher immer noch legen, gegen welche die Revolutionswünsche der Kinder geradezu grotesk sich ausnehmen müssen: Eine Wiederholung der 68er-Revolte ist ja aufgrund der Klischeeisierung unmöglich und andere Revolutionen scheinen kaum denkbar, da die 68er sicherlich die prototypische Revolution auslebten und immer noch ausleben. Die Mutter Fogles beispielsweise raucht Haschisch, lebt in einer lesbischen Beziehung und kämpft für Freiheit, Gleichheit und dergleichen mehr – im Grunde geriert sie sich jünger und revolutionärer als der Sohn, dem daher letztlich keine andere Haltung mehr übrig bleibt, als den Älteren, den Vernünftigeren zu geben (PK, 166). Hier scheitert die pubertäre Revolution aufgrund der fehlenden Reibefläche und der Tatsache, dass die Revolte von den Eltern, hier der Mutter, geradezu begrüßt wird – eine von der Gegenpartei gewollte Revolte aber ist keine mehr. Der Vater wiederum gehört zu den so genannten schwachen Vätern, die zu einer „vaterlosen Gesellschaft“ nach Alexander Mitscherlichs führen3, ausgehend von zwei Ursachen, „der sozialen Differenzierung (als Arbeitsteilung) und [...] dem Verschwinden des liberalen Unternehmers (des selbständigen Produzenten).“4 Nach Mitscherlich sind es also zum größten Teil Veränderungen, die aufgrund wirtschaftlicher Verschiebungen und also kapitalistischer Verwerfungen eben auch die Geschlechterrollen beeinflussen. Bezeichnenderweise deutet auch Fogle sein Dilemma teilweise innerhalb dieses monetären Diskurses und verallgemeinert seine Situation damit: „The same sort of dynamics were probably being played out in homes all over America – the child trying to sort of passively rebel while still financially tied to the parent, and all of the typical psychological business that goes along with that.“

to put away childish things and confront stuff about spirituality and values.“ (http://www1.salon.com/09/features/wallace2.html) 3

Mitscherlich, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur

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Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts, S. 306.

Sozialpsychologie. München: Piper 1973.

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(PK, 156) Ob allein die ökonomischen Wandlungen für diese Entwicklungen maßgeblich sind, werden wir späterhin thematisieren. Der Vater Fogles auf jeden Fall ist als schwach gezeichnet, so geht er dem dringend nötigen offenen Konflikt mit dem Sohn aus dem Weg – was zu grotesk verschobenen Handlungsabläufen führt; beispielsweise erwischt der Vater den Sohn während einer Sauf- und Drogenorgie, woraufhin der Vater „made a gesture of putting one arm up in the air a little and looking up and said, ‚Look on my works, ye mighty, and despair!, and then picked up his overnight bag again and without a word walked up the upstairs stairs and went into their old bedroom and closed the door.“ (PK, 170) Auch hier fehlt dem Sohn die dringend notwendige Reibung hin zur Konfliktentzündung: Vater und Mutter verhalten sich dementsprechend wenig hilfreich, da sie beiderseits den Revolten des Sohnes zu tolerant gegenüberstehen. Es ist die Freiheit und Erziehungsmethodik einer Zeit, die den Kindern wenige Grenzen setzt und die kaum existentielle Nöte in sich birgt – all dies bedingt eine tolerante, freiheitliche und sicherlich stellenweise auch zu freie Erziehung, welche aber oftmals die Wünsche, Träume und Ansichten der 68er-Generation abbildet und verwirklicht.5 Es ist aber auch die Zeit der sich stetig ausbreitenden und damit gemächlich vollendenden Klischeeisierung, da die menschlichen Regungen als Artefakte nun von den massenmedialen Kanälen aufgenommen und in jeder erdenklichen Weise durchgespielt wurden. Und es ist zudem die Zeit des Bewusstwerdens einer Generation, die zum ersten Mal auch von diesen Medien aufgezogen worden sind, denen das Fernsehen maßgebliches Realitätsmodell war und ist: Die Folgen dieser modernen Situation werden uns weiterhin beschäftigen, nun aber gilt es erst einmal, die Revolte als Klischee zu etablieren: Was nutzt eine Revolte, wie gesagt, die von den Gegnern erwünscht wird; und was nutzt eine Revolution, die naturgemäß ist und deren Ausführung sozusagen ein biologisch-psychologisches Programm ist? Fogle, der passive Vielseher, er hat schon viele Revolten von

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Teilweise ist diese Thematik im 19. Kapitel angedeutet, in welchem die Rolle der sechziger Jahre in den gesellschaftlichen Umwälzungen angesprochen wird; so heißt es unter anderem: „The sixties were America’s starting to decline into decadence and selfish individualism – the Me generation.“ (PK, 132) – Man kann hieraus ersehen, dass es Wallace durchaus um die Darstellung auch dieses Komplexes geht.

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Söhnen gegen deren Väter erblickt, er hat diese Revolten zudem aus allen erdenklichen Perspektiven wahrgenommen, als ernst gemeinte Darstellungen, dann als Parodien, alsdann sarkastisch verzerrt, zuletzt wieder ernsthaft, aber die letzte Ernsthaftigkeit ist nicht mehr mit der ersten zu vergleichen, da sie den Prozess der Ironisierung und Klischeeisierung durchlaufen hat: das Klischee zieht die angesammelte Konnotationsaufladung gleich einem Kometenschweif hinter sich her. Fogle, darauf weist Wallace immer wieder hin, denkt in den Termini des Standards, denkt also in den gewissen Stufen, die ein Mensch durchlaufen muss; deutlich wird dies beispielsweise in der Kleidung, die Fogle als typisch beschreibt und also als Klischee: „The standard getup“, heißt es, und: „The commercial psychedelia“ (PK, 157). Fogle definiert sich als Vertreter seiner Generation, eines Teil dieser Generation – wozu auch bedeutet, dass man die Revolte selbst schon im Fernsehen gesehen und als Klischee geradezu bewältigt hat – man verzichtet daher auf eine Revolte, die ja erwartet wird und natürlich ist, weshalb sie zu den Dingen gehört, gegen die man revoltiert: man zelebriert also, gezwungenermaßen, eine Revolte gegen die Revolte, was ja letztlich Stasis markiert; wir werden im weiteren Verlauf näher auf diese Aspekte eingehen und umfassender beschreiben. Dass Fogle unzweifelhaft seine Existenz und damit notwendigerweise auch die ihn umgebende Wirklichkeit unter den Vorzeichen und auch den konstruierenden Reglementierungen des Klischees verortet, zeigt sich geradezu beispielhaft in der knappen Episode von dem gläubigen Mädchen, die recht willkürlich in den Erzählfluss eingewoben ist, damit einerseits den Spitznamen irregular rechtfertigend, andererseits aber auch Hinweise gebend, deren Weiterverfolgung sich lohnt.6 Im Kern nämlich geht es in dieser Episode um die Klischeeisierung der Welt, um das Dasein inmitten klischeeisierter Artefakte: Das gläubige Mädchen nun berichtet dem noch nicht verwandelten Fogle die Geschichte ihrer Wandlung hin zum Glauben – eine Geschichte, die letztlich nicht zu erzählen ist, da sie dem Sprung Kierkegaards entspricht, dem Herausfallen aus der Logik hinein in den Glauben. Das Mädchen also geht zufällig im Zustand tiefster Verwirrung in eine Kirche und fühlt sich dort vom Priester direkt angesprochen, da dieser

6

In dieser Hinsicht gemahnt der Aufbau des Romans tatsächlich, wie von Wallace gewünscht, an einen Tornado, da immer wieder blitzlichtartig Hinweise erscheinen, um gleich wieder zu verschwinden.

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seine Rede und Gebete an die Verwirrten richtet. Fogle reagiert wie erwartet spöttisch und müht sich, dem Mädchen die Naivität ihres religiösen Sprungs auszutreiben: Immerhin sei jeder Mensch verwirrt, weshalb die Anrede des Priesters beliebig gewesen sei – wütend geworden angesichts der Dreistigkeit, in der gegenwärtigen Zeit noch ein solches Klischee zu entklischeeisieren, da das Mädchen sich außerhalb der Klischees definiert hat: In dem Augenblick der Erleuchtung hat das Mädchen sich als einzigartig gesehen und also als originell. Eben dies sei aber im Grunde nicht möglich, so Fogle zu dem Mädchen, wobei er später seinen Angriff revidiert und folgendes reflektiert: It’s true that her story was stupid and dishonest, but that doesn’t mean the experience she had in the church that day didn’t happen, or that its effects on her weren’t real. I’m not putting it very well, but I was both right und wrong about her little story. I think the truth is probably that enormous, sudden, dramatic, unexpected, lifechanging experiences are not translatable or explainable to anyone else, and this is because they really are unique and particular. (PK, 214)

So Fogle – sich irrend, da es seiner Meinung nach nun darum geht, mehr Informationen von der Wandlung zu erhalten, um sie irgendwann vermitteln zu können. Dies ist aber nicht das Problem, nicht das eigentliche: Problematisch ist der Bericht über eine solche Wandlung, da sie einerseits einzigartig und andererseits ein Klischee ist, nämlich ein Artefakt, welches auf irgendeine Weise anschließt im Sinne intertextueller Kontexte. Fogle, der vor seiner Wandlung in diesen Standards und Klischees denkt, sich über diese definiert und daher statisch verharrt, da ja jede Bewegung auf irgendeine Weise ein Klischee markieren würde, Fogle also leidet unter diesem modernen Symptom und wird erst durch den Tod des Vaters in die Lage versetzt, erwachsen zu werden. Er wird auch nun in die Lage versetzt, seine Wandlung vollziehen zu können, da ihn nicht mehr die Angst hindert, einem Klischee zu gehorchen oder besser: ein Klischee zu leben, also nicht originell zu sein. – Dass dieser interessante Komplex ein wichtiger Teil des Romans werden sollte, lässt sich aus verschiedenen Episoden her ableiten, weshalb wir später gesondert auf die Rolle des Klischees kommen werden; bleiben wir aber noch bei Fogle, wenden uns dann weiteren Protagonisten zu und sammeln also Daten.

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Zum Dasein als Erwachsener gehört auch eine dezidiert eigenen Meinung, weshalb der Entschluss, nämlich Finanzbeamter zu werden, nicht mit Hilfe der postmodern anmutenden Erklärungen des Dozenten erläutert wird; stattdessen entwickelt Fogle ein eigenes Muster, nämlich die Tatsache, dass die Finanzbeamten symbolisch eine Arbeit übernehmen, die gegenwärtig am dringendsten benötigt wird: die Sortierung und Verwaltung des bereits bestehenden Materials. – Dies ist prosaisches Ende einer existentialistisch anmutenden Verwandlung, die sicherlich nicht von ungefähr an Kafkas Verwandlung erinnert7, wie überhaupt in folgender Sequenz eine Bezugnahme auf Kafka gedeutet werden kann, worauf wir aber verzichten, dies nur erwähnend zitieren: „It was“, so beschreibt Fogle seine Gefühle gleich nach der Wandlung, „a bit like the feeling of suddenly looking at your watch and realizing you’re late for an appointment, but on a much larger scale“ (PK, 234). Es fällt uns schwer, hier nicht an Kafkas Gib’s auf zu denken, an den Menschen, der morgens auf dem Weg zum Bahnhof urplötzlich und ohne ersichtlichen Grund in eine Panik verfällt und dem sich dann die Welt als Chaos auftut – ausgelöst wird diese Regung durch einen Blick auf die Uhr. Wir erwähnen dies, wie gesagt, gehen dem aber nicht weiter nach, interessieren uns nämlich weniger für die direkt markierten Kafka-Bezüge im Werk, immerhin führen derartige intertextuelle Verweise nur selten zu ausschlaggebenden Ergebnissen8, sondern gehen daher der Kafka’schen Spur auf der metapoetologischen und notgedrungen umfassenderen Ebene nach. So ist es möglich, dieses Kapitel der Fogle-Metamorphose als Reflexion über das Entstehen von Originalität und Eigenständigkeit zu lesen. Originell ist dann die Entscheidung, gerade nicht originell zu sein, weil man es nicht sein kann – dies ist vernünftig und damit langweilig im Sinne des Romans – und auch im Sinne Kafkas, da hier die Wahrheit gänzlich ohne helfende Konstruktion, beispielsweise seitens des Dozenten, der sich in Heldengeschichten zergeht, unsubtil geleistet wird. Es ist auch die Kaf-

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Wallace ist sich seiner intertextuellen Verweise bewusst, immerhin liest Fogle mit aller Wahrscheinlichkeit nicht rein zufällig den existentialistischen Roman, nämlich Camus’ La Chute (PK, 184).

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Siehe beispielsweise die Ausführungen Toon Staes’: ‚Only Artists Can Transfigure‘. Kafka’s Artists and the Possibility of Redemption in the Novellas of David Foster Wallace. In: Orbis Litterarum 65:6. S. 459-480.

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ka’sche Langeweile, mit der Samsa verwandelt wird, nämlich unspektakulär, ohne die ansonsten erwarteten Elemente wie etwa Spannungsaufbau oder ähnlichen Konstruktionen, nein, Gregor Samsa ist zu einem Käfer geworden und das war es dann letztlich. Im Kern ist dies langweilig, und auch die weitere Entwicklung ist ähnlich trivial, da sie sich zwangsläufig entwickelt, nämlich in die Realität gesetzt ist: Der Käfer vergeht gemächlich inmitten der Irrungen gegenständlichen Familienlebens, erleidet vollkommen prosaisch sein Schicksal: Der Held, dessen Charakter als beispiellos alltäglich gezeichnet ist9, wird dementsprechend am Ende von der Haushälterin mit dem Kehrblech entsorgt. Gehen wir aber nochmals einen Schritt zurück, konzentrieren wir uns auf The Pale King und versuchen, hieraus eine Art poetologisches Programm zu entwickeln – eine Poetologie der Langeweile, die als langweilig, antiunterhaltend und damit originell definiert wird. Im Roman etabliert Wallace diese neue Poetik durchaus als eine solche, so heißt es im 44. Kapitel von einem namenlos bleibenden Protagonisten: I learned that the world of men as it exists today is a bureaucracy. This is an obvious truth, of course, though it is also one the ignorance of which causes great suffering. But moreover, I discovered, in the only way that a man ever really learns anything important, the real skill that is required to succeed in a bureaucracy. I mean really succeed: do good, make a difference, serve. I discovered the key. This key is not efficiency, or probity, or insight, or wisdom. It is not political cunning, interpersonal skills, raw IQ, loyalty, vision, or any of the qualities that the bureaucratic world calls virtues, and tests for. The key is a certain capacity that underlies all these qualities, rather the way that an ability to breathe and pump blood underlies all thought and action. The underlying bureaucratic key is the ability to deal with boredom. To function effectively in an environment that precludes everything vital and human. To breathe, so to speak, without air. The key is the ability, whether innate or conditioned, to find the other side of the rote, the picayune, the meaningless, the repetitive, the pointlessly complex. To be, in a word, unborable. I met, in the years 1984

9

So wirken die Reflexionen Samsas zu Beginn im Bett, um Arbeit und Ressentiments kreisend, gerade aufgrund der Alltäglichkeit und bestürzenden Belanglosigkeit so komisch, da das Gefälle zur absurden Verwandlung höher nicht sein könnte.

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and ’85, two such men. It is the key to modern life. If you are immune to boredom, there is literally nothing you cannot accomplish. (PK, 437f)

Als Kommentar auf inhaltlicher Ebene scheint diese Aussage vollkommen gerechtfertigt, immerhin arbeiten die Protagonisten allesamt als Finanzbeamte und müssen also eine verwaltende, kalkulierende und archivierende Tätigkeit ausüben, die man stets mit Langeweile verbindet. Und der Erzähler des 44. Kapitels verallgemeinert dies nun und deutet an, dass die Finanzbehörde durchaus ein Sinnbild der Gesellschaft und letztlich der Welt sei. Wie ja auch das Gericht im Proceß und die Behörde in Das Schloß von Kafka allesamt allegorisch zu verstehen sind, worauf wir aber noch kommen werden, denn momentan interessiert uns das Bild, das Wallace hier disponiert: Nur wenige Menschen, so der Protagonist, seien in der Lage, die Langeweile zu ertragen – wir verstehen auch, warum das so ist, immerhin bedarf es dazu einer Verwandlung. Fogle gelingt ja diese Wandlung, die man nun metapoetologisch deuten kann, nämlich als Darstellung einer künstlerischen Genese. Dies ist legitim, da wir ja ausgehend von der Kafka-Rede eruieren konnten, dass die in The Pale King vorgestellte Wandlung eine originäre Bewegung ist: Fogle emanzipiert sich vom Tradierten und findet eine eigenständige Zugangsweise zur Realität, wobei die Wirklichkeit nun ausdrücklich unsubtil erkannt wird, also ganz im Sinne Kafkas10. Fogle, lesen wir ihn als Künstlertypus, ist nun in der Lage, der Realität mit eigenständig erarbeiteten Instrumenten der Wirklichkeitserfassung gegenüber zu treten – denn genau darum geht es ja, nämlich um die Frage nach neuen poetologischen Zugängen, unbelastet vom Tradierten. Für Wallace wird dies in The Pale King zur Aufgabe, die Langeweile des Finanzsystems nicht nur zu ertragen, sondern neu zu sehen und also originell zu verorten: Die Langeweile wird im Kontext völlig verschoben und konnotativ anders aufgeladen, ist an sich keine Langeweile mehr, sondern ist zu einer Entität geworden, die mit den herkömmlichen Vorstellungen auch nicht mehr hinreichend beschrieben werden kann. – Weshalb der Zustand, in welchem Fogle sich nach der Wandlung befindet, im Grunde nicht mehr darstellbar ist: Da das Wertesystem sich in origineller Hinsicht verschoben hat und die kontextuellen Spuren nicht mehr vorhanden sind, ist Fogle zu einer Art neuen Men-

10 Nach Meinung Wallaces jedenfalls.

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schen geworden, einem originellen Künstler sozusagen. Seine Geschichte endet daher auch mit der Wandlung, wobei die Geschichte selbst vom Protagonisten David Wallace denn auch konsequent im postmodernen Duktus11 als „irrelevant“12 (PK, 257) bezeichnet wird, da dem Wallace des Romans ja auch das Verständnis für die Qualität der Wandlung notgedrungen fehlen muss.13 Wie ja auch nicht jeder diese originäre Wandlung vollziehen kann, so schreibt Wallace in Notizen zum weiteren Entwurf, dass einerseits die „pathologically nice“ (PK, 543) in dieser Verwaltung arbeiten können – wobei Vertreter dieser Gruppe die Wandlung nicht eigentlich vollziehen, sondern eher aufgrund ihrer Freundlichkeit die Langeweile ertragen, was aber nicht Ziel sein kann, da man dann immer noch die herkömmliche Langeweile verspürt – also wortwörtlich gelangweilt ist – und keinen neuen Zugang erreicht hat: Die tragische Handlung um Stecyk, dem unglaublich netten und hilfsbereiten Jungen, entspricht einer Darstellung dieses Menschentyps und wird ausführlich im fünften Kapitel dargelegt; im Gegensatz zur zweiten Gruppe, nämlich „those with some kind of trauma or abandonment in their past“ (ebd.), also geschädigte Charaktere, die aufgrund der Schädigung in der Lage sind, die Wandlung zu vollziehen oder zeitgleich mit der Schädigung die Verwandlung vollziehen – es sind, wie sich zeigen wird, stets auch Künstlergenesen, sind Entwicklungsromane des Künstlers. Lane Dean Jr. wiederum gehört zum dritten Typus, also zu denjenigen, die in keiner Weise begabt für die Tätigkeit sind: Wir erfahren im sechsten

11 Postmodern ist der Duktus, weil der Autor sich selbst in den Roman einschreibt und seine Kritik an Fogle zudem in eine Fußnote packt. Dies ist ironisch zu verstehen, worauf wir noch zurückkommen. 12 Eine weitere Ebene der diagnostizierten Irrelevanz besteht aus der angedeuteten Unfähigkeit Fogles, über sich selbst „focused & cogent and interesting“ zu erzählen, gar zu denken. So jedenfalls deutet eine Notiz an (PK, 540f). 13 Dies sollte sich während der Handlung wohl ändern, wie Notizen belegen: So sollte der Wallace des Romans nach etwa 100 Seiten verschwinden und im System aufgehen (PK, 546). Leider kann man kaum rekonstruieren, wie dieses Verschwinden gewertet wird, doch kann man vielleicht interpretieren, dass Wallace verschwindet, weil auch ihm die Wandlung gelingt und er damit für herkömmliche Maßstäbe nicht mehr beschreibbar ist, nämlich „becomes creature of the system“, so Wallace (PK, 546), was ja durchaus für eine solche Deutung spricht.

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Kapitel, dass Lane wegen der ungeplanten und sicherlich auch ungewollten Schwangerschaft seiner Freundin den Beruf ergreift14, treffen ihn dann einige Zeit später vollkommen gebrochen wieder, hilflos bemüht, die Langeweile zu ertragen: „This was boredom beyond any boredom he’d ever felt“ (PK, 377), bis er am Ende gar Selbstmord in Betracht zieht. Lane ist also nicht in der Lage, diesen Beruf auszuüben, da er weder krankhaft nett noch traumatisiert ist: Die Langeweile quält und wird dementsprechend gemieden, was einer herkömmlichen und sicherlich nicht ausführlicher zu beschreibenden Reaktion entspricht. Wenden wir uns also den Geschädigten zu. Wobei jene Vorgeschichten recht ungeordnet im Roman verstreut vorliegen, weshalb der Leser erst nach und nach erkennt und zu eruieren hat, welche Figur aufgrund welches Traumas Finanzbeamter geworden ist. Wallace hat einige Mühe auf diese Geschichten der Finanzbeamtentauglichkeitsgenesen gelegt und erzählt beispielsweise von einer Frau, Toni Ware, die als Kind die Ermordung ihrer Mutter mit starr geöffneten Augen ertragen musste und nun wohl nicht zufällig in der Finanzbehörde arbeitet: Ausgehend vom Trauma hat sich ein Talent gänzlich entfaltet, welches schließlich zur Wandlung führt und damit zu einer Neudefinition der Langeweile und letztlich des Daseins insgesamt. Es beginnt noch vor dem Mord mit zwei relevanten Ereignissen, die beide mit der Familiengeschichte verknüpft sind, so waren Mutter wie auch Großmutter schizophren und litten unter den üblichen Krankheitssymptomen, worauf das Kind zu reagieren hat: „The mother’s relational skills were indifferent and did not include truthful or consistent speech. The daughter had learned to trust actions and to read sign in details of which the run of children are innocent.“ (PK, 55) Dann heißt es weiter von der Zeit On the Road mit der kranken Mutter: The girl read stories about horses, bios, science, psychiatry, and Popular Mechanics when obtainable. She read history in a determined way. She read My Struggle and

14 Und werden zudem Zeuge einer der ungewöhnlichen empathischen Regungen, die Wallace nur sehr selten beschreibt: Lane gelingt es, sich für einen kurzen Moment in die Lage seiner Freundin zu versetzen – auch er erfährt dadurch eine Wandlung und erreicht damit einen Grad der Kommunikation, den Wallace in der Literatur stets anstrebt.

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could not understand all the fuss. She read Wells, Steinbeck, Keene, Laura Wilder (twice), and Lovecraft. She read halves of many torn and castoff things.

Und nun, besonders interessant: „She read a coverless Red Badge and knew by sheer feel that its author had never seen war nor knew that past some extremity one floated just above the fear and blinklessly watch it while doing what had to be done or allowed to stay alive.“ (PK, 58) Hier vereinigen sich die oben angedeutete gesteigerte Aufmerksamkeit und die Flut von Informationen zu einer Gewissheit über die Welt, die weit über das normale Maß hinausgeht, wie sehr, findet sich im Text sehr explizit: „Unlike the mother or bodiless doll, she was free inside her head. An unbound genius, larger than any sun.“ (PK, 60) Dies ist eventuell Erlebte Rede, markiert dann eigenes Denken über ihre Situation – und dennoch wird hier ein sehr außergewöhnliche Biographie in sparsamen Worten angedeutet, die geradezu notwendig zur Künstlerlaufbahn zu führen hat, nicht aber zur Finanzbeamtin. Unserer Ansicht nach wird hier die metapoetologische Absicht Wallaces überdeutlich, die Grenze zwischen inhaltlicher und metatextueller Ebene durchlässig. Toni Ware treibt noch eine dritte Konversion voran, neben der gesteigerten Aufmerksamkeit und der scheinbar wahllosen Lektüre – sie übt den Todeszustand: Both the mom and the grandmother had been given to catatonic/cataleptic states, which as far as I can tell is a symptom of a certain kind of schizophrenia. The girl, ever since young, had amused herself by trying to imitate this state, which involved sitting or lying extremely still, slowing your pulse, breathing in such a way that your chest doesn’t even rise, and holding your eyes open for a long periods, such that you’re blinking only every couple minutes. It’s the last that’s hardest – the eyes start to burn as they dry out. (PK, 439)

All dies kulminiert dann in der Mordszene, in welcher Toni scheinbar kaltblütig der Ermordung der Mutter zuzusehen gezwungen ist, womit die Traumatisierung selbstredend ungeahnte Intensität erreicht; „this girl is damaged goods“, so erklärt der ungenannte Erzähler des 45sten Kapitels. – Es scheint hinreichend deutlich geworden zu sein, dass die Wandlung zuerst einmal auf irgendeine Art mit der Aufmerksamkeit zu tun hat, sind doch die Augen deutlicher Hinweis, wobei diverse Hinweise andeuten, dass

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es in den Wandlungen um mehr geht, als allein um die Möglichkeit, Finanzbeamtin zu werden. Auch kommt im Roman ein Protagonist vor, David Cusk, der angesichts von unkontrollierbaren Schwitzattacken dazu getrieben wird, ebenfalls mit weitgeöffneten Augen und kontrollierend die Welt umfassend nicht nur zu sehen, sondern stetig zu analysieren: Jede Kleinigkeit kann Auslöser des Schwitzens werden und während einer solchen Attacke ist es notwendig, umfassend über jede Begebenheit informiert zu sein. Es ist ein zweischneidiges Schwert: „It was in public high school that this boy learned the terrible power of attention and what you pay attention to.“ (PK, 91) Diese hochkomplex aufgeladene, neurotische Situation prägt ihn völlig, unbewusst auch seine Terminologie, denn Primed became his inner code word fort he state of hair-trigger fair and dread that could cause him to have an attack at almost any time in public. His main way of dealing with being constantly primed and preoccupied with the fear of it all the time at school was that he developed various tricks and tactics for what to do if an attack of public sweating started and threatened to go totally out of control. (PK, 96f)

In den Notizen zu dem Kapitel wird Wallace deutlicher, erklärt nämlich: „Primed is one of the IRS words for putting Examiners in a state where they pay maximum attention to returns“ (PK, 540), womit unmissverständlich wird, dass die Schädigung die Aufmerksamkeit beeinflusst, und zwar in einem für den Job einträglichen Sinn. Diese Traumata also können als erste und prägende Anlässe für eine spezifische Art der Daseinsaneignung gelten, als wesentliche Schädigungen, die eine originelle Definition der Langeweile erlauben. Kurz und existentialistisch gesagt, nichtet das Individuum nicht mehr und vollzieht die von Sartre beschriebene Kategorisierung der Welt als Staffelung nicht mehr mit: Die Aufmerksamkeit ist eine totale, die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit eine Art Hyperrealismus. Als poetologisches Programm kann festgestellt werden, dass Wallace hier die Staffelung der Erkenntnisfähigkeit als Kategorisierung des vorhandenen Materials verwirft und damit theoretisch die Möglichkeit einer unbeeinflussten und daher unsubtilen Poetik im Sinne Kafkas andeutend beschreibt – wobei es sicherlich sehr interessant ist, dass für Wallace der Künstler als psychisch auf irgendeine Art deformierter Außenseiter gilt, der

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nun allein als ein solcher überhaupt in der Lage ist, originär zu denken, da die traumatische Schädigung eine originäre Sichtweise auf die Realität erlaubt. Rekurriert Wallace hier bewusst oder unbewusst auf das im Grunde veraltete und selbst zum Klischee gewordene Genie-Konzept der Romantik, vor allem der Frühromantik, die ja ohnehin als Vorläufer der Postmoderne gelten kann?

Sechstens: Drinion und Meredith

Dass das Individuum aus dem gewohnten Zusammenhang der kontextuell sich gebenden und ergebenden Wirklichkeit aussteigen muss, ist offenkundig, wobei dies wohl selten freiwillig geschieht – als bewusste Entscheidung –, da man in konsequenter Manier die Gesellschaft verlassen hat und den Standort einnimmt, der dem Außenseiter vorbehalten bleibt. Auch ist ja erst einmal gar kein Grund vorhanden, den gegebenen Rahmen zu verlassen, hat ein normaler Teilhaber des Kontextes doch keine Ahnung von den Alternativen oder überhaupt von der Möglichkeit einer derartigen Außenseiterposition. – Zum Außenseiter wird man demnach seltener aufgrund eigener Entscheidungsfindungen oder rationaler Prozesse, zum Außenseiter wird man gemacht, wobei diese Genese und die Folgen einer derartigen Umwertung maßgebliche Teile des Pale King ausmachen – vor allem wird die Schwierigkeit einer Darstellung der Konversion reflektiert und eine Annäherung an die nach der Wandlung erlangte Perspektive versucht. Ganz besonders interessant ist in diesem Zusammenhang dann natürlich der Außenseiter, der keine Wandlung mehr hat vollziehen müssen, der von Beginn an eine originäre Situation zur Gesellschaft repräsentiert. Wallace deutet dies im 46. Kapitel an, versucht hier nämlich, den neuen Menschentypus zu zeigen und zugleich die Art des neuen Wirklichkeitsbezugs darzustellen – es wird eine Gesprächssituation zwischen Meredith Rand und Shane Drinion beschrieben, die wie folgt eröffnet wird: Shane Drinion has seemed unaffected by the presence of a terribly attractive woman. Granted, it’s not clear to anyone just what Drinion is affected by. The other transfers from La Junta CA (Sandy Krody, Gil Haight) describe him as a very solid

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Fats and S corp examiner but a total lump in terms of personality, possibly the dullest human being currently alive. (PK, 448)

Drinion ist also tatsächlich ein Außenseiter, worauf auch Meredith Rand mehrmals im Verlauf des in diesem Kapitel beschriebenen Gesprächs hinweist, doch kann sie, wie es angesichts der Beschreibung eines wahrhaftigen Außenseiters geradezu zwangsläufig der Fall sein muss, die Erfahrung nicht in Worte fassen; so stellt sie fest: „,There’s something kind of tiring about you,‘ Rand observes. ‚Talking to you.‘ Drinion nods. ‚It’s like you’re both interesting and really boring at the same time.‘ ‚I’ve certainly been told that people feel I’m boring‘“ (PK, 461). Er wirkt so, weil er in der Lage ist, alles interessant zu finden, was Meredith, die auf ihre Schönheit und den damit verbundenen, nicht ausschließlich positiven Konsequenzen fokussiert ist, nicht nachvollziehen kann. Während sie über sich und ihre sicherlich ein wenig langweilige1 Trauma-Geschichte spricht, hat Drinion das Talent, jeder Begebenheit jener Geschichte das gleiche Interesse aufzubringen: „Meredith Rand says: ‘Can I say that one of the reasons you come off as a little boring is that you don’t seem like you have any sense of what the real topic of a conversation is? This stuff doesn’t have anything to do with what we were just talking about, does it?‘“ (PK, 464) Drinions Wirkung wird in einem paradoxen Verhältnis aus der scheinbaren Wirkungslosigkeit erzeugt: „He’s there but in an unusual way; he becomes part of the table’s environment, like the air or ambient light.“ (PK, 448) Und doch, für Wallace ist Drinion ein glücklicher Mensch, wie er in den Notizen zum Roman sehr bedingungslos reflektiert, wenn es schon nicht im Text selbst adäquat darstellbar ist: Drinion is happy. Ability to pay attention. It turns out that bliss – a second-bysecond joy + gratitude at the gift of being alive, conscious – lies on the other side of crushing, crushing boredom. Pay close attention to the most tedious thing you can find (tax returns, televised golf), and, in waves, a boredom like you’ve never known will wash over you and just about kill you. Ride these out, and it’s like stepping from black and white into color. Like water after days in the desert. Constant bliss in every atom. (PK, 546)

1

Was uns an späterer Stelle noch beschäftigen wird.

D RINION UND M EREDITH

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So fällt es schwer, Drinion als glücklich zu deuten, im Gegenteil scheint er mit entrückter Debilität bis hin zu autistischen Charakterzügen gesegnet – sicherlich obliegt dies zweierlei Gründen, zum einen dem postumen Wesen des Werkes, doch weitaus wesentlicher wohl der grundsätzlichen Unmöglichkeit einer Darstellung originärer Zustände – und eben hierin liegt ja der Ehrgeiz, inhaltlich und poetologisch, des Konzeptes von The Pale King. Wir erfahren leider nicht, ob auch Drinion eine traumatische Erfahrung hinter sich hat und ausgehend hiervon diesen meditativ anmutenden Zustand erreicht, wir werden aber in den Notizen über die dementsprechenden Gerüchte informiert, so reflektiert Wallace: „Drinion came home as child to find whole family gone – at least that’s the rumor. A lot of stuff about Drinion, his manner of paying attention, should be implicit, or should unfold over a much longer time.“ (PK, 544) Ob Drinion aufgrund traumatischer Ereignisse in diesen Bewusstseinszustand geriet, bleibt daher fraglich und sollte wohl im Verlauf des Romans bewusst in der Schwebe bleiben und nur andeutend behandelt werden: Drinion als in diesem Zustand am weitesten vorgerückter Finanzbeamter bleibt weiterhin rätselhaft. Zudem ist es so, dass er im Verlauf des Gesprächs, welchem er ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt und indes stellenweise zu ungewöhnlichen Folgerungen kommt, ins Schweben gerät, tatsächlich abzuheben beginnt: Ein meditativ anmutender Zustand, in welchem sich Drinion gänzlich der Gesprächssituation überlässt und hierüber gänzlich vergisst. Dieses Kapitel ist sicherlich das entscheidende und ehrgeizigste des Romans – und mit aller Wahrscheinlichkeit nur eine sehr rudimentär ausgeführte Fassung, die daher mit einiger Vorsicht zu interpretieren ist, gleichwohl es natürlich auch für unsere poetologischen Überlegungen von einiger Bedeutsamkeit ist: Drinion als geheimnisvoller Prototyp des neuen Menschen entspricht auch einem originären Zugang poetologischer Natur. Verständlicher wird dies, wenn wir uns eine Überlegung näher ansehen, die Wallace während des Interviews mit Larry McCaffery anstellt und die sich um das Originelle und vor allem um dessen Möglichkeit dreht.

Sechstenseinhalb: Konstruktionen

Vladimir Nabokov und Robert Coover seien „real geniuses, the writers who weathered real shock and invented this stuff in contemporary fiction. But after the pioneers always come the crank-turners, the little gray people who take the machines others have built and just turn the crank, and little pellets of metafiction come out the other end.“1 Und weiter: And this accelerates the metastasis from genuine envelope-puncturing to just another fifteen-minute form that gets cranked out and cranked out and cranked out. Which creates a bitch of a problem for any artist who views her task as continual envelopepuncturing, because then she falls into this insatiable hunger for the appearance of novelty: ‚What can I do that hasn’t been done yet?‘ Once the first-person pronoun creeps into your agenda you’re dead, art-wise. That’s why fiction-writing’s lonely in a way most people misunderstand. It’s yourself you have to be estranged from, really, to work.2

Wir haben bereits auf die recht überraschende und doch vehemente Etablierung des Genie-Gedankens in Wallaces Argumentation hingewiesen; wobei die Postmoderne nicht insgesamt das Genie verwirft, es aber problematisiert und vor allem ironisiert. Hiergegen nun wird das Genie und ein unbewusster Schreibakt gesetzt – immerhin soll das Ich als bewusstes und also kontextuell erstelltes sowie erstellendes, sich demnach kontextuell reflektierendes Gefüge ausgeschaltet werden, und zwar im Schreibakt.

1

McCaffery, Larry: An Interview, S. 135.

2

Ebd.

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Wallace hat es nicht, wie schon erwähnt, unbedingt mit der Einflussangst Blooms zu tun, sondern mit dem, was Kafka Jahrzehnte zuvor mit dem Schlagwort der Konstruktionen zu fassen sucht und damit Klischees meint, welche die Welt auf eine Weise bestimmen, damit individuelle und neuartige Zugänge boykottieren – holen wir ein klein wenig aus. 1915 notiert Kafka: „Ein Vormittag: bis ½ 12 im Bett. Durcheinander von Gedanken, das sich langsam bildet und in unglaubwürdiger Weise festigt.“ 3 Die Eingangsformel soll verdeutlichen, dass es kein besonderer Vormittag ist, sondern ein gewöhnlicher – Kafka assoziiert, im Bett liegend, so kennt man ihn, vor sich hin und wird Zeuge einer Verfestigung loser Gedanken bis hin zum Plot. Von dieser poetologischen Vorstellung ausgehend, haben wir es in der Prosa Kafkas in der Tat mit einer Assoziationsreihung zu tun, die im Unterbewusstsein geradezu von selbst entsteht und somit den Denkenden gleichsam ins Bewusste aufsteigend überrascht. So kann man einen solchen Zugang durchaus als dionysisch im berühmten Sinne Nietzsches definieren, also als rauschhaft und unkontrollierbar, als triebhaft und nicht kalkuliert, nicht auf ein Ergebnis hin geschrieben, sondern ganz dem Moment überlassen – die Originalität resultiert dann zusätzlich, außerhalb der Unkalkulierbarkeit des Entstehens, aus dem, was man mit dem Begriff der Eigengesetzlichkeit andeuten kann. Im Jahre 1922 notiert Kafka einen Gedanken, der dies nochmals verdeutlicht: Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat – Beobachtung, Tat – Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der ‚Reihe‘ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg.4

Die Gedankenreihung verlässt demnach die herkömmlichen Denkschablonen und die Gewöhnlichkeit schriftstellerischer Zustände, letztlich definiert er eine bestimmte und gewöhnliche Art des Denkens, der Wirklichkeitserfassung – es geht hier also um das Klischee.

3

Kafka, Franz: Tagebücher, S. 732.

4

Ebd., S. 892.

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Ein Begriff, den Kafka selten bis gar nicht gebraucht und hier aber dennoch indirekt definiert: Nämlich als das zu Erwartende, die Gewöhnlichkeit und damit die Schablonenhaftigkeit des Zugangs. Letztlich geht es darum, dass Kafka eine Poetologie zu verorten sucht, deren Ziel eine Beschreibung scheint, die nicht mehr angewiesen ist auf das Klischee, also auf die gewöhnliche und allseits bekannte Art des Erzählens oder auch Denkens: Es geht gegen die Ursache-Wirkungs-Verhältnisse und damit gegen die tradierten Versatzstücke einer kulturell gefestigten Zugangs- und Darstellungsweise, die Kafka eindeutig als nicht mehr tragfähig zur Umsetzung seiner Einfälle empfindet – als originell erlebt Kafka die individuelle Reihung der einzelnen Versatzstücke, wohl wissend, dass man in der Literatur und überhaupt im Denken selbstverständlich mit Klischees arbeiten muss, also mit gewissen Konstruktionen. Interessanterweise thematisiert Kafka ab den 1913er Jahren eben diesen Umstand und problematisiert das Konstruktive der Wahrnehmung, eventuell auch des Denkprozesses – beginnt er doch recht unvermittelt mit einer Reflexion, deren Anlass ausgerechnet das Lesen des Tagebuchs ist: Mich ergreift das Lesen des Tagebuchs. Ist der Grund dessen, daß ich in der Gegenwart jetzt nicht die geringste Sicherheit mehr habe. Alles erscheint mir als Konstruktion. Jede Bemerkung eines andern, jeder zufällige Anblick wälzt alles in mir, selbst Vergessenes, ganz und gar Unbedeutendes, auf eine andere Seite.5

Kafka verweist in der seltsam abstrakten und daher für ihn untypischen Nutzung des Begriffes auf einen Umstand, der mit unserer Überlegung bezüglich einer klischeeisierten Denkart zusammenhängt. Eine weitere Stelle im Tagebuch soll dies verdeutlichen; so heißt es einige Tage später: Dieses Voraussagen, dieses sich nach Beispielen richten, diese bestimmte Angst ist lächerlich. Das sind Konstruktionen, die selbst in der Vorstellung in der allein sie herrschen, nur fast bis zur lebendigen Oberfläche kommen, aber mit einem Ruck überschwemmt werden müssen. Wer hat die Zauberhand, daß er sie in die Maschinerie steckte und sie würde nicht durch tausend Messer zerrissen und verstreut.6

5

Ebd., S. 594.

6

Ebd., S. 596.

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Und nun wird auch die Verwendung des Begriffs klarer, vor allem wenn man einbezieht, was er zusätzlich über Ernst Weiß’ Roman Die Galeere urteilt: „Konstruktionen in Weiß’ Roman. Die Kraft sie zu beseitigen, die Pflicht, das zu tun. Ich leugne fast die Erfahrungen. Ich will Ruhe, Schritt für Schritt oder Lauf, aber nicht ausgerechnete Sprünge von Heuschrecken.“7 – Besieht man sich die Definition von Konstruktionen im ersten Zitat, so haben wir es anscheinend mit Prognosen und Beispielen zu tun, also mit Inhalten, die auf irgendeine Art das Dasein beschreiben und dem Einzelnen hierbei anleiten: Die Welt besteht für Kafka demnach aus Konstruktionen, Versatzstücken, die aber, so die kritische Sicht, die Wirklichkeit nur unzureichend abdecken, nämlich allein in der Vorstellung existieren, und zudem nur oberflächlich beschreiben. Der Vorwurf an Weiß’ Roman scheint anzudeuten, dass dieser sich auf die phantasierten, oberflächlichen Versatzstücken beziehe. Kafka erklärt hier eindeutig, dass die Konstruktionen zerstört werden müssen, denn mit der Realität konfrontiert, müssen sie versagen, sprich: vernichtet werden. Weiß’ Roman wiederum, soviel scheint nun logisch, versagt ebenfalls an dieser Stelle, gleichwohl man genauer die Kafka’sche Realität definieren muss: Kafka ist ja augenscheinlich kein mimetisch schreibender Autor, also kein reiner Nachahmer der Realität, ihm geht es um die Darstellung der Wahrheit, was für ihn gleichbedeutend mit der Realität, jedoch nicht der Mimesis der Realisten ist. Weiß’ Roman jedenfalls ist diesem Anspruch nicht gerecht geworden, hat also die Wahrheit nur oberflächlich und demnach mit Hilfe von Konstruktionen beschrieben, was Kafka verhasst ist und seinen deutlichen Widerwillen erregt. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass er selbst sich als von Konstruktionen ausgehend und definiert erkennt; so erklärt er ebenfalls in diesem Zeitraum: „Klägliche Beobachtung, die gewiß wieder von einer Konstruktion ausgeht, deren unterstes Ende irgendwo im Leeren schwebt“, woraufhin er einen höchst komplexen Gedankengang beschreibt, den er selbst jedoch als kläglich erkennt und als Konstruktion geißelt. In diesen Zusammenhang wird denn auch die Bemerkung verständlich, die ihn selbst als Vernichter der Konstruktionen in Weiß’ Roman empfiehlt, hier geradezu von einer Pflicht zu dieser Vernichtung spricht: Kafka erkennt die Welt, das Denken dieser Welt und also auch sich selbst als von Konstruktionen

7

Ebd., S. 607.

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durchsetzt, die eine Schweinwirklichkeit, eine scheinbare, da oberflächliche und nur vorgestellte Wahrheit vorgaukeln. So ist der nächste Satz zu verstehen: „Ich leugne fast die Erfahrungen“, gesteht er und deutet damit an, wie tief ihn der Widerwille vor den Konstruktionen besetzt, wie tief seiner Meinung nach das Konstruktive seines Denkens reicht. Interessanterweise gesteht er den Konstruktionen zu, logische Reihungen und also Gedankenverknüpfungen zu leisten; auch Literatur bedarf dieser Reihungen, bedarf einer gewissen Logik, dies weiß auch Kafka, der also erklärt, durchaus Schritt für Schritt vorgehen zu wollen, auch laufend, doch nicht in Form „ausgerechneter Sprünge von Heuschrecken“. – Eine typische Assoziation, fort nämlich vom abstrakten Gedanken und hinein ins Tierbild führen, hin demnach zur Heuschrecke, die ihrerseits definiert werden sollte. Doch verbleiben wir bei den „ausgerechneten Sprüngen“ – was bedeutet, dass mit und durch Konstruktionen die logische Gedankenreihung sprunghaft wird, hierbei jedoch stets planbar bleibt und berechenbar. Auch Weiß, so der latente Vorwurf Kafkas, nutze in der Darstellung gedankliche Sprünge, die aber bekannt, beispielhaft und damit klischeehaft und berechenbar sind, weshalb es statthaft scheint, die besagten Konstruktionen in ihrer Reihung mit den Klischees gleichzusetzen. Wenn Kafka in obiger Textstelle darauf hinweist, gehen zu wollen, Schritt für Schritt auch zu laufen, so erklärt er damit, dass vor allem die Verknüpfung der Gedanken maßgeblich für die Wahrhaftigkeit, so Kafka, und für die Originalität, so wir, ist – dies wird durch folgende Tagebuchaussage verdeutlicht, in welcher Kafka seine berühmte Rede von der Perfektion verkündigt: „Die besondere Art meiner Inspiration in der ich Glücklichster und Unglücklichster jetzt um 2 Uhr nachts schlafen gehe [...] ist die, daß ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe, z.B. Er schaute aus dem Fenster so ist er schon vollkommen.“8 Wir haben es mit den in der Tiefe bei den dunklen Mächten gefundenen Sätzen zu tun, die für sich, so Kafka, vollkommen sind – eben weil sie noch nicht in die logische Reihung eingeordnet sind, die aber nötig wird zur adäquaten Beschreibung. An anderer Stelle wird der Zusammenhang noch deutlicher; so schreibt Kafka: „Ich ziehe, wenn ich nach längerer Zeit zu schreiben anfange, die Worte wie aus der leeren Luft. Ist eines gewonnen,

8

Ebd., S. 30.

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dann ist eben nur dieses eine da und alle Arbeit fängt von vorne an.“9 Die Verbindung zwischen den Wörtern ist demnach das eigentliche Problem, die angedeutete Perfektion ja nur eine punktuelle. Zum Klischee und zum später in den Diskurs eingebrachten Konstrukt wird das Wort erst in der Verbindung mit anderen Wörtern, in der Beziehung des einen perfekten Satzes zu den anderen Sätzen. Die im dionysischen Gang ins Unterbewusstsein aufgefundenen Eingebungen müssen daher, so originär und aus den tiefsten Tiefen des Selbst geschöpft sie auch seien mögen, in eine Art originäre Grammatik übertragen und in der Folge vor den Konstruktionen bewahrt werden. Es ist deshalb ernst zu nehmen, wenn Kafka sich in einer kryptisch anmutenden Tagebuchstelle als Jäger bezeichnet: „Ich bin auf der Jagd nach Konstruktionen. Ich komme in ein Zimmer und finde sie in einem Winkel weißlich durcheinandergehn.“ – Ob die adjektivische Betonung des Weißlichen auf den Autor Weiß bezogen ist und Kafka demnach direkt die Lektüre des besagten Romans meint, muss offen bleiben und spielt auch in unserer Hinsicht keine große Rolle: Fakt ist hingegen, dass Kafka in dieser Zeit eine überraschend abstrakte und geradezu postmodern anmutende kritische Sichtweise auf die Kultur und letztlich den Menschen entwirft, tatsächlich ist seine Theorie der Versatzstücke, die zu kulturellen Konstruktionen gefrieren und damit Originalität verhindern oder gar nicht zulassen, seltsam gegenwärtig, erinnert beispielsweise an die Memetik. Letztlich ist natürlich auch diese Idee nicht vollkommen neu, wird aber zur Zeit Kafkas wohl nicht zufällig zum ersten Mal theoretisch von den Russischen Formalisten10 infolge der Idee der literarischen Evolution behandelt: Mit dem Aufkommen der Massenmedien beginnt ein Prozess der rascheren Klischeeisierung von Topoi, Motiven, Techniken. Gekoppelt ist diese Entwicklung mit einem stetig gestiegenen Eindringen der kulturellen Ebene in die Alltagswelt: War Kultur und damit die Literatur vorher abgehoben von der alltäglichen Welt und sozusagen ein Zusatz intellektueller oder unterhaltender Natur, so verändert sich dies mit dem Aufkommen der massenmedialen Verbreitung: Radio, Kino, später Fernsehen und das Internet, all dies sorgt für eine weitaus vehementere Verschränkung der kultu-

9

Ebd., S. 292.

