Bürgerliche Alltagswelt und pietistisches Denken im Werk Hölderlins: Zur Kritik des Hölderlin-Bildes von Georg Lukács 9783110920727, 9783484350106


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German Pages 239 [240] Year 1983

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Table of contents :
VORWORT
1.0 EINLEITUNG
1.1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit
1.2 Begründung des methodischen Vorgehens
1.3 Bürgerliche Alltagswelt und pietistisches Denken im Werk Hölderlins
2.0 GESELLSCHAFTSBILD UND GEGENWARTSBEZUG IM ROMAN »HYPERION« UND DEM TRAUERSPIEL »DER TOD DES EMPEDOKLES«
2.1 Gegenwartskritik im »Hyperion«
2.2 Gegenwartskritik in »Der Tod des Empedokles«
3.0 HÖLDERLIN IM KLASSIKBILD VON GEORG LUKACS
3.1 Geschichtsbild und Literaturtheorie bei Georg Lukacs
3.2 Die Interpretation der Gegenwartskritik in Hölderlins Werk durch Georg Lukacs
3.3 »Mystik« und postkapitalistische Perspektive bei Hölderlin: Kritik des Ansatzes von Georg Lukács
4.0 GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND MODELLE GESELLSCHAFTLICHER UTOPIE IM ROMAN »HYPERION« UND DEM TRAUERSPIEL »DER TOD DES EMPEDOKLES«: DIE AUSLASSUNGEN DES ESSAYS VON GEORG LUKACS
4.1 Der Einheitsgrund der Welt als »Seyn, im einzigen Sinne des Worts«
4.2 Der Zustand der Gegenwart als Verlust der »seeligen Einigkeit«
4.3 Erkenntnis der »göttlichen Natur« als Bedingung gesellschaftlicher Veränderung: menschliche Zukunft als bewußte Neugestaltung der erinnerten »Einigkeit«
4.4 Das Modell zukünftigen Lebens im Roman »Hyperion« und im Trauerspiel »Der Tod des Empedokles«
5.0 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK AUF VERBLEIBENDE FRAGESTELLUNGEN
BIBLIOGRAPHIE
PERSONENREGISTER
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Bürgerliche Alltagswelt und pietistisches Denken im Werk Hölderlins: Zur Kritik des Hölderlin-Bildes von Georg Lukács
 9783110920727, 9783484350106

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 10

Meinhard Prill

Bürgerliche Alltagswelt und pietistisches Denken im Werk Hölderlins Zur Kritik des Hölderlin-Bildes von Georg Lukacs

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983

Meinen

Eltern

Redaktion des Bandes: Georg Jäger

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Prill, Meinhard: Bürgerliche Alltagswelt und pietistisches Denken im Werk Hölderlins : zur Kritik d. Hölderlin-Bildes von Georg Lukacs / Meinhard Prill. - Tübingen : Niemeyer, 1983. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 10) NE: GT ISBN 3-484-35010-5

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten/Allgäu Hinband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

VIII

1.0 EINLEITUNG

1

1.1

Problemstellung und Aufbau der Arbeit

4

1.2

Begründung des methodischen Vorgehens

1.3

Bürgerliche Alltagswelt und pietistisches Denken im Werk

11

Hölderlins 2 . 0 GESELLSCHAFTSBILD U N D GEGENWARTSBEZUG

17 IM ROMAN

R I O N « U N D DEM TRAUERSPIEL » D E R T O D DES EMPEDOKLES«

»HYPE. . .

21

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3

Gegenwartskritik im »Hyperion« Kritik der »städtischen« Lebensform Kritik des »Bergvolks« Kritik der »Deutschen«

21 22 31 35

2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3

Gegenwartskritik in »Der Tod des Empedokles« Kritik der Lebensform der »Agrigenter« Empedokles als anerkannter Erzieher des Volkes Problematik des Erziehungskonzepts

40 40 44 47

3 . 0 HÖLDERLIN IM KLASSIKBILD VON GEORG LUKÁCS

3.1 Geschichtsbild und Literaturtheorie bei Georg Lukács . . . 3.1.1 Die bürgerliche Struktur von Hölderlins gesellschaftlicher Gegenwart 3.1.2 Zum Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und künstlerischer Gegenständlichkeitsform 3.1.3 Hölderlins Werk als Ausdruck der Ideale des revolutionären Bürgertums Die Interpretation der Gegenwartskritik in Hölderlins Werk durch Georg Lukács 3.2.1 Die Umdeutung der Gegenwartskritik in eine Kritik des einsetzenden Kapitalismus: Arbeitsteilung und Verdinglichung . .

53

55 57 63 69

3.2

74 74 V

3.2.2 Die Umdeutung der Gegenwartskritik in einem Aufruf zur Revolution: Hölderlin als Jakobiner 3.2.3 Revolutionäres Scheitern und deutsche Klassenverhältnisse: Hölderlins proletarische Parteinahme 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4

»Mystik« und postkapitalistische Perspektive bei Hölderlin: Kritik des Ansatzes von Georg Lukács Zur politisch-gesellschaftlichen Situation in Württemberg im ausgehenden 18. Jahrhundert Die Problematik des Kapitalismusbegriffs und der Verdinglichungstheorie von Georg Lukács Zur Geschichtlichkeit der Literatur Lukács und der deutsche Idealismus: zum proletarischen Telos der Geschichte

81 89 92 94 110 115 116

4 . 0 GESCHICHTSPHILOSOPHIE UND MODELLE GESELLSCHAFTLICHER UTOPIE IM ROMAN » H Y P E R I O N « UND DEM TRAUERSPIEL » D E R TOD DES EMPEDOKLES« : DIE AUSLASSUNGEN DES ESSAYS VON GEORG LUKÁCS

Der Einheitsgrund der Welt als »Seyn, im einzigen Sinne des Worts« 4.1.1 Das Kind als »göttlich Wesen« 4.1.2 Die Kindheit der Gattung: das »Volk der Athener« . . . . 4.1.3 Zum Zusammenhang von geschichtsphilosophischer Reflexion und bürgerlicher Lebenswelt

119

4.1

Der Zustand der Gegenwart als Verlust der »seeligen Einigkeit« 4.2.1 Die Fixierung der »Dissonanzen« durch die Beschränktheit der Gegenwartsgesellschaft 4.2.2 Die Fixierung der »Dissonanzen« durch den Ausdifferenzierungsprozeß der Gegenwartsgesellschaft

120 124 126 130

4.2

4.3

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

Erkenntnis der »göttlichen Natur« als Bedingung gesellschaftlicher Veränderung: menschliche Zukunft als bewußte Neugestaltung der erinnerten »Einigkeit« »Total-Eindruk« Die Wiedergeburt des Menschen in der »Liebe« Die Erlösung des Volkes durch die »Erzieher« Die Erlösung des Individuums im Tod

Das Modell zukünftigen Lebens im Roman »Hyperion« und im Trauerspiel »Der Tod des Empedokles« 4.4.1 Das liberalistische Staatsmodell 4.4.2 Religiöses Bewußtsein als integrative Kraft des gesellschaftlichen Lebens 4.4.3 Die vorkapitalistische Basis des Zukunftsmodells

141 145 150

158 159 164 170 182

4.4

VI

186 187 192 202

5 . 0 Z U S A M M E N F A S S U N G U N D A U S B L I C K AUF VERBLEIBENDE FRAGESTELLUNGEN

210

BIBLIOGRAPHIE

216

PERSONENREGISTER

228

VII

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die bei Prof. Dr. Jürgen Scharfschwerdt entstand und im Wintersemester 1981/82 an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität M ü n c h e n eingereicht wurde. O h n e die inhaltliche Diskussion mit Prof. Scharfschwerdt wie die Solidarität und konstruktive Kritik vieler Freunde wäre dieses Buch nicht entstanden. Stellvertretend f ü r viele danke ich besonders Barbara Babitz, Reinhold Eckstein, Bernhard Hille, Klaus Hübner, Gernot Mühlbauer, Jürgen Nath und Klaus Schmidt. H e r r n Prof. Dr. Georg Jäger bin ich f ü r die A u f n a h m e der Arbeit in die Reihe »Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur« verpflichtet. August 1982

VIII

Meinhard Prill

1.0 Einleitung

Es war das Verdienst des französischen Germanisten Pierre Bertaux, Ende der sechziger Jahre in der bundesrepublikanischen Hölderlin-Forschung das Thema des »politischen«, des am Ereignis der Französischen Revolution Anteil nehmenden Dichters Hölderlin zu einem anerkannten Diskussionspunkt erhoben zu haben. 1 Bertaux selbst verstand seine Thesen als Angriff auf die vorherrschende, geistesgeschichtlich orientierte Rezeption des Werkes, in der bereits für Adorno die »Beliebigkeit des marktgängigen Tiefsinns« (Adorno 1965, 156)2 waltete und welche die Frage nach dem historisch-gesellschaftlichen Kontext von Hölderlins Dichtung im besonderen und nach dem Bedingungsverhältnis von Gesellschaft und Literatur im allgemeinen weitgehend ignoriert hatte, um so ein unpolitisches Bild des »reinsten Dichters« 3 zu konservieren: »So gelang es, über die politische Bedeutung und Aktualität von Hölderlins >zeitloser< Botschaft methodisch hinwegzusehen, indem man die von ihm erlebten historischen Umstände, in denen und aus denen heraus er dichtete, nicht in Betracht zog.« (Bertaux 1969, 9).

Noch in seiner Erwiderung betont Paul Böckmann als einer der Vertreter der angegriffenen Position unter Hinweis auf die allgemeine Funktion von Kunst, das bleibende »Eigengewicht menschlicher Erfahrungen« (Böckmann 1970, 84) in den konkreten, zeitlich-räumlichen Besonderheiten des Erlebens festzuhalten, die praepolitische, am >Wesen< des Menschen orientierte Interpretation der Französischen Revolution durch Hölderlin:

1

Die Diskussion resultierte aus dem Aufsatz von Bertaux 1967/68, in erweiterter Fassung vorliegend bei Bertaux 1969. Die These vom Jakobiner Hölderlin hatte davor bereits Minder 1966/67 vertreten. 2 Literaturangaben im Text mit Autor, Erscheinungsjahr und Seitenzahl; die Werke finden sich in der Bibliographie vollständig aufgeführt. Hölderlin wird zitiert nach der von Beißner herausgegebenen Großen Stuttgarter Ausgabe (STA Band, Seitenzahl). Zitate aus dem Essay von Georg Lukács, Hölderlins Hyperion (1934) werden durch die Sigle L gekennzeichnet. Werkausgaben werden angeführt: Verfasser, WW Band, Seitenzahl, die Marx-Engels-Werkausgabe (Berlin/DDR 1956ff.) wird zitiert: MEW Band, Seitenzahl. Hervorhebungen in Zitaten durch die Autoren werden durch >.. .< wiedergegeben. 3 Beißner im Geleitwort zur Neuausgabe von Michel 1963, 1.

1

»Die durch die Revolution erregten Erwartungen werden damit auf ihre individuellen Bedingungen und ihren menschlichen Sinn hin befragt; den Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden die Grunderfahrungen eines persönlichkeitsbestimmten Daseins vorgeordnet« (Böckmann 1970, 95).

Da die Beziehung auf die »Grunderfahrungen«, was immer auch darunter verstanden werden kann, alle historisch-empirischen Besonderheiten letztlich transzendiert, geraten diese nur insofern in das interpretatorische Blickfeld, als sie den Stoff zu diesem Transformationsprozeß abgeben. Die Qualität von Kunst besteht darin, abgelöst von der Erscheinungsebene politisch-gesellschaftlicher Zufälligkeiten, das Allgemeinmenschliche zu thematisieren. Dagegen opponiert Bertaux, wenn er Hölderlin ein unmittelbares politisches Handlungsinteresse unterstellt, das sich aufgrund des bestehenden staatlichen Zensurapparates nur verschlüsselt im Werk ausdrücken kann, weshalb er die subjektive Intention des Dichters rekonstruieren will; ausdrücklich erklärt Bertaux, daß er sich » . . . redlich bemühe, die >Absicht< Hölderlins zu erkennen und einsichtig zu machen.« (Bertaux 1969, 10)

Dazu versucht er, die »Umstände« (Bertaux 1969, 9) herauszuarbeiten, unter denen Hölderlins Werke entstanden und er sieht dessen politisches Denken völlig geprägt vom Ereignis der Französischen Revolution. Aus den Biographien von politischen aktiven Freunden und Bekannten des Dichters oder auch von ihm persönlich nicht bekannten Landsleuten, die für die Revolution Partei ergriffen, zeichnet er ein Stimmungsbild der politischen Situation im Territorium Württemberg des ausgehenden 18. Jahrhunderts, dem ohne weitere Vermittlung schließlich auch Hölderlin zugeordnet wird, indem Bertaux einen Konsens zwischen ihm und seinen revolutionär gesinnten Freunden annimmt, was er durch briefliche Äußerungen des Dichters zu belegen versucht: »Hölderlin gehört der Gesinnung nach zu den deutschen Jakobinern; durch sie war er über die Ereignisse in Frankreich unterrichtet.« (Bertaux 1969, 13)

An der These des Jakobinertums und der damit verbundenen Intention einer revolutionären Umwälzung des staatlich-institutionellen Systems des Herzogtums 4 entzündete sich die bundesdeutsche Diskussion, in der die Tatsache der Bedeutung der Revolution für die Person und das Werk Hölderlins nicht mehr bestritten wurde; die Repliken 5 kreisten um die Frage, welche politische 4

Bertaux 1969, 113, wiederholt bei Bertaux 1981, 334. Im Sinne von Bertaux argumentieren auch Jäger 1973 und Schuffels 1977. 5 Neben den im Text erwähnten Beiträgen von Böckmann 1970 und Beck 1967/68 ist noch der Aufsatz von Ryan 1968 zu nennen, der Hölderlins Rezeption der Revolution vermittelt sieht durch dessen Geschichtsphilosophie und keine unmittelbarpolitische Interessenslage des Dichters konstatiert, worin ihm Malsch 1969/70 weitgehend folgt, sowie von Link 1969/70, der Hölderlin als girodistischen, »liberalen Revolutionär« (Link 1969/70, 182) etikettiert; auch Prignitz 1976, 141, stuft den Dichter als »Liberalen« ein. Thurmair 1980, der ebenfalls eine unmittelbare revo-

2

Gesinnung dem Dichter zuzuschreiben sei. In einer ebenfalls auf die Briefe sich stützenden Zusammenschau der historischen Entwicklungsstationen der Revolution und der Stellungnahmen Hölderlins versucht Adolf Beck eine Modifikation der Thesen von Bertaux; er sieht die Sympathien des Dichters auf Seiten der Girondisten und betrachtet ihn als »Republikaner« : »Die Republik und das von ihr verbürgte >Menschenrechtim tiefsten Herzen< Demokrat, Republikaner.« (Beck 1 9 7 6 / 6 8 , 47).

Es bleibt allerdings die Bestimmung einer politischen Gesinnungshaltung abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob sie überhaupt zu verifizierbaren Aussagen gelangen kann - vor allem dann problematisch und spekulativ, wenn sie über die weitgehend emotional nur nachvollziehbare Verortung im »tiefsten Herzen« des Dichters nicht hinausgelangt und am Werk selbst die Inhalte diese poltische Haltung zu benennen ihr nicht gelingt. Welche »Freiheit«, welche »Republik« der Dichter jakobinisch-revolutionär oder girondistisch-reformerisch durchsetzen will, bleibt ungeklärt, sofern der Nachweis im Werk selbst nicht geführt werden kann; gerade dies aber leisten weder Beck noch Bertaux, weshalb ihre Ergebnisse austauschbar geraten und letztlich an das vorwissenschaftlich-assoziative Begriffsverständnis des Rezipienten appellieren. Aufschlußreich in diesem Sinne das Resümee einer solchen Gesinnungsprüfung durch Kurz 1975, der analog zu Beck 1967/68 verfährt: »Hölderlins girondisme war jedoch weniger ein dezidiertes politisches Programm, sondern wie bei vielen seiner Zeitgenossen, eine atmosphärische Verbindung von demokratischen Überzeugungen, Sehnsüchten, Ängsten, Hoffnungen und Einschätzungen der realen Möglichkeiten in Deutschland.« (Kurz 1975, 129).

Ein Moment dieser Unbestimmtheit begründet sich darin, daß ein Verfahren, das die politische Gesinnungs- und Problemlage eines Autors aus den Bedingungen der von ihm erlebten »historischen Umstände«, erschließen will, sich jener Kriterien noch nicht versichert hat, welche die Rekonstruktion der persönlich-gesellschaftlichen Erfahrungswirklichkeit des Dichters in der für ihn maßgeblichen Differenziertheit erlauben würde; deshalb bleibt jeder Darstellungsversuch der historischen Realität viel zu allgemein und zu plakativ, als daß sich daraus eine bestimmte Interessenslage des Dichters rationalnachprüfbar ableiten ließe. Bertaux kann - und dies gilt entsprechend für die lutionäre Intention Hölderlins bestreitet, kann daher bereits konstatieren, daß eine Ablehnung der jakobinischen Parteinahme des Dichters weitgehend gesichert sei (Thurmair 1980, 90f.). Dagegen verfolgt der Aufsatz von Scharfschwerdt 1971, in dem auf die pietistischkleinbürgerliche Interpretation der Revolution in den Briefen Hölderlins hingewiesen wird, eine literatursoziologische Fragestellung, der auch die vorliegende Arbeit verpflichtet ist; auf die Ergebnisse dieser Untersuchung wird noch zurückgegriffen.

3

von Beck 1967/68 und Kurz 1975 getroffene, auf einer kursorischen Analyse der Briefe beruhende politische Charakterisierung - aus der Beschreibung politischer Lebensläufe von Personen im Umfeld Hölderlins nicht erklären, weshalb dieser darum eine ebenfalls revolutionäre Haltung einnehmen soll und welche konkreten Ziele er damit verbindet; noch kann er dies am Werk selbst inhaltlich nachweisen, denn seine Interpretation von Textabschnitten eine geschlossene Analyse eines Werkes findet sich nicht - bewegt sich immer schon in einem Zirkel, da gerade hier gezeigt werden soll, was vorher als Voraussetzung der dichterischen Tätigkeit behauptet worden war: seine jakobinisch-revolutionäre Gesinnung.

1.1 Problemstellung und Aufbau der Arbeit Nun steht Bertaux mit seinen Ausführungen in einer deutschen Tradition der Hölderlin-Interpretation, die methodisch sehr viel bewußter eine Bestimmung der historischen Umstände< zu leisten beanspruchte, die er selbst aber nur beiläufig erwähnt6 und die auch in der bundesdeutschen Forschung nie explizit aufgegriffen wurde, dagegen aber das Bild des Dichters, wie es von der Literaturwissenschaft der DDR vertreten wird, bis heute entscheidend geprägt hat; sie wurde begründet durch den 1934 erschienenen Essay »Hölderlins Hyperion« von Georg Lukàcs, der darin eine sich marxistisch verstehende Interpretation des Romans »Hyperion« unter teilweiser Einbeziehung des Trauerspiels »Der Tod des Empedokles« vorstellt. Danach resultiert die politische Konfliktlage Hölderlins aus der Entwicklung einer bürgerlich-kapitalistischen, in einem zunehmenden arbeitsteiligen Differenzierungsprozeß sich befindlichen Gesellschaft, die dem Menschen in seiner individuellen Ganzheit keine Verwirklichungsmöglichkeit bietet, sondern ihn zum verdinglichten Objekt von Warenverhältnissen reduziert. Die von Georg Lukàcs behauptete, ebenfalls vom Ereignis der Französischen Revolution bestimmte jakobinische »Gesinnung« (L 116) Hölderlins beinhaltet somit ein politisches Handlungsinteresse, das die feudale Gesellschaftsordnung nicht im Sinne der in Frankreich siegreichen Bourgeoisie, sondern gemäß den dieser neuen bürgerlichen Ordnung ebenfalls revolutionär entgegenstehenden Interessen der »kleinbürgerlichen und halbproletarischen Massen der Städte und . . . der Bauernschaft« (L 116) umzustürzen beabsichtigt. Damit aber habe sich der Dichter weit über die realen politischen Handlungsmöglichkeiten seiner Gegenwart, sowohl im bürgerlichen Frankreich als auch im rückständigen Deutschland, in dem nicht einmal die Bedingungen für eine bürgerliche Revolution gegeben waren, hinausgewagt, woraus die »gesellschaftliche Tragik« (L 123) seiner Person und die »hoffnungslose Mystik« (L 116) seines Werkes resultieren. 6

4

Bertaux 1969, 1 (Anm. 1).

Der Essay kommt aufgrund von explizit benennbaren historischen Kategorien und aufgrund einer reflektierten Theorie zum Verhältnis von Gesellschaftsform und Literatur - verglichen mit Bertaux 1969 - zu eindeutigen und faßbaren Aussagen über das Werk und die Person Hölderlins ; unterstützt durch die Beschränkung auf die beiden genannten Werke kann daher diese Interpretation von Georg Lukács als Ausgangsbasis eines Klärungsversuchs der strittigen Frage dienen, welche Formen und Inhalte politischen, und dies soll hier bedeuten: gesellschaftsverändernden, theoretisch-praktischen Handelns Hölderlin in dem Roman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland« und dem Trauerspiel » D e r Tod des Empedokles« thematisiert. Die Problemstellung der vorliegenden Arbeit lautet somit, wieweit sich die von Georg Lukács behauptete gesellschaftliche Konfliktlage des Dichters, sein revolutionäres Jakobinertum und seine Parteinahme für das » V o l k « sowie eine davon bestimmte Konzeption gesellschaftlicher Utopie in diesen beiden Werken tatsächlich nachweisen lassen. Die bisher vorgestellten Interpretationsansätze von Bertaux und Lukács stimmen darin überein, daß sie sich dem Werk über eine Analyse der Gesinnung des Autors zu nähern versuchen. Damit verhandeln sie bereits vor jeder Untersuchung des Textes über den darin enthaltenen politischen Standpunkt, ohne weitere Reflexion wird die rekonstruierte Gesinnungslage des Dichters identifiziert mit der interpretatorisch-argumentativ zu verifizierenden Werkaussage.7 Diese Vorgehensweise bewegt sich letztlich auf der Ebene eines subjektiven Einfühlens in die Erfahrungs- und Erlebniswelt des Autors und kann ihre Affinität zu Diltheys hermeneutisch-lebensphilosophischer Interpretationsmethode kaum verleugnen.8 Dagegen gewandt hatte bereits Walter Müller-Seidel in einem ersten Forschungsüberblick das Fazit gezogen, » . . . daß die Frage, ob Hölderlin ein Jakobiner war, nicht diejenige Frage ist, die in den Problemhorizont hineinführt, um den es geht. Ob Jakobiner, Girondist, Revolutionär oder Republikaner: das alles mögen auf der Ebene der biographischen oder der gesellschaftsgeschichtlichen Bezüge wichtige Unterscheidungen sein. Entscheidend werden sie erst, wenn man sie als politische Erfahrungen auf ihre Bedeutung befragt, die sie im dichterischen Werk erhalten.« (Müller-Seidel 1971/72, 124)

Deshalb versucht die vorliegende Arbeit nicht, persönliche politisch-gesellschaftliche Erfahrungen des Dichters selbst zu analysieren, sondern es soll an den beiden hier zur Diskussion stehenden Werken untersucht werden, welche historisch-soziologisch bestimmten Bilder gesellschaftlicher Wirklichkeit Hölderlin darin aufbaut und welche theoretisch-praktischen Reaktionsmöglichkeiten darauf er thematisiert. Die Verhaltensweisen und Reflexionen der Dagegen hatte sich bereits Hegel in seiner » Ä s t h e t i k « gewandt: » D e n n das Höchste und Vortrefflichste ist nicht etwa das Unaussprechbare, so daß der Dichter in sich noch von größerer Tiefe wäre, als das Werk dartut, sondern seine Werke sind das Beste des Künstlers, und das Wahre; was er ist, das >ist< er, was er aber nur im Innern bleibt, das >ist< er nicht.« (Hegel W W 13, 375f.). 8 Auf diesen Zusammenhang verweist Müller-Seidel 1971/72, 121. 7

5

Handelnden gegenüber einer im Werk in der Zeitebene der Gegenwart dargestellten gesellschaftlichen Situation werden herausgearbeitet, um so Kritikinhalte und Kritikgründe an dieser Gegenwartsgesellschaft festzustellen und aufgrund der sichtbar gewordenen sozio-ökonomischen Kennzeichnungen entscheiden zu können, wieweit diese auf eine real bestehende Gesellschaftsformation verweisen und als konkrete Zeitkritik des Autors zu deuten sind; dies wird im Abschnitt 2.0 der Arbeit geleistet. Es wird also nicht vor der Textinterpretation eine Bestimmung der »historischen Umstände« versucht, sondern aus der Analyse der Werke selbst sollen die Gegenwartsbezüge und damit die politisch-gesellschaftliche Problemstellung des Dichters gewonnen werden. 9 Wieweit diese dann als seine »Gesinnung« zu verstehen ist, erscheint nebensächlich; jedenfalls können nur diese Aspekte seiner »Gesinnung« Gegenstand einer rational-kritisch verfahrenden Literaturwissenschaft sein. Vor dem Hintergrund der aus der Werkinterpretation sich ergebenden Inhalte der Gegenwartskritik im »Hyperion« und in »Der Tod des Empedokles« wird die von Georg Lukács behauptete gesellschaftliche Konflikt- und Interessenslage Hölderlins gegenüber seiner Gegenwartsgesellschaft, wobei die Ableitung dieser Thesen aus der übergreifenden literaturgeschichtlichen Konzeption im Abschnitt 3.1 der vorliegenden Arbeit geleistet wird, im Abschnitt 3.2 daraufhin überprüft, wieweit sie in ihren einzelnen Aussagen in den Texten selbst einlösbar ist. Das besondere Erkenntnisinteresse von Georg Lukács, das ihn zu diesem Essay führte, war sein Bemühen, der nationalsozialistischen Umdeutung des Werkes Hölderlins Widerstand zu leisten. Zutreffend erkannte er das Bestreben von Vertretern des NS-Regimes10, Hölderlins Zeitkritik, wie sie vor allem im Roman »Hyperion« artikuliert wird, umzubiegen in eine »faschistische Kritik« (L 119) des Dichters an seiner Umwelt und das bestehende Herrschaftssystem zum legitimen Vollstrecker seines dichterischen Erbes zu stilisieren: »Wie die faschistischen Ideologen mit der Verzweiflung der ihres Weges nicht oder noch nicht bewußten Kleinbürger Schindluder treiben, so besudelt die literarische SA das Andenken vieler ehrlich verzweifelter deutscher Revolutionäre, indem sie die wirklichen sozialen Ursachen ihrer Verzweiflung wegeskamotiert, indem sie sie daran verzweifeln läßt, daß sie das >erlösende< Dritte Reich, den >Erlöser Hitler< noch nicht erblicken konnten.« (L 119)

9

Letztlich bedeutet die auch noch so detaillierte Aufarbeitung der historisch-politischen »Umstände« immer eine Problemverlagerung, da die Kriterien dieses Vorgehens, die nur am Werk zu gewinnen wären, nicht methodisch gesichert vorliegen. Daß dabei sehr aufschlußreiche Ergebnisse aus einer Korrelierung der politischen Entwicklung und der Biographie des Dichters möglich sind, zeigt Prignitz 1976, während die Arbeit von Ott/Ott 1979, welche den Einfluß der Französischen Revolution auf die Briefe und die Lyrik Hölderlins untersuchen will, aufgrund ihres zirkelhaften Vorgehens in dieser Form zu nur oberflächlichen Resultaten gelangt. 10 L 119f. Als repräsentativer Vertreter sei hier nur Michel 1943 erwähnt.

6

Sowenig die Redlichkeit seines Interpretationsinteresses verkannt werden soll, es bleibt doch die Frage, wieweit das Vorgehen von Lukács selbst methodisch davon unterschieden werden kann, wenn er Hölderlin deshalb eine »Flucht in die Mystik« (L 122) konzediert, weil dieser die Perspektive der »proletarischen Revolution« (L 124) noch nicht wahrnehmen konnte; nach Lukács vermag der Dichter nur in einer »Mystik der verworrenen Vorahnungen« (L 113) die kapitalistische Epoche gedanklich zu transzendieren. Denn die Ansätze sind methodisch darin identisch, daß sie den Dichter mittels der angenommenen »Gesinnung« zum Verfechter einer abstrakt-reinen Idee erheben, wodurch er in einen unversöhnbaren Gegensatz zu seiner Umwelt gestellt wird, in der deren Realisierung noch nicht möglich ist und er damit notwendig an den objektiv-gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit scheitern muß. Gerade dies erscheint als Beweis dafür, wie zutreffend, jedoch zu früh der Autor hinter der Erscheinung der gesellschaftlichen Wirklichkeit deren Wesen und die ihr immanenten Entwicklungstendenzen erkennen konnte, wenn er auch den historischen Zielpunkt selbst nur in vager Ahnung zu konkretisieren vermag. Nicht das Werk steht daher als Informationsbasis im Mittelpunkt der Interpretation, sondern seine letztlich unausgeführte, nur über die »Gesinnung« zu erschließende Intention, die der Entwicklungsgang der Geschichte selbst bestätigt. Damit aber wird der Autor aus den Kommunikations- und Interessenzusammenhängen seiner Zeit völlig herausgelöst, die »historischen Umstände« dienen auch bei Lukács nur - analog zur geistesgeschichtlich orientierten Vorgehensweise - dazu, Ideengehalte in das Bewußtsein des Dichters zu transformieren. Im Abschnitt 3.3 der vorliegenden Arbeit werden diese Defizite hinsichtlich der angestrebten Bestimmung eines Zusammenhangs von Literatur und historischer Gesellschaftsform in einigen Punkten unter dem Aspekt diskutiert, wieweit Lukács damit vor allem seinen eigenen Anspruch einer marxistisch fundierten Literaturtheorie einlösen kann. Dagegen liegt der vorliegenden Arbeit die These zugrunde, daß Hölderlin sowohl in der Begründung seiner Gegenwartskritik wie in der Konzeption der Utopieentwürfe abhängig ist von und bezogen ist auf gesellschaftlich-geistige Bedingungen seiner Zeit, deren Bestimmung jedoch nur am Werk selbst zu leisten ist. Damit verbunden ist im Abschnitt 4.0 die Entwicklung der Geschichtsphilosophie des Dichters in den hier behandelten Werken, vor deren Hintergrund er die gesellschaftliche Verfassung seiner Zeit deutet und Möglichkeiten eines verändernden Handelns reflektiert, das orientiert ist an einem detailliert gestalteten Bild eines zukünftigen Lebens. Die darin aufscheinende historisch-soziologische Gebundenheit der Vorstellungswelt Hölderlins vermag Lukács aufgrund der methodischen Beschränktheit seines Ansatzes nicht zu thematisieren, sondern schließt sie als Produkt von Hölderlins »Flucht in die Mystik« (L 122) von jeder näheren Betrachtung aus. Mittels der so gefaßten Darstellung der in beiden Werken gegebenen Bilder gegenwärtiger und zukünftiger gesellschaftlicher Wirklichkeit intendiert die 7

vorliegende Arbeit nicht nur die Klärung der Frage nach der politischen Problemstellung des Dichters, sondern bedeutet damit zugleich eine explizite Kritik der von Georg Lukács vorgestellten Interpretation des Werks Hölderlins; auch unter diesem Aspekt, der in der entsprechenden Literatur zu Hölderlin oder Lukács noch nicht aufgearbeitet wurde, versteht diese Arbeit sich als Versuch. Die bislang in der Bundesrepublik hauptsächlich im Gefolge der neomarxistischen Diskussion im Umkreis der Frankfurter Schule und der deutschen Studentenbewegung wie im Zusammenhang mit der germanistischen Analyse der Realismusdebatte der dreißiger Jahre erfolgte Rezeption des Werkes von Georg Lukács, vor allem in der hier interessierenden Phase seines Exils, war vor allem an theorieimmanenten Fragestellungen orientiert und trug wenig zur Überprüfung der konkreten Tragfähigkeit seiner Geschichts- und Literaturtheorie bei.11 Die Forschung war primär ausgerichtet auf die Analyse des Systemcharakters und der Entwicklungslogik in den politisch-ästhetischen Schriften von Lukács,12 aber weiterhin fehlen Untersuchungen darüber, wieweit die aus der übergreifenden Theoriekonzeption herzuleitenden Thesen zu bestimmten literarischen Werken oder historischen Entwicklungszusammenhängen am Gegenstand selbst einlösbar sind. Dieser Sachverhalt ist weitgehend bedingt durch die Abstraktionsebene der Argumentation von Lukács, die den objektiven »Entwicklungstendenzen der Geschichte« (Lukács 1923, 198) eine höhere Wirklichkeit konzendiert als konkret-empirischen Erscheinungen und somit durch den bloßen Verweis auf »Tatsachen« 13 nicht unmittelbar zu tangieren ist. Über den Hölderlin-Interpreten Lukács läßt sich in der bundesdeutschen Forschung nur wenig in Erfahrung bringen, eine bewußte Auseinandersetzung mit seinen Thesen fand auch im Kontext der Bertaux-Diskussion wie des Erscheinens des Theaterstücks »Hölderlin« von Peter Weiss14 nicht statt und sofern seine Ausführungen nicht grundsätzlich ignoriert werden, finden sie in der neueren Literatur nur kursorisch und ohne nähere Explikation ihrer theoretisch-systematischen Begründung Verwendung, sie fristen meist ein wenig erhellendes Dasein in Anmerkungen. 15 11

Zur Lukács-Rezeption in der Bundesrepublik für die Zeit vor 1965 vgl. Glowka 1968. 12 Grundlegend dabei die Untersuchungen von Kammler 1974 und Renner 1976. 13 Vgl. zur Kritik des Wirklichkeitsbegriffs von Lukács den Beitrag des Lukács-Schülers Vajda 1979. 14 Das Stück wurde 1971 in Stuttgart uraufgeführt, im Anschluß daran erschien der Sammelband von Beckermann/Canaris 1972, der auch den Essay von Georg Lukács enthielt. 15 Besonders die Citoyen-Thematik in Hölderlins Werk wird gerne ohne weitere Begründung durch den legitimierenden Verweis auf Lukács behauptet, vgl. Kurz 1975, 180 (Anm. 53), besonders kraß Gerlach 1973, 5 (Anm. 18) und 65 (Anm. 28). Auch Thurmair 1980, 68 sowie 152 (Anm. 143) leistet sowenig wie bereits Lepper 1968, 194 (Anm. 30) oder Hauschild 1977, 152, Anm. 3 eine explizite Kritik an der Argumentation von Lukács. Völlig abwegig ist die Ansicht von Link 1969/70, Lukács habe » . . . als erster deutlich Hölderins enge politische und ideologische Nähe zur

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Dagegen war die literaturgeschichtliche Konzeption von Lukács, einschließlich seiner Hölderlin-Deutung, 16 prägend für die Literaturwissenschaft der DDR in der Aufbauphase dieses Staates. Die offizielle Kulturpolitik war seiner Bestimmung der deutschen Klassik verpflichtet, die nach Lukács einen Höhepunkt bürgerlichen Denkens darstellt und, bedingt durch die deutsche Misere, eine nur ästhetisch vermittelte Zustimmung zur Französischen Revolution artikulieren kann, aber gerade dadurch dieses Ereignis historischdialektisch umfassend reflektiert und in der Konzeption des »harmonischen Menschen« ein demokratisch-humanistisches Ideal entwickelt, das die entstehende kapitalistische Gesellschaft notwendig transzendiert; 17 aufgrund des in dieser Form vorgestellten Traditionszusammenhanges konnte die DDR in ihrer ideologischen Konsolidierungsphase sich als Vollstrecker dieses Erbes definieren. Die Beteiligung von Georg Lukács an der Regierung Nagy 1956 in Ungarn und die offizielle Neubestimmung der historisch-gesellschaftlichen Entwicklungsstufe der DDR, wie sie durch die dreißigste Tagung des Zentralkomitees der SED 1957 eingeleitet wurde, führte zur Problematisierung der Person von Lukács und seiner Literaturauffassung. 18 Eingeleitet durch kritische Stellungnahmen in den »Weimarer Beiträgen« 195819 wurde Lukács eine spätbürgerlich-revisionistische Haltung vorgeworfen und dagegen die Forderung nach einer eigenständig-sozialistischen Kulturkonzeption erhoben, die sich verstärkt um die junge Gegenwartsliteratur zu bemühen habe. Eine offene und gezielte Diskussion der Literaturtheorie von Georg Lukács fand jedoch nicht statt; 20 soweit sich in neuerer Zeit Werner Mittenzwei 21 oder Kurt Batt 1975 um eine sachliche Aufarbeitung seines Ansatzes bemühten, beschränkte sich dies weitgehend auf die Wirkungen seiner Position im Zeitraum vor der DDRStaatsgründung. Großen Revolution behauptet . . . und das aufgrund rein >werkimmanenter< Methode: die seither geförderten Fakten haben seine Ansicht weitgehend bestätigt.« (Link 1969/70, 180 (Anm. 32)). Auch wenn man Lukács' eigenem Anspruch, eine materialistisch-marxistische Analyse zu leisten, nicht zustimmen kann, so ist ihm doch gerade eine »rein werkimmanente Methode« nicht zu unterstellen. 16 Vgl. Träger 1952/53. 17 Lukács 1947, 11 f., sowie Lukács (Ideal) 1938, 302ff. 18 Einen Überblick gibt Scharfschwerdt 1975, 125-131. 19 Vgl. den Beitrag des Redaktionskollegiums, Über die Aufgaben der Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte, in: Weimarer Beiträge 4, 1968, H 2, 133-137 sowie den Beitrag von Thalheim 1958 im gleichen Heft. Die Kampagne gipfelt in dem Sammelband »Georg Lukács und der Revisionismus« 1960. 20 Vgl. Scharfschwerdt 1975, 13 21 »Daß in den Arbeiten der vergangenen Jahre mehr Polemik dominierte, muß als eine notwendige Stufe in der Auseinandersetzung mit den Auffassungen dieses Mannes gesehen werden. Aber es kommt jetzt darauf an, seine literaturtheoretischen Vorschläge und Kategorien stärker zu historisieren und dahin zu überprüfen, inwieweit sie zu Gewinn oder Verlust oder auch zu >Gewinn< und Verlust in unserer Literaturentwicklung führten.« (Mittenzwei 1975, 10).

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Auch das von Lukács vertretene Hölderlin-Bild wurde nicht aufgearbeitet. D i e anläßlich des 200. Geburtstags des Dichters 1970 erschienenen Beiträge lassen weitgehend jeden Hinweis auf seinen Interpretationsansatz fehlen und gewinnen damit teilweise Raum für differenzierte Fragestellungen, ohne aber, aufgrund des letztlich analogen methodischen Vorgehens, in der Bestimmung der politischen Haltung wie der ideologischen Perspektive Hölderlins zu wesentlich neuen Ergebnissen zu gelangen. 2 2 Fast wörtlich übernimmt das Referat von Alexander Abusch, das für diese Form der Rezeption des Dichters in neueren Arbeiten als durchaus repräsentativ bewertet werden darf, Wendungen und Thesen des Hölderlin-Essays von Lukács, o h n e diesen auch nur weiter zu erwähnen als in dem beiläufigen Hinweis, er habe eine Textstelle aus dem R o m a n »Hyperion« falsch zitiert. 23 Ausdrücklich und weitgehen zustimmend wird dagegen die Deutung von Bertaux 1969 angeführt, w e n n auch Abusch die jakobinisch-revolutionäre Begeisterung des Dichters in dessen Begegnung mit Fichte in den Jahren 1794 und 1795 begründet und daneben pauschal auf den Einfluß des »deutschen klassischen H u m a n i s m u s « (Abusch 1970, 12), wie er in der zeitgenössischen Literatur vertreten worden sei, verweist. Diese auf der Ebene einer einfühlenden Interpretation von Lebensläufen verbleibende Methode, der auch Mieth 1978 verhaftet ist, reproduziert letztlich das Chliché des sozialistischen Sehers Hölderlin, wie es Lukács zwar aufgeworfen hatte, nur steht Abusch durch seinen Jargon unmittelbarer wohl in der tristen Tradition jener affirmativen Deutungsversuche, 2 4 die zur Legitimation der bestehenden Herrschaftsverhältnisse von jeher ein kulturelles Erbe bemühten: »In unserer Deutschen Demokratischen Republik wird der visionäre Traum des jakobinischen Dichters durch die wissenschaftlich begründete, revolutionäre Tat vollzogen: die Einheit von Friedrich Hölderlin und Karl Marx als Produkt der Dialektik der Geschichte. Ja, unsere heutige Tat für die sozialistische Menschengemeinschaft ist auch Geist vom Geiste Hölderlin: erhöhtes menschliches Leben, Verteidigung und Verwirklichung der Poesie in seinem und Johannes R. Bechers Sinne, nicht trotz der wissenschaftlich-technischen Revolution, sondern als mit ihr einhergehende Kulturrevolution des gesamten Volkes, gerichtet auf die allseitig und harmonisch gebildete sozialistische Persönlichkeit und gegen die antihumane kapitali22

Vgl. den Bericht vom Hölderlin-Kolloquium in Weimar durch Radczun 1971, allerdings wird die Einbeziehung der religiös-pietistischen Thematik sichtbar durch Dietze 1970. Darauf verweist auch abstrakt Mieth 1978, 11, dessen Interpretation jedoch primär an einer revolutionär-demokratischen Perspektive des Dichters orientiert ist und die bezüglich des Romans »Hyperion« die charakteristische Wendung enthält: »Der Geschichtsprozeß der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts und die subjektiven Erlebnisse Hölderlins waren es, die keinen anderen Ausweg zuließen als die Flucht in die Natur als dem Ort, wo Hyperion sein revolutionäres Ideal bewahrt sah und wo er es in sich bewahren konnte: bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich eine neue Möglichkeit seiner Realisierung auftun würde.« (Mieth 1978, 62). 23 Diese im übrigen zutreffende Bemerkung von Abusch 1970,16f., bezieht sich auf die Losung Hyperions: »Alles für jeden und jeder für alle!« (STA III, 112), die Lukács wiedergibt als: »Alle für jeden und jeder für alle!« (L 113). 24 Vgl. auch Scharfschwerdt 1971, 175f.

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stische Vermassung. So ist unser Leben und Sterben wahrhaftige Nachfolge von Hölderlins Ganzheitsstreben für Menschen.« (Abusch 1970, 26)

Diese Verfügung beraubt sich nicht nur der Möglichkeit, die spezifische Historizität eines literarischen Werkes einsichtig machen zu können, sondern schließt jede Betrachtung der Rezeptionsbedingungen des Textes aus 25 und somit auch die Überlegung, wie der Literatur eine emanzipatorischaufklärerische Intention zugeschrieben werden kann, wenn der Autor solchermaßen zum einsam-ungesellschaftlichen Wesen mystifiziert wird; denn realisiert sich seine politische Zielsetzung in ihren konkreten Inhalten erst in dieser zeitlichen Perspektive, so impliziert dies die Folgerung, daß dem Autor alle kommunikations- und damit sinnfähigen Bezüge zu seiner Gegenwartsgesellschaft abgesprochen werden.

1.2 Begründung des methodischen Vorgehens Das Defizit dieser Interpretationsansätze besteht letztlich darin, daß sie mit dem Nachweis eines bestimmten Gegenwartsbezuges des Werkes oder der Vergegenwärtigung politisch-gesellschaftlicher Erfahrungssituationen des Autors zugleich aufgrund der Kategorien ihres Geschichtsbildes entschieden haben, welche historisch-adäquate Haltung auf Seiten des Individuums damit verbunden sein muß. Ein solches Vorgehen faßt jedoch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in abstrakt-dualistischer Weise. Das Urteil über die Fortschrittlichkeit des individuellen Bewußtseins bestimmt sich danach, wieweit es das gesellschaftliche Wesen, das in letzter Instanz die Erscheinungen des Lebens determiniert, sowie dessen Entwicklungsdynamik erkennt; dieses muß es dann gegebenenfalls gedanklich vollkommen transzendieren. Die oben angedeutete Affinität der Position von Lukács zu einem lebensphilosophischen Ansatz 26 findet ihre wissenschaftsgeschichtliche Entspre25

Hier kann auch an Marx erinnert werden: »Der Kunstgegenstand - ebenso jedes andre Produkt - schafft ein kunstsinniges und schönheitsfähiges Publikum. Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.« (MEW 13, 624). 26 Bei Dilthey findet sich, als Grundlegung des Verständigungsprozesses unter dem Modus des hermeneutischen Zirkels, neben der Begründung der Möglichkeit von Verstehen selbst in dem für Erkenntnissubjekt wie -objekt konstitutiven objektiven Geist - »Nur was der Geist geschaffen hat, versteht er.« (Dilthey WW VII, 148) - das Argument des Einfühlens und Nacherlebens, das eine wesenhafte Gleichförmigkeit der menschlichen Natur jenseits aller historisch-gesellschaftlichen Besonderheit voraussetzt: »Erlebnis und Verstehen sind, psychologisch gesehen, immer getrennt. Sie gehören der Region des Selbst und des Anderen. Der eine und der andere Vorgang bleiben immer auseinander, aber zwischen ihnen besteht ein struktureller Zusammenhang, nach welchem das Nacherleben des Fremden nur durch eine Rückbeziehung auf die Erlebnisse der eigenen Person möglich gemacht wird. So entsteht inhaltlich das Verhältnis, daß, was ich an einem anderen verstehe, ich in mir als Erlebnis auffinden, und was ich erlebe, ich in einem Fremden durch Verstehen

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c h u n g im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als eine methodische Analogie z w i s c h e n einer schematisch-mechanistisch verfahrenden marxistischen Gesellschaftstheorie 2 7 und der traditionellen, v o n Historismus u n d Lebensphilosophie geprägten Wissenssoziologie 2 8 bestand. Beide T h e o r i e m o d e l l e stimmten in dieser Form unter a n d e r e m darin überein, daß sie kulturelle Objekte kausal und ausschließlich aus der materiellen Basis der Gesellschaft oder aus einer »Weltanschauungstotalität« 2 9 als ideellem Z e n t r u m einer Epoche abzuleiten suchten. D i e s e Entsprechung ermöglichte Lukács den Übergang von einer lebens- und bewußtseinsphilosophisch geprägten Position z u m Marxism u s und sicherte die innere Kontinuität seiner Theoriebildung, 3 0 für die in j e d e m Fall jedoch jener D u a l i s m u s konstitutiv bleibt, den Marx gerade überwinden wollte, n ä m l i c h » . . . die Gesellschaft wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum >ist< das gesellschaftliche Wesenist< daher eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebenssie als Teile eines Systems, noch weitergehend als Teile einer Weltanschauungstotalität aufweist, die als Ganzen gebunden< ist an eine Etappe des sozialen Seins. Von nun an stehen Welten Welten gegenüber, und nicht Einzelbehauptungen werden Einzelbehauptungen gegenübergestellt.« (Mannheim 1964, 320). Dieser Seinsbegriff bei Mannheim aber erweist sich, wie Neusüss 1968 überzeugend nachweisen kann, als »leere Grenzgröße« (Neusüss 1968, 53), wie auch die wissenssoziologischen Zuordnungsversuche geprägt sind vom »geschichtsphilosophischen Systemwillen der Theorie« (Neusüss 1968, 110). 30 Bereits Frank Benseier hatte im Vorwort zu Grunenberg 1976 konstatiert: »Lukács hat im Gegensatz zu zahlreichen Interpretationen und trotz aller Kritiken seine Position in den wesentlichen Punkten nie geändert.« (Grunenberg 1976, 12). Dies schließt die vormarxistische Phase ein, vgl. neben Kammler 1974, 71 f., vor allem den Aufsatz von Vajda 1979, der die Übereinstimmungen zwischen Lukács und Husserl herausarbeitet. 12

D a s Werk steht als Ä u ß e r u n g des Autors notwendig in e i n e m v o n i h m nicht zu transzendierenden gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang, der die Bedingung der Möglichkeit des damit g e g e b e n e n K o m m u n i k a t i o n s p r o z e s s e s ist. Indem der Dichter über das Werk sich an eine, w e n n auch möglicherweise sehr begrenzte Öffentlichkeit wendet, aktualisiert er i m m e r e i n e n allgemein verfügbaren und vorausgesetzten, w e n n auch gerade deshalb nur implizit thematisierten Stand an Wissen über die Gesellschaft, e i n e n S i n n b e z u g hinsichtlich der konkret-empirischen Lebenspraxis, 3 1 die konstitutiv für die Adressaten des Textes wie für den Autor selbst ist. N u r auf dieser Basis kann Verständigung erfolgen u n d k ö n n e n fiktionale Inhalte vermittelt werden, kann eine den Bereich der unmittelbar-einsichtigen Lebenspraxis übersteigende >höhere< kulturelle Sinnwelt für den Rezipienten nachvollziehbar aufgebaut werden. Es m u ß somit i m m e r ein typischer Bestand an Alltagswissen vorausgesetzt werden, soll Nicht-Alltägliches z u m Gegenstand der K o m m u n i k a t i o n werden, wie es bei Literatur der Fall ist u n d sei es nur in der ästhetisch-herv o r g e h o b e n e n Darstellung v o n A l l t a g s p h ä n o m e n e n selbst. D i e s e vor allem durch die neueren wissensoziologischen A n s ä t z e i m Rahm e n der Theorie des Symbolischen Interaktionismus 3 2 analysierten Bedingun31

Dieser Begriff soll dafür stehen, was Max Weber als »Lebensführung des Alltags« (Weber 51976, 238ff.) bezeichnet, womit er die Formen individueller, aber dabei notwendig gruppen- oder schichtspezifisch typisierter, alltäglicher Lebensstile meint, und wofür die marxistische Soziologie weitgehend übereinstimmend, wenn auch in anderem theoretischen Kontext, den Begriff der »Lebensweise« verwendet: »Lebensweise: Gesamtheit der für die jeweilige Gesellschaft charakteristischen Arten und Formen der materiellen und geistigen Lebenstätigkeit und Lebensbedingungen des Menschen. Sie ist geprägt durch die jeweils konkret-historischen Verhältnisse, durch die soziale Stellung der Menschen bzw. der Klassen und anderer sozialer Gruppen in der Gesellschaft und besonders durch den Charakter der Produktionsverhältnisse und das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte. In der L. äußert sich das erreichte materielle und kulturelle Entwicklungsniveau sowie der charakteristische Typ der gesellschaftlichen und individuellen Beziehungen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten der Menschen in allen ihren Lebenssphären. Die L. umfaßt solche wesentlichen Seiten des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens wie das Verhältnis zur Arbeit, zu den gesellschaftlichen Interessen und Aufgaben, die materiellen und geistig-kulturellen Bedürfnisse der Menschen und die Art der Befriedigung, das Verhältnis zur politischen Ordnung, die Möglichkeiten und die Art politischer und sozialer Aktivität, die Gestaltung der Freizeit, die Entwicklung der Familienbeziehungen und der Lebensgewohnheiten. Die L. ist untrennbar mit der Denkweise, mit der Weltanschauung und Moral der Menschen verbunden.« (Assmann (Hg.) 1977, 392).

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Vgl. hierzu das Einführungskapitel in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.) 1973, 11 ff., in dem über die gesellschaftliche Verteilung des Alltagswissens ausgeführt wird: »Alltagswissen ist das, was sich die Gesellschaftsmitglieder gegenseitig als selbstverständlichen und sicheren Wissensbestand unterstellen müssen, um überhaupt interagieren zu können . . . Diese Verständigungsbasis . . . ist nicht nur im Sinne empirischer Randgruppen, sondern in ihrer grundsätzlichen Struktur (man könnte sagen: mit »interaktions-logischer« Notwendigkeit) situationsgebunden und inhaltlich situationsspezifisch. Deshalb ist das Alltagswissen, wie es von den einzelnen Interaktionspartnern zur Bewältigung ihrer biographie-spezifischen tagtägli13

gen gesellschaftlicher Interaktionsprozesse werden von jüngeren literatursoziologischen Konzeptionen 33 heute in der Weise aufgegriffen, daß sie eine gesamtgesellschaftliche Bestimmung in ihren Kategorien als zu grobmaschig beurteilen, um diesen engeren Bezug des Werkes zum gesellschaftlichen Kontext adäquat und ohne unzulässige Vorentscheidungen erfassen zu können. Die Rückbindung an den gesamtgesellschaftlichen Rahmen erfolgt vielmehr in einem zweiten Schritt dadurch, daß moderne, arbeitsteilig-organisierte Gesellschaften, wie sie auch im 18. Jahrhundert bereits bestanden, soziologisch differenzierte Formen von Lebensweisen kennen, auf die hin die abstrakt entwickelten Grundbedingungen gesellschaftlicher Interaktion zu konkretisieren sind. Denn gemäß der damit gegebenen Schicht- oder klassenspezifischen Gliederung einer Gesellschaft existieren unterschiedlich typisierte Lebenswelten und ihnen entsprechend »symbolische Sinnwelten« (Berger/Luckmann 1980, 98), die in ihrem Wissensbestand über die Gesellschaft je charakteristische Relevanzbereiche wie normativ-wertorientiert Deutungsmuster aufweisen, die in sinnhafter Beziehung zu den ihnen zugrundeliegenden schichtspezifischen Erscheinungsweisen konkret-empirischer Lebenswelten, von Formen des »Alltags«, stehen. 34 Hübner 1980 faßt das methodische Vorgehen eines solchen literatursoziologischen Ansatzes zusammen: » D i e Problemstellungen und Kritikgehalte (literarischer Werke - M. P.) und die von ihnen aufgebauten Idealvorstellungen und Utopieperspektiven können von einer Rekonstruktion der gesamtgesellschaftlichen Zustände her nicht hinreichend konkret erhellt werden; sie müssen vielmehr unter Berücksichtigung der dargestellten . . . Alltagsproblematisierungen gruppen- oder klassenspezifisch lokalisiert und auf diese Weise als gesellschaftlich rückgebunden aufgezeigt werden.« (Hübner 1982, 48)

Der durch die gesellschaftliche Praxis der Menschen objektiv bestehende Gesamtzusammenhang soll damit nicht aus der Betrachtung ausgeschlossen werden, nur nimmt diese Praxis in ihrer konkreten Ausprägung für die Gesellschaftsmitglieder sehr unterschiedliche Erscheinungsformen - auch innerhalb einer Klasse - an, wie auch die darüber bestehenden Vorstellungen und die darauf bezogenen Interessen der Individuen sehr verschieden ausfallen können. Jedoch ist, so die These der neueren Wissenssoziologie, das in einem literarischen Werk vorfindliche Wissen über Gesellschaft, und nur in diesem Rahmen entwickelt der Text seine Problemstellung, immer gesellschaftlich bestimmtes Wissen und darin weder ausschließlich als Produkt subjektiv-autonomen Denkens noch als monokausal determiniert durch eine abstrakt entgegengesetzte gesellschaftlich-historische Kategorie zu deuten. Liehen Angelegenheiten angewandt wird, in seinem Gehalt - zumindest im Rahmen komplexer Gesellschaft - auch nicht als Gesamtbestand gesellschaftlich gleichverteilt.« (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.) 1973, 20f.) 33 Vgl. T h u m 1976, Scharfschwerdt 1977, die Konkretisierung dieses Ansatzes in der Interpretation eines literarischen Werkes leistet Hübner 1982. 34 Vgl. dazu auch Jaeggi 1972, 116.

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teratursoziologie hat es nicht mit dem tatsächlich aktualisierten Handeln von Menschen zu tun, sondern qua literarischem Werk mit ihrem bestimmten Bewußtsein, das in seiner gruppen- oder schichtspezifischen Vermittlung zu begreifen ist und woraus es seinen kategorialen Rahmen der Rezeptions- und Deutungsmuster der gesellschaftlichen Erfahrungswirklichkeit wie der Reflexion von darauf bezogenen Handlungsmöglichkeiten bezieht. Soziologisch wird dieses Wechselverhältnis gefaßt im Begriff des »Gesellschaftsbildes«, das sich definieren läßt als » . . . Komplex von Vorstellungen bei Angehörigen sozialer Schichten oder Berufsgruppen über Ordnung, Struktur, Aufbau, Funktionieren und Entwicklungstendenzen der Gesellschaft. Das Gesellschaftsbild wird entscheidend geformt durch die schichtspezifischen Erziehungseinflüsse in Familie und Schule sowie durch die sozialen Strukturen . . . Es wirkt wiederum, da es den Bezugsrahmen des Denkens und des sozialen politischen Handelns prägt, über den Handlungsbeitrag des Einzelnen auf die Gestaltung der objetiven sozialen Verhältnisse, d.h. auf die Tendenz zu ihrer Konsolidierung oder Veränderung ein.« (Hartfiel 1972, 229) Für den hier vertretenen literatursoziologischen Ansatz folgt aus dieser Fragestellung, 35 daß der Autor in e i n e m gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang gesehen wird, in dem er nicht nur ein bestimmtes, persönlich-zentriertes Erfahrungswissen sammeln kann, sondern auch historisch-bestimmte Kenntnisse über diesen Wirklichkeitsbereich erhält und damit ein gesellschaftliches Selbstverständnis, einen seine individuelle Position einschließenden Sinnzusammenhang ausbildet, dessen »Vorstellungen« in ihrer Reichweite seine unmittelbare Lebens- und Erfahrungssituation übersteigen 3 6 und Orientierungsmuster abgeben, deren Gültigkeit nicht primär oder teilweise überhaupt nicht von der Möglichkeit der Verifizierung aller damit getroffenen A n n a h m e n abhängt. Erst dadurch gelingt dem Individuum die Konstituierung einer gesellschaftlich vermittelten Identität, einer »Verortung« 3 7 in 35

Dieser Ansatz wurde in der Soziologie erstmals von Popitz u. a. 1957 im Rahmen einer empirischen Erhebung über das Gesellschaftsbild von Arbeitern entwickelt (zur methodischen Grundlegung vgl. besonders Popitz 1957, 1-9) und von Kern/Schumann 1970 sowie Deppe 1971 fortgeführt. 36 »Der Versuch des Einzelnen, sich in eine Beziehung zu der Welt zu setzen, in der er lebt, kann sich niemals ausschließlich auf das Handgreiflich-Zugängliche beschränken. Es müssen Vorstellungen gebildet werden, die >über die eigenen unmittelbaren Erfahrungen hinausgehenVerortung< ist zunächst möglichst wörtlich zu nehmen: der Mensch schafft sich seinen >OrtTatsachen< eindeutig für oder gegen eine bestimmte Richtung des Handelns sprechen, hat es nie gegeben und kann es und wird es nie geben. Und je gewissenhafter die Tatsachen - in dieser ihrer I s o l i e r t h e i t . . . - erforscht werden, desto weniger können sie eindeutig in eine bestimmte Richtung weisen.« (Lukács 1923, 37). Daraus folgt zugleich die Vernachlässigung des empirischen Alltagsbewußtseins der Menschen,.seiner Inhalte und handlungsrelevanten Vorstellungen und Deutungsmuster, da dieses gerade in seinem unmittelbaren Wirklichkeitsbezug nur Reflex einer grundlegend verdinglichten Welt sein kann.

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So kann für das Alltagsbewußtsein, das Lukács als direkte Widerspiegelung der gesellschaftlich vermittelten Umwelt begreift, die Gegenständlichkeitsform der Ware zur bestimmenden Bewußtseinskategorie werden, womit der Mensch schließlich sich selbst und seine »Eigenschaften und Fähigkeiten« (Lukács 1923, 112) nicht mehr als Selbstzweck, für sich, sieht, sondern nur mehr unter dem Aspekt der Warenhaftigkeit, der Veräußerlichkeit für etwas anderes. Dem Verlust der gesellschaftlichen Geschlossenheit, sowohl für die subjektive Erkenntnis als auch objektiv in der Verselbständigung der gesellschaftlichen Teilbereiche, entspricht der Verlust der Ganzheit des Menschen, und zwar objektiv in Gestalt des arbeitsteilig eingesetzten Arbeiters wie subjektiv im verdinglichten, von der Gegenständlichkeitsform der Ware beherrschten Bewußtsein. Das in »Dig Theorie des Romans« im Medium der Reflexion konstatierte Entfremdungsproblem, wonach der Mensch sich selbst als Objekt denkt, wird nun übertragen auf die Warenverhältnisse in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft : »Die Verwandlung der Warenbeziehung in ein Ding von gespenstiger Gegenständlichkeit kann also bei dem Zur-Ware-werden aller Gegenstände der Bedürfnisbefriedigung nicht stehenbleiben. Sie drückt dem ganzen Bewußtsein des Menschen ihre Struktur auf : seine Eigenschaften und Fähigkeiten verknüpfen sich nicht mehr zur organischen Einheit der Person, sondern erscheinen als >Dingebesitzt< und veräußerte wie die verschiedenen Gegenstände der äußeren Welt. Und es gibt naturgemäß keine Form der Beziehung der Menschen zueinander, keine Möglichkeit des Menschen, seine physischen und psychischen > Eigenschaften zur Geltung zu bringen, die sich nicht in zunehmendem Maße dieser Gegenständlichkeitsform unterwerfen würden.« (Lukács 1923, 112)

In der fortschreitenden Unterwerfung aller Tätigkeits- und Bewußtseinsformen unter die Warenform, die andererseits der fortschreitenden Durchkapitalisierung aller gesellschaftlichen Bereiche entspricht, begründet sich für Lukács die Unfreiheit des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft, die Unmöglichkeit, menschlich-gesellschaftliches Handeln als bewußte und freie Tätigkeit zu entfalten. Die Reduktion des Menschen zum Objekt der Ware gilt dabei sowohl für den Proletarier wie für den Bourgeois, für beide Klassen ist »das gesellschaftliche Sein ( . . . ) - unmittelbar - dasselbe« (Lukács 1923, 180f.). Die Verhüllung des Menschen als Träger der gesellschaftlichen Beziehungen isoliert die Menschen objektiv wie subjektiv voneinander, sie erfahren sich als vereinzelte Individuen ohne die Möglichkeit einer direkt-intentionalen Beziehungsform. Diese Entfremdungssituation aufgrund der entwikkelten Warenverhältnisse setzt Lukács bereits als Charakteristikum der Gegenwart Hölderlins an, und betrachtet dessen Werk als Reflex darauf : »Es ist die Klage über die Einsamkeit, der Notschrei aus einer Einsamkeit, die unaufhebbar ist, weil sie sich zwar in allen Momenten auch des privaten Lebens äußert, jedoch von der ehernen Hand der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung selbst geschaffen wurde.« (L 124)

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Es ist also Hölderlins Gegenwartskritik vor aller näheren Bestimmung nur als Kritik an den Folgen der entwickelten Warenwirtschaft zu verstehen, denn, und darin liegt der Zirkel der Lukácsschen Argumentation, determiniert die Warenform als »Universalkategorie des gesellschaftlichen Seins« (Lukács 1923, 97) in so eindeutiger und umfassender Weise menschliche Unfreiheit und Entfremdung, dann kann jede Gesellschaftskritik, welche - wie es in Hölderlins Gegenwartskritik der Fall ist - das Nichtbestehen menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung im gesellschaftlichen Kontext und das Fehlen vom »ganzen« Menschen beklagt, umgekehrt nur darauf bezogen werden. Es muß daher in einem ersten Schritt - anhand der von Lukács selbst zur Begründung seiner Thesen herangezogenen Textstellen - untersucht werden, wieweit tatsächlich und in welcher Form der Dichter in seiner Gegenwartskritik Aspekte einer bürgerlich-kapitalistischen, arbeitsteilig organisierten Warengesellschaft samt den damit verbundenen Verdinglichungserscheinungen thematisiert. Dabei stellt sich die Frage, weshalb Hölderlin den Verdinglichungstendenzen dieser Gesellschaft entgehen konnte, denn nur so kann ihm der gesellschaftlich vermittelte Entfremdungszustand bewußt werden, und wie grundsätzlich die Möglichkeit der Veränderung einer solchermaßen hermetisch-verdinglichten Welt gedacht werden kann. Zeichnet sich diese Welt dadurch aus, daß die gesellschaftliche Produktion sich nicht unter der Kontrolle des Menschen vollzieht, sondern umgekehrt der Mensch unter ein ihm objekthaft entgegenstehendes, mechanisches System gezwungen wird, so kann eine gesellschaftliche Veränderung nur durch ein Bewußtsein geschehen, das diese Verkehrung erkennt und in den verdinglichten Verhältnissen deren Grund, die Beziehungen zwischen den Menschen, bestimmen kann. Ist jedoch die Verdinglichung in dem geschilderten Maße konstituierend für das individuelle Bewußtsein, kann dieser Erkenntnisakt nur erfolgen, wenn spontan-unmittelbares Handlungsbewußtsein und Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft, ihres Gesamtzusammenhangs, identisch werden. Dieses Totalitätsbewußtsein, verstanden als zugerechnetes Klassenbewußtsein, 92 kann auf diese Weise nur das Proletariat erreichen, denn 92

»Indem das Bewußtsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben >würdenvollkommen zu erfassen fähig wärenbewußte< Schritt dem Reich der Freiheit entgegen.« (Lukács 1923, 317), die losgelöst vom Proletariat als theoretische Vorhut besteht aufgrund des unterschiedlichen Bewußtseinstandes: »Die organisatorische Loslösung der kommunistischen Partei von der breiten Masse der Klasse selbst beruht auf der bewußtseinsmäßig verschiedenen Gliederung der Klasse . . . « (Lukács 1923, 329). '"Vgl. Lukács 1923, 165. 95 Die prägnanteste Formulierung der damit aufgeworfenen Theorie der »revolutionären Offensive« findet sich bei Lukács 1921; diese Offensive sei notwendig, weil nur » . . . durch selbständige Initiativ-Aktionen . . . die ideologische Krise, die menschewistische Lethargie des Proletariats, der tote Punkt der revolutionären Entwicklung überwunden werden kann.« (Lukács 1921, 247, im Original hervorgehoben). 96 Vgl. die Märzaktion der KPD von 1921, die von Lenin und Trotzki scharf verurteilt wurde; dazu die Darstellung von Kammler 1974, 194-237, welche auch auf den Kontext der parteiinternen Auseinandersetzungen und auf die verschiedenen Auffassungen innerhalb der Komintern, besonders die Kontroverse Lenin-Luxemburg, eingeht, sowie Toiviainen 1978.

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Der Gedanke eines spontanen revolutionären Umschlags wird aufgegeben zugunsten der Konzeption einer Übergangsgesellschaft, der »demokratischen Diktatur« (Lukács 1928, 306), in der als »vollkommene Verwirklichung der bürgerlichen Demokratie« (Lukács 1928, 307) die bürgerlichen Freiheitsrechte gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie in allen gesellschaftlichen Bereichen durchgesetzt werden. Das Bürgertum hatte bis zu seinem Sieg in der Französischen Revolution selbst für die vollständige Verwirklichung dieser Rechte gegen die feudalen Kräfte gekämpft, nach seinem Sieg aber die weitergehenden Freiheitsbestrebungen der proletarisch-plebejischen Massen mittels des Staates und der »normalen Demokratie« (Lukács 1928, 308) unterdrückt. Dagegen soll durch den Kampf für völlige inhaltliche Durchsetzung der bürgerlichen Rechte, vor allem im Produktionsbereich, ein proletarisches Klassenbewußtsein entstehen, indem versucht wird, » . . . die organisatorischen und ideologischen Formen zu lockern, durch deren Hilfe die Bourgeoisie unter >normalen Umständen< die breiten Massen des arbeitenden Volkes desorganisiert; ( . . . ) « (Lukács 1928, 307), um so seine Plattform für den Klassenkampf zu schaffen, in dessen Verlauf die »bürgerliche Revolution in die Revolution des Proletariats« (Lukács 1928, 308) umschlägt. Wiederum werden die proletarischen Massen von der Partei geführt, anders aber als in »Geschichte und Klassenbewußtsein« resultiert der Prozeß der proletarischen Bewußtseinsbildung nicht mehr aus der Eskalation der realen Verdinglichung, sondern kann durch die von der politisch-theoretischen Avantgarde geleisteten Aufklärungsarbeit vermittelt werden. 98

3.1.2 Zum Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und künstlerischer Gegenständlichkeitsform Nachdem Lukács wegen seiner Blum-Thesen der Rechtsabweichung bezichtigt wurde, zog er sich aus der politischen Praxis zurück, ohne in seinen folgenden Arbeiten zu Literatur die oben skizzierten Positionen aufzugeben : nämlich die Konzeption der »demokratischen Diktatur« und die Schaffung des Totalitätsbewußtseins, die Durchbrechung der umfassenden Verdinglichung, als Voraussetzung und Inhalt der gesellschaftlichen Umwälzung." Der 97

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Zur aktuellen Situation innerhalb der K P U und der den Blum-Thesen zugrundeliegenden Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen Bela Kuns und Landlers sowie der Komintern-Kritik an Lukács' Thesen als »Rechtsabweichung« vgl. K a m m ler 1974, 327f„ Grunenberg 1976, 2 5 8 - 2 6 5 . Diese theoretischen Eliten sollen » . . . mit Hilfe ihres theoretischen Bewußtseins die nur spontan-revolutionären Massen aus ihrer bloßen Spontaneität »erlösen«, zur bewußten Aktion und damit zur kollektiven Beherrschung des sozialen Prozesses führen können.« (Ludz 1967, XLV). Lukács bemerkt selbst im Vorwort der 1967 erschienenen Ausgabe von »Geschichte und Klassenbewußtsein« zur Bedeutung der Blum-Thesen, für die er 1929 öffentlich Selbstkritik übte: »Wie wenig ernst gemeint diese Selbstkritik war, zeigt, daß die Wendung der Grundeinstellung, die den Thesen zugrunde lag (allerdings ohne darin einen auch nur annähernd adäquaten Ausdruck zu erhalten), von nun an den Leit-

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Zugriff auf das Phänomen »Kunst« ist bei Lukács nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer bestehenden, auf Warenverhältnisse gegründeten und damit von der Gegenständlichkeitsform der Ware beherrschten bürgerlichen Gesellschaft, der Kunst durch ihre spezifische Gegenständlichkeitsform Widerstand zu leisten vermag. Denn, und dies arbeitet Lukács bereits 1920 in »Alte Kultur und neue Kultur« heraus, 100 während in der Warenproduktion nicht der Wille und das Interesse des Subjekts sich vergegenständlichen, da aufgrund von Lohnarbeit und Arbeitsteilung kein intentionales Verhältnis zwischen Produzent und Produkt besteht, kann das ideale Kunstwerk nur als ein Gegenstand gedacht werden, dessen Genesis vollständig bestimmt ist von den » . . . menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Schöpfers . . . wobei die ganze Entstehung des Werkes ausschließlich das Resultat der Arbeit des Künstlers ist und jede Einzelheit des entstandenen Werkes durch die individuellen Qualitäten des Künstlers bedingt ist.« (Lukács 1920, 136)

Im Kunstwerk vergegenständlicht sich das Subjekt in seiner individuellen Besonderheit, und zwar vollständig, wogegen in der Warenproduktion der Arbeiter als Objekt der Maschinerie sowohl von seinen individuellen Anlagen nur einen Teil einbringt als auch der Gegenstand seiner Tätigkeit im arbeitsteiligen Prozeß für sich kein Ganzes, Abgeschlossenes darstellt. Die Ware, und dies ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von Warenform und künstlerischer Gegenständlichkeitsform, besitzt keinen Selbstzweck, sondern realisiert ihren Wert nur im Austausch, sie steht nicht für sich, sondern nur für etwas anderes. Die Warenproduktion hat zur Folge, » . . . daß sowohl ein jedes Produkt der kapitalistischen Epoche, als auch alle Energien eines jeden Produzierenden und Schaffenden sich in Warenform gekleidet haben. Alles hat aufgehört, für sich, seines inneren (z.B. künstlerischen, ethischen) Wertes wegen, wertvoll zu sein, es hatte nur Wert als eine auf dem Markt verkaufbare oder kaufbare Ware.« (Lukács 1920, 135)

Auch dieser Funktionalisierung entzieht sich das Kunstwerk, als es seinen Wert für Lukács in sich besitzt, es ist, verglichen mit der Ware, in seiner Nicht-Verwertbarkeit ein autonomes Gebilde. Und damit wird es zu einem Gegenstand, der die Freiheit und Selbstbestimmung des Subjekts repräsentiert, das sich darin zu sich als Selbstzweck verhält und somit seine Ganzheit verwirklichen kann, die ihm in der von der Warenfom geprägten Gesellschaft generell verweigert und zerstört wird. 101 faden für meine weitere theoretische wie praktische Arbeit abgab.« (Lukács 1967, 34). 100 Auf diese Arbeit aus dem Jahre 1920 wird zurückgegriffen, da hier die Kontrastierung beider Gegenständlichkeitsformen sehr prägnant gezeichnet ist, wobei diese Gegenüberstellung auch für die Zeit des Exils gültig bleibt; zur inhaltlichen Kontinuität der Argumentation Lukács' vgl. Schmitt 1978, 226-228. ,0 ' Kunst im Kapitalismus hält letztlich die Erinnerung an eine unentfremdete Vergegenständlichung des Menschen wach, die Lukács hinsichtlich der >Lebensmittel< auf den Gegensatz zwischen einer idyllischen, dem Gebrauchswert verpflichteten Pro-

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Eine Gesellschaft, in der in diesem Sinne der Mensch seine Subjekthaftigheit bewahren und entfalten konnte, bestand für Lukács im klassischen Griechenland. Dort war nicht die Ware die bestimmende Gegenständlichkeitsform, sondern es herrschte bei nur geringem ökonomischen Entwicklungsstand eine gleichsam »kulturelle« Beziehungsstruktur zwischen den Gesellschaftsmitgliedern. Der organische Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens war unmittelbar einsichtig, nicht die wirtschaftliche Grundlage bestimmte die Überbaubereiche und Bewußtseinsformen dieser Welt, sondern umgekehrt :die »staatlich-juristischen Formen« (Lukács 1923, 69), die »sozialen und politischen Strukturen der antiken Demokratie« (Lukács 1938, 299), und darin liegt ihre demokratische Qualität, waren konstitutiv für die ökonomische Basis. Daraus begründete sich wiederum die Idealität des klassischen Griechenlands und seiner politisch-sozialen Ordnung für die bürgerlichen Intellektuellen, welche die aus der Ausbreitung der Warenverhältnisse resultierende Verhinderung freier menschlicher Selbstverwirklichung erkennen. Griechenland als Gegenbild zu einer verdinglichten Welt; 1 0 2 dies ist für Lukács auch der Grund von Hölderlins Griechenverehrung: » D e r Schlüssel zu Hölderlins Verständnis ist also, das Spezifische dieses Griechentums zu erfassen.« (L 110). Und dieses Spezifische ist jene im Bild Griechenlands vorgestellte Idee menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung im Kontrast zur arbeitsteilig organisierten Verwertung des Menschen in der Warenproduktion: deshalb »haßt« Hölderlin zwar » . . . in romantischer Weise die kapitalistische Arbeitsteilung. Das wesentlichste Moment der zu bekämpfenden Degradation ist aber in seinen Augen der Verlust der Freiheit. Und diese Konzeption von Freiheit strebt bei ihm . . . über den engen duktion und der rationellen Warenproduktion, für die allein der Tauschwert relevant ist, reduziert: »Die Gegenstände der Bedürfnisbefriedigung erscheinen nicht mehr als Produkt des organischen Lebensprozesses einer Gemeinschaft (wie z. B. in einer Dorfgemeinde), sondern einerseits als abstrakte Gattungsexemplare, die von anderen Exemplaren ihre Gattung prinzipiell nicht verschieden sind, andererseits als isolierte Objekte, deren Haben oder Nichthaben von rationellen Kalkulationen abhängig ist.« (Lukács 1923, 103). Zur daraus folgenden Funktion von Kunst bei Lukács bemerkt Gallas 1971: »Und hier nun läßt sich die erstaunliche Feststellung treffen, daß Lukács nicht etwa zu einer Neubestimmung der Funktion von Kunst gelangt, sondern mit dialektschen Kategorien das gleiche faßt, was die klassische bürgerliche Ästhetik als deren Bestimmung angesehen hatte: Realisation einer harmonischen Einheit, Kunst als eine andere Welt, als höchste Erscheinungsform des Menschlichen: das Kunstwerk als geschlossenes Universum, als Ganzheitliches, Insich-Vollendetes.« (Gallas 1971, 66). 102 »Der humanistische Kampf gegen die Degradierung des Menschen durch die kapitalistische Arbeitsteilung findet gerade (im 18. Jh. - M. P.) auf literarisch-künstlerischem Gebiet ein leuchtendes Vorbild in der griechischen Literatur und Kunst, die tatsächlich der Ausdruck einer Gesellschaft waren, welche . . . noch diesseits dieser gesellschaftlichen Struktur stand. Sie konnten also das Vorbild und das Muster für eine Bestrebung werden, die die Wiederherstellung der Integrität des Menschen auf ihre Fahnen schrieb.« (Lukács 1935, 80). 65

Begriff der politischen Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft hinaus . . . . Wenn Hölderlin die Feste des alten Griechenlands feiert, so feiert er die verlorengegangene demokratische Öffentlichkeit des Lebens.« (L 121)

Soll nun dieser Bestimmung im Werk Hölderlins nachgegangen werden, so ist nicht nur zu untersuchen, wie weit sich tatsächlich im Text die Negativität der Gegenwart aus den Folgen der sich entwickelnden Ausbreitung der Warenverhältnisse ableitet, sondern auch, ob die zu findende Vorbildlichkeit des alten Griechenlands sich aus dem Nichtvorhandensein der Gegenständlichkeitsform der Ware ergibt; das heißt, ob diese Welt für Hölderlin ihre Idealität dadurch gewinnt, daß im Gegensatz zur Gegenwart die wirtschaftliche Grundlage des Lebens von den Menschen kontrolliert wird und sie damit zu jener kulturellen Beziehungsform in ihrem gesellschaftlichen Leben gelangen. Aus der so gefaßten Entgegensetzung von künstlerischer Gegenständlichkeitsform und Warenform läßt sich auch die Frage lösen, weshalb der Dichter Friedrich Hölderlin die negativen Folgen der in seiner Gegenwart sich durchsetzenden Warenbeziehungen erfassen und im klassischen Griechenland das sich der Warenform verweigernde gesellschaftliche Ideal erkennen kann. In der Autonomie der Kunstform und der damit zusammenhängenden, vom Subjekt vollständig bestimmten Produktionsweise offenbart und bewahrt sich ein der teleologischen Bestimmung des Menschen entsprechendes Streben nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, das notwendig mit den Verhältnissen in der bürgerlichen Welt kollidieren muß, aber, und darin liegt der Fortschrittsoptimismus von Lukács, in der proletarischen Revolution seinen realen Ausdruck finden wird. Die Form des Kunstwerks repräsentiert also eine menschliche Wesensbestimmung, womit, und dadurch erfährt der Künstler die Negativität der Gegenwart, der zu bearbeitende Inhalt, die gesellschaftliche Wirklichkeit, nicht mehr unmittelbar, abbildhaft zu vermitteln ist. Denn die kapitalistische Welt stellt sich in ihrer mechanisch-arbeitsteiligen Ausdifferenzierung dar als der »Friedhof der ermordeten menschlichen Echtheit und Größe« (Lukács (Ideal) 1938, 307), in dem »alles Schöne und Große im Menschen erbarmungslos zerstampft« (ebd.) wird. Im Gegensatz dazu entsprachen sich in der griechischen Welt die vom Subjekt bestimmte gesellschaftliche Lebenswirklichkeit und die Kategorie der küstlerischen Gegenständlichkeitsform vollständig, es bestand ein direktes Abbildverhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft, während in der kapitalistischen Gegenwart Form und Inhalt von Kunst auseinandertreten: »Die wertvolle Dichtung des Kapitalismus . . . konnte . . . nicht das einfache Abbilden ihrer Zeit sein, wie z. B. die griechische Dichtung, deren ewige Schönheit gerade diesem selbstverständlichen kritiklosen Abbilden entsprang, sondern nur eine Kritik des Bestehenden.« (Lukács 1920, 142f.)