10 Tynjanovs maßgebliche Artikel entstehen in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.

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rellen Erzeugnisse mit dem individuellen, dem privaten Lebensraum – Wallace, in einer Zeit der so gut wie totalen massenmedialen Beeinflussung11, formuliert das Dilemma, welches Kafka und auch die Russischen Formalisten allein auf die Literatur und zuhöchst persönliche, also eindimensional verlaufende Bezüge anwenden, wie folgt: The problem is that, however misprised it’s been, what’s been passed down from the postmodern heyday is sarcasm, cynicism, a manic ennui, suspicion of all authority, suspicion of all constraints on conduct, and a terrible penchant for ironic diagnosis of unpleasantness instead of an ambition not just to diagnose and ridicule but to redeem. You’ve got to understand that this stuff has permeated the culture. It’s become our language; we’re so in it we don’t even see that it’s one perspective, one among many possible ways of seeing. Postmodern irony’s become our environment.12

Ähnlich wie die Formalisten und auch Kafka versteht Wallace die kulturelle Entwicklung als mehrstufiges Modell: Beginnend mit der Innovation eines Genies werden diese neuen Techniken von Epigonen übernommen und zunehmend klischeeisiert, woraufhin abermals ersonnene Innovationen diese Klischees aufbrechen, und so weiter. Für die Formalisten gestaltet sich dies wie folgt: Bei der Analyse der literarischen Evolution stoßen wir auf folgende Etappen: 1. als Kontrast zum automatisierten Konstruktions-Prinzip bildet sich dialektisch ein entgegengesetztes Konstruktions-Prinzip aus; 2. das neue Prinzip findet Anwendung; 3. es breitet sich aus, wird zur Massenerscheinung; 4. es automatisiert sich und provoziert entgegengesetzte Konstruktions-Prinzipien.13

In diesem Verständnis, wir haben dies schon erwähnt, gestaltet sich eine derartig diachrone Entwicklung als wenig überraschend. Problematisch für Wallace ist nun die ganz neue Qualität des Klischees – die Ironie nämlich,

11 Zur Zeit des Interviews waren ja die Auswirkungen des Internets überhaupt noch nicht einzuschätzen. 12 McCaffery, Larry: An Interview, S. 147f. 13 Tynjanov, Jurij: Das literarische Faktum, S. 21.

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sie wird als derart zersetzend für jede Ebene des kulturellen Diskurses gedeutet, dass kaum noch Auswege denkbar sind. Natürlich ist es so, dass jeder Vertreter seiner Zeit seine jeweiligen Klischees als die schlimmsten erachtet, so wie ja auch jeder seine Krankheit und seine Schmerzen als die schlimmsten deutet. Und doch ist Wallace in diesem Fall sicherlich zuzustimmen – und dies nicht allein, weil wir ja ebenfalls Vertreter dieser Generation sind, sondern weil die ironische Grundhaltung tatsächlich keine anderen Diskurse mehr zulässt, soll heißen, dass nach dem Einzug der totalen Ironie bis hin zum Sarkasmus ein alternativer Weg kaum noch denkbar scheint: Die Ironie wirkt universal und bezieht sich nicht mehr auf bestimmte Techniken, Motive oder Topoi, der Ironie geht es tatsächlich in der Literatur um die Literatur selbst, die so ironisiert in der Tat an Potenz verlieren muss. Hierauf weist Wallace ja nun in Interviews, Essays und seinen Werken immer wieder hin und müht sich in der Folge, die Ironie wieder zu verlassen und neue Wege zu gehen – in die Naivität, wie wir schon angedeutet haben, die aber eher Sentimentalität im Sinne Schillers sein kann. Poetologisch also geht es auch Wallace um die Innovation, die Originalität, die aber existentiell gesehen wird, da die postmoderne Ironie auch existentielle Wirkungen zeitigt. Womit er keiner der Autoren ist, die sich auf eine einfache Einflussangst reduzieren lassen, es geht eher um die Konstruktion der Wirklichkeit durch Sprache, was immer in Klischees abläuft, nun aber aufgrund des Klischees der Ironie in eine Sackgasse geführt hat. Kann Kafka noch auf der Ebene agieren, die er als Klischee erkennt – beispielsweise den geschraubten Ton seiner Prager Kollegen durch ein verbeamtetes Deutsch aufbrechen und hier Originalität finden14 – muss Wallace andere Wege suchen, kann also nicht mit einer einfachen Verschiebung auf derselben Ebene agieren, er muss die Ironie selbst angehen, was das zentrale Thema des Pale King sein soll.15 Originär muss der Akt sein, weil die

14 Es ist auch im Falle Kafkas nicht so einfach, weshalb ich gern auf eine zukünftige, aller Wahrscheinlichkeit nach tiefgründige Darstellung des Originalitätsdiskurses im Werke Kafkas hinweise, die der Verfasser momentan anfertigt. 15 Und liest man von der Reise auf dem Luxusdampfer, also den Text A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again aus dem Jahre 1995, in diesem Verständnis, wird die Haltung des Protagonisten auch verständlicher: Geradezu einfach wäre ja die ironisch-sarkastische Beschreibung der luxuriösen Ereignisse gewesen,

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Ironie jede denkbare Konnotation beeinflusst und in diesem Verständnis zerstört, auf jeden Fall soweit aushöhlt, dass ein ernsthafter, naiver oder authentischer Zugang nicht mehr möglich ist. Zudem kann man, wie schon erwähnt, auch nicht mehr zum naiven Register wechseln, denn dies wäre die Gegenhaltung zum Klischee und damit jenes Klischee unter einem anderen Vorzeichen, was nicht genügen kann zur originär intendierten Absetzung. Wallace umkreist, wie er ja selbst mehrmals betont, künstlerisch die Möglichkeit einer Neuausrichtung der Literatur, speziell der amerikanischwestlichen Fassung, die in der Postmoderne sozusagen ihre Unschuld verloren hat und diese Unschuld wieder benötigt, damit das alte, von den Formalisten als Evolution beschriebene Spiel der Entwicklung innerhalb der Literatur wieder aufgenommen werden kann. – Nun wird verständlich, wie Kafka in dieser Systematik einzuordnen ist, immerhin kann er nicht einfach als weiterer Coover, Updike oder Pynchon benannt und demzufolge als Genie gefeiert werden, welches eine neue Technik, Haltung, Poetik in die Literatur einführt, nein, Kafkas Beispiel ist als grundsätzlicher zu definie-

ebenso einfach die Lobhudelei und vollkommene Empathie mit den anderen Luxuspassagieren – Wallace jedoch findet eine mehr als ungewöhnliche Grundhaltung zu dem zu beschreibenden Phänomen, eine Haltung, die meines Erachtens noch nicht recht beschrieben ist, die aber auch dafür sorgt, dass viele Leser in ihrer Erwartungshaltung sehr vehement enttäuscht werden, da sie eine sarkastische Beschreibungsart annahmen und nun eine eher naive Zugangsart vorfinden: Wallace vermeidet nämlich die Ironie, gleichwohl er sie immer wieder findet (oder sie ihn), doch müht er sich sichtlich, die Ironie zuerst einmal mit Hilfe einer Schädigung seiner Selbst zu brechen, soll bedeuten, dass Wallace sich und seine Haltung stets kritisch betrachtet, darüber reflektiert und andererseits auch die Macher, Passagiere und anderweitig Beschäftigten des Luxusliners zu verstehen und in ihren Motiven nachzuvollziehen sucht: Wallace geht es um die Kommunikation zwischen den beiden Ebenen und damit um eine genauere, realistischere Berichterstattung. Tatsächlich ist eine derartige Form journalistischer Arbeit wohl gänzlich neu (Christoph Ribbat geht in seinem Artikel Seething Static: Notes on Wallace and Journalism näher auf diesen Umstand ein) – und sicherlich mit unserem Zugang sehr gut zu beschreiben und ins Gesamtwerk einzuordnen.

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ren – so erklärt Wallace im besagten Interview über die Möglichkeit der Naivität als neue Form der Haltung gegenüber einer ironisierten Umwelt: I know this doesn’t sound hip at all. I don’t know. But it seems like one of the things really great fiction-writers do [...] is give the reader something. The reader walks away from real art heavier than she came to it. Fuller. All the attention and engagement and work you need to get from the readers can’t be for your benefit; it’s got to be for hers. What’s poisonous about the cultural environment today is that it makes this so scary to try to carry out. Really good work probably comes out of a willingness to disclose yourself, open yourself up in spiritual and emotional ways that risk making you look banal or melodramatic or naive or unhip or sappy, and to ask the reader really to fell something. To be willing to sort of die in order to move the reader, somehow.16

Hier können wir durchaus den Kafka des Essays erkennen, doch nicht nur diesen, sondern auch den Kafka, der in die Popkultur eingedrungen ist, nämlich als tatsächlich wahrhaftiger Künstler, der für seine Kunst immerhin gestorben ist, so jedenfalls das Klischee; für seine unsubtile Kunst, so Wallace, worunter nun nicht die herkömmliche Art der Literaturentwicklung zu verstehen ist: Wenn die Postmoderne zur metafiktionalen Ironisierung des Schreibprozesses findet, dann ist dies auch als Gegenentwurf zur vorherrschenden literarischen Technik zu sehen und bedeutet eine wesentliche Grenzüberschreitung der Literatur. Kafkas Innovation jedoch ist vollkommen anders von Wallace definiert, nämlich als Beschreibung des Wesentlichen ohne jeden kontextuellen und intertextuellen Bezug: Kafka also ist in der Tat naiv sowie ganz und gar authentisch. Weshalb man durchaus davon ausgehen kann, dass Kafka für Wallace der Autor ist, der den Weg aus der bezeichneten Krise führen kann – nicht allein im Sinne einer persönlichen Krise, sondern der diagnostizierten Krise der amerikanischwestlichen Kultur insgesamt, die sich in und mit der Postmoderne aufgerieben hat. Eine Poetik der Naivität – wie sieht diese nun aus, wie hat sie auszusehen? Kafkaesk etwa? Das eingangs gebrachte Zitat von der in sich abgeschlossenen Behörde als System erinnert selbstverständlich aufgrund der geradezu religiös aufgeladenen Atmosphäre des Geheimnisvollen und Un-

16 McCaffery, Larry: An Interview, S. 148f.

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durchdringlichen an Kafkas Beschreibungen des Schlosses und des Gerichtes. Nicht zufällig weist Wallace selbst im Roman hierauf hin (PK, 260), doch sollte man dies, wie schon erwähnt, insgesamt nicht überbewerten; beispielsweise schreibt Wallace in seinen Notizen zum Roman über die eigentlichen Direktoren der Behörde folgendes: „3 high end players – Glendenning, special HR guy Glendenning needs to find gifted examiners, Lehrl. But we never see them, only their aides and advance man.“ (PK, 540) Kafka’sche Strukturen sind hier deutlich abzulesen, gewissermaßen Klischees, die aber nicht zwingend referentielles Spiel sein müssen17, sondern dem Thema selbst geschuldet: Es ist vergleichbar mit der Beschreibung von Liebesszenen, die ein bestimmtes Setting, ganz spezifische Motive einfach verlangen – Liebesbeschreibungen ohne diese Zuschreibungen sind dann keine mehr. Ebenso verhält es sich mit Beschreibungen von Behörden, verbeamteten Systemen und juristisch regulierten sowie regulierenden Diskursen, die auch ein ganz bestimmtes Repertoire einfordern, ein Repertoire, welches Kafka erstmalig und hierbei ausgesprochen nachdrücklich formuliert, damit in die Literatur- und Kulturgeschichte einschreibt. Wobei unsere Argumentation unabsichtlich ein wenig an Wallaces Darstellung des Kafka-Essays angelehnt ist, da auch wir im Grunde andeuten, dass Kafka in der Lage war, die grundsätzlichen Strukturen der im Fokus seiner Werke stehenden Wirklichkeit einzufangen. Kafka arbeitet demnach ebenfalls geradezu unsubtil, nämlich überdeutlich und bezugslos gewisse Motive heraus, die so allgemein menschlicher oder realistischer Natur sind, dass nachfolgende Autoren geradezu automatisch und naturgemäß auf diese Motive zurückgreifen, obgleich sie eben nicht zurückgreifen, sondern den allgemeinen Charakter der Aussagen nur

17 Wir erinnern an den Kafka-Bezug in The Broom of the System, der sicherlich eher intellektuelle Spielerei denn produktive Rezeption markiert. In diesem Zusammenhang weisen wir abermals darauf hin, dass Wallace sein Frühwerk disqualifiziert und im Grunde erst ab Infinite Jest ernst nimmt – diesem Diktum ist selbstverständlich nicht beizupflichten, doch ist seine Argumentation für unseren Untersuchungsgegenstand maßgeblich und daher zu berücksichtigen: Erklärt er doch sein Frühwerk als postmodern beeinflusst und also den Einflüssen ausgesetzt, die er späterhin problematisieren wird. Wallace geht ja gar so weit, das Frühwerk vollkommen zu verwerfen und als Jugendsünden zu disqualifizieren.

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betonen: Da die Kafka’schen Motive Allgemeingut geworden sind, es womöglich auch schon immer waren – im Verständnis Marshall McLuhans, für den pattern recognition die hauptsächliche Aufgabe des Künstlers, ja überhaupt Wert der Kunst für die Gesellschaft sei –, sind intertextuelle Bezugnahmen auf diese Motive nur noch schwer als Kafka-Rezeptionen zu untersuchen.

Siebtens: Meredith und Drinion

Uns auf die poetologische Beziehung zu Kafka konzentrierend, verbleiben wir im 46. Kapitel, dem Gespräch zwischen Drinion und Meredith Rand. In diesem Gespräch findet auf inhaltlicher Ebene eine Darstellung poetologischer Konzepte statt: Drinion nichtet nicht, wie schon ausgeführt, er steht der Welt vorbehaltlos, also unsubtil und geradezu naiv gegenüber. Seine Gesprächshaltung grenzt in ihrer pointierten Unvoreingenommenheit, wie erwähnt, ans Debile, was wahrscheinlich nicht beabsichtigt ist, dient doch vor allem Drinion, so unsere These, als Symbol für die neuen poetologischen Implikationen, die Wallace anstrebt – wobei dies nicht allein poetologisch gemeint ist, sondern existentiell1. Wohlgemerkt ist auch dieses Kapitel nur als Entwurf vorhanden, doch deuten sich durchaus Sichtweisen an, die poetologisch auszuwerten sind: Drinion nimmt nämlich genau die Haltung ein, die Wallace von einer neuen Poetik fordert: Ohne Ironie, überhaupt ohne Ausschöpfung von Klischees und Konstruktionen, so stellt sich Drinion der Geschichte, die Meredith Rand zu erzählen hat. Rand ist eine schöne Frau, sogar sehr schön, worunter sie schon als Kind zu leiden beginnt und was geradezu zwangsläufig zu einem selbstverletzenden Verhalten führt; schließlich wird sie in die Psychiatrie eingewiesen und gewinnt hier in einem Krankenpfleger einen anscheinend verständnisvollen Freund, den sie schlussendlich heiratet. All dies ist Surrogat sattsam bekannter Borderline-Dramen und also ein Klischee, welches unserer Ansicht nach nur dann in erschöpfender Manier funktioniert, wenn man die Interviews des Bandes Brief Interviews with Hideous Men in einem intertextuellen Akt mitliest: In diesen fiktionalen Interviews, als Sammelband

1

Was für Wallace ohnehin gleichbedeutend ist.

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mit weiteren Erzählungen 1999 veröffentlicht, beschäftigt Wallace sich mit pervers veranlagten Männern, die ihr moralisch verwerfliches Verhalten gegenüber Frauen zu beschreiben und auch, mal mehr spöttisch und mal weniger schuldbewusst, zu erklären suchen. Diese Muster des Missbrauchs sind alles andere als banal und stattdessen im postmodernen Kontext zu verorten, sind also ironisch und agieren mit Hilfe der Möglichkeiten dekonstruktivistischer Modelle, welche dann zum Beispiel psychoanalytische Denkmuster uminterpretiert und ausnutzt – letztlich gelingt es diesen Männern stets, Stereotype abzurufen und also die klischeeisierten Konstruktionen, mit denen die Frauen sich definieren, für den Missbrauch zu dekonstruieren. Eben in diese Reihe der niederträchtigen Männer könnte – und soll – wohl auch Rand eingeordnet werden: Der Krankenpfleger der psychiatrischen Klinik beginnt in den Nachtstunden und heimlich, also illegal, die schöne und vollkommen verwirrte, zudem postmodern verschobene Meredith zu therapieren. Die Art der Therapie wird von Meredith im Gespräch mit Drinion dargestellt und nachvollzogen, wobei Meredith selbst wohl nicht die Fähigkeit hat, die sich dem Leser doch arg aufdrängende Ironie zu bemerken. All dies wird nämlich ambivalent dargestellt, man kann also kaum anhand des Textes eruieren, ob der hässliche, gescheiterte Rand die wunderschöne Meredith mit Hilfe strategischer, postmodern grundierter Lügen in der Tat so beeinflusst, dass diese ihn als einzig ehrlichen Mann erachtet und deshalb heiratet.2 Würde aber nun Rand selbst die Geschichte so erzählen wie Meredith sie Drinion erzählt, natürlich unter Berücksichtigung der Perspektivwechsel, so gehörte diese Episode durchaus zu den In-

2

Ein signifikantes Merkmal jedoch könnte als Hinweis gelten, nämlich die Todeskrankheit Rands, die zur Jetztzeit der Romanhandlung jedenfalls nicht für den eigentlich lange angekündigten Tod gesorgt hat. Auf der anderen Seite wäre eine solche Erklärung – also das Vortäuschen einer Todeskrankheit zum Zwecke der Erregung von Mitleid – so stupid angesichts der weiteren Strategien, dass es zuhöchst unwahrscheinlich wäre, würde sich dies als weiteres Element der Planung entpuppen. Auf der ganz anderen Seite jedoch könnte auch dies wieder von Rand berücksichtigt worden sein – dass Meredith denkt, dass das Vortäuschen einer Todeskrankheit zu einfach wäre – und also doch eine Täuschung sein. Man merkt, auch hier bewegen wir uns im postmodern anmutenden Reflexionswahn, der zu keinem Ende führt.

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terviews der Hideous Men, da eine Manipulation mehr als wahrscheinlich ist. – Ein weiteres Indiz hierfür ist in den Notizen zu dem Roman zu finden, die sich um die weitere Entwicklung der Beziehung zwischen Drinion und Meredith drehen; so hatte Wallace anscheinend einige Wiederholungen der Gespräche vor, zu deren Zweck er sich folgendes notierte: M.R. felt she needed Rand, or rather she felt sorry for him because he was sick and unattractive (additional repulsive symptoms in private) and going to die soon. Always expecting him to die in the near future. And she saw how lonely and sad his life was, his apartment was. So she married him, at just age 19 … But he didn’t die, hasn’t died; and now M.R. is trapped, miserable, especially because Ed isn’t grateful to her, and would laugh spitefully at her if she ever tried to say to him that he should be grateful, that she’d taken pity – Rand would say that the real person she’d pitied was herself, and that marrying someone always on the edge of possible death was a great way to let herself feel both safe and heroic. Every day at day’s end they have the same exchange: ‚How was your day?‘ ‚I work in a mental hospital. How do you think my day was?‘ It’s not funny or intimate, no shared joke – they’ve been in the same basic relationship for 6 years, w/o growth or change, and Rand is looking for someone to save her, extract her from it. (PK, 545)

Noch einmal: Dies sind Notizen und wir wissen nicht, welches Maß an Selbsterkenntnis Wallace seinen Protagonisten zugestehen wollte, im zugrundeliegenden Kapitel ist es so, dass all dies in der Schwebe gehalten wird, wenngleich wir als mutmaßlich ausgewiesene Wallace-Kenner durchaus legitimiert sind, Bezüge zum Interview-Band eruieren zu dürfen. Nun, ein derartig gesetzter intertextueller Bezug zum eigenen Werk kann als Kommentar oder gar Korrektur gelesen werden – wobei in The Pale King die Perspektive sich ja in einer Hinsicht geändert hat: Drinion ist der Vermittler und erste Zuhörer, er ist sozusagen der Filter, welcher passiert werden muss und durch welchen wir nun also eine Geschichte vernehmen, die, so deuten wir, sich aus diesem Grund von den Implikationen und Kontexten des 1999 veröffentlichten Erzählbandes und der grundsätzlichen Situation dieses Bandes absetzt. Hatten wir es in den Brief Interviews zwar mit einer Interview- und damit Gesprächssituation zu tun, so sprach hier aber der Übeltäter selbst und die Bemerkungen des Interviewers waren nicht angegeben, sondern mussten vom Leser mitgedacht und aus dem Gespräch geschlossen werden. Hier nun, in Pale King, ist die Situation

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verkehrt und sozusagen dekonstruiert worden – dies scheint so pointiert, dass man durchaus von einer Selbstkorrektur ausgehen kann, einer Korrektur, die sozusagen dem Leser mitgegeben und damit als Aufgabe übergeben wird: Wie erinnerlich, geht es Wallace ja auch um eine Korrektur der in den Brief Interviews und vorhergehenden Werken etablierten Poetik und damit transportierten Weltanschauung. Immerhin kritisiert er immer wieder und überraschend vehement Autoren, bevorzugt Bret Easton Ellis, ihnen vorwerfend, die Literatur nicht zu erweitern, sondern allein die Realität auf die von der Postmoderne bereits ausgeschöpfte Weise zu beschreiben und demnach einem Sarkasmus zu frönen, der die Literatur zur Geldmaschine degradiert und den aufklärerischen Aspekt vermissen lässt. – Denn die Gesellschaft und den Einzelnen verändernd soll Literatur ja doch wirken, worunter Wallace versteht, Alternativen zu den herkömmlichen Konzepten anzubieten, also, wie schon erwähnt, zu definieren, wie Menschlichkeit in einer Umwelt funktionieren kann, die zum größten Teil als unmenschlich zu deuten ist: „People who’ve been raised with U.S. commercial culture and are engaged with it and informed by it and fascinated with it but still hungry for something commercial art can’t provide“3, so Wallace, und weiter und dabei geradezu konservativ kulturpessimistisch: „Look man, we’d probably most of us agree that these are dark times, and stupid ones, but do we need fiction that does nothing but dramatize how dark and stupid everything is?“4 Hier reiht er demnach Ellis ein, muss sich jedoch zugleich den Vorwurf gefallen lassen, noch 1999 mit den Brief Interviews ähnlich gearbeitet zu haben, denn diese Gespräche mit boshaften Männern diagnostizieren immerhin allein das Problem und stellen also dar, wie das Falsche im postmodernen Sinne innerhalb gegenwärtiger Konstellationen funktioniert – die Interviews des Bandes sind durchaus mit dem Ansinnen beispielsweise Chuck Palahniuks vergleichbar. In der Tat erinnern manche Erzählungen Wallaces aus jener Zeit prägnant an den 2005 veröffentlichten Band Haunted von Palahniuk: Palahniuk, sicherlich mit Ellis in einem Atemzug zu nennen, kann als einer jener Autoren benannt werden, denen es um die genaue und detaillierte Darstellung des Boshaften geht, ebenfalls im postmodernen Sinn, was bedeutet, dass

3

McCaffery, Larry: An Interview, S. 128.

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Ebd., S. 131.

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die übliche Schwarz-Weiß- und Weiß-Schwarz-Malerei 5 hinterfragt und immer wieder dekonstruiert wird; was der in seinen Fähigkeiten sicherlich limitierte Palahniuk dazu nutzt, die Welt insgesamt als unerträglich und den Menschen im Speziellen als nicht nur moralisch, sondern geradezu existentiell abscheulich zu beschreiben. Ähnlich wie Ellis spielt Palahniuk hierbei auch mit den latent vorliegenden sadomasochistischen Neigungen der Leser, bietet dabei keine Alternative zu der Gewalt und der Verworfenheit der Welt – man kann durchaus sagen, dass im bisherigen Gesamtwerk des schnellschreibenden Palahniuk die Möglichkeit des Guten im Menschen nicht vorkommt6. – Nun ist Wallace mit seinen Brief Interviews hier zu verorten, da seine Darstellungen des Bösen auch mit der Dekonstruktion bekannter Muster spielen, auf eine Alternative verzichtend: Die Männer sind eben böse und bleiben es, wie auch die Welt derart gestaltet ist, also postmodern in Konstruktionen zerfasert – die erste Erzählung des Bandes A Radically Condensed History of Postindustrial Life stellt genau dies dar, also die Eingeschlossenen in der psychologischen Hölle der Neuzeit, in der nichts mehr einfach, sondern alles facettenreich reflektiert ist. Doch fehlen Alternativen, weshalb die Kritik, die Wallace an Ellis und anderen Autoren übt, auch als selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk zu verstehen ist. Wobei man diese kritische Sicht unter dem Gesichtspunkt der aufklärerischen Aspekte zu verstehen hat, die Wallace der Literatur zuschreibt. Hatten wir im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung diese Situation des Creative-Writing-Seminars eher ökonomisch gedeutet und als Kosten-Nutzen-Rechnung merkantil überzeugender litera-

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Bedeutet: Die unstatthafte Überzeichnung des Bösen durch analogische Setzung des Teuflischen einerseits (Hitler als unerklärliches Böses, an welchem die herkömmlichen Werkzeuge als Deutungsmuster scheitern), die Setzung des Bösen als banal (der Ansatz Hannah Arendts ist hier zu nennen) – beide Interpretationen sind als Extremfälle hinreichend belegt, dargestellt und erläutert, sind auch in de Populärkultur angekommen, damit zum Klischee gefroren und werden chargierend immer wieder neu belebt: So entpuppt der Teufel sich eben doch, ganz gemäß des ersten und also entgegen des evolutionär vorangetriebenen Klischees, als das unsagbar Böse.

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Was Palahniuk keinesfalls zu einem schlechten Autor macht – in der Tat ist er einer der interessantesten Schriftsteller des amerikanischen Mainstream, der sicherlich noch für Überraschungen sorgen wird.

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rischer Arbeit, so können wir dies getrost um den Aspekt der aufklärerischen Funktion erweitern und ergänzen. Die Kafka-Rede symbolisiert demnach auch auf der konzeptionellen Ebene – der Setzung des Problems in eine Unterrichtsituation – eine signifikante Grundhaltung Wallaces, für den Literatur eine belehrende, aufklärende Funktion hat, also einen Weg andeuten, eine Alternative anbieten sollte. So ist sein Werk als Versuch eines Auffindens solcher Alternativen zu sehen – noch in der Erzählung Mr. Squishy, aus dem 2004 veröffentlichten Band Oblivion, wird jedoch hervorgehoben, dass eine derartige Alternative wohl nicht aufzufinden ist oder zumindest nicht dargestellt werden kann: Geht es oberflächlich um die marktstrategische Testreihe eines neuen Schokoriegels, dreht es sich doch darum, dieser analytischen und gewiss symbolischen Weltbeschreibung gemäß der Marketingagenturen zu entgehen – die Analyse eines möglichen Konsumentenkreises und der damit verbundenen Bewerbungsmaßnahmen umfasst alle erdenklichen Konsumentenarten und -formen, niemand wird ausgelassen, keiner kann dem Netz der Webeagenturen und den manipulativen Techniken der Industrie entkommen; auch und gerade sich als alternativ und vom Mainstream der Konsumenten abgehoben gebende Gruppierungen sind schon längst einbezogen und die selbst auferlegte Originalität – um die es ja letztlich geht – ist keine, wird aber von der Industrie aus monetären Gründen weiterhin dieser Gruppe belassen, das Gefühl des Originellen wird demnach Teil der Werbebotschaft und die Menschen auf eine Art und Weise beeinflusst, durch welche Werbebotschaft und Inhalt stetig schwerer auseinander zu halten sind. Eben diese komplexe Entwicklung zeichnet Wallace in der Erzählung systematisch und detailliert nach, deutet an, dass es für jedes Individuum eine Werbebotschaft gibt, die als individuell definiert wird und also in einem postmodern ironischen Sinne die Originalität weiterhin zulässt: Die Werbestrategen vollziehen sozusagen den originellen Akt des Kunden vorher mit und bauen dies in ihre Analysen ein, womit die Originalität keine mehr ist. Wallace zeigt in dieser Erzählung wohl doch am prägnantesten, vom Gesamtwerk her gesehen, wie die postindustrielle, postmoderne Kultur tatsächlich funktioniert und auf welche Weise sie Alternativen einverleibt und zugleich das Individuum weiterhin sich selbst entfremdet: So bestärkt die Industrie den Wunsch des Einzelnen nach dem originären Akt, nach der

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Einzigartigkeit, da dieser Wunsch in gegenwärtigen Zeiten allein konsumorientiert erfüllt werden kann. Es mag überraschen, dass Franz Kafka seinerseits diese Diagnose stellt und dies in der Zeit der Moderne, einer Phase also, die man im Rückblick als originell, wohltuend authentisch und deutlich weniger dekonstruiert als die Postmoderne deutet. Kafka aber interpretiert die Situation sehr ähnlich zu Wallace, was wir nun ein wenig näher darlegen wollen, da unserer Ansicht nach genau hier eine der Bezugspunkte liegt, die Wallace an Kafka dekliniert und auf die er sich in der Rede beruft.

Achtens: Auf der Rennbahn

Besonders bedeutsam ist ein Brief aus dem Jahre 1909, Kafkas Dandy-Zeit, der Phase also vor der strikt asketischen Lebensausrichtung, die dann bis zum Lebensende bestimmend bleiben wird1. Der Adressat, Direkter Eisner, eine väterliche Autorität in der Versicherungsgesellschaft und Kafkas Vorgesetzter, hat wohl, wie Max Brod ausführt, Kafka mit einer Schriftstellerfigur aus einem Roman Robert Walsers verglichen, was diesen nun zu einer längeren soziologischen Abhandlung anregt, welche in einem PferdeVergleich mündet und mit einer Frage endigt. Ausgangspunkt der Erregung ist wohl, dass Kafka sich nur ungern mit jener Figur vergleichen lassen möchte, da dieser fiktive Schriftsteller als eine Art Tunichtgut charakterisiert wird; Kafka beschreibt ihn folgendermaßen: „Läuft er nicht überall herum, glücklich bis an die Ohren, und es wird am Ende nichts aus ihm als ein Vergnügen des Lesers?“2 Diese wenig schmeichlerische Beschreibung wird von Kafka nun schrittweise und in zuhöchst komplexen Denkschritten, die am Ende typischerweise in Literatur überführt werden, zuerst bestätigt: „Natürlich laufen auch solche Leute, von außen angesehen, überall herum, ich könnte Ihnen, mich ganz richtig eingeschlossen, einige aufzählen […].“3 Doch der Hinweis auf die Außensicht, also dass derartige Person immer nur von einer Position außerhalb betrachtet und bewertet werden, deutet schon das eigentliche Verneinen und Abwehren des Vergleiches an – wie

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Auch hier, wir werden es nicht müde zu betonen, kann eine gewisse Nähe zu

2

Kafka, Franz: Briefe, 76f.

3

Ebd.

Wallace nicht geleugnet werden, der ja auch seine Dandy-Phase hatte.

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so oft bei Kafka weist er die Behauptung also nicht einfach von sich, sondern relativiert die Aussage erst im nächsten Schritt. Hier gelingt ihm dies, indem er diese Figuren und also auch den äußeren Anschein, den er auf Eisner macht, relativiert und zu erklären versucht; so heißt es: Man kann sagen, es sind Leute, die ein bischen langsamer aus der vorigen Generation herausgekommen sind, man kann nicht verlangen, daß alle mit gleich regelmäßigen Sprüngen den regelmäßigen Sprüngen der Zeit folgen. Bleibt man aber einmal in einem Marsch zurück, so holt man den allgemeinen Marsch niemals mehr ein, selbstverständlich, doch auch der verlassene Schritt bekommt ein Aussehen, daß man wetten möchte, es sei kein menschlicher Schritt, aber man würde verlieren.4

Dies lässt sich in der Tat als rätselhafte Entgegnung auf eine doch humorvoll gemeinte Randbemerkung bezeichnen! Von Generationen ist da nun unvermittelt die Rede, von denen, die den allgemeinen Schritt nicht einhalten können, weshalb sie von der Allgemeinheit falsch verstanden werden – es ist eine verborgene Kritik an dem Vorgesetzten hierin enthalten, gepaart mit dem stillen Vorwurf, falsch verstanden zu werden. Das ist wohlfeil. Vor allem, wenn man der Welt humorlos gegenübersteht5. Doch da ist auch noch mehr, denn obgleich Kafka die Kritik dämpfend ins Allgemeine verschiebt, zeigt diese Stelle doch einiges über Kafkas Selbstverständnis zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere: Er scheint sich recht eindeutig als Autor der unverstandenen Kategorie zu sehen, als klassischen Außenseiter, der dem Treiben der Masse nicht folgen kann oder dies nicht will, daher abseits steht und eine Art von krankhafter Kunst ausübt, die aber nur aus dem Grund so wirkt, da die Gesellschaft den Außenseiter als krank abstempelt. Tatsächlich wiederholt Kafka, in Analogie zu Wallace, die frühromantische Vorstellung eines Künstlers, der nicht allein gegen das Tradierte, sondern auch die jeweilige Mode anschreibt und aufgrund dessen in der unerbittlichen Konsequenz wahren Künstlertums nicht anerkannt wird – verstärkt wird diese Genie-Pointierung noch in der Spätromantik, wo das

4

Ebd.

5

Sicherlich ist Kafka ein doch recht humorloser Geselle, aber Wallace steht dem wohl in nichts nach, gleichwohl gerade er ja in der Fangemeinde als Ausgebund an Witz und Humor gilt.

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scheinbar Krankhafte des Außenseiters aufgegriffen und ins Groteske verzerrt wird. Kafka hingegen deutet, typisch auch dies, in einem weitaus realistischeren oder (post)moderneren Sinne, wenn er die Außenseiter als tatsächlich zu spät kommend bezeichnet: Nichts mehr ist übrig von dem frühromantischen Optimismus, auch nichts von der spätromantischen Lust an der Groteske – weder kann der Künstler sich als Genie fühlen noch in der Potenzierung des ohnehin schon Krankhaften in selbstironischer Distanz zur Gesellschaft eine Art Befreiungsschlag ausführen: In Kafkas Verständnis, wie es sich jedenfalls hier zeigt, läuft dieser spezifische Künstlertypus nicht der Masse voraus, nicht zur Avantgarde in der eigentlichen Bedeutung des Begriffs gehörig, sondern in typisch ambivalent bleibender Schuldzuweisung fremd- und zugleich eigenverschuldet zurück. Im Jahre 1909 also umreißt Kafka in einem recht unscheinbaren Brief die Themen seiner späteren Arbeiten: Die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen funktionierenden Gliedern der Gemeinschaft und denjenigen, die aus irgendeinem Grund scheitern; es zeigt sich sogar die Kafka’sche Taktik der Verschleierung mit Hilfe der Umkehrung von Ursache und Wirkung, auch die Genügsamkeit der Argumentation, die jedoch die wahre Stoßrichtung und Absicht nur unzureichend verhüllt: Ausgelöst von einer sicherlich humorig gemeinten Charakterisierung Kafkas durch den Vorgesetzten verfasst der so Hochgenommene die streitbare Kampfschrift einer Literatur, die eben nicht mit der Masse schritthält – die also anders geartet ist. Wie schon erwähnt, überträgt Kafka jene allgemeinen Überlegungen nun in einen Tiervergleich, da er wohl schon in diesem recht frühen Brief einerseits das Gefühl hat, in abstrakten Begriffen den wahren Kern der Sache nicht zu treffen, andererseits scheinen ihm Bilder und demnach Transformationen das Problemfeld besser zu repräsentieren: Aus dem Briefeschreiber wird so, nach unserer Definition, ohne große Umschweife der Schriftsteller, der folgendes Szenario entwirft: „Denken Sie doch“, beginnt Kafka die Überleitung und beschreibt dann das Geschehen auf einer Rennbahn6, welches sich vor allem als Einheit zeigt, da alle Teile ordnungsgemäß und gleich Zahnrädern funktionierten: „Die Einheit der Tribünen, die Einheit des lebenden Publikums, die Einheit der umliegenden Gegend in der bestimmten Jahreszeit usw., auch den letzten Walzer des Orchesters

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Welche Kafka gerne besuchte.

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und wie man ihn heute zu spielen liebt.“ „Heute zu spielen liebt“ – hier findet die Analogie ihre Logik und verweist in der betont gefälligen Musik des Orchesters auf die Künstler der Gesellschaft, die dem Mainstream folgen und im Gleichklang der Gesellschaft arbeiten. Woher stammt aber nun der Eindruck dieser Einheit? Nicht durch den Zuschauer, der seinen Blick über das Geschehen streifen lässt und also in der Überschau und -sicht das Zusammenwirken der Einzelteile genießen kann, nein, die Einheit erwächst aus dem Blick des Pferdes, welches an diesem Gesamtzusammenhang ja ohnehin den größten Anteil hat, weshalb „der Blick von einem über die Hürde springenden Pferde [...] einem sicher allein das äußerste, gegenwärtige, ganz wahrhaftige Wesen des Rennbetriebs“7 zeige. Auch hier stellt die Analogie sich durchaus ein, begreift man den Blick des Pferdes als Kunstäußerung des produzierenden Künstlers, der mit seinem Blick die jeweilige Zeit „wahrhaftig“8 einfängt: Die Kunst spiegelt daher und repräsentiert auf diese Weise das geordnete System. Der Umstand, dass Kafka den ungewöhnlichsten aller Vergleichswege eruiert, ist ebenso bedeutend: Dressierte und in das System gezwungenermaßen eingepasste Tiere stehen stellvertretend für den funktionierenden Künstler – es ist wahrhaftig grotesk, eine solche Analogie zu bilden, die aber, wenngleich rudimentär, zu der Vorstellung einer Generation passt, die im Gleichschritt voranschreitet: Offenbart sich hier Kafkas negatives Verständnis von einer Kunst, die sozusagen wie dressiert der jeweiligen Zeit dienlich ist? Und was ist nun mit den Künstlern beziehungsweise Pferden, die den Gleichschritt nicht einhalten können? „Wendet sich aber mein Pferd zurück“, spinnt Kafka nun die Analogie weiter, „und will es nicht springen und umgeht die Hürde oder bricht aus und begeistert sich im Innenraum oder wirft mich gar ab, natürlich hat der Gesamtblick scheinbar sehr gewonnen.“9 - Auffallend ist hier zuerst einmal die positive Konnotation des nicht funktionierenden Pferdes, denn von einem Willen ist hier die Rede, von Begeisterung – eindeutig scheint es so zu sein, dass das Pferd also dem System und der Dressur nicht folgt, es bricht aus und zwar nicht in blinder Raserei, dies ist wichtig, es findet Befriedigung, also Begeiste-

7

Ebd.

8

Der Hinweis auf das Wahrhaftige kann als Signal für Kafkas poetologische

9

Ebd.

Überlegungen gesehen werden.

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rung, nicht unbedingt in der Verletzung der Regeln, sondern in der Entfaltung des freien Willens – dies auf den Künstler zu übertragen, fällt recht leicht, obgleich man es sich bei Kafka niemals leicht machen sollte: Hier aber ist die Deutung statthaft, dass ein Künstler, der sich nicht an das System hält, der also ausbricht und dieses System erweitert, immerhin hat, in Kafka Worten, der Gesamtblick gewonnen. An was? Und warum ist dies nur scheinbar, wie Kafka in geradezu typischer Manier im Sinne einer ambivalenten Deutung hinzufügt? Zunächst besteht der Gewinn anscheinend aus einem formloser zusammengefügten Wechselspiel aller Teile, da durch den scheinbaren Fehler des Pferdes auch das Gesamtsystem fehlerhafter und damit dynamischer, lebendiger wird: „Im Publikum sind Lücken, die einen fliegen, andere fallen, die Hände wehen hin und her wie bei jedem möglichen Wind, ein Regen flüchtiger Relationen fällt auf mich und sehr leicht möglich, daß einige Zuschauer ihn fühlen und mir zustimmen, während ich auf dem Grase liege wie ein Wurm.“ Ein Fehler demaskiert daher die perfekte Ordnung der Rennbahn und offenbart Regelverstöße – ja, macht diese Verstöße erst möglich: Fehler meint hier das Nichtwollen und Nichtagieren im Gleichschritt. Der Außenseiter bietet daher, aus freiem Willen und mit Begeisterung, eine alternative Sichtweise an, die auch das scheinbar so starre generative Projekt vermenschlicht und auch zur Natürlichkeit zurückführt: Die Hände bewegen sich ausdrücklich wie ein Wind, so unstet und unberechenbar, daher abseits des Regelkatalogs. Dies alles scheint eindeutig, doch bleiben zwei Fragen zurück: Erst die nach dem „flüchtigen Regen der Relationen“, der sich auch auf das Publikum überträgt und Zustimmung auslöst: Hier fällt Kafka komplett aus der Analogie und findet wieder zurück zum Ausgangspunkt, dem des Schriftstellers nämlich, der eine derartige Verkettung von Relationen in seiner Prosa dem Publikum verantwortet: Es sind neuartige Relationen, flüchtig und also lebendig, nicht erstarrt im Regelkanon, zudem sind sie naturhaft, nämlich wie Regen, daher auch zufällig und unberechenbar – Relationen immerhin, die abseits der Klischees stattfinden und damit ganz der Reflexionen Wallaces entsprechen. Doch plädiert Kafka eindeutig für eine Kunst entgegen des Kanons, entgegen der Regeln und der Dressur, stellt dann dar, dass eine solche Kunst auch das Publikum und letztlich die Gesamtsicht verändern kann – aber nur scheinbar? Was meint er mit dieser Einschränkung, die, wie schon

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erwähnt, geradezu typisch für ihn ist und jeden Interpreten an den Rand der Verzweiflung führen kann, denn hat man einmal eine sinnvolle Breche in das Dickicht Kafka’schen Schreibens geschlagen, bekommt man es immer mit Worten, Sätzen, Abschnitten zu tun, die den erfolgreich etablierten Sinn aushöhlen und die Aussage geradezu verneinen. Versuchen wir also, unsere bisherige Interpretation des Briefs konsequent auch um diese Klippe zu schiffen und also die Ambivalenz, die Kafka recht unvermittelt einzieht, konsequent zu beschreiben; gehen wir demnach nochmals einen Schritt zurück: Der Gesamteindruck, so Kafka, habe anscheinend durch das Ausbrechen des Pferdes aus der gewohnten Regelung gewonnen, anscheinend könnte hier meinen, dass der Gewinn selbst nur scheinbar ist, dass also auch das ausbrechende Pferd letztlich als Teil des Systems in diesem System zu verorten ist: Das Ausbrechen ist das Agieren inmitten des Systems und wird daher von dem System gefordert – dies ist ein zutiefst postmoderner Gedanke, der besagt, dass der nicht funktionierende Künstler eben nur scheinbar ein Außenseiter ist, also als Außenseiter gleichsam eine benötigte Nische ausfüllt und eine gewisse Erwartungshaltung des Publikums bedient. Ähnlich sieht Wallace die Literaturszene seines Amerika etwa ein Jahrhundert später – und deutet auch die Möglichkeiten einer neuen, originellen Literatur skeptisch, reflektiert dies nun nicht mit Tiervergleichen, sondern zeitgemäß mit marktstrategischen Metaphern: So sind die Teilnehmer einer Schokoriegel-Testgruppe in der Erzählung Mister Squishy jeweils betont individuell und gegen den Mainstream gekleidet, tatsächlich aber werden sie statistisch erfasst und sind so problemlos in bestimmten Gruppen zu verorten, hier ein Beispiel der über den gesamten Text verstreuten Anmerkungen, in welchen Statistik und individuelle Äußerung stets verknüpft werden: Precisely 50% of the room’s men wore coats and ties or had suitcoats or blazers hanging from the back of their chairs, three of which coats were part of an actual three-piece business wardrobe; another three men wore combinations of knit shirts, slacks, and various crew- and turtleneck sweaters classifiable as Business Casual. (O, 9)

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Die scheinbare10 Unangepasstheit sorgt sozusagen für eine leichtere Einordnung und damit Anpassung. Der Tenor von Wallace ist so deutlich wie bedrückend: Es gibt kein Entkommen aus der Statistik, der psychologischen Beurteilung, aus dem allgemein Menschlichen, welches verortbar macht. – Hier können Alternativen und originäre Neudefinitionen nicht stattfinden, da jede Originalität schon längst eingeordnet ist: In diesem Zusammenhang existiert tatsächlich nichts Neues mehr, kann es das Neue nicht mehr geben.

10 Auch bei Wallace ist also alles scheinbar.

Neuntens: Schokoriegel und Pferde

Es muss außerhalb des markstrategischen Zusammenhangs gesucht werden. Wie ja auch bei Kafkas Brief die Frage erlaubt ist, ob man als Künstlerpferd nicht außerhalb des Rennplatzes agieren und dort vollkommen unbeeinflusst sein kann. Wobei in dem Brief der Rennplatz sicherlich für die Welt steht und die äußeren Grenzen nicht vorhanden sind, es allein den Rennplatz gibt; doch stellen wir die Antwort auf diese Frage noch etwas zurück, immerhin wird es später sehr interessant sein, die Alternativen beider Autoren zu vergleichen. Wallace jedenfalls deutet in Mister Squishy Außenräume zumindest an, zuerst einmal durch einen versuchten Giftanschlag des Gruppenleiters: Dieser hat die Schokoriegel, die zu Testzwecken den Teilnehmern dargereicht werden, auf komplexe Weise in letalen Dosen mit Gift versetzt. Seine Motive bleiben wiederum unklar, was aber durchaus zur Grundaussage der Erzählung passt, denn immerhin dringt dieser Anschlag von Außen ein und kann scheinbar nicht mit den Begriffen beschrieben werden, die den Innenraum hinreichend beschreiben und also auch definieren: Wahrhaftigkeit ist in dieser Erzählung im Grunde allein in den Nahtstellen zu erahnen, welche zwischen den Ebenen vorliegen. Der Zusammenhang zwischen dem gegebenen Raum und der damit verschränkten Sprache dürfte in sich logisch sein: Wallace, der von der sprachkritischen Logik kommt und Wittgenstein zum Jugendidol erkoren hat, weiß natürlich von diesem engen Zusammenhang, weshalb die Sprache hier eine Sprache der Werbestrategien ist, tatsächlich ist die Dichte der spezifischen und funktionalen Begriffe im Text sehr hoch, weshalb der Versuch unternommen werden muss, das Außen durch Begriffe des Innen zu beschreiben – so sind die Protagonisten ja auch von dieser Sprache voll-

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kommen belegt und reflektieren ihrerseits auch in und mit den Fachtermini. Der Giftanschlag als Reaktion von Außen1 kann als rudimentär originell und alternativ gedeutet werden, doch dies nur auf den ersten Blick: Immerhin stellt sich heraus, dass die gesamte Projektgruppe eine Staffage ist und allein dem Zwecke dient, den Anschlag zu vereiteln: So wird der die Teilnehmer beobachtende und bewertende Leiter seinerseits von den Teilnehmern beobachtet – und zwar auf eine Weise, in welcher man werbestrategisch derartige Gruppen beobachtet, bedeutet: Der Anschlag wird mit den herkömmlichen Mitteln des Innenraums auch bekämpft und wohl auch erfolgreich vereitelt, jedenfalls wird dies am Ende des Textes suggeriert. Dieser Anschlag als Alternative – und zudem, was nicht zu vergessen ist, als Versuch der Zerstörung des Systems2 – scheitert also im Ansatz und kann nicht als denkbarer Ausweg interpretiert werden; weshalb Schmidt auch reflektiert: „It made him wonder if he even had what convention called a Free Will at all, deep down.“ (O, 55) Erinnern möchte man hier an Kafka, in dessen Werken zwar keine Schokoriegel verköstigt und schon gar nicht mit Gift versetzt werden, in denen es aber scheinbar auch keinen Ausweg gibt: Weder im Proceß noch im Schloß sind Alternativen denkbar – jedenfalls auf den ersten Blick, wir werden hierauf zurückkommen, wollen erst einmal feststellen, dass die Ausweglosigkeit immer damit zu tun hat, dass die Alternativen schon vom System vereinnahmt sind: Sei dies das Tragen eines ungewöhnlichen Bärtchens, wie im Falle Wallaces, oder der Versuch, dem Gericht zu entgehen: Stets ist das Bärtchen Teil eines Images und damit zu verorten, ist das Gericht an den entlegensten Orten schon vor dem Protagonisten vorhanden,

1

Es ist eine Reaktion, zur Aktion kommen wir gleich: Der Seminarleiter, mit dem interessant-uninteressanten Namen Terry Schmidt, reagiert sicherlich auf gegebene Verhältnisse, immerhin ist sein Handeln nicht abgehoben vom Innenraum gezeigt, sondern findet eingebunden in diesen Innenraum statt; er ist frustriert und fühlt sich von der Statistik vereinnahmt, was seine Aktion hinreichend verständlich macht.