Schönheit und Harmonie, die Idee des Menschen als Selbstzweck, welche die griechischen Kunstwerke zu realisieren imstande waren und worin ihre Vorbildhaftigkeit für die Künstler der bürgerlichen Welt besteht, sind in der 66

Gegenwart nicht mehr zu verwirklichen, sie lassen sich im modernen Kunstwerk nur mehr als Kritik und Anklage der bestehenden Verhältnisse einlösen: die vorbildhaften Künstler » . . . des bereits entfalteten Kapitalismus - . . . - müssen als wahrheitsgetreue Gestalter der Wirklichkeit auf die Darstellung des schönen Lebens, des harmonischen Menschen entschlossen verzichten. Sie können . . . nur das disharmonische, zerrissene Leben gestalten, das Leben, das alles Schöne und Große am Menschen erbarmungslos zerstampft, ja, was noch schlimmer ist, innerlich verzerrt, korrumpiert, in den Kot zerrt.« (Lukács (Ideal) 1928, 307) D i e aus der Entsprechung von Form und Inhalt resultierende Kunstgattung ist das Epos, das in der bürgerlichen Welt nun nicht mehr möglich ist. Der in der A u t o n o m i e der Kunstform festgehaltene Anspruch des Subjekts vermag sich nur mehr mittels Reflexion und Kritik des Inhalts zu behaupten; die Gattung, welche diesen Bruch v o n Inhalt und Form zu einer höheren Einheit aufzuheben imstande ist, ist für Lukács der Roman. 1 0 3 Auch Hölderlins Streben nach Ganzheit und Harmonie ist zu seiner Zeit nicht mehr in der Form des Epos darzustellen: »Hölderlin verzichtete von vornherein auf das unmögliche Bestreben, auf bürgerlichem Boden ein Epos zu schaffen, er stellt, den Notwendigkeiten des Romans folgend, seine Gestalten und ihre Schicksale von vornherein in ein - wenn auch noch so stilisiertes - bürgerliches Alltagsleben.« (L 127) Ist aber der »wahrheitsgetreue« Künstler durch die Formbedingungen des Kunstwerks bereits bezwungen - und insofern er »ehrlich« ist, auch entgegen seinen unmittelbaren Klasseninteressen - , die Freiheit des Subjekts gegen eine diese Freiheit negierende Wirklichkeit zu vertreten, so m u ß er den verdinglichten Schein der Warenverhältnisse durchbrechen und den Menschen als Träger und Produzent dieser Warenwelt erkennen. 1 0 4 Dies bedeutet aber 103

Lukács führt an, daß » . . . der >Wilhelm Meisten der erste große Versuch ist, die Probleme des modernen bürgerlichen Lebens in Deutschland in bewegter Totalität, als umfassendes Gesamtbild darzustellen . . . « (Lukács (Wilhelm Meister) 1934, 63) und womit dessen » . . . Form ununterbrochen zur Größe des Epos hinaufstrebt.« (ebd.) Gerade dies kann aufgrund der »künstlerischen Problematik der ganzen Kunst der bürgerlichen Periode« (ebd.) nicht mehr gelingen; in der arbeitsteiligorganisierten Gesellschaft gilt, daß » . . . die adäquate künstlerische Widerspiegelung eines in solcher Weise notwendig widerspruchsvollen Stoffes bloß eine in sich widerspruchsvolle Form, wie der bürgerliche Roman, sein kann, eine Form, deren Größe und Vollendung gerade in dem konsequenten Zuendeführen der ihr zugrundeliegenden Problematik liegt.« (ebd.). 104 Die damit dargestellte Einheit von Wesen und Erscheinung kennzeichnet nach Lukács das »realistische« Kunstwerk; zu dieser Erkenntnis, welche der Darstellung zugrunde liegt, kann entsprechend seiner »Ehrlichkeit« (Lukács 1945, 236) der Künstler auch gegen seine »tiefen Überzeugungen« (ebd.) gelangen; analog zu Friedrich Engels (Brief von 1888, vgl. Marx/Engels 1967, 159) führt Lukács hier das Beispiel Balzac an. Begnügt sich Kunst dagegen mit der bloßen Reproduktion der Erscheinungsseite, verfehlt sie in diesem »Naturalismus« die gesellschaftliche Totalität ebenso wie der »Formalismus«, ohne Darstellung konkreter Erscheinungen die Wesensseite vermitteln will: diese Bestimmungen sind bei Lukács » . . . keine den 67

gerade die Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft, der Totalität, und das Wissen um die notwendige Aufhebung der kapitalistischen Produktionsform. Damit kann der Künstler - und er ist für Lukács dann ein »Realist« - die »Tendenzen der objektiven Wirklichkeit« (Lukács 1938, 216) gestalten, 105 womit er im entwickelten Kapitalismus notwendig auf der Seite des Proletariats als berufenem Träger der Revolution - vermittels einer demokratischen Übergangsgesellschaft - stehen wird. Es erscheint umgekehrt für den Rezipierten im »realistischen« Kunstwerk nichts anderes als jenes Totalitätsbewußtsein, welches in »Geschichte und Klassenbewußtsein« idealtypisch dem Klassenstandpunkt des Proletariats »zugerechnet« wurde und in dessen »revolutionärer Vorhut« (Lukács 1923, 332) erstmals sich realisiert. Die Stelle dieser politisch-proletarischen Avantgarde nimmt nunmehr der bürgerlichrealistische Künstler ein, er bildet damit die »wirkliche ideologische Avantgarde« (Lukács 1938, 216) in der kapitalistischen Welt; sein Werk ist zu sehen » . . . als Ausdruck einer vielfältigen und reichen Erfassung der Wirklichkeit, als Widerspiegelung ihrer unter der Oberfläche verborgenen Tendenzen, die erst in einer späteren Entwicklungsstufe voll entfaltet und für alle wahrnehmbar in Erscheinung treten.« (ebd. 216)

Hieraus erklärt sich, weshalb Lukács im BPRS und in der Realismusdebatte die bürgerlich-traditionellen Literaturformen verteidigt; hieraus wird aber auch ersichtlich, in welchem Maße er die oben skizzierten philosophisch-politischen Anschauungen in seine Konzeption von Literatur transformiert. Diese Avantgarde-Stellung wird nun auch Hölderlin zugeschrieben. Lukács sieht in seinem Werk die Kritik der einsetzenden bürgerlichen Warenverhältnisse so radikal thematisiert, daß eine grundlegende Revolutionierung dieser bürgerlichen Welt und ihre ökonomischen Basis nur konsequent ist. Da aber der objektive Träger dieser Umwälzung, das Proletariat, aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit Deutschlands noch nicht sichtbar ist in der Gegenwart des Dichters, mündet seine Gegenwartskritik in eine religiösmetaphysische »Mystik« (L122), die aber von der Intention Hölderlins her über die Beschränkungen der kapitalistischen Ebene hinausweist. Wiederum wird also die Qualität der Gegenwartskritik des Werks an der Opposition zu den bürgerlichen Warenverhältnisse festgemacht. Daneben geläufigen Epochen- und Stilbestimmungen vergleichbare Kategorien. Es handelt sich um transzendentale Grundbestimmungen im Sinne einer Typologie der Kunstformen.« (Gallas 1971, 173). 105 »Es kommt also auf die Erkenntnis der richtigen dialektischen Einheit von Erscheinung und Wesen a n ; . . . « (Lukács 1938, 199), auf die Vermittlung der »unmittelbar nicht wahrnehmbaren Zusammenhänge der gesellschaftlichen Wirklichkeit« (ebd. 205), womit der »Realist« eine »doppelte künstlerische wie weltanschauliche Arbeit« zu leisten hat: » . . . nämlich erstens das gedankliche Aufdecken und künstlerisch-gestalterische Zeigen dieser Zusammenhänge; zweitens aber, und unzertrennbar davon, das künstlerische Zudecken der abstrahiert erarbeiteten Zusammenhänge - das Aufheben des Abstrahierns.« (ebd. 205). Künstlerische und wissenschaftliche Erkenntnisleistung werden inhaltlich identisch.

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aber wird zu untersuchen sein, wieweit die im Werk artikulierte gesellschaftliche Utopie tatsächlich nur als »Mystik« abzutun ist, ob nicht ein sehr konkretes Modell gesellschaftlichen Lebens vorgestellt wird und wieweit es sich auszeichnet durch die Überwindung einer verdinglichten, arbeitsteilig organisierten, warenproduzierenden Gesellschaft. Es wird also zu fragen sein, ob in Hölderlins Zukunftsbildern Momente jenes Zieles der Geschichte zu finden sind, welches das Proletariat nach Lukács zu verwirklichen hat; nämlich die Schaffung einer » . . . bewußt geregelten Gesellschaft, deren >Ökonomie< dem Menschen und seinen Bedürfnissen untergeordnet ist.« (Lukács 1923, 258f.)

3.1.3 Hölderlins Werk als Ausdruck der Ideale des revolutionären Bürgertums Offen blieb bislang noch, weshalb gerade das Proletariat zur Schaffung einer Gesellschaft prädestiniert sei, in welcher der Mensch seine »Eigenschaften und Fähigkeiten« frei verwirklichen könne, und weshalb das Vorhaben auf die Dauer nur dieser Klasse gelingen könne, obwohl es bei den Griechen bereits existierte und ideell auch für die bürgerliche Intelligenz und die revolutionäre Bourgeoisie Vorbildcharakter besaß. Das Spezifikum und zugleich die Schwierigkeit der proletarischen Revolution liegt für Lukács darin, daß diese Klasse eine »bewußte Umgestaltung der Gesellschaft« (Lukács 1923, 84) aufgrund der Erkenntnis der Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhanges zu leisten habe und mit dieser gesellschaftlichen Umwälzung seine »Selbstaufhebung« (Lukács 1923, 93) verbunden ist, da seine Existenz das Resultat der den Menschen zum Objekt degradierenden Warenverhältnisse bedeutet. Mit der Selbsterkenntnis des Proletariats als Ware gelangt es nicht nur zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Totalität, sondern durchbricht real die Zwänge der alle Bereiche strukturierenden Gegenständlichkeitsform der Ware; das Proletariat setzt somit, und zwar bewußt, die gesamte Gesellschaft in Freiheit, sein Klassenbewußtsein ist identisch mit dem Totalitätsbewußtsein: »Da . . . das Proletariat von der Geschichte vor die Aufgabe einer >bewußten Umwandlung der Gesellschaft< gestellt ist, muß in seinem Klassenbewußtsein der dialektische Widerspruch des unmittelbaren Interesses zum Endziel, des einzelnen Momentes zum Ganzen entstehen. . . . durch seine Beziehung auf das Endziel weist es konkret und bewußt über die kapitalistische Gesellschaft hinaus, wird es revolutionär.« (Lukács 1923, 84)

Dagegen verfolgten die herrschenden Klassen aller bisherigen Gesellschaftsformationen im Kampf um die Macht immer nur ihre subjektiv-unmittelbaren Klasseninteressen, weshalb für sie der revolutionäre Kampf zwar leichter war, aber es entstand aufgrund des Defizits an Totalitätsbewußtsein, der fehlenden Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem, die ökonomisch-soziale Struktur der Gesellschaft gemäß diesem Klasseninteresse nicht 69

als bewußt-geregelter Prozeß, sondern immer hinter dem Rücken der Beteiligten: »Denn die Klassen, die in früheren Gesellschaften zur Herrschaft berufen und darum zur Durchführung von siegreichen Revolutionen fähig waren, standen eben wegen der Unangemessenheit ihres Klassenbewußtsein zu der objektiven ökonomischen Struktur, also wegen ihrer Unbewußtheit über ihre eigene Funktion im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß >subjektiv< vor einer leichteren Aufgabe. Sie mußten nur ihre >unmittelbaren< Interessen mit der Gewalt, die ihnen zur Verfügung stand, durchsetzen, der gesellschaftliche Sinn ihrer Handlungen blieb ihnen selbst verborgen und der >List der Vernunft< des Entwicklungsprozesses überlassen.« (Lukács 1923, 84)

Auch die griechische Welt, in der durch die Regelung der ökonomischen Basis durch die Überbaubereiche ein gesellschaftlicher Idealzustand realisiert wurde, ging letztlich wegen der Unangemessenheit des Klassenbewußtseins der griechischen Bürger zur gesellschaftlichen Basis, der Sklavenwirtschaft, zugrunde.106 Andererseits aber ist es für Lukács ein Wesensmerkmal des Menschen, seine »Eigenschaften und Fähigkeiten« in der gesellschaftlichen Praxis frei und vollständig entfalten zu können: »Die Sehnsucht nach der Harmonie zwischen den Fähigkeiten und Kräften des Menschen ist niemals ganz erloschen.« (Lukács 1938, (Ideal), 299). Gerade dieses Bedürfnis setzt aber die bewußte Regelung der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens und damit den Standpunkt der Totalität ebenso voraus wie die Entwicklung der Produktivkräfte als materielle Voraussetzung differenzierter gesellschaftlicher Praxis. Bereits die forschrittlichen Kräfte der Renaissance verfolgen im Kampf gegen die Feudalgesellschaft und geleitet vom griechischen Ideal der gelungenen harmonischen Welt diese Perspektive : »Mit stürmischem Enthusiasmus und heute unvorstellbarer Vielseitigkeit ihrer genialen Fähigkeiten arbeiteten die großen Männer der Renaissance an der Entwicklung aller gesellschaftlichen Produktivkräfte. Ihr großes Ziel war die Sprengung der lokalen, engen und bornierten mittelalterlichen Schranken des gesellschaftlichen Lebens, die Schaffung eines Gesellschaftszustandes, in dem alle menschlichen Fähigkeiten, alle Möglichkeiten, die Naturkräfte gründlich zu kennen und gründlich den Zwecken der Menschheit zu unterwerfen, frei würden. Und diese großen Männer sahen stets klar, daß eine wirkliche Entwicklung der Produktivkräfte gleichbedeutend ist mit der Entwicklung der produktiven Fähigkeiten der Menschen selbst. Die Herrschaft freier Menschen in freier Gesellschaft über die Natur: das ist das Renaissanceideal des harmonischen Menschen.« (Lukács (Ideal) 1938, 300f.)

Diese Zielsetzung wird vom aufstrebenden Bürgertum des 18. Jahrhunderts völlig übernommen, die gesamte Literatur der Aufklärung bis zur deutschen Klassik, bis hin zu den Werken Hegels, Schellings und Hölderlins ist der Versuch, mittels des Rekurses auf die griechische Demokratie' 07 eine solche 106 107

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Lukács 1923, 65. »Die wirklich großen theoretischen und dichterischen Verkünder der menschlichen Sehnsucht nach Harmonie haben stets klar erkannt, daß die Harmonie des Individuums seine harmonische Zusammenarbeit mit der Außenwelt, seine Harmonie mit der Gesellschaft voraussetzt. Die großen theoretischen Verfechter des harmonischen

Gesellschaft freier Menschen zu schaffen, in der also das Individuum als Besonderes dennoch unentfremdet - als Subjekt - im Gesellschaftlich-Allgemeinen verbleibt. Gerade in der Tatsache aber, daß die Entwicklung der Produktivkräfte gleichbedeutend ist mit der Ausbreitung der Warenverhältnisse, erweist sich das fehlende Totalitätsbewußtsein des Bürgertums. Die Strukturierung aller gesellschaftlichen Bereiche durch die Gegenständlichkeitsform der Ware vollzieht sich unabhängig vom Bewußtsein der Beteiligten und zerstört vollständig jenes griechisch-harmonische Ideal, welches nunmehr als »Selbsttäuschung« (L 129) der fortschrittlich-bürgerlichen Klasse erscheint. Der Widerspruch zwischen den Idealen und den Handlungsergebnissen des Bürgertums wird bereits vor der Französischen Revolution in »Die Leiden den jungen Werther« festgehalten; Goethe formuliert hier für Lukács die Einsicht, » . . . daß die bürgerliche Gesellschaft, deren Entwicklung eigentlich das Problem der Persönlichkeitsentfaltung mit solcher Vehemenz in den Vordergrund gestellt hat, ihr selbst ununterbrochen Hindernisse entgegensetzt.« (Lukács 1936, 21)

Mit der Hinrichtung Robespierres 1794 und der Niederlage der Jakobiner, welche als politische Fraktion in Frankreich die Zerstörung der menschlichen Ganzheit in der bürgerlichen Gesellschaft erkannten und deshalb eine Veränderung gemäß den Interessen der »kleinbürgerlichen und halbproletarischen Massen der Städter und . . . der Bauernschaft« (L 116) versuchten, manifestiert sich die Herrschaft der Bourgeoisie, deren unmittelbares Herrschaftsinteresse nun nicht mehr zu vereinbaren ist mit jenen während der Emanzipationsbemühungen vertretenen demokratisch-revolutionären Idealen. 108 Erst in der Übergangsform der »demokratischen Diktatur«, so Lukács in den Blum-Thesen, werden sie realisiert; für die bürgerlich-intellektuelle Avantgarde war damit jedoch eine historisch ausweglose Situation entstanden, da die eigene Klasse ihre fortschrittliche Rolle bereits verspielt hatte und der objektive Träger der menschlichen Zukunft, das Proletariat, zur Zeit der Französischen Revolution noch nicht zu antizipieren war. In dieser Ausweglosigkeit befindet sich für Lukács auch der Dichter Hölderlin, dessen Roman »Hyperion« ist zu verstehen als Menschen von der Renaissance über Winckelmann bis zu Hegel haben nicht nur in den Griechen die wahren Verwirklicher dieses Ideals bewundert, sondern mit zunehmender Klarheit die Ursachen der harmonischen Entwicklung des Menschen der klassischen Periode Griechenlands erkannt in der sozialen und politischen Struktur der antiken Demokratien. (Etwas anderes ist es, daß ihnen die Sklaverei als Grundlage jener Demokratie mehr oder weniger verhüllt blieb.)« (Lukács (Ideal) 1938, 299). In der Aufschwungphase der bürgerlichen Klasse kann diese hohe Kultur sich entwickeln, die Aufklärungsliteratur ist die » . . . ideologische Vorbereitungsarbeit zur bürgerlich-demokratischen Revolution.« (Lukács 1947, 12), der politische Umschlag erfolgt mit der Hinrichtung Robespierres. 108 »Jedoch in der Periode, in der die ökonomischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft selbstverständlich geworden sind, ist die bürgerliche Ideologie bereits in die Periode der Apologetik eingetreten . . . « (Lukács 1935, 77). 71

» . . . die Klage der besten bürgerlichen Intelligenz über die verlorengegangene >Selbsttäuschung< der heroischen Periode der eigenen Klasse.« (L 124)

Diese Ausweglosigkeit, die Unmöglichkeit politischen Handelns sieht Lukács noch verstärkt durch die politisch-wirtschaftliche Rückständigkeit Deutschlands. Trat in Frankreich seit 1794 » . . . die bürgerliche Gesellschaft in ihrer Fortschrittlichkeit und zugleich - unabtrennbar - in ihrer Scheußlichkeit immer klarer in den Vordergrund« (L 111),

so bleibt Deutschland von den »alten Mächten« (Lukács 1947, 8) beherrscht. Ein selbstbewußtes und starkes Bürgertum entsteht in Deutschland - auch im 19. Jahrhundert - nicht. Diese soziologisch-historische Tatsache entspringt der »deutschen Misere«, der gescheiterten Entstehung eines deutschen Nationalstaates samt jenen progressiven Tendenzen, wie sie in Frankreich und England politisch und wirtschaftlich schon früh von einer erstarkenden bürgerlichen Klasse durchgedrückt werden. Mit dem Scheitern des Bauernaufstandes von 1555 setzt eine Serie von Siegen der feudal-reaktionären Kräfte gegen alle politisch-fortschrittlichen Bestrebungen zur Schaffung eines Nationalstaates ein, die zahlreichen selbständigen Fürstentümer entwickeln einen »Halbfeudalismus« (Lukács 1947, 8), der in der Lage ist, die wirtschaftlichen Bestrebungen der Bürger unter seine Herrschaftsform zu subsumieren: »All dies hat zur Folge, daß in Deutschland gesellschaftlicher Fortschritt und nationale Entwicklung sich nicht wechselseitig unterstützen und vorwärtstreiben... Deshalb kann auch die Entfaltung des Kapitalismus keine bürgerliche Klasse hervorbringen, die imstande wäre, die nationale Führung zu ergreifen.« (Lukács 1947, 8)

So wurde der deutschen bürgerlichen Intelligenz die Problematik der bürgerlichen Welt am Beispiel Frankreichs schon vorgestellt, als das eigene Land zu » . . . einer faktischen bürgerlichen Revolution noch lange nicht reif« (L 110) war. Dieser Umstand zwingt die literarisch-philosophische Avantgarde, statt in der politischen Praxis nur theoretisch die Konzeption des »Ideals des harmonischen Menschen« zu thematisieren, 109 womit aber losgelöst von taktischen Fragen des politischen Tagesgeschäfts die Reflexion über eine zu schaffende neue Kultur und deren Vermittlung mit der dialektischen Bewegung der Geschichte auf einem Niveau vollzogen wird, das für Lukács den Gipfelpunkt bürgerlichen Denkens darstellt und zugleich die bürgerliche Welt transzendiert. 110 Die realistisch-fortschrittliche Grundhaltung dieser bürger109

Die deutsche Rückständigkeit hat zur Folge, » . . . daß sich der tragische Übergang vom Heldenzeitalter der ins Leben geträumten Polisrepublik Robespierres und SaintJusts in die kapitalistische Prosa rein ideologisch, ohne vorangegangene Revolution, utopisch vollziehen mußte.« (L 110). 110 Dazu Lukács 1947, 12. Zur Transzendenz sehr prägnant 1920: » D e n n nur die Idee des Menschen als Selbstzweck, die Grundidee der neuen Kultur, ist die Erbschaft des klassischen Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts . . . Wie der Kapitalismus die wirtschaftlichen Vorbedingungen seiner Vernichtung selbst erzeugt, wie er die geistigen Waffen der ihn durch das Proletariat vernichtenden Kritik selbst produziert, 72

lichen Avantgarde besteht darin, daß sie den Widerspruch zwischen der »Scheußlichkeit« (L 111) der bürgerlichen Welt und ihrer Fortschrittlichkeit bezüglich der Entwicklung der Produktivkräfte erkannt und festgehalten hat, da er in ihrer Gegenwart keine objektive Lösung finden konnte, und wodurch sie sich jeder »Apologetik und romantischer Reaktion« (Lukács (Ideal) 1928, 302) 1 U entzogen haben. Dieser Widerspruch, der die »ästhetischkontemplative Haltung« (Lukács 1963, 54) der deutschen Klassik erzwingt, kann erst durch das Auftreten des Proletariats aufgehoben werden: »So endet der heroische Kampf der besten Vertreter der Periode bürgerlicher Revolutionen um den harmonischen Menschen mit einer elegischen Trauer, mit der Trauer um das unwiederbringliche Verlorensein der Entfaltungsbedingungen aller menschlichen Fähigkeiten zur Harmonie. Und nur, wo die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft bereits in eine Vorahnung des Sozialismus umschlägt, wird die elegische Trauer von den großen utopischen Träumen der ersten Begründer des Sozialismus abgelöst.« (Lukács (Ideal) 1938, 305f.) Die Einzigartigkeit Hölderlins in dieser historischen Situation liegt nun für Lukács darin, daß er mit dem Sieg der Bourgeoisie weder, wie Schelling, 1 1 2 der Romantik verfiel, noch diesen Sieg akzeptieren und auf dieser Basis, wie Hegel," 3 eine Analyse der bürgerlichen Welt leisten konnte. Er verweigert sich grundlegend der bürgerlichen Wirklichkeit und versucht, obwohl der objektive Träger der gesellschaftlichen Umwälzung, das Proletariat, fehlt und er somit notwendig scheitern muß, das Ideal der befreiten, der griechischen Welt revolutionär durchzusetzen: »Hölderlin schließt kein Kompromiß mit der nachthermidorianischen Wirklichkeit, er bleibt dem alten revolutionären Ideal der zu erneuernden Polisdemokratie treu und zerbricht an der Wirklichkeit, in der für diese Ziele nicht einmal dichterischdenkerisch ein Platz vorhanden war.« (L 111) In einer Welt, in welcher der Bourgeois, der Privateigentümer, seinen Privatinteressen nachgehen kann, weil der Staat die formale Freiheit und Gleichheit der Warenbesitzer sichert, versucht Hölderlin den auf das G e m e i n w e s e n bezogenen Staatsbürger, der Allgemeinheit verpflichteten Citoyen zu zeichso schafft er auch hier in der Philosophie von Kant bis Hegel die Idee der neuen Gesellschaft, die seine Vernichtung notwendig herbeizuführen berufen ist.« (Lukács 1920, 1549). 111 »Hier trifft der unlösbare Widerspruch des bürgerlichen Realismus in seiner Kontrastierung mit dem frühgriechischen Realismus klar hervor. Die Verkünder des antiken Ideals fordern einen Realismus, der imstande sein soll, mit wahrhaftem und tiefem Erfassen des Wesentlichen ein heiteres und bejahendes Bild der gestalteten Gegenwart zu geben. Aber der tiefe künstlerische Widerspruch des bürgerlichen Realismus liegt eben darin, daß eine solche Bejahung der bürgerlichen Gesellschaft . . . prinzipiell nicht möglich ist. Die Bejahung der bürgerlichen Gesellschaft auch in ihrer aufsteigenden Periode bleibt stets eine Bejahung >trotz allemmateriellen< Darstellung; in der Beschränkung auf eine nur »innerliche Handlung« (L 126) enthüllt sich indirekt die Negativität der >äußeren< Welt des Bourgeois: der Dichter bezieht sich zwar auf ein » . . . - wenn auch noch so stilisiertes - bürgerliches Alltagsleben. Dadurch ist er gezwungen, den Citoyen nicht ganz ohne Zusammenhang mit der Welt des Bourgeois zu gestalten. Er kann zwar auch nicht dem idealistischen Citoyen ein vollblütiges materielles Leben verleihen, er nähert sich aber der wirklich plastischen Gestaltung viel mehr als irgendeiner seiner Vorgänger in der Gestaltung des Citoyen.« (L 127)

Auch in diesem Zusammenhang wird also zu fragen sein, wieweit im Text einerseits die von Lukács behauptete Zugehörigkeit des Dichters zu den Jakobinern zu finden ist, und andererseits, wieweit die Charakterisierung des Helden im »Hyperion« als Citoyen einzulösen ist.

3.2 Die Interpretation der Gegenwartskritik in Hölderlins Werk durch Georg Lukács Die Frage ist also, wieweit die Bestimmungen von Lukács zu der in Hölderlins Werken enthaltenen Gegenwartskritik, wonach diese als Reflex auf sich entwickelnde kapitalistische Produktionsverhältnisse zu interpretieren sei und der Dichter selbst sich zu dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit als revolutionärer Jakobiner und Anhänger Robespierres verhalte und dementsprechend solidarisch sei mit den »kleinbürgerlichen und halbproletarischen Massen der Städte und mit der Bauernschaft« (L 116), diese aber als revolutionäre Klasse im rückständigen Deutschland noch nicht vorfinden könne, am Text selbst zu verifizieren sind. 3.2.1 Die Umdeutung der Gegenwartskritik in eine Kritik des einsetzenden Kapitalismus : Arbeitsteilung und Verdinglichung Es wurde bereits auf die Zirkelhaftigkeit der Lukácsschen Argumentation 1,4

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»Endlich gilt der Mensch, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ist, für den >eigentlichen< Menschen, für den >homme< im Unterschied von dem >citoyennächsten< Existenz ist, während der >politische< Mensch nur der abstrahierte, künstliche Mensch ist, der Mensch als eine >allegorische moralische< Person. Der wirkliche Mensch ist erst in der Gestalt des >egoistischen< Individuums, der >wahre< Mensch erst in der Gestalt des abstraktem >citoyen< anerkannt.« (MEW 1, 369f.).

hingewiesen, wenn er die Gegenständlichkeitsform der Ware als »Universalkategorie des gesellschaftlichen Seins« (Lukács 1923, 97) als einzigen Grund von Entfremdung und gesellschaftlich-menschlicher >Zerrissenheit< ansetzt, hier ein monokausales Bedinungsverhältnis postuliert, so daß jedes Bemühen um den »ganzen« Menschen und ein selbstbestimmtes Leben immer nur vor dem Hintergrund entwickelter bürgerlich-kapitalistischer Warenverhältnisse und als Kritik daran interpretiert werden kann. Die zentrale Textstelle dafür im Werk Hölderlins ist für Lukács jener Brief im Roman »Hyperion«, der die Kritik an den »Deutschen« enthält. Lukács deutet diesen Abschnitt als » . . . zornige Prosa-Ode über die Degradierung des Menschen in der Miserabilität, in der philisterhaft engen - beginnenden - Entwicklung des deutschen Kapitalismus.« (L 119)

Er setzt dabei für die Entstehung des Lohnarbeiters das Bestehen entwickelter Produktionsformen an, 115 wobei er zwischen gesamtgesellschaftlicher und innerbetrieblicher Arbeitsteilung in der Manufaktur oder in der Fabrik nicht weiter unterscheidet. 116 Maßgebend ist für ihn der Verlust des organischen Zusammenhangs des Produktionsprozesses, der auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene seine Analogie in der zunehmenden Verselbständigung und Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche findet, und zur Trennung von Produzent und Produkt, zur Unterwerfung der Intentionen und Eigenschaften des Menschen unter die Zwänge der arbeitsteilig-kooperativen Warenproduktion, führt. Dies vermag der Dichter bereits zu sehen, wenn er auch die Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise für die Entwicklung der Produktivkräfte noch nicht erkennen konnte: »Während . . . die Romantiker von dem Ökonomen Sismondi bis zum mystischen Poeten Novalis aus dem Kapitalismus in die einfache Warenwirtschaft flüchten und dem anarchischen Kapitalismus das >geordnete< Mittelalter, der mechanistischen Arbeitsteilung die >Totalität< der Arbeit im Handwerk entgegenstellen, kritisiert Hölderlin die bürgerliche Gesellschaft von einer anderen Seite. Auch er haßt in romantischer Weise die kapitalistische Arbeitsteilung.« (L 121)

Deutlicher aber als die »Romantiker« erkennt der Dichter die Verdinglichung der menschlichen Beziehungsverhältnisse in dieser Gesellschaft, die Verhinderung des »ganzen« Menschen. Der Mensch erscheint als Objekt einer unabhängig von seinen Intentionen und Bedürfnissen bestehenden Warenwelt. Dies hat, so Lukács, Hölderlin bereits in seinem Werk thematisiert, 117 1.5 1.6 1.7

Lukács 1923, 103. Lukács 1923, 180. »Der Kontrast des verlorenen und revolutionär zu erneuernden Griechentums mit der Miserabilität der deutschen Gegenwart ist der ständige, immer variiert wiederholte Inhalt seiner Klage. . . . Es ist die Klage über eine Einsamkeit, der Notschrei aus einer Einsamkeit, die unaufhebbar ist, weil sie sich zwar in allen Momenten auch des privaten Lebens äußert, jedoch von der ehernen Hand der ökonomischgesellschaftlichen Entwicklung selbst geschaffen wurde.« (L 124).

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deshalb bezieht er sich gerade auf die Gegenwelt Griechenland, in der, wie oben skizziert, menschliche Selbstbestimmung in einem Maße gegeben war, die weit über die Möglichkeiten und Inhalte formalbürgerlicher Freiheitsrechte hinausging: »Das wesentliche Moment der zu bekämpfenden Degradation ist aber in seinen Augen der Verlust der Freiheit. Und diese Konzeption der Freiheit strebt bei ihm . . . in mystischen Formen und mit verschwommenen utopischen Inhalten - über den engen Begriff der politischen Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft hinaus. Der Unterschied der Thematik zwischen Hölderlin und den Romantikern Griechenland gegen Mittelalter - ist also kein bloß thematischer Unterschied, sondern ein weltanschaulich-politischer.« (Lukács 121)

Hölderlin beklagt in seiner Gegenwartskritik tatsächlich, wie sich am Text zeigen ließ, die fehlende politische Freiheit, und er spricht davon, daß im Volk der Gegenwart keine »Menschen« im Sinne von »ganzen« Menschen existieren. Als solcher versteht sich Hyperion, er setzt sich ab von denen, »die nur Theile sind des Menschen« (STA III, 89) und meint damit das gesamte Volk. Hier könnte man, ohne Berücksichtigung des Kontextes, an die Konsequenzen maschinell-arbeitsteiliger Produktionsformen denken, und es wird auch ein ökonomisch-rationales Zweckdenken angesprochen, denn sowohl die »Deutschen« als auch die »Agrigenter« werden als »allberechnende Menschen« (STA III, 154; STA IV, 158) bezeichnet, wodurch ein Bezug sich herstellen ließe zu jenem, den Warenverhältnissen immanenten »Prinzip der auf Kalkulation, auf >Kalkulierbarkeit< eingestellten Rationalisierung« (Lukács 1923, 99). Auch die Rede des Empedokles über die »Agrigenter«, welche »Geschmiedet sind ans alte Tagewerk« (STA IV, 15) scheint auf Ausbeutung und Unterdrückung im fremdbestimmten Arbeitsprozeß zu verweisen. Vor allem aber eine Textstelle im »Hyperion«, und auf jene stützt sich Lukács, drückt offensichtlich die buchstäbliche »Zerrissenheit« des kooperativen Arbeiters durch die arbeitsteilig-kapitalistische Warenproduktion aus: » . . . ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesezte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und A r m e und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?« (STA III, 153)

Nun war aber in der Analyse der Gegenwartskritik eine unmittelbare Opposition gegen die wirtschaftlich-soziale Verfassung der Gesellschaft nicht sichtbar geworden und auch Hinweise auf das Bestehen kapitalistischer Produktionsverhältnisse oder arbeitsteiliger Produktionsformen ließen sich nicht feststellen. Dies gilt auch für jene Klage über die »zerrissenen« Deutschen, in der allein der »Handwerker« als Warenproduzent erscheint, die aber an die gesamte Gesellschaft, unter Einschluß der Intelligenz, der Herrschenden und aller Generationen, sich richtet. »Handwerker«, »Denker« und »Priester« bilden das Volk der »Städter«, ihnen stehen an sonstigen, in den Werken 76

vorkommenden Bevölkerungsgruppen die »Herren« als die politisch Herrschenden - in diesem Kontext wird das übrige Volk immer als »Knechte« bezeichnet - sowie das »Bergvolk« auf dem Peloponnes und die »Bauern« als nicht-städtische Klassen gegenüber. Die »Städter« nehmen somit eine Mittelstellung in der gesellschaftlichen Hierarchie ein und unschwer läßt sich hier die ständisch-feudale Gesellschaftsordnung erkennen, worauf auch die aus der Textanalyse abgeleiteten Gegenwartsbezüge bereits hindeuteten. Eine Gruppe von Lohnarbeitern, von Manufaktur- oder gar Fabrikarbeitern wird nicht aufgeführt, weder ein unselbständiges Arbeitsverhältnis zum Zweck der Mehrwertproduktion noch eine innerbetrieblich-kooperative Produktionsform werden thematisiert. Nun betont Lukács selbst, daß die Erscheinung des Lohnarbeiters den Abschluß der gesellschaftlichen Strukturierung durch die Gegenständlichkeitsform der Ware darstellt, womit er jedoch widersprüchlich argumentiert, denn einerseits versteht er die Werke Hölderlins als »Klage« (L 124) über den hereinbrechenden Kapitalismus, andererseits können in der Gegenwart des Dichters die dafür notwendigen Bedingungen wie eine, mit den feudalen Strukturen nicht zu vereinbarende, proletarische Klasse, 118 dennoch fehlen. Damit verliert der Begriff »Kapitalismus« jede historisch-konkrete Bedeutung. Aber auch die von Lukács behauptete Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die zunehmende, arbeitsteilig organisierte Warenproduktion im praekapitalistischen Stadium kann am Werk nicht eingelöst werden. Denn während Lukács die Betonung auf die Veränderung der gesellschaftlichen Realität legen muß, kritisiert Hölderlin gerade die Konstanz der Enge und Gleichförmigkeit der städtischen Lebenswelt. Bereits auf seiner Heimatinsel war es ihm als Jugendlicher zu »enge« (STA III, 19) geworden, in Smyrna spottet er über die »eingeführten Formen und Bräuche« (STA III, 22) der Städter, auch die Beschreibung der »Deutschen« verzeichnet keine wesentliche Veränderung, sie sind nämlich »Barbaren von Alters her« (STA III, 153) und die »Agrigenter« zeichnen sich dadurch aus, daß sie gerade über das »alte Tagewerk« (STA IV, 15) nicht hinauskommen, sondern es wie die übrigen »Völker« ohne Bewußtsein und Reflexion »Tag für Tag« (STA IV, 57) reproduzieren. Anzeichen für einen »anarchischen Kapitalismus« (L 121) können hier nicht gesehen werden. Neben der bäuerlichen Erwerbsform erscheint allein das »Handwerk« als ökonomischer Produktionszweig. Zwar ist damit eine gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung gegeben, welche die Bedingung der Warenproduktion darstellt, aber diese wiederum ist, was Lukács nicht in seine Argumentation aufnehmen kann, » . . . den geschichtlich verschiedensten ökonomischen Gesellschaftsformationen gemein.« (MEW 23, 184). Das Definiens der kapitalistischen Epoche ist nach Marx der freie Lohnarbeiter, der einen Käufer für seine Ware Arbeitskraft findet und der allein " 8 »Der Kaufmann konnte alle Waren kaufen, nur nicht die Arbeit als Ware.« (MEW

23, 380). 77

Mehrwert schaffen kann. 119 Hölderlin dagegen spricht vom je singulären Handwerker, der über seine je eigenen Produktionsmittel verfügt und natürlich Waren für den Markt herstellt, aber eine nur einfache Warenproduktion, eine Produktion auf gleichbleibender Stufenleiter konstituiert. 120 Die gesellschaftlichen Bedingungen der Kapitalakkumulation 1 2 1 sind dem Werk Hölderlins ebensowenig zu entnehmen wie Hinweise auf das Bestehen arbeitsteilig-kooperativer Produktionsformen unter kapitalistischen Bedingungen. Und seine Kritik zielt auch nicht unmittelbar auf die Veränderung der bestehenden Form der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Er wendet sich gegen den Mangel an »Geist« in der individuellen Tätigkeit, gegen die »heuchlerische« Beschränkung des einzelnen Produzenten auf den gesellschaftlich normierten Bereich des »Titels«, die das Individuum ebenso zu verantworten hat, wie es sich konkret-praktisch dieser Konventionen entziehen kann; Hölderlin fährt in seiner Kritik der >zerrissenen< Deutschen fort: »Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sag' es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich erstiken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt, muß nicht mit dieser kargen Angst, buchstäblich heuchlerisch das, was er heißt, nur seyn, mit Ernst, mit Liebe muß er das seyn, was er ist, so lebt ein Geist in seinem Thun, und ist er in ein Fach gedrükt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen!« (STA III, 153f.)