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Was natürlich nicht gelingen kann: Ein Anschlag verändert das System eventuell, doch zerstört es dieses nicht, da Systeme auf den Anschlag dialektisch reagieren. Man sollte sich bei einer Deutung der Erzählung daher besser auf den alternativen Charakter der Tat konzentrieren: Etwas Überraschendes zu tun, etwas, was nicht zum System passt.

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stets andeutend, jedoch niemals deutlich erklärend, dass ein Ausweg nutzlos, da nicht vorhanden ist. Denkbare Alternativen können daher allein von einer Position vollkommen außerhalb beigesteuert werden, was Wallace in dieser Erzählung unserer Ansicht nach mit dem Fliegenmenschen zu beschreiben versucht, zugleich das Scheitern eines solchen Verfahrens andeutet. Als Spannungsmoment bleibt jene zweite, im Grunde dritte3 Figur durchaus bis zum Ende der Erzählung manifest, ja mehr als das, denn immerhin haben wir es einer durchweg komplexen und daher schwer verdaulichen Binnenhandlung zu tun, weshalb die Rahmenhandlung der Kletteraktion des Fliegenmenschen für eine gewisse Spannung sorgt – da ja die Motivation des Kletterers nicht kenntlich ist und der Leser tatsächlich die Erwartung hat, der Fliegenmensch habe etwas mit dem Innenraum zu tun, sei es in Form eines Anschlags oder irgendeiner anderen dezidierten Aktion. Stattdessen, oder im Grunde: wie zu erwarten, entpuppt sich das Klettern am Ende als weiterer Werbegag. There was no coherent response from the crowd, however, until a nearly suicidallooking series of nozzle-to-temple motions from the figure began to fill the head’s baggy mask, the crumpled white Mylar at first collapsing slightly to the left and then coming back up erect as it filled with gas, the face’s array of patternless lines rounding to resolve into something that produced from 400+ ground-level US adults loud cries of recognition and an almost childlike delight. (O, 61)

Sprachlich, inhaltlich und damit thematisch bewegen sich die drei Geschehen damit auf einer Ebene und dem Leser als Ausfluchten oder Parallelhandlungen verkommende Akte werden am Ende als ähnlich in der Grundaussage gezeigt, wenngleich nicht verbunden: Die Marktanalyse, der Giftanschlag und der Spinnenmann, all dies verläuft in drei parallelen Seitenäs-

3

Man kann die Erzählung auf durchweg komplexe Weise staffeln und also inhaltlich in verschiedene Ebenen ein- und unterteilen. Wir beschränken uns in der Folge auf drei Sphären: Die des Systems, die erste Außenhaut des geplanten Giftanschlags und die zweite Außenhaut, welche durch den Fliegenmenschen verkörpert wird. – Es existiert gleichwohl noch eine vierte Ebene, die am Ende der Erzählung zum Zuge kommt, es ist die Chefetage, und die ohnehin komplexe Konstellation nochmals potenziert.

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ten eines Grundthemas, welche seltsam unverbunden und doch im Ton und in der Aussage gleich bleiben: Die Marktanalyse mitsamt des fachspezifischen Vokabulars als erste Ebene etabliert eine Art Proceß-Situation als Verweltlichung des Symbols, bedeutet, die Marktanalyse wird zur Weltbühne. Der Protagonist ist mitsamt seines privaten Scheiterns – so ist Terry Schmidt frustrierter Single, zudem masturbativ in eine Scheinwelt der Möglichkeiten geglitten – nur fähig, innerhalb des System und also durch einen Giftanschlag zu reagieren. Und der geheimnisvolle Spinnenmann wird am Ende zu einem bekannten Markengesicht aufgebläht und damit zum Teil einer raffinierten Werbeaktion – man muss sich das sicherlich als Klischee vorstellen: Ein geheimnisvoller Mensch in einem noch geheimnisvolleren Anzug beginnt damit, einen Wolkenkratzer zu erklettern – ohne Erklärung läuft dies ab. Menschen sammeln sich auf der Straße und blicken zum Gebäude empor – vor einigen Jahrzehnten, vor der Postmoderne sozusagen, wäre die Enthüllung, also einen Werbegag zu sehen, noch überraschend gewesen; mit und in der Postmoderne ist dies zum Klischee geworden und in vielen Filmen beispielsweise satirisch aufgearbeitet, im Sinne von: Normalerweise wäre dies ein Werbegag, doch das ist es nicht, es ist ernst, auf irgendeine Weise ernst. Und nun, in der zu Ende gegangenen Postmoderne, ist angesichts der hier nur rudimentär beschriebenen Klischee-Entwicklung die Überraschung wieder dann gegeben, wenn sich die Sache dann doch als Werbegag entpuppt, was ja eigentlich angesichts des damit verbundenen Klischees sehr unwahrscheinlich ist. – Jene sehr komplexe Entwicklung ist zum Beispiel von den Vorläufern des Klischeegedankens gar nicht in Betracht gezogen worden: Die Russischen Formalisten, die diese Idee zum ersten Mal regelrecht theoretisch aufbringen, für sie wird die Innovation zum Klischee4 und dann sauber von der neuen Innovation abgelöst – und so weiter:

4

Tynjanov bezeichnet die Automatisierung als das „‚Verblassen‘ eines beliebigen Elements der Literatur. Es verschwindet nicht, doch seine Funktion ändert sich: sie wird Hilfsfunktion.“ (Tynjanov, Jurij: Das literarische Faktum, S. 44). Im Anschluss an diese abstrakte Differenzierung beschreibt er jedoch die allmähliche Verflachung eines Verses, bis dieser letztlich so verallgemeinert ist, dass er als Poesie gar nicht mehr kenntlich wird, sondern nur noch banal und abgegriffen wirkt – eben dies würde man heute als Klischee bezeichnen.

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Jede neue Schule in der Literatur ist eine Art Revolution, so etwas wie das Auftreten einer neuen Klasse. Aber das ist selbstredend nur eine Analogie. Die besiegte ‚Linie‘ wird nicht vernichtet, hört nicht zu bestehen auf. Sie wird nur vom Höhenkamm vertrieben, taucht unter und kann irgendwann wiederauferstehen, denn sie bleibt ein ständiger Kronprätendent.5

So Boris Ejchenbaum, recht eindimensional das Konzept der literarischen Evolution beschreibend. Dass ein Klischee wieder innovativ werden kann, eben weil es als Klischee gilt und es überraschend ist, wenn das Klischee dann doch ungebrochen und als Klischee genutzt wird, dies ist eine komplexe Klischeerezeption, die von den Formalisten noch nicht in der Art eingefangen werden kann. Wallace führt auf inhaltlicher Ebene das Dilemma einer Postmoderne vor, die sich völlig in sich versenkt hat und also allein um sich selbst kreist: Mögliche Auswege entpuppen sich entweder als im System geboren und somit darin verankert, also unbrauchbar, oder wir haben es mit tatsächlich äußeren Entitäten zu tun, die zwar nichts mit dem thematisierten System zu tun haben, aber doch eine Sprache nutzen. Eben diese Situation spielt Wallace in Mister Squishy und weiteren Erzählungen in Oblivion durch, wobei er durchaus die zynische Grundhaltung der Brief Interviews verlässt und neue Wege zu beschreiten sucht – man kann die Geschichten daher auch als Experimente ansehen, als gescheiterte Experimente wohlgemerkt, da Wallace zwar abermals das Problem definieren, darstellen und auch verallgemeinern kann, jedoch keine Alternativen anbietet; so ist es zwar durchaus so, dass Wallace natürlich auch die Rolle der Literatur kritisch beleuchtet, diese Kritik aber natürlich, wie erwähnt, existentieller Natur ist, wie es auch Clare Hayes-Brady ganz richtig schreibt: I would argue that this could be termed the problem of post-modernism, and has artistic as well as existential repercussions. Wallace engaged with this issue as it affected both characters and literature right across his career, from Broom to Oblivion, and most directly in the early essay ‚E Unibus Pluram: Television and US Fiction.‘ The challenge, as he saw it, was to halt the inward spiral of post-modern thought and stop literature turning into a closed system of endlessly self-referential

5

Ejchenbaum, Boris: Die Theorie der formalen Methode, S. 47.

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trivia. This was a mission statement, made twice at the beginning of his career, in the character of Lenore and in the essay above, that Wallace would always follow.6

In Oblivion dagegen strebt Wallace weitgehend7 die ironiefreie Darstellung an, gekoppelt an die literarische Techniken, die als denkbare Auswege immer wieder akzentuiert werden, nämlich vorgebliche Spannungsbögen, im Nichts endend, schnelle Schnitte und kalkulierte Digression; so erklärt er 1993: „It’s supposed to be uneasy. For instance, using a lot of flash-cuts between scenes so that some of the narrative arrangement has got to be done by the reader, or interrupting flow with digressions and interpolations that the reader has to do the work of connecting to each other and to the narrative.“8 Was inhaltlich demnach nicht geleistet werden kann, einen Ausweg aus der postmodernen Krise zu zeigen oder wenigstens anzudeuten, dies soll die Meta-Ebene der literarischen Produktion leisten: Zuerst das Erstellen der kommunikativen Situation, dann die geradezu oberlehrerhaft wirkende Aufklärung des Leser als mehr oder minder subtile Lehr-Lern-Situation. Abermals tritt Wallace als Lehrer auf und also jemand, der seine Rezipienten mit mehr oder minder sanfter Gewalt zur Wahrheit führen möchte. Wobei die Wahrheit auch in diesen poetologischen Überlegungen durchaus kritisch zu deuten ist. So erstellt Wallace ja seine Poetologie explizit gegen die Poetik des Fernsehens und der Massenmedien, „trying – with whatever success – to do the opposite.“9 Gemeint sind dann nicht allein die Klischees und die Konstruktionen, welche durch die massenmediale Aufbereitung verbraucht sind und die Wahrheit nicht mehr transportieren können, es sind ganz allgemein Ursache-Wirkungs-Konstruktionen; so Wallace: Sure, A Clockwork Orange is a self-consciously sick, nasty film about the sickness and nastiness of the postindustrial condition, but if you look at it structurally, slo-mo and fast-mo and arty cinematography aside, it does what all commercial entertainment does: it proceeds more or less chronologically, and if its transitions are less

6

Hayes-Brady, Clare: The Book, the Broom and the Ladder, S. 34.

7

David Foster Wallace ist ein ironischer Autor.

8

McCaffery, Larry: An Interview, S. 137.

9

Ebd.

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cause-and-effect-based than most movies‘, it still kind of eases you from scene to scene in a way that drops you into certain kinds of easy cerebral rhythms. It admits of passive spectation. Encourages it.10

Hier wird deutlich, wie umfassend Wallace seine Gegenpoetologie aufbaut und gegen welche Art Konstruktionen er sich richtet, inhaltlicher und auch struktureller Natur. Und abermals erinnert auch dieser Kampf an Kafka; so ist dessen Anschreiben gegen die Konstruktionen ja noch in Erinnerung, wobei diese Art der nicht nur literarischen Auseinandersetzung mit der Realität für Kafka untragbar ist – es sind stets Schablonen, bloße Hüllen, die nur unzureichend andeuten können, was eigentlich von höherer Warte aus beschrieben werden sollte. Daher wird der Blick der Literatur bei Kafka nicht schärfer, soll heißen, dass es nicht mehr darum gehen kann, die Konstruktionen und Reihen – worunter auch die von Wallace kritisierten Ursache-Wirkungs-Ketten zu verstehen sind – deutlicher zu beschreiben und immer genauer den ohnehin bestehenden Status quo zu umkreisen, sondern neue Zugänge zu finden, neue Perspektiven, durch welche sich die Reihen, Konstruktionen und Ketten annullieren – Literatur erhält so von Kafka sowie auch von Wallace eine quasi-religiöse Aufgabe. Beide Autoren schreiben zudem vom Genie, welches allein in der Lage sei, Literatur auf eine neue Stufe zu führen – und beide sehen das Problem auch11 in der Klischeeisierung der Motive, Techniken und Strukturen, die medial aufbereitet, vervielfältigt und damit unbrauchbar werden: Literatur ist so in beider Sinne als ewiger Ansturm gegen Grenzen zu definieren, als immer gültiger und notwendiger Versuch, die Realität zu beschreiben, den Menschen in dieser Realität vor allem, dabei der Hatz zuvor zu kommen, durch welche die ehemals neuen Techniken klischeeisieren und sich verbrauchen. Besieht man sich diese Ähnlichkeiten poetologischen Überlegens, so wird noch klarer, was Wallace an Kafka so fasziniert, denn Wallace würde den Prager sicherlich als Genie bezeichnen, der jenen neuen Weg gefunden hat, auf den Wallace sich ab Mitte der 90er Jahre sehr deutlich begibt. So benennt er im Gespräch mit Larry McCaffery immer wieder das Problem, kann aber nicht wirklich einen Ausweg anbieten – letztlich haben die im

10 Ebd. 11 Sicherlich nicht nur.

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Interview gemachten Überlegungen eine geradezu rührende Naivität, wobei diese nicht in der gewollten Wiederbelebung des Naiven begründet liegt, sondern ein strukturelles Problem markiert: Die von ihm dargelegten strukturellen und poetologischen Auswege sind ja so neu nicht, dies ist das erste Problem, zudem sind sie abermals gefährdet aufgrund einer sehr wahrscheinlichen Übernahme dieser Techniken durch die Massenmedien: Tatsächlich ist schon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts und also zu der Zeit der Einlassungen Wallaces das Fernsehen und vor allem auch das Kino durchaus in der Lage, diese benannten Techniken für sich zu nutzen: Man denke beispielsweise an Matrix, der von Wallace hochgelobte Film, in welchem durchaus Ursache-Wirkungs-Verhältnisse nicht nur umgekehrt, sondern geradezu dekonstruiert werden. Oder David Lynch, der auch Sinn vorgaukelt und geradezu genial darin ist, verschiedene Deutungsebenen zu etablieren, die aber gleichwohl allesamt nicht aufgehen wollen, damit eine Deutungswut auszulösen, die an die Rezeption Kafkas erinnert – vor allem Lynch scheint in seinen Filmen sehr genau die Überlegungen Wallaces umzusetzen, was dieser auch folgerichtig in seinem Essay David Lynch Keeps his Head aus dem Jahr 1995 thematisiert.

Zweiter Teil

Zehntens: Get Out

Auch Lynchs Ansatz wird in der Folge zum Klischee, was bedeutet, dass beispielsweise das Fernsehen sich dieser Techniken annimmt und das Neuartige von Lynchs Ansatz damit schleunigst verbraucht wird.1 – Diese Gefahr ist in den poetologischen Überlegungen Wallaces stets gegeben, wird aber von diesem unserer Ansicht nach nicht folgerichtig reflektiert. Dies betrifft ebenso die kommunikative Grundsituation, die Wallace der Literatur ja so vehement nachsagt: Literatur sei Kommunikation, das Zwiegespräch zweiter gleichberechtigter Partner, wobei der eine den Text wenngleich aufsetzt, der andere jedoch das Erbrachte kreativ vervollständigt. Wallace selbst vermerkt, diese sprachliche Situation, Wittgensteins Sprachspiele seien hier angemerkt, kaschiere gewisse Grenzen und berge eine notwendig illusorische Hoffnung2, doch ist es abermals Kafka, der unserer Meinung nach das wesenhafte Problem dieser Sichtweise herausarbeitet: „Heißt es ein Gespräch führen, wenn der andere schweigt und man um den Schein des Gesprächs aufrechtzuerhalten, ihn zu ersetzen sucht, also nachahmt, also parodiert, also sich selbst parodiert.“3 Natürlich ist eine solche Gefahr immer dann gegeben, wenn man, wie Wallace, die Literatur auch zu aufklärerischen Zwecken nutzt, sich hierzu in ein Kommunikationsverhältnis mit den Lesern begeben will, passender-

1

Auch dann, wenn man, wie Lynch im Falle der Serie Twin Peaks, die Kontrolle über den Klischeeisierungsprozess behalten möchte. So ist das Schicksal der Serie um Laura Palmer auch die Erzählung von der Vereinnahmung ehemals originär anmutender Techniken.

2

Siehe: McCaffery, Larry: An Interview, S. 143f.

3

Kafka, Franz: Tagebücher, S. 919.

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weise grundiert von Liebe, wie Wallace ja selbst angibt: Die Kommunikation, die als dialogisch gedacht ist, bleibt aber doch monologisch und ist eine phantasierte und zudem reflektierte4 Bezugnahme, die zuerst in Gefahr gerät, das Ziel zu verfehlen, zur Parodie zu werden, wie Kafka sehr richtig argumentiert und so die eigentliche Gefährdung dieser poetologischen Setzung sehr knapp benennt. Es ist schon heute zu erkennen, dass auch Wallace von der Klischeeisierung eingeholt worden ist: Seine spezifische und noch näher zu beschreibende Erzählperspektive sowie Grundhaltung, die er vor allem in den journalistischen Arbeiten geradezu erfindet, gerät in der Tat zur Selbstparodie5 und zunehmend zum Klischee, da viele Nachfolger diese Haltung zu imitieren suchen. Gerade ab Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts wird ersichtlich, dass selbst die Problembenennung Wallaces zum Klischee geworden ist, wie auch die gesamte Problematik durchaus von der massenmedialen Industrie eingeholt, geschluckt und damit erledigt worden ist: So haben just zum Zeitpunkt des Schreibens von Infinite Jest viele andere Künstler auf ähnliche Weise die Problematik beschrieben – repräsentativ beispielsweise Mike Patton, der 1995 mit seiner Band Faith No More die Frage des Jahrzehnts stellt: „What if there’s no more fun to have?“ Dies ist immerhin die Dekade, in welcher sich, auch in Deutschland, die Spaßgesellschaft etabliert, einen Spaß transportierend, der vor allen Dingen aus der postmodernen Ironie schöpft und beispielsweise den herkömmlichen Witz zerstört: Harald Schmidt kann sicherlich als einer der Hauptvertreter dieser Entwicklung charakterisiert werden, einer Entwicklung, die in Deutschland, wenn auch recht spät, jene postmoderne Ironie vor allem massenmedial aufbereitet, etabliert und verbreitet. Schmidt dekonstruiert in der Sendung Schmidteinander6 zuerst den üblichen medial über Jahrzehnte etablierten

4

Man beachte die Aussagen, die Wallace über seine Leser anstellt und doch nur

5

So ist der Text How Tracy Austin Broke my Heart in Consider the Lobster

sich selbst vorstellen kann, siehe: Lipsky, David: Although, S. 272f. schon fast unerträglich in der betont naiven Haltung, mit welcher Wallace seine Lektüre der Biographie Austins beschreibt; interessanterweise gemahnt diese naive Beschreibungsform nicht zufällig an das grenzdebile Gebaren Drinions im noch näher zu besprechenden 46. Kapitel des Pale King. Das Problem ist einfach, dass man Wallace die Naivität nicht mehr abnehmen kann. 6

Die Sendung lief in den Ersten Programmen von 1990 bis 1994.

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Humor, greift direkt das Humorverständnis an und zerlegt beispielsweise bewusst Witze vor der Pointe, zerstört das Muster der Pointe, da dieses Muster ein klischeeisiertes Konstrukt geworden ist, welches dekonstruiert gehört – das Lachen entsteht dann aus der Tatsache, das Muster der Pointe und damit das Klischee zerstört zu wissen, sich über das Klischee erhoben zu haben. Der Witz muss daher nicht mehr im herkömmlichen Sinn witzig sein, da der Witz ja auch nun in der Witzlosigkeit liegt, als überraschendes, klischeezerstörendes Element. Die Ähnlichkeit mit den von Wallace beschriebenen Entwicklungsstufen zur Zeit der Postmoderne liegen deutlich vor Augen, wobei wir in Schmidt die massenmediale Annahme des Klischees durch eben die Massenmedien sehen: Die Postmoderne ist Mitte der 1990er Jahre auch ins deutsche Fernsehen gedrungen, wird nun einen recht langen Erfolgskurs fahren und erst mit dem Millennium die Fragen provozieren, die Mike Patton schon 1995 andeutet – wobei interessant ist, dass die Zeile einem Lied namens Get Out entnommen ist, welches folgendermaßen fortgeführt wird: And all I got is what I've had? What if I have forgotten how? Cut my losses and get out now Get out, right now!

Ohne dies nun über Gebührt zu interpretieren, so kann man doch deuten, dass Mike Patton 1995 eine dezidiert erahnte Gefühlslage der Spaß- und Postmodernengesellschaft artikuliert, nämlich die Frage nach einem Ausweg aus diesem Spaß – allein, der Ausweg scheint auch hier unmöglich. Jenes Gefühl benennt Wallace ja 1993 sehr deutlich, nämlich die Frage nach dem Wert der Unterhaltung, dem möglichen Ende oder einer Alternative, erklärend, „that one of the main goals of art is simply to entertain, give people sheer pleasure. Except to what end, this pleasure-giving?“7 Das Dilemma jenes konsumistischen, zutiefst kapitalistischen und kulturell ironisierten Systems ist demnach schon Mitte der 90er Jahre auch im popkulturellen Focus, obgleich man, wie etwa Mike Patton, die Frage zwar stellen, aber nicht recht beantworten kann: Get out, ja, aber wohin – und wodurch? Auch Kurt Cobain, Sänger der ungemein stilbildenden Band

7

McCaffery, Larry: An Interview, S. 130.

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Nirvana, artikuliert diese Problematik in der Generationenhymne Smells like Teen Spirit, wenn er im Refrain das gelangweilte Publikum mit „Here we are now! Entertain us!“ zitiert – zeitgleich mit der zunehmenden Ironisierung der Kultur haben wir es mit der stetig drängender werdenden Suche nach Alternativen zu tun, die denkbare Auswege aus einer sich stetig höher schraubenden Klischeeisierung ermöglichen. Harald Schmidt jedenfalls, in Deutschland während jener Kernphase der Ironisierung8 intellektuelles Sprachrohr und einflussreicher Meinungsmacher, treibt die Ironie und damit die distanzierte und distanzierende Grundhaltung sicherlich auf die Spitze, wird nebenbei Förderer der Popliteratur, die deutschen Nachahmer des blasierten Dandytums ohne gesellschaftlichen Auftrag: In dieser Hochphase intoniert Schmidt den in Deutschland doch sehr aufmerksam und nachdrücklich rezipierten Satz, nach welchem der Ironie das Pathos folge9. Tatsächlich erläuterte Schmidt einige Jahre später, ganz unter den Vorzeichen des postmodernen Spiels mit der Ironie, dass auch diese Bemerkung allein ein Spaß gewesen sei, eine Anmerkung, die man kalkuliert äußert, die Erwartungshaltung bedienend und händereibend die Reaktionen verfolgend10. In der Tat war die Rezeption des Sätzchens nachhaltig: Die Intellektuellen Deutschlands offenbarten in gerade dieser Phase eine unübersehbare Orientierungslosigkeit und griffen die Pathos-Formel gerne auf, gleichwohl niemand so recht wusste, was damit wohl gemeint sein könnte. – Der Elfte September 2001 dann beantwortete diese Frage erst einmal und dies recht drastisch, denn nun schien unter anderem auch die ironische Phase, also die ironische

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Und sicherlich nicht zufällig eigentlicher Entdecker Wallaces in Deutschland – war er es doch, der in seiner Harald Schmidt Show zum ersten Mal den Namen einem größeren Publikum vorstellte und das Luxusdampfer-Büchlein eifrig bewarb. Mit großem Erfolg.

9

DER SPIEGEL 19/2000.

10 So seine Äußerung während der Mainzer Tage der Fernsehkritik im Mai 2001, siehe hierzu: Tabukitzeln oder Spaß ohne Grenzen. Harald Schmidt im Gespräch mit Roger Willemsen. In: Fernsehen für die Spaßgesellschaft. Wettbewerbsziel Aufmerksamkeit. Hg. v. Peter Christian Hall. Band 34. Mainzer Tage der Fernsehkritik. Mainz: 2002. S. 221.

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Durchdringung aller Lebensbereiche11, beendet: Pathos zog in der Tat ein, jedoch nicht unbedingt als sinnvolle Weiterführung und neue kulturelle Leistung, sondern eher als Rückkehr und Versuch der Rehabilitierung von der Ironie zerstörter Werte. Bezeichnend beispielsweise, wie Wallace auf den Elften September reagiert und welcher Art Text er hierzu verfasst: The View from Mrs. Thompson’s, veröffentlicht zuerst im Rolling Stone, ist ein sich privat gebender, betont ins Private verstoßender, das Intime und Religiöse aufsuchender Journalismus, der Kenner durchaus überraschte, entpuppte Wallace sich doch durchaus als pathetisch an manchen Stellen und zudem als Kirchenmitglied; so heißt es zu letzterem recht lakonisch: The church I belong to is on the south side of Bloomington, near where my house is. Most of the people I know well enough to ask if I can come over and watch their TV are members of my church. It’s not one of those churches where people throw Jesus’ name around a lot or talk about the End Times, but it’s fairly serious, and people in the congregation get to know each other well and to be pretty tight. (CL, 135)

Trotzdem – und trotz eines Nervenzusammenbruches, der Wallace einen Tag nach den Anschlägen ereilt12 – geht es in diesem kurzen Text abermals um poetologische Fragen, die wie immer ans Existentielle grenzen – und umgekehrt. Wallace fängt das Phänomen einer Katastrophe ein, die im Kern das als krank deklarierte System angreift, wobei er die ursprünglich und naiv denkenden Menschen hiervon absetzt. So wendet er sich in seiner Not und vor allem wegen des fehlenden Fernsehers an Angehörige seiner Kirche; hier sitzen schon alle vor dem Gerät und verfolgen fassungslos die Ereignisse, indes Wallace reflektiert: „What these Bloomington ladies are, or start to seem to me, is innocent. There is what would strike many Americans as a marked, startling lack of cynicism in the room.“ (CL, 139)

11 Es ist sicherlich interessant, den Humor etwa der Harald Schmidt Show zu jener Zeit zu untersuchen: wie jede noch so zufällige Geste zum Klischee erklärt und damit eingeordnet wurde, bis am Ende keine Gesten mehr unbelastet getätigt werden konnten, Spontanität und Authentizität schienen verunmöglicht. 12 Wir werden uns an geeigneter Stelle ausführlicher mit dem Text beschäftigen, vor allem zu überlegen haben, ob wir es hier mit einer (selbst)ironischen Auseinandersetzung zu tun haben.

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Wallace hingegen kann nicht anders, er ironisiert das Ereignis und wundert sich über die Fähigkeit seiner mitgläubigen Damen, das ironische Potential auszublenden, also beispielsweise die Art der Präsentation, das kalkulierte Prinzip des Katastrophenfernsehen mitsamt den ordnungsgemäß-unordentlichen Frisuren, den absichtlich-unabsichtlich ausgezogenen Jacketts; und: Nor that at least some of the sheer weirdness of watching the Horror unfold has been how closely various shots and scenes have mirrored the plots of everything from Die Hard I-III to Air Force One. Nobody’s near hip enough to lodge the sick and obvious po-mo complaint: We’ve Seen This Before. Instead, what they do is all sit together and feel really bad, and pray. (CL, 140)

Es ist nur gerecht, zieht Wallace den Schluss, dass die Ironiker eigentliche Zielscheibe der Attentate waren – und nicht die naiven, unschuldigen Frauen und Männer Amerikas, die keine Ahnung haben von den Verwerfungen des postmodernen Daseins; dies geht Wallace ironischerweise beim Beten auf, wobei das Beten anscheinend nur gespielt und nicht wirklich als Akt vollzogen, hier jedoch, wie so oft in ähnlichen Zusammenhängen, als distanzierende und zugleich bewahrende Haltung13, vor dem Leser verteidigt wird: Make no mistake, this is mostly a good thing. It forces you to think and do things you most likely wouldn’t alone, like for instance while watching the address and eyes to pray, silently and fervently, that you’re wrong about the president, that your view of him is maybe distorted and he’s actually far smarter and more substantial than you believe, not just some soulless golem or nexus of corporate interests dressed up in a suit but a statesman of courage and probity and … and it’s good, this is good to pray this way. It’s just a bit lonely to have to. Truly decent, innocent people can be taxing to be around. I’m not for a moment trying to suggest that everyone I know in Bloomington is like Mrs. Thompson (e.g., her son F—- isn’t, though he’s an outstanding person). I’m trying, rather, to explain how some part of the horror of the Horror was knowing, deep in my heart, that whatever America the men in those

13 Wallace hebt auf, im Sinne Hegels: Er verneint und bejaht zugleich. Doch im Gegensatz zu Hegel ist hier die Synthese keineswegs ein neuer Zustand, sondern belässt die Entität im Zustand der Katze Schrödingers.

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planes hated so much was far more my America, and F—-’s, and poor old loathsome Duane’s, than it was these ladies‘. (CL, 140)

Dieser Text spricht sozusagen für sich, ist nämlich auf gleich mehreren Ebenen abermalige Auseinandersetzung mit dem Kernproblem Wallaces – wobei der Zusammenbruch einen Tag später vielleicht doch dafür spricht, dass auch die Ironiker ihren Teil Pathos abgekommen haben; Wallace stellt nämlich fest, als einziger keine Flagge am Haus festgemacht zu haben, einfach aus dem Grund, weil er keine Flagge besitzt – sein Versuch, dieses Versäumnis nachzuholen, scheitert kläglich: The cold reality is that there is not a flag to be had in this town. Stealing one out of somebody’s yard is clearly just out of the question. I’m standing in a fluorescent-lit KWIK-N-EZ afraid to go home. All those people dead, and I’m sent to the edge by a plastic flag. It doesn’t get really bad until people come over and ask if I’m OK and I have to lie and say it’s a Benadryl reaction (which in fact can happen). (CL, 131)

Ist also in der Tat nach dem Elften September nichts mehr so, wie es war? Sind also auch die Ironiker verstummt? – So jedenfalls die Kommentatoren noch Wochen danach. Besieht man sich wiederum die zumeist enttäuschenden Essays des Bandes Consider David Foster Wallace, immerhin die derzeit neueste Veröffentlichung zu diesem Autor, so fällt auf, dass die meisten Autoren das eigentliche Dilemma Wallaces, also die so zu bezeichnende postmoderne Misere, mit wenigen Worten abhandeln, hin und wieder recht ungeduldig scheinen und zum eigentlichen Kern kommen und auf die Wallace so umtreibende Problematik nicht mehr eingehen möchten. Ist das so, weil diese komplexe Sachlage veraltet und eventuell dann doch mit dem Elften September obsolet geworden ist, also allein Forscher interessiert, welche das Historische im Augen haben? – Dem wagen wir zu widersprechen, verweisen hierzu auf die alltägliche Medienwelt, auf das Angebot, welches sich im Ironiepotential stetig erhöht, wobei unzweifelhaft auch der Anteil an Zynismus zunimmt – ein kurzzeitiger Blick reicht da aus. Relevant ist aber zudem, dass auch das postmoderne Material eifrig rezipiert und im Sinne Wallaces medial umgeschrieben und klischeeisiert wird.

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Ein bündiges Beispiel soll dies verdeutlichen und die Aktualität der Position Wallaces hervorheben: Das Reality-Fernsehen begann in Europa14 zur Jahrtausendwende und mühte sich, das wirkliche Leben mit wirklichen Menschen darzustellen – begann all dies mit Big Brother und der Installation realer Menschen in ein künstliches Szenario, nämlich einem Container mitsamt stupider Regeln und so weiter, so hat seitdem eine Entwicklung eingesetzt, deren aberwitziger Verlauf von Wallace selbst stammen könnte: die Personen im Container des Big Brother wurden zunehmend in die Wirklichkeit entlassen und dort von Kameras bei der scheinbaren Alltäglichkeit begleitet, da die Inszenierung den Zuschauern nicht mehr ausreichte, die sich weniger vom Konzept, sondern den lebensechten und demnach so wirklichen Protagonisten fasziniert zeigten. Diese Stufe, jene also einer unkontrollierten und unkontrollierbaren Darstellung des wirklichen Lebens, wurde dann wiederum abgelöst von inszenierten Plots mit Laiendarstellungen, immerhin hatten die Zuschauer das wirklich wirkliche Dasein schnell wieder satt: zu langweilig, zu gewöhnlich schien das alles, die wirklichen Menschen faszinierten nicht mehr, da sie in gewöhnlicher Umgebung einfach nur gewöhnlich und damit Abbilder der eigenen Ödnis blieben. Interessante und also ausgedachte, verdichtete Plots mussten her, das Reality-Fernsehen wandelte sich zu beispielsweise den bekannten Gerichtsshows, in denen Laien gestellte Gerichtsfälle und Geschichten spielten, bis hin zu Krimi-ähnlichen Szenarios. Das Problem war, dass die Laien nicht wie Laien spielten, sondern wie Laien, die sich als Schauspieler versuchten: Der Ehrgeiz war zu groß, die Profilierungssucht gewaltig, immerhin waren es Laien. Der nächste Schritt war konsequent: Man schmiss die Laien raus und engagierte Schauspieler, die wie Laien spielen sollten; diese sich als Laien ausgebenden Schauspieler bewegten sich durch inszenierte Plots, welche Wirklichkeit vorgaukelten. Dies nannte man und nennt man heutzutage Reality-Fernsehen, speziell Scripted Reality: Wobei die geradezu postmoderne Verschiebung ins Ironische15 durchaus zeigt, dass die Problematik, die Wallace 1996 benennt, eben nicht gelöst ist, auch nicht infolge des Elften September.

14 In Amerika vorher, wurde aber erst zeitgleich mit Europa zum Phänomen. 15 Man überlege sich: Schauspieler, die wie Laiendarsteller agieren! Allein diese Erfindung der modernen Massenmedien ist ein Triumph der postmodernen Ironie – sieht man sich diese ausgebildeten und den Laien gebenden Schauspieler

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Ist die Macht der Massenmedien und der damit mittel- sowie unmittelbar verknüpften Industrien im Gegenteil noch gewachsen, scheint der Mensch entfremdeter denn je und weiterhin umgeben von Klischees, wobei die Klischeeisierungsrate von Tag zu Tag zunimmt – wie auch das Ironiepotential, man siehe das obige Beispiel; zudem wird all dies von einer Literatur unterstützt, die ihrer Aufgaben, wie Wallace sie ihr jedenfalls noch zuspricht, kaum mehr nachkommen kann: Obsolet ist also die Auseinandersetzung und Problematisierung dieser Entwicklung auf keinen Fall, dennoch reagieren die mehrheitlich doch recht jungen Beiträger des besagten Essaybandes16 geradezu gelangweilt angesichts einer ausführlichen Besprechung der Zusammenhänge. Warum also? Zu oft ist dies schon angemerkt worden in der Wallace-Forschung, zu oft auch schon debattiert im popkulturellen Kontext, kurz: Wir haben es mit einem Klischee zu tun. So reagiert Wallace in den Erzählungen des Bandes Oblivion letztlich auch darauf, dass die Problematisierung der Wirklichkeit in Form literarischer Beschreibungsformate17 vom Feind längst eingeholt und geschluckt ist: Selbst die Benennung des Problems ist zum Klischee geworden, und damit verbraucht. Weshalb Wallace zuzustimmen ist, wenn er behauptet, die Literatur müsse mehr tun als nur die Beschreibung der Misere zu leisten, da es ansonsten nicht gelingt, einen dringend notwendigen Standpunkt außerhalb des Dilemmas einzunehmen, was aber doch unabdingbar zur umfassenden Diagnose ist. Das Problem, welches im Kern ein Kafka’sches Problem ist,

genauer an, sieht ihnen in die Augen, kann man auch diese Panik erkennen, die von der postmodernen Ironie zumeist ausgelöst wird. 16 Es fällt schon auf, dass das Durchschnittsalter der Wallace-Forscher ausgesprochen niedrig ist, was natürlich auch das Niveau der Beiträge beeinflusst. Warum die älteren Semester sich einer Auseinandersetzung mit Wallace verweigern, hat viele Ursachen, eine dürfte im Kopftuch zu finden sein: Wallace sieht einfach nicht seriös aus, sieht aber auch nicht unseriös im lässigen Stil intellektueller Dandy-Mentalität aus, stattdessen wirkt er wie ein nerdiger Rapper, fällt also aus allen Rastern und Rahmen. 17 Tatsächlich scheint die Literatur die denkbar beste Form einer Darstellung dieses Komplexes zu sein, aber letztlich hängt dies, wie immer, vom Künstler ab: David Lynch beispielsweise kann das Medium Film soweit ausreizen, dass die postmoderne Situation mehr als spürbar wird.

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jedenfalls des Kafkas, den Wallace im Essay beschreibt, also als denjenigen, der zeigt, dass die Exit-Tür in Wahrheit die Eingangstür ist, dieses Problem also betrifft auch und vor allem die kulturellen Kontexte, damit die Medien, die denkbare Auswege andeuten könnten, was aber nicht mehr gelingen kann, wenn sie Teil des Komplotts werden oder es schon längst sind.

Elftens: Von Systemen

Noch einmal kurz zur Popkultur, an der sicherlich mit am besten das uns beschäftigende Dilemma darzustellen ist: Besieht man sich die MarketingStrategie einer Band wie Nirvana, so ist wahrnehmbar, wie die kritische Haltung schnell von der Industrie geschluckt wird, was zu interessanten Interferenzen führt, abseits der üblichen Folgen wie Verharmlosung und Zerstörung oder wenigstens Abschwächung der kritischen Haltung – der berühmte Ausverkauf des ehemals alternativen Stars ist ja allein reflexartiger Vorwurf Ewiggestriger. Wobei Nirvana sich ja stets bewusst und lauthals außerhalb der Musikindustrie verorteten und hierüber definierten, modisch und musikalisch, auch politisch 1. Problematisch ist dies, da man die Kleidung der Musiker in Art und Stil natürlich als Mode definieren und einordnen kann und dies auch automatisch geschieht, gleichwohl es den Musikern durchaus abzunehmen ist, wenn sie ihren Kleidungsstil nicht als modisch definieren und sich selbst außerhalb dieses industriellen Spektrums ansiedeln2 – doch diese alternative Haltung wird umstandslos und recht schnell geschluckt und industriell verarbeitet3, wobei die Situation sich komplexer darstellt, denn auch die Kritik an den Machenschaften der Industrien und vor allem die Kritik an dem Aufkaufen aller alternativen Haltungen wird ja geschluckt und kann von der postmodern ironischen Haltung geduldet werden: Es ist eine kultu-

1

So erklärten anno 1992 alle Mitglieder der Band, gegen Ismen jeder Art zu sein,

2

Dass man diesen Selbstaussagen von Musikern nicht mehr traut, hat letztlich

3

Und zwar von Menschen, die genau wissen, was sie da tun.

was ja dieser Sehnsucht nach alternativen Lebensformen entspricht. auch mit der Misere zu tun, da man nichts mehr vorbehaltlos glauben kann.

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relle Doppelmoral, die aber nicht einfach als einfach verdoppelt und also im Kern manichäisch gedeutet werden kann: Die Industrien sind ja keinesfalls die bösen Buben des Spiels, sondern Teil des Marktes. Auch Nirvana sind von Beginn innerhalb desjenigen Systems, welches sie kritisieren und von welchem sie sich zugleich publikumswirksam distanzieren: Einerseits sind sie offensichtlich Teil, da sie die üblichen Verkaufswege und die Werbung durch Konzerte und so weiter nutzen, dies ist klar und muss hier nicht näher ausgeführt werden4, relevanter ist die Problematik, die Wallace ja immer wieder umtreibt und unter Verweis auf Kafka zu überwinden sucht: Dass die Band Nirvana eben Hosen tragen muss, Hemden, dass diese Hosen und Hemden vom System als Mode verortet werden und damit als bestimmter Stil und als Artefakt verkäuflich – noch weitaus ironischer ist es, wenn die Hemden eine systemkritische Bemerkung zur Schau stellen, diese Bemerkung dann als Mode verortet und innerhalb des System vermarktet, damit geschluckt wird. Doch wird die Kritik wirklich geschluckt und damit zerstört? Es ist ja so, dass die Kritik vervielfältigt wird, wie ja auch Bret Easton Ellis durchaus erklären kann, dass seine Romane zwar, die Kritik Wallaces aufgreifend, die Lässigkeit und Coolness sarkastischer Welterkenntnis darstellen, diese Darstellungen aber als Kritik wirken und also auch so gemeint sind. Das Problem ist, dass die Kritik durch die Vereinnahmung des Systems nicht verharmlost, sondern ironisiert wird, dann klischeeisiert. Schwierig ist diese Sachlage auch, weil ja kein Mensch schuldig wird in diesem System, ja, selbst so etwas wie Schuld ist ja dann ironisiert. Ein System, welche all diese Haltungen recht problemlos in sich vereinigen kann, ist unmöglich von der Innensicht her zu beschreiben, geschweige denn zu stören oder gar zu zerstören. Selbst der Zerstörungswille kann Teil dieses Systems werden und damit geschluckt. – Schlichtweg übersehen darf man angesichts dieses

4

Nirvana hätten natürlich andere industrielle oder außerindustrielle Wege beschreiten können, sie haben es aber nicht getan. Pearl Jam hingegen haben eine Zeit lang Alternativen gesucht, doch sind letztlich darin mehr oder weniger gescheitert. Und selbst heutzutage, wo derartige Wege sich mit Hilfe des Internets anbieten, agieren die meisten Künstler zögerlich: Jeder ist froh, wenn er vom System entdeckt wird und darin aufgehen darf.

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monströsen Systemgedankens5 eben nicht, dass Kafka hundert Jahre vorher im klarsten Deutsch und in umfassendster Manier von diesem System schrieb, hierzu das als gleitend zu bezeichnende Paradox nutzend und auch schon die ironische Haltung beschreibend, die ein derartiges System wohl am besten beschreibt. Sehen wir uns das genauer an und nehmen hierzu eine der bekanntesten Texte Kafkas, nämlich die Parabel Vor dem Gesetz, eigentlich aus dem Roman Der Proceß und von Kafka ausgelagert, gleichwohl die im Roman sich anschließende Diskussion über die Parabel immanent wichtiger Teil der Deutung ist; doch beginnen wir mit der Parabel: Hier wird ein Mann vom Lande, der den Zutritt zum Gesetz sucht, vom Wächter vor geöffnetem Tor hingehalten, bis er wegen Altersschwäche zu sterben droht, erst da schließt der Wächter die Tür, die ja allein für den Mann vom Lande vorgesehen war, so immerhin der Wächter.6 So fällt auf, dass Kafka die Form der Legende bemüht und sich intertextuell auf biblische, mythische und also schlichtweg archetypische Geschichten der Menschheit bezieht; dies erstellt durchaus einen Bezug zur Interpretation Wallaces im besagten Essay, in welchem ja auch die Grundsätzlichkeit der Texte betont wird: Kafka verknüpft seine Prosa mit biblischen Motiven und Topoi, erwirkt auf diese Weise eine geradezu basal anmutende Atmosphäre. Dies wird erreicht mit Bezugnahmen auf legendhafte Stilistik und allein skizzenhafte Beschreibungen, weshalb die Geschichten sehr exemplarisch wirken. Kafkas Stil bleibt wie immer rudimentär und anscheinend einfach, die Ambivalenz liegt im Inhalt verborgen. Es ist keineswegs unmöglich, die Parabel ohne die im Anschluss zwischen Josef K. und dem Geistlichen ausführlich dargelegte Deutung zu verstehen, doch gehört diese Auseinandersetzung unseres Erachtens unbedingt zur vollständigen Entschlüsselung und Einordnung: Hier reflektieren beide über den Sinn des Gehörten und vor allem sinnieren sie über die Schuld, die hier verhandelt wird: Liegt sie beim Mann vom Lande oder doch beim Wächter, dem Türsteher. Josef K., uns am nächsten, gibt dem Wächter die alleinige Schuld: Seine Interpretation ist nachvollziehbar, logisch und für

5

Wobei wir den Systembegriff allein deshalb benutzen, weil es kaum bessere

6

Kafka, Franz: Der Proceß, S. 267.

Begriffe gibt und also keinesfalls auf die Systemtheorie eingehen wollen.

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uns stimmig; der Geistliche aber, er dekonstruiert den Sinn7 und deklariert sogar diese Art der Interpretation als Teil des Problems, wodurch er unsere Logik, unsere konstruktive Welterfassung zum Part der Schuld hinzuzieht. Weder den Mann vom Lande noch den Wächter könne man ausschließlich beschuldigen, so der Geistliche relativierend, da Schuld sowie Unschuld stets beisammen existierten; weiter noch schließe das Verstehen ein Nichtverstehen der Sachlage nicht aus, was auch auf diese Parabel zutreffe: Josef K. begehe also den Fehler, Logik in der Geschichte zu suchen und auch zu finden, den Inhalt hierbei künstlich einengend und beschneidend, stattdessen müsse eigentliches Ziel sein, so der Geistliche, die Widersprüche zu ertragen, da die Schuld darin liege, das Paradox mit Hilfe logischer Konstruktionen zu vernichten. Die Kommentare der beiden Männer sind eine Art Subtext und also besser als Fußnoten zur Parabel zu setzen8, liest man den Text nämlich ohne Kommentierung, begeht man ja notgedrungen den Fehler, den der Geistliche Josef K. vorwirft und der als Symbol für die Verhaftung zu Beginn des Romans taugt, wie diese grundsätzliche Aussage ja auch den gesamten Status des Romans einfängt, also beispielsweise den scheinbar widersprüchlichen Tatbestand, einerseits verhaftet zu sein, aber doch frei, sich also, wie es im Roman heißt, ganz normal zu verhalten und auch ganz normal den alltäglichen Arbeiten nachzugehen. Diese Ambivalenz wiederum ist das, was man später als postmodern bezeichnen wird, wobei die Ironie dann auch, ganz postmodern, in Sarkasmus umschlägt, wenn man bedenkt, was hier in Kafkas Roman eigentlich geschieht: Da erklärt die Autorität, also das Gericht in Gestalt des Geistli-

7

Wohlgemerkt zu einer Zeit, als von der Dekonstruktion noch nicht die Rede war, und doch: Kafka stellt einen Sinn vor, zerlegt ihn dann in seine Einzelteile und setzt einen neue Bedeutung zusammen, woraufhin er diesen natürlich ebenfalls verneint oder wenigstens in Frage stellt.

8

Eventuell haben wir hier eines der Geheimnisse der Fußnoten in Wallaces Werk vor uns, nämlich als Ausdruck der Unmöglichkeit, im normalen Fließtext die Ambivalenz der Aussagen adäquat darzustellen, die Ebenen im linearen Satzgefüge zu verankern, die ein Begriff aufgrund seiner unterschiedlichen Konnotationen annehmen kann.

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chen9, indes einer Textinterpretation, es gäbe keine autoritäre Meinung, wobei jeder, der dies nicht einsähe, im ganz autoritären Sinn schuldig wäre – die Autorität verneint sich also zuerst, umso vehementer dann wieder an die Macht kommend; dies entspricht einer Bewegung, die wir weiter oben als Ironie marktwirtschaftlicher Vereinnahmungen studiert haben: Kritik am System ist Teil des Systems, womit das System letztlich gestärkt wird. Es ist diese hochkomplexe Verästelung, durch welche ehemalige Sicherheiten immer tiefgreifender verunsichert werden, die Kafka in seinen Texten immer wieder andeutend und weniger ausschöpfend darstellt: Die Struktur der Romane bildet dies wohl am sinnfälligsten ab, da sich bestimmte Grundkonstellationen stetig wiederholen, dabei jedoch verschärfend und spiralartig in die Höhe und ins Dramatische schraubend – bis am Ende das Todesurteil vollstreckt, der Protagonist vernichtet ist. Die reflexive Kraft beziehungsweise Verwirrung steigert sich hierbei, die zu Beginn harmlose Angelegenheit wird komplexer bis hin zur völligen Verwirrung. Diese Struktur der spiralartigen Steigerung stellt das Eintauchen in eine neue Welt dar: Josef K. lernt mit der Zeit, die wohlbekannten Konstruktionen, mit denen er bisher die Welt einschätzte und beurteilte, zu relativieren und also neue Denkarten zuzulassen – wobei er am Ende scheitert, wie ja auch David Foster Wallace in seinen Romanen und Erzählungen bis hin zu The Pale King das Scheitern vorführt, wir werden hierauf zurückkommen, uns nun noch ein wenig auf die strukturelle Ebene konzentrieren. Kafkas Stil bleibt hierbei betont sachlich und in der Wortwahl sowie Nutzung von rhetorischen Mitteln genügsam, wobei es nicht zu klären ist, ob er dies aufgrund seiner beruflichen Erfahrungen vornimmt – die in den Behörden verwendete Kanzleisprache, die Kafka frühzeitig erlernt und als brauchbar zur Darstellung der Wirklichkeit auch in literarischen Werken erachtet – oder ob er den Stil aufgrund der in seiner Umgebung recht herausgeputzten Schreibweise als Erwiderung und Absetzung kreiert. Letztlich spielt es auch keine Rolle, da die Beamtensprache, das Jargon der Amtsstuben in einem geradezu genialischen und vorausschauenden Akt von Kafka als universale und neue Sprache zur Beschreibung der Wirklichkeit erkannt wird. Obgleich ja viele deutsche Autoren aus der Juristerei stammen, schreiben sie aber zumeist doch nicht wie Juristen – Kafka ist also nicht der

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Womit das Gericht mit der Religion und der Kirche verbunden, ja, die Kirche zum Befehlsempfänger des Gerichtes degradiert scheint.

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einzige, aber eben doch derjenige, der die Sprache der Beamten am eindringlichsten für seine Prosa nutzt: Da wird dann beispielsweise im Proceß in langwierigen Diskussionen über Begriffe gestritten, da dreht man sich im Kreis aufgrund eigentlich langweiliger marginaler Diskurse und so weiter. Wie erinnerlich, ist Kafka, obgleich sein Leben scheinbar so belanglos scheint, doch am Puls der Zeit, beruflich sowie privat: Er erlebt und vollzieht mit, wie die Versicherungen ins Dasein treten und einen Beamtenapparat mit zugehöriger Sprache zur Welt bringen, welches als gigantisches Projekt bis in die Gegenwart strahlt und wesentliche Begriffe der postindustriellen Gesellschaften wie Sozialität, Versicherung, Einordnung und Rasterung zum ersten Mal absteckt. Überhaupt ist Kafka ja zuständig für die Vermittlung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, vermittelt also in Fragen der beruflich entstandenen Erkrankungen, was einerseits ein sehr abstraktes Themenfeld ist, doch zugleich sehr individuelle Konsequenzen nach sich zieht: Kafka lernt hier unter anderem, dass die Beamten eine Arbeit verrichten, die von existentiellem Belang sind. Zugleich lernt er aber auch die zunehmende Rasterung und Einordnungssucht der Behörden kennen, den Zwang und den Wunsch also, jedes Einzelschicksal mathematisch behandelbar und statistisch erfassbar zu machen: Die Statistik wird zunehmend zu Ersatzreligion einer Behörde, die sich damit immer weiter vom spezifischen Fall entfernt und dem Abstrakten nähert. All dies vollzieht Kafka wachen Auges mit und reflektiert hierüber mit einer Umschreibung – wozu es auch gehört, die Behördensprache als einzig taugliches Beschreibungsmodell der Wirklichkeit zu nutzen, was natürlich einem Statement gleichkommt, gleichsam einer politischen Aktion. – Auch die Einführung behördlicher, juristischer Begriffe in die Literatur kann in diesem Sinn gedeutet und als technisches Merkmal hinzugezogen werden: Das Gericht, der Prozess, das Urteil, die Strafe – alles dies entnimmt Kafka der Realität und schreibt es für die Literatur um. Doch vor allem nimmt Kafka die neue Religion der Soziologie, der Statistik, des Positivismus sehr ernst und setzt dies wortwörtlich um: Sein Urteil ist ein existentielles, gleichsam religiöses, doch geführt mit den Termini der Gerichte und damit die oben beschriebene Erkenntnis aus dem Berufsleben ins Literarische übertragend. Sprache und Thema sind also technische Zugänge, welche die Literatur realistisch im Sinne einer möglichst zugänglichen Daseinsbeschreibung gestalten sollen.

Zwölftens: Buch zum Film

Kafka schreibt Techniken des Films in seiner Prosa um und nutzt beispielsweise szenische Strukturen sowie spezifische Gestaltungsmittel des Kinos, so als erahnte er schon die enorme Bedeutung, die das Medium zukünftig einnehmen sollte und habe in den spezifischen Methoden des Films neue Möglichkeiten auch für die Literatur erkannt. Peter-André Alt bezeichnet Kafka in seiner Darstellung gar und sicherlich übertreibend als „Autor, der beim Kino in die Schule geht“1, wobei er sich insbesondere auf die Erzählperspektive sowie metapoetologische Schichten konzentriert, denn: „Kafkas filmisches Schreiben manifestiert sich nicht primär auf der Ebene der Motive und Topoi, sondern vornehmlich im Bereich der narrativen Struktur selbst.“2 Alts Argumentation geht davon aus, dass Kafka vom Film und vor allem von der technischen Innovation im Sinne eines neuen Sehens animiert wird, tradierte Vorstellungen zu verlassen – uns ist ja erinnerlich, wie vehement Kafka die Konstruktionen angeht und diese mit Hilfe der Literatur überwinden möchte. Der Film scheint nun in der Tat eine Möglichkeit vorzugeben, die alten Pfade zu verlassen, immerhin etablieren die ersten Filme auch eine neue Art der Wahrnehmung, die sich notwendigerweise von dem Tradierten absetzt:

1

Alt, Peter-André: Kafka und der Film, S. 84. Alt übertreibt beispielsweise ganz sicher, wenn er die episodenartige Struktur der Kafka’schen Romane unmittelbar „auf den Film zurückdeutet“ (ebd., S. 99).

2

Ebd., S. 193.

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Kafka geht bei dieser Formensprache des neuen Mediums in die Schule, indem er auf die kausale Verknüpfung der Zeichen verzichtet und an ihrer Stelle Momentaufnahmen erzeugt, die ihre innere Zusammengehörigkeit erst durch die Suggestion einer übergreifenden Bewegung gewinnen. Auf die motivierende – z.B. kausale, modale oder finale – Erklärung von Handlungssequenzen, die literarische Texte durch ihre sprachlogische Fundierung leisten können, wird hier verzichtet.3

Dies kulminiert in der Feststellung, Kafka trachte, die Klischees literarisch zu überwinden und nutze hierzu Techniken des Films, wobei der Film die Konstruktionen durch Verflachung und Verschiebung erneuere: „Im filmischen Erzählen wird die Erklärung von Ursachen durch die Sequenzierung, die Analyse durch die Reihung ersetzt.“4 Die Literatur übernimmt vom Film die Möglichkeit und damit auch Fähigkeit, die hergebrachten Konstruktionen und klischeeisierten Deutungsmuster, die Kafka ja so angestrengt verurteilt, ad acta zu legen: Sie [Kafkas Texte, R.H.] übernehmen vom neuen Medium des Films die Tendenz zur Aufhebung des Individuums in einer Ästhetik der Bewegung, die nur noch ein Außen zu kennen scheint. Das heißt nicht, daß die Deutungsmuster der Psychologie – vor allem die Wissensbestände der Psychoanalyse – in Kafkas Geschichten ausfallen; jedoch erfolgt ihre Verarbeitung unabhängig von individuellen Zuschreibungen auf der Ebene topographischer, sozialer und politischer Zusammenhänge.5

Es ist für uns natürlich in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, wenn Alt deutet, dass Kafka durch den Film und also die neuen Medien seine Poetologie maßgeblich verändern und innovativ der neuen Realität anpassen konnte – wobei Alt selbst vor der hehren Definition Friedrich Beißners nicht Halt macht und die als Einsinnigkeit bekannt gewordene Titulierung der speziellen Perspektivierung6 nun als „Technik des camera eye“7 bezeichnet, was andeutet, wie umfassend hier Kafka als vom Film beeinflusst gezeigt wird. Dem ist, wie erwähnt, nur zum Teil zuzustimmen,

3

Ebd., S. 63f.

4

Ebd., S. 77.

5

Ebd., S. 76.

6

Beißner, Friedrich: Der Erzähler Franz Kafka, S. 17ff.

7

Alt, Peter-André: Kafka und der Film, S. 82.

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denn Film und Kino inspirieren Kafka ganz sicher, doch ist die Inspiration ähnlich zu derjenigen, die er aus seinem Beruf oder den Zeitungslektüren erfährt: Kafka ist ein höchst kontextuell lebender Mensch und somit in und mit Anschlüssen denkender Autor, der stets sehr sensibel auf seine Umgebung reagiert. So interessiert er sich für technische Neuerungen vielfältiger Art, beschäftigt sich beispielsweise auch mit modernen Wohnungseinrichtungen und beweist auch hier einen sehr aufgeschlossenen Geschmack, weshalb seine Begeisterung für das Kino kaum verwunderlich ist. Wobei durchaus die Frage zu stellen ist, wie innovativ für die Literatur eine solche Übernahme filmischer Techniken tatsächlich sein kann – und wie Filmtechnik die Realität abzubilden in der Lage ist oder die Realität und Art der Wahrnehmung verändert: Allesamt Fragen, die uns in ihrer Grundsätzlichkeit zu weit vom Thema fortführen. Immerhin beginnt zu jener Zeit eine Entwicklung, an deren Anfangspunkt Kafka stehend dem am Endpunkt verharrenden Wallace munter zuwinken könnte, wenngleich dem letzteren sicherlich der Optimismus abhanden gekommen ist, mit dem zu Kafkas Zeit beispielsweise die Philosophie das neue Medium als Vehikel originärer Wirklichkeitsaneignung begrüßte. Wallace hingegen ist in einer Zeit aufgewachsen, in welcher die Macht des Mediums Film und Fernsehen ungebrochen vorliegt und in ihrer ironisch-ambivalenten Komplexität evident scheint: Wie er in seinem Essay E Unimus Pluram aus dem Jahre 1996 ausführt, ist die Macht des Fernsehen ja vor allem deshalb so groß, da die Intelligenz vor dem Medium versage, ja, der beste Kritiker des Fernsehens sei letztlich das Fernsehen selbst. Wir bewegen uns also in einem Bezugsrahmen, der die seit den 1960er Jahren verbreiteten medientheoretischen Annahmen Marshall McLuhans wenig variierend allein intensiviert: Die medialen Inszenierungen, die McLuhan noch mit den herkömmlichen Methoden untersucht, sind verfestigt und haben sich in der Folge geradezu verselbständigt, hierbei groteske Formen bis hin zur Autopoiesis annehmend8. – Die Wesentlichkeit, welche Kafka dem

8

„Strategies“, beschreibt Douglas Coupland in seiner McLuhan-Biographie die Stoßrichtung der Auseinandersetzung, „used to promote tyrants are being used to promote laundry soap.“ (Coupland, Douglas: Marshall McLuhan, S. 48) Allein dieser Sentenz sieht man im Vergleich zur Argumentation Wallaces den obsoleten Charakter an: Es geht gegenwärtig ja weniger um die Art der Verstrickung von Realität und medialer Aufbereitung, sondern viel eher darum, dass

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Film mutmaßlich beilegt, ist einige Jahrzehnte später also eingetreten, zum Guten und natürlich auch zum Schlechten, wir haben dies schon ausgeführt, wollen uns daher nun auf die literarischen Techniken konzentrieren, die Wallace seinerseits nutzt, um die Misere darzulegen und gegebenenfalls zu überwinden. Denn während Kafka filmische Innovationen in seine Literatur überträgt – und sich damit von der herkömmlichen Poetik entfernt –, ist es Wallace in der Gegenbewegung um eine Distanzierung von dem Medium zu tun, letzten Endes um die Rückgewinnung der Literatur als Rückbesinnung auf die literarischen Tugenden. Sehen wir uns die kürzeste Erzählung seines Gesamtwerkes an und beurteilen signifikante Merkmale. Es ist die bereits erwähnte Erzählung A Radically Condensed History Of Postindustrial Life, die folgendermaßen lautet: When they were introduced, he made a witticism, hoping to be liked. She laughed extremely hard, hoping to be liked. Then each drove home alone, staring straight ahead, with the very same twist to their faces. The man who’d introduced them didn’t much like either of them, though he acted as if he did, anxious as he was to preserve good relations at all times. One never knew, after all, now did one now did one now did one. (BI, 0)

Natürlich, es geht um den Kommunikationsverlust sowie die Identitätskrise angesichts notgedrungen lockerer sozialer Kontakte, auch um das, was erst einige Jahre später durch beispielsweise Facebook in Form sozialer Netzwerke die Beziehungen zwischen Menschen mit Hilfe des Like it-Buttons vereinfacht und verklausuliert zugleich. Radikal verknappt ist die Erzählung des postindustriellen Lebens formal und zugleich inhaltlich, wobei wir es hier nicht mit einer experimentell angelegten Studie zu tun haben, im Gegenteil ist die Sprache einfach, der Satzbau beinah parataktisch und auf die üblichen Reflexionen wird ganz und gar verzichtet. Zwei wesentlich Aspekte sind aber als technische Implikationen zu erahnen, die durchaus paradigmatisch für das Gesamtwerk stehen können. Da ist nämlich einmal die Tatsache, dass Wallace hier eine gewisse Spannung aufbaut, die aber nicht eingelöst wird, da die Pointe fehlt. Und sie fehlt,

die Medien eine ganz eigene Weise von Realität konstruieren, mitsamt eigengesetzlicher Strukturen.

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weil die Pointe, nach Wallaces Meinung, eine Konstruktion ist9 und also klischeeisiert, daher unbrauchbar zur Darstellung der postindustriellen Wirklichkeit. Es fehlt also in der Steigerung die kathartische, sprich: unterhaltende sowie entlastende Wirkung, die in der Erlösung der Spannung besteht. Immerhin sieht Wallace in der Literatur eine aufklärerisch wirkende Kraft und definiert sich auch außerhalb der Literatur als Lehrer: Er lehrt als Dozent für Creative Writing und argumentiert in der Kafka-Rede nicht zufällig aus der Lehrer-Schüler-Perspektive. Und gesteht gleich in jener Rede ein, dass er nicht in der Lage sei, Kafka und vor allem Kafkas Pointe den Schülern zu vermitteln, denn: „They don’t get it!“ Warum aber begreifen sie Kafka nicht? Weil das kulturelle Umfeld, der Kontext also, so stark auf die Individuen wirkt, dass sie gänzlich darin aufgegangen sind und anscheinend nicht in der Lage scheinen, sich reflektierend oder auch emotional sowie unbewusst aus dieser kontextuellen Sachlage zu befreien: Wallace erläutert ja in der Rede die kleinen Schritte, die er unternimmt, um den Studenten Kafka näher zu bringen, nur um festzustellen, dass Verständnis und also der Akt des Verstehens kein Prozess ist, sondern eine schlagartige Erleuchtung: Gleich einem Witz ist die Pointe Kafkas nicht zu vermitteln. Der Lehrer scheitert angesichts der kulturellen und sicherlich auch zeitlichen Umstände: Die Studenten sind, so meint Wallace ja eigentlich, vom Fernsehen zu ruiniert, um Kafka verstehen zu können. Da es aber, wie er in dem Essay E Unimus Pluram feststellt, nichts Öderes und Einfacheres gäbe als die Kritik am Fernsehen (FT, 27f), gerät er in eine ambivalente Zwischenstufe, kann nämlich die Kritik am Fernsehen nicht äußern, sieht sich aber zudem auch nicht in der Lage, das Fernsehen uneingeschränkt zu bejahen: die Zwischenstufe wird auf diese Weise zur nicht nur argumentativen Sackgasse. Abermals ist hier die ironische Situation der Postmoderne zu spüren: Wallace schwankt ja zwischen den denkbaren Extrempunkten einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen, doch resultiert das Schwanken vor allem aus dem Umstand, dass eine Festlegung für oder gegen eine Seite auch eine Klischeeisierung nach sich zöge: Würde er sich vorbehaltlos als Befürworter des Fernsehens darstellen, wäre er einer bestimmten und damit

9

Wir benutzen absichtlich den Kafka’schen Begriff, um so die Gemeinsamkeit besser herausstellen zu können.

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klischeeisierbaren Gruppe zuzuordnen, nämlich den Intellektuellen, die trotz all der Bedenken dem Fernsehen huldigen. Andererseits würde er sich im anderen Extrem zu den Kritikern gesellen, die, wie er selbst ja schreibt, mit allzu groben Werkzeugen dem Phänomen Fernsehen nur äußerst unzureichend und geradezu konservativen Ansinnens auf der Spur sind. – Es geht Wallace also weniger um die Wahrheit einer Aussage oder Haltung, als um die Authentizität selbst: Sichtbar wird dies unserer Meinung nach in seinen Argumentationen; so versucht er im besagten Fernseh-Essay, die kritische Haltung gegenüber dem Medium Fernsehen als schlichtweg falsch zu diskreditieren, hierbei erklärend: „I do not agree with reactionaries, who regard TV as some malignancy visited on an innocent populace, sapping IQ’s and compromising SAT scores while we sit there on ever fatter bottoms with little mesmerized spirals revolving in our eyes.“ (FT, 36) Er verneint also die eine extreme Haltung und wird hierbei auf recht dürftige und der kritisierten Meinung kaum gerecht werdenden Weise polemisch, versucht dann aber, die Polemik mit Hilfe einer logisch anmutenden Begründung in Form einer Analogie zu stützen: „Critics like Samuel Huntington and Barbara Tuchman [...] can be refuted by observing that their Propter Hoc isn’t even Post Hoc: by 1830, de Tocqueville had already diagnosed American culture as peculiarly devoted to easy sensation“ (ebd.), was seiner Meinung nach andeutet, dass die jetzige Kritik am Fernsehen nicht angemessen sein kann, da die Symptome, die man dem Fernsehkonsum zur Last legt, schon längst vorher auftraten. – Die Argumentation überrascht angesichts der sonstigen Versiertheit Wallaces, ist nämlich in der Tat ausgesprochen schwach begründet und kann einer näheren Betrachtung kaum standhalten; vor allem dann, wenn der so Argumentierende einige Zeilen weiter registriert: „Sorry to be a killjoy, but there it is: six hours a day is not good.“ (FT, 37) Man bemerkt die eigentliche Haltung Wallaces, die gegen die Kritik gesetzt ist und also für das Fernsehen votiert: Immerhin referiert hier jemand, der mit dem Fernsehen aufgewachsen ist und dem dieses Medium einen Großteil seiner Erziehung und heutigen Weltsicht vermittelt hat, es schreibt hier demnach ein bekennender Fernsehsüchtiger, der ausgeprägten Meinung entsagend, gleichwohl er hintergründig und sozusagen unbemerkt doch die eben noch kritisierte Anti-Haltung einnimmt, wenigstens mit dieser konservativen Haltung sympathisiert – dies beginnt schon bei der Bemerkung, zu viel Fernsehen sei nicht gut und steigert sich dann in der Mei-

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nung, dass das Fernsehen den Menschen tiefgreifend verändert habe: und dies nicht zum Guten. Etwas anderes behaupten die gescholtenen Medienkritiker ja nun auch nicht unbedingt, denken wir an Neil Postmans berühmte Formel: Wir amüsieren uns zu Tode!, so erkennen wir durchaus Wallaces grundsätzliche Haltung – die er aber nicht vertreten kann. Nicht nicht vertreten kann, so unsere These, weil die Haltungen nun unbedingt falsch und also unwahr10, sondern weil beide Extrempunkte der Meinung letztlich schon besetzt sind, also als Klischees vorliegen und in der Argumentation verbraucht scheinen – „the crime is naiveté“ (FT, 63) schreibt Wallace auf das Fernsehen bezogen, doch wird dies ja nicht falsch, wenn man es auf die Meta-Ebene des Artikels selbst bezieht: Das Fernsehen habe das Originäre nicht vernichtet, aber, so Wallace, durchaus verzichtbar gemacht und also die Idee des Originären ausgehöhlt, sichtbar in der Kunst selbst, in contemporary art, that televisual disdain for ‚hypocritical‘ retrovalues like originality, depth, and integrity has no truck with those recombinant ‚appropriation‘ styles of art and architecture in which ‚past becomes pastiche,‘ or with the repetitive solmizations of a Glass or a Reich, or with the self-conscious catatonia of a platoon of Raymond Carver wannabes. (FT, 64)

So also Wallace und hier durchaus ins Horn der vorher noch verschmähten Kritiker blasend, zugleich aber doch andeutend, dass die verlustig gegangen Entitäten moderner Kunst, also Originalität, Tiefe, Authentizität und Integrität, immer noch wichtig und erstrebenswert seien. Dazu gehört aber die Naivität, die jedoch sei durch das Fernsehen zerstört worden. Wir müssen uns in der Tat fragen, ob es für Wallace so etwas wie ein authentisches Verhalten oder Denken überhaupt geben kann, in seinen Reflexionen innerhalb der Essays zumindest geht es weniger um die Frage, was man als wahrhaftig erachtet, sondern eher darum, welche Haltung noch unverbraucht genug ist, um dem Klischee entgehen zu können: Authentizität ist dann die Lücke in den klischeeisierten Konstruktionen. Daher auch das Schwanken Wallaces, wenn es um eine Haltung zu dem jeweils thema-

10 Es geht wohl nicht um Wahrheit, da die Wahrheit ohnehin nicht vorhanden und also stets Verhandlungssache, Diskursangelegenheit ist: Auf die Wahrheit einigt man sich in einer Gruppe als soziale Definitionsarbeit.

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tisierten Problem geht: So gesteht er einerseits zu, es mit einem Problem zu tun zu haben, andererseits vermeidet er die typische Kritik, sondern sucht neue Wege der Auseinandersetzung – tatsächlich befindet er sich in den Essays stets auf der Suche nach originären Konzepten und Haltungen. Weshalb er also in der Kafka-Rede eben nicht folgern kann, dass die Jugend von heute verbildet und verdummt sei – obgleich er dies durchaus denkt und man diese Meinung recht problemlos aus der Rede ableiten kann. Denn seine Argumentation birgt ja einen Widerspruch, den des Lehrens überhaupt: Wenn es nämlich grundsätzlich unmöglich ist, den heutigen Konsumenten alternative Denkweisen zu vermitteln, dann scheitert ja nicht nur das Lehr-Konzept insgesamt, sondern auch die Art von aufklärender Literatur, die Wallace vorschwebt. Jene diagnostizierte Unfähigkeit zur verstehenden Empathie obliegt ja weniger dem Charakter und also der individuellen Besonderheit, sondern den gesellschaftlichen Diskursen, die als so unüberwindbar dargestellt werden, dass ein Sprengen der kulturell gegebenen Grenzen undenkbar scheint. – Wallace entpuppt sich hier als im Grunde pessimistisch denkender Anhänger von Milieu-Theorien, die besagen, dass das Milieu den Charakter prägt, wobei unter diesem Begriff die kontextuelle Situation des Individuums subsumiert werden kann. Pessimistisch ist dieses Menschenbild, da es keine Änderung des Zustands zulässt oder besser gesagt: Grenzen setzt, die unüberwindlich sind. Es ist ausgesprochen interessant, die Selbstaussagen des Amerikaners hierauf zu prüfen – besonderes Augenmerk richten wir hierbei auf den Essay über den Einfluss des Wetters auf sein Tennisspiel: Derivative Sport in Tornado Alley betitelt, geht es aber im Grunde um die Frage, warum Wallace in jungen Jahren ein erfolgreicher Tennisspieler war, obgleich er körperlich nicht dazu geeignet schien. – Die Gründe, die Wallace nun eruiert, sind faszinierend aufgrund des wissenschaftlich anmutenden Ableitungscharakters und strikt kausal gehaltenen Argumentation: So sei er den meisten anderen Spielern aufgrund der klimatischen Bedingungen seiner Heimatstadt Philo in besonderer Weise überlegen, da diese infolge anderer klimatischer Bedingungen nicht so eingestellt seien wie er. Doch er unterscheidet sich als Zugezogener auch von den in Philo Geborenen, da er nun wiederum eine Ahnung davon habe, dass das Klima auch anders sein kann: „As a junior tennis player, I was for a time a citizen of the concrete physical world in a way the other boys weren’t, I felt.“ (FT, 12) – Die Argumentation ist witzig zu lesen und verwirrend zugleich, da Wallace keinen Raum

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lässt für unbestimmbare Entitäten wie beispielsweise Talent oder Begabung. Man vermisst dies auch in seinen Beschreibungen anderer Spieler: Stets ist die zu besprechende Eigenschaft begründbar, aus nachvollziehbaren Ursachen abzuleiten. Interessante Ausnahme: Im Essay über Profi-Tennis namens The String Theory11 gesteht Wallace manchen Spielern überirdische und also unerklärliche Talente zu, ja, Wallace scheint strikt normale Menschen von Genie zu trennen, wobei die Genies auszeichnet, dass ihre Besonderheit nicht ableitbar aus bestimmten kontextualen Ursachen ist, sondern geradezu überirdisch bleibt – so gelingen den Profis Bälle, die außerhalb der Physik sich zu bewegen scheinen. Man kann schließen, dass hier ein diskussionswürdiges Menschenbild andeutungsweise sichtbar wird: Immerhin durchziehen derartige Überlegungen so gut wie alle essayistischen und journalistischen Texte des Amerikaners. So fällt auch in dem TV-Essay auf, wie wenig Raum Wallace den Menschen zur persönlichen Entfaltung und auch Steuerung des rezeptiven Verhaltens gibt: Einflüsse scheinen in Wallaces Überlegungen oftmals passiv abzulaufen und also das beeinflusste Subjekt ungedeckt zu treffen, ohne Möglichkeit der Gegenwehr. Schon hier wird die völlige Versponnenheit des Individuums mit den kontextuellen Verknüpfungen diskutiert, die Wallace dann beispielsweise im Band Oblivion auch in marketingstrategischen Diskursen darstellt und unter den Vorzeichen konsumistischer Implikationen verfeinert. – Die Art und Weise, in welcher Wallace in dem TVEssay das Fernsehen beschreibt, hat zudem durchaus gewisse Gemeinsamkeiten mit den Kafka’schen Systemen des Gerichtes oder des Schlosses, vor allem in der Macht des Einflusses auf das Individuum, welches als ironisch-ambivalent und in dieser Hinsicht totalitär gezeigt wird. Mit der Zeit habe das Fernsehen, so Wallace, sich die Subjekte so herangezüchtet, dass diese sechs Stunden Fernsehen am Tag aushalten, ja mehr noch: Die mediale Erziehung sei dermaßen erfolgreich, dass die Beeinflussung nicht allein die Fernsehgewohnheiten betrifft, sondern auch die Kunst und überhaupt das allgemein Menschliche. – Und hier soll die Kunst nun einen Gegenentwurf erstellen und die vom Fernsehen erwirkten Einflüsse wieder aufheben: Keine reine Unterhaltung im passiven Zustand,

11 Der Text ist zu finden unter: http://www.esquire.com/features/sports/the-stringtheory-0796 (Stand: Januar 2012).

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sondern eine unbequeme Literatur, die Fragen aufwirft und zum Reflektieren anregt. Was ja an sich nichts Verwerfliches hat und welches auch Wallaces Profession als Lehrer ausdrückt. Der Widerspruch bleibt jedoch bestehen. So wird in der Kafka-Rede, wie gesagt, die Unbelehrbarkeit der Studenten beklagt, die Klage dann wieder zurückgenommen – eben weil eine Klage zu deutlich an das Klischee des Lehrers gemahnt –, aber doch durchgehalten: Selbst der Lehrer müsse angesichts dieser umfassenden Beeinflussung versagen. Bleibt die Frage, wie Literatur dies nun leisten soll, wenn der Lehrer im direkten Gespräch dazu nicht in der Lage sein soll. Wenn der Einfluss des Fernsehens zudem so gewaltig und das Subjekt stets im Sinne einer Herleitung erklärt werden kann, was genau hat David Foster Wallace nun höchst selbst getan, um diesem Einfluss entgehen zu können – immerhin versteht er die Kafka’sche Pointe sehr wohl und zählt sich doch zu denjenigen Amerikanern, die ein Leben ohne Fernsehen nicht mehr kennen und daher auch in ihrer Weltaneignung vehement von den Techniken des Fernsehen beeinflusst sind. Warum aber versteht er Kafka und die Studenten nicht, die soviel älter gar nicht sein können; was unterscheidet sie also, da sie immerhin austauschbare Entwicklungsromane vorzuweisen haben? Und wenn Wallace auch ansonsten sehr nüchtern, geradezu distanziert über sich zu schreiben in der Lage ist, schweigt er über diesen Aspekt, der aber, so unsere These, durchaus weite Teile von The Pale King maßgeblich beeinflusst, denn Wallace weiß zwar von seinem Scheitern als Lehrer und Autor, nicht aber den Grund des Scheiterns. So stellt er in seinem letzten Roman eine mögliche Ursachenforschung dar und findet die Antwort im Trauma – wir werden hierauf zurückkommen, denn auch dieses Konzept gemahnt an Kafka, dessen Figuren ja ebenfalls regelmäßig aufgrund traumatischer Ereignisse eine neue Weltsicht oder Perspektive erlangen. Bisher aber haben wir das Trauma im Werk Wallaces nicht eruieren können, da Wallace sich in seinem Werk bis zu The Pale King eher auf eine strukturelle Aufrüttelung des Lesers konzentriert, indem er Überraschungsmomente setzt – und sei es den, keine Überraschung zu liefern, sondern nur deren Ankündigung. Die Pointe und damit die einfache Entlastung wird also verweigert – auch in dem obigen sehr knappen Text über das postindustrielle Dasein, dessen Ende ja nicht einmal offen ist, denn letztlich ist es gar kein Ende, da ja auch keine regelrechte Handlung aufgebaut wird: Dies betrifft die zweite Technik, die Wallace in dieser Erzählung nur an-

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deutend gebraucht, nämlich die Parallelerzählung unverbundener Erzählteile. Auch hier stehen sich ja drei Handlungen geradezu komplementär gegenüber, wobei die ersten beiden sich spiegeln und die dritte geradezu kommentierend, aber doch in sich abgekapselt andeutet, dass jedes Individuum eine Insel für sich ist. Wallace nutzt diese Techniken – also die fehlende Einlösung einer aufgebauten Spannung und die Parallelhandlung ohne direkte Bezugnahme – in deutlicher Absetzung zur unterhaltenden Qualität des Fernsehens und in Abgrenzung zur medialen Klischeeisierung, die ja zeitgleich jede neue Technik absorbiert und verwertet; doch ist ihm ja durchaus das Dilemma klar, nämlich der Umstand, dass jede neue Technik sehr schnell klischeeisiert wird, auch die seinige.

Dreizehntens: Letzte Ausfahrt Lynch

Es ist nur konsequent, wird in der Kafka-Rede das Fehler jeder Methodik als wahrhaftige Methode zur unsubtilen Daseinsdarstellung bezeichnet. Wobei der Verzicht auf ein System keinesfalls eine bewusste Entscheidung sein kann, da dies ja dann wieder strategisch gesetzt und somit subtil wäre. – Dieses Dilemma originärer Kunst ist nach Wallaces Meinung vor allem von David Lynch gemeistert worden, weshalb er diesen als maßgeblichen Einfluss bezeichnet, vor allem poetologisch; so erklärt er in seinem LynchEssay aus dem Jahre 1995, bezeichnenderweise aus der Perspektive des damaligen Teilnehmers eines Creative-Writing-Seminars: This was what was epiphanic for us about Blue Velvet in grad school, when we saw it: the movie helped us realize that first-rate experimentalism was a way not to ‚transcend‘ or ‚rebel against‘ the truth but actually to honor it. It brought home to us – via images, the medium we were suckled on and most credulous of – that the very most important artistic communications took place at a level that not only wasn’t intellectual but wasn’t even fully conscious, that the unconscious’s true medium wasn’t verbal but imagistic, and that whether the images were Realistic or Postmodern or Expressionistic or Surreal or what-the-hell-ever was less important than whether they felt true, whether they rang psychic cherries in the communicate. (FT, 201)1

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Es ist dies ein Essay aus dem Jahr 1996, in welchem Wallace vordergründig die Dreharbeiten des Films Lost Highway begleitet; tatsächlich dekliniert Wallace seinen sehr persönlichen und damit auch künstlerischen Zugang zu Lynchs Arbeiten.

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Wallace deutet eine Krise an, aus der ihm die Filme Lynchs geholfen haben, denn we were also starting to recognize that most of our own avant-garde stuff really was solipsistic and pretentious and self-conscious and masturbatory and bad, and so that year we went around hating ourselves and everyone else and with no clue about how to get experimentally better without caving in to loathsome commercial-Realistic pressure, etc. (FT, 200)

Die Möglichkeit einer alternativen Poetologie, abseits der selbstbezüglichen und -genügsamen experimentellen oder realistischen Literaturen, ist in Lynchs Filmen zu rezipieren, wobei die Techniken nicht unbedingt neu sein müssen, wie Wallace ausgehend von Lynchs Bezügen auf Freud klarstellt, „because they’re deployed Expressionistically, which among other things means they’re deployed in an old-fashioned, pre-postmodern way, i.e. nakedly, sincerely, without postmodernism’s abstraction or irony.“ (FT, 198) Abermals erkennen wir hier Kafka, der ebenfalls ohne Einflussangst geradezu unbewusst Bezüge in seiner Prosa herstellt, hierbei aber nicht diesen Distanzierungsakt benötigt, den ein Autor wie Wallace geradezu zwanghaft stets dann einschaltet, wenn er arg zu verklebt mit der geäußerten Meinung scheint. Lynch dagegen sei unbelastet von einer derart postmodernen Ironie: This set of restrictions make Lynch’s movies fundamentally unironic, and I submit that Lynch’s lack of irony is the real reason some cinéastes – in this age when ironic self-consciousness is the one and only universally recognized badge of sophistication – see him as a naïf or a buffoon. In fact, Lynch is neither – though nor is he any kind of genius of visual coding or tertiary symbolism or anything. (FT, 199)

„What he is“, fährt Wallace dann fort, „is a weird hybrid blend of classical Expressionist and contemporary postmodernist“ (ebd.). Wie dies gemeint ist, erfahren die Leser des Essays einige Zeilen später, denn Wallace bezeichnet Lynch als Vertreter eines zeitgenössischen Expressionismus, welchen er von zwei Seiten her zu definieren sucht: This kind of contemporary Expressionist art, in order to be any good, seems like it needs to avoid two pitfalls. The first is a self-consciousness of form where every-

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thing gets very mannered and refers cutely to itself. The second pitfall, more complicated, might be called ‚terminal idiosyncrasy‘ or ‚antiempathetic solipsism‘ or something: here the artist’s own perceptions and moods and impressions and obsessions come off as just too particular to him alone. Art, after all, is supposed to be a kind of communication, and ‚personal expression‘ is cinematically interesting only to the extent that what’s expressed finds and strikes chords within the viewer. (ebd.)

Bevor wir diese Überlegungen näher darstellen und in den bisher analysierten Kontext einzuordnen versuchen, soll ein kurzes Zitat noch zeigen, dass wir uns nicht nur auf dem richtigen Weg befinden, sondern tatsächlich einige interessante Diskurse innerhalb des Werkes Wallaces anhand seiner Kafka-Rezeption darstellen können; immerhin erklärt Wallace gleich im Anschluss an das oben gebrachte Zitat: „In terms of literature, richly communicative Expressionism is epitomized by Kafka, bad and onanistic Expressionism by the average Graduate Writing Program avant-garde story.“ (FT, 200) Hier haben wir die schon erahnte Verknüpfung zwischen Lynch und Kafka: Da Wallace die beiden mit ähnlichen Bildern zu erklären sucht, scheint es naheliegend, beide Künstler als Vertreter einer Kunstrichtung zu definieren, die nach Wallaces Meinung in der Lage ist, die Gegenwart sinnhaft zu beschreiben und zudem zu übersteigen – so kann man sagen, dass nicht nur Lynch den Weg aus der Krise zeigt, sondern auch Kafka. Ein derartiger Künstler ist „thoroughly, nakedly, unpretentiously, unsophisticatedly himself, a self that communicates primarily itself – an Expressionist.“ (FT, 201) Dies bedeutet ja zuerst einmal und hauptsächlich, ohne ironische Distanzierung Authentizität aufzubauen: Das Problem der Postmoderne im Verständnis Wallaces ist in der Tatsache begründet, dass die Ironie, ehemals Grenzen der Kunst auf sinnvolle Weise durchbrechend, nun vorherrschendes Stilelement geworden ist, welchem sich schon allein aus monetären Interessen kaum entzogen werden kann: Man müsse, so Wallace ja die gegenwärtige Kultur auch im Lynch-Essay kritisierend, ironisch und distanziert schreiben, könne nur auf diese Weise Erfolg haben. Das ist sicher richtig, aber doch zu einseitig gedacht – oder wenigstens zu einseitig formuliert, denn es geht ja nicht nur um Geld, Erfolg oder eine gewisse Wirkung in der und durch die Kunst. Es geht darum, Wahrhaf-

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tigkeit mit, durch und in der Kunst zu transportieren2; eine Wahrhaftigkeit, die aber nicht allein deshalb ironisiert werden muss, weil die Ironie vor-

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So, dies nur geringfügig abschweifend vermerkt, scheint beispielsweise Martin Amis zu argumentieren, angesetzt mit einer interessanten Wende, die unser Thema mehr als streift. Amis nämlich vermerkt angesichts der mehr als berechtigten Verrisse seines 2003 erschienenen Romans Yellow Dog: „Ich glaube, die brutale Rezeption von ‚Yellow Dog‘ hat gezeigt, dass Satire tot ist. Sie ist so entschieden gegen den Geist der Zeit, und je mehr das Leben selbst zur Satire wird, desto aufgebrachter sind die Leute, wenn man ihnen das auch noch sagt. Satire handelt von Ungleichheit, von boshafter Ungerechtigkeit und von dem, was Ärger und Empörung erregt. Davon zu reden ist heute nicht sehr populär.“ (David, Thomas: Wissen Sie, wovon Ihr Werk handelt, Mister Amis? In: www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/literatur-wissen-sie-wovon-ihr-werk-handelt-mister-amis-1692625.html) Abseits der Idee, sein Roman könne einfach missraten sein, stellt Amis fest, die Zeit sei satirisch genug und die Kunst müsse andere Formen finden – wobei die Definition von Satire an dieser Stelle unklar und zumindest diskutabel ist: eher ist wohl von der Ironie die Rede, die in der Tat das Werk von Amis durchzieht. Zudem verwundert die Meinung Amis’ ein wenig, immerhin geht es ihm hoffentlich in seinem Schreiben nicht allein um Popularität. Interessanter für uns ist die Folgerung, die Amis aus den Thesen zieht, eng an unsere Überlegungen anschließend: Wenn die Phase der Satire vorbei ist, wird es daher also auch für Amis Zeit, eine neue Kunstauffassung zu entwickeln – und hier geht es ihm nun ähnlich wie Wallace. Und tatsächlich entdeckt der Engländer im nächsten Roman House of Meetings (2006) ebenfalls eine Form der Ernsthaftigkeit, allein: er geht den einfachen Weg, wendet sich nämlich dem Gulag zu und damit einem zeitgeschichtlichen Kapitel, welches die Ironie geradezu verneint oder wenigstens erschwert. Amis selbst erklärt dies mit der Problematik des Schreibens überhaupt: „Es ist schwierig, über einen historischen Zeitraum zu schreiben, während man ihn noch durchlebt. Man ist zwar erfüllt von unmittelbaren Eindrücken, aber die Phantasie, wie Norman Mailer richtig sagte, kann auf diese Eindrücke nicht schnell genug reagieren.“ (ebd.) Aber letztlich ist dies eine unbefriedigende Antwort, wie ja auch der Rückbezug auf ein derart aufgeladenes historisches Geschehen wie den Gulag eher einen Rückschritt markiert (abseits der Ahnung, dass es Amis hier vor allem um eine Auseinandersetzung mit dem Vater ankommt): Eine Zeit, die selbst satirisch oder

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herrschendes Stilelement ist. Und auch nicht, weil Wallace sich davor ängstigt, als Botschafter mit der Botschaft verwechselt zu werden, wie er im Lynch-Essay vermerkt, nämlich am Ende schreibt: „One reason it’s sort of heroic to be a contemporary Expressionist is that it all but invites people who don’t like your art to make an ad hominem move from the art to the artist.“ (FT, 202) Wie gesagt, dies alles sind sicherlich grundsätzliche und nachvollziehbare Schwierigkeiten, schreibt man wahrhaftig und also authentisch, bedeutet: Man schockiert aufgrund der Ausübung einer obsolet erscheinenden Auffassung und wird angreifbar, verletzlich. – Doch da ist mehr, denn im Grunde hindert Wallace nichts und niemand daran, diesen Weg zu gehen: Mutig genug wirkt er in seinen Essays und auch genügend anmaßend, um Angriffe persönlicher Natur wegzustecken. Und angesichts seines Berichtes einer Art Erleuchtung durch Lynch im Jahre 1986 fragt man sich schon, warum Wallace in der Folge nicht einfach den Weg des Vorbilds gegangen ist und nicht in beherzter Manier die Ironie über Bord geworfen hat.

ironisch geworden ist, eine solche Zeit mit Hilfe der Literatur zu fassen zu versuchen, muss nicht im Gulag enden, also literarisch.

Vierzehntens: Die vierte Perspektive

Wallace besteht, wie annähernd jeder Vertreter seiner und der nachfolgenden Generationen, ganz und gar aus Ironie, ist durchdrungen von einer zwanghaften Distanzierungssucht – und kann diese nicht einfach ein- oder ausschalten. Eine ironische Kunst ist nicht allein deshalb ironisch, weil man an den Markt oder an die Kritiker denkt, sie ist ironisch, weil die Ironie eine Reaktion markiert, die auch Teil der postmodernen Auseinandersetzung mit der Tradition und überhaupt mit der Unmöglichkeit von Originalität bedeutet. Doch hat die Postmoderne die Ironie ja nicht erfunden, sondern hat allein eine Entwicklung begleitet und in mancher Hinsicht gefördert, die parallel verlief: Die postmoderne Ironie ist nicht die Ursache, sie ist ein weiteres Symptom einer Entwicklung, die Wallace auf die Postmoderne zurückbricht, die aber eine massenkulturelle Entwicklung markiert, die ihresgleichen sucht und im Grunde noch nie umfassend beschrieben wurde. Wallace weist immer wieder auf den Mut Lynchs hin: Mutig sei es und schon fast genialisch, Freuds Thesen ohne Rückzug auf die Ironie und also den distanzierten Standort zu nutzen. Weil Freud von der Postmoderne ironisiert wurde? Freud, bleiben wir der Einfachheit halber erst einmal beim ihm, aber letztlich könnten wir diesen Komplex mit jedem Mem darstellen, Freud also wird schon zu Lebzeiten ironisiert und angegriffen, kritisiert – es ist das typische Eingehen Freuds in den nicht nur intellektuellen Diskurs, denn diese Maschinerie müssen alle Theorien, Darstellungen und überhaupt Artefakte durchlaufen; hier werden sie gelobt, vergöttert, zermalmt, belacht, ironisiert, zerpflückt und so weiter. Es ist dies das, was man Rezeption im ganz allgemeinen Sinn nennt und eine mehr als hochkomplexe gesellschaftliche Auseinandersetzung meint, in deren Verlauf eine Theorie

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sich natürlich wandeln kann, doch parallel dazu stets die eigentliche Intention der Theorie bestehen bleibt: Soll heißen, dass Freud, obgleich sicherlich nicht zu unrecht vehement kritisiert und ironisiert, an seiner Theorie festhält und diese fortschreibt – nun würde man sagen, dass er dies als Schöpfer ja auch durchaus tun kann, immerhin ist er originell und daher unerschrocken. Nun stirbt Freud und seine Theorie wird Allgemeingut, sie wird vereinfacht, wird komplizierter gemacht, sie wird misshandelt oder vergöttert, Schulen entstehen, Gegenschulen erscheinen. All dies ist vollkommen normal und verläuft auf herkömmlichen Wegen, in deren Verlauf die Theorien Freuds sich auch in die Populärkultur einlagern und dort zu Klischees werden. Wobei es schwer ist, nun genau zu sagen, wann ein Mem zum Klischee wird – und inwieweit man dies überhaupt von einem Mem selbst behaupten kann, denn nicht das Mem wird dazu, sondern die Klischeeisierung findet ja in der kontextuellen Setzung statt: Ein Klischee wird dazu gemacht, wie ja auch ein originäres Werk zu einem solchen gemacht wird. Doch es gibt die Möglichkeit einer Beschreibung. Denn die Klischeeisierung haben ja schon sehr früh die Russischen Formalisten beschrieben und hiermit die Quantität des Mems gemeint, wie häufig also ein Mem in einem bestimmten Diskurs genannt wird, was die Klischeeisierungsrate verstärkt – diese Erklärung ist nützlich, trifft aber auch den Kern nicht. In dieser Hinsicht müsste der Ich-Roman oder der Tagebuch-Roman ein Klischee sein und zwar schon längst. Beide sind aber nicht Klischees oder besser: sie sind es nur in bestimmten und ganz speziellen Kontexten. Das Tagebuch beispielsweise ist ein Klischee dann, wenn es im Kontext von Mädchen, Erste Liebe und so weiter erscheint; auch ist es bedroht vom Klischee, wenn es den Anne-Frank-Mythos abruft. Der Kontext ist demnach wichtig. Und so kann man interpretieren, dass David Lynch Freud und dessen Thesen in einen klischeefreien und also eventuell neuen Kontext verortet und deshalb auf die Ironie verzichten kann. Doch klärt dies die eigentliche Problemlage nicht, bei der wir uns noch ein wenig aufzuhalten haben: Denn Wallace, den wir hier als Vertreter einer Generation und demnach nicht als Einzelgänger sehen, dieser Wallace also denkt weniger in Kontexten und Quantitäten, für ihn ist es ein zwangsläufiger Prozess, in dessen Folge ein Mem von einem Massenmedium erfasst und zerstört. Das Individuum ist somit inmitten massenmedialer Klischeeisierungen zur Ironie geradezu verdammt. Doch nochmals: Die Kli-

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scheeisierung ist keine neue Erscheinung, tatsächlich existiert diese kulturelle Umschreibung1 im Grunde schon immer und wird beispielsweise in der Literatur im Sinne evolutionärer Bewegungen zum relevanten Faktum: Wie die Russischen Formalisten herausgearbeitet haben, bedingt die Klischeeisierung die Entwicklung, denn die Klischees werden so zum zu bewältigenden und auch bewältigbaren Mem degradiert und im Gegenzug als Feindbild aufgeladen. Besieht man sich die literaturgeschichtliche Entwicklung, so hat man es stets mit Memen zu tun, die klischeeisiert und dann überwunden werden2. Überwunden zu werden kann aber nur eine zeitlich begrenzte und auch diskursiv eingeschränkte Angelegenheit sein, da die Klischeeisierung eben nur bestimmte Schichten und auch nur für eine bestimmte Zeit gilt. Wenn Harald Schmidt beispielsweise, wie erwähnt, den Witz aufgrund dessen Pointe angreift und die Pointe als Klischee entlarvt, dann ist dieser Schritt zum einen notwendig, um die Grenzen zu erweitern, und ist auch nur teilweise erfolgreich, denn natürlich gibt es trotz Harald Schmidt immer noch die Pointe und wird es auch immer geben: Die Pointe und die Idee der Pointe ist ja nicht zu vernichten. Problematischer wird es, und hier nähern wir uns der eigentlichen Problematik Wallaces, wenn die Klischeezerstörung selbst zum Klischee wird – wenn also Harald Schmidts Pointenzerstörung als das erkannt wird, was es tatsächlich ist: Eine notwendige kulturelle Bewegung als evolutionäre Entwicklung, welche ebenfalls klischeeisiert werden kann. Bedenkt man die kulturellen Regungen aus dieser Perspektive, so ist man in der völligen Ironie gestrandet. – Doch diese Perspektive erlangt man nicht einfach so oder durch mehr oder weniger pervers anmutende Reflexionsarbeit: Die Problematik, die Wallace anspricht und auch in seinen Werken angeht, hat dieser nicht mit Hilfe tiefen Nachdenkens erschlossen, es ist kein rein intellektuelles Problem, es ist ein existentielles, soviel ist sicherlich aus Wallaces Aufzeichnungen recht problemlos abzulesen. Und die existentielle Seite ist diejenige, welche verallgemeinerbar ist, denn Wallace deutet hier ein neues Menschenbild an, womit unsere These ist, dass sich nicht die Klischeeisie-

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Wir vermeiden das Wort Verflachung, da ein Klischee ein hochkomplexes Gebilde ist – tatsächlich stellt es sich in der Rezeption als weitaus komplexer dar als das ursprüngliche Mem, da bei diesem ja die Rezeptionsgeschichte fehlt, die Doppel- oder Mehrfachsinnigkeit also.