Der Arbeitsprozeß ist vom hier angesprochenen Subjekt sowohl bestimmbar als auch überschaubar, es ist Eigentümer der Produktionsmittel und die Einschränkungen, welche hier als »Titel« oder »Fach« angeführt werden, verweisen nicht auf objektive Widersprüche der Produktionsverhältnisse, sondern auf die subjektive Egozentrik und Beschränktheit der Produzenten, welche in einem Verhältnis zueinander stehen, in dem eine bürgerliche Freiheit und Gleichheit der Warenbesitzer noch nicht besteht, wie das Lukács behauptet, sondern entsprechend der historischen Realität eine ständisch-zünftig fundierte Arbeitsteilung und Produktion; davon wird das gesellschaftliche Leben der »Städter« strukturiert, nicht von einem, dem Warenverhältnis immanenten, abstrakten Prinzip der »Rationalisierung«. Und gegen diese feuDie »historischen Existenzbedingungen« des Kapitals » . . . sind durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation. Es entsteht nur, wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet, und diese eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte. Das Kapital kündigt daher von vornherein eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an.« (MEW 23, 184). Und als Anmerkung: »Was also die kapitalistische Epoche charakterisiert, ist, daß die Arbeitskraft für den Arbeiter selbst die Form einer ihm gehörigen Ware, seine Arbeit daher die Form der Lohnarbeit erhält.« (ebd. Anm. 41). 120 Der Begriff der »einfachen Warenproduktion« soll hier nicht als historische Kategorie verstanden werden, sondern den Sachverhalt ausdrücken, daß die gesellschaftliche Produktion noch nicht von der Kapitalakkumulation geprägt ist oder eine solche auf breiter Basis nicht zuläßt. ,21 MEW 23, 589ff. 78

dalen Strukturen der Gesellschaft wendet Hölderlin sich ebenso wie gegen das städtische Kleinbürgertum, die »Handwerker«, und die im fürstlichen Dienst stehenden Gelehrten und Priester, deren Interesse nicht auf eine Veränderung des status quo gerichtet zu sein scheint, sondern welche sich bewußt und bemüht anzupassen versuchen. Ein wirtschaftlich begründeter Klassengegensatz zwischen Adel und Bürger, wie ihn Lukács unbesehen ansetzt, kann daraus nicht gefolgert werden. Der Dichter kritisiert nicht die Eigentumsverhältnisse noch geht es ihm letztlich um wirtschaftlich-bürgerliche Liberalisierung, ein ökonomischer Interessenstandpunkt wird nicht deutlich; er stößt sich vielmehr an der egoistisch-partikularen, »allberechnenden« Gesinnung der einzelnen Individuen, die aber weder in ihrer bürgerlichen Erwerbsform noch in ihrem Verhältnis als Warenbesitzer zueinander - es gibt kein direktes Konkurrenzverhältnis in einem von Zünften geregelten Wirtschaftsleben - bereits kapitalistisch-bourgeoise Charakteristika aufweisen. Die negative Beurteilung der Lebensform eines wohlhabenden bourgeoisen Bürgertums findet sich bei Hölderlin vor allem in den Briefen aus seiner Hauslehrerzeit bei Gontard in Frankfurt, dem Besitzer eines florierenden Bank- und Handelsgeschäftes, 122 dessen Erwerbsgrundlage allerdings unter den zeitgenössischen Bedingungen (vgl. 3.1.1) nicht unbesehen auf eine kapitalistische Mehrwertproduktion zurückzuführen ist; 123 ein solches Bürgertum aber erscheint explizit im Gesellschaftsbild der hier behandelten Werke nicht. Und berücksichtigt man zudem, daß Hölderlin in den entsprechenden Briefen 124 der Lebensform der »Reichen« (STA VI, 270), die er auf einer Stufe mit den »Aristokraten« (ebd.) und »Edelleute(n)« (ebd.) sieht, die idealisierte Harmonie des Lebens eines gesellschaftlichen Standes gegenüberstellt, »wo die goldne Mittelmäßigkeit zu Haus ist« (ebd.), so läßt sich im Kontext der oben skizzierten ökonomischen Bestimmmung folgern, daß die von Hölderlin in den Werken sowohl kritisierte wie angesprochene »städtische« Bevölkerung auf einem sehr geringen wirtschaftlichen Entwicklungsstand sich befindet und in ihrer materiellen Basis - im Rahmen der feudalabsolutistischen Verhältnisse - eher der kleinstädtisch-kleinbürgerlichen Schicht seiner Gegenwart zuzuordnen ist. Dieser Sachverhalt wurde bereits in der Analyse des Gesellschaftsbildes der Briefe von Scharfschwerdt 1971 festgehalten. 125 122

Zu dessen ökonomischer Situation vgl. Mieth 1978: »Das Kapital des Bank- und Handelsgeschäftes, dessen Mitbesitzer er war, wurde 1795 auf 500 000 Gulden (etwa 1 Million Goldmark) geschätzt.« (Mieth 1978,46); er gehörte damit zu den reichsten Männern der Stadt Frankfurt, die damals ca. 36 000 Einwohner zählte. 123 Ein Handelskapital impliziert nicht notwendig eine Mehrwertproduktion, wie andererseits der Mehrwert nicht der Zirkulation entspringen kann, vgl. MEW 23, 178f. 124 An die Schwester 1798: »Dein Glük ist ächt; Du lebst in einer Sphäre, wo nicht viele Reichen, und nicht viele Edelleute überhaupt nicht viel Aristokraten sind; und nur in der Gesellschaft, wo die goldene Mittelmäßigkeit zu Haus ist, ist noch Glük und Friede und Herz und reiner Sinn zu finden, wie mir dünkt. Hier z. B. siehst Du, wenig ächte Menschen ausgenommen, lauter ungeheure Karikaturen. Bei den meisten wirkt ihr Reichtum, wie bei Bauern neuer Wein; denn gerad so läppisch, schwindlich, groß und übermüthig sind sie.« (STA VI, 270). Auf den Begriff der »goldenen Mittelmäßigkeit« wird im Abschnitt 4.0 noch einzugehen sein.

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Der Alltag der von Hölderlin vorgestellten »Städter« wird in seinen gesellschaftlich-politischen Ordnungsstrukturen noch von Kirche, Zunft und einem vom Hof abhängigen Gelehrtentum - diese werden im obigen Zitat aus dem »Hyperion« wörtlich benannt - fixiert; dadurch bestimmt sich das politische Verhältnis des bürgerlichen Individuums zur Gesellschaft und dies ist gleichbedeutend mit seinem Ausschluß aus den übrigen gesellschaftlichen Bereichen.126 Die politische Revolution, um den von Lukács aufgegriffenen Gedankengang von Marx hier einzulösen, welche die Trennung von privater und öffentlicher Sphäre, von Bourgeois und Citoyen konstituiert,127 hat sich, entgegen der Behauptung von Lukács, im Werk Hölderlins noch nicht niedergeschlagen. Sowenig ein »bürgerliches Alltagsleben« (L129) des Bourgeois, das Lukács sehr allgemein postuliert, in beiden Werken auszumachen ist, sowenig erschöpft die Behauptung, wonach Hölderlin im Roman »Hyperion« die Gestaltung des Citoyen versuche,128 dessen Intention, wie sie sich im Werk zeigt. Er stellt der engen und verkrusteten Verfassung eines durch die Zünfte geregelten, von deren partikularen Interessen beherrschten gesellschaftlichen Lebens, das jeder sozialen Mobilität und individuell-subjektiven Entfaltung autoritär-repressiv entgegensteht, nicht das staatsbürgerlichorientierte Individuum gegenüber: Um die Konstituierung eines bewußt geführten und verantworteten gemeinschaftlichen Lebens geht es Hölderlin, er ist im Sinne des »Citoyen« der Allgemeinheit verpflichtet, aber inhaltlich darauf nicht zu reduzieren, denn für die Realisierung dieses Ziels ist die 125

Scharfschwerdt 1971 kommt zu dem Ergebnis, daß die in den Briefen enthaltenen Bilder einer neuen, idealen Gesellschaft » . . . in der ihnen impliziten gesellschaftlich-wirtschaftlichen Struktur im engeren Sinne der Wirklichkeit des deutschen Kleinbürgertums im 18. Jahrhundert verpflichtet sind und verhaftet bleiben. Es ist die gesellschaftlich-wirtschaftliche Struktur einer mittleren Lebensform zwischen reinem Bauernstand und höherentwickltem Großbürgertum, reichem Adel . . . « (Scharfschwerdt 1971, 224). Gerade in diese Mittelstellung in der gesellschaftlichen Hierarchie sind auch die »Städter« der vorgestellten Werke einzuordnen; wieweit auch die Zukunftsmodelle der Werke diesem Bereich entsprechen vgl. Abschnitt 4.4 126 »Welches war der Charakter der alten Gesellschaft? ( . . . ) Die >Feudalitätunmittelbar< einen >politschen< Charakter, d. h. die Elemente des bürgerlichen Lebens, wie z. B. der Besitz oder die Familie oder die Art und Weise der Arbeit, waren in der Form der Grundherrlichkeit, des Standes und der Korporation zu Elementen des Staatslebens erhoben. Sie bestimmten in dieser Form das Verhältnis des einzelnen Individuums zum >Staatsganzenpolitsches< Verhältnis, d. h. sein Verhältnis zur Trennung und Ausschließung von den anderen Bestandteilen der Gesellschaft.« (Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, 367f.). Diese Grundlage der Bestimmung von Bourgeois und Citoyen vermag Lukács im Rahmen seiner Verdinglichungstheorie nicht aufzunehmen, wie er auch keine eingehende Analyse des Feudalismus leistet. 127 »Die politische Revolution >hob< damit den politischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft aufIndividuenmateriellen< und geistigen Elementen welche den Lebensinhalt, die bürgerliche Situation dieser Individuen bilden.« (MEW 1, 368) 128 L 126f.

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»Liebe« zur »Schönheit« notwendig, die, wie sich zeigen wird, identisch ist mit dem Bewußtsein von der »göttlichen Natur«. Im gemeinsamen und, wie aus den Modellen der Zukunft hervorgehen wird, den Menschen vollständig bestimmenden Bezug auf dieses religiös-ästhetische Medium, in dem der Mensch gerade nicht als »abstrakter Staatsbürger« (MEW 1, 370) erscheint, sollen jene menschlichen Kräfte frei werden, die in der bestehenden feudalbürgerlichen Lebenswelt noch erstickt werden müssen: »O Bellarmin! wo ein Volk das Schöne liebt, wo es den Genius in seinen Künstlern ehrt, da weht, wie Lebensluft, ein allgemeiner Geist, da öffnet sich der scheue Sinn, der Eigendünkel schmilzt, und fromm und groß sind alle Herzen und Helden gebiert die Begeisterung.« (STA III, 156)

Die These von Lukács, wonach in der Gegenwartskritik der Werke Hölderlins bereits eine Problematisierung kapitalistischer Produktionsformen und der formal-bürgerlichen Freiheitsrechte zu finden sei, läßt sich somit nicht halten. 3.2.2 Die Umdeutung der Gegenwartskritik in einen Aufruf zur Revolution: Hölderlin als Jakobiner Kann damit auch das Werk Hölderlins nicht länger als »Klage« (L 124) über die »Entwicklung des deutschen Kapitalismus« (L 119) verstanden werden die Frage nach der Berechtigung, Hölderlin als revolutionären Jakobiner zu bezeichnen, ist damit noch nicht gelöst. Für Lukács ist der Dichter ein »verspäteter« (L 124) Parteigänger dieser politischen Fraktion, und zwar aufgrund eines potentiellen politisch-revolutionären Aktivismus - in ihm lebt noch das »revolutionäre Feuer des Jakobinertums« (L 124) - wie aufgrund seiner theoretischen Zielsetzung: er » . . . ist auch ideologisch auf den Wegen Robespierres und der Jakobiner.« (L 121). Der Inhalt dieser Ideologie, die Kritik und Überwindung der durch die Bourgeoisie etablierten kapitalistischen Produktionsweise, 129 konnte im Werk Hölderlins schon deshalb nicht nachgewiesen werden, da Merkmale dieser Gesellschaftsform nicht thematisiert und nicht Gegenstand der Gegenwartskritik waren; wieweit Lukács damit das Handlungsinteresse der französischen Jakobiner zutreffend beschreibt, steht hier nicht zur Debatte. 130 Es geht um die Frage der Haltung des Dichters zur französischen Revolution und insbesondere zur Phase der Jakobinerherrschaft, soweit sie in der Reflexion der Problematik politischen Handelns in den Werken und - zur spezifischen Frage des Verhältnisses zu den Jakobinern wird darauf zurückgegriffen - in den Briefen sichtbar wird; denn, und darin ist den Ausführungen von Lukács zuzustimmen, nur sofern diese besondere Phase der Revolution gerechtfertigt 129 130

L 112. Vgl. dazu Fehrenbach 1981, 152ff. Herrn Prof. Langewiesche danke ich für den Hinweis auf diesen Beitrag.

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wird, kann ein deutscher Beobachter der französischen Revolution explizit als Jakobiner bezeichnet werden.131 In der Gegenwartskritik der griechischen »Städter« und der »Deutschen« zeigt sich für Lukács Hölderlins jakobinischer, »antibürgerlicher« (L 116) Standpunkt, er ist, so die pathetische Formulierung, » . . . nicht nur als verspäteter Märtyrer an einer verlassenen Barrikade des Jakobinismus tapfer gefallen, sondern er hat auch dieses Martyrium - das Martyrium der besten Söhne einer einst revolutionären Klasse - zu einem unsterblichen Gesang gestaltet.« ( L 126)

Die Hypothese der jakobinischen Parteinahme Hölderlins ist bereits durch dessen briefliche Äußerungen zu widerlegen. Der Dichter erweist sich darin als aufmerksamer Beobachter der revolutionären Vorgänge. Die durch Robespierre im April 1793 im Konvent eingeleiteten Angriffe der Jakobiner auf die Girondisten kommentiert er in einem Brief an den Bruder Anfang Juli äußerst negativ: »Es hängt an einer Haarspize, ob Frankreich zu Grunde gehen soll, oder ein großer Staat werden?« (STA VI, 85)

Erschienen ihm die revolutionären Vertreter zuvor, wie er 1792 an die Schwester schreibt, als »Verfechter der menschlichen Rechte« (STA VI, 77), für die es zu »beten« (ebd.) gelte, so bezeichnet er die Jakobiner als »Tyrannen«, als »Volksschänder« und stellt sie damit auf eine Stufe mit den feudalen Herrschern; zur Ermordung Marats am 13. 7. 1793 durch Charlotte Corday bemerkt er: » D a ß Marat, der schändliche Tyrann ermordet ist, wirst Du nun auch wissen. Die heilige Nemesis wird auch den übrigen Volksschändern zu seiner Zeit den Lohn ihrer niedrigen Ränke und unmenschlichen Entwürfe angedeihen lassen.« (STA VI,

88)

Hölderlin nimmt Partei für die verfolgten Girondisten, 132 die Jakobiner setzen in seinen Augen den tradierten fürstlich-feudalen Herrschaftsverhältnissen neue entgegen, der »terreur« verhindert jeden politisch-gesellschaftlichenFortschritt gemäß der vom Dichter vertretenen »Sache der Menschheit« ; ausdrücklich billigt er daher die Hinrichtung Robespierres:

131

Während Minder 1968, 33, und Bertaux 1 9 6 9 , 1 3 , die Bezeichnung in einem weiteren Sinne verwenden, betonen auch Hermand 1969, 47f., und Prignitz 1976, 124: »Gegen den gleichsam inflationären Jakobinerbegriff von Teilen der modernen Forschung muß festgehalten werden, daß ein deutscher Beobachter, den man als Jakobiner einstufen will, in seine direkten Stellungnahmen und auf der Ebene prinzipieller Erwägung den kompromißlosen Einsatz des >terreur< verstanden und gerechtfertigt haben muß.« (Prignitz 1976, 124).

132

Im Brief an Neuffer 1793 bittet er um Nachricht über das Schicksal der girondistischen Deputierten Guordet, Vergniant, Brissot: » A c h ! das Schicksal dieser Männer macht mich oft bitter. Was wäre das Leben one eine Nachwelt?« (STA VI, 95f.).

82

»Das Robespierre den Kopf lassen mußte, scheint mir gerecht und vielleicht von guten Folgen zu sein. Laß erst die beiden Engel, die Menschlichkeit und den Frieden kommen, was die Sache der Menschheit ist, gedeihet dann gewis! A m e n ! « (STA VI, 132)

Die von Lukács behauptete Parteinahme Hölderlins für die Jakobiner läßt sich damit ebenso widerlegen wie seine Hypothese, durch die thermidorianische Wendung der Revolution, den Sturz der Jakobiner, sei für den Dichter das politische Scheitern der Realisierung des griechisch-harmonischen Ideals manifestiert geworden. 133 Gerade mit dem Tod des jakobinischen Führers verbindet Hölderlin die Hoffnung auf eine positive Wendung der Revolution, wobei aber bereits die Kommentierung der politischen Vorgänge - die Ermordung Marats wird als Werk der »heiligen Nemesis« gesehen, mit der Hinrichtung Robespierres denkt er sich das kommende Erscheinen der »Engel«, die durch sie geförderte »Sache der Menschheit« erscheint in einem assoziativen Kontext natürlicher Reifung - auf eine Deutung der Revolution verweist, die weniger am konkreten Handlungsinteresse der Beteiligten sich zu orientieren scheint, sondern eher religiös-idealistische Begründungszusammenhänge aufstellt. 134 Aber die französischen Ereignisse stellen ein konstantes Thema der Briefe Hölderlins dar, eine generelle Ablehnung der Revolution findet sich nicht. Gerade der Brief vom 21.8. 1794 an den Bruder, in dem er vom Tod Robespierres berichtet, fordert dazu auf, durch die negative Entwicklung nicht die Perspektive der revolutionären Bestrebungen aus den Augen zu verlieren, nicht » . . . sich von den Thoren oder Bösewichtern irre machen zu lassen, die unter dem Namen der Freigeisterei und des Freiheitsschwindels einen denkenden Geist, ein Wesen, das seine Würde und seine Rechte an der Person der Menschheit fült, verdammen möchten und lächerlich machen, . . . « (STA VI, 131) (B 86)

Welches konkrete gesellschaftliche Ideal damit verbunden ist, wird in der Analyse der Zukunftsmodelle im »Hyperion« und in »Der Tod des Empedokles« dargelegt werden, hier ging es lediglich um die Kritik der politischen Zuordnung des Dichters, die Lukács vornimmt. Auch das von ihm behauptete Dilemma der deutschen Intelligenz und darunter auch Hölderlins, einerseits die Fortschrittlichkeit des französischen Staates erkennen zu können, und andererseits die militärische Bedrohung und Besetzung der Heimat durch die französischen Truppen hinnehmen zu müssen, ist im Falle des Dichters nicht zu stützen. Nachdem 1796 im Rahmen des Ersten Koalitionskrieges französische Truppen nach Süddeutschland vorstoßen, gilt Hölderlins Sorge dem Schicksal seiner Angehörigen; ansonsten aber schreibt er an den Bruder, diesem könne sicherlich » . . . die Nähe eines so ungeheuern Schauspiels, wie die Riesenschritte der Republikaner gewähren, die Seele innigst stärken.« (STA VI, 215) 133 134

L 112. Dazu grundlegend: Scharfschwerdt 1971.

83

Erst das Auftreten der französischen Truppen als Besatzungsmacht 135 und der desillusionierende Bericht Ebels aus Paris vom 10. 1. 1797 führen zu einer vorsichtigen Aufgabe der Hoffnung auf unmittelbar-positive Veränderungen der politischen Verhältnisse in Württemberg durch die Wirkungen der französischen Revolution und des Krieges. Hölderlin betont in seiner Antwort gegenüber Ebel die allgemein-historische Perspektive des Geschehens: » U n d was das Allgemeine betrifft, so hab' ich Einen Trost, daß nemlich jede Gährung und Auflösung entweder zur Vernichtung oder zu neuer Organisation nothwendig führen muß. Aber Vernichtung giebts nicht, also muß die Jugend der Welt aus unserer Verwesung wieder kehren.« (STA VI, 229)

Seine Hoffnung setzt er nun auf die allmähliche Verbesserung der deutschen Verhältnisse, in diesem Kontext formuliert er seinen Glauben an eine »künftige Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten« (STA VI/1, 229) und verweist damit auf jenen Revolutionsbegriff, der in der Analyse seiner Geschichtsphilosophie noch deutlicher werden wird. Diese Zukunftsperspektive vermittelt nun die Sinnhaftigkeit des gegenwärtigen Geschehens und nur noch einmal, 1798 auf dem Kongreß von Rastatt, den er als Begleiter Sinclairs besucht, knüpft er an die militärisch-politischen Aktivitäten der Franzosen im Rahmen des Zweiten Koalitionskrieges die Hoffnung auf eine unmittelbare Veränderung im Territorium Württemberg, wie er vorsichtig an die Mutter schreibt: »Im Falle, daß die Franzosen glücklich wären, dürfte es vielleicht in unserem Vaterlande Veränderungen geben.« (STA VI, 317)

Eine sehr treffende und mit den Ergebnissen der hier vorgestellten, kursorischen Durchsicht der Briefe übereinstimmende Bemerkung zur politischen Haltung Hölderlins findet sich in diesem Zusammenhang in einem Brief von Casimir Ulrich Böhlendorff aus Homburg vom 10. 5.1799 an Ph. Ε. ν. Fellenberg, die sowohl das Bild des jakobinisch-revolutionären wie des unpolitischen Dichters korrigiert: »Ich habe hier einen Freund, der Republikaner mit Leib und Leben ist - auch einen andrn Freund, der es im Geist und in der Wahrheit ist - die gewiß, wenn es Zeit ist, aus ihrem Dunkel hervorbrechen werden; der lezte ist Dr. Hölderlin . . . « (STA VII/2 ( D 229), 136)

Diese Hoffnung erfüllt sich nicht; die Franzosen waren an einer innerterritorialen Veränderung der Machtverhältnisse im Württemberg nicht mehr interessiert, sondern verfolgten bloße Annexionspläne. Am 17.3. 1799 erläßt General Jourdan den Befehl, jede revolutionäre Bewegung im Rücken der französischen Truppen zu unterdrücken, 136 auf die Nachricht vom Staatsstreich Napoleons reagiert Hölderlin 1799 schließlich nur noch lakonisch: 135

Dazu Prignitz unter Verwendung zeitgenössischer Quellen: »Bald schon begannen aber die Plünderungen, die sich trotz des Waffenstillstandes in Hölderlins Heimat während des ganzen Krieges fortsetzten.« (Prignitz 1976, 235). Dazu auch Scheel 1971, 258ff. 136 Text des Dekrets bei Scheel, 1971, 514.

84

»Eben erfahre ich, daß das französische Directorium abgesezt, der Rath der Alten nach St. Cloux geschikt, und Buonaparte eine Art von Dictator geworden ist.« (STA VI, 374)

Zusammenfassend 137 läßt sich also eine durchgehende Bejahung der französischen Revolution feststellen, die jedoch begleitet ist von einer radikalen Ablehnung ihrer jakobinischen Phase. Die These der jakobinischen Parteinahme Hölderlins ist nicht zu halten, sowenig wie der Einmarsch der französischen Truppen dem Dichter aus Gründen eines Nationalbewußtseins zum Problem wird. Gleichzeitig deutet sich eine Interpretation der Revolution an, die immer auch auf einen allgemein-verbindlichen, religiös-geistigen Sinnzusammenhang des menschlichen Lebens und seiner Geschichte rekurrierte, worauf auch die Gegenwartskritik in jenen hier analysierten Werken immer wieder sich bezog. Lukács kann ein unmittelbar-revolutionäres Handlungsinteresse des Dichters behaupten, da er ihm eine konkrete politische Zielsetzung unterstellt, nämlich die Erneuerung der griechischen »Polisdemokratie« (L 111), die ihre Idealität darin besitzt, daß, wie dargestellt, in ihr nicht die Gegenständlichkeitsform der Ware das gesellschaftliche Leben prägt. Abgesehen davon, daß dies auch für das in den Werken enthaltene Gesellschaftsbild der Gegenwart nicht der Fall ist, setzen Hyperion und Empedokles angesichts der Traditionslosigkeit der griechischen »Städter« (STA III, 22) und des Barbarentums des »Bergvolkes« (STA III, 104) sowie der »Deutschen« (STA III, 153) als auch wegen der »Trunkenheit« (STA IV, 30, 91) der »Agrigenter« gerade keine Hoffnung auf eine bloße Änderung der Staatsform als Mittel zur Aufhebung der bestehenden Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse. Sofern der »Erzieher« dies auf diesem Wege versucht, sieht er sich aufgrund der fundamentalen Unmündigkeit des Volkes, seinem Unvermögen, soziale und friedvolle Lebensformen selbst zu bestimmen, auf eine Stufe mit den »Herren der Welt« (STA III, 38) gestellt. Gegen die Thesen von Georg Lukács ist darauf zu insistieren, daß im Werk Hölderlins der Wille zum unmittelbar-revolutionären Handeln im Fazit der gesammelten politischen Erfahrungen nicht be137

Große Hoffnungen wird Hölderlin noch einmal an den erwarteten Frieden von Luneville (Februar 1801) knüpfen, wie er im Brief an den Bruder (Neujahr 1800/1801) zu erkennen gibt und woraus nochmals die religiöse Dimension seiner Beurteilung politischer Vorgänge deutlich wird; er sei sich sicher, so schreibt der Dichter, » . . . daß unsere Zeit nahe ist, daß uns der Friede, der jetzt im Werden ist, gerade das bringen wird, was er und nur er bringen konnte; denn er wird vieles bringen, was viele hoffen, aber er wird auch bringen, was wenige ahnden. Nicht daß irgendeine Form, irgendeine Meinung und Behauptung siegen wird, diß dünkt mir nicht die wesentlichste seiner Gaaben. Aber daß der Egoismus in allen seinen Gestalten sich beugen wird unter die heilige Herrschaft der Liebe und Güte, daß Gemeingeist über alles in allem gehen und daß das deutsche Herz in solchem Klima . . . erst recht aufgehen und geräuschlos, wie die wachsende Natur, seine geheimen, weitreichenden Kräfte entfalten wird, diß mein ich, diß seh und glaub ich . . . « (STA VI, 407). Vgl. zum Geschichtsbild und der Erwartung grundlegender Veränderungen in naher Zukunft bei Hölderlin Abschnitt 4.3.3.

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jaht wird, nicht einmal die Möglichkeit eines gleichsam legalen staatlichreformerischen Handelns wird wahrgenommen: Hyperion versteht sich als »Erzieher des Volkes« im Medium der Dichtung, Empedokles lehnt die angebotene Königskrone ab; das zentrale Problem beider ist nicht die sofortige Durchsetzung einer bestimmten Staatsform, wenn auch kein Zweifel an der Unangemessenheit der Monarchie gelassen wird. 138 Die Lösung, welche beide Werke vertreten, ist die Konzeption einer Erziehung des Volkes, die Initiierung eines Bewußtwerdungsprozesses zur Freiheit, der alle Klassen und Schichten des Volkes umfaßt und ein je individuellunmittelbares Verhältnis zur »göttlichen Natur« bewirken will; erst dann wird der Sturz der bestehenden Herrschaftsformen erfolgen, weil das Volk ihrer nicht mehr bedarf. Denn dieser Zusammenhang zwischen autoritärer Staatsform und Unmündigkeit des Volkes wurde in der Gegenwartskritik beider Werke immer wieder angesprochen. Im je individuellen Verhältnis zur »göttlichen Natur« wird diese als gesellschaftliches Vermittlungs- und Einheitsmedium konstituiert, als regulatives Prinzip einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Die politische Reflexion beider Werke dreht sich um das Problem, wie das Bewußtsein davon in Form eines vom Volk in Freiheit, als Akt der Selbstbestimmung vollzogenen Erkenntnisprozesses vermittelt werden kann; sowohl jene an die Emotionen gewendete Agitation des »Bergvolkes« durch Hyperion als auch die letztlich ein Herrschaftsverhältnis begründenden Erziehungsversuche des Empedokles sind dem Inhalt, der vermittelt werden soll, nicht angemessen. Letztlich wird dieses Problem der Teleologie der »göttlichen Natur« selbst überantwortet. Diese Argumentation erkennt Lukács nicht, er verkürzt die Reflexion der Handlungsproblematik zu einer Entscheidung für die Revolution, welche im »Hyperion« als nur eine mögliche Haltung neben anderen erscheint, und reduziert das gesellschaftliche Telos des Dichters rigeros auf die Durchsetzung einer demokratisch-republikanischen Staatsform. Die Ablehnung unmittelbar-revolutionären Handelns wird im »Hyperion« explizit formuliert am Beispiel des »Bundes der Nemesis«. 139 Jedes politisch138

Denn diese Herrschaftsform verhindert gerade die Möglichkeit, daß das Volk zur Freiheit sich entwickelt, sondern fixiert seinen unmündigen Zustand: »Hegt Im Neste denn die Jungen immerdar Der Adler? Für die Blinden sorgt er wohl, Und unter seinen Flügeln schlummern süß Die Ungefiederten ihr dämmernd Leben. Doch haben sie das Sonnenlicht erblikt, Und sind die Schwingen ihnen reif geworden, So wirft er aus der Wiege sie, damit Sie eignen Flug beginnen. Schämet euch, Daß ihr noch einen König wollt; ihr seid zu alt; ( . . . ) « (STA IV, 62f.) 139 Er tritt bereits in Smyrna auf, wird aber erst im erzählenden Rückblick von Alabanda als solcher benannt (STA III, 139).

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gesellschaftliche Handeln, das einerseits abgelöst vom Gegenstand und Zweck dieses Handelns, dem Volk, oder andererseits ohne Bezug auf den Einheitsgrund der Welt, der »göttlichen Natur«, sich vollzieht, wird von Hölderlin kritisiert. Als Beispiel des letzteren Extrems steht das Verhalten des »Bergvolks«, dessen unmittelbares revolutionäres Potential in einer noch »rohen Natur« (STA III, 104) sich begründet. Für das erste Extrem steht der »Bund der Nemesis«, er versinnbildlicht die Radikalität jakobinischen Handelns 1 4 0 und sie ist Hyperion nicht fremd, vergleicht er doch sich und Alabanda in ihrer radikalen Kritik der Welt und der völligen Ablehnung des Volkes in Smyrna mit den »Boten der Nemesis« (STA III, 27). Alabanda ist jedoch Mitglied dieses Bundes, dessen revolutionäre Praxis Hyperion nun aber strikt ablehnt. Der »Bund der Nemesis« definiert sich nicht durch eine vermittelnd-versöhnende Tätigkeit, sondern seine Mitglieder sind bereits über den Bereich der » . . . Mitte des Lebens, wo es grünt und warm ist.« (STA III, 34), abgewandert in eine Position, in der das durchaus vorhandene Wissen u m die Bestimmung des Lebens und der Welt - »es war, als stünde man vor der Allwissenheit« (STA III, 32f.) - zwar rein, aber nur mehr abstrakt-unvermittelt sich ausdrücken kann und sich damit jeder konstruktiv-befreienden Wirkung bei den Menschen beraubt. 141 Der »Bund der Nemesis« bedarf im Vertrauen auf die von jeder subjektiven Erkenntnis unabhängigen und sich selbst tragenden Objektivität seiner Wahrheit das »Herz« und den »Willen« des Volkes nicht: »Wir betteln um das Herz des Menschen nicht. Denn wir bedürfen seines Herzens, seines Willens nicht. Denn er ist in keinem Falle wider uns, und die Toren und die Klugen und die Einfältigen und die Weisen und alle Laster und alle Tugenden der Roheit und der Bildung stehen, ohne gedungen zu seyn, in unsrem Ziel - . . . « (STA III, 34)142 140

In diesem Sinne auch Kurz 1975, 157f. Zur These eines Zusammenhangs zwischen dem Dichter und dem Bund der Illuminaten, wie Grassi 1971 sie aufstellte, bemerkt Thurmair 1980 zutreffend: Grassi » . . . steht im unerschrockenen Spekulationsgeist dem ihm verhaßten Bertaux in nichts nach. Daß einige der verbotenen Illuminaten in jakobinischen Kreisen Freunde hatten, muß für die These herhalten, Hölderlin sei von diesen Leuten beeinflußt.« (Thurmair 1980, 226, Anm. 111). 141 Im Zusammenhang mit dieser Form politischen Handelns gebraucht Hölderlin wiederholt die Metapher des »Rausches«. Alabanda tritt in diesen Bund ein, »Berauscht vom großen Wirkungskreis . . . « (STA III, 139), und als er und Hyperion in Smyrna wie »Boten der Nemesis« die Welt kritisieren, spricht er: »Wir schwelgen, . . . wir tödten im Rausche der Zeit.« (STA III, 31). An Vorabend der Plünderungen durch das Bergvolk schreibt Hyperion: »Unser Volk will stürmen, aber das würde die aufgeregten Gemüther zum Rausch erhizen . . . « (STA III, 116). Dieses Handeln verläuft also unreflektiert, nicht durch ein Bewußtsein gesteuert; dementsprechend dürftig ist letztlich die Wirkung des Bundes: »Der Zwang, worinn ich lebte, folterte mich oft, auch sah ich wenig von den großen Wirkungen des Bundes und meine Thatenlust fand kahle Nahrung.« (STA III, 139). 142 Nach Bertaux 1981 beruht die Beschreibung des » . . . Bundes der Nemesis im >Hyperion< auf der Erfahrung, die er (Hölderlin - M. P.) in Jena mit den Studentenorganisationen gemacht hatte, mit dem Bund Freier Männer und den drei Orden (den Schwarzen Brüdern, den Konstantisten und den Unitisten).« (Bertaux 1981, 66). 87

Politisches Handeln aber, welches außerhalb des Sinn- und Kommunikationszusammenhanges der Menschen sich bewegt, die Träger der so kritisierten Gegenwarts-, aber auch der angestrebten Zukunftsgesellschaft sind, ist für Hölderlin repressiv, als es diese Menschen in ihrer Unmündigkeit und Unfreiheit beläßt und auf ihre freie und bewußte Einsicht und Zustimmung zugunsten der Objektivität der abstrakten Wahrheit verzichtet. Zwar wünschen die Mitglieder des Bundes, es »hätte jemand den Genuß« (STA III, 34) von ihrem Handeln, weshalb sie aus dem »blinden« (STA III, 34) Volk eine Elite auswählen, » . . . um sie zu sehenden Gehülfen zu machen - will aber niemand wohnen, wo wir bauten, unsre Schuld und unser Schaden ist es nicht. Wir thaten, was das unsre war. Will niemand sammeln, wo wir pflügten, wer verargt es uns? Wer flucht dem Baume, wenn sein Apfel in den Sumpf fällt? Ich hab's mir oft gesagt, du opferst der Verwesung, und ich endete mein Tagwerk doch.« (STA III, 34)

Hyperions Freiheitsvorstellung geht über die Stellung der »sehenden Gehülfen« hinaus, er will, wie sich zeigen wird, ein gegenseitiges Anerkennungsverhältnis zwischen dem Menschen und dem Einheitsgrund der Welt, der »göttlichen Natur«, konstituieren, in dem es keinen »Herrn« mehr gibt und wofür auch das skizzierte Leben des Empedokles in der Natur bereits einen ersten Anhalt geben kann; die vom »Bund der Nemesis« vertretene Freiheitskonzeption kann er nicht akzeptieren: »Das sind Betrüger! riefen alle Wände meinem empfindlichen Sinne zu. Mir war, wie einem, der im Rauch erstiken will, und Thüren und Fenster einstößt, um sich hinauszuhelfen, so dürstet' ich nach Luft und Freiheit.« (STA III, 35)

Hölderlins Problem ist das der Vermittlung von Wahrheit, nur so ist sowohl das Volk als auch der Erzieher in Freiheit zu setzen, denn nur mittels eines mündigen Volkes können die gesellschaftlichen Zwangs- und Herrschaftsverhältnisse aufgehoben werden, welche in der Gegenwart auch den bereits Mündigen tangieren, da damit, wie am Beispiel Empedokles deutlich wurde, immer auch der Inhalt der Erkenntnis, das Verhältnis zur »göttlichen Natur«, deformiert wird. 143 Diesen Zirkel will Hölderlin durchbrechen, seine Helden wollen gerade nicht der »Verwesung« (STA III, 34) opfern, sondern, wie Hyperion es ausdrückt, wenn er sich mit einer »Biene« (STA III, 89) vergleicht, einen bleibenden Beitrag zur Zukunft leisten: » . . . warum sollte denn ich nicht pflanzen können und baun, was noth ist?« (STA III, 89). Nur mittels langsamer, das Negative der Realität nicht fixierender, sondern eine umfassende Aufhebung und Versöhnung aller Widersprüche intendierender VeränAufgrund der Funktion dieses Bundes im Argumentationsgefüge des Romans liegt jedoch der Verweis auf die Jakobiner näher. 143 Alabanda formuliert bereits in Smyrna indirekt eine Kritik an der Position des Bundes, indem er die Haltung des Volkes kritisiert: »Große Thaten, wenn sie nicht ein edel Volk vernimmt, sind mehr nicht als ein gewaltiger Schlag vor eine dumpfe Stime, und hohe Worte, wenn sie nicht in hohen Herzen wiedertönen, sind, wie ein sterbend Blatt, das in den Koth hinunterrauscht.« (STA III, 28).