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Die Meme klischeeisieren geradezu, ähnlich dem Kristallisieren in der Natur.

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rung der Meme oder die Entwicklung der Kultur verändert hat, sondern der Mensch, der in dieser Kultur lebt und diese gestaltet, aber auch von ihr gestaltet wird. Und diese Rückkopplung hat in den letzten Jahrzehnten ein Ausmaß angenommen, welches geradezu anthropologisch verifizierbare Veränderungen nach sich ziehen muss. Änderungen, die unter anderem dafür sorgen, dass Klischees nicht mehr überwindbar scheinen, sondern geradezu lähmend wirken und die Möglichkeit des authentischen Lebens und der Authentizität überhaupt in Frage stellen. Es ist eben nicht nur so, dass die Massenmedien und also vor allem das Fernsehen die Sehgewohnheiten ändern und beispielsweise kulturelle Entwicklungen beschleunigen, Klischeeisierungen anheizen und so weiter, sie verändern den Menschen noch in anderer, struktureller Hinsicht: Bedenken wir, dass die Generation der in den späten 60er und 70er Jahren Geborenen tatsächlich die erste Generation überhaupt ist, die sich selbst beim Aufwachsen hat zusehen können: Überall Kameras, Fotoapparate, überall die Möglichkeit, sich selbst aus einer fremden und entfremdenden Perspektive zu sehen, zudem als Foto, als Akteur in einem Film, im Fernsehen also. Die Erklärung, der Mensch sei verändert, weil er infolge erhöhten Fernsehkonsums mehr Reizen ausgesetzt ist, kann so nicht durchgehalten werden, da sich die Quantität nicht auf die Art der Mem-Aufnahme und auf das Rezeptionsverhalten auswirkt; auch die Qualität allein kann nicht ausreichend sein zur Erklärung dieses zutiefst individuellen Problems, welches den Menschen vor der Ironie der Alten kapitulieren lässt. Nein, zu dem gestiegenen Fernsehkonsum und der damit notwendig gekoppelten Reizüberflutung muss eine parallel verlaufende Entwicklung dazu gekommen sein, die dann gemeinsam eine denkbare Erklärung leisten können. Kehren wir aber nochmals kurz zu den Symptomen zurück: Es geht ja letztlich darum, dass Wallace sehr prägnant die Unfähigkeit beschreibt, eine authentische Haltung zu etwas zu finden, stattdessen wird alles ironisiert und sich distanziert. Im Gegensatz zu Lynch, der ja für sein Werk auch den Mut hat, so Wallace ausdrücklich, unironische Haltungen und also authentische Denkbewegungen darzustellen, reflektiert Wallace das Klischee der jeweiligen Haltung und sich damit aus der Authentizität heraus. So ist ihm auch beispielsweise stets bewusst, dass dieses und jenes Denken nicht originell ist, also auch ein Klischee, wie er stets und ständig reflektiert und sich damit von der scheinbar unoriginellen Meinung deutlich distanziert. Es

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ist geradezu bedrückend, in Interviews und den essayistischen Texten diese überaus selbstkritische, monologisch gesetzte Dialogsituation zu verfolgen, als stünde in seinem Denken und aktuellen Meinen stets der innere Zensor parat, der Wertende, der die Meinung gleich auf ihr Klischeepotential und auch ihren Reflexionsgrad hin abklopft und sofort eingreift – diese Idee des inneren Zensors und Beobachters werden wir noch näher darstellen und also aufgreifen, erwähnen aber hier, dass Wallaces Verhalten in den Interviews und seine Denkoperationen innerhalb der Essays zum größten Teil mit Hilfe eines solchen Beobachters verständlich werden, einer vollkommen neuartigen Perspektive, die Wallace vielleicht nicht umfassend beschreibt, aber eben darstellt und vor allem in The Pale King andeutet. Ein weiterer Baustein ist der bereits thematisierte Text, den Wallace zum Elften September geschrieben hat, weil wir hier einem Individuum zusehen können, welches angesichts dieser entsetzlichen und vollkommen überraschenden und daher emotional extrem belastenden Situation versucht, seine innere und stets eingreifende Ironie- sowie Distanzierungssucht dieses eine Mal zu verdrängen und also wie Jedermann direkt und authentisch zu leiden, mitzuleiden, zu fühlen. Es misslingt, obgleich Wallace alle Register zieht, sich in ein Umfeld begibt, in dem man problemlos seine Emotionen zeigen kann, ja, in welchem man sogar besser seine Emotionen direkt äußern sollte; stattdessen beobachtet Wallace: nämlich die anderen, aber vor allem sich selbst und seine Reaktionen auf das Ereignis. Wobei hier bedeutsam ist, dass dies gleichzeitig abläuft, soll heißen, es geht nicht um den herkömmlichen und uns aus der Literatur sattsam bekannten Weg der nachträglichen Reflexion über ein Ereignis – Denken und Fühlen zur gleichen Zeit ist in diesen obsoleten Zeiten noch ein Widerspruch. Wallace nun, liest man vor allem die Essays, ist nachdrückliches und wortgewaltiges Exemplar des von uns hier dargelegten neuen Menschen, wobei wir diese Betonung auf das Neuartige nun nicht über-, aber auch nicht untertreiben wollen: Wir meinen den Terminus neu wortwörtlich, meinen einen Menschen, den es so vorher noch nicht gegeben hat und der nicht allein aufgrund seiner Individualität einzigartig ist, sondern wegen bestimmter generativer Elemente, die demnach andeuten, dass wir es hier nicht mit einem Einzelproblem und stattdessen mit einer Verschiebung im Bereich der Generationen zu tun haben. – Wallace, als Vertreter des neuen Menschen, ist niemals in der Lage, emotional rein zu sein, also nur zu fühlen und sich ganz von den Emotionen vereinnahmen zu lassen – eine solche

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Vereinnahmung im Sinne auch eines Kontrollverlustes ist in seinem Fall undenkbar, denn stets obwaltet ein innerer Zensor, der die sich gerade im Entstehen befindende Emotion gleichzeitig bewertet, einordnet und in den Gesamtkontext verortet. Besieht man sich die Essays genauer, haben wir es hier stets mit der Darstellung eines Zwiespaltes zu tun, der nicht aufgelöst werden kann, nämlich den zwischen Denken und Fühlen: Wallace zerdenkt jede Situation und jede emotionale Haltung zu diesem Ereignis sogleich, in actu sozusagen. Eben diese Haltung installiert die besondere Perspektive, die man vor allem in seinen journalistischen Arbeiten hochgelobt und zudem als völlig neue erzählerische Haltung gewürdigt hat, die nämlich aus der sofortigen kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Befindlichkeit besteht: Wallace setzt sich einem Ereignis aus, beispielsweise einer Seereise, und macht im Grunde sich selbst zum Thema, seiner Haltung zu den partikulären Ereignissen innerhalb des Großereignisses. Wobei er diese bestimmte Haltung sofort von allen Seiten beleuchtet, bewertet und – vor allem – auf ihr Klischeepotential hin abruft. Die große Angst vor dem Klischee. Dies scheint den inneren Zensor tatsächlich am meisten zu beunruhigen: Die Emotionen während eines bestimmten Ereignisses zu haben, die man nach landläufiger und also zu klischeeisierender Meinung halt so hat – was ja an sich kein großes Problem ist, immerhin ist auch Wallace ein normaler Mensch und darf, sollte und kann normale Gefühle haben, allein: der innere Zensor verhindert dies durch die Reflexionssucht und anschließende Bewertungs- und Verortungsarbeit. – Sehen wir uns diesen inneren Zensor genannten gegenwärtigen Perspektivwechsel sowie die daran gekoppelte Perspektiverweiterung zuerst einmal näher an und bewerten danach seine Arbeit. Zuerst einmal also die Frage, woher dieser innere Zensor nun kommt, woraus er abgespalten ist und aus welcher Entwicklung er stammt. Die Genese diesen inneren Zensors ist nicht mehr allein mit dem Fernsehen und insgesamt dem Siegeszug der Massenmedien zu erklären, dies haben wir schon mehrmals angedeutet, obgleich dieser Siegeszug auch entscheidend auf die Psyche des Menschen wirkt – es ist diese Verkettung mehrerer Entwicklungen, die den inneren Zensor hergebracht hat, also eine vollkommen neue Perspektive im Menschen selbst. Wichtigste Entwicklung jedoch ist die Technik der Fotografie und der Videos, also der Möglichkeit, auch im privaten Rahmen zu filmen. Fotografien, die es schon

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länger auch im privaten Raum gibt, sind bis vor wenigen Jahren stets und ständig gestellter Natur gewesen, sind also gefälschte Ausschnitte und Eindrücke gewesen, transportierten eine Welt, die es so nicht gab. Dass eine Person mit dem Rücken zum Apparat fotografiert wurde, dies war die Ausnahme und wurde als Fehler aussortiert: Das Hineinlächeln in die Linse, die frontale Position, die haben wir auch im Spiegel, wobei das Foto natürlich um einiges realistischer abbildet, weshalb man ja auch unzufrieden ist mit dem Foto und aussortiert. Bis vor wenigen Jahren waren Fotos aufwendig zu machen und noch kostspieliger zu entwickeln – die Technik war schwerfällig und so inszenierte man, machte die Fotos spiegelähnlich und frontal, also stets waren die Fotografierten sich der Tatsache bewusst, fotografiert zu werden, weshalb, verknüpft mit der technischen Schwerfälligkeit, das Foto bis vor wenigen Jahren kaum psychische Auswirkungen hatte. Mit dem Film und mit der radikalen Vereinfachung des Fotografierens kamen die psychischen Veränderungen schleichend, weniger bei den Generationen, welche die Techniken entwickelten und zuerst benutzen, sondern bei denen, die damit aufwuchsen und immer noch aufwachsen: Die Ersteren sind zu spät dran und distanziert genug, um sich nicht in einem solchen Maße beeinflussen zu lassen, die Letzteren hingegen sind in Zeiten beeinflusst, in denen das Hirn noch weich vorliegt und die neuen Eindrücke sich nachhaltig einschreiben. – Welche Eindrücke sind dies? Es sind die zufälligen Aufnahmen mit der statischen Fotokamera, es sind die ungemein lebensechten Filme mit den Filmkameras, Super-8 sei hier exemplarisch genannt. Die Kinder bekommen so die Möglichkeit und sind auch der Konsequenz unterworfen, sich selbst aus einer Perspektive zu sehen, die vorher so nicht denkbar war: Sah man sich vorher aus drei Perspektiven, so sind dies nun unvermittelt vier, was selbstverständlich und notwendig weitreichende Konsequenzen haben muss. Es waren drei Perspektiven der Selbsterfahrung: Zuerst die innere Selbstschau, das Denken und sich Sehen im und mit dem Ich; die zweite betrifft den Blick der anderen im Sinne Sartres, der Blick, durch den ich mich erkenne und definiere. Die dritte Perspektive ist die abstrakte Form – und gemahnt vielleicht am besten an Freuds Über-Ich-Idee: Bedeutet, dass jeder Mensch aufgrund seiner Einbettung in gewisse Kontexte und Diskurse eine Ahnung von seiner speziellen Situation und Position im gesellschaftlichen und überhaupt existentiellen Rahmen und Ganzen erlernt –

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dies ist ein weitgespanntes Gebilde, welches kaum zu definieren ist, welches aber in der grundsätzlichen Anlage eine reflektierende Allgemeinheitserfahrung markiert, die irgendwann und im Laufe der Entwicklung manifest und Teil des Unterbewussten wird, was bedeutet, dass das Individuum nicht mehr hierüber reflektieren muss, sondern die Perspektive verinnerlicht hat, wo sie sich festigt und stetig unflexibler wird – weshalb der Mensch mit zunehmenden Alter auch die neuen Diskurse und Kontexte nicht mehr begreifen und nachvollziehen kann, also zurückbleibt. In dieser dritten Ebene der Ich-Wahrnehmung und auch Ich-Definition als Abgrenzung und Verknüpfung mit dem Allgemeinen entsteht sicherlich die Sensibilität für die Klischeeisierung. Es existieren ja Individuen, denen es vollkommen gleichgültig ist, ob sie sich als wandelndes Klischee durch die Welt bewegen, wobei auch in diesem Fall die Motivationen unterschiedlich sein können, nämlich eines völligen Fehlens für den Sinn von Klischees oder auch, das andere Extrem, einer ironische Haltung und bewusste Auslebung der Klischees3, gepaart mit der Möglichkeit des Chargierens zwischen den Polen. Doch ist diese Sensibilisierung für das Klischee und letztlich auch für die damit unmittelbar verknüpfte enorme Feststellung, als Individuum auch mit und in Klischees zu leben, innerhalb dieser Perspektive zu verorten und wird hin und wieder problematisch, jedoch selten in existentieller Hinsicht: So kann es vorkommen, dass ein Individuum die Einsichten dieser dritten Perspektive überzogen und verzehrt wahrnimmt, also verrückt, und damit zu einseitig wird. Doch dies ist eine Erkrankung, die in der dritten Perspektive zu suchen ist, in welcher allein die kulturelle Entwicklung sozusagen als Evolution verankert wird, als allgemeine Idee, durch welche man mehr oder weniger deutlich auch die Klischeeisierung erfährt und mit in die IchEntwicklung legt. Wenn in dieser dritten Perspektive der Mensch sich als Teil der Umwelt versteht, als Bestandteil der Gesellschaft beispielsweise oder auch als Mensch unter Menschen, mit all den Implikationen, dann ist diese Perspektive aber letztlich doch eine abstrakte, da die beiden anderen

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Randgruppen insgesamt bewegen sich geradezu notwendig in diesem Rahmen, da sie sich ja irgendwann durch Klischees definieren oder besser: die durch die Gruppe erstellten Kennungen werden recht schnell zu Klischees – diese Klischees werden aber innerhalb der Gruppe eben nicht als Klischees empfunden oder zumindest nicht vorderhand, hier steht die Identifizierung im Vordergrund.

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Perspektiven weitaus nachhaltiger wirken: das eigene Selbstverständnis, ein eventuell anerzogenes Ich-Training wirkt natürlich grundlegend und grundsätzlich von Beginn an, doch auch die Festlegung durch die Mitmenschen – dem Blick des Anderen – hat einen akuten, direkten und kaum zu ignorierenden Einfluss, weshalb ja auch die meisten Menschen eine völlige Ich-Zentrierung aufweisen, da sie nur dieses Ich kennen. Wir stellen fest, dass die dritte Perspektive die zeitlich4 und inhaltlich sicherlich die abstrakteste ist, wenngleich auch für den Weltenlauf die wichtigste. Und nun gerät der Mensch mitsamt dieser drei Perspektiven5 in eine neue Situation, nämlich der mit dem Aufwachsen und erstem Etablieren der Perspektiven einhergehenden Massierung der Medien, welches direkt auf die dritte Perspektive einwirkt und sicherlich Auswirkungen im Sinne einer Überflutung hat, einer Reiz-, aber auch Bedeutungs- und damit Konstruktionsüberflutung, was aber, wie schon erwähnt, eher quantitativ wirkt. – Viel wesentlicher ist das Auftauchen der Kameras, die eine vierte Perspektive zeitgleich zu den drei bereits bestehenden und sich evolutionär entwickelt habenden Perspektiven entrollt und maßgebliche Auswirkungen hat – Auswirkungen, die wir anhand der Poetik Wallaces schon näher dargestellt haben und auch noch weiter darlegen werden. Aufgewachsen unter vollkommen neuen Umständen, nämlich unter penetrantem Einbezug einer vierten Perspektive, welche den Kindern, Heranwachsenden und selbst schon den Babys eine Sichtweise auf sich selbst erlaubt und gar erzwingt – immerhin kann man den Filmen und Bildern nicht entfliehen –, die kurz vorher und also geradezu in der Generation davor noch nicht denkbar war: Waren dort die Fotos manipuliert und noch nicht dermaßen ins Private eingedrungen, so haben wir es nun mit einer wahren Flut von privaten und privatesten Aufnahmen zu tun, die immer belebter, immer realistischer und auch immer gnadenloser den Menschen

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Diese Perspektive entsteht durch Lernprozesse und wird erst spät verinnerlicht – vielleicht markiert die beginnende Verinnerlichung als Einschreibungsarbeit ja auch das Ende der Pubertät und schleichende Beginn des Zustands, welchen man als Erwachsensein bezeichnet.

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Die wir hier nur andeutend beschreiben können, denn jeder Mensch hat unterschiedliche Gewichtungen dieser Perspektiven, nicht nur charakterlich und also grundlegend, sondern auch zu jeder Sekunde.

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ohne jede Chance der illusionären Umdeutung, ja der Umdeutung überhaupt zeigen. War vorher das Urlaubsfoto sozusagen ein kristallisiertes Moment der Täuschung, ein winziger Ausschnitt, eigentlich gar kein Ausschnitt, sondern gestelltes Herausfallen aus der Realität, so haben wir es nun auch und vor allem mit missglückten Fotos zu tun, mit Filmaufnahmen etwa, die nach der gestellten Perfektion weiterfilmen und somit das Verschwinden des gestellten Lächelns, vor allem aber das Wegdrehen der Körper, die Sicht also auf krass distanzierende und völlig neue Ansichten des eigenen Körpers, der ureigenen Bewegungen, die man vorher ja allein im gestellten und im bewusst gestellten Ablauf oder Kontext hat sehen können. Nun sehen wir uns in erdenklichen Situationen, sehen uns auch in Augenblicken, in denen wir der Aufnahmen nicht bewusst sind und uns ungestellt verhalten: Diese Sichtweisen haben nun gravierenden Einfluss auf Heranwachsende, da sie zum ersten Mal in der menschlichen Entwicklung sich selbst im nüchternen Kontext der Distanz – und zwar der vollkommenen Distanz – sehen und dies wiederholt und immer wieder sehen, vielleicht auch sehen müssen, aber letztlich ist dies ein Zwang der Moderne und wie das Fernsehen selbst also ein unbewusster Zwang, der nicht als ein solcher empfunden wird. Dennoch ist es nicht schwer zu begreifen, dass eine solche penetrant distanzierte sowie distanzierende und zudem dermaßen häufig vorkommende Perspektive auch die Selbstansicht und damit die Deutung der Welt maßgeblich beeinflusst, ja beeinflussen muss. Erkennt man sich doch in dieser Perspektive als Anderer – und nicht mehr durch den Blick des Anderen, der ja stets imaginiert, geleitet und auf irgendeine Art konnotiert ist, oder der abstrakten Vorstellung des Selbst inmitten des kontextuellen Weltenlaufs. Nun sehen wir uns in diesem Weltenlauf und erkennen uns ganz unabstrakt und also durchaus konkret als Teil dieser Welt – erkennen uns so, wie andere uns sehen, mehr noch: Sind andere gelenkt und in ihrem Blick auf uns manipuliert, vorbelastet, eingenommen und so weiter, so ist die Kamera unbarmherzig und lügt also nicht. Wir sehen uns beispielsweise von der Seite, erkennen uns und müssen doch mit der Tatsache dieser neuen Perspektive fertig werden. Lernt man diese Wesensform nach und nach kennen, so ist der Schock geringfügiger Natur. Wächst man damit auf und bekommt von Beginn an diese Perspektive vorgehalten, dann bezieht man diese Sichtweise natürlich in sein Selbst ein und erweitert auf diese Weise die Selbsterkenntnis: Man

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kennt sich nun in einem umfassenderen Verständnis und weiß also auch um seine Stellung in der Welt, beispielsweise, dass diese und jene Geste, die auf mich selbst so wirkt, in Wahrheit ganz anders und also so wirkt. Man bewertet sich mit Hilfe einer Perspektive, die also neu ist. Die Auswirkungen sind unterschiedlicher Natur und hier nur anzudeuten: Wächst man mit dieser vierten Perspektive auf, mit den Implikationen, welche diese vierte Perspektive transportiert, dann kann man kein inniges Verhältnis mehr zu seinem Selbst haben – was nun negativ klingt, aber neutral gemeint ist, denn letztlich sind neue Perspektiven weder gut noch schlecht, sondern sie sind erst einmal. Die Frage ist ja, was mit dieser neuen Sichtweise geschieht, mit was sie sich koppelt und wie sie gedeutet wird, erst dann können wir über negative oder positive Folgen sprechen: Bin ich an den Gedanken meiner Selbst im Kontext des Allgemeinen gewohnt, ohne die Verzerrungen, die eine Sicht aufgrund der drei ersten Perspektiven notwendig mit sich bringen, mehr noch: habe ich diese Sichtweise nicht einmal mehr als etwas Fremdes im Sinn, sondern bin von Beginn meines Lebens an diese Sichtweise gewohnt und kenne meine Selbsterkenntnis gar nicht anders, dann kann ich mich selbst ständig in dieser Sichtweise der Distanz als Teilnehmer des Weltenlaufes sehen, bin befähigt, mich mit den Augen der Kamera zu deuten und diese Deutung in mein Selbst aufzunehmen. Die Frage ist nun, welche Auswirkungen ein derartiger innerer Kamerablick hat, ein Blick, der ja nicht ein- und ausgeschaltet werden kann, sondern der sich verinnerlicht und ständig manifest ist: So wie ältere Generationen ganz selbstverständlich auch den Blick des Anderen in ihre Selbstdeutung einbeziehen und so ihre Selbsterkenntnis erweitern, so erweitert auch der Kamerablick die Selbsterkenntnis – und zwar auf eine Weise, die man im Grunde nicht abschätzen kann, da dieser sich hieraus ergebende Zuwachs etwas vollkommen Neuartiges nach sich zieht, was mit den herkömmlichen Methoden eigentlich kaum mehr zu beschreiben ist oder zumindest nur sehr subtil nachzuvollziehen sein wird. – Bedenkt man allein, wie das Internet und die Mechanik des Internet des Menschen verändert hat und wie gravierend dies die Generationen voneinander trennt, da die Jüngeren eine völlig andere Art der Informationsaufnahme pflegen müssen, so deuten derartige medial intendierte Mutationen an, wie heftig eine vierte Perspektive im und auf das Selbst sich auswirken muss.

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Wallace, so unsere These, ist einer der wenigen Autoren, der diese vierte Perspektive poetologisch immerhin zu artikulieren versucht, wenn er auch in der kritischen Sicht gegenüber des Fernsehens verbleibt. So erklärt er, ein exzessiver Fernsehkonsum müsse natürlich Auswirkungen auf den Menschen haben, und dies nicht allein physisch, sondern auch psychisch: Wie verändert sich die Selbstdeutung und die Erkenntnis der Welt angesichts derart vieler Informationen und mannigfaltiger Klischees – dies sein Thema. Wie erinnerlich, ist Wallace aber ein strenger und schon beinah desillusionierend geradliniger Ursache-Wirkungs-Denker, wobei er sich hin und wieder bewusst in Rückkopplungen verzettelt und also die immense Komplexität der Moderne darstellt, trotzdem aber und letzten Endes immer von einer Wirkung auf eine Ursache schließt – wir haben ja gezeigt, wie nach Wallace der Mensch von derartigen Einflüssen verändert oder geprägt wird: So ist es für Wallace klar, dass der Mensch, sieht er viel Ironie im Fernsehen, gleichfalls ironisch wird – sicher, wir übertreiben, aber wir wollen es doch so halten: Nach Wallace verändert das Fernsehen den Menschen, wobei die Schuld dann doch, nicht gerne, den Massenmedien gegeben wird. Es ist nicht so einfach, wie Wallace natürlich sehr wohl weiß und in seiner Rede This is Water ja auch nicht den Rat erteilt, den Fernseher mal auszuschalten oder ähnlichen Unsinn. Wallace erkennt essentielle Änderungen der Welterkenntnis und versucht diese zu beschreiben, müht sich dann zunehmend, einen Ausweg aus der Misere zu finden – eine Misere, die wir nun näher darstellen wollen. Die eigentliche Schwierigkeit ist nämlich, dass Wallace sich nicht mehr in der Lage sieht, distanzlos und authentisch Artefakte zu nutzen, Emotionen zu leben ohne sie zu zerdenken, da sich die mediale Flut mit der hergeleiteten vierten Perspektive verknüpft – was die Selbstklischeeisierung erst ermöglicht.

Fünfzehntens: Fremdschämend

Wagen wir einen knappen Exkurs: Denken wir uns einen neunjährigen Jungen, zu Beginn der 1970er Jahre geboren und also mit Filmen, Fotos und anderen Medienaufnahmen1 seiner Selbst aufgewachsen und demnach ein neuer Typus Mensch; dieser Junge sieht fern und erblickt einen gleichaltrigen Jungen, der ein Lied in einer Fernsehsendung aufführt, also ein Lied singt. Er singt es, wie ein Neunjähriger ein Lied singt, mehr schlecht als recht, aber dies ist ohnehin wenig erheblich, wichtiger ist, dass der zusehende Junge sich für den singenden Jungen schämt. – Fremdschämen, so nennt man dies gegenwärtig und meint damit dieses Gefühl des Neunjährigen in den 1980er Jahren, dem Jahrzehnt, in dem unserer Überzeugung nach diese sehr spezifische Art des Schämens zum ersten Mal aufkam, weshalb es auch nicht zufällig seit einiger Zeit in den Kanon der Gefühlspalette aufgenommen ist, sind doch die in den 1980er Jahren Aufgewachsenen nun zunehmend die Meinungsmacher und -gestalter. Wobei dieses Gefühl durchaus interessant, nämlich im Grunde vollkommen widersinnig ist – so ist auch die Bezeichnung des Fremdschämens falsch, denn man schämt sich eigentlich nicht angesichts des Tuns eines Fremden, man ist empört oder entsetzt. Die Scham setzt ja nur dann ein, wenn man in das Ereignis auf irgendeine Weise involviert ist. – Etymologisch jedenfalls ist die Scham unzweifelhaft etwas Privates, stößt ans Private und Intime und also Persönlichste: Was aber beschämt den Neunjährigen angesichts eines anderen Neunjährigen, der sich im Fernsehen singend äußert? Empörung würde sich einstellen, sänge der singende Junge schief, schlecht oder würde sich irgendwie

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Die Möglichkeit der Stimmaufnahme.

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sonst auffällig benehmen; doch der Sänger singt normal für einen Neunjährigen, bewegt sich normal für einen Neunjährigen, der im Fernsehen auftritt. Es liegt demnach nicht an dem singenden Jungen, es liegt im zusehenden Jungen verborgen, weshalb dieser sich also auch nicht fremdschämt, sondern buchstäblich und wortwörtlich schämt. Natürlich ist es nicht ohne Weiteres möglich, die komplexen Reflexionen und Emotionen des zusehenden Jungen vollständig aufzuzeichnen, doch können wir folgende Schritte festhalten: Der Junge sieht den Sänger und verknüpft sich zugleich mit diesem – allein aufgrund des Alters und des Gefühls, Mitglieder einer Generation zu sein. Dies macht den einen Jungen sozusagen für den anderen verantwortlich und erstellt ein Verantwortungsgefühl. Dieses Verantwortungsgefühl, das Gefühl also, auch und vielleicht vor allem Vertreter einer Gruppe zu sein, durchzieht die nun folgenden Ideen und Gedankengänge, wobei zuerst einmal der Neid hervorsticht: immerhin singt dieser Junge im Fernsehen, der zusehenden Junge macht gar nichts und singt eben nicht; dies evoziert unbedingt Neid, doch ist dieser in derartigen Situationen mehr als üblich und soll hier keine weitere Rolle spielen. Wesentlich relevanter ist, dass der zusehende Junge den singenden Jungen als Jungen begreifen muss, der im Fernsehen singt: Dies ist eine Feststellung, eine Festlegung sozusagen, die auch zum Klischee kristallisieren kann, worauf der zusehende Junge reagiert. Fremdschämen – die Gefühlslage und der Neologismus – kann daher im Grunde als Gefühl erklärt werden, das unmittelbar aus dieser Etablierung der vierten Perspektive entstammt, denn allein aus dieser ist es denkbar, Scham für etwas zu empfinden, für das wir überhaupt nicht verantwortlich zu machen sind: Die vierte Perspektive erzieht uns den distanzierten Blick an, welchen wir dann immer an uns anlegen, wir beobachten uns stets aus der Distanz, aus dem Kamerablick sozusagen – und reihen diese Erfahrungen ein in die mannigfaltigen Medienerfahrungen, die wir seit Geburt erlangen. Die neuen Generationen sind aufgrund der Medien einem Informationsfluss ausgesetzt, der sich im Inneren dann zu geradezu unübersehbarer Höhe auftürmt: Unterschiedliche Bilder aus dem Bereich Liebe beispielsweise, Millionen mal gehört der Satz Ich liebe dich mit den unterschiedlichsten Konnotationen, mal ironisch, dann sarkastisch, dann ehrlich

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sowie authentisch2 und so weiter. Diese Bilder bauen aufeinander auf, reagieren miteinander, erstellen situative Klischees3. Bezieht man nun noch die vierte Perspektive mit ein, so reiht sich auch diese ein in den Turm aus Eindrücken und Memen, Artefakten und Klischees: Das Selbst wird, als Außensicht, zum Mem und damit einzureihen in die weiteren Meme: Das Ich, das Ich liebe dich sagt, wird so zu einem weiteren Ich-Liebe-Dich-Sager in der turmartigen Konstruktion von IchLiebe-Dich-Sagern und damit auch bewertbar: Wie man im Fernsehen die So-Sagenden oder So-Tuenden bewertet und also Klischees erkennt, für sich definiert und einordnend etikettiert, so bewertet man nun sich selbst, selbstkritisch, sich aber eigentlich auf die Außenansicht des Ich im Sinne der vierten Perspektive beziehend. Kehren wir zu dem neunjährigen Jungen zurück, zu Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts geboren4 und nochmals als etwa Neunjähriger eine neue Zimmereinrichtung erhaltend, nun mit der Mutter die Möbel auswählend; das Bett für den Schlaf, den Schreibtisch für die Grundschularbeiten. Am Ende sagt der Neunjährige, er wolle auch ein Sofa oder eine Couch, woraufhin die Mutter fragt, warum er dies denn jetzt schon haben wolle. Der Junge erwidert, dass er in wenigen Jahren ja schon nicht mehr mit Autos und anderem Spielzeug spielen, sondern mit den Freunden Kaffee trinkend auf dem Sofa sitzen würde. Die Mutter schmettert den Wunsch mit dem Hinweis auf die lange Zeit ab, die es bis zu dieser Entwicklung nach braucht, der Junge aber zieht sich mit dem Wissen zu seinem Spielzeug zurück – fühlt sich natürlich zu dem Spielzeug hingezogen –, dass er in wenigen Jahren nicht mehr mit diesem heißgeliebten Spielzeug wird spielen wollen; unvorstellbar die Vorstellung, aber doch eine Gewissheit. Nun könnte man auch meinen, dieser neunjährige Junge sei frühreif, doch sollte man dies unserer Meinung nach unter- und sich also auf den

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Aber was bedeutet Authentizität schon, wenn die Liebe im Fernsehen gezeigt wird?

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Dies entspricht der Vorstellung, dass heutzutage alles zum Klischee taugt und im Grunde auch alles ein Klischee ist – doch rettet man sich, indem man in bestimmten Situationen bestimmte Meme kurzzeitig vom Klischeedasein befreit. Doch ist dies ein willentlicher und wissentlicher Aspekt und trägt in sich die Distanzierung.

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Genauer: Zwischen 1970 und 1975.

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Gedanken einlassen, er sei als repräsentatives Beispiel geeignet zur Darstellung gewisser moderner Mythen, die sich nun neu entwickeln und die einen Repräsentanten benötigen, um gänzlich zur Welt zu kommen. Dieser Neunjährige, der etwas weiß, was er eigentlich nicht wissen dürfte oder besser: nicht wissen kann, dieser Junge spielt zwar mit dem Spielzeug, doch spielt er dies in diesem Alter schon im distanzierenden Gefühl der eigentlichen Vergeblichkeit, da er ja weiß, weiß der Teufel wie!, dass er bald schon das Spielzeug nicht mehr gut finden wird, nicht mehr ausreichend – stattdessen wird er Kaffee trinkend auf dem Sofa sitzen, da dies Entwicklungen sind, denen man als Einzelner nicht entgegen kann, weshalb es auch nicht lohnt, sich dem entgegen zu stemmen. Dieses reflexive Wissen ist natürlich der vierten Perspektive geschuldet und den Generationen zuvor so gut wie unmöglich, da dies einen Grad an Distanz zum eigenen Selbst verlangt, der in diesem Alter grundsätzlich noch nicht denkbar und sicherlich auch nicht wünschenswert ist: Die Sichtweise auf das Selbst scheint verrückt, doch ist die Verrücktheit zur Normalität geworden, wie ja auch das Fremdschämen ein neuer Begriff für eine neue Gefühlslage und – eben – Sichtweise auf das Ich und die Anderen zu beschreiben sucht. Hinzuziehen müssen wir ein Dasein, welches zwischen diesen bereits beschriebenen Welterkenntnissen chargierend sich entfaltet: Da ist also der sich fremdschämende Junge einerseits und der sich selbst unter unerbittlicher Distanz erkennende Jungen andererseits. Beide Sphären haben sich im Laufe des Heranwachsens verschärft, zudem ist eine Industrie entstanden, die durchaus ähnlich angelegt ist – wir werden hierauf zurückkommen, wollen aber an dieser Stelle bereits andeuten, dass das Fernsehen beispielsweise, wie überhaupt jede Industrie, in den Grundzügen die Entwicklung genommen hat, die auch der Jungen selbst unternimmt und die ihn ausmacht: Auch das Fernsehen ist beispielsweise mit einer derartigen Distanzierungsperspektive ausgestattet und reagiert ähnlich auf äußere Reize. Nun ist der ehemals neunjährige Junge im Jahre 2001 fast 30 Jahre alt und sitzt am helllichten Tag, er ist Student, vor dem Fernseher, besser: er schaltet den Fernseher ein und sieht die beiden Türme brennend. Eingestürzt ist also noch nichts, auch die Informationslage ist noch verwirrend. Der junge Mann, unser Exempel also, macht sich einen Kaffee, setzt sich – er ist erregt und ob dieser Erregung exaltiert, eine Mischung aus Neugier, Freude und Entsetzen, wobei letzteres sicherlich am schwächsten vorliegt:

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Alles wirkt zu abstrakt, alles wird geschwächt durch die Tatsache, es mit Fernsehbildern zu tun zu haben und durch das damit unmittelbar verknüpfte Faktum, dass bisher im Leben des Exempels alle realen Katastrophen weitaus weniger katastrophal sich gestalteten als gedacht und vom Leitmedium, dem Fernsehen, korrigierend gezeigt: Der Worst Case ist im Fernsehen oder im Kino doch weitaus furchtbarer, schrecklich-schöner als die Realität jemals sein kann. Weshalb unser Exempel auch fassungslos ist angesichts des ersten niederstürzenden Turmes: Dass die Realität so gemäß der Fernsehklischees arbeitet, das ist neu: „We’ve Seen This Before“ (CL, 140), beschreibt auch Wallace dieses Gefühl. Und die ganze Sache wird noch spannender durch die Tatsache, das auch das White House betroffen ist, wohl ein Krieg herrscht und heute, an diesem Tag ausgebrochen ist. Wir kennen alle den Ablauf des Tages und können auf diese gewöhnlichen Gefühle und deren Beschreibung verzichten, es geht uns ja um die Selbstdistanz, die sich stets im Charakters unseres Exempels befindet und die wir nun anhand einer linde überraschenden Wendung an diesem Tag fassen wollen. – Sind die Gefühle also bisher relativ herkömmlich und kaum der Erwähnung wert5, wird sogar vom Exempel selbst in derselben Sekunde des Fühlens als Klischee gesehen6, geschieht nun etwas, was die Distanz endgültig ins Bewusstsein ruft: Die Türme sind beide niedergestürzt, die Berichterstattung läuft eindeutig aus dem Ruder, erste Fernsehbilder von Reaktionen werden gezeigt; nach den üblichen Beteuerungen der Bestürzung, die man gelangweilt zur Kenntnis nimmt, da sie zu gewöhnlich und also klischeehaft gesetzt sind, sieht man nach einem harten Schnitt feiernde Menschen, die Amerikaflaggen anzünden und Plätzchen verteilen – und nun geschieht folgendes: In unserem Exempel entsteht Wut, Wut auf die Feiernden, welche angesichts des Leids so vieler Tausender feiern und die zudem einen Anschlag auf die Kultur auch unseres Exempels nicht nur tolerieren, sondern begrüßen – die Wut ist demnach nachvollziehbar und also verständlich, könnte nun zum reinen, authentischen Gefühl anschwellen und eventuell eine Reaktion irgendeiner Natur evozieren.

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Weshalb auch die Distanzierung im Selbst des Exempels auch nicht weiter auf-

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In dem Sinne: Es entsteht das Gefühl Wut, woraufhin das Exempel diese Wut

fällt, sondern vorliegt. als klischeehafte Reaktion erkennt, was gleichzeitig abläuft und das Problem markiert.

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Doch wir haben es ja mit der vierten Perspektive zu tun, zudem mit der beschriebenen Aufreihung der Eindrücke und der Fähigkeit des Exempels, sich selbst problemlos innerhalb dieser einzuordnen, weshalb dies geschieht: Die Wut wird vom Exempel – und bewirkt von der vierten Perspektive7 – von Beginn an interessiert beobachtet, was bedeutet, dass der Mann sich selbst beim Wütendwerden zusieht und zugleich über diese Wut nachdenken kann, die Wut reflektiert. So denkt der Mann, dass die Wut allzu verständlich ist – was bedeutet, dass er seine Gefühle gleichzeitig mit dem Akt in einen moralischen oder irgendwie allgemeine Zusammenhang einordnet. Dies ist die erste Stufe der Distanzierung, da ein sich über die Wut zeitgleich mit der Wut bewusster Mensch keinesfalls wütend genug sein kann, die Wut liegt ja von Beginn an gebrochen vor. Die zweite Stufe aber ist umso interessanter, da sie unser Dilemma gleichsam bedeutsamer berührt: Der Mann, nun die wachsende Wut beobachtend, nachvollziehend und bewertend, reflektiert nun, dass alle Menschen in seiner Situation – was viele sind – nun diese Wut verspüren. Dieser Gedanke entsteht wiederum zeitgleich zu den bereits vermerkten Reflexionen, es finden hier keine zeitlichen Abfolgen statt, sondern alles geschieht synchron und geschieht auf diese Weise während jedes Ereignisses. Diese Erkenntnis – nämlich in diesem Augenblick ein Gefühl mit vielen anderen zu teilen und sich innerhalb und als Teil einer Masse zu empfinden, einer massenhaften Bewegung – wird abermals kritisch beleuchtet und in der Folge ambivalent eingeordnet, einmal als Gefühl des Selbstbewusstseins und zugleich als Gefühl des Scheiterns. Das Selbstbewusstsein, welches aus massenhaften Zuständen, aus der Masse also, gespeist wird, dieses Selbstbewusstsein ist dem Mann nicht nur unheimlich, sondern völlig verboten, ist er doch streng individualistisch erzogen8, weshalb die Kritik des Über-Ich sogleich einschreitet und das Selbstvertrauen zumindest ins Ironische abdriften lässt – durch Distanzie-

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Das ist wie immer verkürzt dargestellt, da ja das Selbst sich letztlich aus einer

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Es ist seit dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Kulturen eine Erziehungs-

Synthese der vier Perspektiven erstellt. methode entstanden, die sich vor allem aus der vehementen Abscheu vor Massenbewegungen speist und die einen Individualismus propagiert, der sich zum größten Teil aus kapitalistischen Motiven ergibt, gleichwohl aber auch psychologisch, historisch und philosophisch geradezu zwangsläufig ableitbar ist.

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rung. Dies ist herkömmlich und ein Rückkopplungseffekt zwischen den ersten drei Perspektiven. Warum aber der Mann sich angesichts der Erkenntnis, nun teil zu nehmen an einem Massengefühl, schämt – dies obliegt der vierten Perspektive, die zuerst einmal dafür sorgt, dass der Mann sich überhaupt in einen Zusammenhang einordnet. Und nun erkennt er sich, distanziert, als Teil einer Massenbewegung, kann aber hierüber reflektieren und hat sich somit schon von dieser Massenbewegung distanziert – dass dies dann als Klischeesierung mit dem Gefühl des Scheiterns gekoppelt wird, hat unseres Erachtens mit einem Grundzug der abendländischen Kultur zu tun, nämlich der Sucht nach Eigenständigkeit, Originalität und der gleichzeitigen Zerstörung dieser Entitäten. Man möchte authentisch, eigensinnig sein, man möchte nicht Teil der Masse werden, da die Masse ja gleichbedeutend mit dem Mob geworden ist – Entwicklungen der Individualisierung, des Gedankens der Einzigartigkeit, all dies spielt hier eine große Rolle: Der Mann, unser Exempel, hat sozusagen in der dritten Perspektive die Ausschließlichkeit der Idee der Individualität erlernt und muss nun, erkennt er in der vierten Perspektive sich doch als Teil einer Gesamtbewegung irgendeiner Art, sogleich in eine Art von Klischeepanik verfallen. Weshalb, um im Beispiel zu bleiben, die Wut am Ende ironisiert wird – eine ironische Bemerkung dieser Art fällt und ersetzt dann geradezu die Wut, die dann verpufft und wirkungslos bleibt, da sie als Wut zwar vorhanden war und ist, aber stets vom Selbst distanzierend verfolgt und geradezu hinwegreflektiert wird. Nicht aufgrund eines Zuviels an Wissen, wie man landläufig argumentieren könnte, sondern aufgrund eines Zuviel an Sichtwinkeln und damit Gelegenheiten der Selbsterkenntnis. Neuartig ist auf jeden Fall die Einordnung des eigenen Selbst ins Allgemeine, also das ständige Bewusstsein über die Allgemeinheit der eigenen Befindlichkeit, eine Allgemeinheit, die man als Mensch des neuen Jahrtausends verteufelt und meidet.9

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Ein weiteres Beispiel, doch da es das Problem nur aus einem anderen Blickwinkel zeigt, kommt es in die Fußnote: Der junge Mann, abermals um die 30 Jahre alt, sitzt mit einem anderen jungen Mann wieder einmal vor dem Fernseher (Wallace hat ja mit vielen Dingen nicht unrecht), diesmal werden Nachrichten gezeigt und zwar von einer Trauerfeier anlässlich eines Amoklaufs an einer Schule. Man sieht viele Schülerinnen und Schüler weinend und sich gegenseitig tröstend auf Schulwiesen. Dies verläuft für zwei, drei Sekunden kommentarlos,

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Wallace stellt jene Komplexität der oben angedeuteten Ereignisse in seinen Geschichten immer wieder dar 10 : Herausragendes Beispiel des Frühwerkes dürfte seine Beschreibung eines Late-Night-Auftrittes sein, in welchem er auf grandiose Weise die Rückkopplungseffekte verschiedener Perspektiven und deren Vermischung beschreibt: My Appearance, enthalten im Band Girl with Curious Hair, stellt eine mediale Grenzsituation dar, die aber in ihrer Mehrfachbödigkeit schon längst Normalität ist. Da ist einmal die Schauspielerin, der Gast des Abends, die authentisch sein möchte, aber von ihrem Mann und ihrem Berater taktisch instruiert wird. Und da ist David Letterman, der ebenfalls ambivalent gezeigt wird, da seine stets ironische Distanzierung eine Haltung erzeugt hat, in welcher Authentizität und Taktik, Distanz und Emotion nicht mehr zu trennen sind – die Show lebt von dieser Aura der Ambivalenz. Das Publikum liegt gleichfalls multiperspektivisch vor, wobei noch dazu die Erwartungshaltung kommt, die sich auch aus den bereits gemachten Erfahrungen mit dem Medium der Late-Night-Show speist. All dies führt zu unterschiedlichen Planspielen, die alles andere als authentisch sind und die Idee der Authentizität geradezu ad absurdum führen – jede Geste, so die Aussage letztlich, ist in diesem Falle Ausdruck einer interpretierbaren Handlung, weshalb man nicht einfach unbewusste Gesten vollführen kann, da man stets die Deutungsmöglichkeiten bedenken muss.

bis dann der zweite Mann (unser zweites Exempel sozusagen) erklärt, dass er Wut oder so etwas als Reaktion auf den Amoklauf verstünde, nicht aber Trauer, Trauer wäre sinnlos ... Unser Mann nickt hierauf und der Abend geht weiter seinen Gang (einen Gang, der uns nicht interessiert, obgleich er zumeist auf Bier basiert), woraufhin wir uns also Gedanken über diesen Satz machen sollten, der ja menschliche Grundgefühle verneint und überhaupt Gefühle als logische Operation definiert, die man mit sinnvoll oder sinnlos titulieren und geradezu etikettieren kann. Es zeigt sich aber in der Bemerkung vor allem eine – das herkömmlich Ironische – übersteigende Potential, weshalb hier schon das Zynische berührt wird; was andeutet, wie tief die Distanzierung geht und wie verletzend sich dieser Riss im Individuum auswirkt. 10 Er ist, weiß Gott!, nicht der einzige Autor, der dies thematisiert. Italo Svevo sei an dieser Stelle genannt, doch während Svevo derartige Reflexionen allein andeutend einstreut, umreist Wallace die Problematik mit einer geradezu exzessiven Leidenschaft.

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Eben diese Situation finden wir auch in unseren Beispielen des jungen Mannes, allein: hier sind die Perspektiven verinnerlicht, während der frühe Wallace noch das Fernsehen verantwortlich zeichnet und den Konflikt sozusagen nach Außen verlagert oder von der Außenschau her beschreibt – eine Entwicklung, die sich im Laufe seines Schreibens immer mehr ins Innere verlagert und unserer obigen These der vierten Perspektive als verinnerlichtem Kamera-Auge sehr nahe kommt. So kann man den Anfang von Infinite Jest auch als Darstellung der evolutionären Angleichung des Menschen hin zur Technik deuten: Hal, einer der Hauptfiguren, vielleicht gar die wichtigste Figur des Romans, sitzt am Ende der Handlung – und gleichzeitigem Anfang des Buches – einer universitären Auswahlkommission gegenüber, hierbei sehr distanziert seine Situation, Haltung und also seine Außenwirkung reflektierend: I believe I appear neutral, maybe even pleasant, though I've been coached to err on the side of neutrality and not attempt what would feel to me like a pleasant expression or smile. I have committed to crossing my legs I hope carefully, ankle on knee, hands together in the lap of my slacks. My fingers are mated into a mirrored series of what manifests, to me, as the letter X. (IJ, 3)

Es ist eine Haltung zu sich selbst, die durchaus an unsere obige Darstellung gemahnt, sich aber auch aus den ersten drei Perspektiven ergeben kann: Die Außenwirkung in die Innenschau einbeziehend, haben wir es hier jedoch nicht mit der völligen Außensicht auch der Gefühle zu tun – auf jeden Fall ist diese Sichtweite nicht akzentuiert dargestellt. Gleichwohl zerfällt jene Selbstsicherheit im Verlauf des Kapitels, denn Hals Äußerungen gegenüber der Kommission entpuppen sich als grunzende Laute, woraufhin ein Zusammenbruch erfolgt. Da der Roman am Ende beginnt und wir Hal im Verlauf der Vorgeschichte als überdurchschnittlich intelligenten, athletischen, wenngleich Marihuana süchtigen jungen Mann erleben, überrascht dieses Ende und fordert zu Interpretationen heraus – Stephen Burn eruiert in seiner Darstellung mindestens drei Möglichkeiten, zuerst den MarihuanaKonsum und zweitens das Einwerfen einer LSD-artigen Droge, zuletzt die These, Hal habe den Film Infinite Jest gesehen, sei aber nicht in den übli-

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chen katatonischen Zustand gefallen, „with Hal ironically being saved by his prior exposure to addiction?“11 Jeweils ist die Suchtpersönlichkeit nachweislicher Ausgangspunkt, doch ist an der dritten Möglichkeit sehr interessant, dass hier eine evolutionäre Entwicklung angedeutet wird, die parallel zur technischen abläuft: Hal wird aufgrund seines Suchtverhaltens in die Lage versetzt, die völlige Unterhaltung des Films zu ertragen, wenn auch mit Schaden, aber eben nicht mit Todesfolge. Wallace verlagert die in My Appearance noch eher dipolar angelegte Ambivalenz in dem Roman Infinite Jest zusehends in die Wirklichkeitswahrnehmung der Figuren, indem er unter anderem eine Entwicklung andeutet, hier unter den ironischen Vorzeichen des Drogenkonsums, welche es den Menschen ermöglicht, die technische und also massenmediale Entfaltung auszuhalten. Es scheint demnach so, als umkreise Wallace auch die obigen Darlegungen einer völlig neuen Wirklichkeitserfassung durch den veränderten Menschen – verändert durch die technische und damit massenmediale Enzwicklung. Die Drogen und der Drogenkonsum werden im hierbei zu Art Fenstern, sind selbstverständlich auch Symbole oder Metaphern, dieser neuen Perspektive, zu Wegen einer Beschreibung im Grunde neuer Sachverhalte, die nicht poetologisch problematisiert werden, sondern existentiell. Dies gilt weniger für das Frühwerk, welches in der dargelegten Polarität verharrend den Menschen allein als Opfer der Umstände und Neuerungen zeigt, es gilt für das Schreiben ab Infinite Jest, ab welchem, wie gezeigt, auch die mögliche Veränderung des Menschen selbst diskutiert wird – wie ja auch wir angesichts der technischen Entwicklung eine solche Mutation im evolutionären Sinn andeuten. All dies sollte dann wohl in The Pale King kulminieren und sich eventuell mit unserer Sichtweise vereinen: dementsprechende Ansätze werden nämlich in dem letzten Romanwerk berührt, jedoch nicht weiter ausgeführt; da ist zuerst einmal eine Infinite Jest-artige Drogeneskapade Fogles. Fogle, immer noch zu erklärend suchend, weshalb er Finanzbeamter geworden ist, erzählt von einer Droge, die den Effekt des doublings ermöglicht habe, womit eine neue Sichtweise gemeint ist: „If I was in a room, and had taken an Obetrol or two with a glass of water and they’d taken effect, I was now

11 Burn, Stephen: David Foster Wallace’s Infinite Jest, S. 38.

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not only in the room, but I was aware that I was in the room.“ (PK, 181) Wie jede Drogenerfahrung, so ist auch diese im Grunde nicht zu beschreiben: „What became more intense was my awareness of my own part in it, that I could pay real attention to it“ (PK, 182), und: „That I was aware of the awareness“ (PK, 183), müht er sich an einer Darstellung, bemüht dann das Beispiel des Musikhörens, woraufhin er erkennt, dass er nicht nur die Musik besser versteht, „but also being aware of the exact feelings and sensations the music produced in me“ (PK, 183), womit Fogle eine Ahnung bekommt von der so genannten vierten Perspektive, sich also während des Rausches völlig distanziert betrachtet und seine Gefühle beschreiben, einordnen und also auch, wenigstens theoretisch, als Klischees enttarnen kann; der Satz: „[T]o be able to say to yourself, ‚This song is making me feel both warm and safe [...]‘“ (PK, 183) deutet jedenfalls an, dass Fogle in diesem Zustand sich selbst und seine Gefühle in einen allgemeinen Zusammenhang einordnen kann. Relevant für Fogle (und uns) wird der Rausch, da jene Erfahrungen seiner Meinung nach den Weg zur beruflichen Entscheidung ebneten: „It had something to do with paying attention and the ability to choose what I paid attention to, and to be aware of that choice, the fact that it’s a choice.“ (PK, 187) Es geht hier demnach nochmals und verstärkt um die Frage nach einer anthropologischen Perspektivverschiebung und neuen Sichtweise. Wie erinnerlich, steht das Finanzamt letztlich für die Welt, weshalb die Fähigkeit, das Finanzamt zu überleben – und dies ist nicht in negativer, sondern in neutraler, wenn nicht gar positiver Konnotation gemeint – als Nachweis gesehen werden kann, in dieser Welt eine Auffassung erlangt zu haben, die ein lebenswertes Dasein ermöglicht. Dass es um eine neue Perspektive im Menschen selbst geht, wird auch an einem weiteren Beispiel deutlich, diesmal ohne Drogen. Es geht um den uns bereits bekannten schwitzenden Cusk, dem Wallace eine Erkenntnisstufe zugesteht, die durchaus an unsere Theorie gemahnt; so heißt es in einer Fußnote: Psychodynamically, he was, as a subject, coming to a late and therefore traumatic understanding of himself as also an object, a body among other bodies, something that could see and yet also be seen. It was the sort of binary self-concept that many children attain as early as age five, often thanks to some chance encounter with a mirror, puddle, window, or photograph seen in just the right way. Despite the boy’s having the average ration of reflectors available to him in childhood, though, this

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developmental stage was retarded in his case somehow. The understanding of himself as also an object-for-others was in his case deferred to the very crusp of adulthood – and, like most repressed truths, when it finally burst through, it came as something overwhelming and terrible, a winged thing breathing fire. (PK, 92)

Wallace bewegt sich in seinen medientheoretischen Überlegungen demnach in Bahnen, die wir aus der Beschäftigung mit seinem Werk, jedoch selbsttätig eruiert haben: Es geht ihm grundsätzlich, wie uns, um die Darstellung der neuen Perspektive, die im Frühwerk noch allein der Außenwelt angehört, im weiteren Verlauf jedoch immer tiefer ins Selbst verlagert wird, was bedeutet, dass auch seiner Meinung nach der technische Fortschritt ein neues Selbst etabliert. Womit eine neue Poetik gefordert ist, eine neue Poetologie für eine neue Epoche. Wobei es fraglich ist, ob diese neue Poetik allein eine Frage des Mutes ist, wie er noch 1996 erklärt – seine Überlegungen bezüglich der Wirkung von Reflexionen in Form von Spieglungen sind unserer Meinung nach wenigstens zu kurz gedacht, da der Spiegel ja, wie gesagt, allein den manipulierten Ausschnitt eines gestellten Blickes ermöglicht: In der Hinsicht ist der Spiegel relevant zur Bildung der von uns definierten ersten Perspektive, da er den Blick des Anderen ins Selbst legt und damit das Individuum in eine überbauartige Ahnung und damit Distanzierung von sich ermöglicht: die Selbstreflektion entwickelte sich eventuell auch aufgrund des zufälligen Blicks auf die reflektierende Wasseroberfläche und die damit einhergehenden Reflexionen, die ein evolutionär entsprechend mutiertes Gehirn ermöglichte; allein, der Spiegel als Medium der Selbsterkenntnis ist unserer Auffassung nicht hinreichende Erklärung des modernen Individuums, mit all den inneren Gräben, Furchen und Spieglungen, von denen Wallace ja ausgeht und die in The Pale King zu überwinden trachtet.

Sechzehntens: Vom Maler, der seiner Inspiration vertraute

„Ich bin Ende oder Anfang“, schreibt Kafka im Jahre 19181 und deutet damit die Krise seiner Zeit an, seinen Standpunkt in jener Entwicklung bedenkend: gehört er noch zu den Alten, und ist sozusagen die Quintessenz des Tradierten und nun Obsoleten, oder gehört er schon zum Neuen, dem Originären und ist sein Schreiben Ausdruck jenes Neuartigen oder eventuell auch nur ein Hinweis hierauf. Und obgleich wir den Vergleich zwischen Kafka und Wallace nicht unnötig ausreizen wollen, ist es doch interessant, die Selbstdeutung beider zu vergleichen, erkennen sie sich jeweils an Wendemarken nicht allein der literarischen Entwicklung, sondern allgemeiner Verschiebungen, die neue Poetologien erfordern. Dabei hat Kafka anscheinend eine Menge mehr Gründe, sich als Zeuge und gar Sinnbild einer Krise zu empfinden: So ist er als Vertreter des assimilierten Judentums sicherlich an einem Abschluss sowie zugleich Neubeginn angekommen, siehe die grundsätzlichen Auseinandersetzungen der zionistischen Bewegung. Als ewiger Junggeselle scheint er das Paradigma eines gesellschaftlichen Epochenumbruchs und damit Vertreter eines neuen soziologischen Phänomens, für das es zu seiner Zeit noch keine Definition zu geben scheint: Die Nische für den Junggesellen wird erst in den Jahrzehnten danach allmählich mit alternativen Inhalten gefüllt werden, zu Kafkas Zeit werden sie wie Männer behandelt, die noch keine Frau gefunden haben, daher bei unstatthaft langer Dauer des Zustandes zu Außenseitern werden. Auch ist sein Land als monarchisch sanktionierter Vielvölker-

1

Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 98.

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verbund an ein Ende gekommen, er selbst beruflich in ein statistisches Projekt eingebunden, welches ebenfalls Neuland betritt und enorme Auswirkungen haben wird: Das Versicherungssystem entsteht und verortet den Menschen in Statistiken, was immer ein Abwägen zwischen mathematischen Prinzipien und individuellen Zufällen markiert: diese Anstrengung wird das nächste Jahrhundert maßgeblich bestimmen. In all dem ist zur Jahrhundertwende eine historische Nahtstelle zu erkennen, wie ihm und seiner Generation es durchaus auch bewusst ist. Im Expressionismus sollen neue Zugänge das Neuartige der Zeit entweder begrüßen oder verdammen: Zugänge, die in ihrer Stoßrichtung an Wallace gemahnen, jedenfalls an den Wallace, der Lynch bewundernd zu erklären versucht und hierzu eine Art modernen Expressionismus herzuleiten bemüht ist. Er orientiert sich hierbei am tradierten Expressionismus, definiert daher nicht mehr, sondern geht im Lynch-Essay allein auf zwei mögliche Fehler ein, die in der expressionistischen Grundidee verhaftet seien und mit deren Hilfe wir sicherlich auch positive Beschreibungsformate der Vorstellungen Wallaces eruieren können; die erste Fallgrube sei hierbei das bewusste Schreiben und die damit einhergehende willentliche Formatierung, Gestaltung und insgesamt Beeinflussung des Stoffes; so Wallace: „The first is a self-consciousness of form where everything gets very mannered and refers cutely to itself“ (FT, 199). Diesen Gedanken präzisiert Wallace dann in der anschließenden Fußnote mit der Angabe einer „ironic intertextual selfconsciousness“, welche vermieden werden muss. „Dieses Hinabgehen zu den dunklen Mächten, diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt“, erklärt Kafka seinem Freund Brod im Jahre 1922 innerhalb eines bestürzenden Briefes2, in welchem der Schreiber sich poetologisch so offen äußert wie selten – im Grunde gibt es kaum poetologische Äußerungen Kafkas, es gibt allein Fetzen in den Tagebüchern, einige Bemerkungen in den Briefen: Kafka ist kein Autor der metapoetologischen Reflexionen. So apostrophiert er ja auch im obigen Zitat das Schreiben als unbewusste Tätigkeit der Selbstvergessenheit und strebt auch im Schreibprozess einen solchen Zustand immer

2

Kafka, Franz: Briefe, S. 384.

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wieder an: Während des Schreibens soll das bewusste Denken betäubt, gar abgetötet werden und allein das Unterbewusstsein den Griffel führen – die „Darstellung meines traumhaft inneren Lebens“ nennt Kafka dies im Tagebuch3 und wenige Seiten später auch ein „Zwiegespräch mit mir“4. Der Traum meint das Schreiben als unterbewussten Akt, das Aufzeichnen unreflektierter Gedankengänge, die im Ganzen – ohne das Zaumzeug der Konstruktionen anzulegen 5 – ans Tageslicht befördert werden sollen. Das Kunstwerk wird in seiner Fragilität, der inneren Abgeschlossenheit und geheimnisvollen Ausstrahlung zu einer Wesenheit, wie Kafka abermals im Tagebuch ausdrücklich reflektiert: Anfang jeder Novelle zunächst lächerlich. Es scheint hoffnungslos, daß dieser neue noch unfertige überall empfindliche Organismus in der fertigen Organisation der Welt sich wird erhalten können, die wie jede fertige Organisation danach strebt sich abzuschließen. Allerdings vergißt man hiebei, daß die Novelle falls sie berechtigt ist, ihre fertige Organisation in sich trägt, auch wenn sie sich noch nicht ganz entfaltet hat; darum ist die Verzweiflung in dieser Hinsicht vor dem Anfang einer Novelle unberechtigt; ebenso müßten Eltern vor dem Säugling verzweifeln, denn dieses

3

Kafka, Franz: Tagebücher, S. 546.

4

Ebd., S. 549.

5

„Das Grauenhafte des bloß Schematischen“, schreibt er ungewohnt ungeduldig in sein Tagebuch (ebd., S. 517). – Es drückt sich in diesen Gedanken eine Vorstellung des Träumens in Bezug zum Unterbewussten aus, die Henri F. Ellenberger in seiner umfassenden Darstellung auf folgende Weise für Kafkas Zeit formuliert: „Die Träume bedienen sich auch einer universalen Symbolsprache, die bei allen Menschen auf der ganzen Welt gleich ist, bei uns wie bei den ‚Wilden‘ auf Neuseeland, und die ebenso für die Menschen vergangener Zeiten gilt wie für uns. Die Traumbildersprache ist ‚eine höhere Art von Algebra‘ [...] Nachts wird die menschliche Seele manchmal fähig, Zukünftiges in Bildern vorauszusehen, aber häufiger hat der Traum einen amoralischen und dämonischen Charakter, weil die vernachlässigten, verdrängten und vergewaltigten Aspekte der Persönlichkeit zum Vorschein kommen“. (Ellenberger, Henri F.: Die Entdeckung des Unbewußten, S. 291) Derartige Trauminhalte sind dann wahrhaftig und nicht mehr schematisch.

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elende und besonders lächerliche Wesen hatten sie nicht auf die Welt bringen wollen.6

Gleich einem Embryo, welches unabhängig von den Eltern nach geheimnisvollen Regeln wächst, mit der Geburt ans Licht gebracht und im Grunde erst ab da den Eltern verantwortet wird, entsteht nach Kafkas Meinung das literarische Werk: Ich habe jetzt und hatte schon Nachmittag ein großes Verlangen, meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir herauszuschreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein oder es so niederzuschreiben daß ich das Geschriebene vollständig in mich einbeziehen könnte. Das ist kein künstlerisches Verlangen.7

Jene Wünsche und Ansichten eines tiefen und umfassenden Beschreibungsvorgangs innerster und also tiefster Zustände – der Unterbewusstseinszustände also –, sie werden in Kafkas Nacht des Durchbruchs tatsächlich wahr: In der Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 schreibt Kafka die Novelle Das Urteil und zwar in einem Durchgang, „denn die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen“.8 Interessant sind Kafkas spätere Versuche, die Genese der Erzählung zu beschreiben; es sind für Kafka ganz ungewöhnliche Einträge, da er ja bekanntlich äußerst selten poetologische Gedankengänge aufzeichnet – so als würde das Nachdenken oder gar Vordenken die Geschichte zerstören9 . Kafka hat nur selten Notizen gemacht, kaum Planungen erstellt, es finden sich wenige Skizzen: Er setzt sich in den Nachtstunden hin, zumeist nach einem ausgedehnten Spaziergang und einem Nickerchen, und beginnt zu schreiben, erfolgreich dann, wenn er keine Pausen, keine reflektierenden

6

Kafka, Franz: Tagebücher, S. 711.

7

Ebd., S. 286.

8

Ebd., S. 491.

9

Sicherlich markiert dies den verzweifelten Versuch, die einmal erreichte Schöpfung mit Hilfe des verstehenden Nachvollzugs zu wiederholen – der Widerspruch ist offenkundig.

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Momenten zulassen muss und also ganz in der Selbstvergessenheit verbleiben kann. Und doch, so Kafka, habe er natürlich durchaus gewisse Gedanken, bewusste Gedankengänge also während des Schreibens in sich getragen, die er aber konsequent als Gefühle definiert: Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. [...] Viele während des Schreibens mitgeführte Gefühle: z. B. die Freude daß ich etwas Schönes für Maxens Arcadia haben werde, Gedanken an Freud natürlich, an einer Stelle Arnold Beer, an einer andern an Wassermann, an einer (zerschmetterten) an Werfels Riesin, natürlich auch an meine ‚Die städtische Welt‘.10

Hier ist gleich mehrerlei entscheidend, zum einen natürlich die anfängliche Reflexion, nach welcher aufgrund des großen Feuers inspirativer Kraft die intertextuellen Bezüge und überhaupt die reflexiven Gedankengänge zergehen und dialektisch auferstehen, zu etwas Eigenem und damit Originären werden. Und dann die Definition der Reflexionen als Gefühle, hier unter Hinweis auf beispielsweise Freud – so hat er Freud’sche Konstruktionen in seine Novelle eingewoben, dies aber bis zur Unkenntlichkeit. Dass Kafka dies nicht als Pose versteht und also willentlich und wissent lich intertextuelle Bezüge oder überhaupt konstruierte Argumentationsmuster im Schreibprozess umschreibt, zeigt sich in einem Eintrag des Tagebuchs, in welchem er sich abermals Gedanken über die Genese des Urteils macht und diese nun nachträglich interpretiert, er schreibt: „Anläßlich der Korrektur des ,Urteil‘ schreibe ich alle Beziehungen auf, die mir in der Geschichte klar geworden sind, soweit ich sie gegenwärtig habe. Es ist dies notwendig, denn [...] nur ich habe die Hand, die bis zum Körper dringen kann und Lust dazu hat“11. Die nun folgende Interpretation bleibt unsicher, Beziehungen aufdeckend, die Kafka aber erst nachträglich zu erkennen glaubt – da er dies im Tagebuch für sich formuliert, ist fraglich, ob man hier von einer Pose sprechen kann, gleichwohl man selbstverständlich stets argwöhnisch bleiben sollte: Dass Kafka an eine Veröffentlichung seines Tagebuchs glaubte, kann man aber sicher getrost verneinen, weshalb seine Gedanken

10 Ebd., S. 460f. 11 Ebd., S. 491f.

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hier wohl so authentisch wie möglich sind, obgleich ein Tagebuch per se einen inszenierenden Charakter hat. Es offenbart sich also ein Autor, der die Ideen seines Schreibens aus dem Unterbewussten schöpft, aus dem Bereich also, welchem Bewusstsein und Rationalität fremd sein muss – logisches, bewusstes und geleitetes Denken ist dieser Sphäre unbekannt. Das Unterbewusstsein ist zu Kafkas Zeit ohnehin lohnendes Objekt derartiger Zugänge, hat man es doch just erst entdeckt und als geheimnisvolle Entität im Individuum identifiziert: teils als Mythenspeicher und allgemein menschliches Verbundsystem, teils aber auch als Hort zuhöchst individueller Muster; diese Vorstellung ist nach Ellenberger den Romantikern entnommen, die das Unterbewusste definierten: „Mit diesem Wort meinte man nicht mehr die vergessenen Erinnerungen des Augustinus oder Leibniz’ ‚unklare Vorstellungen‘, sondern das Unbewußte war das Fundament des im unsichtbaren Leben des Universums verwurzelten Menschen, und daher das eigentliche Band, das den Menschen mit der Natur verknüpfte.“12 Eine mysteriöse Entität also, die in jedem Menschen individuell sowie überindividuell vorliegt, die Freud aber erfolgreich als Strukturen zu beschrieben sucht, welche abermals allgemein menschlicher Natur sind, wobei sich allein der Fokus verschiebt: Grundsätzlich gilt für Freud, dass auch das Unterbewusste positivistisch beschreibbar ist, nämlich strukturiert werden kann, und zudem als Speicher tiefster menschlicher Topoi fungiert – denken wir nur an die Archetypen Carl Gustav Jungs. Hieraus schöpfen nun die Künstler, die im unterbewussten Schreiben völlig neue Poetologien ableiten und diese gegen den Realismus absetzen, ja gegen den Realismus anschreiben und also einen neuen, tieferen und menschlicheren Realismus zu verfassen glauben: „Der Schlüssel“, schreibt Carl Gustav Carus schon 184613, „zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins.“14 Diese Vorstellung prägt weite Teile der modernen Literatur: „Das Phänomen der Inspiration ließ sich als ein mehr oder

12 Ellenberger, Henri F.: Die Entdeckung des Unbewußten, S. 288. 13 Und allein damit schon andeutend, dass diese Vorstellungen im Grunde bereits mit der Romantik einsetzen. 14 Carus, Carl Gustav: Psyche, S. 3.

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weniger stoßweises Einbrechen psychischen Materials, das im Unbewußten angesammelt worden war, ins Bewußtsein erklären.“15 Hier schließt demnach Wallace an, da auch er eine Poetik anstrebt, in welcher der Autor absichtslos schreibt, unsubtil also, ohne bewusste Konstruktionen, ohne auch die typischen Strategien, welche die so genannten Expressionisten umtreiben – beispielsweise das bewusste Schockieren mit erschütternden Sprachbildern oder bewusst-unbewusst gesetzten Klüften, durch welche die herkömmlichen Konstruktionen aufgebrochen werden sollen. Dies gemahnt an Wallaces poetologische Überlegungen einer Prosa, die bewusst die Techniken des Fernsehens umschreibt und damit die Erwartungshaltung des Lesers hintergeht, womit der Leser zu denken beginnt – theoretisch zumindest. Das sich hieraus ergebende Problem ist von Wallace gesehen und liegt zweifach vor, zuerst einmal in dem Umstand der raschen Klischeeisierung und Vereinnahmung jener neuen Konstruktionen, die als solche vereinnahmt werden, nicht allein vom Fernsehen, sondern in einem allgemeinen Sinn. – Es ist Kafka, der diese Denkbewegung sehr anschaulich beschreibt, so heißt es angesichts eines Besuches bei einem Maler, dessen Selbstvertrauen Kafka wohl beeindruckt und zugleich missfallen haben muss: „Nicht zu übersehen war jedenfalls die Sicherheit, mit welcher der Maler in jedem Augenblick des Gesprächs auf das Unvorhergesehene seiner Eingebung vertraute und daß nur dieses Vertrauen seine künstlerische Arbeit mit dem besten Recht zu einer fast Wissenschaftlichen machte.“16 Es ist diese geradezu ironisch besetzte Dramatik des kreativen Prozesses, die aber nicht einer postmodernen, sondern eher einer existentiellen Ironie entspricht: Möchte man originär schöpfen, muss man das Ungeplante, das letztlich nicht zu Planende – denn dies ist ja nun einmal Definition des Originären – geradezu einplanen, muss das streng Unwissenschaftliche verwissenschaftlichen. Kafka, der bekanntlich mit Reflexionen geizt, begreift diese Ironie, die auch die Gegenkonstruktionen ergreift, Konstruktionen also, die gegen eine bestimmte Haltung gerichtet sind. Denken wir allein an Josef K. und dessen Kampf gegen das Gericht, gegen das System des Gerichts: Zuerst sich mühend, das Gericht zu verstehen, nachvollziehend zu begreifen und dement-

15 Ellenberger, Henri F.: Die Entdeckung des Unbewußten, S. 248. 16 Kafka, Franz: Tagebücher, S. 307.

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sprechend zu agieren; dann wiederum, da dieser Weg scheitert, treibt es ihn, gegen das Gericht zu arbeiten, die ursprüngliche Haltung also zu verkehren und das Gericht sozusagen zu überraschen und damit aus der Reserve zu locken. Doch das Gericht ist überall, es holt Josef K. nicht nur ein, es ist schon vorher da gewesen, da Josef K. sich innerhalb des Systems bewegt: Jene umfassende Reflexion der Macht von Systemen deckt sich nun tatsächlich mit postmodernen Ideen, da ja im Proceß beispielsweise der Geistliche, von dem wir bereits sprachen und der Josef K. immerhin rät, sich der Geschichte und damit auch seiner Geschichte, da er ja eindeutig mit dem Mann vom Lande identisch ist, von einem ganz anderen Standpunkt aus zu nähern, einer vollkommen anderen Perspektive: Den Widerspruch zu ertragen und sogar als sinnvoll zu erachten, dies ist nicht die Quintessenz des Romans, aber es deutet die eigentliche Quintessenz an: „Ein Trupp Pferde brach aus der Umzäunung aus“, schreibt Kafka 1913 in sein Tagebuch17 und wir erinnern uns gleich der Analogie, die der ein wenig jüngere Prager damals seinem Chef brieflich auseinandersetzte; er ersann eine Rennbahn, in welcher selbst die aus dem Takt geratenen Pferde letzten Endes das System nur noch stärken, da innerhalb des Systems alles für das System ist, alles diesem dient. Brechen die Pferde aber aus, so ist Freiheit und damit Originalität denkbar: Eben dies deutet der Geistliche ja an, immerhin erklärt er, dass weder Josef K.s Deutung der Parabel noch die Gegendeutung haltbar seien, stattdessen sei eine Deutung außerhalb der üblichen Denkbewegungen sinnvoll: „Die Erklärer“, so der Geistliche, „sagen hierzu: ‚Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus‘.“18 Genuss und Wert des Schreibens besteht nicht darin, die Grenzen zu sprengen, sondern in Bereiche vorzudringen, die oberhalb der Grenzen liegen und umfassendere Perspektiven erlauben – herauszutreten also aus den üblichen Konstruktionen und Ursache-Wirkungs-Verhältnissen, gleich den Pferden, die aus der Umzäunung brechen19.

17 Ebd., S. 582. 18 Kafka, Franz: Der Proceß, S. 294. 19 Gleichwohl dieses Bild nicht recht passen will, immerhin sprachen wir zuvor davon, dass es nicht ausreicht, die Grenzen zu durchbrechen, sondern zu über-

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Zweitens, um nochmals auf das Problem der Gegenpoetik zurück zu kommen, ist ersichtlich, dass eine solche Poetik der offensichtlichen Umschreibung der tradierten Elemente ein bewusstes Schreiben meint. Kafka wiederum beschreibt in seinem Urteil durchaus einen Vater-Sohn-Konflikt mit dramatischem Todesurteil, doch geht diese Konstellation weder in Freuds Struktur auf noch schreibt Kafka bewusst gegen Freud’sche Vorgaben an, es ist anders: Kafka erzählt eine ganz eigene Konfliktgeschichte, die nicht mehr mit Freud zu erklären ist – die aber wohlgemerkt auch nicht als Gegensatz zu diesem fungiert, sie steht sozusagen außerhalb der Konstruktionen und Strukturen, bildet eine eigene Struktur, die aber – und dies schließt ja an das oben Gesagte an – nicht als Ursache-Wirkungs-Struktur aufgehen will: Das Urteil zu interpretieren gönnen wir uns hier nun nicht, aber ein Blick in die Forschungsliteratur deutet ja schon an, dass es keine

steigen, ja, die Grenzen sinnlos werden zu lassen, da man über der Grenze steht und diese von oben betrachten kann. – Vielleicht bringt ein Beispiel aus heutiger Zeit die grundsätzliche Situation Kafkas und Wallaces besser zur Geltung: Stellen wir uns den Dialog zwischen einem jungen Mann, ungefähr 28 (ja, es ist besagter und uns bereits bekannter junger Mann), und seiner Freundin (ungefähr 24) vor – diese Dialog entspringt angesichts der Frage der jungen Frau, ob sie an einem Schreibwettbewerb einer Frauenzeitschrift teilnehmen solle oder nicht. Thema ist das Meer. Eine Meergeschichte also. Der junge Mann erwidert, dass dies wohlfeil bedacht werden müsse, immerhin würden eine Menge Teilnehmer Geschichten einreichen, weshalb es auf Originalität ankäme; woraufhin er begann: Zwei Möglichkeiten stünden offen, einmal das klischeehafte Schreiben, also das typische Thematisieren des Meeres, wie man es so kennt: Das Meer als Ort der Sehnsucht, als meditativer Spiegel, Ebbe und Flut und so weiter. So würden die meisten Einreichungen gestaltet sein, weshalb diese Option wegfalle. Die zweite Möglichkeit bestünde darin, die bekannten Klischees zu brechen, also gegen diese Klischees zu schreiben: Das Meer als Ort der Statik, als Ort auch der Klaustrophobie, als Symbol eventuell der Trockenheit. In diesem Sinne würden weitaus weniger Menschen schreiben, was die Chancen natürlich erhöhe. Sie solle also die zweite Möglichkeit in Betracht ziehen, so der junge Mann zu seiner Freundin, die daraufhin lange schwieg, dann mit leiser Stimme erklärte, dass sie ja auch schreiben könne, wie sie wolle, wie ihr Gefühl ihr anzeige und sie einfach Lust habe – dies verstand der junge Mann dann so ganz und gar nicht.

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schlüssige Erklärung gibt und auch nicht geben kann – ähnlich dem Geistlichen des Proceß’, so scheint auch dieser Novelle der Widerspruch oder besser die Unbestimmtheit eigen, als neue Perspektive auf psychische Strukturen. Da entdeckt man sozusagen das Unterbewusste als wissenschaftlich interessanten Ort, hat zuvor dieses Unterbewusste ja stets unterschätzt und den Grenzwissenschaften überlassen; nun aber ist die Wissenschaft also beim Unterbewussten angekommen und manipuliert, deckt auf – und erklärt. Doch die Erklärung ist ja dem Unterbewussten geradezu entgegengesetzt, immerhin hat man es mit einem notwendig geheimnisvollen, dunklen Ort zu tun, wo der Rausch, das Dionysische verhaftet ist, wo Nietzsche den Gegenpol zur Rationalität zu erkennen glaubt: Die Leidenschaften, sie finden sich hier, ungebändigt und ungezähmt. Und Wissenschaftlicher wie Sigmund Freud20, sie rationalisieren das Ungebändigte, legen, ganz den kommenden Strukturalismus im Blut, Strukturen an, die noch einen gewissen Spielraum zulassen, aber im Grunde das Freie zu bändigen trachten. – Kafka jedenfalls kann dort unten nur „Fragwürdiges“ erkennen, die Geister und also unstrukturierten und nicht zu strukturierenden Entitäten, doch auch das Originäre, Eigenständige, das letztlich Menschliche, soweit es noch nicht eingebunden und gebändigt ist von den Totschlägerreihen, also den Konstruktionen und Strukturen. Was aber nun unmittelbar zur zweiten Problematik führt, die Wallace in seinen poetologischen Überlegungen bezüglich des Lynch-Essays umtreibt. Zuerst einmal sollte ersichtlich geworden sein, um dies zusammenfassend klarzulegen, dass die poetologischen Vorstellungen, die ja im Grunde existentieller Natur sind, vom Entwurf einer Prosa, die über den herkömmlichen Strukturmodellen steht, Wallace faszinieren müssen und spätestens mit dem Roman The Pale King verstärkt beschäftigen: Auch er möchte Ursache-Wirkungs-Verhältnisse übersteigen, die Konstruktionen, die immer wieder zum Problem und also zum System zurückführen, nicht verneinen,

20 Die hier durchscheinende Kritik hat nichts mit der gegenwärtig herrschenden Manie zu tun, Freud schlecht zu schreiben – es ist unserer Ansicht nach nicht statthaft, Freud dermaßen negativ zu interpretieren: Ohnehin sollte man auch die Freud’sche Sexbesessenheit, die sicherlich vorhanden ist, in den Hintergrund stellen, und stattdessen die Frage zulassen, aus welchem Grund eine dermaßen sexbesessene Theorie so erfolgreich werden konnte.

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sondern grundsätzlich obsolet werden lassen. Dies gelingt Kafka, so unsere These, beispielsweise in Das Urteil, trotz der augenscheinlich einfachen Grundkonstellation – Sohn, Vater, Verlobte, Mutter, Freund in Russland – und trotz einfachen Titels, da hier die scheinbar psychologische und geradezu paradigmatisch expressionistische Struktur auf seltsame und in sich widersprüchliche, also schwebende Weise offen gehalten wird – die Struktur besteht aus dem Paradox der Strukturlosigkeit oder besser: der Verneinung von Struktur und der ausdrücklichen Vermeidung des Bemühens um eine solch abgeschlossenen Gestaltung. Hochinteressant ist ja nun, wie Wallace diese Poetik reflektiert und umzusetzen trachtet. Beispielsweise wäre ja eine rein private Literatur denkbar, die aus verzerrenden und verzerrten Topoi zusammengesetzt ist, so wäre ja auch ein Chaos gestaltbar, die Darstellung einer in sich strukturlosen Wirklichkeit, in welcher alles zufällig abläuft und keinerlei Sinn mehr ergeben kann.

Dritter Teil

Siebzehntens: Expressionismus hoch zwei

Immer noch bewegen wir uns in dem Diskurs, den Wallace mit seinen Überlegungen zu Lynch und der damit einhergehenden Vorstellung eines modernen Expressionismus angestoßen hat: Immerhin gehört Kafka für ihn zu den herausragenden, ja, der herausragenden Figur des Expressionismus. – Der Expressionismus wiederum empfindet die Idee der Wiederholung als abstoßend, da die gesamte Bewegung der Moderne mehr oder weniger darauf beruht, neue Zugänge zu erarbeiten. Dass diese neuen Zugänge auch darin bestehen können, antithetisch gegen das Herkömmliche gesetzt zu werden, dies scheint offensichtlich und selbstverständlich legitim1, doch ist auch in der Moderne das Dilemma bewusst, auf diese Weise dem System selbst nicht entgangen zu sein. Franz Kafka wiederum, der sich nicht als Teil des Expressionismus sieht, ja, der sich letzten Endes gar nicht als Teil von irgendwas definiert2

1

Wie ja ohnehin alles legitim ist in der Kunst, wir urteilen ja ausgehend von der Misere, wie sie Wallace zu seiner Zeit im Spannungsfeld zwischen Kunst und Unterhaltung ausmacht.

2

Zum einen weil er Massenbewegungen stets misstrauisch beäugt und sich selbst eben auch, dies sollte man nicht vergessen, als Außenseiter definiert, faktisch auch einer ist: es liegt also nicht nur an einer geradezu hellsichtigen Abneigung gegenüber Massen, es obliegt eher einer selbstkritischen Haltung, welche tendenziell zum Außenseitertum führt. – Überhaupt wird Kafka unserer Erachtens bei weitem zu positiv dargestellt und taugt als Klischee durchaus zu Mädchenträumen; tatsächlich ist Kafkas Darstellung von Frauen zuhöchst strittig, sowie tendiert man ja dazu, heutige politisch korrekte Ansichten auf die damalige Zeit zu übertragen: die Massenbewegung ist zu jener Zeit ein relativ neues Phäno-

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und eher im nihilistisch-skeptischen Standpunkt sein Heil sucht, Kafka also vollzieht durchaus die Bewegungen der Moderne interessiert mit, scheint aber in der Nacht und im Schreibprozess all diese Diskurse zu vergessen – das Ideal ist, wie er in einem Brief an die Verlobte Felice anmerkt, ein Schreiben ohne jeden kontextuellen Bezug: Oft dachte ich schon daran, daß es die beste Lebensweise für mich wäre, mit Schreibzeug und einer Lampe im innersten Raum eines ausgedehnten, abgesperrten Kellers zu sein. Das Essen brächte man mir, stellte es immer weit von meinem Raum entfernt hinter der äußersten Tür des Kellers nieder. Der Weg um das Essen, im Schlafrock, durch alle Kellergewölbe hindurch wäre mein einziger Spaziergang. Dann kehrte ich zu meinem Tisch zurück, würde langsam und mit Bedacht essen und gleich wieder zu schreiben anfangen. Was ich dann schreiben würde! Aus welchen Tiefen ich es hervorreißen würde!3

Doch dies ist nicht grundlos im Konjunktiv gehalten, nämlich auch für Kafka ein Ding der Unmöglichkeit – deutlich wird dies beispielsweise dann, wenn er nach dem Schreiben über mögliche Bezüge reflektiert und erkennen muss, dass er durchaus unbewusst und unwillentlich doch aus den Kontexten der Realität schöpft; wieder schreibt er Felice: „Wie Sie nun aber auch gleich mit meinem Schreiben verschwistert sind, trotzdem ich bis dahin glaubte, gerade während des Schreibens nicht im geringsten an Sie zu denken, habe ich letzthin staunend gesehen. In einem kleinen Absatz, den ich geschrieben hatte, fanden sich unter anderem folgende Beziehungen zu Ihnen und zu Ihren Briefen: Jemand bekam eine Tafel Chokolade geschenkt.“4 Auch Kafka also bewegt sich in einem kontextuell gegebenen Rahmen und schreibt nicht vollkommen aus seinem im Unterbewusstsein vorhandenen geheimnisvollen Materialspeicher. Obgleich dies das Ideal zu sein

men und bei weitem nicht so negativ konnotiert wie dies heutzutage der Fall ist. Auch der Beginn des Ersten Weltkrieges wurde zu jener Zeit weitaus anders gedeutet als dies später aufgrund der sich ergebenden Tatsachen möglich ist. All dies gilt es zu bedenken, wenn man einen Kafka beschreibt, der verloren am Fenster steht und mit gemischten Gefühlen den Massen zusieht. 3

Kafka, Franz: Briefe an Felice, S. 250.

4

Ebd., S. 66.

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scheint – oder besser: der Fluch seiner Generation jüdischer Autoren, die zwischen Assimilation und den Traditionen des Ostjudentums schwankend in einem existentiell-kulturellen Sinn auf neuen Wegen sich befinden, zwangsläufig sozusagen: Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. Eine Inspiration, ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehen doch mit einigen traurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten [...]: der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben [...], also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß.5

So beschreibt Kafka 1921 in einem Brief an Max Brod die Situation, die er an seine Generation anlegt und die natürlich auch poetologische Konsequenzen hat – wobei man aus dem obigen Zitat durchaus auch von einer Chance für die westjüdischen Autoren sprechen könnte, immerhin ist ihre Position eine der Freiheit: Sich befindend zwischen den ostjüdischen und den westlichen, also deutschen Traditionen, steht ihnen eine dritte Möglichkeit offen, eine vollkommen neue Poetik und ein völlig neuer Lebensentwurf, abseits des Herkömmlichen. Weder kann das Ostjudentum und die damit gekoppelte Kultur einfach so wiederholt werden, dafür ist der Abstand zu groß geworden, noch scheint es tatsächlich sinnvoll, in der Assimilation und also der Wiederholung westlicher Traditionen völlig aufzugehen: Kafka schwankt zwischen diesen Extremen, mal assimilierend und mal zionistische Lebensentwürfe testend – das Leben wird auf diese Weise zu einer aufreibenden Arbeit, wie er Milena Jesenska schreibt:

5

Kafka, Franz: Briefe, S. 337f.

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Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, daß mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muß erworben werden.6

Die dritte Möglichkeit immerhin, das Hinaustreten ins Freie, ängstigt Kafka: Wenn die Pferde ausbrechen, dann regiert das Chaos – man denke an den Landarzt, der vom wild gewordenen Pferd getragen sich im Nichts zu verlieren droht; so schreibt er in den Oktavheften: „Je mehr Pferde Du anspannst desto rascher geht’s – nämlich nicht das Ausreißen des Blockes aus dem Fundament, was unmöglich ist, aber das Zerreißen der Riemen und damit die leere fröhliche Fahrt.“7 Leer ist es ohne jeden Bezug – und doch ist die leere Fahrt lange Zeit heimliches Ziel seines Schreibens: Ich der ich meistens unselbständig war, habe ein unendliches Verlangen nach Selbständigkeit Unabhängigkeit, Freiheit nach allen Seiten, lieber Scheuklappen anziehn und meinen Weg bis zum Äußersten gehen, als daß sich das heimatliche Rudel um mich dreht und mir den Blick zerstreut. [...] Alle Verbindung, die ich mir nicht selbst schaffe oder erkämpfe, sei es selbst gegen Teile meines Ich, ist wertlos, hindert mich am Gehen, ich hasse sie oder bin nah dran sie zu hassen.8

Poetologisch interessant wird diese Sehnsucht in Kafkas Konzept der kleinen Literatur, einer Idee, die vollkommen von postmodernen Theorien à la Deleuze und Guattari überlagert und verunstaltet wurde, dabei aber doch letztlich eine naive, ganz in sich ruhende Vorstellung eines westjüdischen Schreibens bedeutet; im Sinne einer neuen Tradition, die ausnahmslos in der Freiheit einsetzt. – Doch dazu fehlt es an einem Genie, denn ganz in Freiheit kann auch eine neue Literatur nicht entsprießen: Diese ganze Litteratur ist Ansturm gegen die Grenze und sie hätte sich, wenn nicht der Zionismus dazwischen gekommen wäre, leicht zu einer neuen Geheimlehre, ei-

6

Kafka, Franz: Briefe an Milena, S. 294.

7

Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 56.

8

Kafka, Franz: Tagebücher, S. 806. Entwurf eines Briefes an Felice.

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ner Kabbala entwickeln können. Ansätze dazu bestehen. Allerdings ein wie unbegreifliches Genie wird hier verlangt, das neu seine Wurzeln in die alten Jahrhunderte treibt oder die alten Jahrhunderte neu erschafft und mit dem allen sich nicht ausgibt, sondern jetzt erst sich auszugeben beginnt.9

Dass der Zionismus eine kleine Literatur verhindere, dies ist eine der Thesen, uns interessiert aber mehr das Eingeständnis, welches gleichsam in diese späten Reflexionen eingewoben ist: Die Suche und Sehnsucht nach einem Genie, welches in der Lage ist, rückwirkend oder vorausdeutend die Geschichte und damit das Tradierte auch dieser kleinen Literatur zu schreiben, zu erschreiben. – Hier treffen sich Kafka und Wallace also ein weiteres Mal, da ja beide das Genie erfragen, welches ihre Sehnsucht nach einer neuen Poetik einzulösen versteht, was bedeutet, dass beide das Genie grundsätzlich für möglich halten erstens, dass sie zweitens die Literatur an einem Endpunkt sehen – wobei sie dies aus naturgemäß unterschiedlichen Gründen so sehen10. Die Schwierigkeit hierbei ist die Freiheit, wie auch Wallace erkennt und anlässlich des Lynch-Essays schreibt, nämlich als zweiten Fehler eines neuen Expressionismus definiert: „The second pitfall, more complicated, might be called ‚terminal idiosyncrasy‘ or ‚antiempathetic solipsism‘ or something: here the artist’s own perceptions and moods and impressions and obsessions come off as just too particular to him alone.“ (FT, 199) Dies ist die Grundproblematik des Neuen, des Originären: Einmal das besagte Rückkoppeln mit einem unbelasteten Speicher, dem Unterbewussten, doch zudem mit der steten Rückversicherung des allgemein Menschlichen: Die neuen Ideen, Poetologien sowie Sujets müssen verständlich sein, dürfen beispielsweise nicht einfach auf dem Zufall basieren, da der Zufall – beispielsweise das zufällige Zusammenfügen von Worten, Sätzen – für andere kein Sujet ist11. Und natürlich ist Wallace zuzustimmen, auch damit, sich

9

Ebd., S. 878.

10 Man fragt sich unwillkürlich, welcher ernsthafte Autor dies nicht annimmt. 11 Für einen selbst ja auch nicht, es ist einfach der Zufall und kein Sujet. – Doch wir bewegen uns hier im Grenzbereich, denken wir nur an die MontageTechnik, die ja aus solchen Zufällen besteht, dem willkürlichen Zusammenfügen von Collagen – hier entsteht nach einhelliger Meinung ja etwas, eine Kunstform, die Menschen auch verbinden kann. Doch, und hier wird es wieder inte-

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aus diesem Grund der rein experimentellen Prosa zu verweigern und den Spagat zu wagen zwischen Anspruch und Kompatibilität, welches ein gewagtes Unterfangen ist, wie er selbst ja äußert. Kafka sei dies gelungen, weil dieser, wie Wallace in der Kafka-Rede ausführt, zum einen auf intertextuelle Verweise verzichte, was dem ersten Fehler des bewussten Schreibens entspricht, zum anderen die Wahrheit thematisiere, wie auch Lynch auf irgendeine kaum näher zu bestimmende Weise wahrhaftig sei: „they felt true, real“ (FT, 200). Nun ist auch für Kafka die Wahrheit, wie immer diese auch geartet ist, Ziel des Schreibens, Ziel jeder Kunstäußerung überhaupt: „Die Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendetsein: Das Licht auf dem zurückweichenden Fratzengesicht ist wahr, sonst nichts.“12 So schreibt er frühzeitig im Tagebuch, fügt später hinzu – und es ist kein Zufall, dass sich die Verbindung zwischen Kunst und Wahrheit immer nur in der Negation findet: „Die Kunst fliegt um die Wahrheit, aber mit der entschiedenen Absicht sich nicht zu verbrennen. Ihre Fähigkeit besteht darin in der dunklen Leere einen Ort zu finden, wo der Strahl des Lichts, ohne daß dies vorher zu erkennen gewesen wäre, kräftig aufgefangen werden kann.“13 Obgleich wir es hier allein mit einschränkenden Bemerkungen zu tun haben, so ist doch grundsätzlich eine Verschaltung von Wahrheit und Kunst deutbar: Kunst kann, obwohl nur spiegelnd und im Sinne Platons vermittelnd, die Wahrheit darstellen. Wobei es unerheblich ist, wie man die Wahrheit nun definiert – beiden Autoren geht es nicht um eine Bekehrungsprosa14. Es geht darum, den Menschen aus einsinnigen, mechanisierten und also im Grunde klischeeisierten Verhältnissen, inneren wie äußeren, zu befreien – letztlich darum,

ressant, schließt diese Poetik die Bereitschaft des Rezipienten mit ein, die Montage zu lesen und also assoziativ zu Verknüpfungen zu neigen: Hier erstellt der Leser selbst den Text und den Sinn, wobei es sozusagen die Weiterreichung des Zufalls meint, da die assoziative Deutung des Lesers auch nur eine private sein kann, die anderen unverständlich bleiben muss. 12 Kafka, Franz: Tagebücher, S. 62. 13 Ebd., S. 76. 14 Nicht jede Kunst, die eine spezifische Wahrheit als Meinung transportiert, muss wohlgemerkt bekehrender Natur sein oder diesen Beigeschmack haben. Aber die meisten Prosaarbeiten haben dies an sich – denken wir allein an diese sozialkritischen Krimis aus Schweden.

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die von beiden Autoren so vehement kritisierten Konstruktionen zu überschreiten, wie auch Bert Nagel ein wenig zu pathetisch im Falle Kafkas ausführt: Nichts Geringeres als allseitige Wahrheit war sein [Kafkas, R.H.] erklärtes Ziel: er wollte ‚die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben‘, wie er einmal ins Tagebuch schrieb. Das aber heißt: er wollte die Bedingungen menschlicher Existenz überschreiten, aus der Relativität des ‚normalen‘ Sehens heraustreten und als Gestaltender Teilhabe am Absoluten gewinnen. Infolgedessen lehnte er bloße Teilerkenntnis ab und verlangte nach Erkenntnis dessen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘.15

Literatur als Medium der Wahrheit soll in beider Fall die menschliche Situation so umfassend wie möglich schildern. Denken wir beispielsweise noch einmal an Das Urteil und den darin geschilderten Vater-Sohn-Konflikt: Es ist dies sicherlich eines der beliebtesten Themen des Expressionismus und notgedrungen auch ein poetologisches, geht es doch auch um die Position der neuen Kunst unter dem Schatten der Tradition. Nun ist schon der halbwegs normale, also herkömmliche Vater-Sohn-Konflikt für die Beteiligten eine undurchschaubare, entsetzliche und mysteriöse Angelegenheit, ist oftmals und vielleicht meistens ein verdeckt ablaufender Kampf auf Leben und Tod – geht es doch ums Erwachsenwerden und also um die Tötung des inneren Vaters mit Hilfe einer Rebellion; der Konflikt ist demnach ein unbewusster Vorgang und nach dringend nötig zur reibungslosen Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes.16 Wenn Freud diesen geheimnisvollen, geradezu tabuisierten Vorgang nun offenlegt, erklärt und in eine Struktur überträgt, damit verallgemeinert,

15 Nagel, Bert: Franz Kafka, S. 39. 16 Diese Ansicht ist natürlich in der westlichen Tradition und vor allem vom amerikanischen Psychologen G. Stanley Hall in dessen einflussreichem Werk Adolescence: Its Psychology and Its relation to Physiology, Anthropology, Sociology, Sex, Crime, Religion and Education. New York 1905 begründet, in welchem die Pubertät zum ersten Mal wissenschaftlich untersucht und damit festgelegt wird. Hall beschreibt die Revolte der Kinder gegen die Eltern als dringend nötig zur persönlichen Entfaltung, ja, überhaupt zur Ich-Werdung. – In anderen Kulturen sieht das wiederum anders aus.