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derung, einer Erziehung zur »Schönheit«, kann gelingen, was Hyperion als gleichsam universales Telos und über den jakobinischen Freiheitsbegriff der »Gehülfen« (STA III, 34) weit hinausgehenden Entwurf vorstellt: »Es wird nur Eine Schönheit seyn; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit.« (STA III, 90)

3.2.3 Revolutionäres Scheitern und deutsche Klassenverhältnisse: Hölderlins proletarische Parteinahme Auch für Lukács drückt sich scheinbar im Scheitern des Aufstandes des »Bergvolks« eine Ablehnung unmittelbar-revolutionären Handelns durch Hölderlin aus: »Sein Zurückschrecken bezieht sich auf die revolutionäre Methode, von der er, ganz im Stil idealistischer Ideologen der Revolution, befürchtet, daß sie gerade die Schlechtigkeit des Bestehenden in anderer Form verewigen würde.« (L 116)

Er vermag darin aber nicht das Resultat der in den Werken thematisierten Reflexion der politischen Handlungsproblematik vor dem Hintergrund des von Hölderlin vertretenen gesellschaftlichen Zukunftsideals zu sehen, sondern, und damit hält er doch am Bild des revolutionären Dichters fest, begründet es dadurch, daß Hölderlin in seiner Gegenwart keine Klasse erkennen kann, welche ein unmittelbares revolutionäres Handlungsinteresse an der Durchsetzung einer erneuerten »Polisdemokratie« (L 111) besitzt. Damit wird der Dichter aus seiner historisch-gesellschaftlichen Situation völlig herausgelöst und die Interpretation verliert jeglichen Textbezug, denn Hölderlins Abkehr von einer revolutionären Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Gegenwart wird dadurch erzwungen, daß das Proletariat als berufener Träger der Revolution für den Dichter noch nicht sichtbar war: »Dieser tragische Zwiespalt Hölderlins ist für ihn unüberwindbar gewesen, da er aus den Klassenverhältnissen Deutschlands entsprang.« (L 116)

Während die französischen Jakobiner aufgrund der fortgeschrittenen politisch-ökonomischen Entwicklung ihres Landes ihren »Schwung« (L 116) und ihre »Tatkraft« (L 116) in der Bekämpfung der »Niedertracht« (L 116) der Bourgeoisie schöpfen konnten aus » . . . der Verbundenheit mit den >demokratisch-plebejischen< Elementen der Revolution, mit den kleinbürgerlichen und halbproletarischen Massen der Städte und mit der Bauernschaft.« (L 116),

finden sich diese »Massen« im rückständigen Deutschland noch nicht, weshalb Hölderlin mit seiner jakobinischen Gesinnung, seinem »antibürgerliche(n) Zug dieses plebejischen Revolutionarismus« (L 116), seiner Zeit weit voraus ist, ohne daß Lukács sich die Frage stellt, wie der Dichter dann überhaupt zu dieser Haltung kommen und sie ihm zum Problem werden kann: 89

»Eine solche Gesinnung bedeutete in Deutschland 1797 eine hoffnungslose, trostlose Vereinsamung;... Georg Forster konnte sich nach dem Scheitern des Mainzer Aufstandes wenigstens ins revolutionäre Paris begeben. Für Hölderlin gab es weder in Deutschland noch außerhalb Deutschlands eine Heimat.« (L 116)

In Frankreich hatte die Bourgeoisie gesiegt, Deutschland war von einer bürgerlichen Revolution noch weit entfernt; an eine darüber hinausgehende Entwicklung konnte kaum gedacht werden, noch weniger waren Anhaltspunkte dafür in der Realität vorhanden, weshalb Hölderlin, angesichts der Diskrepanz zwischen jakobinisch-griechischem Ideal und der »Miserabilität« (L 124) der deutschen Gegenwart nur mehr die Flucht in die »Mystik« bleibt: »Kein Wunder, daß sich Hyperions Weg nach dem Scheitern der Revolution in eine hoffnungslose Mystik verliert, daß Alabanda und Diotima am Scheitern Hyperions zugrunde gehen. Verständlich, daß das folgende, Fragment gebliebene letzte große Werk Hölderlins, die Tragödie >Empedoklesmittlere< Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie sie zu beziehen ist: 188

In die Überschriften »Kirche«, »Obrigkeit«, »Zunft« unterteilt Möller 1969 sein drittes Kapitel: Familie und soziale Umwelt, 67-100. 189 Nach Möller 1969, 59f. ; allerdings war das Schulwesen in Württemberg relativ gut entwickelt, vgl. Trautwein 1972, 20f. . 190 Vgl. Möller 1969, 73.

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»Ich glaube nemlich, daß sich die gewöhnlichsten Tugenden und Mängel der Deutschen auf eine ziemlich bornirte Häuslichkeit reduziren . . . Jeder ist nur in dem zu Hauße, worin er geboren ist, und kann und mag mit seinem Interesse und seinen Begriffen nur selten darüber hinaus. Daher jener Mangel an Elasticität, an Trieb, an mannigfaltiger Entwiklung der Kräfte, daher die finstere, wegwerfernde Scheue, oder auch die furchtsame, unterwürfig blinde Andacht, womit sie alles aufnehmen, was außer ihrer ängstlich engen Sphäre liegt; daher auch diese Gefühllosigkeit für gemeinschaftliche Ehre und gemeinschaftliches Eigentum . . . « (STA VI, 303)

Zugleich aber war aus der Analyse der Gegenwartskritik der hier vorgestellten Werke deutlich geworden, daß Hölderlin weder eine gewaltsam-unmittelbare Revolution intendiert noch das von ihm vertretene Erziehungskonzept sich erschöpft in der Parteinahme für die konkret-politischen Belange des hier als Ansprechpartner in Frage kommenden Kleinbürgertums, das in seinen Werken das »Volk« repräsentiert; gerade deren pragmatische Interessen kritisiert er - als Intellektueller - als Beschränktheit und begründet daraus seine Ablehnung ihrer Bewußtseins- und Lebensform, dagegen setzt er die Forderung nach einem Bewußtsein von der »göttlichen Natur«, wodurch ein »allgemeiner Geist« (STA III, 156) sich konstituieren und woraus dann die Umkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse sich ergeben soll. Damit aber trägt der Dichter, wie in der Analyse der Gegenwartskritik bereits deutlich wurde, ein religiös-fundiertes Deutungsmuster an die zeitgenössische politische Situation heran, die er nicht aus den Handlungsinteressen der beteiligten Gruppen oder den bestimmenden Bedingungen ihres Handelns heraus zu erklären sucht, sondern die er in einen übergreifenden historischen Bewegungsprozeß einordnet, der bestimmt wird durch die Teleologie der »göttlichen Natur«. Welche Kategorien dem Dichter zu einer umfassenden Deutung von Geschichte und Gesellschaft dabei zur Verfügung stehen, in welcher Weise er dadurch das Ereignis der Französischen Revolution wie die politischen Konflikte innerhalb Württembergs rezipiert und wieweit er in seiner Argumentation Interpretationsmustern seiner Gegenwart verhaftet bleibt, soll im Abschnitt 4.0 diskutiert werden. Davor ist jedoch noch kurz auf die Literatur- und Geschichtstheorie von Georg Lukács einzugehen, deren falsche Bestimmung der Verfassung von Hölderlins gesellschaftlicher Gegenwart und der Inhalte der Gegenwartskritik seiner Werke auf theorie-immanente Defizite dieses Ansatzes verweist.

3.3.2 Die Problematik des Kapitalismusbegriffs und der Verdinglichungstheorie von Georg Lukács Erst auf dieser Ebene der historischen Analyse ließe sich für eine marxistisch orientierte Literatursoziologie die Frage nach dem Begründungszusammenhang von ökonomisch-materiell bestimmter, dabei soziologisch zu differenzierender Lebensweise und Literatur stellen; diese Verfahrensweise schloß Lukács jedoch konsequent durch sein Theorem aus, wonach » . . . den Entwicklungstendenzen der Geschichte eine höhere Wirklichkeit zukommt als 110

den >Tatsachen< der bloßen Empirie.« (Lukács 1923, 198). Die in den Ausführungen zu den Werken Hölderlins und zur historischen Situation Württembergs sichtbar gewordene Inadäquatheit seiner literaturhistorischen Kategorien soll in einigen Punkten näher gekennzeichnet werden und zwar im Kontrast zur marxistischen Gesellschafts- und Geschichtstheorie, deren dialektisch-materialistischen Ansatz er für sein methodisches Vorgehen beansprucht. Rigoros setzt Lukács in seiner Literaturkonzeption zerrissen-verdinglichte Erscheinung der kapitalistischen Gesellschaft und ganzheitlich-subjektbezogene Perspektive des Kunstwerks einander entgegen. Die in der Kunstform angelegte Verweigerung gegenüber der von der Gegenständlichkeitsform der Ware beherrschten und damit unmenschlichen Welt läßt Kunst zum allein verbleibenden Freiraum des Menschen werden, deren Autonomiestatus jedoch selbst nur im Verweis auf den nicht-entfremdeten Zielpunkt der Menschheit liegt.191 Die Qualität von Kunst liegt in dem von ihr vollzogenen Bruch mit der verdinglichten Gegenwart, weshalb Lukács, das historische Telos sicher wissend, ohne differenzierte Explikation der gesellschaftlichen Wirklichkeitsebene als Bedingungsrahmen von Kunst und ohne vom Werk ausgehende Analyse der in der literarischen Darstellung von Wirklichkeit und Utopie ausgedrückten Perspektive des Autors auskommen kann. Nun ist die aus den Warenbeziehungen resultierende Verdinglichung nach Marx - und aus dessen Begriff des »Warenfetischismus« leitet Lukács seine Verdinglichungstheorie ab 192 - weder in der von Lukács vorgestellten Weise zu rezipieren noch generell als die zentrale, gleichsam apriorische Kategorie bürgerlicher Ideologie zu fassen. Die dort geleistete Analyse des >verkehrten< Bewußtseins ist nicht zu reduzieren auf die Trennung von Produzent und Produkt in der Produktions- und Zirkulationssphäre der Ware. Marx arbeitet heraus, daß der Wert der Ware, welche die vereinzelten Warenproduzenten isoliert voneinander produzieren und als Individuen auf dem Markt - und hierzu gehört auch der Lohnarbeiter mit seiner Ware Arbeitskraft - anbieten, sich durch jenes gesellschaftliche Verhältnis bestimmt, in dem die Produzenten zueinander stehen: der zur Erzeugung der Ware durchschnittlich gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Dieses Verhältnis der individuellen Warenbesitzer zur gesellschaftlichen Gesamtarbeit und dem gesellschaftlichen Charakter ihrer eigenen Arbeit tritt ihnen im Austauschverhältnis in vergegenständlichter Form, als Verhältnis zwischen Sachen entgegen. Aus dem Doppelcharakter der in der Ware ausgedrückten Arbeit entspringt jene ideologische Verkehrung, die den Wert der Ware nicht in diesem gesellschaftlichen Verhältnis, sondern in der >Natur< der Ware selbst begründet:

191

Zu den Differenzen im Totalitätsbegriff und der proletarischen Frage bei Bloch, Adorno und Lukács vgl. Lindner 1978. 192 Lukács 1923, 174; zur Analyse des Warenfetischismus bei Marx: MEW 23, 85-98.

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»Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.« (MEW 23, 86)

Diese Verkehrung ist nach Marx konstitutiv für das Bewußtsein der Warenbesitzer, aber ihr Inhalt ist ein nur scheinbarer, wie auch die Warenbesitzer in jedem Austausch, wenn auch unbewußt, das gesellschaftliche Verhältnis, das sie selbst konstituieren, als Wertmaßstab befolgen: »Sie wissen das nicht, aber sie tun es.« (MEW 23, 88). Diese »Verkehrung« bleibt bei Marx im »Kapital« aber bezogen auf das ihm zugrundeliegende ökonomische Verhältnis, es ist nicht, wie bei Lukács, als formale Kategorie einfach davon zu abstrahieren, und, auf alle gesellschaftlich-individuellen Bereiche umgelegt, zur »Universalkategorie« (Lukács 1923, 97) zu erheben. Denn dann wäre die Kritik der politischen Ökonomie in ihrer defetischisierenden Funktion die allein notwendige und befreiende Form von Wissenschaft.193 Und für Lukács wird diese von der Kunst zu leistende Funktion deshalb so zentral, als bei ihm das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen nicht scheinbar, sondern tatsächlich zu einem Verhältnis zwischen Dingen wird. Die Ware erhält hier tatsächlich eine Eigenwertigkeit und Eigengesetzlichkeit, sie ist als von den Menschen gesellschaftlich produziertes Ding nicht mehr zu erfassen, sondern determiniert umgekehrt unbeeinflußbar deren Denk- und Handlungsformen. Für Lukács hat das Warenverhältnis zur Folge, daß » . . . dem Menschen seine eigene T ä t i g k e i t . . . als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt wird. U. z. geschieht dies sowohl in objektiver wie subjektiver Hinsicht. Objektiv, indem eine Welt von fertigen Dingen und Dingbeziehungen entsteht (die Welt der Waren und ihrer Bewegung auf dem Markt), deren Gesetze zwar allmählich von den Menschen erkannt werden, die aber auch in diesem Falle ihnen als unbezwingbare, sich von selbst auswirkende Mächte gegenüberstehen . . . Subjektiv, indem - bei vollendeter Warenwirtschaft - die Tätigkeit des Menschen sich ihm selbst gegenüber objektiviert, zur Ware wird, die der menschenfremden Objektivität von gesellschaftlichen Naturgesetzen unterworfen, ebenso unabhängig vom Menschen ihre Bewegungen vollziehen muß, wie irgendein zum Warending gewordenes Gut der Bedarfsbefriedigung.« (Lukács 1923, 97f.)

Der vorherrschende Widerspruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist für Lukács die Trennung von menschlicher Intentionalität im Prozeß der 1,3

»Allein die Schwierigkeiten der sogenannten Übergangsgesellschaft verweisen darauf, daß mit der Sozialisierung der Produktionsmittel die Probleme der Arbeitsteilung, der Herrschaftsformen, des kulturellen Lebens sich nicht in die befreite >Praxis< auflösen. Anders gesagt: die kulturellen Entfremdungserfahrungen, die die verbreitete Redeweise von einer >modernen Zivilisation als Gegensatz zu vormalig naturwüchsig-geschlossenen, sich nicht problematisierenden Gesellschaften meint, lassen sich >nicht< in einem ökonomischen Ursprung (Verdinglichung) auflösen.« (Lindner 1978, 113).

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Vergegenständlichung und dem Objekt, das nur mehr in der Gegenständlichkeitsform der Ware erscheinen kann. Damit aber bleibt seine Analyse der Warenverhältnisse selbst auf der Erscheinungsseite der kapitalistischen Warenproduktion stehen, die ihr zugrunde liegende Weise der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens wird nicht sichtbar. 194 Während Marx der Rationalität des auf Erzeugung von relativem Mehrwert gerichteten Produktionsprozesses die »Anarchie« (MEW 23, 377) des gesellschaftlichen Verhältnisses der Warenproduzenten gegenüberstellt, das eben nicht bewußt geregelt ist und worüber deshalb ein »falsches Bewußtsein« bestehen kann, setzt Lukács 195 durch die Entsubjektivierung der Warenverhältnisse eine völlige Strukturanalogie zwischen innerbetrieblicher und gesellschaftlicher Arbeitsteilung an: »Eine solche Wirkung der inneren Organisationsform des industriellen Betriebs wäre aber - ( . . . ) - unmöglich, wenn sich in ihr nicht der Aufbau der ganzen kapitalistischen Gesellschaft konzentriert offenbaren würde.« (Lukács 1923, 102)

Was für Marx in dieser Gesellschaftsform gerade nicht zu leisten ist, nämlich eine rationale Regelung des gesellschaftlichen Verhältnisses der Produzenten, da es den kapitalistischen Grundwiderspruch - wie er ihn bestimmt - zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Aneignung aufheben würde, 196 ist für Lukács unvermerkt bereits gegeben, wenn auch nur negativ in der Ausbildung einer allumfassenden, rational-objekthaften Warenwelt. Der Mensch hat sich lediglich als ihr Träger und Produzent noch nicht erkannt, weshalb für Lukács die proletarische Revolution primär den zu Ende geführten Bewußtwerdungsprozeß der Menschheit darstellt. Denn die Erkenntnis der dem Warenverhältnis zugrundeliegenden menschlichen Beziehungsstruktur besitzt für Lukács, sofern das Proletariat damit Klarheit über seine gesellschaftliche Situation gewinnt, bereits als solche ein praktisches Moment: »Die Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware ist aber bereits als Erkenntnis: praktisch. D. h. >diese Erkenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung ""Vgl. auch Grunenberg 1976, 219. 195 Zur Abhängigkeit des Lukácsschen Rationalitätsbegriffs wie der idealtypischen Bestimmung der Konzeption des zugerechneten Klassenbewußtseins von der Theorie Max Webers vgl. Grunenberg 1976, 224-227, Maretzky 1978. 1,6 Zwar führt Lukács im Schiller-Aufsatz von 1935 diesen Grundwiderspruch an, aber er vermag ihn nur als Moment der Verschleierung der verdinglichten Verhältnisse aufzunehmen, welche die Personalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse für den Künstler erschweren: »Der Grundwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft, der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, macht für den bürgerlichen Schriftsteller die wirklichen bewegenden Kräfte ihres eigenen gesellschaftlichen Seins immer schwerer durchsichtig: auf der Oberfläche sind rein persönliche, unmittelbar rein private Geschehnisse und Schicksale sichtbar, und jene gesellschaftliche Mächte, die in diese privaten Schicksale eingreifen, sie letzten Endes bestimmen, nehmen für die bürgerlichen Beobachter eine immer abstraktere, immer rätselhaftere Gestalt an.« (Lukács 1935, 81).

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am Objekt ihrer Erkenntnis< . . . Der Spezialcharakter der Arbeit als Ware, ohne dieses Bewußtsein ein unerkanntes Triebrad der ökonomischen Entwicklung, objektiviert sich selbst durch dieses Bewußtsein.« (Lukács 1923, 185f.)

Abgesehen von der falschen Bestimmung des »Arbeiters als Ware« wie der »Arbeit als Ware« 197 erweist damit sich die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise als erkenntnismäßige Leistung, als Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt und damit als Aufhebung jeder Entfremdung, wobei in diesem Prozeß das Proletariat seine herausragende Stellung durch das seinem zugeschriebenen Klassenbewußtsein immanente Totalitätsbewußtsein erhält. 198 Die kapitalistische Produktionsform definiert sich für Lukács nicht durch die in ihr vorfindliche Ware Arbeitskraft, deren Gebrauchswert darin liegt, daß sie mehr Wert schöpft, als ihr Tauschwert, die zu ihrer Reproduktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, beträgt, sondern durch jene grundlegende Entfremdungsstruktur, die in der Gegenständlichkeitsform der Ware angelegt ist und wodurch das Erreichen des versöhnenden Totalitätsstandpunktes verhindert wird ; deshalb kann Lukács für die Gegenwart Hölderlins das Bestehen kapitalistischer Tendenzen behaupten, verstanden als Zerfall einer gesellschaftlich-individuellen Homogenität durch die Existenz der Ware, ohne daß eine Klasse von Lohnarbeitern in der historischen Realität vorhanden sein muß. Die vom Kapitalismus vorangetriebene Entwicklung aller Produktivkräfte gemäß dem Verwertungsinteresse des Kapitals und die Entfaltung gesellschaftlichen Reichtums samt den hier erwachsenden realen Widersprüche der Produktionsverhältnisse eliminiert Lukács in der Fixierung auf die der Warenform entspringende Verdinglichung, welche erst durch die Gewinnung eines Totalitätsstandpunktes aufgehoben wird. 199 Soweit er - hier genügt der Verweis auf Lukács (Ideal) 1938 - eine Darstellung der historischen Entwicklung arbeitsteilig-kapitalistischer Produktionsformen versucht, verkennt er die logisch-genetische Darlegung über die Produktion des relativen Mehrwerts im IV. Abschnitt des »Kapitals« (MEW 23, 33Iff.) durch Marx als historische Beschreibung. Eine dialektisch-materialistische Analyse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft leistet Lukács also nicht, er verfehlt bereits auf dieser Ebene seinen marxistischen Anspruch. Läßt sich solchermaßen aber sein Bild der bürgerlichen Gegenwart problematisieren, so ist damit auch der von ihm behauptete Zusammenhang von Gesellschaft und Literatur in Frage gestellt. 197

Die Redeweise vom »Arbeiter als Ware« ist inkorrekt, da in der kapitalistischen Gesellschaft nach Marx nicht der Arbeiter seine Person, sondern nur jene Ware, deren Eigentümer er ist, nämlich seine Arbeitskraft, verkaufen kann; vgl. MEW 23, 181 ff. Dazu auch Maretzky 1971. 198 Auf die hierin aufscheinende Abhängigkeit der Geschichtsphilosophie Lukács von der Philosophie Hegels kann hier nicht weiter eingegangen werden, vgl. zur ersten Orientierung Ahrweiler 1978, de la Vega 1978. Zur Position von Marx, wonach die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht identisch mit ihrer Aufhebung ist und post festum stattfindet, vgl. MEW 23, 89f. '"Vgl. Kammler 1974, 180f.

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3.3.3 Zur Geschichtlichkeit der Literatur Denn ist die Gegenwart nicht in so hermetisch-allumfassender Weise verdinglicht, kann Kunst nicht mehr ausschließlich und eindeutig unter dem Aspekt ihrer Defetischisierungsfunktion und Vermittlungsfunktion für die Entstehung eines Totalitätsbewußtseins verstanden werden. Wird das Warenverhältnis statt als abstrakter Einheitsgrund aller bürgerlichen Denk- und Handlungsformen wieder die gesellschaftliche Praxis eingebunden, kann diese in der ihr eigenen Differenziertheit überhaupt erst wahrgenommen werden. Und es läßt sich dann jener zirkelhafte Argumentationsgang vermeiden, der schon immer am Text voraussetzt, was es zu beweisen gilt: Kunst als letzter, wahrhafter Ort menschlicher Freiheit in einer vom Warenverhältnis beherrschten Welt. Die Wahrheit der Kunst ist die durch sie erscheinende Idee einer harmonischen, nicht-entfremdeten Lebensform der Menschen, die Idee des Menschen als Selbstzweck, wie es für Lukács im klassischen Griechenland bereits existent war. Aber auch hier ist der Zusammenhang von Gesellschaftsform und Kunstform ein unvermittelter; die reale Wirtschafts- und Herrschaftsstruktur der Antike wird ausgeklammert und aufgrund des angenommenen Fehlens einer einheitlichen, entwickelten Produktionsweise eine vom Menschen - wenn auch nicht bewußt - geschaffene und beherrschte Gesellschaftsform behauptet. 200 Die durch den Menschen bestimmten Beziehungsformen der griechischen Welt werden in der bürgerlichen Gesellschaft vom Objekt, der Ware, beherrscht; die Negation des Subjekts findet in der Gestalt des Lohnarbeiters ihre höchste Erscheinungsform und gleichzeitig ihre Aufhebung in der Erneuerung jener künstlerisch-menschlichen Beziehungsform, wie die Kunstform sie in der bürgerlichen Gegenwart immer schon antizipiert. Damit ist aber nur scheinbar die von Marx aufgeworfene Frage gelöst, weshalb - ein Begründungsverhältnis zwischen ökonomischer Basis und ideellem Überbau vorausgesetzt - die Kunst vergangener Gesellschaftsformationen in der Gegenwart immer noch Genuß gewähren kann. Lukács bezieht sich zwar auf dieses Problem, 201 nimmt es aber inhaltlich nicht zur Kenntnis. Denn die 200

201

»Lukács' Bild der vergangenen organisch-harmonischen Kulturen . . . ist nicht das Ergebnis historischer Analyse der vergangenen Gesellschaftsstrukturen, sondern bleibt terminologisches Etikett eines Entwurfs, der . . . eher den Charakter einer in die Vergangenheit projezierten Utopie der unentfremdeten Gesellschaft trägt.« (Kammler 1974, 87). Grunenberg 1976 spricht von der Reproduktion der »romantischen Vorstellung der bürgerlichen Ideologie von der einfachen Warenproduktion« (Grunenberg 1976, 217). »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.« (MEW 13, 641). Besonders im IdealAufsatz von 1938 greift Lukács auf diese Problemstellung explizit zurück, sie liegt aber auch seinen übrigen Arbeiten zur Literatur zugrunde, wenn sie auf das Thema der Rezeption griechischer Kunst in der deutschen Klassik eingehen.

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Vorbildlichkeit der künstlerisch-griechischen Gegenständlichkeitsform und der in ihr erscheinenden Idee des Menschen als Selbstzweck besteht gerade darin, in keiner Weise von der ökonomischen Basis bestimmt zu sein, sondern sich jeder zweck- und verwertungsbezogenen Funktionalisierung zu verweigern. Die griechische Kultur, in der künstlerische und gesellschaftliche Gegenständlichkeitsform sich entsprachen, gewinnt ihre Identität dadurch, weil eben nicht die Weise der gesellschaftlichen Reproduktion des Lebens konstitutiv für die Überbaubereiche war, sondern das umgekehrte Verhältnis bestand. Nur in der bürgerlich-kapitalistischen Welt - dies ist ihr Charakteristikum - bestimmt die ökonomische Basis das Bewußtsein, nur für diese Gesellschaftsform gilt die Theorie des historischen Materialismus, während in der nachkapitalistischen Epoche wiederum der Mensch als Subjekt das gesellschaftliche Sein bestimmen wird. 202 Damit aber wird letztlich ein Begründungszusammenhang von Gesellschaft, sowohl unter dem Aspekt ihrer Tatsachen- wie >Wesensklassischen Harmonie< - eine zutiefst >ästhetische< Vorstellung - auf seine politische Theorie übertragen.« (Ludz 1967, XXXIV) Dementsprechend schreibt er der bürgerlichen Literatur das Attribut der »Volkstümlichkeit« zu - unabhängig von jeder Rezeptionsgeschichte und dem Lesepublikum, an das diese Literatur sich wendet -, sofern darin diese Bildungsidee in »realistischer« Gestaltungsweise festgehalten wird, da damit die verdinglichte Gegenwart transzendiert und die Aufgabe des Proletariats theoretisch antizipiert wird. Darin liegt die aufklärerische Wirkung dieser Literatur für die »Massen«: »Zu Cervantes und Shakespeare, zu Balzac und Tolstoi, zu Grimmelshausen und Gottfried Keller, zu Gorki, zu Thomas und Heinrich Mann hat der Leser aus den breiten Massen des Volkes von den verschiedensten Seiten seiner eigenen Lebenserfahrung her Zugang. . . . Der Reichtum der Gestaltung, die tiefe und aufrichtige Auffassung dauernder, typischer Erscheinungsweisen des menschlichen Lebens bringt die große progressive Wirkung dieser Meisterwerke hervor . . . durch das vom realistischen Kunstwerk vermittelte Verständnis der großen progressiven Entwicklungsepochen der Menschheit wird für die revolutionäre Demokratie neuen Typs, den die Volksfront vertritt, in der Seele der breiten Massen ein fruchtbarer Boden bereitet.« (Lukács 1938, 227)

Die von Lukács jenseits der »revolutionären Demokratie neuen Typs« angesiedelte sozialistische Zukunft der Menschheit aber stellt das objektive Telos der Geschichte dar, das in der Selbsterkenntnis des Proletariats, im Erreichen des Totalitätsbewußtseins realisiert wird; dieser Akt wird den » . . . entscheidenden Schritt< bedeute(n), den der Geschichtsprozeß seinem eigenen, sich aus Menschenwillen zusammensetzenden, aber nicht von menschlicher Willkür abhängigen, nicht vom menschlichen Geiste erfundenen Ziele entgegen tun muß; . . . « (Lukács 1923, 14)

Der Geschichtsprozeß erhält damit eine metaphysische Eigendynamik und Zielbezogenheit, die vom Menschen nur noch begriffen werden muß, wodurch ihm die historisch-gesellschaftliche Totalität unmittelbar evident ist und woraus sich die solidarische Harmonie einer nicht-entfremdeten, nichttauschwertproduzierenden Gesellschaft konstituieren kann, in der jede Vergegenständlichung des Menschen zu einem »einheitlichen und die /Totalität des Menschen erfassenden Prozeß< der Erzeugung und des Genießens des zum Selbstzweck gewordenen Produktes« (Lukács 1920, 146) werden läßt. Damit aber entwirft Lukács das Bild einer gesellschaftlichen Utopie, in der letztlich nur noch Kunstwerke erzeugt werden und in der von jeder Form vermittelt-arbeitsteiliger Aneignung der Natur zum Zweck der Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens abstrahiert wird, in der das Bild eines Individuums angedeutet wird, das sich losgelöst von jeder naturhaft-gesellschaftlichen Beschränkung autonom entfalten und somit eine gesellschaftliche Wirklichkeit konstituieren kann, die allein Ausdruck seines Willens und, qua Totalitätsstandpunkt, zugleich Ausdruck des Willens aller, der Gattung, ist. Um 117

die Freiheit des Menschen als Gattungswesen, nicht um die des konkretbestimmten Individuums, geht es Lukács damit 203 und er bleibt darin der Subjekt-Objekt-Problematik der idealistischen Bewußtseinsphilosophie verhaftet, welche die dem Subjekt wesenhaft zugeschriebenen Freiheits- und Selbstbestimmungsanspruch zu vermitteln hat mit der beschränkenden Gegebenheit der Objektsphäre, auf die jenes sich notwendig beziehen muß. Ist die Problemstellung in dieser Form einmal akzeptiert, kann die Lösung nur darin bestehen, in der Aufhebung dieses Dualismus, in der Synthese von Subjekt und Objekt, Sein und Sollen den Bereich der Freiheit zu denken. 204 Lukács erreicht dies, indem für ihn der Mensch als Gattungswesen in der Utopie die ihn umgebende Objektwelt in selbstbestimmter Weise, in Freiheit, gestaltet und damit die Umwelt zum Ausdruck seiner subjektiven Innerlichkeit wird ; Hölderlin dagegen setzt durch seinen Terminus des »Gott in uns«, wie noch zu zeigen ist, eine religiös-fundierte Identität von Innenwelt und Außenwelt des Menschen an. Über diese Grundfrage der idealistischen Philosophie kommt Lukács in seiner Geschichtsphilosophie letztlich nicht hinaus, weshalb er die Momente und Veränderungen der neuzeitlichen Gesellschaft ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Relation zu dem notwendig sich durchsetzenden Idealzustand fassen kann; gegen ein solches Vorgehen aber hatte Marx sich bereits in der »Kritik des Hegeischen Staatsrechts« gewandt und ein gegenstandsbezogenes, konkretes »Begreifen« gefordert: »Dies Begreifen besteht aber nicht . . . darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen.« (MEW 1, 296)

203

Der Mensch bleibt bei Lukács, auch damit steht er in der Tradition Hegels, » . . . ein >abstractumeigene< Macht wissen, aber sie gilt ihm als solche nur, wenn er als bestimmtes Individuum an ihrer Gestaltung teilnehmen kann. Aber gerade >dies wird durch den Standpunkt der Totalität ausgeschlossene« (Vajda 1979, 68). 204 Lukács distanzierte sich im 1967 verfaßten Vorwort zur Neuausgabe von »Geschichte und Klassenbewußtsein« unter anderem von der darin erfolgten Gleichsetzung von Vergegenständlichung und Verdinglichung im Kapitalismus, für den hier betrachteten Zeitraum liegt diese Argumentation aber noch seinen Ausführungen zugrunde (vgl. dazu auch Lindner 1978, 121, Anm. 4), wie auch der »messianische Utopismus« (Lukács 1967, 18) der Geschichtskonzeption zwar gemildert wird durch den Standpunkt der Blum-Thesen, ohne daß sich aber inhaltliche Bestimmung des Begriffs der sozialistischen Gesellschaft ändert; zur Entwicklung seiner ästhetischen und politischen Theorie nach 1945 vgl. Ludz 1967, Renner 1976.

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4.0 Geschichtsphilosophie und Modelle gesellschaftlicher Utopie im Roman »Hyperion« und dem Trauerspiel »Der Tod des Empedokles«: Die Auslassungen des Essays von Georg Lukács

Die der Position von Georg Lukács zugrundeliegende Annahme eines kausalen Verhältnisses zwischen bürgerlich-kapitalistischer Warenproduktion und menschlicher Entfremdung konnte - sieht man von der Problematik der Ausschließlichkeit ab, in der Lukács diesen Zusammenhang faßte - im Gesellschaftsbild der hier vorgestellten Werke Friedrich Hölderlins nicht eingelöst werden, da diese keine Hinweise auf eine entwickelte, kapitalistische Produktionsform enthalten. Die in den Werken vorfindliche Gegenwartskritik bezieht sich auf die Lebensform eines städtischen Bürgertums, das auf einem sehr geringen ökonomischen Entwicklungsstand sich befindet und in der Hierarchie einer Ständegesellschaft verortet werden kann zwischen dem Adel und dem Teil der bürgerlichen »Ehrbarkeit«, der an der staatlichen Macht partizipiert, einerseits sowie der bäuerlich-unterständischen Klasse andererseits; zugleich ist diese Schicht, die somit vom Handwerker bis hin zu den in Abhängigkeit vom Staat stehenden Theologen und Intellektuellen reicht, jedoch der Adressat des in den Werken enthaltenen Appells zur Veränderung der Verfassung des gesellschaftlichen Lebens. Wenn dies auch nicht in der von Lukács behaupteten Form einer unmittelbaren Revolutionierung der Verhältnisse geschehen soll, sondern die Erziehung des Volkes zur Mündigkeit mittels freier und autonomer Selbstbestimmung jedes Individuums angestrebt wird, so ist damit noch nicht die These von Lukács geklärt, wonach die daraus resultierenden Modelle gesellschaftlicher Utopie eine postkapitalistisch-sozialistische Perspektive beinhalten. In einem letzten Schritt wird daher das Utopiemodell analysiert, das Hölderlin im Rahmen einer umfassenden Philosophie der Geschichte entwickelt und das den historischen Ort seines Denkens aufscheinen läßt, als darin ein Menschen- und Geschichtsbild sichtbar wird, das weitgehend in Beziehung gesetzt werden kann zur Vorstellungswelt des schwäbischen Pietismus im ausgehenden 18. Jahrhundert. Diese Tradition, die ihre soziologische Basis in jenem >mittleren< Bürgertum besitzt, an das auch die hier vorgestellten Werke sich wenden, prägt entscheidend Hölderlins Deutung der zeitgenössischen politischen Ereignisse wie seine Rezeption der philosophischen Diskussion der Zeit und erfährt umgekehrt dadurch eine für den Dichter charakteristische Modifikation und Überformung.

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4.1 Der Einheitsgrund der Welt als »Seyn, im einzigen Sinne des Worts« Hölderlin gibt in der Vorrede zur vorletzten Fassung des Romans »Hyperion« eine prägnante Zusammenfassung seiner geschichtsphilosophischen Konzeption, in der er dem Leben des Individuums wie dem der Gattung eine analoge, dialektisch-reflexive Bewegungsstruktur zuschreibt, die er mit dem Begriff der »excentrischen Bahn« 205 kennzeichnet. »Wir durchlaufen alle eine exzentrische Bahn, und es ist kein anderer Weg möglich von der Kindheit zur Vollendung. Die seelige Einigkeit, das Seyn, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren, und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen εν χαι παχ der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst. Wir sind zerfallen mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sich jezt, und Herrschaft und Knechtschaft wechselt auf beiden Seiten.« (STA III, 236)

Der Prozeß des Lebens vollendet sich in der Wiederherstellung eines notwendig zerstörten Harmoniezustandes, und dieser Entwicklungsprozeß soll zunächst in seinem Ausgangspunkt, dem »Seyn«, näher betrachtet werden ; der Begriff kennzeichnet einerseits den Einheitsgrund allen Lebens wie andererseits den Grund der als notwendig vorgestellten Entgegensetzungen. Die Forschung leitet die Grundlagen der Geschichtsphilosophie Hölderlins im allgemeinen aus dessen Fichte-Rezeption in seiner Waltershausener Zeit ab, die »unmittelbar nach der Leetüre des Spinoza« (STA VI, 156) erfolgte, wie der Dichter selbst mitteilt und » . . . aus dessen System er Möglichkeit und Ansatz einer unmittelbar kritischen Aneignung der Lehre Fichtes gewann.« (Kurz 1975, 16)206

Fichte zielte in seiner »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« von 1794 auf die Überwindung des von Kant konstituierten erkenntnistheoretischen Dualismus zwischen dem Ding-an-sich und dem dem menschlichen Erkenntnisvermögen zugänglichen Wirklichkeitsbereich. Den Grund der Erfahrung suchte Fichte - gegen Spinozas Substanzbegriff207 und im Bemühen, die Autonomie des Menschen zu begründen208 - im Ich selbst zu fassen, des205

Schadewaldt 1952 hatte den Begriff in Beziehung gesetzt zur elliptischen Umlaufbahn der Planeten, womit jedoch weder die Reflexivität der Bewegung wie ihre lineare Zielgerichtetheit erfaßt werden kann. 206 Vgl. Henrich 1971, Barnouw 1972, Kurz 1975; zur einflußreichen Tradition der Vereinigungsphilosophie im 18. Jahrhundert, auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen wird, vgl. Kurz 1975, 16-31. 207 Gott kann in der Bestimmung Spinozas »seiner sich nie bewußt« (Fichte, Wissenschaftslehre, WW 1, 295) werden, da Spinoza das reine Bewußtsein »leugnet« (ebd.). Dazu auch Heimsoeth 1923, 70-88, Kurz 1975, 56. 208 Explizit hatte Fichte im Brief vom 8. 1.1800 an Reinhold erklärt: »Mein System ist vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse der F r e i h e i t . . . « (Fichte, Briefwechsel Bd. 2, 206).