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dann wird der Mensch mitsamt seiner unbewussten Triebhaftigkeit festgestellt, festgelegt. An sich ist dies auch kein großes Problem, da der Mensch ohnehin zur Schublade neigt und also gerne alle Erscheinungen der Welt, damit auch seine ureigenen Regungen, einordnet und bewertet – es ist demzufolge ein völlig herkömmlicher Vorgang, der aber nachgerade dann negative Folgen hat, wenn die strukturierte Entität im Grunde durch ihre fehlende Einordnungsmöglichkeit definiert wird. Wir wollen dies ein wenig näher verfolgen und so vielleicht Kafka sowie Wallace in ihren Intentionen besser verstehen. Bleiben wir zu diesem Zweck beim Vater-Sohn-Konflikt, dessen generative und generationsbildende Aufgabe im Grunde nicht mehr ausgeführt werden muss: Es ist dieser Konflikt, den wir auch als Kampf definieren können, der zum einen die Machtverhältnisse verschiebt und zum anderen dafür sorgt, dass sich die Jüngeren von den Älteren emanzipieren können. – Wie bekannt, legt Freud der Situation eine eher sexuell intendierte Grundstruktur an und erdet damit eine im Grunde mysteriöse und unterbewusst ablaufende Begegnung zwischen den Generationen. Man kann sagen, dass der Kampf unterbewusst und mysteriös ablaufen muss, da ein frontal verlaufender und damit bewusster Kampf zwischen den Generationen wohl kaum möglich ist: Dinge wie Respekt, Angst, Moral und so weiter spielen hier eine große Rolle und hintertreiben den sozusagen hintergründig sich gestaltenden Kampf unbewusster Cluster, die ohne Zutun des Ich bewegt werden – das Hinter- und Untergründige gehört also essentiell zu der Bewegung. Wissenschaftler wie Freud legen nun gewisse Strukturen an und hieven diese ins kulturelle Bewusstsein, bringen sie damit ins und im Grunde zu Bewusstsein, definieren hin zu einer Konstruktion und zähmen damit. Das Mysteriöse und Hintergründige wird zerstört, die Eindeutigkeit zerschlägt die Vieldeutigkeit, die einen derartigen Kampf erst lebendig werden lässt. – Hier dockt eindeutig Kafka an, nämlich indem er seinerseits einen VaterSohn-Konflikt beschreibt, thematisiert – und so erst einmal und augenscheinlich an einen Diskurs anschließt, der auch wegen Freud und überhaupt der Entdeckung des Unterbewussten sowie der spezifischen Ausrichtung der Moderne auf der Höhe der Zeit liegt, deswegen auch als Kommentar und Gegenentwurf gelesen werden kann und sollte: Kafka versetzt dem Positivismus einen empfindlichen Hieb, da sein Konflikt, doch recht herkömmlich beginnend, irgendwann im Verlauf der Handlung zerfasert und mehrdeutig wird, sich in der Mehrdeutigkeit nicht verlierend, jedoch das

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Menschliche darstellend. Kafka transponiert den Kampf also wieder ins Dionysische zurück, hievt ihn empor aus seinen dunklen Mächten und wirft ihn als Prosa wieder dorthin zurück. Dies ist auch das Paradox eines Schreibens, welches vom Unterbewusstsein zehrt und dort die Sujets erfährt, sich auch dementsprechend privatim gibt – genau das, was Wallace noch im Lynch-Essay als Fehler kritisiert. Und Wallaces allgemeine Kritik wird von einigen Zeitgenossen Kafkas geteilt: So erkennt Thomas Mann beispielsweise die traumhafte Logik zwar an, spart aber mit Lob und bleibt eher doch zurückhaltend, da die Prosa doch zu verschroben anmute, „traumkomisch“.17 Franz Werfel wiederum bringt all dies auf den Punkt, wenn er noch zu Lebzeiten Kafka mutmaßt, dessen Erfolg werde auf den Prager Kreis beschränkt bleiben, da das Werk letztlich allzu lokal sei und ohne die Kenntnis der Umstände unverständlich bleiben müsse: „Hinter Tetschen-Bodenbach wird kein Mensch Kafka verstehen.“18 – Dies wurde mit geradezu höhnisch anmutender Konsequenz widerlegt: Kafkas Erfolg muss hier nicht näher dargelegt werden, allein ist nun der Grund des Erfolges vielleicht besser zu bestimmen: Kafka privatisiert Entitäten, die besser privat blieben, also persönlich, mysteriös, geheimnisvoll – denken wir allein an die Schuldfrage in Der Proceß, welche keine klare Straftat thematisiert und also die Frage von Schuld oder Unschuld wieder in den komplexen Zwischenbereich überführt, in welchem sich dieser Komplex auch befindet: Ein Verbrecher ist niemals völlig schuldig zu sprechen, da auch die Umgebung Teil am Verbrecherdasein hat – und so fort: Man merkt, Kafka konzentriert sich auf Problemstellungen, die das Paradox einer im Grunde privaten Prosa im allgemeinen Rahmen durchaus zulassen und holt auf diese Weise positivistisch beleuchtete Grundfragen der Existenz wieder zurück ins Persönliche, Absurde, ins Zwie- und Mehrspältige – und wird auf diese Weise wieder allgemein Menschlich, dockt also in einer paradoxen Bewegung an die Allgemeinheit durch den Rückzug ins Private, ins Individuelle an. Hier also steht Kafka – mit dem Expressionismus, den er in jener Paradoxie verneint und zugleich ausübt, zudem mit dem Vater-Sohn-Konflikt, den er originär belebt und Freud wieder fortnehmend bis zur Unkenntlichkeit umschreibt. Und hier befindet sich auch Lynch, dem es ebenfalls ge-

17 Mann, Thomas: Verjüngende Bücher, S. 9. 18 Zit. n. Wagenbach, Klaus: Franz Kafka, S. 89.

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lingt, an sattsam bekannte Diskurse anzuschließen, eben mit dem Kunstgriff, diese wieder mit dem Geheimnisvollen aufzuladen: Der Wert ist demnach das Geheimnisvolle, die Mehrdeutigkeit, die als grundlegendes Stilprinzip weitaus mehr wird, nämlich ein Topos. Lynch und Kafka – nicht aber Wallace, denn er befindet sich in einem anderen Stadium der Entwicklung, immerhin hat bekanntlich der Positivismus aus naheliegenden und durchaus zu begrüßenden Gründen den Sieg davongetragen – wobei Kafka durchaus den Weg vorgibt, wie der Siegeszug der Wissenschaft wenigstens relativiert sowie reflektiert werden kann, nämlich in der und demnach durch die Kunst. Zu begrüßen ist die Entwicklung der Wissenschaften wohlgemerkt, da die Gesellschaft unbedingt positivistisch eruierte Begriffe und Vorstellungen benötigt, und sei dies um den Preis der unstatthaften Vereinheitlichung geschehen19, weshalb nur ein gefährlicher Irrer diese Tendenz bedauert und sich eine Zeit der Mythen ersehnt, in denen der Mensch noch im betont Unwissenden belassen wird20. Kafkas Schreiben reagiert auch zum Teil auf diese Kritik an einer Mystifizierung, da ja letztlich auch dies nicht bejaht oder dargestellt wird: In Kafkas Werken findet sich kein esoterischer Firlefanz und auf keinen Fall die nebelhafte Religiosität des Wahnhaften, stattdessen finden wir die exakte Unexaktheit, die deutliche Mehrdeutigkeit und den quasi-positivistischen Umgang mit ihr: Der Geistliche im Proceß rät Josef K. ja nicht, an das Gericht zu glauben, er rät ihm, die Widerspruch des Schuldgedankens nicht nur als theoretische Überlegung zu tolerieren, sondern in actu zu akzeptieren und zu durchdenken, geradezu zu leben.

19 Dass Kafka hierfür, also die Problematik der Vereinheitlichung, besonders sensibilisiert ist, kann direkt aus seiner Arbeit abgeleitet werden, in welcher er gezwungen war, menschliche Schicksale in Raster zu übertragen und auch Raster zu entwickeln, die menschliche Schicksal hinreichend beschreiben und handhabbar beispielsweise für statistische und mechanische Auswertungen machen: Die nächtliche Prosa kann daher durchaus als Weiterführung der Brotarbeit gesehen werden und nicht als vollkommen davon abgetrennt, wie man ja hartnäckig zu behaupten sucht, ausgehend wohl von Max Brod, der in seiner KafkaDarstellung, denn eine Biographie ist es ja eigentlich nicht, in sehr warmen Worten von den Leiden des Künstlers erzählt, der auch noch arbeiten muss. 20 Man denke beispielsweise an die Kreationisten.

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Hier wird der Vater-Sohn-Konflikt wieder gefährlich, nämlich unberechenbar, geheimnisvoll – ohne jedoch mystisch zu werden, ist damit gegen Freuds Konstruktion gesetzt, wobei Freud hier nur stellvertretend für all die Versuche steht, das Unterbewusste in Strukturen einzuordnen. Wallace wiederum, wir haben dies schon angedeutet, hat es in der Vater-SohnKonfliktsituation nun nicht mehr mit der Gefahr der Strukturierung zu tun, im Gegenteil ist Wallace ja ein Kind des Strukturalismus, welcher die Postmoderne vorausdeutet: In seiner Zeit sind die Strukturen und Konstruktionen längst Allgemeingut geworden und ins kulturelle Gedächtnis geraten – es ist hierbei vollkommen gleichgültig, ob die Theorien nun richtig oder falsch sind21, es sind Muster, die geradezu synonym zum eigentlichen und rohen Vater-Sohn-Konflikt vorliegen, wie Sprachcluster, die so gewöhnlich geworden sind, dass sie unbewusst verwendet werden, als feste Wendungen sich sogleich ins Bewusstsein bringen und andeuten, dass die Sprache auch kulturelle Topoi zuerst einmal erlernt, geradezu auswendig gelernt werden und sich auf diese Weise assoziative Muster bilden, die man kaum hinterfragt, kaum hinterfragen kann, da es ja assoziative und unbewusste Konstruktionen sind. Vater und Sohn als Konfliktraum wird auf diese Weise nun sexuell aufgeladen und mit dem Ödipuskomplex reflexartig belegt, wird dann noch, seltener, mit der pubertären Rebellion verschränkt, die nötig sei – und so weiter. Es ist diese seichte Freizeitpsychologie, deren Muster fröhlich ins kulturelle Allgemeingedächtnis eingedrungen sind und die nun, spätestens zu Wallaces Zeit, auch zu Klischees geworden sind. Wobei vorher noch eine weitere interessante Entwicklung abgelaufen ist, nämlich die Rückkopplung des Freud’schen Gedankens auf das Selbstverständnis des Menschen selbst: Freud erklärt den unbewusst ablaufenden Vater-Sohn-Konflikt, woraufhin diese Erklärung in das kulturelle Gedächtnis eindringt und als wissenschaftliches Artefakt die Selbstdeutung der Menschen beeinflusst, die sich nun mehr oder weniger an die Freud’schen Muster zu halten beginnen – die Theorie wird so in die Praxis überführt und erfüllt sich in der ironischen Brechung einer selbsterfüllenden Prophezeiung. So wirkt die Freud’sche Theorie auf die Gesellschaft sowie den

21 Es gibt wohl keine richtige oder falsche Theorie des Vater-Sohn-Konfliktes, es existieren nur mehr oder weniger hinreichende Überlegungen und also annähernde Beschreibungsmodelle, wobei Freud beispielsweise zu den populären Theoretikern gehört, gleichwohl aber doch völlig unrecht hat.

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Einzelnen: Das theoretisierte Muster wird zur Wahrheit, womit sich die beiden Schalen der evolutionär hochrasternden Kippschematik gegenseitig emporhieven und umso heftiger ins kulturelle Gedächtnis einschreiben. Bis dann ein Moment erreicht ist, das Muster zur Allgemeinbildung gehört, von den Massenmedien beispielsweise aufgegriffen und all das insgesamt klischeeisiert wird. In diesem Stadium befindet sich Wallace mit seiner Auseinandersetzung und seinem Versuch einer neuen Poetik: Wobei die eigentliche Schwierigkeit ja nicht ist, dass der Vater-Sohn-Konflikt als Freud’sches Muster zum Klischee gefroren ist, es ist so, dass der Konflikt selbst nun klischeeisiert wirkt – hierzu kommt nämlich die von uns bereits besprochene vierte Perspektive, die kritische Eigensicht, die den eigenen Konflikt mit dem Vater nun zu den Konfliktdarstellungen des kulturellen Gedächtnisses reiht und als Klischee darstellt: Während Kafka es also mit der zunehmenden Strukturierung eigentlich nicht zu strukturierender Entitäten zu tun hat, ist im Falle Wallaces das Muster und damit der individuelle Vater-SohnKonflikt klischeeisiert und damit im Grunde unmöglich auszufechten: Das sich stetig kritisch beobachtende, also postmoderne Subjekt flieht die Klischees und schämt sich sozusagen dann, wenn es sich im Klischee ertappt: es schämt sich fremd für sich selbst, was einer Bewegung entspricht, die allein dann denkbar ist, wenn man diese vierte Perspektive der Eigensicht und die Klischeesierungsbewegungen der industriellen massenmedialen Einflüsse in Bezug zueinander setzt, gekoppelt mit den Verheißungen einer vulgären Philosophie, die den Heranwachsenden die Selbstverwirklichung und überhaupt das Selbst als originäres Pfund predigen: Das Selbst als verheißungsvollen Ort. Jene Spirale treibt den Menschen nun dazu, ein Leben zu führen, welches beständig von Klischees bedroht scheint – von den Verhärtungen, den metastatischen und damit neuralgischen Verhärtungen innerhalb des Netzes, welches das kulturelle Gedächtnis ausmacht. – Kurz noch zu unserem Beispiel: Ist der Vater-Sohn-Konflikt klischeeisiert, dann kann es unmöglich werden, den Vater-Sohn-Konflikt zu einem sinnvollen Abschluss zu bringen; wie es auch unmöglich werden kann, den Satz Ich liebe dich zu sagen, da auch dieser Satz ein Klischee ist. Angesichts der Vielzahl von Momenten, die ein normaler junger Mensch heutzutage diesen einen Satz

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gehört hat – in unterschiedlichen Kontexten – und dem Zwang22, sich selbst beim Ich-Liebe-Dich-Sagen kritisch zu beobachten und also auch als Klischee zu sehen, wird deutlich, warum dieser Satz unmöglich geworden und es, denkt man an Wallace, also Mut markiere, diesen Satz noch ohne ironische Distanzierung auszusprechen. Bleiben wir noch einen Moment im obigen Beispiel, also nicht dem des Liebes-Satzes, sondern dem Vater-Sohn-Konflikt, und bedenken wir die Folgerungen aus der obigen Darstellung. Wenn ein derartig essentieller menschlicher Schritt zum Klischee wird, dann fällt es den Individuen immer schwerer, diesen Konflikt zu bewältigen: Das Individuum, ja aufgrund seiner Individualität definiert, verweigert sich also der KlischeeWiederholung und weicht dem Kampf aus. Dies wäre sozusagen ein Kafka’scher Standpunkt: Das Zurückweisen des Kampfes, obgleich Kafka aus anderen Motiven heraus dem Kampf ausweicht, nämlich aus Angst vor dem Konflikt und also innerhalb des Systems sich bewegend. Ein Zeitgenosse Wallaces würde dem Kampf einfach aus dem Grund entsagen, da er ihn ohnehin nicht ernsthaft absolvieren, sondern nur ironisch spielen könne. Ein ironisch durchgeführter Kampf, als Spiel also, kann nun nicht mehr die Schärfe und die existentielle Wucht haben, die zur Bewältigung nötig ist. – Eventuell erklärt dies auch die momentane Situation der beklagten fehlenden Ablösung der Alten durch die Jungen: Sieht man sich die Literatur an, so wird auch diese noch von den Alten gemacht, die Jungen arbeiten entweder freiwillig im Schatten dieser Alten oder schreiben bewusst an diesen vorbei, außerhalb deren Sphären – zu einem dringend nötigen Schlagabtausch kommt es jedenfalls nicht mehr. Wobei auch die Frage zu stellen ist, wie ein solcher Kampf aussehen könnte, immerhin sind die momentanen Alten die ehemaligen 68er, also politisch Korrekte, gegen die ein Kampf sehr schwer ist. Was zu der Frage anschließt, wie man gegen einen Gegner kämpft, der im Grunde keinerlei Angriffsfläche bietet.

22 Was zu negativ klingt, aber andeuten soll, dass die vierte Perspektive eine Notwendigkeit ist und keinesfalls ein Spaß, den man zu seinem Vergnügen anstellt: Es geht, wie erinnerlich, darum, dass der Mensch in gegenwärtiger Zeit dazu befähigt ist, sich selbst aus einer Distanz zu betrachten, die vorher undenkbar war.

Achtzehntens: Das Authentische

So sollte man nicht von fehlendem Mut sprechen, sondern eher von einer konsequent technischen Evolution, deren Resultat nun unter anderem ein David Foster Wallace ist, dessen Suche nach einer originären Poetik nicht auf der Wiederholung beruhen kann, der aber nicht so naiv ist, zu glauben, den Expressionismus nach den Stürmen der Postmoderne einfach so aus dem Hut ziehen zu können: Ein moderner Expressionismus müsste dennoch mit der Ironie umgehen, die nicht einfach wegdiskutiert werden kann. Der Expressionismus als Bewegung hantiert mit Gegensujets, Antitopoi, mit Bewegungen also, die auf Klischees reagieren und ihrerseits zu klischeeisieren sind, sich also in dem System des Gegners bewegen – nach Wallaces Meinung zeichnet es Kafka nachgerade aus, dass er nicht zum Expressionismus gehört, sondern solitär ein Expressionist, daher vielleicht der Expressionist ist: Kafka agiert in einem eigenen System, mit welchem er außerhalb der üblichen und konventionellen Poetologien agiert. Hier will und muss Wallace sich verorten – und so ist sein Schreiben bis zu The Pale King eine Darlegung des Problems aus unterschiedlichen Perspektiven. Und es geht ihm sicherlich um das Scheitern: Wie in den Interviews deutlich, verwirft Wallace grundsätzlich jede zurückliegende Prosa als kindisch, postmodern oder unzureichend, was bedeutet, dass er sich als in der Entwicklung definiert, die darin besteht, zu scheitern und die Lehren hieraus zu ziehen. So ist das Mammutwerk Infinite Jest auch ein Beschreibungshöhepunkt des Dilemmas, wenngleich natürlich ein anspruchsvolles und rundum geglücktes, in der Begrenztheit sicherlich geniales: Letzten Endes bleibt dieses Buch ein Höhepunkt der Krisenbeschreibung, fungiert aber nicht als Ausweg.

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Es ist also nur konsequent, wenn Wallace sein Werk rückblickend verwirft – nachvollziehbar ist dies jedenfalls für uns, die wir dargestellt haben, dass Wallace keinesfalls den Postmodernismus weiterführen oder auf die Spitze treiben möchte: Wallace ist nicht darauf aus, das Erbe Pynchons anzutreten, wie es immer wieder apostrophiert wurde. Auch geht es ihm nicht darum, poetologisch einen Ausweg zu diskutieren, diagnostizieren oder anzudeuten, sein Ziel ist ein neuer Expressionismus, ein Schreiben in und mit der naiven Authentizität – letzten Endes, und dies haben wir nun hinreichend dargestellt, strebt Wallace es an, eine Art Kafka zu werden. Jener selbstauferlegte Anspruch korrigiert in weiten Teilen das Frühwerk bis hin zu Infinite Jest, doch grundsätzlich darüber hinaus. Wallace schreibt vom Standpunkt des Systems aus und urteilt darüber auch mit den Werkzeugen des Systems, wie auch die literarischen Techniken diejenigen der Postmoderne sind: Authentizität wird weiterhin gefordert und angedeutet, ist aber nicht vorhanden, kann nicht durchgehalten werden, da die ironische Distanz, das Dilemma, hintergründig nicht nur lauert, sondern den Diskurs bestimmt. Deshalb ist The Pale King von besonderem Interesse, da Wallace hier in der Tat versucht, das Dilemma zu verlassen, dem Kafka’sche Gerichtssystem also den Rücken zu kehren und poetologisch einen Neuanfang zu wagen. Dieser Roman, soviel ist sicherlich deutlich geworden, ist als Wallaces Kafka-Versuch zu deuten, als sein Lynch-Film: The Pale King, so unsere These nun, sollte zum Erstling des neuen Expressionismus werden. Und im Kleinen scheint sich dies auch zuerst einmal zu bestätigen, sehen wir uns also nochmals das 46. Kapitel an, das schon mehrmals erwähnte Gespräch zwischen Shane Drinion und Meredith Rand, in dessen Verlauf Drinion zu schweben beginnt. Wir haben uns über den Inhalt schon einige Gedanken gemacht und auch die Dialogstruktur gegen das vorhergehende Werk und speziell die Brief Interviews abgesetzt, denkbare rückbezügliche Verweise verortend – und wollen nun weitergehend mögliche poetologische Konsequenzen ziehen. Wobei vor allem Drinion eine fleischgewordene Symbolfigur des neuen Expressionismus sein könnte: Drinion scheint bezugslos, scheint ohne intertextuelle, sprich: kontextuelle Bezüge in diese Romanwelt geworfen; er bleibt der einzige, bei dem dies der Fall ist: „For the past four weeks, really only Shane Drinion has seemed unaffected by the presence of a terrible attractive woman. Granted, it’s not clear to anyone just what Drinion is affected by.“ (PK, 448) Verschwinden die Eltern

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und lassen den jungen Drinion zurück, wie das Gerücht ja besagt, dann ist er auch in diesem Fall kontextlos und daher im doppelten Sinn frei – und für die anderen leer. Übertragen auf die Poetik ist diese Figur also traditionslos und daher mit herkömmlichen Mitteln nicht herzuleiten; dies ist besonders interessant, bedenkt man die Gewohnheit Wallaces, alle Charakterzüge erklären und herleiten zu wollen, dies auch rigoros zu tun, wie wir schon ausführten. Nun also findet sich in diesem Roman ein nicht herzuleitender Typ, der sozusagen herausgefallen scheint aus dem normalen Zusammenhang, der nicht dazu gehört, auch und gerade innerhalb der Diskurse nicht: er dockt sich nicht an die bestehenden Diskurse an und bleibt so außerhalb. Ein weiterer wesentlicher Wesenszug Drinions ist seine Fähigkeit, völlig in der jeweiligen Umgebung aufzugehen: He watches whoever is speaking very intently. Actually, intently isn’t even the right word. There is no particular kind of study in his gaze; he just gives whoever’s speaking his complete attention. His bodily movements, which are minimal, give the suggestion of being clipped and precise without being fussy or prissy. He will respond to a question or comment directed explicity to him, but other than these rare times he is not one of the people who speaks. But he’s not one of these people who shrinks or recedes in groups until he’s barely there. There’s no sense that he’s shy or inhibited. He’s there but in an unusual way; he becomes part of the table’s environment, like the air or ambient light. (PK, 448)

In der totalen Aufmerksamkeit verschwindet das Bewusstsein, damit auch die Möglichkeit, so etwas wie Langeweile zu empfinden, denn zur Langeweile gehört die Fähigkeit, sich von der Umgebung und also der langweilig wirkenden Situation zu distanzieren. Im Gegenteil geht er in der Situation völlig auf, so vollkommen mit dem Gegebenen verklebt, dass er zu schweben beginnt – wozu die Selbstvergessenheit gehört, wie der Erzähler erklärt: Drinion is actually levitating slightly, which is what happens when he is completely immersed; it’s very slight, and no one can see that his bottom is floating slightly above the seat of the chair. One night someone comes into the office and sees Drinion floating upside down over his desk with his eyes glued to a complex return,

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Drinion himself unaware of the levitating, since it is only when his attention is completely on something else that the levitation happens. (PK, 485)

Diese Paarung der Bezugslosigkeit einerseits und der Selbstvergessenheit andererseits weist darauf hin, dass Wallace hier in der Tat die neue Poetologie, den neuen Expressionismus personifiziert: Drinion ist tatsächlich ein Symbol der neuen Schreibweise, der neuen Kunst; sein Schweben dient so als herausragendes Merkmal eines Heraustretens aus den herkömmlichen Kontexten. Eine dergestalt aufgesetzte Prosa würde, so Wallace, ebenfalls schweben und sich absetzen von den Konstruktion, befände sich dann, ganz im Sinne Kafkas, oberhalb der Konstruktionen. All dies ist verständlich und durchaus nachvollziehbar, immerhin personifiziert Wallace oft poetologische oder philosophische Programme, man denke an den Roman The Broom of the System, in welchem sich ja Wittgenstein’sche Personen eben Wittgenstein’sche Sätze an die Köpfe werfen; oder, sehr akzentuiert, in der postmodernen Abgesangserzählung Westward the Course of Empire takes its Way. Die Werke zeigen: Wallace tendiert sicherlich zum Thesenroman, wobei The Pale King ein weiteres Beispiel hierfür geworden wäre, nämlich der Versuch, die neue Poetik, gekoppelt mit einer neuen Weltsicht, umfassend zu beschreiben. Drinion also ist dieser neue Menschentypus, der das Leben mit all der Langeweile umfassend ertragen kann, weil er den Begriff der Langeweile im Grunde gar nicht versteht und so natürlich auch nicht nachvollziehen kann: Naiv setzt er sich jeder Situation aus und erlebt so jedes Ereignis als originär. Drinion hat kein Gefühl für Wiederholung, da er in der aktuellen Situation nicht reflektiert und demnach nicht vergleicht, zudem legt Wallace ja in seinen Beschreibungen des Charakters sehr viel Wert auf die Feststellung, dass Drinion eigentlich nicht mehr mit herkömmlichen Beschreibungsmaterialien zu fassen ist: Drinion bewegt sich in der Tat außerhalb des normalen Gefüges, hat nichts mehr mit den tradierten Diskursen zu tun, weil er eine völlig differente Wahrnehmung hat – nochmal: Langeweile existiert für diesen Menschen nicht, ist undenkbar. Zwei Fragen sind hieran unmittelbar gekoppelt, bevor wir das Kapitel verlassen und die erbrachten Ergebnisse auf den gesamten Roman übertragen können; zuerst einmal das Setting, mit welchem Wallace diesen Charakter ummantelt, hieraus folgend dann die poetologischen oder philosophischen Reflexionen. Denn es ist ja mehr als interessant, dass Wallace

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diesen Charakter, diese dezidierte Neuschöpfung des Menschen, mit einer Geschichte konfrontiert, die aus dem Frühwerk oder der mittleren Schaffensphase zu stammen scheint: Wie schon erwähnt, kennen wir ja das Sujet der missbrauchten Frau sehr genau aus den Brief Interviews, wissen also von der postmodernen Situation der hochkomplexen Ausnutzungsverhältnisse zwischen Mann und Frau, die beiderseits hochintelligent und umfassend aufgeklärt doch das uralte Spiel der Machtverhältnisse aufführen, allein ironisch gebrochen und in komplexer Weise gestaffelt. Dies geschieht auch hier mit Meredith Rand, die nun ihre Geschichte erzählt, wobei der Zuhörer umfassend interessiert hierauf reagiert, als sei dies die allererste Geschichte dieser Art. – Die Wirkung auf Meredith, die zuerst verwirrt scheint angesichts der seltsamen Art Drinions1, scheint darin zu bestehen, diesen am Ende als weiteren Retter anzusehen; jedenfalls reflektiert Wallace in den Notizen diese Idee: „At Rand and Drinion’s last meeting, in book, Drinion asks: ‚Would you prefer it intense, or casual?‘ Rand breaks into tears. Rand gets obsessed with Drinion (as type of ‚savior‘?) in the same way she’d been obsessed with Ed Rand in hospital?“ (PK, 545) Das mögliche Ende ist, wie immer, zwiespältig zu verstehen: Drinion nimmt ja einerseits den Platz des Hideous Men ein und erreicht dieselbe Wirkung wie dieser, was natürlich auch poetologische Folgerungen nach sich zieht; auch kann man schließen, dass Rand sich mit Hilfe Drinions endlich von der Ursache des Problems, sich selbst im Grunde, befreien kann und ihre Tragödie so ein Ende findet. Wallace baut eine hochinteressante und nicht einfach aufzulösende Struktur auf, eine Konfrontation sozusagen der neuen mit der alten Poetologie: Dies ist so offensiv gesetzt, dass man wiederum kaum von einem Zu-

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Es ist tatsächlich eine Gradwanderung, der sich Wallace hier aussetzt: Drinion wirkt ja nicht zufällig autistisch, katatonisch, verrückt. Weshalb im Roman mehrmals darauf hingewiesen werden muss, dass er zwar so wirkt, dies aber nicht ist – es ist sicherlich dies eine Schwäche der Ausführung, die Wallace eventuell gekürzt oder zumindest umformuliert hätte, man weiß es ja nicht, die aber ein Problem der Anlage des Romans ist: Der Erzähler müht sich ja, Drinion, der eigentlich nicht zu beschreiben ist, mit Hilfe der gewohnten Termini anzugehen. – Dies ist aber insgesamt der Ehrgeiz des gesamten Romans, der ja eine Lebensform darzustellen versucht, die sich im Grunde allein aus sich selbst erklärt.

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fall oder einer Überinterpretation sprechen kann. Vielleicht sollten wir zu näheren Klärung noch einmal zurück zur Gesprächssituation kommen: Der Aufbau des Kapitels ist ja ähnlich wie es in den Brief Interviews mehrmals probiert wird, bedeutet, eine Person spricht über ihr Leben und offenbart sich auf diese Weise unabsichtlich. In den Brief Interviews aber ist der Kommunikationspartner ausgespart, was bedeutet, wir vernehmen nur eine Seite des Gesprächs und müssen die Fragen selbst eruieren und aus den Antworten vervollständigen. Es ist auch kein normales Gesprächsmodell zweier gleichgestellter Partner, es ist eine typisierte Interviewsituation und stets kommen die Täter zu Wort, über die der Leser sich selbst ein Urteil bilden muss, da keine weitere Instanz wertend agiert: Der Leser übernimmt also den fragenden und schließlich auch den wertenden Part, was durchaus zu den poetologischen Überlegungen passt, in denen Wallace den Lesern mehr Verantwortung übergibt: Der Leser vervollständigt sozusagen das Kunstwerk und muss sich aus seiner passiven Rolle des reinen Rezipienten lösen. Hier nun, in The Pale King haben wir es mit einer anderen Gesprächssituation zu tun, da die direkte Rede beider Partner aufgezeichnet wird und zudem eine auktorial angelegte Erzählerfigur weitere Einsichten mitteilt. Wallace interessiert hier der Gesprächsverlauf und die Darstellung Drinions, vor allem das allmähliche Schweben wird sorgsam aufgebaut und als eigentlich mysteriöses Phänomen sehr rational konnotiert. Erzählten folglich in den Brief Interviews die Figuren ihre Geschichten, so ist dies hier anders gesetzt, da die Geschichte selbst an Drinion reflektiert wird – so sind auch die poetologisch anmutenden Bemerkungen zu verstehen, in denen die beiden sich beispielsweise über langweilige Sequenzen der Geschichte unterhalten oder Begriffe näher definieren. Drei denkbare Deutungsansätze sind unseres Erachtens möglich und evident; da ist zuerst die kommunikative Grundsituation. In den Stories und Romanen von Wallace, also auch außerhalb der Interview-Sequenzen, ist – wen wundert’s – die Kommunikation grundsätzlich fehlgeleitet, bedeutet zumeist ein Kreisen um sich selbst: Man redet aneinander vorbei; signifikantes Beispiel ist wieder die knappe Darstellung postindustriellen Lebens, die wir weiter oben schon behandelten: Hier sind alle Gesprächspartner allein mit sich beschäftigt und so an ihrer Wirkung interessiert, dass sie kaum ihre wahren Gefühle offenbaren würden, geschweige denn könnten: Die Kommunikation ist also stets fehlerhaft, unwahr und ziellos, damit ergeb-

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nislos. Oder sie ist manipulativ und damit einseitig – Rand nutzt ja kommunikative Strukturen zur Manipulation und letztlich zum Missbrauch. Die Literatur soll in der Hinsicht wahrhaftige Kommunikation transportieren, was aber bedeutet, dass der Autor sich selbst vergisst und völlig auf den Leser eingeht, sich diesem geradezu unterwirft, in einer Geste, die für Wallace vor allem von Liebe grundiert wird2. Es ist eine in sich zwecklose Kommunikation ohne vorder- oder hintergründige Motive: Meredith Rand ist nicht an Drinion interessiert und auch umgekehrt kann so etwas nicht ausgemacht werden: Drinion scheint im Gegenteil geradezu asexuell zu sein3: Es sind keine manipulativen Tendenzen in diesem Gespräch auszumachen, beider Motive sind lauter, sind rein. Sie sitzen, wie Wallace recht ausführlich zu beschreiben sucht, zufällig in dieser Konstellation und beginnen das Gespräch ziellos. Auch hält Meredith Rand es nicht für nötig, sich in ein besseres Licht zu rücken: Sie erzählt eine wahre Geschichte, ihre wahre Geschichte, eine Lügen, ohne Täuschungen; es geht in der Tat um Merediths Leben, ihre schlimmste Momente, die Geschichte letztlich, die sie ausmacht und ihren Charakter wohl am besten erklärt. Und Katalysator dieses Gesprächsverlaufes ist Drinion: Sein umfassendes Interesse, seine Ich-Losigkeit und sein vollkommenes

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Im sechsten Kapitel des Pale King erfährt Lane Dean Jr., wie schon erwähnt, kurzzeitig eine solche Offenbarung eines völlig empathischen Moments. So sitzt er mit seiner Freundin auf einer Parkbank und verdaut die Erkenntnis, das Mädchen geschwängert zu haben, reflektiert nun sehr egozentrisch allein sich und seine Situation: „He hated himself for sitting so frozen. He could almost visualize himself tiptoeing through something explosive. A big stupid-looking tiptoe like in a cartoon.“ (PK, 37) – Interessanterweise findet also, ganz gemäß unserer Theorie, eine Einreihung der individuellen Ereignisse in die Klischeereihung statt: die Distanz zu sich selbst ist vollkommen und erzwingt geradezu die Klischeeisierung, was zur Stasis führt: diese Stasis nun wird durch eine geradezu religiöse Offenbarung gebrochen: „For in that same given moment he saw, quick as light, into Sheri’s heart“ (PK, 42), womit er einen Entschluss fasst und Finanzbeamter wird, um seine Familie zu ernähren. Es ist diese Empathie einer idealen Kommunikationssituation, die Lane Dean Jr. aus seiner Starre und seine ironischen Klischeeisierungssucht befreit und die Wallace in seiner Literatur anstrebt.

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Was ihn wieder in die Nähe eines mental gestörten Menschen führt.

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Aufgehen in der Situation sind Fundament der Kommunikation, sind Garant für das Funktionieren des Gespräches. – Übertragen auf die poetologische Ebene wäre Drinion sozusagen der ideale, jedenfalls für Wallace ideale Autor, der sich vollkommen zurücknimmt und selbstvergessen eine Geschichte passiv gebiert, mäeutisch geradezu. Problematisch wird diese Sichtweise dann, wenn wir das in den Notizen skizzierte Ende einbeziehen, also die Beziehung, die Meredith zu Drinion aufbaut, ihn also als neue Bezugsfigur annehmen möchte, was Drinion ja dennoch in die Nähe zu Rand rückt und also auch die Literatur, übertragen nun auf die Meta-Ebene, wieder in direkten Bezug zu den Brief Interviews setzt – hatte Wallace also vor, die Ambivalenz oder gar das Scheitern einer solchen Literatur anzudeuten? Wie gesagt, wir wissen es nicht und müssen nach dem wenigen Material urteilen, welches uns zur Verfügung steht und können allein hieraus beurteilen – und müssen diese Frage demnach in der Schwebe lassen.

Neunzehntens: Country and Western

Weshalb wir diese Ebene nun verlassen und uns dem nächsten Aspekt zuwenden, dem nämlich von der Rehabilitierung des Klischees: Die hübsche Frau, die unter ihrer Schönheit leidet und sich von einem hässlichen Mann verführen lässt – ein bekannter Topos und in diesem Roman auf keinen Fall sonderlich neuwertig ausgebreitet, was auch nicht in der Absicht Wallaces liegt; stattdessen führt er ja mit Meredith Rand eine Figur ein, die in gleich dreifacher Weise einem wandelnden Klischee gleicht: Zum einen aufgrund der Tatsache, dass die Erzählung wahrhaftig ein Klischee ist, dann durch die Verknüpfung mit Wallaces früheren Schriften, was einen deutlichen Hinweis auf das Klischeepotential abgibt und mit aller Wahrscheinlichkeit absichtlich so gesetzt wird; drittens wird dies im Roman selbst thematisiert, nämlich im Geschwätz der Kollegen: „IRS rap on Meredith Rand: She’s pretty but a yammerer of the most dire kind, on and on, excruciating to be around – they speculate that her husband must have some kind of hearing aid that he can turn off at will.“ (PK, 544) Ein interessantes Detail, welches sich in den Notizen findet und sozusagen die Meta-Ebene des Romans selbst abbilden soll, denn immerhin findet sich eine derartige Reflexion im Kapitel selbst nicht: Drinion ermöglicht es dem Erzähler, der ja ohnehin im Verlauf des Gespräches zunehmend verschwindet, einen unsarkastischen, unironischen Ton einzuschlagen, weshalb also auch das Erzählen des Klischees von der schönen Frau ohne Reflexion oder Distanzierung möglich wird: Man könnte sagen, Wallace wechselt sich im Verlauf des Romans selbst aus, lässt sich hineinziehen ins System, um dort zu verschwinden – oder zu verwandeln? Wir werden diese Frage noch stellen – und ermöglicht auf diese Weise die neue Perspektive eines nicht distanzierten und also authentischen Erzählens:

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Drinion, der ohne Hintergedanken zuhört, spricht und fragt1, sorgt dafür, dass eine Geschichte mitgeteilt werden kann, die eigentlich ironische Brechungen verlangt: Metaebenen der Distanzierung, ironische Abschweifungen und den Erzählfluss zwanghaft unterbrechende und damit den Inhalt ironisch konnotierende, nämlich als Struktur bloßstellende Fußnoten – all dies wäre nötig gewesen innerhalb des Kapitels, welches an sich das Dilemma von Lynch aufnimmt, der den Mut hatte, intertextuelle Bezüge zu Freud zu ignorieren, also scheinbar zu ignorieren und zu wiederholen. Meredith Rand wiederholt hier nicht, sondern kann vollkommen unbelastet erzählen, sie bedarf nicht einmal mehr des Mutes, da Drinion ihre Geschichte ja als einzigartig behandelt und völlig distanzfrei rezipiert. Obgleich Meredith ja immer wieder die Frage stellt, ob all dies nicht allzu trivial sei; eine rhetorische Frage, wie sie am Ende feststellt: „I was seventeen, for Christ’s sake. I was a drama queen“ (PK, 509). Banal ist aber auch die psychologische Grundierung der Geschichte von der schönen Frau, die ihre Schönheit zu akzeptieren lernt; was ihr in Wahrheit ja nicht gelingt, es ist eher so, dass ihr baldiger Mann die Banalität ihres Leidens unterstreicht, nämlich erklärt: „What have we learned about cutting ourself? [...] We’ve learned all that matters is not to do it. To cut it out“ (PK, 506). Was einer ausgesprochen trivialen Therapie entspricht, welche aber noch weitaus platter fortgeführt wird, denn aufgrund dieser Hilfe und der damit aufkeimenden Liebe zu diesem helfenden Mann, tja, kann Meredith auf einmal Country-Songs verstehen: „I all of a sudden felt like: Oh my God, this is what people mean when they go ‚I’ll die without

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So legt Wallace abermals sehr viel Wert darauf, Drinions Fragen auch als tatsächliche Fragen zu verorten: es geht um Nachfragen bei Verständigungsschwierigkeiten, um nach- oder vorträgliche Definitionen von Begriffen und so weiter: Die Fragen dienen dazu, Kommunikation herzustellen; so heißt es beispielsweise sehr explizit, womöglich gar zu explizit: „Drinion waits a moment. In just the same tiny interval as the pause, it occurs to Meredith Rand that Drinion’s pausing to see whether there’s more or whether the truncated question is meant to invite him to supply the answer. Meaning is it sarcastic. Meaning he has no natural sense of whether something was sarcastic or not.“ (PK, S. 456f) Das ist ein deutlicher Hinweis auf das Unsubtile des Gesprächs, welches auch in den Fragen deutlich wird, die direkt sind und auch eine direkte, unverschlüsselte Botschaft haben.

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you, you’re my whole life‘“ (PK, 508), und so weiter, was natürlich einer Bezugnahme auf das Klischee schlechthin gleichkommt: Rand, so kann man durchaus sagen, klischeeisiert das junge Mädchen Stück für Stück, indem er zuerst ihre Gefühle verallgemeinert, ihr also erklärt, dass ihre Gefühle nichts besonderes und schon gar nicht einzigartig seien, dann vollzieht er eine weitere Verallgemeinerung, indem er diese verallgemeinerten Gefühle nun in die Klischee-Welt des Country-and-Western-Topos einordnet: Sie wird zum substantiellen Klischee degradiert. Und Drinion entklischeeisiert all dies sozusagen, macht es innerhalb des Romans erzählbar und erlaubt daher eine literarische Perspektive, die völlig unvoreingenommen und bar jeder Distanzierungsarbeit das Erzählen ermöglicht. Es scheint, dies die dritte Ebene, eine Art Vehikel für Wallace oder den Erzähler zu sein, ein Konstrukt und letztlich eine Struktur, mit deren Hilfe eine neue Poetologie ermöglicht wird: Drinion wird in diesem Kapitel also installiert und umfassend beschrieben, um späterhin, so die These, als Erzählkonzept und Perspektivierung eine neue Darstellungsart zu erreichen. Es sind die Ansätze, jene neue Sichtweise auf ein altbekanntes und banales Sujet zu übertragen, wobei für Wallace zuerst einmal im Vordergrund steht, dieses Neue sozusagen von Außen her anzugehen und also durch Meredith Rand andeutend zu beschreiben. Auf dieser Ebene sollte man das Kapitel also als experimentelle Versuchsanordnung begreifen, durch welche das Neue zum ersten Mal in den herkömmlichen Kontexten aufglimmen kann. Und Wallace nutzt dies zur umfassenden Absetzungsbewegung Drinions von den tradierten und klischeeisierten Konklusionen, ist sehr bemüht, diesen Charakter als in sich ruhend und happy zu beschreiben, gleichwohl, wie man hinzufügen muss, dies allein auf den schon erwähnten Beteuerungen des Erzählers selbst basiert, denen wir also zu glauben haben. Und Drinion entpuppt sich in der Tat als zuhöchst interessanter Charakter, denn nicht nur dass er eine neue Sichtweise auf die Welt verkörpern soll, damit eine neue poetologische Perspektive, er beginnt bekanntlich zu schweben und beeinflusst zudem die Gesprächsteilnehmer; so ergeht es Meredith, die im Verlauf des Gesprächs ebenfalls umfassende Sensibilität für ihre Umgebung entwickelt, bei gleichzeitiger Verdunklung des Bewusstseins, denn „it was like she forgot her name and address and almost everything else about her life“ (PK, 494), was ja einer bemerkenswerten

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Entwicklung entspricht, nämlich andeutet, dass Drinions Perspektive sich im Verlauf des Romans ausweitet, eventuell er derjenige ist, mit dem das Neue entsteht und dann weitergegeben wird. – Oder Wallace formuliert hier die Idee, dass diese Perspektive auch die Rezeption beeinflusst, damit den Leser, der ja mit Hilfe der neuen Perspektive ebenfalls das Neue erfahren sowie erschließen kann. Und doch: Drinion ist ja noch leer, ist kein Expressionist in dem angestrebten Sinne, da er zwar nicht mehr wertend oder nichtend die Welt begreift, weshalb er Klischees nicht erkennen kann und sozusagen im kulturellen Gedächtnis eine Amnesie erleidet oder eine solche symbolisiert: Dies ist aber auch das Problem dieses Kapitels, denn Drinion kann nur reagieren, niemals agieren – er fragt nach, er wird angesprochen, nicht er erzählt die Geschichte. Für eine neue Kunstform fehlt es also an Inhalt, weshalb Wallace nun Meredith erzählen lässt und sich dafür interessiert, wie dies von Drinion rezipiert und damit als Erzählung tauglich wird. Es ist konsequent, von einer allmählichen Entwicklung und also Auffüllung Drinions während der geplanten folgenden Kapitel auszugehen, doch liegen diese nicht vor. So kann man nur mutmaßen, Wallace habe so etwas Ähnliches wie Kafka vorgehabt; Kafka immerhin entwickelt ausgehend von der weiter oben dargestellten Mehrdeutigkeitsfokussierung eine vollkommen neue Erzählhaltung der Erlebten Rede, in welcher Erzähler und Figur nicht mehr zu trennen sind, wodurch beispielsweise der erste Satz vom Proceß – bekanntlich: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“2 – das Sujet des Romans enthält, nämlich die Schuldfrage im Ungewissen belässt, da schon in diesem ersten Satz nicht auszumachen ist, wer diese Information gibt, der Erzähler oder Josef K. selbst, womit die Schuld- oder Unschuldsvermutung ambivalent bleibt. Man kann hieraus ableiten, dass die Perspektive die entscheidende Wendung in Kafkas Schaffen markiert. Bedenkt man beispielsweise die Novelle Das Urteil, die deshalb so faszinierend und gegen den Strich gearbeitet ist, weil der Ausbruch des Vaters und auch die Vorwürfe des Vaters eine neue Deutungsebene öffnen, womit die Motive des Sohnes spätestens hier als ambivalent zu interpretieren sind, so scheint der von Kafka so ekstatisch gefeierte Durchbruch also weniger

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Kafka, Franz: Der Proceß, S. 3.

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im Sujet zu suchen sein: Kafka greift immerhin ein sattsam bekanntes Thema auf, scheut sich ja auch nicht, eines der wesentlichen Motive des Expressionismus zu thematisieren, da er mit Hilfe einer konsequent durchgehaltenen und originellen Perspektivierung das Alte und eigentlich Verbrauchte neu darstellen kann. In diesem Verständnis kann man das Kapitel 46 des Romans The Pale King auch als Versuch lesen, eine sattsam bekannte Geschichte unter neuen Gesichtspunkten und Perspektiven auferstehen zu lassen.

Zwanzigstens: Verwandlungen

Doch haben wir von der Drinion-Episode nur ein Kapitel einer sich im Anfangsstadium befindlichen Erzählung von uns und können also nicht absehen, wie der Perspektivwechsel vonstatten gegangen wäre – wir kennen nur die grundsätzlichen Überlegungen, die Wallace unseres Erachtens nach abermals sehr eng mit Kafka in Verbindung bringen: So baut Wallace seinen letzten Roman auch auf Kafka’schen Vorgaben auf. Ist bei Kafka das Gericht oder das Schloss Symbol der Welt, wird es bei Wallace nun das Finanzamt. Was ein so gewagter Schritt sein dürfte, wie es Kafka ein Jahrhundert zuvor unternimmt: Man muss sich das vorstellen, es herrscht expressionistische Aufbruchsstimmung, die Jagd nach dem Außergewöhnlichen, dem Unterbewussten, Geheimnisvollen treibt die Künstler an. Und Kafka? Er schreibt über Gerichtsprozesse, über das Leben in einem Dorf nah eines Schlosses, über etwas grundsätzlich Langweiliges, nämlich Behörden. Heutzutage darf man das, denn Kafka hat es möglich gemacht. Doch schreibt er nicht über Behörden, da keiner es macht, dies ist es nicht, was Kafka als originell bezeichnen würde; er schreibt über Behörden, weil er in ihnen die Welt vermutet: Tatsächlich verläuft ja, wir haben darauf mehrmals hingewiesen, zu Kafkas Lebzeiten eine gegen den Trend der Individualisierung verlaufende statistische Erfassung des Menschen im Sinne einer behördlichen Einordnung und Verortung: Diese zwei Bewegungen symbolisieren wohl am nachhaltigsten die Ambivalenz des letzten Jahrhunderts. Welche Kafka thematisiert und als diese Ambivalenz auch darstellt – indem er den Bruch zwischen den beiden Welterfassungsstrukturen mit Hilfe einer gegenseitigen Durchdringung darstellt, auf die Spitze getrieben in der Strafkolonie. Aus diesem Grund sind die Behörden in Kaf-

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kas Werken keine gesuchten oder allein aus persönlichen Motiven erwählten Topoi, sondern haben das Potential, die gesamte Welt zu spiegeln. Und nun also Wallace, der seinen Roman im Finanzamt ansiedelt – einem Ort, der schon im Vorfeld für Irritationen und vollkommen falsche Erwartungen sorgte: „If anyone“, so der Herausgeber Michael Pietsch in der Einleitung, „could make taxes interesting, I figured, it was him.“ (PK, V) Und weiter: „As I read and reread this mass of material, it nevertheless became clear that David had written deep into the novel, creating a vividly complex place – The IRS Regional Examination Center in Peoria, Illinois, in 1985 – and a remarkable set of characters doing battle there against the hulking, terrorizing demons of ordinary life.“ (PK, VII) Pietsch beschreibt die herkömmliche Deutungsebene, wie man ja auch den Weg Josef K.s im Proceß als Versuch des Individuums beschreiben kann, die Unschuld zu beweisen. Natürlich geht es Wallace aber nicht darum, den Kampf der Protagonisten gegen die Langeweile zu zeigen, er möchte andeuten, wie man einen Zustand erreichen kann, in welchem Begriffe wie Langeweile oder Unterhaltung keine Rolle mehr spielen. Und interessanterweise verortet Wallace seinen Roman im Jahre 1985, ein Jahr, welches er als signifikant für die amerikanische Steuerbehörde deutet: „1985 was a critical year for American taxation and for the Internal Revenue Service’s enforcement of the US tax code“ (PK, 82). Umwälzungen finden in diesem Zeitraum statt, welche enorme Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Einzelnen nach sich ziehen. Wie Kafka die Fragen nach Schuld oder Unschuld des Menschen, als Fragen des Lebenssinns, sehr konsequent den Gerichten und Behörden überträgt, und damit neue Perspektiven erlaubt, so wird in Wallaces Roman das Finanzamt zur Welt: Tagtägliche Abläufe, Kalkulationen, Tics, die kurzen Pausen, all dies ist das normale Dasein, welches nicht mehr nur ertragen, sondern sinnvoll gelebt werden sollte – so Wallace, auch in der schon oftmals erwähnten Rede This is Water, die sicherlich vom Roman inspiriert ist, nichts weniger als einen Paradigmenwechsel vorstellend, als Wechsel der Perspektive: Kein Lebenskampf mehr, nicht einmal die Akzeptanz der Langeweile des herkömmlichen Dasein, nicht die Abstumpfung, sondern tatsächlich eine völlig neue Herangehens- und Sichtweise auf die Langeweile. Idealer Ort einer derartigen Darstellung ist also die Finanzbehörde – die schon allein als Struktur durchaus Kafka’sche Qualitäten hat, wir haben

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schon zu Beginn hierauf hingewiesen und können dies nun sicherlich besser nachvollziehen, sind beide Strukturen doch in ähnlicher Weise umfassende und unentrinnbare Symbole der Welt einerseits. Wobei Wallace auch inhaltlich durchaus an Kafka anschließt, bedenkt man allein die Protagonisten, vor allem den Hauptprotagonisten: Bei beiden Autoren sind diese sehr ähnlich angelegt, sind nämlich beiderseits deutlich mit den Autoren selbst verwandt. Kafka beschreibt mit Josef K. und K. Gestalten, die ihn an erinnern, nicht nur im Namen, auch im biographischen Setting – es sind Junggesellen, gebildet, halbwegs vermögend und so weiter – und den Charakterzügen: Probleme mit Frauen haben sie beispielsweise alle, ebenso sind sie, wie der Autor, sozial nur unzureichend integriert. Wir müssen dies nicht näher ausführen, denn relevant ist es allein, da Kafka diese ihm ähnlichen Figuren zum Durchbruch in die unbekannte Welt nutzt: Josef K., der ganz normale Angestellte, er erwacht eines Morgens und findet sich in einer anderen Welt wieder. Und Gregor Samsa, auch er ein unauffälliger Angestellter, erwacht seinerseits zum Käfer verwandelt und die Welt neu entdeckend, wobei auch die Welt ihn selbst neu entdeckt – mit den bekannten fatalen Folgen. In der Durchbruchserzählung Das Urteil schließlich ist die Schwelle noch weitaus charakteristischer das Schreiben, eines Briefes zwar, aber immerhin ist es ein der Situation Kafkas sehr ähnlicher Vorgang: Georg Bendemann schreibt und betritt somit eine Welt, die gänzlich anders angelegt ist als zuvor. Neue Perspektiven ergeben sich und die Protagonisten kämpfen mit diesen Sichtweisen, mühen sich, diese mit den bisherigen tradierten Konstruktionen in Einklang zu bringen. Stets geht der Handlung demnach eine abrupte Initiation voraus, oftmals mit dem Erwachen gleichgesetzt, wobei mit dem Erwachen der Eintritt in eine traumhafte Welt beschrieben wird. Wallace wiederum lässt seine Protagonisten eine Art Trauma erleben und damit reif werden für eine philosophische Haltung, die von der Interesselosigkeit ausgeht, die als umfassend definiert wird, weshalb man auch von einer umfassenden Interessiertheit sprechen kann: Da man nicht mehr wertet, steht man allen Ereignissen gleich unvoreingenommen gegenüber. Für Wallace ist dieser Zustand ein geradezu mythisches Moment, welches es erreichen gilt, siehe den Schwebezustand Drinions. – Drinion ist auch die Person, die am nachhaltigsten diese Daseinsebene repräsentiert, die an-

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deren Figuren sind ihr mehr oder minder teilhaftig, wobei Wallace vor allem damit beschäftigt ist, die Genese dieses Zustandes zu beschreiben. Drinion, so hören wir gerüchtehalber, habe seine Familie verloren, andere wiederum sind aufgrund erhöhter Transpirationsausbrüche dazu gezwungen, sich umfassend für alle Ereignisse um sie herum zu interessieren; oder sie sind aufgrund eines enorm traumatischen Ereignisses, in dessen Verlauf sie die Augen nicht mal zum Blinzeln schließen konnten, auf diese Ebene geraten. – Traumata scheinen also in diesen Fällen die Genese einzuleiten, Verwandlungen aufgrund zuhöchst entsetzlicher oder schockierender Ereignisse, Spannungszustände aufgrund neurotischer Konflikte. Wobei die Frage zu stellen sein wird, ob diese Ereignisse nun aufgrund ihres Schockmoments die Leidenden so erden, dass sie das Leben so schätzen, wie es tatsächlich ist – dies wäre eine verständliche, nachvollziehbare, aber letztlich ein wenig enttäuschende Eingebung, nämlich nicht mehr als eine Binsenweisheit. Relevanter scheint zu sein, dass diese Ereignisse allesamt etwas mit der Aufmerksamkeit zu tun haben, mit der Menschen sich der Realität widmen: Man fällt aufgrund des Traumas aus dem normalen Zusammenhang, wird augenblicklich zur völligen Aufmerksamkeit gezwungen und erreicht auf diese Weise einen Zustand, der auch die Arbeit im Finanzamt und damit das Dasein ohne Ablenkungsmechanismen möglich macht. Dass dies nicht bei allen Protagonisten so abläuft – und so konnotiert wird –, zeigt die Geschichte von Fogle, die Wallace ironischen Tons, nämlich in den Fußnoten, als irrelevant bezeichnet: Seine Wandlung ist eine forcierte, auch ausgelöst von traumatischen Erlebnissen, die wenig mit Aufmerksamkeitsspannen zu tun haben, aber existentieller Natur sind: Der Tod des Vaters etwa, als sehr grausam beschrieben, erdet diesen jungen Mann und führt ihn zum Finanzamt. Vor allem Fogles Geschichte ist das Klischee einer Verwandlungsgeschichte, die durchaus an religiöse Offenbarungen und Initiationsmythen erinnert, allein: Fogle wendet sich nicht einer Religion zu, sondern den Finanzen. Dies ist pointiert gesetzt und wird auch in den Fußnoten dementsprechend belächelt – überhaupt: Die Fußnoten. Einst das Markenzeichen Wallaces und nun ebenfalls zum Klischee geworden, letztlich unbrauchbar zur weiteren poetologischen Fundierung und Brechung. Wallace reagiert darauf, indem er die Fußnoten beinah ausschließlich einem Charakter, nämlich David Foster Wallace, zuschreibt; die Kapitel, die sich mit dem Erzähler befassen, sind postmoderne Metafiktion

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und daher auch mit Fußnoten garniert. Es sind zumeist distanzierende Bemerkungen, die beispielsweise die Geschichte Fogles ironisieren, so als befänden wir uns im Werk der mittleren Phase. Auch hier, so unsere These, haben wir es mit einem intertextuellen Bezug zum eigenen Werk zu tun: Wie schon im Falle der MeredithErzählung, so sind die Wallace-Kapitel mit den Fußnoten als Anklänge an frühere poetologische Bemühungen zu verstehen, die Kommentare beispielsweise der Fogle-Story erstellen eine Perspektive, die es zu überwinden gilt: Da die Wallace-Figur im Roman mit der Zeit verschwinden und im System aufgehen soll, scheint diese Interpretation geradezu zwingend, würde bedeuten, dass wir es in dieser Rohfassung mit zwei Perspektiven zu tun haben, wobei die erste Perspektive die herkömmliche und zwanghaft ironisch-distanzierende meint, die dann zugunsten der neuen Sichtweise verschwinden sollte. Das Drinion-Kapitel ist ja dementsprechend, wenigstens andeutend, gestaltet, da der Erzähler, sicherlich Wallace, sich immer weiter zurückhält und am Ende aufgrund der funktionierenden Kommunikation zwischen Drinion und Meredith Rand ganz verschwinden kann. Wallace selbst, also der Erzähler des Romans, ist aufgrund einer schlimmen Akne, die nicht einfach als schlimme Akne bezeichnet wird, sondern als „very, very bad, as in the dermatological category ‚severe/disfiguring‘“ (PK, 285f), zum Wechsel ins System und in die neue Perspektive prädestiniert: Körperliche oder geistige Schädigungen scheinen die Wandlung erst zu ermöglichen, Meredith Rand nämlich, die schöne, ja zu schöne Frau, sie gehört eigentlich nicht dazu, da sie keinen Makel hat.1

1

Wobei die Makel selbst, dies als vielleicht nicht nur biographisch interessante Information, oftmals aus Wallaces, also dem echten, Leben entstammen – die Akne und auch die Schweißausbrüche werden von ihm in journalistischen Arbeiten als enervierend genannt und verknüpfen damit die existentiellen Wandlungskatalysatoren mit Wallace selbst – so als schreibe Wallace letzten Endes eine multiperspektivische Wandlung seiner Selbst. Wir kennen dies ja schon von Infinite Jest, in welchem ja auch eigentlich sehr eigene Themen, Tennis beispielsweise, verallgemeinert werden und als solche Analogien tatsächlich funktionieren: In der Tat ist Infinite Jest ja vor allem eine Bestandsaufnahme Wallaces selbst, eine Selbstdiagnose geradezu. Es verwundert daher kaum, wenn er nun in The Pale King abermals sich selbst in der Verwandlung beschreibt, wobei wir ja leider nur erfahren, dass dieser Wallace des Romans ver-

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Ohnehin scheint es Abstufungen der Daseinserkenntnis zu geben – Drinion ist umfassend aufmerksam und damit mystisch; es gibt aber auch eine Zahlenkombination, die es Fogle ermöglicht, kurzzeitig einen solchen Zustand zu erreichen, so erfahren wir aus den Notizen: Point is to extract from Chris Fogle the formula of numbers that permits total concentration? Point is he can’t remember – he wasn’t paying attention when he happened to read the series of documents that added up to the string of numbers that, when held in serial in his head, allows him to maintain interest and concentration at will? (PK, 541)

Wobei diese Idee eventuell ein Witz ist und den Scherzen entspricht, die Wallace so häufig in seine Texte einbaut, wohl wissend, wie enervierend dies hin und wieder sein kann. Alles in allem geht die Interpretation des Romans natürlich nicht ganz auf – dies ist bei Wallace ohnehin immer so, wie ja auch bei Kafka, und ist bei einem postumen Werk naturgemäß weitaus unerquicklicher: Wir haben allein die Rohfassung einer angedachten neuen Poetik und damit neuen Weltsicht. Interessant genug ist ja, wie Wallace das Dilemma seiner Zeit zu überwinden trachtet: Eine Art Dekonstruktion schwebt ihm vor, durch welche Antonymien wie Langeweile und das Gegenteil davon2 verschwinden und die Definitionsleere neu gefüllt wird – Hinweise dazu hat er ja schon in This is Water gegeben, beispielsweise die Anregung gebend, willentlich die Perspektive zu verschieben und empathischer zu werden, eben bewusst naiv zu leben. In The Pale King wiederum wollte er die Verwandlung beschreiben, die zu diesem völligen und umfassenden Perspektivwechsel nötig scheint: Logisch herbeigeredete oder anempfohlene Empathie kann, soviel muss Wallace angesichts der tiefen Durchdringung des Dilemmas klar gewesen sein, das Problem ja nicht lösen. Daher etabliert Wallace ja auch die Idee einer umfassenden Wandlung des Selbst. Bleiben am Ende noch zwei Gedanken näher zu fassen; zuerst einmal eine weitere Gegenüberstellung der beiden Autoren: Es scheint nämlich

schwindet, im System aufgeht, vielleicht also die Perspektive des Systems übernimmt oder überhaupt als Erzähler ausfällt, da seine Art des Erzählens nicht mehr sinnvoll ist. 2

Was nun genau das Gegenteil auch sei.

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nützlich, The Pale King nicht nur mit Kafkas poetologischen Überlegungen oder der Rezeption seiner Werke zu beschreiben, sondern konkret mit dem Roman Das Schloß, da hier die Analogien tatsächlich greifbar sind: Wobei wir nochmals betonen möchten, dass Wallace auf keinen Fall einen Roman im direkten Bezug zu Kafka schreibt, dies wäre eine unstatthafte Überinterpretation, es geht eher darum, dass Wallace einen ähnlichen Weg beschreitet und aus diesem Grund ähnliche inhaltliche und auch poetologische Überlegungen sowie Sujets verankert – und Kafka eindeutig als Vorbild eines modernen Expressionismus ansieht; eben diesen, also den neuen Expressionismus, werden wir im Anschluss und zum Ende der vorliegenden Abhandlung umfassend zu bewerten suchen.

Abschließend

Nun also Das Schloß, sicherlich Kafkas komplexester Roman und zudem ein Werk, welches neue Wege zu beschreiten sucht: War die Thematik in den vorigen Romanen und Novellen schon anspruchsvoll genug, so verlässt Kafka mit diesem Werk die eingeführten Sujets und Deutungsaspekte, wird noch vielschichtiger und markiert einen neuen Zugang zu der Problematik. Kafka beschreibt mit diesem Roman letztlich drei Ebenen, einmal die des Hauptprotagonisten, dann die des Schlosses und zuletzt das Dorf: Diese drei Ebenen sind sehr komplex aufeinander bezogen, widersprechen sich zudem gegenseitig; sehen wir allein die Rolle K.s, der Hauptfigur, der zu Beginn in das Dorf kommt und das Schloss aus einem uns nicht vermittelten Grund bezwingen möchte – zu diesem Zweck schlüpft er in die Rolle des Landvermessers und betrügt die Dörfler. Das Schloss wiederum beglaubigt die Lüge K.s und setzt ihn tatsächlich als Landvermesser ein, was die Dörfler aber nicht tun und ihn stattdessen als Lehrer einsetzen. Und so weiter: Die drei Sphären sind eng verknüpft, zugleich aber streng getrennt, wobei alle drei – und dies ist neu – für den Leser gleichermaßen rätselhaft bleiben. War es im Proceß so, dass das Gericht mysteriös war, so agierte Kafka doch mit Josef K. als Anker für den Leser: Seine Perspektive wirkt repräsentativ, weshalb man geradezu automatisch in ihm das Fundament der Ereignisse, die rationale Struktur zu erkennen glaubt. Dass Josef K. aber keinesfalls als ein solcher Anker fungieren kann, das ist der wachsenden Einsicht des Lesers als Aufgabe anempfohlen und wird durch genaues Lesen

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ermöglicht1 – ganz am Ende dann, wenn Josef K. das Todesurteil akzeptiert, wird das Missverhältnis der Fehllektüre offenkundig. Dies gilt für alle Werke Kafkas, auch für Das Urteil, wo die Perspektive den Sohn, Georg Bendemann, fokussiert, weshalb der Leser sich diesem auch anvertraut, doch wird das Vertrauen ja spätestens mit dem Ausbruch des Vaters mehr als zweifelhaft; und es gilt auch für die Verwandlung, in welcher Gregor Samsas Deutung der Familie sich so gar nicht mit den Ereignissen decken will, die im Verlauf der Geschichte ablaufen. Dies zwingt den Leser zur ambivalenten Lektüre, zum Bewusstsein über die Relativität der Ereignisse und präsentierten Weltsicht. Dass man das Werk natürlich immer noch einseitig lesen kann, das beweisen jeden Tag neu die Schulstunden, Universitätsseminare und zudem die vielzähligen politischen Auslegungen, überhaupt die Deutungen, die Kafka für einen bestimmten Zweck lesen – was ja andeutet, dass selbst die Ambivalenz sehr ambivalent gehalten ist. Im Schloß wird dem Leser überhaupt kein Spielraum mehr gelassen, denn K. entpuppt sich schon nach wenigen Sätzen als unzuverlässig, ähnlich mysteriös wie das Schloss selbst und also zuhöchst undurchsichtig. Und war in den Romanen und Novellen zuvor die Welt in zwei Ebenen unterteilt, also beispielsweise das Gericht einerseits und die normale Welt andererseits, in letztere gehört dann auch Josef K., so sind die beiden Ebenen im letzten Roman gleichfalls mysteriös, was dem Leser jedes Vertrauen an tradierte Muster raubt und zutiefst verunsichernd wirkt: Der Roman wirkt sicherlich irritierend und gilt auch deshalb als Kafkas unerbittlichstes Werk. Dabei beginnt alles eigentlich recht unschuldig: Ein Mann, K., betritt nach langer Wanderschaft ein Dorf, wichtiger aber, über dem Dorf thront das Schloss, welchem K. den Kampf angesagt und für welchen er Frau sowie Kinder verlassen hat; wir wissen nicht, warum K. gegen das Schloss vorgehen will und erfahren es auch nicht im Verlauf des Romans. K. – so heißt es dort – habe irgendwo Frau und Kind verlassen. Doch wird nicht gesagt, weshalb er weggegangen ist. Jene normale Alltagswelt des Helden wird also

1

So erklärt er beispielsweise angesichts der anscheinend völlig überraschenden Verhaftung, „gewiß, ich bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr überrascht.“ (Kafka, Franz: Der Proceß, S. 20)

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nicht dargestellt. Aber wir erfahren, daß es sie einmal gegeben hat und daß nun – durch den Einbruch des Außerordentlichen – eine von Grund auf neue Situation entstanden ist.2

Das Vorleben K.s spielt demnach keine Rolle mehr, wie er auch als Charakter an sich keine Rolle spielt: Kafkas konkrete Darstellung hat also nichts mit traditioneller realistischer Erzählweise zu tun. [...] Die Personen werden nicht charakterpsychologisch gekennzeichnet, sondern rollenhaft funktional gesehen, zum bloßen Modell reduziert. Im Grunde findet überhaupt keine Personendarstellung statt. [...] Diese Funktionalität der Gestalten hat gewiß auch mit der einsinnigen Erzählperspektive Kafkas zu tun, derzufolge die Personen nur in der begrenzten Sicht des Helden – eben in den lediglich ihn betreffenden Funktionen – vergegenwärtigt werden.3

Wir verfolgen K.s Eintritt ins Dorf und seine Versuche, das Dorfleben zu verstehen und die Strukturen zu sondieren, die ihn ans Schloss heranführen können. Da alle Versuche fehlschlagen, muss K. sich immer tiefer ins Dorfleben zu integrieren versuchen, was natürlich nicht gelingt, da niemand ihm vertraut. Zudem ist das Dorf ja Teil des Schlosses und daher K. gegenüber schon feindselig oder gar, schlimmer noch, gleichgültig eingestellt. All dies ist wohl sattsam bekannt, weshalb wir nun auf eine Ebene wechseln, die uns näher an den Pale King heranführen wird – es geht um die grundlegende Motivation K.s, die an einer Stelle des Romans ein wenig erhellt, das enigmatische Schweigen also kurzfristig durchbrochen wird; dies geschieht innerhalb des zweiten Kapitels während des Gangs mit Barnabas: Sie gingen, aber K. wußte nicht, wohin; nichts konnte er erkennen. Nicht einmal, ob sie schon an der Kirche vorübergekommen waren, wußte er. Durch die Mühe, welche ihm das bloße Gehen verursachte, geschah es, daß er seine Gedanken nicht be-

2 3

Nagel, Bert: Franz Kafka, S. 144. Ebd., S. 137.

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herrschen konnte. Statt auf das Ziel gerichtet zu bleiben, verwirrten sie sich. Immer wieder tauchte die Heimat auf, und Erinnerung an sie erfüllten ihn.4

Die Störung der zielgerichteten Naivität wird ausdrücklich benannt und was dann folgt, transportiert ein Motiv: Das Kind K. erklettert eine Friedhofsmauer, was ihm an diesem Tag leicht gelingt, obgleich er schon mehrmals gescheitert war und auch nur „sehr wenige Jungen [...] diese Mauer erklettert“ hatten.5 Oben stehend gibt er sich Phantasien der Allmacht hin, denn „niemand war jetzt und hier größer als er.“6 Diese Einschränkung auf die unmittelbare Gegenwart – jetzt und hier – deutet die Hinfälligkeit der Allmacht an, die Relativität jener übergeordneten Position; trotzdem zehrt K. noch Jahre später von diesen Sekunden empfundener Macht: „Das Gefühl dieses Sieges schien ihm damals für ein langes Leben einen Halt zu geben, was nicht ganz töricht gewesen war, denn jetzt, nach vielen Jahren in der Schneenacht am Arm des Barnabas, kam es ihm zu Hilfe.“7 Ein Lehrer schließlich verjagt K. von der Mauer, wobei sich dieser das Knie anschlägt. Ungeachtet der sicherlich vielfältigen Deutungsmöglichkeiten ist doch festzuhalten, dass K. sich an ein Kindheitserlebnis erinnert, welches die Gegenwart in einen Sinnzusammenhang mit der Vergangenheit bringt. Der Wunsch des Kindes, nämlich das Hindernis zu überwinden und über allem zu stehen, wird damit zum Erklärungsmuster der Romanhandlung: Kind und Erwachsener bilden so eine Einheit und etablieren ein Motiv, die außerhalb des eigentlichen Geschehens zu finden ist. Hier wird ein Deutungsmuster angeboten, welches die Eindimensionalität des Protagonisten aufbricht: Ein Mann wird offenbar, der seit seiner Kindheit auf der Suche nach einem Standpunkt ist. Ob dieses Erlebnis ein Trauma etabliert, sei dahingestellt8, doch sind hier Deutung ableitbar, die auch unsere Darstellung des Gesamtwerkes von

4

Kafka, Franz: Das Schloß, S. 49.

5

Ebd.

6

Ebd., S. 50.

7

Ebd.

8

Traumata sind ja auch eine Frage der persönlichen Einstellung, denn was der eine – mir nichts dir nichts – abschüttelt, kann für den anderen traumatische Konsequenzen nach sich ziehen.

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Wallace abbilden. – So möchte K. die in Dorf und Schloss herrschenden Konstruktionen, Muster und Strukturen zuerst verstehen, dann nutzen und schlussendlich auch überwinden – sein Gang auf die Mauer, die Friedhofsmauer9 , ist hier deutliches Symbol des hervorgehobenen, geradezu schwebenden Zustandes: Wenn Schloss und Dorf die Welt abbilden, dann sucht K. die Konfrontation mit dieser Welt. Denn im Gegensatz zu den anderen Protagonisten Kafka’scher Werke ist K. aktiv, er greift an, er bewegt sich – die anderen reagieren, er agiert. Da sein Angriff aber, wie er erkennen muss, des Rückhalts und der Hilfe bedarf, muss er zuerst die Strukturen durchschauen lernen – auch er ist dahingehend in der schon beschriebenen Situation Josef K.s, der seinerseits das Gericht verstehen will, der, so der Geistliche im Domkapitel, das Gericht wahrhaftig und also anders als gewöhnlich verstehen muss. So geht es auch im Schloß darum, die Welt richtig zu verstehen, zu deuten, um auf diese Weise eine Auffassung von ihr zu erlangen. Und so versuchen die Dörfler ihm auch immer wieder die Strukturen zu erläutern, doch K. kann diese nicht verstehen, weil er sein Ziel nicht mehr aus den Augen verlieren kann oder nicht in der Lage ist, diese Welt zu begreifen. Das geplante Ende10 von der schlussendlichen und durchweg ambivalenten Heimkehr in diese Welt – K. wird vom Schloss geduldet, also weder akzeptiert noch verstoßen – markiert nochmals und abermals, wenngleich als Höhepunkt, die Kafka’sche Mär von der Ambivalenz der Welt, in der man auf diese Weise haust, halb vertrieben, halb geduldet: der gelebte Widerspruch in einer Zeit, in welcher man Widersprüche positivistisch zu beseitigen trachtet, in Wahrheit aufzuschichten beginnt und dies in einer Weise, die später dann zum Zusammenbruch führen wird – diesen Zusammenbruch spürt und artikuliert seinerseits Wallace.

9

Was andeutet, dass die Konstruktionen längst beerdigt, die Welt eine tote ist.

10 „Ein Abschlußkapitel hat Kafka nicht geschrieben. Doch hat er es mir einmal auf meine Frage, wie der Roman enden würde, erzählt. Der angebliche Landvermesser erhält wenigstens teilweise Genugtuung. Er läßt in seinem Kampfe nicht nach, stirbt aber vor Entkräftung. Um sein Sterbebett versammelt sich die Gemeinde, und vom Schloß langt eben die Entscheidung herab, daß zwar ein Rechtsanspruch K.s, im Dorfe zu wohnen, nicht bestand – daß man ihm aber doch mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände gestatte, hier zu leben und zu arbeiten.“ (Brod, Max: Nachwort, S. 347).

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Natürlich ist auch die Kafka’sche Sichtweise zuerst einmal eine biographisch intendierte, im Schloß ja ohnehin, reflektiert nämlich die Situation des Juden, der zwischen Assimilation und Zionismus verharrend beiden Alternativen skeptisch gegenübersteht und einen in sich widersprüchlichen Daseinsgrund eruieren muss.11 Und doch dient die spezifische Situation des Westjuden als Symbol einer allgemeinen Entwicklung: Es ist der moderne Mensch, dem – und hier kommen wir nun wieder zu Wallace – letztlich die Authentizität verloren gegangen ist, denn in der Tat geht es ja darum, bricht man die mannigfaltigen und in sich sinnhaften Deutungen herunter, einen Platz in der Welt zu finden und damit einen Bezug zur Welt, der in sich stimmig ist, wobei die Welt selbst nicht mehr stimmt: Wie soll man also sich zu einer Welt verhalten, die kein Verhältnis mehr zu sich selbst hat? In den beiden großen Romanen wird eine Lösung angedeutet, nämlich nicht allein die Akzeptanz des Widerspruchs, sondern das Aufgehen darin – dies meint der Geistliche im Domkapitel und wird auch im Schloß diskutiert, nämlich die Tatsache, dass der Daseinszustand, den K. von Beginn an im Dorf hat, zugleich sein Ziel ist: das ist komisch, wie Wallace vermerken würde. – Kafka ermisst, soviel können wir verallgemeinernd sagen, neben vielen Aspekten vor allem einen originären Zugang zu einem Weltverständnis, welches sich von den herkömmlichen und tradierten Konstruktionen absetzt, was man durchaus als Suche nach dem Originären bezeichnen kann. Wallace hat es in The Pale King auch mit einem System zu sein, einer Art Schloss, wir haben dies schon dargelegt, welches nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und welches sozusagen autark sinnhaft ist – von Außerhalb ist der Sinn nicht immer zu ergründen, doch obliegt die

11 Man muss nachvollziehen, wie tief diese Ambivalenz hier reicht, denn es schwankt der westjüdisch Geprägte zu Kafkas Zeit ja nicht allein zwischen diesen beiden Polen, die Pole selbst sind wiederum ambivalent angelegt: die Assimilation beispielsweise ist in sich zuhöchst widersprüchlich, bedeutet ja Nachahmung und damit Aufgabe des Tradierten, wobei Kafka deutlich vor Augen steht, dass es nicht möglich ist, ein völliges Aufgehen in eine andere Kultur zu betreiben, die Nachahmung wäre also stets nur scheinbar. Und auch der Zionismus als Idee eines Aufgehens in die ostjüdische Tradition kann Kafka nicht behagen, immerhin hat sich der Assimilierte schon auf eine Weise vom Ostjudentum entfernt, welche nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

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Frage nach Sinn oder Unsinn dem Systemgedanken selbst, was das System letztlich unangreifbar macht. Ähnlich dem Schloss oder dem Gericht, ist dieses Finanzamtssystem auf äußere Daten angewiesen – die Beziehung zwischen Finanzamt und Steuerzahler oder besser: Nichtfinanzamt 12 ist ähnlich den Darstellungen in Kafkas Romanen, da auch dort die Menschen zum System kommen und etwas erbitten. Nun führt Wallace dieses System auch mit Hilfe eines als tradiert zu bezeichnenden Charakters ein, nämlich dem postmodern denkenden Wallace, durch den wir die Anfahrt zum Amt als ausgesprochen weitschweifig erzählte Odyssee erfahren: Diese Fahrt zum Amt markiert tatsächlich die Überwindung einer Grenze, beschrieben im 24. Kapitel, durch deren Überschreitung sich die herkömmlichen Denkarten verschieben und irgendwann als obsolet erweisen: Die Daten, also die Menschen, die zum System kommen, werden systematisiert und umgeschrieben; Wallace ändert daraufhin aufgrund einer Verwechslung seine Identität, ähnlich zu K., der zum Landvermesser wird, verliert wie dieser buchstäblich sein altes Leben – die Verwechslung mit einem zweiten David Wallace bringt nicht das System durcheinander, sondern die Identitäten und reduziert den Charakter auf die systemkohärenten Daten. Es ist offenkundig, dass hier schon das allmähliche Verschwinden des Wallace-Charakters eingeleitet wird, durch welches zudem die herkömmliche Beschreibungstechnik verschwindet. Ähnlich wie im Falle von Kafkas Schloß erhalten wir nun einige Informationen über das Leben inmitten des Systems, vor allem, wie man beschaffen sein muss, um es auszuhalten. Was in einigen Schattierungen angedeutet wird: Einige Protagonisten tricksen sich durch die Langeweile, empfinden diese also als eine solche, andere wiederum können sich kurzfristig – man denke an Fogles Zahlenkombination – ins System und in den Systemgedanken einschreiben, andere, Drinion beispielsweise, sind schon völlig in diesem Denken aufgegangen und ertragen jenes Dasein nicht mehr nur, sondern scheinen evolutionär für es gemacht. Wie beim Schloß haben wir es mit einem umfassenden System zu tun, von dem alle Protagonisten abhängen – und Wallace nun geht in der bekannten Art seiner journalisti-

12 Interessanterweise die einzig adäquate Bezeichnung in diesem Fall, wie ja auch die Systeme in Kafkas Romanen aus denen bestehen, die Teil davon und es eben nicht sind, wobei letztere die Nichtteilnehmer wären.

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schen Arbeiten daran, dieses System zu beschreiben und vor allem die Frage zu beantworten, wie man beschaffen sein muss, um in diesem System nicht nur zu überleben, sondern eben lebenswert zu leben. – Streng genommen interessiert dies ja auch die Protagonisten in Kafkas Romanen, obgleich die Probleme natürlich anders angelegt sind, dennoch bleibt als Quintessenz, dass hier jeweils eine Figur einen Standpunkt in einer Welt sucht, die nicht mehr nach den herkömmlichen Definitionen funktioniert – bei Wallace meint dies die Langeweile und das von uns angedeutete Dilemma, bei Kafka meint dies die Akzeptanz eines Lebens in der Ambivalenz, letztlich der Unauthentizität als neuer Authentizität. Bedenkt man dies und besieht die Werke beider Autoren, so scheint es in der Tat nicht sonderlich gewagt, die Ausgangslage der beiden als diametral zu sehen: Denn mit Kafka beginnt ja eine Entwicklung, die zur Postmoderne führen und dort wohl auch enden wird; dies nimmt Wallace wiederum auf und müht sich, all die Systeme zu vergessen und gegensteuernd zurück zu der in Kafkas Zeiten verlorengegangener Naivität zu gelangen, zurück zur Unschuld also. Abschließend möchten wir anmerken, dass beide Autoren in ihren eigentlichen Ansinnen gescheitert sind: Weder hat es Kafka vermocht, in seinen Werken eine alternative Daseinssituation zu verankern – man denke an den Schlosseroberer K., der kurz vor seinem Tod die Duldung als Belohnung erhalten sollte: schlimmer und nachdrücklicher kann man im Grunde kaum scheitern – noch in seinem Leben: Stets schwankend zwischen den sich bietenden Extremen, Zionismus oder Assimilation, hat er sich ängstlich mit einer möglichen Freiheit konfrontiert gesehen, die für ihn unerträglich und unmöglich zu füllen war; wobei es durchaus interessant ist, dass Kafka am Ende seines Lebens kurzfristig ein so gewünschtes Dasein gefunden zu haben scheint: Immerhin findet er in Berlin ein Leben mit Frau und literarischer Produktivität. Doch ist es ein Leben, welches allein aufgrund der Krankheit funktioniert, eine Krankheit, die in ähnlicher Weise in The Pale King die Menschen für das Finanzamt vorbereitet: Krankheit also als vehemente Krise, durch welche die Haltung zur Welt sich wandelt und man die Monotonie nicht mehr als eine solche empfindet, sondern als geradezu beruhigenden Verlauf des Lebens. – Dies kann es aber beiderseits nicht gewesen sein: Kafka weiß sehr wohl, dass diese Berliner Idylle trügerisch und nur scheinbar ist, allein aus dem Grund glückt, weil er seine Ansprüche nicht verändert, sondern sozusagen herabgesetzt, schwach gewor-

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den nun diesen Alternativweg eingeschlagen hat, ohne dies mit sich und der Welt abgesprochen zu haben; daher auch die stets lauernde Angst vor dem Rückschlag: Die Situation der Freiheit ist für Kafka unerträglich, wir haben dies gezeigt, weshalb er Berlin nur erträgt und genießt, indes sehr genau wissend, dass es zeitlich begrenzt sein wird. Wie ja auch die traumatischen Erlebnisse der Protagonisten in The Pale King eine Notlösung sind: Es geht darum, einen allgemeinen Standpunkt zu finden, nicht den einer rein individuellen Krisensituation. Doch man ahnt ja, aus welchem Grund Wallace hier ansetzt, ist doch die Einführung einer neuen Perspektive beabsichtigt, mit deren Hilfe ein solcher Standpunkt beschrieben und dadurch zugleich etabliert werden kann. Dies gelingt Wallace nicht wirklich, da seine Versuche – Drinion sei hier genannt – allzu abstrakt scheinen und damit bei weitem zu theoretisch angelegt. Es ist ein erzwungenes Konzept, welches Wallace angestrengt und anstrengend in ein poetologisches und letztlich existentielles Korsett zu pressen trachtet. Als Ausweg scheinen beide Ideen wenig praktikabel und kaum umsetzbar: Der Mensch kann, im Falle Kafkas, den gelebten Widerspruch nur im Sinne einer schizophrenen Aufspaltung durchstehen; hervorstechendes Beispiel wäre die Doppelmoral, die ja den Widerspruch darstellt, aber nicht auslebt, sondern in der Trennung als Trennung durchhält: Dies ist jedoch nicht Kafkas eigentliche Intention. Wallace hingegen versucht eine neue Naivität zu etablieren und geht zu diesem Zweck erst einmal vom Trauma aus, was The Pale King sicherlich zu einem der subtileren Romane des Elften September gestaltet: Es wird die Frage angeschlossen, ob es nun vorbei sein kann mit der postmodernen Spielerei, mit der ironischen Distanzierungssucht. Antwort: Es ist nicht vorbei. – Die Anschläge haben wohl für kurze Zeit ein Innehalten bewirkt, nicht aber das Dilemma schlagartig geerdet hin zu einer neuen Naivität. Sicherlich wurde es in Amerika fundamentalistischer, rigoroser, ehemals Sakrosanktes wurde hinterfragt und die Religion zu stärken versucht, doch der weitaus durchschlagendste Diskurs nach den Anschlägen ist über ein Jahrzehnt später ein anderer, nämlich die Glaubwürdigkeitsfrage: Im Internet und nicht nur dort kursieren Verschwörungstheorien, die interessanterweise bei einer oberflächlichen Internetrecherche zuerst in den Anfragen erscheinen und den Diskurs so maßgeblich beeinflussen. Dies ist ohnehin ein Trend seit einigen Jahren, durch welchen ja auch beispielsweise die Mondlandung umgedeutet wird: Im Grunde kann die Mondlandung kaum

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noch ohne den Hinweis auf den Verschwörungsdiskurs genannt werden, was einer ironischen Distanzierung zweiter Ordnung entspricht – hat man sich vorher über das Ereignis ironisch auseinander- und also von bestimmten Facetten dieses Geschehens abgesetzt, so geht es heutzutage um die schiere Existenz dieses Ereignisses: eine abermalige Verschärfung des Dilemmas ist hier abzuleiten – alles Stoff für Wallaces Literatur, hätte er überlebt. Auch kann die manchmal diagnostizierte Fanatisierung Amerikas nicht als Umkehrung bezeichnet werden, denn letzten Endes sind nur Gruppen aufgewiegelt worden, die ohnehin mehr als bereit dazu waren. – Doch letztlich ist dies ja nicht unser Thema, weshalb wir nun die politische Ebene verlassen und am Ende anmerken, dass Kafka und Wallace natürlich nicht vollständig gescheitert sind: Literarisch haben sie durchaus neue Wege beschritten, neue Perspektiven eingeführt oder zumindest einzuführen versucht: Es ist hierbei von Interesse, dass beide Autoren in der Erzählperspektive neue Wege sowie originäre Konzepte zu beschreiten versuchen, was auch in der Forschung so gesehen wird – über die Einsinnigkeit von Kafka müssen wir keine weiteren Worte verlieren, auch über Wallaces Art, journalistisch neue Sichtweisen zu benennen, also zwischen Naivität und Ironie schwankend zu berichten, hat durchaus Schule gemacht. Doch literarisch gesehen ist The Pale King sicherlich enttäuschend: Wallace umkreist die Problematik, so vermeint man, ist aber noch nicht zum Kern des Dilemmas vorgedrungen. Wobei nochmals gesagt sei, dass eine Lösung des Dilemmas momentan kaum möglich scheint, ein neuer Expressionismus nicht einfach so entwickelt werden kann. Wir werden also noch warten müssen.

Epilog

Kehren wir nochmals kurz zu den beiden Vortragenden zurück, beide haben ja ihre dankenswerterweise recht kurz gehaltenen Reden nun beendet, die Pulte bereits verlassen und sind beiderseits im düsteren Hintergrund der jeweiligen Bühnen verschwunden, indes das Mikrofon in einem Fall noch verhalten summt. Noch ist auch das Publikum still. Gelegenheit demnach, die Reden sacken zu lassen. „Vor den ersten Versen der ostjüdischen Dichter“, so begann bekanntlich Kafka, „möchte ich Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, noch sagen, wie viel mehr Jargon Sie verstehen als Sie glauben.“1 Eine gewagte Behauptung, die Kafka in typischer Manier wenig später zurücknahm, nämlich auf die historische, kulturelle und auch soziale Entfernung der Hörer vom Jargon hinweisend erklärte: „Mit all dem denke ich die Meisten von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, vorläufig überzeugt zu haben, daß Sie kein Wort des Jargon verstehen werden.“ 2 Verständnis, so Kafka, sei in der Hinsicht keine intellektuelle und also rein geistige Anlage, sondern viel mehr eine Frage der Aufrichtigkeit, der unbewussten Offenheit, ja, der Naivität: Ganz nahe kommen Sie schon an den Jargon, wenn Sie bedenken, daß in Ihnen außer Kenntnissen auch noch Kräfte tätig sind und Anknüpfungen von Kräften, welche Sie befähigen, Jargon fühlend zu verstehen. Erst hier kann der Erklärer helfen, der Sie beruhigt, so daß Sie sich nicht mehr ausgeschlossen fühlen und auch einsehen, daß Sie nicht mehr darüber klagen dürfen, daß Sie Jargon nicht verstehen. Das ist

1

Kafka, Franz: Einleitungsvortrag über Jargon, S. 188.

2

Ebd., S. 190.

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das Wichtigste, denn mit jeder Klage entweicht das Verständnis. Bleiben Sie aber still, dann sind Sie plötzlich mitten im Jargon.3

Den Jargon solle man fühlen, spüren und also abseits der gewohnten Logik und Konstruktion verstehend vollziehen – wir nickten an dieser Stelle, kannten dies im Grunde ja schon aus der Prosa, aus dem Werk, das an diesem Februartag des Jahres 1912 erst noch im Entstehen begriffen war, welches aber schon in diesem Vortrag angedeutet wurde. Das Verstehen des Jargons ist Vorgriff auf die poetologische Konstante Kafkas, soviel war sogleich verständlich, die zu erreichende Epiphanie eben auch ein Moment nicht allein der Jargon-Erkenntnis, sondern der Selbstfindung: Dann werden Sie die wahre Einheit des Jargon zu spüren bekommen, so stark, daß Sie sich fürchten werden, aber nicht mehr vor dem Jargon, sondern vor sich. Sie würden nicht imstande sein, diese Furcht allein zu ertragen, wenn nicht gleich auch aus dem Jargon das Selbstvertrauen über Sie käme, das dieser Furcht standhält und noch stärker ist. Genießen Sie es, so gut Sie können! Wenn es sich dann verliert, morgen und später – wie könnte es sich auch an der Erinnerung an einen einzigen Vortragsabend halten! –, dann wünsche ich Ihnen aber, daß Sie auch die Furcht vergessen haben möchten. Denn strafen wollten wir Sie nicht.4

Als sei der Jargon Medium der Archetypen im Sinne Jungs, sei auf alle Fälle Katalysator einer Wahrheitsfindung, die nur kurzzeitig andauern kann, wie ja auch der Schreibprozess irgendwann beendet und der gesuchte, ersehnte Zustand verlassen werden muss. – Nein, Kafka wollte nicht strafen, auch nicht mit dem Jargon, er wollte uns vorbereiten auf eine bestimmte Geistesanspannung, die abseits der herkömmlichen Bewusstseinszustände abläuft, eine Art von Naivität meinend, ein bewusstes Unbewusstes – am Ende wäre dann die Erkenntnis des Selbst Lohn der Mühe, gepaart mit der Furcht, die mit einer derartigen Erkenntnis notgedrungen einhergeht. Nun, sehen wir uns in dem doch recht kleinen Saal des Jüdischen Rathauses zu Prag um, erkennen gerade noch Franz Kafka in der Nähe auf einem unscheinbaren Stuhl Platz nehmen und klatschen wie alle anderen angesichts des Künstlers Jizchak Löwy, der nun mit dem ersten Gedicht be-

3

Ebd., S. 193.

4

Ebd.

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ginnt. Obgleich der Künstler sich müht, gähnen einige, blicken blicklos andere, herrscht insgesamt eine eher museale Angespanntheit. Furcht scheint wiederum niemand zu verspüren. Auch Kafka scheint dies zu merken, so sieht er weder nach links noch nach rechts, wird sich in den nächsten Jahren auch weniger mit dem Jiddischen beschäftigen und den Kontakt zu Löwy vernachlässigen. Man mag insgesamt in dieser Prager Gesellschaft das Jiddische und überhaupt Ostjüdische nicht sonderlich, selbst Kafkas Eltern sind dem heutigen Vortragsabend ferngeblieben. Die Menschen sind nicht bereit, sich auf Kafkas Vorschlag einer naiven Toleranz und linden Erweckung einzulassen. Die Konstruktionen des herkömmlichen Zuhörens sind nicht einfach so auszuhebeln – und Kafka, wir können dies ja aus der Nähe in seinem Minenspiel erkennen, weiß sehr wohl, dass er an diesem Abend gescheitert ist. Wie dies auch David Foster Wallace noch während seines Vortrages festgestellt hat – so können wir vielleicht seinen Gesichtsausdruck interpretieren, denn sonderlich zufrieden wirkte auch er am Ende seiner Rede nicht, eher missmutig. „Of course“, so begann er ein wenig schleppend, „the main requirement of speeches like this is that I'm supposed to talk about your liberal arts education's meaning, to try to explain why the degree you are about to receive has actual human value instead of just a material payoff.“ Doch auch Wallace lügt, wie ja auch Kafka zu Beginn seiner Rede nicht ganz die Wahrheit sagte: Den Jargon verstehen, das geht eben gerade nicht, erfühlen muss man ihn. Und natürlich wird Wallace in seiner Rede doch das Klischee der Abschlussrede bemühen, zitieren, kopieren und also nutzen – es führt ja kein Weg daran vorbei, denken wir allein an eine der letzten Sätze: The really important kind of freedom involves attention and awareness and discipline, and being able truly to care about other people and to sacrifice for them over and over in myriad petty, unsexy ways every day. That is real freedom. That is being educated, and understanding how to think. The alternative is unconsciousness, the default setting, the rat race, the constant gnawing sense of having had, and lost, some infinite thing.

Dies war in der Tat eine ganz und gar gewöhnliche Erkenntnis, bieder vorgetragen und allein durch die immer wieder behauptete Absetzung vom Herkömmlichen genießbar. Einige im doch recht jungen Publikum schüttel-

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ten ja auch die Köpfe, andere lachten zynisch. Wir, die wir über die Zukunft wissen, wir also verstehen, warum die Rede heutzutage so berühmt ist: weil sie trotz des biederen Inhalts so lässig rüberkommt, weil der Redner sich getötet hat und natürlich die Wahrheit sagt. Allein, das Problem dieser Wahrheit ist eben, dass sie so langweilig ist und eine Naivität einfordert, die man heutzutage wirklich nicht mehr ertragen, geschweige denn aushalten kann. Und hier treffen sich die beiden Redner im Geiste abermals und endgültig, nämlich in ihrer grundlegenden Aussage: Während Kafka die Toleranz angesichts des Ostjüdischen zum Zwecke der Selbstfindung und Selbstoptimierung vorschlägt, eine Toleranzhaltung, die vor allem auf der bewussten Verdrängung des Herkömmlichen beruht, scheint er ja nicht allein seine Faszination vom Jiddischen zu artikulieren, immerhin reflektiert er zu jener Zeit über die Idee der Kleinen Literaturen und entwickelt sozusagen nebenbei seinen poetologischen Durchbruch, der dann im Herbst dieses Jahres folgen wird. Jene individuellen Motive erklären aber nicht sein Interesse, den Jargon als Teil des Jiddischen einem größeren Publikum vorzustellen – könnten hier rebellenhafte Reflexe gegen den allgemein herrschenden und sich vergrößernden Antisemitismus Auslöser sein? Man weiß es nicht, darf aber sicherlich so vermuten. Und muss dann abermals das Ansinnen Kafkas als gescheitert beschreiben, denn in der Tat haben sich die Menschen weder dem Jiddischen gegenüber geöffnet, noch ist es gelungen, seine naive Vorstellung psychoanalytischer Ansichten außerhalb des heimischen Schreibtisches auch nur annähernd zu beschreiben: Kafka meint die vollständige Öffnung des Leibes und der Seele, die vollkommene Aufgeschlossenheit gegenüber einer Entität, womit eine Art Selbsterkenntnis verknüpft ist – eine Art von Offenbarung, die furchterregend ist und damit unbedingt therapeutisch, jedenfalls für Kafka. All dies gemahnt einmal mehr an Wallace, jedoch eindringlicher, eindeutiger: Es geht hier, man spürte es schon während beider Vorträge, um mehr als um reine Poetologie, es geht um die Bestimmung der Kunst, um die Stellung des Kunstschaffenden in der Gesellschaft.

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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