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sen Struktur der Bezugnahme auf sich, als Selbstbewußtsein, das Grundmuster jeder Gegenstandsbeziehung darstellt und das in seiner reflexiven Verfahrensweise nicht aus einer materiellen Substanz zu deduzieren ist; 209 in dieser Beziehungsform impliziert Bewußtsein immer eine Bestimmung und erhellt sich in seiner Reflexionsgesetzlichkeit nicht aus einem synthetisierenden Vermögen, 210 sondern daraus, daß es sich nur mittels Entgegensetzungen konstituiert. 211 Damit aber kann der Grund jeder bestimmten Erfahrung des Bewußtseins gedacht werden als eine »Thathandlung« (Fichte, Wissenschaftslehre, WW 1, 285), als die vor jedem Gegenstandsbezug bestehende, reine und objektlose Tätigkeit eines Bewußtseins, das seinen Grund allein in sich hat und somit in Freiheit sich befindet; dieses »absolute Ich«, in dem Subjekt und Objekt, Sein und Wissen nicht unterschieden sind, weiß sich in dieser unendlichen Bewegung jedoch nicht selbst. Um ein bestimmtes Bewußtsein, ein Selbstbewußtsein, zu erlangen, muß es sich vielmehr selbst begrenzen, und es setzt sich in Ich und Nicht-Ich entgegen; dies jedoch kann nur, da Bewußtsein erst ermöglichend, durch eine bewußt-lose Tätigkeit geschehen, die Fichte als »produktive Einbildungskraft« 212 bezeichnet. Umgekehrt hat jedes Nicht-Ich für das Ich seinen Zweck allein darin, den unendlichen Bewegungstrieb des Ichs zu beschränken und damit bewußt zu machen, die vollständige Genese des Selbstbewußtseins zu ermöglichen, wodurch das NichtIch seinen Grund als Setzung des Ichs erhält und zugleich das Realisierungsmittel für die sittliche Bestimmung des Ichs darstellt, sich aus sich selbst zu bestimmen und damit sich in Freiheit zu setzen. 213 Das absolute Ich als Einheitsgrund der Erfahrung stellt somit die immanente Einheit der fortwährenden Subjekt-Objekt-Entgegensetzungen des Bewußtseins vor, die in der Reflexion, welche notwendig eines Gegen-Standes bedarf, nicht einzuholen, son209

Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), WW 3, 20f. Nach Henrich kam Fichte zu seiner Theorie » . . . durch zwei Entdeckungen Zunächst hat er . . . eingesehen, daß der Grundakt nicht ein Beziehen und Unterscheiden sein kann. D e m voraus muß nämlich ein Entgegensetzen geschehen, das die Möglichkeiten zum Unterscheiden erbringt. Es ist Fichtes höchst folgenreiche These, daß Bewußtsein nur aus dem Gegensatz, nicht schon aus Kants Verbindung zum Mannigfaltigen verständlich wird. In einem zweiten Schritt begriff Fichte sodann, daß die Entgegensetzung selbst auch einen Einheitsgrund verlange.« (Henrich 1971, 20). 211 »Alle Bestimmung, was es nur sey, das bestimmt werde, geschieht durch Gegensatz.« (Fichte, Versuch einer neuen Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), WW 3, 116). 2,2 Fichte, Wissenschaftslehre, WW 1, 423; vgl. auch Heimsoeth 1923, 102-104. 213 »Das Ich ist unendlich, aber bloß seinem Streben nach; es strebt unendlich zu sein. Im Begriffe des Strebens selbst aber liegt schon die Endlichkeit, denn dasjenige, dem nicht >widerstrebt< wird, ist kein Streben. Wäre das Ich mehr als strebend, hätte es eine unendliche Kausalität, so wäre es kein Ich, es setzte sich nicht selbst, und wäre demnach nichts. Hätte es dieses unendliche Streben nicht, so könnte es abermals nicht sich selbst setzen, denn es könnte sich nichts entgegensetzen; es wäre demnach auch kein Ich, und mithin nichts.« (Fichte, Wissenschaftslehre, WW 1, 463). Zur Sittenlehre Fichtes vgl. Heimsoeth 1923, 149-169. 2,0

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dern allein durch die intuitiv-spontane Erkenntnisform der »intellektuellen A n s c h a u u n g « 2 1 4 zu erfahren ist. Die metrische Fassung des »Hyperion« dokumentiert die intensive Rezeption Fichtes durch Hölderlin, 2 1 5 der hinsichtlich der Analyse der Reflexionsgesetzlichkeiten des Bewußtseins ebenso zustimmt wie hinsichtlich der Bestimmung des Menschen als eines autonomen Wesens, aber der Dichter problematisiert den Ausgangspunkt der Argumentation Fichtes, den Begriff des »absoluten Ich«. Sofern der Einheitsgrund der Welt als » I c h « gefaßt wird, kann dieses nur als bestimmtes » I c h « begriffen werden; Fichte, so schreibt Hölderlin a m 26. 1.1795 an Hegel, » . . . möchte über das Factum des Bewußtseins in der Theorie hinaus, das zeigen ser viele seiner Äußerungen, und das ist eben so gewis und noch auffallender transcendent, als wenn die bisherigen Metaphysiker über das Daseyn der Welt hinaus wollten - sein absolutes Ich ( = Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles, und außer ihm ist nichts; es giebt also für dieses abs. Ich kein Object, denn sonst wäre nicht alle Realität in ihm; ein Bewußtsein ohne Objekt ist aber nicht denkbar, und wenn ich selbst dieses Object bin, so bin ich als solches nothwendig beschränkt, sollte es auch nur in der Zeit seyn, also nicht absolut; also ist in dem absoluten Ich kein Bewußtsein denkbar, als absolutes Ich habe ich kein Bewußtsein und insofern ich kein Bewußtsein habe, insofern bin ich (für mich) nichts, also das absolute Ich ist (für mich) Nichts.« (STA VI, 155)216 Hölderlin rekurriert daher auf den Substanzbegriff Spinozas; danach begründet Gott als unendliche Substanz sich allein aus sich selbst, er ist damit frei und bleibt der Welt transzendent, manifestiert sich aber doch vollständig in ihr. 2 1 7 F ü r diese pantheistische Konzeption sind alle geistig-materiellen Erscheinungen nur Modi jener der menschlichen Erfahrung zugänglichen Attribute von »Ausdehnung« und » D e n k e n « , 2 1 8 die neben einer unendlichen Anzahl weiterer möglicher Attribute das Wesen der Substanz bilden. 2 1 9 Ist aber Gott in dieser Weise identisch mit der Welt, so kann dem Menschen aufgrund der Definition dieser Substanz keine Freiheit z u k o m m e n , 2 2 0 wie Der Begriff findet sich erst in der Zweiten Einleitung zur Wissenschaftslehre (1797): »Dieses dem Philosophen zugemutete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich >intellectuelle AnschauungRealität< und >Vollkommenheit< verstehe ich das selbe.« 221 Bereits Herder hat in einem Brief an F. H. Jacobi den Substanzbegriff Spinozas in dieser Hinsicht kritisiert. 222 »Spinoza hat keinen Begriff vom >WerdenNichtgewordenseynEntstehen< und >nicht entstanden s e y n < . . . Seyn ist bey ihm das erste und lezte.« (Herder, Briefe Bd. V, 127)

Herder versuchte in der Abhandlung »Gott. Einige Gespräche« (1787) einen dynamisierten Substanzbegriff, einen »Mittelbegriff zwischen Geist und Materie, die substanzielle Kraft> « (Herder WW XVI, 459) als das die Welt allein konstituierende Wirkungsprinzip zu konzipieren, ohne aber das Problem lösen zu können, wie dabei menschliche Freiheit zu denken sei; Herders System, so schreibt am 19. 8. 1787 Chr. G. Körner an Schiller, » . . . hat, sowie das Spinozische, einen großen Einwand wider sich, den er nicht weggeräumt hat. Wenn nämlich Gott das >einzige Princip aller Thätigkeit< in allen einzelnen existirenden Wesen ist, wo bleibt die Individualität?« (Briefwechsel zwischen Schiller und Körner Bd. 1, 118)

Diese ich-zentrierte Fragestellung, charakteristisch für das 18. Jahrhundert, ist Spinoza noch völlig fremd. Freiheit ist für ihn gleichbedeutend mit der intuitiven Erkenntnis, daß das menschliche Wesen ein Modus in Gott, ein von Gott Bestimmtes ist. Hölderlin dagegen verfolgt einen Freiheitsbegriff, der ein autonomes Selbstbewußtsein fordert, ohne zugleich Hingabe, »Einigkeit« auszuschließen. Zur Lösung dieses Problems rekurriert er zum einen auf die Bewußtseinsphilosophie Fichtes; das Ich kann nur aufgrund einer Entgegensetzung ein Bewußtsein seiner selbst, seine theoretisch-praktischen Beziehungen konstituieren sich notwendig durch einen Gegen-Stand, wodurch die jeder SubjektObjekt-Trennung vorausgehende Einheit, die Hölderlin im Rückgriff auf Spinoza als »Seyn« faßt, vom bestimmten Ich nur vermittels dieser Trennungen erfahren werden kann: 223 »Auf diesem Wege kam Hölderlin dazu, Bewußtsein und Ichheit voraus eine Einigkeit anzunehmen, die er mit Spinoza als Sein in allem Dasein, und mit Fichte als Grund der Entgegensetzung dachte.« (Henrich 1971, 21)

Ethik, XI) sich Gott vergegenwärtigen und an jener unendlichen Liebe, mit der Gott sich selbst liebt, teilhaben, vgl. Spinoza Ethik V, Lehrsatz 36. Nur die Substanz aber kann als »frei« bezeichnet werden, vgl. Spinoza, Ethik I, Def. 7. 221 Spinoza, Ethik II, Def. 6. 222 Zur Bedeutung Herders in diesem Kontext vgl. Kurz 1975, 36, Gaier 1978/79. 223 Vgl. auch Hölderlins Fragment »Urtheil und Seyn« : »Im Begriffe der Theilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objects und Subjects aufeinander, und die nothwendige Voraussetzung eines Ganzen, wovon Object und Subject die Theile sind.« (STA IV, 216).

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Damit sind die Forderungen eingelöst, die an das »Seyn, im einzigen Sinne des Worts« (STA III, 236), an die »göttliche Natur«, gerichtet wurden, dadurch begründet sich die Zielgerichtetheit des Lebens. Hölderlin gebraucht in diesem Zusammenhang auch den Begriff des »Gott in uns«: »Es ist ein Gott in u n s , . . . der lenkt, wie Wasserbäche, das Schiksaal, und alle Dinge sind sein Element.« (STA III, 17)

Dieses einheitsstiftende Prinzip determiniert den Menschen nun nicht in einem spinozistischen Sinne, sondern es ist als innerstes Vermögen des Ichs, wodurch es sich aus sich selbst begründet, zu begreifen. Während Spinoza dies allein der göttlichen Substanz zuschreibt, von der das endliche Ich abhängt, konzipiert Hölderlin ein »Seyn«, das als vermittelndes Medium eine »seelige Einigkeit« (STA III, 236), keine unterschiedslose Identität, von autonomen Wesen ermöglichen soll. Damit wird nicht nur jede Subjekt-ObjektEntgegensetzung, sondern auch - im Sinne der Vereinigungsphilosophie - der Widerspruch zwischen dem Streben nach Hingabe wie der Forderung nach Selbstheit aufgehoben. Alabanda darf im Roman »Hyperion« diesen Gedanken ausführen: »Ich fühl' in mir ein Leben, das kein Gott geschaffen, und kein Sterblicher gezeugt. Ich glaube, daß wir durch uns selber sind, und nur aus freier Lust so innig mit dem All verbunden. ( . . . ) . . . weil ich frei im höchsten Sinne, weil ich anfangslos mich fühle, darum glaub' ich, daß ich endlos, daß ich unzerstörbar bin. Hat mich eines Töpfers Hand gemacht, so mag er sein Gefäß zerschlagen, wie es ihm gefällt. Doch was da lebt, muß unerzeugt, muß göttlicher Natur in seinem Keime seyn, erhaben über alle Macht, und alle Kunst, und darum unverlezlich, ewig.« (STA III, 141)

Beide Momente des Begriffs des »Lebens«, Einigkeit und Autonomie, sind vorerst festzuhalten. Hölderlin gibt im Roman »Hyperion« eine geschichtsphilosophische Konkretisierung des Lebens im Zustand vor der Ausbildung eines reflexiven Bewußtseins, bezogen sowohl auf die Entwicklung des Individuums wie die der Gattung. Folgt man diesen Darstellungen, so ergibt sich daraus die positive Explikation jener Begriffe, die in der Kritik der Gegenwartsgesellschaft als deren Mangel angeführt wurden. 4.1.1 Das Kind als »göttlich Wesen« Ausdrücklich betont Hyperion vor seiner Schilderung der Vollendetheit des Kindes die Tatsache, daß dieser praereflexive Zustand mittels rational-entgegensetzenden Denkens nicht zu fassen ist, da der Mensch damit nur ausgehend von den bereits vollzogenen Trennungen auf den harmonischen Einheitsgrund der Welt schließen kann, nicht umgekehrt: »Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh' ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken! Aber wir haben ja nur Begriffe von dem, was einmal schlecht gewesen und wieder gut gemacht ist; von Kindheit, Unschuld haben wir keine Begriffe.« (STA III, 10)

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Der Mensch befindet sich als Kind im Zustand vollkommener Harmonie mit sich und seiner natürlichen Umwelt, er hat noch unmittelbaren Anteil am substanzhaft-»göttlichen« Einheitsgrund der Welt 224 und erlangt diesen nicht durch eine intellektuelle Anstrengung, sondern diese Zugehörigkeit ist konstitutives Merkmal seines konkreten Daseins. Die bewußt-lose »Ruhe der Kindheit« stellt sich als »himmlische Ruhe« dar, noch ist das Kind allen endlichen Bestimmungen und gesellschaftlichen Zwängen enthoben, als ein »göttlich Wesen« (STA III, 10) erscheint es, » . . . solang es nicht in die Chamäleonsfarbe des Menschen getaucht ist.« (STA III, 10), unterschieden von den endlich-bestimmten Lebensformen des Diesseits. Aus dieser nicht-gewußten Vollkommenheit resultieren Ganzheit und Schönheit: »Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön.« (STA III, 10)

Diese Göttlichkeit des Kindes begründet sich aus seiner unmittelbaren Anteilnahme an der »seeligen Einigkeit« (STA III, 236) der Welt, zugleich aber stellt, wie oben bereits gegen Spinozas Substanzbegriff festgehalten, das Kind darin sich als vollkommen autonomes Wesen dar, in ihm »ist Freiheit allein« (STA III, 10), als es seinen Grund allein in sich hat und weder durch den Prozeß des Lebens - es weiß noch nichts vom »Zwang des Gesezes und des Schiksaals« (STA III, 10) - noch durch die Form der reflexiven Bezugnahme auf sich selbst - » . . . es ist noch nicht mit sich selber zerfallen.« (STA III, 10) fremdbestimmt wird. Deshalb auch ist das Kind »unsterblich« (STA III, 10) und »reich« (STA III, 10), es kennt die aus dem Prozeß der Bewußtwerdung entstehende »Dürftigkeit des Lebens« (STA III, 10) nicht. Objektbewußtsein und Verlust der Ganzheitlichkeit, Vergegenständlichung und Entfremdung sind letztlich synonyme Termini, der Freiheitsbegriff gewinnt in diesem Kontext keinen interessegeleiteten, situations- oder handlungsbezogenen Inhalt, sondern erscheint als anthropologisch-apriorische Wesensbestimmung des Menschen; zugleich kann daraus die allgemeine Gleichheit der Menschen sowie ihre Urverwandtschaft abgeleitet werden, da alle aus dem nämlichen »goldnen Saamkorn« (STA III, 159) hervorwachsen. Mittels dieser Argumentation erhalten, wie sich zeigen wird, die Ideale der Französischen Revolution ihren Inhalt und ihre Legitimation für den Dichter, nicht aufgrund der in ihnen aufscheinenden politisch-materiellen Interessen; dennoch aber kommt Hölderlins Bild des »Kindes« ein politisches Moment zu, als er damit eine pantheistische Konzeption in geschichtsphilosophischer Einkleidung verbindet. Darin folgt Hölderlin der Philosophie Spinozas, denn die Bestimmung des Kindes als »göttlich Wesen« (STA III, 10) verweist auf die vollkommene Manifestation des göttlichen Wirkungsprinzips, der »göttlichen Natur«, in der Welt: 224

Diese Bestimmung ist auch auf Diotima anzuwenden: »Es ist doch ewig gewiß und zeigt sich überall; je unschuldiger, schöner eine Seele, desto vertrauter mit den andern glüklichen Leben, die man seelenlos nennt.« (STA III, 56); vgl. auch Abschnitt 4.3.2.

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»Warum ist die Welt nicht dürftig genug, um außer ihr noch Einen zu suchen.« (STA III, 11)

Dies impliziert sowohl die Ablehnung des religiös-begründeten Selbstverständnisses der feudal-absolutistischen Regenten wie der Doktrin der orthodoxen, dem Staat verpflichteten Kirche, die in der dualistischen Entgegensetzung eines personalisierten Gottes zur sündhaften Menschheit von jeher legitimierend die weltliche Relation von Herrschern und Beherrschten reproduziert hatte ; daher ist der Dichter gezwungen, diese rhetorische Frage durch eine Anmerkung sofort abzuschwächen. 225 4.1.2 Die Kindheit der Gattung: das »Volk der Athener« Die ursprüngliche Autonomie des Menschen wird auf der gesellschaftlichen Ebene von Hölderlin im Bild des »Volkes der Athener« konkretisiert, das die Kindheit der Gattung repräsentiert. Voraussetzung der Idealität dieses gesellschaftlichen Lebens ist die natürlich-ungestörte Entwicklung dieses Volkes, die sich unbeeinflußt von jeder Fremdbestimmung vollzieht: »Ungestört in jedem Betracht, von gewaltsamem Einfluß freier als irgend ein Volk der Erde, erwuchs das Volk der Athener. Kein Eroberer schwächt sie, kein Kriegsglück berauscht sie, kein fremder Götterdienst betäubt sie, keine eilfertige Weisheit treibt sie zu unzeitiger Reife. Sich selbst überlassen, wie der werdende Diamant, ist ihre Kindheit.« (STA III, 76)

Dieses Werden aus sich selbst bringt eine zwangs- und herrschaftsfreie Form des Zusammenlebens mit sich, die ihren Ausdruck findet in der antimonarchischen, » . . . wundergroße(n) Tat des Theseus, die freiwillige Beschränkung seiner eignen königlichen Gewalt.« (STA III, 79)

Damit konstituiert sich eine gesellschaftliche Lebenswirklichkeit, die sich auszeichnet durch die Vermeidung aller Extreme und Partikularisierungen, in der alle »Kontraste« (STA III, 78) in den gesellschaftlich-politischen Beziehungsformen reduziert und nivelliert sind auf ein harmonisch-ausgleichendes Maß, worin dieses Volk vor allem durch seine natürliche Umwelt unterstützt wird, sie » . . . hat ihnen nicht Armuth und nicht Überfluß gereicht.« (STA III, 78). Solche »Mittelmäßigkeit« der Lebensform ermöglichte die »Reife« (STA III, 76) zur Vollkommenheit: 225

»Es ist wohl nicht nöthig, zu erinnern, daß derlei Äußerungen als bloße Phänomene des menschlichen Gemüths von Rechts wegen niemand scandalisiren sollen.« (STA III, 11). Sofern Gaier 1962, 211 feststellt, dieser Brief ende in »äußerster Verwirrung« und die Anmerkung müsse daher wörtlich genommen werden, verkennt er die politische Bedeutung dieser Thematik: »Der absolute Fürst erkannte keine Instanz über sich an als Gott, dessen Attribute er im politischen und geschichtlichen Raum selbst übernahm.« (Koselleck 3 1979, 13). Indem Hölderlin jeden Menschen unmittelbar zum göttlichen Wirkungsprinzip der Welt setzt und einen der Welt transzendenten Gott negiert, unterläuft er diese Ideologie; vgl. dazu auch die Darstellung des Spinoza-Streites im 18. Jahrhundert bei Adler 1968, 233ff.

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»Also noch einmal! daß die Athener so frei von gewaltsamen Einfluß aller Art, so recht bei mittelmäßiger Kost aufwuchsen, das hat sie so vortreflich gemacht, und diß nur könnt' es!« (STA III, 79)

Diese Charakterisierung der »Athener« aber läßt an die »Städter« der Gegenwart denken, die in ihrer »goldne(n) Mittelmäßigkeit« (STA VI, 270) ebenfalls zwischen Armut und Luxus, zwischen der unterständisch-bäuerlichen Bevölkerung und der Schicht des Großbürgertums und Adels in der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt waren, die »Athener« stellen das idealisierte Gegenbild zu diesem historisch-gesellschaftlich bestimmten, >mittleren< Bürgertum des ausgehenden 18. Jahrhunderts dar. Hinsichtlich ihrer materiellen Situation besteht kein Unterschied, allerdings ist dieser Zustand beim »Volk der Athener« nicht gesellschaftlich vermittelt, sondern - im Gegensatz zur Verfassung der Gegenwartsgesellschaft - das Ergebnis eines natürlichen und damit herrschaftsfreien Reifungsprozesses. Der Mensch bildet sich unter diesen Bedingungen wiederum - analog zum »Kind« - zu einem >höheren< Wesen, die Begriffe »Mensch«, »Gott« und »Schönheit« werden auch hier austauschbar: »Der Mensch ist aber ein Gott, so bald er Mensch ist. Und ist er ein Gott, so ist er schön.« (STA III, 79)

Entsprechend der >Göttlichkeit< des »Kindes« befinden die »Athener« sich in ihrer Vollkommenheit im Zustand der Freiheit und zugleich in einer nicht durch Bestimmungen und Trennungen des Bewußtseins zerstörten, sondern unmittelbaren Beziehung zum Einheitsgrund der Welt, zur »göttlichen Natur«. Die Menschen setzen dabei ihre selbst produzierten >Gegen-Stände< aus sich selbst und beziehen sich nicht reflexiv-entgegensetzend darauf, sondern verbleiben auch in ihrer gegenständlichen Praxis im Zustand der »seeligen Einigkeit« (STA III, 236) ; die Vergegenständlichung führt nicht zur Entfremdung und die »Athener« schaffen damit im Sinne der Verfahrensweise der »produktiven Einbildungskraft«, die Fichte dem absoluten Ich als Vermögen zugeschrieben hatte, und sie verhalten sich letztlich in Form einer »intellektuellen Anschauung« zu ihren Produkten. Diese Tätigkeit bezeichnet Hölderlin als »Kunst«, nur im ästhetischen Akt kann Produktion in unentfremdeter Weise stattfinden, wie auch der Grund dieser Beziehungsformen, die »seelige Einigkeit« der Welt, als »Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns« (STA III, 80) und damit als »Schönheit« erfahren wird: »Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Götter gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine Götter. Denn am Anfang war der Mensch und seine Götter Eins, da, sich selber unbekannt, die ewige Schönheit war.« (STA III, 79)

Nur als »Mysterien« (STA III, 79) kann Hyperion die Vorstellung darlegen, wonach der Mensch im Vermittlungsmedium des ungewußten Einheitsgrundes der Welt tätig ist, ohne damit einen ihm entfremdet entgegenstehenden 127

Gegenstand zu schaffen und ohne damit Herrschaft im Sinne zweckrationaler Verfügungsgewalt über das Produkt zu etablieren; auch die »Götter« sind in der »schönen Mitte der Menschheit« (STA III, 80) angesiedelt. Noch in der entfremdet-zerrissenen Gegenwart aber verweist die »Schönheit« auf die Harmonie und Idealität des ursprünglichen Lebens, sie bewahrt die »Ahndung« dieses Zustandes, 226 wie Hölderlin am Schluß der vorletzten Fassung des Romans konstatiert: »Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Wortes, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu vereinigen, wir dächten und wir handelten nicht, es wäre überhaupt gar nicht (für uns), wir wären selbst nichts (für uns), wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts, vorhanden wäre. Es ist vorhanden - als S c h ö n h e i t . . . « (STA III, 236f.)

Die Bestimmung des »Seyns«, des Einheitsgrundes der Welt, als »unendliche Vereinigung« wie als »Schönheit« aber impliziert zugleich, daß die Form der Beziehung der Menschen in diesem Idealzustand zueinander wie zu ihren Produkten nicht mittels konflikthafter Trennung, sondern im Medium der »Liebe« stattfinden muß; Hölderlin bezeichnet dieses Verhältnis als »Religion« : »Der Schönheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit. Der Weise liebt sie selbst, die Unendliche, die Allumfassende; das Volk liebt ihre Kinder, die Götter, die in mannigfaltigen Gestalten ihm erscheinen.« (STA III, 79f.)

Auch diese gesellschaftliche Differenzierung zwischen dem Weisen, der unmittelbar dem Einheitsgrund der Welt sich zuwenden kann, und dem Volk, das dazu konkret-sinnlicher Bilder bedarf, führt - darin stellen die »Athener« wiederum das ideale Gegenbild zur Gegenwartsgesellschaft dar und dem dort bestehenden Antagonismus zwischen Volk und dem Erzieher oder Künstler nicht zu einem Konfliktverhältnis zwischen beiden Gruppen oder Dissonanzen in der Beziehung zu den »Göttern«; diese ist ebenfalls von >mittlerer< Qualität: »Nicht zu knechtisch und nicht gar zu sehr vertraulich!« (STA III, 80). Umgekehrt verhält auch die Natur sich in einer »liebenden« Weise zu den Menschen und entsprechend deren Vollkommenheit und der Tatsache, daß sie noch am Anfang ihrer Entwicklung - als »Kinder« - stehen, stellt dies als verherrlichend-unterstützende Anteilnahme sich dar: »Die Natur war Priesterin und der Mensch ihr Gott, und alles Leben in ihr und jede Gestalt und jeder Ton von ihr nur Ein begeistertes Echo des Herrlichen, dem sie gehörte.« (STA III, 84)

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Zieht man an dieser Stelle einen knappen Vergleich zur Literaturtheorie bei Lukács, werden frappierende Parallelen sichtbar; auch bei Lukács vermag der Mensch sich nur im Kunstwerk in unentfremdeter Weise zu vergegenständlichen und allein das Kunstwerk vermag in der verdinglicht-kapitalistischen Welt auf die Möglichkeit eines selbstbestimmten und freien Lebens zu verweisen.

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Diese harmonische Lebensform im Medium der nichtgewußten »seeligen Einigkeit« (STA III, 236) wird aufgrund des Bewußtwerdungsprozesses des Menschen ebenso aufgelöst wie seine Vollendetheit auf dieser Stufe, wobei die bewußt herbeizuführende Erneuerung eines unentfremdeten Lebens in der Zukunft einen qualitativen Sprung bedeuten wird. Leben im Medium eines substantiellen Einheitsgrundes und zugleich Autonomie des Lebens beide Momente zeichnen die >Göttlichkeit< des »Kindes« und des »Volkes der Athener« aus, daraus ergibt sich für letztere zugleich die Fähigkeit, eine politisch-freie Gesellschaft zu formieren: »Aus der Geistesschönheit der Athener folgte denn auch der nöthige Sinn für Freiheit.« (STA III, 80)

Nur wenn die Menschen in harmonischer Weise, entsprechend der »Liebe der Schönheit«, zueinander sich verhalten und damit die im Einheitsgrund der Welt selbst vorliegende Beziehungsform reproduzieren, definiert für Hölderlin der Staat sich positiv ; sofern Lukács hier die Staatsform allein, die er als »Polisdemokratie« (L 111) bestimmt, hervorhebt, verkennt er diesen Zusammenhang: »Und ohne solche Liebe und Schönheit, ohne solche Religion ist jeder Staat ein dürr Gerippe ohne Leben und Geist, und alles Denken und Thun ein Baum ohne Gipfel, eine Säule, wovon die Krone herabgeschlagen ist.« (STA III, 80)

Erneut werden damit Bezüge zu den staatlich-politischen Zwängen der Gegenwartsgesellschaft hergestellt, das Fehlen von »Leben und Geist« in diesem Sinne hatte der Dichter gerade am Bewußtsein der »Städter« und ihrer Lebensform kritisiert. Hyperion selbst zieht in seiner Athenerrede einen Vergleich zwischen der gesellschaftlichen Verfassung der »Athener« und der benachbarter Völker, wobei Athen auch räumlich dabei in eine Mittelstellung zwischen »Norden« und »Süden« gestellt wird. Der »Aegyptier« (STA III, 80) wird durch die elementare Natur des Orients »zu Boden« (STA III, 82) geworfen und somit in seiner freien Entwicklung gestört; er besitzt vom »Mutterleib an einen Huldigungs- und Vergötterungstrieb« (STA III, 80) in sich und ist damit unfähig zur Selbstbestimmung, die daraus resultierende Staatsform ist die »Despotie der Willkühr« (STA III, 80). Hier erscheint das herrschaftsfreie Anerkennungsverhältnis zwischen Mensch und natürlicher Umwelt durch die extreme, unvermittelte Gewalt der elementaren Natur zerstört, nochmals wird dabei der zweifache Naturbegriff Hölderlins sichtbar. Die »göttlicher Natur« ist Einheitsgrund von Mensch und Natur, die Erneuerung der ursprünglichen Vereinigung muß daher von beiden Seiten zugleich geleistet werden und kann entsprechend von je einer Seite grundsätzlich verhindert werden. Im »Norden« geschieht dies durch den Menschen, dort achtet »man« (STA III, 80) - allein an diesem Wort sind die »Deutschen« erkenntlich - die Natur nicht und da dieses Volk für Hölderlin in keiner Phase seiner Entwicklung einen Idealzustand analog 129

dem »Volk der Athener« erreichen konnte, sind die »Deutschen« »Barbaren von Alters her« (STA III, 153). Auch hier führt ein falsches Bewußtsein von der »göttlichen Natur« zu politischen Zwangsformen: » . . . im Norden glaubt man an das reine freie Leben der Natur zu wenig, um nicht mit Aberglauben am Gesezlichen zu hängen.« (STA III, 80)

Nur der »Athener« kann aufgrund der Idealität seiner Entwicklung eine herrschaftsfreie Gesellschaft schaffen und bedarf keiner staatlich-normativen Regelung, als er sich nicht in Gegensatz zum Ganzen setzen kann. In der »Geistesschönheit« (STA III, 80) ist der in den Bildern der Gegenwartsgesellschaft immer wieder angedeutete Zusammenhang zwischen der Unmündigkeit des Volkes und dem Bestehen staatlicher Zwänge aufgehoben : »Der Athener kann die Willkühr nicht ertragen, weil seine göttliche Natur nicht will gestört seyn, er kann Gesezlichkeit nicht überall ertragen, weil er ihrer nicht überall bedarf.« (STA III, 80).

4.1.3 Zum Zusammenhang von geschichtsphilosophischer Reflexion und bürgerlicher Lebenswelt Hölderlin war Fichte dahingehend gefolgt, daß Bewußtsein sich nur über Entgegensetzungen konstituieren könne, aber er hatte gegen ihn den praereflexiven Einheitsgrund der Welt im Sinne Spinozas als »Seyn« behauptet, an dem jedoch - über Spinozas Bestimmung hinaus - jeder Mensch unmittelbaren Anteil hat, woraus seine >Göttlichkeit< und Autonomie resultiert. Dieses Verhältnis deutet der Dichter im Rahmen einer geschichtsphilosophischen Konzeption; vor der Ausbildung eines Objektbewußtseins befindet der Mensch sich in ursprünglicher Einheit mit sich und der Welt, die er aber notwendig durch die Entstehung des Bewußtseins für sich verlieren muß, um sie als bewußt gestaltete Harmonie auf qualitativ höherer Ebene wieder herzustellen. Dies zu erreichen ist die Aufgabe der menschlichen Gattung und ihr Weg das geschichtliche Werden der Welt, in dem sich zugleich die Bewegung des Einheitsgrundes selbst, den Hölderlin als umfassendes Wirkungsprinzip der Welt im Terminus der »göttlichen Natur« faßt, vollenden muß, als der Dichter ihn in pantheistischer Weise gleichsetzt mit dieser Welt. Das dabei vorgestellte Bild der menschlichen Gattung war jedoch in seiner soziologischen Fundierung immer zentriert um das oben bereits eingegrenzte »städtische« Bürgertum ; seine Lebensform war Gegenstand der Gegenwartskritik, das »Volk der Athener« stellte im Ideal der »Mittelmäßigkeit« das positive Gegenbild zu diesem Stand dar. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der oben geleisteten Analyse der Gesellschaftsbilder der Werke wie der Diskussion der Lukács-Thesen und entsprechend des hier verfolgten literatursoziologischen Ansatzes ist weniger die Frage danach, wieweit Hölderlins erkenntnistheoretisch-geschichtsphilosophische Konzeption vollständig aus den von ihm nachweislich rezipierten philosophischen Ansätzen ableitbar ist, von 130

Belang, als vielmehr die Überlegung, in welchem Zusammenhang diese Reflexion mit der konkreten Alltagswirklichkeit eines »mittleren« württembergischen Bürgertums im ausgehenden 18. Jahrhundert stehen können. Dies läßt sich mittels der philosophiegeschichtlichen Einordnung des Dichters nicht erhellen, für den die Philosophie vor allem hinsichtlich ihrer realen Konsequenzen für die Lebenswelt und das Bewußtsein der »Städter« von Bedeutung war; 227 und Hyperion wie Empedokles hatten die Aufgabe, ihr Wissen von der umfassenden Einheit allen Lebens und seiner Autonomie den »Städtern« zu vermitteln, beide überantworteten dies schließlich der Instanz der »göttlichen Natur« selbst, ohne die Notwendigkeit eines solchen Aufklärungsprozesses damit zu relativieren. Die Gegenwartskritik der Werke bezog sich letztlich allein auf das Fehlen eines allgemeinen Bewußtseins von dieser »göttlichen Natur« und gewann darin eine religiöse Fundierung, die korrespondiert mit der Kennzeichnung des »Kindes« und des »Volkes der Athener« als »göttliche« Wesen. Sofern unterstellt werden darf, daß die Inhalte dieses Erziehungsprogramms nicht als lediglich von außen an die »Städter« herangetragenes Bildungsgut aufzufassen sind, wäre - entgegen der Folgerung von Lukács, Hölderlin fühle sich »mit keiner ihm sichtbaren Erscheinungsform der bürgerlichen Gesellschaft verbunden« (L 116) - die Frage zu stellen, wieweit nicht in der in den Werken aufscheinenden religiösen Thematik ein zu konkretisierender Bezug zum religiösen Leben und Denken dieses »mittleren« Bürgertums vorliegt. Dies ist gleichbedeutend mit der These, daß der Dichter in seinem Gesellschaftsbild und seiner damit verbundenen Geschichtsphilosophie gebunden ist an die, entsprechend der historischen Situation notwendig religiös fundierten »Vorstellungen«, den über den Bereich der konkreten Kenntnisse und Erfahrungen hinausführenden Deutungs- und Interpretationsmustern der »Welt« schlechthin, welche in diesem württembergischen Bürgertum gültig und vorherrschend waren. Damit ließe sich auch die Tatsache erklären, daß ein mit der zeitgenössischen philosophischen Diskussion wohl kaum vertrauter Mann wie der Schreinermeister Zimmer einen unmittelbaren Zugang zum »Hipperion« - »welcher mir ungemein wohl gefiel« (STA VII/3, 134) - finden kann und das >Testament< der Prinzessin Auguste von Homburg gibt einen ersten konkreten Hinweis auf die Besonderheit des im Roman angesprochenen religiösen Denkens ; das darin geschilderte Lektürerlebnis - »Den ganzen Tag las ich und dachte mich in diese Gedanken hinein - es war mir aus dem Herzen gesprochen.« (STA VII/2, 148) - vollzieht sich vor dem Hintergrund eines pietistischen Bekehrungserlebnisses, einer »Erweckung zu einem höheren Sein« (STA VII/2, 148). Auf diese religiöse Tradition verweist auch der Begriff der »göttlichen Natur«; zwar findet er sich an zentraler Stelle bei Spinoza, 228 aber er gehört ebenso zum Wortschatz des deutschen Pietismus: 229 227

Vgl. den Brief an den Bruder vom Neujahr 1799: » D a nun größtentheils die Deutschen in diesem ängstlich bornirten Zustande sich befinden, so konnten sie keinen heilsameren Einfluß erfahren als den der neuen Philosophie, die bis zum Extrem auf Allgemeinheit des Interesses d r i n g t . . . « (STA VI, 304). 228 Spinoza, Ethik I, Lehrsatz 15ff.

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»Unter den bevorzugten Bibelstellen des Pietismus steht die große Aussage des 2. Petrusbriefes (1,4) an der Spitze, daß (in der Übersetzung Luthers) den Christen >die teuren und allergrößten Verheißungen geschenkt sind, nämlich daß sie dadurch teilhaftig werden der göttlichen NaturPietismus< die tiefgreifende und weitausstrahlende christliche Bewegung des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die sich - häufig, nicht immer - das Ziel einer neuen Reformation setzte, weil die erste im Institutionellen und Dogmatischen steckengeblieben sei, wie ihr Ergebnis, die altprotestantische Orthodoxie, zeigt. >Leben< gegen >LehreGeist< gegen >AmtKraft< gegen >Schein< (2. Tim. 3,5) wurden darum beliebte pietistische Schlagworte.« (Schmidt 1969, 195). In Württemberg blieb diese Bewegung bis in die Gegenwart bestehen, für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts konstatiert Lehmann 1969, 136ff. eine »volkstümliche« Erneuerung. 230 Allerdings ist auch diese Formel im ausgehenden 18. Jahrhundert aus einem spezifisch pietistischen Bedeutungszusammenhang bereits weitgehend herausgelöst, vgl. den Überblick bei Kurz 1975, 39-41. 231 Zum Thema >Pietismus und Württemberg< vgl. Lehmann 1969, Trautwein 1972, Narr 1979; einen detaillierten und zusammenfassenden, den Pietismus einschließenden Überblick über das religiöse Leben unter Karl II. Eugen gibt Hartmann 1907. 232 »Und wie steht es mit dem Württembergischen Pietismus? Er ist doch weithin von den sog. >kleinen Leuten< getragen, und zwar bis auf den heutigen Tag,« (Aland 1974, 127). Trautwein 1972 bezieht den schwäbischen Pietismus auf das »Kleinbürgertum« (ders., 23), worunter er »Bauern, Handwerker und Taglöhner (ders., 31) faßt, die er von einer sehr undifferenziert gefaßten bürgerlichen »Ehrbarkeit« absetzt, während nach Lehmann 1969 bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts die »Pfarrer und Lehrer« (ders., 119) dominieren, erst dann sind die »unteren Schichten« (ders., 364) stärker vertreten; eine ähnliche Bestimmung (»Theologen«, »Landvolk«, »Bürgertum«) gibt Hartmann 1907, 364. Der Zusammenhang von politischer Unterdrükkung und Zuwendung zum Pietismus wird von der Forschung immer wieder betont. 132

wendete es zu einem esoterischen Programm einer individuell-selbstverantworteten religiösen Lebensführung, die sich legitimierte durch das, vor allem in kleinen Zirkeln von »Erweckten« kultivierte Wissen u m den »Gott in uns«; in dem bekannten Ausspruch des pietistischen Pädagogen Johann Friedrich Flattich (1713-1797) wird dieser Zusammenhang drastisch formuliert: »Wenn man seinen Hund den ganzen Tag schlage, so gehe er durch und suche einen andern Herrn, bei dem er es besser habe; auf die gemeinen Leute schlage jeder zu, der Herzog, die Soldaten, die Jäger - darum gehen sie durch zu Christus, und wer Christus sucht, ist ein Pietist.« (zit. nach Hartmann 1907, 364) D i e pietistischen Konventikel wurden zwar v o m Staat als »Seperatismus« 2 3 3 argwöhnisch verfolgt und in Württemberg bekannten sich teilweise politisch einflußreiche Bürger zu dieser Bewegung, 2 3 4 insgesamt aber neigte der Pietismus zu einem »politischen Quietismus« (Lehmann 1969, 99). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einem verstärkten Zustrom von Handwerkern und Bauern, 235 jedoch ist auch dieser Prozeß nicht abgelöst v o m allgemein wirksamen Phänomen der »Sozialdisziplinierung« (Oestreich 1968, 337) zu sehen; realiter bewirkte der schwäbische Pietismus keine gesellschaftliche Veränderung, sondern war vielmehr darauf gerichtet, » . . . Ordnung zu stiften, eine gesunde Alltagssitte zu festigen und zu fördern.« (Narr 1979, 57). Seine besondere Bedeutung gewann er dabei aufgrund des durch ihn initiierten religiösen Schrifttums: »Kaum überschätzbar ist der Einfluß, den die mystisch-pietistische Literatur in Württemberg in den letzten Jahrhunderten hatte. Sie war ja . . . oft der einzige Lesestoff auch für Personen, die gar keine >Pietisten< waren.« (Trautwein 1972, 24)236 233

1743 kam es zum Generalskript, das die Vorschriften für die Konventikel zusammenfaßte; so durften diese offiziell nur unter Anwesenheit des Ortspfarrers zusammentreten, vgl. Trautwein 1972, 31f., Lehmann 1969, 96f. und Hartmann 1907, 366f. 234 Die bedeutendsten pietistischen Theologen hatten Sitz und Stimme in den Landschaftsinstitutionen; J. A. Bengel (1687-1752) wurde 1747 in den Größeren, 1748 in den Engeren Ausschuß entsandt, 1749 wurde er Prälat von Alpirsbach, während F. C. Oetinger als Prälat von Murrhard 1770 am Landtag teilnimmt. Daneben bekannten sich so einflußreiche Männer wie der Landschaftskonsulent Johann Jakob Moser (1701-85) und die unter Karl II. Eugen sehr umstrittenen Minister Ch. Κ. L. von Pfeil und Ph. F. Rieger zu dieser Bewegung. 235 Lehmann 1969, 136ff. 236 Ein eindrucksvolles Bild geben die von Trautwein 1972 angeführten Untersuchungsergebnisse; so sind, als Beispiel für die Verhältnisse auf dem Land, im » . . . Dorf Feldstetten Krs. Münsingen . . . zwischen 1650 und 1852 4539 Bücher im Besitz der Familien nachweisbar. Davon sind ganze 152 Titel nichtreligiöser Art.« (Trautwein 1972, 29). In Tübingen sind » . . . nach einer Untersuchung von 1169 Nachlaßstatistiken Tübinger Bürger aus den Jahren 1750-1760, 1800-1810 und 1840-1850 bei 9284 erfaßten Büchern 80 % religiösen Inhalts. Nach dem Gesangbuch und der Bibel folgt J. Arnd, der 549mal nachweisbar ist. Der weitaus größte Teil der Bücher befand sich im Besitz der Handwerker, Bauern und Weingärtner.« (Trautwein 1972, 30). Gemeint sind dabei Johann Arnd(t)s (1555-1621) »Fünf Bücher vom Wahren Christentum«, 1679 in Riga erschienen, 1693 in Leipzig nachgedruckt; Arnd(t) gehört zu den Wegbereitern des Pietismus. 133

Der Pietismus prägte, neben und teilweise auch durch die Institution des Kirchenkonvents, entscheidend das Werte- und Normensystem der bürgerlichen Gesellschaft, insofern ist die dadurch dokumentierte »Ethik der pietistischen Gruppen nur sichtbarer Ausdruck für die Werthaltung der gesamten württembergischen Bevölkerung« (Trautwein 1972, 52), sieht man von den Trägern der höfischen Kultur ab; zugleich aber stellten die pietistischen Konventikel noch im ausgehenden 18. Jahrhundert weitgehend die einzige Möglichkeit einer von Staat und etablierter Kirche relativ unbeeinflußten Gruppenbildung dar: »Der Einfluß all dieser Aktivitäten auf die Bevölkerung ist gar nicht abzuschätzen. Man muß bedenken, daß dies alles in einem Land geschah, in dem . . . die pietistischmystische Literatur fast ein Monopol innehatte, einem Land, in dem es in den Volksschulen fast nur religiöse Texte, d. h. im Regelfall die Bibel, als Grundlage für das Lesen gab, einem Land, in dem es neben Staat und Kirche im wesentlichen nur pietistische überörtliche >Organisationen< gab, in denen sich eigenständig >Eliten< bilden konnten.« (Trautwein 1972, 38f.)

Allerdings ist die Rede von >dem< Pietismus problematisch, als die Bewegung in eine Vielzahl regional begrenzter Schulen zerfällt und auch in Württemberg letztlich kein geschlossenes Bild ergibt.237 Die Frage, wieweit Hölderlins Werk in Abhängigkeit vom schwäbischen Pietismus steht, muß hinsichtlich dieser Tradition selbst spezifiziert werden, und da es »in Werk und Briefen Hölderlins keine direkten Hinweise auf dieses Erbe« (Gaier 1962, 2) gibt, kann gemäß den Darlegungen in Abschnitt 1.3 als Beispiel für eine pietistische Deutung der >Welt< das Werk des Predigers Friedrich Christoph Oetinger herangezogen werden. Dafür sprechen nicht nur die Stellung dieses Mannes als des wohl bedeutendsten pietistischen Theologen Württembergs im 18. Jahrhundert wie die zahlreichen Hinweise der Hölderlin-Forschung auf ihn, sondern auch die Tatsache, daß seine Schriften gerade in jüngster Zeit eine gründliche Aufarbeitung durch die theologisch-philosophische Forschung erfuhren.238 Das Ergebnis einer Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschie237

Zwar bietet der württembergische Pietismus im 18. Jahrhundert »nach außen hin ein relativ geschlossenes Bild« (Trautwein 1972, 35), aber Trautwein unterscheidet für die zweite Hälfte des Jahrhunderts zwischen drei Gruppierungen (um Magnus Friedrich Roos, um F. C. Oetinger und Philipp Matthäus Hahn, sowie die erneut aufkommenden Anhänger Zinzendorfs), während Lehmann 1969, 136ff. eine soziologische Differenzierung feststellt aufgrund des Zustroms von Unterschichten. Hieraus erhellt sich die Problematik einer Vorgehensweise, die Zuordnungen zur pietistischen Bewegung ausschließlich nach einem Kriterium vornimmt ; aus der Tatsache, daß Hölderlin im Gegensatz zur Haltung pietistischer Kreise die Französische Revolution begrüßt, kann keineswegs, wie dies Thurmair 1980, 28 folgert, eine grundsätzliche Distanzierung des Dichters von der Vorstellungswelt dieser Bewegung abgeleitet werden. 238 Zur Biographie Friedrich Christoph Oetingers (1702-85), dessen Entscheidung für die Theologie auf einem Bekehrungserlebnis zu beruhen scheint, vgl. Piepmeier 1978, 34-42, der auch einen vorzüglichen Überblick über die Rezeptionsgeschichte seiner Schriften gibt (ders., 9-30). Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit, die sich dem theologischen System dieses Predigers ausschließlich unter dem Blickwinkel

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de zwischen Hölderlins Geschichtsphilosophie und den entsprechenden Ausführungen Oetingers, die am Werk selbst aufgezeigt werden müssen - das Merkmal der Übereinstimmung zwischen der soziologischen Trägerschaft dieser Bewegung und den »Städtern« in Hölderlins Werken ist ein lediglich darauf verweisendes Indiz - , kann dabei jedoch nur der A u f w e i s von Parallelen sein, die allein durch die Evidenz des vorgefundenen Materials zu weitergehenden Folgerungen hinsichtlich bestehender Abhängigkeitsverhältnisse berechtigen. Es bleibt daher nachträglich zu fragen, wieweit Hölderlins Bestimmung der »göttlichen Natur« als substantieller Einheitsgrund der Welt wie als Wirkungskraft, an der >Leben< unmittelbar Anteil hat und woraus sich seine Autonomie begründet, vergleichbar ist mit den Inhalten von Oetingers Gottesvorstellung. 2 3 9 Dieser faßt Gott als das »höchste, von aller U n v o l l k o m m e n heit losgelöste Leben« (Oetinger 1852,109), in d e m einander entgegengesetzte und je in sich zurücklaufende, damit unendliche Kräfte zu einer bewegten Einheit gebunden werden. In seiner »Tiefe« ist dieses Leben für den Menschen nicht weiter bestimmbar als in den Attributen von »Geist« (Oetinger 1852, 69) und »Liebe« (Oetinger W W 6, 46), 240 in seiner »Offenbarung« aber gibt Gott sich in der Schöpfung zu erkennen: 2 4 1 »Das >Leben< ist eine Zusammenfassung verschiedner, wirksamer und leidender Kräfte, welche, nach Art der Räder Ezechiels, von dem Ende in den Anfang laufen. Das Leben ist etwas Zusammengesetztes, in der Creatur auflöslich, in Gott unauflöslich. . . . Gott in seiner Tiefe ist das ewige Eine, ohne Anfang, ohne Raum, ohne Zeit, ohne Succession, ohne Wirkendes und Leidendes; aber in seiner Offenbarung, in seiner Herrlichkeit hat er einen ewigen Anfang, einen ewigen Raum, eine ewige Zeit, eine ewige Succession, eine ewige Wirkung, ein ewiges Leiden, das ist: eine Reception seiner Wirkung in sich selbst.« (Oetinger WW 6, 126)242

der von Hölderlin aufgeworfenen Themenbereiche nähern konnte, ist eine der Komplexheit seines Werkes angemessene Breite der Darstellung nicht möglich, es kann in diesem Kontext nur auf die gründlichen Untersuchungen von Piepmeier 1978 und Großmann 1979 verwiesen werden, denen auch die hier dargelegte Skizze der Argumentation Oetingers verpflichtet ist. Eine knappe Zusammenfassung findet sich auch bei Benz 1979. 239 Zum Gottesbegriff Oetingers vgl. Großmann 1979, 117ff., Piepmeier 1978, 158-172. 240 In seiner Tiefe ist Gott in Ruhe und dennoch als »actus pursissimus, die reinste Wirkung« (Oetinger WW 6, 65) zu begreifen, an anderer Stelle konstatiert Oetinger kategorisch: »Seyn ist nicht das erste, sondern Leben und Bewegen.« (Oetinger WW 1, 124). Vgl. dazu auch Großmann 1979, 136. 241 Beides ist zu trennen: »In Gott ist zu unterscheiden das absolute Leben an und in sich selbst, und die Offenbarung außer ihm.« (Oetinger 1852, 111). Zum Zusammenhang von »Offenbarung«, »Herrlichkeit« und »Weisheit«, womit der sich offenbarende Gott gekennzeichnet wird, vgl. Großmann 1979, 138-151, Piepmeier 1978, 160-166. 242 Gott als Einheit, die in sich eine bewegte Vielheit von Kräften besitzt, faßt Oetinger auch im Begriff des »Intensum«, vgl. Oetinger 1852, 56. Zur Bedeutung der im Zitat angeführten Vision des Propheten Ezechiel für Oetinger vgl. Piepmeier 1978, 163f. 135

In seiner Offenbarung, die damit in sich eine reflexive Struktur aufweist, kommt Gott eine substantielle Bestimmung zu, die Oetinger auch als »Leiblichkeit« oder »Körperlichkeit« Gottes bezeichnet; davon zu unterscheiden ist der Begriff der »Materie«, in der die Einheit der Kräfte des Lebens aufgelöst ist. 243 Dabei offenbart Gott sich nicht vollständig in der Schöpfung; Oetinger versucht in seiner Theosophie jeden Pantheismus 2 4 4 zu vermeiden, aber zugleich ist das Attribut der »Leiblichkeit« nicht v o m Wesen Gottes, von »Geist« und »Liebe«, zu trennen: »Wenn man alles Leibliche von Gott absondert, so ist Gott ein Nichts.« (Oetinger 1849, 350) Somit umfaßt Oetingers Gottesbegriff sowohl dessen Bestimmung als Geist wie als Substanz: »Wenn jemand den Einwand erhebt, daß ich . . . Widersprechendes von Gott behaupte, Körperlichkeit und Geistiges zugleich, so möge er wissen, das hier ein Widerspruch stattfinden müsse.« (Oetinger 1852, 72) Der Prozeß der Selbstoffenbarung Gottes wird geleitet durch das Medium der »sieben Geister«, die Gott sich selbst gibt und die zugleich seine Eigenschaften darstellen; 245 Oetinger greift in diesem Bild auf kabbalistisch-mystische 243

Während Gott sich als »reines Licht« (Oetinger 1852, 69) darstellt, kommt dem durch den Sündenfall aus der Ordnung Gottes und darum auflöslichen, »materiellen« Leben das Attribut der »Finsternis« zu: »Wenn in Gott sich widerstreitende Kräfte sind, wie die Attraktion und die Repulsion, Körperlichkeit und Unkörperlichkeit, so schwindet bei ihm alle Unvollkommenheit seines Lebens, in der Kreatur aber gehen sie wegen dieser Auflöslichkeit in einer gewissen Finsternis oder ein materielles Leben.« (Oetinger 1852, 115). Vgl. auch Piepmeier 1978, 168. 244 »Theosophie, dem Wortsinn nach das Wissen Gottes und Wissen von Gott, ist die Bezeichnung einer bestimmten Weise der menschlichen Gotteserkenntnis und der für sie vorauszusetzenden Weltanschauung. Den Gegenstand mit der natürl. u. übernatürl. Theologie teilend unterscheidet sie sich v. beiden dadurch, daß sie die Gotteserkenntnis >unmittelbargöttl. Faktoren< erstrebt, die dem >Menschenwesen immanent< sind. Diese letztere Forderung führt den Theosophen auch zur Bildung einer besonderen Weltanschauung, die das Geistige im Menschen als Emanation der Gottheit erfaßt u. in der Zurückführung desselben in die Gottheit (Seelenwanderung) das Ziel des Erkennens u. Lebens sieht. Damit tritt die T. dem Pantheismus nahe, hält sich aber v. ihm geschieden, sofern sie das Materielle für ungöttlich betrachtet.« (Art. »Theosophie« in: Buchberger 1912, 2370f.). 245 Vgl. Großmann 1979, 183, sowie Gaier 1962, 325-341; da Gott sich diese »sieben Geister« in einer »willkürlichen Bestimmung« (Oetinger WW 6, 160) gibt, bestrebten Großmann 1979, 208 und Benz 1979, 264 jede Vorstellung von Emanation bei Oetinger. Dann aber wäre die noch darzustellende Bestimmung des Menschen als »Gottes Ebenbild im Kleinen« (Oetinger WW 2, 252) nicht möglich. Oetinger selbst stellt den Akt der Schöpfung im Bild der »Rede« Gottes dar (Oetinger WW 6, 403), wodurch er einen geistigen wie substantiellen Zusammenhang zugleich herstellen 136

Vorstellungen zurück 2 4 6 und er m u ß für seine Deutung der Welt solche »Grundkräfte« (Oetinger W W 6, 151) Gottes annehmen, will er die Schöpfung als Prozeß begründen ; denn würde Gott sich ohne Vermittlungsmedium offenbaren, vollzöge sich dies in e i n e m unmittelbaren Akt, Gott wäre daher » . . . unbeweglich, er hätte alles zugleich, was er hat . . . Daher tritt er durch einen Anfang aus sich selbst heraus, er gibt also seiner Einheit eine Fülle der Vielheit mit ewiger Freiheit. Darum muß er Ausgänge haben, in einer willkürlichen Bestimmung der sieben Geister, sonst wäre er nicht frei.« (Oetinger WW 6, 160) Zwar resultiert die Schöpfung letztlich aus der »Liebe« Gottes, 2 4 7 aber dennoch stellt Oetinger fest, daß Gott ohne Offenbarung und der in ihr wirkenden Kräfte, deren Prozessualität Oetinger in Entsprechung zu Newtons Zentrifugal- und Zentripetalkraft 2 4 8 und damit als »exzentrische« Bewegung bestimmt, ein statisch-ununterschiedenes Wesen wäre, das letztlich kein Bewußtsein seiner selbst entwickeln könnte: »Wenn der ewige Wille Gottes nicht selber aus sich ausginge, so wären alle Kräfte nur Eine Kraft, so möchte auch keine conscientia sui, kein Mitwissen seiner selbst seyn. Die Conscienz entsteht aus den Unterschieden. Es muß die Creatur etwas von Gott Unterschiedenes haben . . . Man kann nicht anders denken, als daß das ewige Eine sich in Begierde seiner selbst einführe.« (Oetinger 1849, 345) Wie der Mensch aufgrund der Unterscheidung v o n Gott allein ein Bewußtsein von diesem entwickeln kann, so kann Gott selbst sich nur mittels einer substantiellen »Herrlichkeit« erfahren und nur daraus kommt ihm seine unendliche Bewegungsdynamik zu. Zieht man an dieser Stelle einen ersten Vergleich zur Philosophie Fichtes und Spinozas, so zeigt sich, daß bei Oetinger einerseits Fichtes Bestimmung der Reflexionsgesetzlichkeit des Bewußtseins in ihren Grundgedanken bereits angelegt ist wie auch die Vorstellung eines allerdings mit Gott in seiner geistig-unbestimmbaren Tiefe z u s a m m e n nur zu denkenden - substantiellen Einheitsgrundes der Schöpfung, daß aber andererseits ein spinozistischer Pantheismus abgelehnt wird, wodurch das Werden der Schöpfung erklärbar wird. kann, ohne daß dieser Gedanke auf das Bestehen eines »durchgängige(n) substantiellein) emanatistischen Zusammenhang(es)« (Gaier 1962, 29) zu reduzieren wäre: »Aber Gott ist deßwegen nicht die Welt, sondern er ist unendlich unterschieden; das ewige Wort aber strahlt dennoch durch alles . . . « (Oetinger WW 6, 149). 246 Vgl. Großmann 1979, 167-185. 247 »Gott ist zwar ein nothwendiges Wesen, aber dabei das allerfreieste ; dieser hat nicht um der Tugenden der Menschen willen diese Erde zum Schauplatz seiner Verklärung gewählt, sondern um ganz anderer Ursachen willen, die in der Harmonie der Creatur keinen Grund haben, sondern in der freiwilligen Ausübung der Liebe Gottes zu den Elendsten.« (Oetinger WW 6, 233). 248 Vgl. Oetinger WW 1, 128, 272, 374. Newtons Kräfte erhalten bei Oetinger einen generativen Charakter, vgl. dazu vor allem Großmann 1979, 125-129. Gaier 1962 hatte versucht, den von Oetinger damit dargelegten siebenstufigen Offenbarungsrhythmus Gottes als strukturelles Argumentationsmuster von Hölderlins Dichtungslehre nachzuweisen und konnte dabei sehr weitreichende Analogien herausarbeiten. 137

Die Schöpfung Gottes aber ist immer auch Offenbarung für den Menschen, dem Gott sich »mittheilen« 249 will und der durch die vollständige Erkenntnis ihres göttlichen Grundes selbst »göttlicher Natur teilhaftig« (Oetinger 1849, 343) werden kann. Da die Welt vollkommen, durch das Vermittlungsmedium der »sieben Geister«, auf die »göttliche Natur« zurückgeführt werden kann, 250 ist sie als Bild der »Herrlichkeit« Gottes zu deuten, 251 sie besitzt gerade darin ihren Zweck, daß » . . . sie die Offenbarung des geistlichen Grundes abgebe, sie gehört mit zur Herrlichkeit Gottes, denn sie ist ein Bestand davon.« (Oetinger 1849, 167f.)

Damit aber kann die substantielle Identität allen irdischen Lebens postuliert werden, da in jedem Sein - es gibt letztlich für Oetinger keinen unbelebten Gegenstand - der sich offenbarende Gott manifestiert: »Es ist die reine Leiblichkeit Gottes, worin Gott alles in den Kreaturen sieht, höret und empfindet.« (Oetinger WW 2, 200)

Während sich das natürliche Leben, einschließlich das des Menschen in seiner kreatürlichen Verfassung, organisiert gemäß dem von Gott gegebenen und in ihm wirkenden »Principium agens« (Oetinger WW 3, 502), es erhält seine Bewegungsdynamik als Teil des sich offenbaren göttlichen Lebens, ist dem Menschen jedoch im Gegensatz zur übrigen, natürlichen Schöpfung eine besondere Qualität zu eigen, da Gott selbst ihn zum Leben erweckte und er daraus ein spezifisches geistiges Vermögen gewinnt: 252 »Was den Leib betrifft, so nahm er (Gott, M. P.) eine helle Materie . . . , formierte sie, daß es schon ein Mensch hieß, und was den Geist betrifft, so blies Gott diesen selbst ein, den >Othem der Lebengöttlichverkehrte< Schöpfung, während Gott die Schöpfung der Welt ebenfalls in der »Rede« schafft, aber in ihrer richtigen

141

eine »gewisse Finsternis oder ein materielles W e s e n « (Oetinger 1852, 115) 256 zu, als die in ihn gesetzten Kräfte in ihrer Einseitigkeit auseinanderstreben, während sie in Gott in ihrer Entgegensetzung sich zu harmonischer Einheit ergänzen; d e n n o c h behält auch der sündige M e n s c h seinen G r u n d in sich u n d damit seine >Göttlichkeit< an sich: »Es ist und bleibt doch wahr, auch das unordentlichste verfälschte Leben lebt und bewegt sich und ist und bleibt der Wurzel nach ein G o t t . . . « (Oetinger WW 2, 251) D u r c h die A u f l ö s u n g der göttlichen Ordnung definiert die S c h ö p f u n g sich als » E n t f r e m d u n g v o m Leben Gottes« (Oetinger W W 4, 11) u n d daraus folgt die E n t f r e m d u n g des M e n s c h e n v o n sich wie v o n seiner natürlichen U m w e l t . D e n n es ist damit die gesamte S c h ö p f u n g in U n o r d n u n g gefallen, M e n s c h und Natur sind einander entgegengesetzt 2 5 7 und die Welt stellt sich nicht m e h r als unmittelbarer »Spiegel« (Oetinger W W 6, 5) der göttlichen Natur dar, 258 sondern sie ist atomisiert in eine Vielzahl endlich-bestimmter Objekte, v o n d e n e n » i m m e r eines das andere verdeckt« (Oetinger W W 5, 18) und worin ihr Einheitsgrund nicht m e h r aufscheint. D e r durch Gott konstituierte V e r m i t t l u n g s z u s a m m e n h a n g allen Seins ist d e m M e n s c h e n nicht m e h r in unmittelbarer Weise zugänglich, seine durch den Sündenfall notwendig beschränkte Erkenntnismöglichkeit mittels der » V e r n u n f t « bleibt entsprechend der Gegenständlichkeitsform der Welt notwendig »Stückwerk« (Oetinger W W 5, 18). 259 D a s v o n Gott abgefallene Leben steht damit in e i n e m unaufOrdnung, sie hat »alle ihre Anmuth und Schönheit durch das schaffende Wort gekriegt« (Oetinger WW 6, 403); eine zweite Offenbarung gibt Gott dann in der Bibel, von Oetinger ebenfalls als »Rede« Gottes gedeutet (vgl. WW 6, 372). 256 »Finsternis« ist »umgekehrtes, aus der Ordnung gebrachtes Licht« (Oetinger WW 1, 268), auch die Begriffe »Leiblichkeit« und »Materie« beinhalten in ihrer Entgegensetzung eine Strukturanalogie, wie Piepmeier zusammenfaßt: »Materie besteht aus denselben Kräften wie der Körper, die himmlische Leiblichkeit, nur daß diese hier in Subsistenz unauflöslich sind und dort auflöslich. Diese Bestimmungen sind nur Hilfskonstruktionen, um einen paradoxen Gottesbegriff möglichst konsistent begründen zu können. Oetinger gewinnt hier gerade die Möglichkeit, die Kreatur an Gott zu binden, wenn auch mit einem wesentlichen Unterschied als Mangel behaftet, der aber prinzipiell nicht unaufhebbar ist.« (Piepmeier 1978, 168). 257 »Die ganze Natur zeugt von einem Fall.« (Oetinger WW 6, 327). 258 Deshalb hat Gott die Bibel gestiftet, in der er »mit den Menschen redet« (Oetinger WW 6, 438): »Alle Propheten und Heilige sezen diß zum Grund, daß man an den Geschöpfen die ersten Züge der göttlichen Ordnung lernen könne . . . Weil aber nach dem Fall man in der Natur den Anfang und das Ende der Wege Gottes nimmer erreichen kann, . . . so hat uns Gott die heilige Schrift, in einer solchen wunderschönen Ordnung zusammenverfaßt, daß einerlei Sache mit hunderterlei Spiegeln und Vorbildern vorgestellt würde . . . « (Oetinger WW 5, 10). Zur Bedeutung der Bibel für Oetinger vgl. Großmann 1979, 76-88. 259 Da Oetinger feststellt: »Die Conscienz besteht aus den Unterschieden . . . « (Oetinger 1849, 345), so vermittelt die Sünde aufgrund der Trennung der Kräfte zugleich Erkenntnis für ein diskursives Denken: »Die Sünde ist entstanden aus Trennung der zugeordneten Kräfte. Wenn die Kräfte im Stande der Unschuld wären beisammengeblieben, so wäre das Seelische und Thierische nicht offenbar worden wegen vorschlagenden göttlichen Lebens.« (Oetinger WW 6, 178). Diese Erkenntnisform aber 142

hebbaren Entfremdungsverhältnis, das der Mensch durch jede theoretischpraktische Tätigkeit reproduziert, und aus der dadurch gegebenen Entgegensetzung von Mensch und Natur resultiert der >Mangel< in der Welt, wodurch die Menschen zu arbeitsteiligen Verhältnissen wie der gesetzlichen Reglementierung ihres Zusammenlebens zum Zweck der Produktion und Sicherung des Eigentums gezwungen werden; es entsteht die von Oetinger treffend geschilderte bürgerliche Gesellschaft: »Das Leben des Menschen unter dem Gesetz der verderbten Natur hat den Anfang des bürgerlichen Lebens mit sich gebracht, dessen Ursprung von einzelnen Menschen, von Familien, Dörfern und Städten entstanden. Die Noth und das Elend der verderbten Natur hat Anlaß zum Haushalten, Künsten und Handwerken gegeben, diese aber waren nicht genug. Dazu gehörte gemeinschaftliche Hilfeleistung, von einem Dorf und Stadt, Religion und gemeinschaftliche Pläze, und eine Anzahl Menschen, welche zur Regierung, Beschüzung und Ernährung einander Hilfe leisten; und damit sich niemand keiner fremden Sache anmaße, jeder aber das Seine in Ruhe genieße, so mußten Geseze, Schulen, Gerichte sein, und Obrigkeiten, welche die Geseze zur Execution bringen.« (Oetinger WW 6, 53)

Setzt man nun dagegen Hölderlins Ableitung der Gegenwart, so begründet er den Verlust der »seeligen Einigkeit« (STA III, 236) nicht aus dem menschlichen Sündenfall, sondern interpretiert sie mittels der von Fichte geleisteten Bestimmung der Reflexionsgesetzlichkeiten des Bewußtseins und einer pantheistischen Fassung des Begriffs der »göttlichen Natur«. Der »göttliche« Zustand des »Kindes« wie des »Volkes der Athener« stellt für Hölderlin noch keine vom Menschen bewußt geschaffene Organisation des individuell-gesellschaftlichen Lebens dar, sondern sie ist Resultat einer bewußt-losen Reifung entsprechend den natürlichen Gesetzen des Lebens. Diese praereflexive Vollkommenheit muß durch die Ausbildung eines Selbstbewußtseins - anstelle eines »Sündenfalls« - notwendig zerstört werden, das sich nicht nur entgegensetzend zu den Objekten der Außenwelt, des NichtIchs, verhält, sondern in dieser Form auch auf sich selbst sich bezieht - als bestimmtes Ich-Bewußtsein - und damit auf den je individuellen Grund des Lebens, der, gefaßt als »Gott in uns«, unmittelbaren Anteilnahme am unendlichen Wirkungsprinzip der Welt. Unendliches kann vom menschlichen Bewußtsein nur als Endlich-Bestimmtes erfahren werden, wie Hölderlin prägnant im Prosaentwurf zur metrischen Fassung des »Hyperion« ausführt: » . . . denn würde das Göttliche in uns von keinem Widerstande beschränkt, so wüßten wir von nichts außer uns, und so auch von uns selbst nicht, und von sich nichts zu wissen, sich nicht zu fülen, und vernichtet seyn, ist für uns Eines.« (STA III, 194)

Der Prozeß der Bewußtwerdung des Menschen impliziert somit dessen Entfremdung vom Einheitsgrund der Welt 260 und das Leben besitzt damit ein ist notwendig mangelhaft, denn für Oetinger gilt: »Diskursives Denken zeugt vom Zustand einer Welt, den Oetinger als unerlöst deutet.« (Piepmeier 1978, 180). 260 Prägnant hatte Novalis diesen Gedanken gefaßt: »Denken ist der Ausdruck . . . des Nichtseyns.« (Novalis Bd. 2, 146). Das Leben der Gegenwart vermag sich in seinem Zustand ausschließlicher Entfremdung nur durch sein Telos positiv zu definieren:

143

tragisches Moment, da die zu seiner Vollendung notwendigen Ausdifferenzierungen der Denk- und Handlungsformen, obwohl letztlich Resultat der menschlichen Entfaltung, 261 für den Menschen als Fremdbestimmung, als »Leiden« erscheinen. Das jeder Bewegung immanente Prinzip der Negation ist nach Hölderlin aber auch konstitutiv für die Entwicklung der »göttlichen Natur« selbst als einer leidenden Kraft: » M u ß nicht alles leiden? Und je trefflicher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? O meine Gottheit! daß du trauern könntest, wie du seelig bist, das könnt' ich lang nicht fassen. Aber die Wonne, die nicht leidet, ist Schlaf, und ohne Tod ist kein Leben. Solltest du ewig seyn, wie ein Kind, und schlummern, dem Nichts gleich? den Sieg entbehren? nicht die Vollendungen alle durchlaufen? Ja! ja! werth ist der Schmerz, am Herzen der Menschen zu liegen, und dein Vertrauter zu seyn, o Natur! Denn er nur führt von einer Wonne zur andern, und es ist kein andrer Gefährte, denn er.-« (STA III, 150)

Die Unterwerfung der »göttlichen Natur« unter diese Dialektik des Werdens ist konsequente Folge ihrer pantheistischen Bestimmung bei Hölderlin, während für Oetinger jede Rückwirkung der Schöpfungsentwicklung auf Gott durch das Vermittlungsmedium der »sieben Geister« ausgeschlossen ist. Die Erlösung der Welt begreift Oetinger als Aufgabe Christi, der die Restitution der ursprünglichen göttlichen Ordnung des Lebens im Sinne der »Leiblichkeit« Gottes leisten wird: »Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes.« (Oetinger 1849, 315)

Geschichte gewinnt auch hier eine reflexive Struktur, deren Erlösung aber in Gestalt Christi gleichsam durch einen Eingriff von außen vermittelt wird, wogegen für Hölderlin dies das Resultat einer der Welt immanenten Entwicklungslogik ist, wonach das Bewußtsein des Menschen - auf der Ebene der Gattung - in der Erfahrung der Subjekt-Objekt-Entgegensetzungen zu deren notwendigen Aufhebung im »Geiste« gelangt. Dieser Bewußtwerdungsprozeß, dessen Dynamik den Widerständen der Gegenwartserfahrung entspringt, vollendet sich im Begreifen des eigenen Ursprungs und damit des Einheitsgrundes der Welt und stellt dann zugleich das Zu-sich-selbst-Kommen der »göttlichen Natur« dar. Während für Oetinger Gott in seiner »Tiefe« (Oetinger WW 6, 126) der menschlichen Erkenntnis entzogen ist, offenbart für Höl-

261

»Freilich ist das Leben arm und einsam. Wir wohnen hier unten, wie der Diamant im Schacht. Wir fragen umsonst, wie wir herabgekommen, um wieder den Weg hinauf zu finden. Wir sind, wie Feuer, das im dürren Aste oder Kiesel schläft; und ringen und suchen in jedem Moment das Ende der engen Gefangenschaft. Aber sie kommen, sie wägen Aeonen des Kampfes auf, die Augenblicke der Befreiung, wo das Göttliche den Kerker sprengt, . . . « (STA III, 52). »Aber sage nur niemand, daß uns das Schiksaal trenne! Wir sind's, wir! Wir haben unsre Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die kalte Fremde irgend einer andern Welt zu stürzen . . . so tödtet der Mensch die süßen Blumen, die an seiner Brust gedeihten, die Freuden der Verwandtschaft und der Liebe.« (STA III, 16).

144

derlin die »göttliche Natur« sich v o l l k o m m e n in der Welt und ist vom Menschen am Ende seines Reifungsprozesses auch zu schauen, in dessen Verlauf allerdings die Entgegensetzungen der Welt auszuhalten und aufzuarbeiten sind, denn damit wird die Vermittlung von Ursprung und Telos des Lebens geleistet. 262 Der G a n g des Lebens 2 6 3 erscheint, in Analogie zu Oetingers Bild der Restituierung von »Leiblichkeit«, als Läuterungsprozeß der Natur z u m »Geist«: »Es läutert sich alles Natürliche, und überall windet die Blüthe des Lebens freier und freier vom gröbern Stoffe sich los.« (STA III, 144)

4.2.1 D i e Fixierung der » D i s s o n a n z e n « durch die Beschränktheit der Gegenwartsgesellschaft Im R a h m e n dieser geschichtsphilosophischen Konzeption kann nunmehr die Kritik an der »Zwietracht« (STA III, 156) und dem »Mislaut« (STA III, 154), der die Gesellschaft der »Deutschen« im R o m a n »Hyperion« kennzeichnet und Ausdruck einer Disharmonie im gesellschaftlichen Zusammenleben ist, die » . . . schreiend ist in all der todten Ordnung dieser Menschen.« (STA III, 154), zurückgeführt werden auf die Defizite einer Lebensweise und einer Bewußtseinshaltung, die sich dem notwendigen Ausdifferenzierungsprozeß des Lebens und dem damit verbundenen »Leiden« entschieden zu verweigern sucht, damit aber die »Dissonanzen der Welt« (STA III, 160) nicht zu ihrer Auflösung treibt, sondern sie fixiert. D i e Inadäquatheit dieser Haltung gegenüber der Bewegung des Lebensprozesses verdeutlicht Empedokles seinem Schüler Pausanias: » . . . schläft und hält der heilige Lebensgeist denn irgendwo, Daß du ihn binden möchtest, du den Reinen? Es ängstiget der Immerfreudige Dir niemals in Gefängnissen sich ab Und zaudert hoffnungslos auf seiner Stelle, Frägst du wohin? Die Wonnen der Welt 262

Das Problem des >Aushaltens< der Antagonismen schreibt Diotima Hyperion zu: »Es ist so selten, daß ein Mensch mit dem ersten Schritt ins Leben so mit Einmal, so im kleinsten Punct, so schnell, so tief das ganze Schiksaal seiner Zeit empfand, und daß es untilgbar in ihm haftet, diß Gefühl, weil er nicht rauh genug ist, um es auszustoßen, und nicht schwach genug, es auszuweinen, das, mein Theurer! ist so selten, daß es uns fast unnatürlich dünkt.« (STA III, 130). 263 Diesen Prozeß des Lebens faßt Hölderlin in Metaphern des »Aufkeimen«, »Aufranken«, »Blühen«: »O es sind heilige Tage, wo unser Herz zum erstenmale die Schwingen übt, wo wir, voll schnellen feurigen Wachstums dastehn, in der herrlichen Welt, wie die junge Pflanze, wenn sie der Morgensonne sich aufschließt, und die kleinen Arme dem unendlichen Himmel entgegenstrekt.« (STA III, 10f.). Heselhaus 1952 verwies bereits auf die Nähe dieser Bilder zur Metaphorik des Pietismus, auch Langen 21968 verweist auf den engen Zusammenhang der Rede vom »Streben zu Gott« und den Bildern des »Emporstreckens« und »Wachsen/Wachstums« (ders., 186f.). 145

Muß er durchwandern, und er endet nicht - « (STA IV, 79)

Indem das Volk der Gegenwart die bestehende gesellschaftliche Verfassung konserviert, 264 wogegen das der unendlichen Bewegung des Lebens immanente Prinzip der Negation die Aufhebung jeder endlich-bestimmten Setzung impliziert, reproduziert es nicht nur fortwährend deren Antagonismen, sondern verliert zugleich die der Dynamik des Lebens immanente Perspektive auf die Erneuerung der ursprünglichen, >göttlichen< Vollendetheit des Lebens als Telos der Geschichte. Deshalb auch besitzen die »Deutschen« keinen Sinn für »Schönheit« und keinen »allgemeine(n) Geist« (STA III, 156), deshalb mangelt es dem Bewußtsein der »Städter« insgesamt an »Geist und Größe« (STA III, 28), denn in dieser Beschränktheit » . . . stirbt der Trieb in unserer Brust, und mit ihm unsre Götter und ihr Himmel.« (STA III, 41)

Das Volk der Gegenwart - und darin begründet sich seine Unmündigkeit unterwirft sich den Trennungen der Welt und versucht, sich mit ihnen in seinem »Austernleben« (STA III, 156) zu arrangieren; es bleibt, wofür die politische Repression nur ein Symptom, nicht die ausschließliche Ursache darstellt, in jeder Hinsicht das Objekt von Herrschaftsbeziehungen. Gerade indem es der Prozessualität des Lebens zu entgehen sucht, muß es die Erscheinungsformen dieser Entwicklung, die sich damit gleichsam hinter seinem Rücken vollzieht, als Fremdbestimmung erfahren, deren härtestes Moment die Negation des diesseitig-irdischen Lebens selbst, der Tod, ist: » ( . . . ) Es scheun Die Erdenkinder meist das Neu und Fremde, Daheim in sich zu bleiben strebet nur Der Pflanze Leben und das frohe Thier. Beschränkt im Eigentume sorgen sie, Wie sie bestehn, und weiter reicht ihr Sinn Im Leben nicht. Doch müssen sie zuletzt Die Ängstigen, heraus, und sterbend kehrt Ins Element ein jedes . . .»(STA IV, 65)

Für dieses beschränkte Bewußtsein, dessen Bürgerlichkeit nicht mehr zu betonen ist, erscheint die Bewegung des Lebens als unvermittelter Einbruch einer ungewußten Gewalt, der »Nemesis« ; nur ein >höheres< Bewußtsein, das um die Einheit der Welt weiß und gerade dadurch sich auszeichnet, vermag diese Negation noch als Teil der Ganzheit des Lebens zu erfassen. Deshalb kann Alabanda konstatieren: »Aber alles Thun des Menschen hat am Ende seine Strafe, und nur die Götter und die Kinder trift die Nemesis nicht.« (STA III, 139)

264

Vgl. die Absicht der Agrigenter, Empedokles zum »König« zu erheben (STA IV, 62).

146

Hölderlin erklärt somit die negative Verfassung der Gegenwartsgesellschaft wie der bürgerlichen Lebensform nicht, wie Lukács ihm unterstellt, in Abhängigkeit von den in ihr herrschenden Produktionsformen, sondern deutet die Erscheinungsweise der gesellschaftlichen Realität im Kontext einer Geschichtsphilosophie, für die dieser Zustand von Entfremdung und Mangelhaftigkeit eine notwendige Phase im Verlauf der menschlichen Gattungsgeschichte ist. Daher kritisiert der Dichter nicht die bürgerliche Lebensweise an sich, sondern die Tatsache, daß die Bürger damit sich zufrieden geben und keine fortwährende Auflösung ihrer Verhältnisse betreiben, geleitet vom Ziel einer Organisation des Lebens entsprechend den Gesetzen der »göttlichen Natur«. Da der Dichter aber damit von jedem partikularen Interesse abstrahiert, kann er keine Strategie eines direkten politischen Handelns entwerfen und will dies auch nicht, als er die Versöhnung aller Antagonismen von einem allgemeinen Bewußtsein der »göttlichen Natur« erwartet; in diesem Sinne versuchen die »Erzieher« eine Aufklärung der »Städter« zu leisten. Diese Argumentation findet ihre Parallele wiederum in den Ausführungen Oetingers. Durch den Sündenfall des Menschen ist eine Beschränkung seiner Erkenntnisfähigkeit eingetreten, deren Aufhebung nur allmählich im historischen Prozeß gelingen kann: »Die göttliche Natur mußte dem Menschen nach und nach mitgetheilt werden.« (Oetinger WW 6, 178f.). Geschichte erscheint somit als fortschreitender Offenbarungsprozeß, in dessen Verlauf Gott jeweils, entsprechend seiner »Ökonomie« (Oetinger WW 6, 134) und den »Epochen der göttlichen Hausordnung« (Oetinger 1852, 99) dem Menschen ein bestimmtes »Maas der Erkenntnis« (Oetinger WW 6, 134) gibt, das dieser sich anzueignen hat: »Gott gibt von Zeit zu Zeit für jedes Jahrhundert große Eröffnungen, die vorher nicht gegeben werden.« (Oetinger WW 6, 164)

Diesen Erkenntnisfortschritt, wodurch Oetinger wissenschaftliche Arbeit fordert und legitimiert, sieht er in der Gegenwartsgesellschaft nicht mehr geleistet: »Weil die öffentliche Anstalt und Disciplin fast überall dahin ist, weil die Meisten im Irrthum erzogen sind, daß alle Vorstellungen keinen Eingang haben, so denken sie (die Lehrer der Wahrheit, wenn sie auch Muth, Kraft und Willen haben zu lehren), es sei genug, in dem Wege der Vorfahren zu gehen und leiden nichts mehr an der Wahrheit.« (Oetinger WW 4, 30).

Dieser Stillstand gesellschaftlicher Entwicklung bedeutet aber für Oetinger im Gegensatz zu Hölderlin - keine Verhinderung der Vollendung menschlichen Lebens, da dies durch Christus geleistet werden wird, sondern lediglich eine mangelhafte Vorbereitung auf die durch ihn kommende »güldene Zeit«. Daher kritisiert Oetinger zwar das nicht an der Bibel und den Sprüchen Salomons 265 orientierte Alltagsverhalten der Menschen, insgesamt aber er265

Sie enthalten für Oetinger eine »Sittenlehre«, die sich »auf die allgemeine Vorsehung Gottes und die Regierung der ganzen Welt gründet« (Oetinger WW 4, 20). Vgl.

147

scheint i h m die Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft als eine durchaus adäquate Organisationsform einer v o n Gott abgefallenen Welt, da sie imstande ist, das Überleben des M e n s c h e n zu sichern. Darin aber offenbart sich Gott in Form der Kundgabe v o n Wahrheiten, die Oetinger i m Begriff des »sensus c o m m u n i s « 2 6 6 faßt und der den durch die gesellschaftliche Praxis und die Tradition verifizierten Wissensbestand einer Gesellschaft meint, w o d u r c h das von Oetinger sehr pragmatisch vorgestellte A l l g e m e i n w o h l befördert wird: »Der wirkliche Sensus communis ist ein Trieb der göttlichen Weisheit in ganzen Gesellschaften zum allgemeinen Besten.« (Oetinger WW 4, 41) A n der Realisierung dieser »Weisheit« aber sind für Oetinger auch die »Regierungscollegien durch politische, die S c h u l e n durch scholastische u n d die in A f f ä r e n geübten durch gerichtliche A u s l e g u n g « (Oetinger W W 4, 41) beteiligt. Eine solche Gott b e m ü h e n d e Legitimation der gesellschaftlich-staatlic h e n Verfassung der Gegenwart ist Hölderlin ebenso fremd wie die grundsätzliche A n e r k e n n u n g einer Form des bürgerlichen Lebens, das geordnet ist nach d e m Prinzip des » N o t h w e n d i g s t e n « , » N ü t z l i c h s t e n « und »Einfachsten«, worin ein » G r u n d g e s e t z « Gottes 2 6 7 sich offenbart: »Das Nothwendigste in der Welt ist durch äußerliche Macht und Ansehen bestätigt, das Nüzlichste durch täglichen Gebrauch befestigt, und das Einfältigste leuchtet und bricht aus dem Innersten heraus durch die allerzartesten Vorempfindungen und Triebe und dringt durch eine mächtige Zusammenstimmung ( . . . ) wieder bis in das Innerste.« (Oetinger WW 4, 34)

dazu Piepmeier 1978,133-137, der auch auf die Behandlung Salomons in Hölderlins Magisterspecimen »Parallele zwischen Samolons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen« (STA IV, 176-188) eingeht und hier bereits unterschiedliche Beurteilung der bürgerlichen Lebenswirklichkeit bei Oetinger und Hölderlin feststellt (Piepmeier 1978, 136, Anm. 133). 266 Zum Begriff des Sensus communis und seiner Geschichte vgl. Piepmeier 1978, 122ff. und Großmann 1979, 106-113; der Begriff bezeichnet sowohl das Wirken der »Weisheit« Gottes in der natürlich-gesellschaftlichen Realität wie ein subjektives Empfindungsvermögen des Individuums dafür; den Zusammenhang bezeichnet Piepmeier: »Die Lehre vom sensus communis läuft auf eine Weisheitslehre hinaus. Weisheit meint dabei zunächst, daß es sich um Weisheit als Modus Gottes handelt, mit der er sich in der Schöpfung auslegt. Diese Weisheit wird offenbar in den Werken Gottes, und diese Weisheit ist es, der der sensus communis >antwortetWeisheit< i s t . . . Weisheit, die der Mensch erlangen soll, konstituriert sich im Ineinander theoretischer und praktischer Fähigkeiten.« (Piepmeier 1978, 133). Zu Oetingers Lehre von den sieben Säulen der Weisheit vgl. Piepmeier 1978, 137-144; zum Sensus communis als individuelles Fühlungssensorium vgl. Abschnitt 4.3.1. 267 Oetinger 1762, II 30; Piepmeier führt dazu aus: »So bekommt dieses Prinzip den pragmatischen Sinn der Lebenssicherung. Oetinger geht davon aus, daß dieses Prinzip ausreichend ist, in Auseinandersetzung mit der Natur den Bestand der Menschen zu sichern. Dieser pragmatische Sinn aber ist auf eine Ordnung Gottes bezogen.« (Piepmeier 1978, 128f.). 148

Effektivität und Rationalität des bürgerlichen Alltags stellen das Optimum einer von den Erfordernissen der Praxis geleiteten Annäherung des Lebens an die Gesetze der göttlichen Ordnung dar und verweisen darauf; ansonsten ermöglicht nur noch die menschliche Schönheit eine Ahndung Gottes in der sündigen Welt, »in dem schönen Angesicht einiger Menschen, was die Franzosen Air, die Italiener Aria nennen, und das etwas Anderes ist, als die natürliche Physiognomie« (Oetinger 1852, 197). Die unmittelbar einsichtige Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit dieser Lebensform, in der die »Weisheit« Gottes erscheint, stellt selbst bereits eine Aufforderung an den Menschen zur Wahrnehmung einer >höheren< Ordnung dar: »Diß ist es, wodurch die Weisheit, auf den Gassen, am Thor, unter dem Volck, und in der Stadt ruffet.« (Oetinger 1762, II 30) 268

Setzt man dagegen die Inhalte und Merkmale von Hölderlins Gesellschaftsbildern, wie sie im Abschnitt 2.0 analysiert wurden, so erweist sich die darin thematisierte gesellschaftliche Lebensform als identisch mit derjenigen, auf die Oetinger in seinen Ausführungen sich bezieht, aber es liegt eine davon völlig unterschiedene Beurteilung vor. Auch Hyperion vermerkte die Spuren äußerlicher Schönheit in der Erscheinung der griechischen »Städter« der Gegenwart positiv, 269 die pragmatisch-utilitaristische Orientierung ihres Lebens jedoch lehnt er vollkommen ab. Gerade die allgemeine »Weisheit« dieser Gesellschaft vermag er nicht zu akzeptieren: »Nur müßt ihr euch bescheiden, liebe Leute, müßt ja in aller Stille euch wundern, wenn ihr nicht begreift, daß andre nicht auch so gliiklich, auch so selbstgenügsam sind, müßt ja euch hüten, eure Weisheit zum Gesez zu machen, denn das wäre der Welt Ende, wenn man euch gehorchte.« (STA III, 40)

Das Kritikpotential dieser Haltung aber bleibt begrenzt, da sie einher geht mit einer grundsätzlichen Disqualifizierung des Kriteriums praktisch-gesellschaftlicher Existenzsicherung vor dem Hintergrund einer anzustrebenden Lebensführung im Bewußtsein der »göttlichen Natur«; das von Hölderlin gegen die Beschränktheit dieser bürgerlichen Lebensform angeführte und am Beispiel des jungen Hyperion exemplarisch vorgeführte Bildungskonzept enthielt keinerlei Hinweise auf die Aneignung instrumenteller Fertigkeiten und die Kritik der auf vorkapitalistischem Niveau sich befindlichen Produktionsformen und den Folgen gesellschaftlicher Arbeitsteilung bezog sich niemals auf die Form der Tätigkeit selbst, sondern ausschließlich auf das dabei bestehende Bewußtsein der Menschen. Diese Differenz zur Position Oetingers ist vorerst festzuhalten und sie ist begrenzt auf diesen thematischen Bereich, denn Hölderlin stimmt mit seiner Argumentation dahingehend wieder überein, als beide die Gegenwartsgesellschaft unter dem Aspekt der Diskrepanz zwischen dem möglichen und dem tatsächlich vorhandenen Bewußtsein von 268 269

Vgl. auch Oetinger WW 6, 260. STA III, 22, vgl. auch Abschnitt 2.1.1.

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der »göttlichen Natur« kritisieren und damit die Perspektive einer Heilserwartung verbinden, die sich bei Oetinger als personifizierte Wiederkehr Christi, bei Hölderlin als Erneuerung eines versöhnten Lebens durch ein allgemeines Bewußtsein um den Einheitsgrund der Welt darstellt; immer aber vollendet sich Geschichte als Erinnerung an den Ursprung. Oetinger folgt dabei der Zeitrechnung des württembergischen Pietisten Johann Albrecht Bengel, der als Zeitpunkt der Wiederkehr Christi den 18. Juni 1836 errechnet hatte. 270 Diese Spekulation besaß in dieser Form keine unmittelbare Gültigkeit für Hölderlin; zwar findet sich Bengels »Gnomon« im Katalog der von Hölderlin hinterlassenen Bücher, 27 ' jedoch besteht der grundlegende Unterschied seiner Argumentation - wie sie, um diese in Abschnitt 4.3.3 analysierte Einschränkung vorwegzunehmen, dem »Hyperion« und den beiden ersten Fassungen des Trauerspiels zugrundeliegt - und der dieser pietistischen Theologen darin, daß für den Dichter die Erneuerung der Welt potentiell vom Menschen selbst geleistet werden kann, während für Bengel oder Oetinger nur Gott die Welt erlösen kann. Damit gewinnt Hölderlins Kritik an der »todten Ordnung« (STA III, 154) seiner Zeit an Schärfe und sie wird ergänzt durch die Kritik eines von ihm wahrgenommenen Ausdifferenzierungsprozesses in dieser Gegenwartsgesellschaft, der an deren Verfassung keine positive Veränderung bewirkt.

4.2.2 Die Fixierung der »Dissonanzen« durch den Ausdifferenzierungsprozeß der Gegenwartsgesellschaft Am Beispiel der Bibel demonstriert Oetinger zwei Erkenntnisformen, von denen die eine in ihrer »geometrischen Ordnung« das Erkenntnisobjekt unter ihr äußerlich bleibende, vorgefaßte Kategorien subsumiert, während die andere als »generative Ordnung« die der Sache selbst immanente Entwicklungslogik adäquat aufzunehmen imstande ist. In dieser Weise stellt die Bibel als Offenbarung Gottes das Werden der Schöpfung vor: »Die geometrische Ordnung läßt gar vieles fallen, was zum Begriff des Lebens dienlich ist. Die heil. Schrift bedient sich einer Methode, welche mehr mit dem Entstehen der Dinge übereinkommt und nicht so gar sehr auf die Concinnität der Begriffe ausgeht. Die geometrische Ordnung nimmt ihren Ausgangspunkt von irgendeinem abstrakten Gedanken, die generative Ordnung aber geht, wie es beim Samenkorn der Fall ist, vom Ganzen aus und entfaltet dieses gleichmäßig bis zum Kleinsten, was wir freilich nur unter unvollkommenen Bildern nachahmen können.« (Oetinger 1852, 35) 270

271

Bengel hatte zunächst das Jahr 1809 errechnet, zu seinen Spekulationen vgl. Großmann 1979, 68f. Darauf begründet sich Oetingers Deutung seiner Zeit als einer Endzeit, die in naher Zukunft - »welche ich inzwischen aus Bengels Zeitrechnung vorausseze« (Oetinger WW 6,8) - durch die Erscheinung Christi aufgehoben wird: »Wir leben in einem Zeitpunkte, wo die Welt derjenigen großen Auflösung zueilt, aus der sie Gott als einen verklärten, vollkommenen und keinen weiteren Veränderungen unterworfenen Körper wieder hervorrufen wird.« (Oetinger WW 6, 298). Der Katalog der hinterlassenen Bücher findet sich in STA VII/3, 388-391.

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Die »geometrische« Ordnung stellt für Oetinger die beschränkte Erkenntnisform des sündigen Menschen dar, der den Grund der Welt - Gott - nicht unmittelbar zu erfassen vermag und somit das Ganze nicht zur Verfügung hat, um »generativ« daraus das Einzelne abzuleiten, sondern das Gegebene in eine lediglich abstrakte Ordnung bringt und auf die Einheit der Welt nur induktiv schließen kann. 272 Die Fähigkeit zu einer solchen »generativen« Erkenntnisform hatte Hyperion dem »Volk der Athener« in der Formel der »Liebe der Schönheit« (STA III, 79) zugeschrieben, und es stellt auch darin das ideale Gegenbild zur Lebensform der »Städter« der Gegenwart dar. Dadurch stehen die »Athener« in einem unmittelbaren Verhältnis zur »göttlichen Natur«, sie erfahren die Welt als »Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns« (STA III, 80) und verfügen damit über einen Totalitätsstandpunkt, der - in bewußt-loser Weise den Einheitsgrund der Welt zu erfahren erlaubt. Das Subjekt der »Erkenntnis« hebt im Vollzug dieses Aktes seine eigene partikulare Bestimmtheit auf und dadurch kann dieses Volk in der »Wissenschaft« analog zur Verfahrensweise der »Kunst« unentfremdet die »Schönheit«, die harmonische Einheit der Welt reproduzieren. Deshalb sind die »Athener« als das »dichterische religiöse Volk« (STA III, 81) zugleich ein »philosophisch Volk« (STA III, 81): »Das große Wort, das εν διαφερον εαντω (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gab's keine Philosophie. Nun konnte man bestimmen, das Ganze war da. Die Blume war gereift; man konnte nun zergliedern. Das Moment der Schönheit war kund geworden unter den Menschen, war da im Leben und Geiste, das Unendlich-einige war.« (STA III, 81 f.)

Wiederum ist der Begriff des »Einen in sich selber unterschiednen« bei Hölderlin auf die Bestimmung des Lebens als eines autonomen wie in einem Einheitsmedium sich vollziehenden Prozesses zu beziehen und die dem Leben adäquate Erkenntnisform, die bei Oetinger letztlich Gott selbst vorbehalten war, erhält bei Hölderlin ihren historischen Ort als Ausgangs- wie Zielpunkt der Entwicklung der menschlichen Gattung; für beide aber stellt die Bezogenheit auf das Ganze das entscheidende Wahrheitskriterium jedes Erkenntnisaktes dar, 273 und nur die Dichtung, die ästhetische Behandlung des 272

Zur Bestimmung der Erkenntnisformen bei Oetinger vgl. die ausführliche Darstellung von Großmann 1979, 98-116. 273 Ausdrücklich stellt Oetinger fest: »Wahrheit ist zweierlei: 1. Wahrheit der Sache. 2. Wahrheit der Begriffe. Wahrheit der Sache ist, daß etwas existiert oder etwas da ist aus dem Leben und Bewegen Gottes, oder das, was ein wirkliches sein in sich hat, es aus dem Leben und Bewegen Gottes habe. Sein ist nicht das Erste, sondern Leben und Bewegen. Wahrheit der Begriffe ist, wenn ich die Sachen erkenne, was sie sind, nämlich in und aus dem Leben und Bewegen Gottes . . . « (Oetinger WW 1, 124). Oder Prägnant: »Die Wahrheit ist ein Ganzes.« (Oetinger WW 5, 44). Schneider 1938 hatte aufgrund solcher Sätze Abhängigkeitsverhältnisse zwischen der Philosophie Hegels und Schellings und der Theosophie Oetingers nachzuweisen versucht, zur Kritik dieser Arbeit vgl. Piepmeier 1978, 19ff., der vor allem, wie auch bei der Arbeit von Gaier 1962 (Piepmeier 1978, 23ff.) die Nivellierung der Unterschiede dabei bemängelt.

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Gegenstandes kann für Hölderlin letztlich diesen Anforderungen genügen. Ein Realitätsbezug des Menschen, der nicht in diesem Sinne sich definiert, bleibt für Hölderlin unvollständig, ein »Nothwerk«; in dieser Mangelhaftigkeit aber leben von jeher die » D e u t s c h e n « : »Der blose Verstand, die blose Vernunft sind immer die Könige des Nordens. Aber aus blosem Verstand ist nie verständiges, aus bioser Vernunft ist nie vernünftiges gekommen. Verstand ist ohne Geistesschönheit, wie ein dienstbarer Geselle, der den Zaun aus grobem Holze zimmert, wie ihm vorgezeichnet ist, und die gezimmerten Pfähle aneinander nagelt, für den Garten, den der Meister bauen will. Des Verstandes ganzes Geschäft ist Nothwerk. Vor dem Unsinn, vor dem Unrecht schützt er uns, indem er ordnet; aber sicher zu seyn vor Unsinn und Unrecht ist doch nicht die höchste Stuffe menschlicher Vortreflichkeit.« (STA III, 83) Im Gegensatz zu Oetinger ist die materielle Sicherung der Existenz wie der gesellschaftlichen Organisation für Hölderlin kein Legitimationskriterium; während Oetinger in der Effektivität bürgerlicher Lebenspraxis noch ein Zeichen für die Anwesenheit der »Weisheit« (Oetinger W W 6, 260) Gottes erblicken konnte, sieht Hölderlin darin allein einen Herrschafts- und Entfremdungsaspekt. Das reflexiv-zweckrational verfahrende Bewußtsein vermag nicht die »Dissonanzen« der Welt aufzuheben, sondern reproduziert diese fortwährend. Vernunft fungiert damit in der Rolle des »Treibers«, sie ist nicht imstande, die durch den Verstand geordnete Erfahrungswirklichkeit im Sinne der Bewegungsgesetzlichkeit des G a n z e n selbst, der »göttlichen Natur«, a u f z u n e h m e n und auf dieser Basis sich auf die Natur zu beziehen: 2 7 4 »Vernunft ist ohne Geistes-, ohne Herzensschönheit wie ein Treiber, den der Herr des Hauses über die Knechte gesezt hat ; der weiß, so wenig, als die Knechte, was aus all' der unendlichen Arbeit werden soll, und ruft nur: tummelt euch, und siehet es fast ungern, wenn es vor sieht geht, denn am Ende hätt' er ja nichts mehr zu treiben, und seine Rolle wäre gespielt. Aus blosem Verstand kömmt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr denn 274

Hölderlin hat erkannt, » . . . daß die Reflexionsphilosophien Kants und Fichtes von einem ewig disparaten Gegensatz von Subjekt und Objekt ausgehen, der nur aufzuhellen ist durch die Unterwerfung des Objekts (Kant, Fichte) oder die Unterwerfung unter das Objekt (Schelling). Solchem Denken wohnt Herrschaft inne, es äußert sich als K a m p f . . . (Kurz 1975, 13). Eine gewisse Milderung dieses Gegensatzes bei Kant stellt seine »Kritik der Urteilskraft« dar, in der er jedoch die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens betont und dagegen das Bild eines »göttlichen« Verstandes stellt, der das Ganze inhaltlich vor aller Erfahrung weiß: »Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom >Synthetisch-Allgemeinen< (der Anschauung eines Ganzen als eines solchen) zum Besondern geht, d. i. vom Ganzen zu den Teilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die >Zufälligkeit< der Verbindung der Teile nicht in sich enthält, um eine bestimmte Form des Ganzen möglich zu machen, die unser Verstand bedarf, welcher von den Teilen, als allgemeingedachten Gründen, zu verschiedenen darunter zu subsumierenden möglichen Formen, als Folgen, fortgehen muß.« (Kant WW 8, Β 349). Auf die Kant-Kritik Hölderlins kann hier nicht eingegangen werden, vgl. Kurz 1975, 66-74.

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nur beschränkte Erkenntniß des Vorhandnen. Aus bioser Vernunft kömmt keine Philosophie, denn Philosophie ist mehr, denn blinde Forderung eines nie zu endigenden Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines möglichen Stoffs.« (STA III, 83)

Daraus gewinnt Hölderlins Gegenwartskritik ein weiteres Argument, da er neben den erstarrten Lebensformen eines städtischen >mittleren< Bürgertums nun einen Ausdifferenzierungsprozeß in dieser Gesellschaft hervorhebt, der für ihn jedoch keine positive Veränderung der bürgerlichen Lebenssituation bewirkt. Wenn Hyperion in seiner Kritik der »Deutschen« bemerkt, diese seien »durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden« (STA III, 153), so thematisiert er eine ökonomisch-kulturelle Entwicklung, die jedoch nicht am Telos der Geschichte, an der Versöhnung allen Lebens in der gewußten Einheit der »göttlichen Natur« orientiert ist, sondern ausschließlich an zweckrational-individuellen Kriterien, wodurch die Antagonismen der Gegenwartsgesellschaft wiederum fixiert werden. Die Folgen dieses gesellschaftlichen Fortschritts, der ohne leitende Perspektive sich vollzieht, erfährt Hyperion für sich vor allem im kulturell-wissenschaftlichen Bereich: »Ach! wär' ich nie in eure Schulen gegangen. Die Wissenschaft, der ich in den Schacht hinunter folgte, von der ich, jugendlich thöricht, die Bestätigung meiner reinen Freude erwartete, die hat mir alles verdorben. Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgiebt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte, und vertrokne an der Mittagssonne.« (STA III, 9) 275

Diese Entfremdungssituation resultiert aus einer diskursiv-analytisch verfahrenden Erkenntnisform, die in ihren bestimmenden Entgegensetzungen ihre eigene Voraussetzung, den Einheitsgrund der Welt, nicht erfassen kann. Die wissenschaftliche Entwicklung der Zeit - auf den Aspekt des gesteigerten »Fleißes« (STA III, 153) geht Hölderlin nicht näher ein, es scheint damit ein quantitativer Zuwachs ausgedrückt zu sein - produziert damit ebenso einen beschränkten Bewußtseinszustand, wie er auch Folge der »todten Ordnung« der Städter ist, und als Hyperion nach dem Bruch mit Alabanda versucht, sich in den Alltag dieser Gesellschaft einzufügen, macht er buchstäblich die Erfahrung einer »Entzauberung der Welt«: 276 275

Die Termini »Trockenheit« und »Dürre« bezeichnen im pietistischen Wortschatz den »Zustand der Götterferne« (Langen 2 1968, 127ff.). 276 In diese Formel faßt Max Weber eine grundlegende Tendenz zur Rationalisierung in der europäischen Wissenschaftsgeschichte: » . . . die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeuten etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gäbe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge im Prinzip - durch >Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der WeltFamilie< dar, in der wirtschaftlich-kulturelle Tätigkeitsdifferenzierungen als naturbedingte-anthropologische Gegebenheiten interpretiert werden; die Gesamtgesellschaft wird, stringenter und reduktionistischer als bei Oetinger, gedeutet in Analogie zu diesen kleinräumig-überschaubaren Beziehungssystemen. Zugleich offenbart sich darin aber ein letztlich harmonistisch-konservativer Grundzug von Hölderlins Gesellschaftsbild, als die Utopiemodelle in ihrer >Naturhaftigkeit< nicht mehr zu problematisieren sind. Im Sinne dieses Familialismus, 343 in dessen Sinne bereits Hyperion das Verhältnis der göttlichen Wirkungskräfte der Welt zueinander vorstellte, 344 werden nunmehr auch die Ideale der Französischen Revolution in die Utopiemodelle eingebracht. Soziale Gleichheit wird ausdrücklich gefordert, erscheint jedoch als Ausdruck der nun gewußten, aber immer schon vorhandenen Verwandtschaft allen Lebens, wie auch die gesellschaftlich objektivierte Freiheit in ihrer Vollendung nur Resultat der dem Leben immanenten Autonomie sein kann. Hy342b S T A 343

ln

79f

Zu diesem »künstlichen Familialismus« der vorindustriellen Zeit, in der »die Familie auch im außerverwandschaftlichen Bereich oft als Modell gesellschaftlichen Lebens verstanden wurde«, vgl. Neidhardt 1970, 32. 344 STA III, 12; 54.

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perion zieht mit der Losung: »Alles für jeden und jeder für alle!« (STA III, 112) in den Freiheitskampf und Empedokles betont in analoger Weise in seiner politischen Botschaft an die »Agrigenter«, die er ausdrücklich als sein »Heiligtum« (STA IV, 64) vorstellt, die Verpflichtung zu solidarischem Handeln gemäß der religiös begründeten Gleichheit und Einigkeit allen Lebens: » . . . dann reicht die Hände Euch wieder, gebt das Wort und theilt das Gut, O dann ihr Lieben theilet That und Ruhm Wie treue Dioskuren; jeder sei, Wie alle, - wie auf schlanken Säulen, ruh Auf richt'gen Ordnungen das neue Leben Und euern Bund bevest'ge das Gesez.« (STA IV, 66)

Es wird hier das Bild einer Gemeinschaft vorgeführt, die zwar Arbeitsteilung und Tausch kennt, aber dies nicht mittels Ständeordnung und Geld organisiert, sondern auf der Basis gegenseitiger liebender Anerkennung, getragen vom gemeinsamen Bewußtsein einer »richt'gen« Ordnung des Lebens im Medium der »göttlichen Natur«. Sofern in dieser Utopie nun eine sozialistische Perspektive gesehen wird, wie von Lukács behauptet, oder sie im Sinne eines »Agrarkommunismus« (Bertaux 1981, 568) gedeutet wird, so gelingt dies allein unter Eliminierung der religiösen Begründung dieses Zukunftsentwurfs wie unter Verkennung der ihr zugrundeliegenden Ordnungsvorstellungen, die ihren historisch-soziologischen Ort in der Lebenswelt eines mittleren Bürgertums des 18. Jahrhunderts besitzen. Wenn Diotima die Welt als »häuslich Leben« (STA III, 57) zu deuten sucht, spricht sie ein »Sozialgebilde« an, das sich im 18. Jahrhundert in der bürgerlichen Welt charakterisierte durch die »Tendenz wirtschaftlicher Selbstgenügsamkeit und den Anspruch einer umfassenden Verhaltensformierung aller in seinem Rahmen Lebenden und Arbeitenden« (Möller 1969, 10), wie auch der Begriff der »Gemeinde« (STA III, 116) auf eine gesellschaftliche Alltagswirklichkeit verweist, in der das öffentliche Leben der Bürger weitgehend identisch war mit dem Wirken der Kirchengemeinde und die, in Verbindung mit politisch-sozialer Kontrolle, zu einer Enge und Normierung aller Lebensformen führte, wovon noch das dagegen sich wendende Zukunftsmodell in den von ihm propagierten Ordnungsvorstellungen zeugt. Nicht der Mensch formt seine Welt, sondern er fügt sich, mittels des Wissens um den Einheitsgrund der Welt, ein in die natürliche Ordnung des Lebens, die anstelle der konflikthaften Gesellschaftsordnung der Gegenwart die harmonische Einigkeit aller Menschen wie ganzheitliche Entwicklung des Individuums ermöglicht; wiederum wird deutlich, wie stringent Hölderlin den Gottesbegriff Oetingers wie das Bild der göttlichen Ordnung des unauflöslichen Lebens substituiert durch den Begriff der »göttlichen Natur«. Erst durch das Wissen um dieses »Seyn« (STA III, 236) kann ein vollkommen »schönes« Leben entstehen, das noch in der Banalität des Alltags seine höhere Qualität offenbart. Wenn Diotima als »Königin des Hauses« (STA III, 53) - und nur an dieser Stelle besitzt dieser monarchische 199

Terminus in den hier behandelten Werken eine positive Bedeutung - »Gemüße« (STA III, 56) zubereitet, so stellt dies eine »edle« (STA III, 57) Handlung dar, nicht weil sie ein sinnliches Bedürfnis befriedigt, sondern weil sie in Entsprechung zur Natur handelt, die ebenfalls dem Menschen Nahrung zur Verfügung stellt, weil sie » . . . ähnlich der Natur, die herzerfreuende Speise bereitet.« (STA III, 57). Das gesamte gesellschaftliche Leben der Zukunft soll sich als Analogie zum »Spiel der Natur« (STA III, 130) vollziehen und gerade damit die physisch-kreatürliche Qualität der menschlichen Existenz paradoxerweise sublimieren, denn nur in der unmittelbaren Anteilnahme an der »göttlichen Natur«, im nicht reflexiv verfahrenden »Geist« (STA III, 63) findet der Mensch seine Vollendung und erhebt sich über jede Form von »Nothdurft« (STA III, 16). Die »Geseze der Natur« (STA III, 116) gewinnen ihre Objektivität und Verbindlichkeit dadurch, daß sie jedem Zugriff des Menschen entzogen sind, womit dessen Freiheit in der Einstimmung zu seinen eigenen Existenzbedingungen liegt und damit zugleich zur Entwicklungsgesetzlichkeit der gesamten Schöpfung; dadurch ist die Entfaltung der Persönlichkeit gemäß ihren >natürlichen< Anlagen für jeden Menschen möglich, ohne das gesellschaftliche Ganze zerfallen zu lassen. Diotima konkretisiert dies in einem Brief an Hyperion: » D e m hätt' ein Roß zu lenken, genügt; nun ist er ein Feldherr. Allzugenügsam hätte der ein eitel Liedchen gesungen; nun ist er ein Künstler. Denn die Kräfte der Helden, die Kräfte der Welt hattest du aufgethan vor ihnen in offenem K a m p f ; die Räthsel deines Herzens hattest du ihnen zu lösen gegeben; so lernten die Jünglinge Großes vereinen, lernten verstehn das Spiel der Natur, das seelenvolle, und vergaßen den Scherz . . . Ach! nun nahmen die Menschen die schöne Welt nicht mehr, wie Laien des Künstlers Gedicht, wenn sie die Worte loben und den Nutzen drin ersehn. Ein zauberisch Beispiel wurdest du, lebendige Natur! den Griechen, und entzündet von der ewigjungen Göttin G l ü k war alles Menschenthun, wie einst, ein Fest; und zu Thaten geleitete, schöner als Kriegsmusik, die jungen Helden Helios Licht.« (STA III, 130f.)

Die Entwicklung der Menschen zu »Künstlern« und »Feldherrn« ist weniger geleitet von deren subjektiven Bedürfnissen und Fähigkeiten, sondern vom geistigen Vermittlungsmedium der »lebendige(n) Natur«, woraus die Ganzheitlichkeit des Individuums wie des gesellschaftlichen Systems folgt. Den historischen Standort eines solchen Bildungsdenkens wie des ihm entsprechenden Gesellschaftsbildes aber merkiert Fiedler 1972, wenn er - »mit aller gebotenen Vorsicht« - darauf verweist, » . . . daß mit der Betonung des l e b e n d i g e n Geistes< der Zentralwert jeder agrarischen Ordnung angesprochen wird. Damit korrespondiert durchaus die Nennung des kriegerischen Geistes E i n f a l t < . . . « (Mieth 1978, 129f.). Allerdings konstatiert Mieth dann einen Widerspruch zwischen Hölderlins Bestimmung des Menschen als eines autonomen Wesens und dem Versuch, zugleich die gesellschaftliche Einheit zu denken und begründet dies aus der historischen Zurückgebliebenheit Deutschlands: »Genausowenig wie bei Rousseau gibt es jedoch bei Hölderlin eine dialektische Vermittlung dieser beiden Pole - auf der Grundlage vor-revolutionärer bürgerlicher Ideologie war sie nicht denkbar.« (Mieth 1978, 130). Diese Vermittlung liegt bei Hölderlin aber vor im Begriff des »Gott(es) in uns« und stellt die Grundlage seines geschichtsphilosophischen Denkens dar; da Mieth dies verkennt, kann er von einer nur »scheinbar religiöse(n)« (Mieth 1978,

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Lukács, in seiner ökonomischen Perspektive rückwärts gewandt, vergegenwärtigt man sich, daß in seiner Zeit neben der handwerklichen Warenproduktion des kleinstädtischen Bürgertums bereits marginal ein Großbürgertum bestand, wie er es in seiner Zeit in Frankfurt kennenlernen konnte. Diese Produktions- und Erwerbsformen lassen sich mit der wirtschaftlichen Grundlage des Utopiemodells nicht in dem Sinne vermitteln, daß dieses deren postkapitalistische Überwindung anstrebt, sondern es ist in seiner bäuerlich-autarken Verfassung eher mit der mittelalterlich-vorbürgerlichen Form einer Bedarfsproduktion zu vergleichen. 351 Dieser Sachverhalt klärt sich weiter auf in der Explikation der Vorstellung konkret-gegenständlicher Arbeit, wie sie dem Gesellschaftsentwurf des Dichters zugrundeliegt und die im letzten Brief Hyperions an Diotima dezidiert entwickelt wird. Sofern die ideale Lebensform auf gesellschaftlicher Ebene aufgrund des beschränkten Bewußtseins des Volkes nicht zu realisieren ist, kann sie in jenen kleinen Zirkeln, abseits der Gesellschaft, aufgebaut werden, die auf der Grundlage des gemeinsamen Bewußtseins eines »Gott(es) in uns« über die Beziehungsform von Liebe und Freundschaft sich konstituieren. Nach dem Scheitern des Revolutionsversuchs und der Genesung von seinen Verletzungen schlägt Hyperion dies Diotima vor: »Bei seinem Abschied hat mein Vater mir so viel von seinem Überflusse geschikt, als hinreicht, in ein heilig Thal der Alpen oder Pyrenäen uns zu flüchten, und da ein freundlich Haus und auch von grüner Erde so viel zu kaufen, als des Lebens goldne Mittelmäßigkeit bedarf.« (STA III, 133)352

Das Ideal der »Mittelmäßigkeit« findet in der bäuerlichen Erwerbsform seine ökonomische Basis. Und indem eine Bewirtschaftung vorgestellt wird, die auf jede Unterstützung durch technische Hilfsmittel verzichtet und diese Lebensweise in Beziehung setzt mit der Ausbildung der individuellen Persönlichkeit des Einzelnen, womit auch jede Form von Lohnarbeit ausgeschlossen ist, entsteht eine natürlich bedingte Gleichheit des Eigentums an Land und den daraus erwirtschafteten Produkten; diese Vorstellung war bereits in den Ausführungen Oetingers, allerdings als von Christus gestifteten Zustand, aufge129) Vorstellungswelt des Dichters sprechen und diesbezügliche Darlegungen als Legenden einer bürgerlichen Literaturwissenschaft abtun. Die Grenzen des Gesellschaftsbildes Hölderlins werden auch sichtbar, setzt man dagegen die Behandlung ökonomischer Fragen in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«; in den Ausführungen Lotharios über eine Besteuerung des adligen Grundbesitzes (Goethe WW VII, 507f.) wie den wirtschaftlichen Projekten der Turmgesellschaft zur Sicherung ihres Besitzes vor Revolutionen (ebd., 563ff.) drückt sich großbürgerlich-liberalistisches Denken aus. 352 Der von Hyperion selbst angesprochene Fluchtcharakter des Plans, den besonders Thurmair 1980, 77 hervorhebt, deutet die Fiktionalität des Projekts an, womit eine Distanzierung von dieser Form der Realisierung der Utopie verbunden ist vor dem Hintergrund des Verweises auf die Teleologie der »heilige(n) Natur« (STA III, 155) selbst; eine Relativierung der inhaltlichen Gestaltung der Utopie ist damit nicht gegeben. 351

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taucht und findet sich bereits in der Bibel.353 Diese Nivellierung der Eigentumsverhältnisse und ihre Begründung als natürliche, nicht zu problematisierende Ordnung führt zu einer vollkommen statischen Wirtschaftsund Gesellschaftsform, die darin wiederum Parallelen zur ständischen Ordnung des städtischen Bürgertums in der Gegenwart des Dichters aufweist. Die »Städter« hatten sich ebenfalls durch ihre >mittlere< Lage definiert in der Gesellschaftshierarchie Württembergs; im Zukunftsmodell des Dichters wird dieser gesellschaftliche »Kontrast« (STA III, 78) gleichsam eingeschmolzen auf eine >mittlereÜber Religion< und >Das Werden im Vergehen^ Frankfurt a. M. 1972 ( = Gegenwart der Dichtung 2) Cases, Cesare, Einleitung zu: Lehrstück Lukács, hg. v. Jutta Matzner, Frankfurt a. M. 1974, 9 - 4 3 ( = edition suhrkamp 554) Cornelissen, Maria, Die Manes-Szene in Hölderlins Trauerspiel >Der Tod des EmpedoklesDer Vollendung Ahndungen . . .Älteste Systemprogramm des deutschen IdealismusHyperionHyperion< und >EmpedoklesGeschichte und KlassenbewußtseinGeschichte und KlassenbewußtseinHölderlin unter den Deutschem und andere Aufsätze zur deutschen Literatur, Frankfurt a. M. 1968, 20-45 ( = edition suhrkamp 275) Minder, Robert, Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz (1936), Frankfurt a. M. 1974 ( = suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 43) Mittenzwei, Werner, Gesichtspunkte. Zur Entwicklung der literaturtheoretischen Position Georg Lukács', in: Dialog und Kontroverse mit Georg Lukács. Der Methodenstreit deutscher sozialistischer Schriftsteller, hg. v. Werner Mittenzwei, Leipzig 1975, 9-104 ( = Reclam 643) Möller, Helmut, Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur, Berlin 1969 ( = Schriften zur Volksforschung) Mohl, Robert von, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. I, Tübingen 1829 Mommsen, Momme, Die Problematik des Priestertums bei Hölderlin, in: HölderlinJahrbuch 15, 1967/68, 53-74 Müller-Seidel, Walter, Hölderlins Dichtung und das Ereignis der Französischen Revolution. Zur Problemlage, in: Hölderlin-Jahrbuch 17, 1971/72, 119-125 Nägele, Rainer, Literatur und Utopie. Versuche zu Hölderlin, Heidelberg 1978 Narr, Dieter, Die Stellung des Pietismus in der Volkskultur Württembergs (1957/58), in: ders., Studien zur Spätaufklärung im deutschen Südwesten, Stuttgart 1979, 41-62 ( = Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg: Reihe B, Forschungen, 93) 223

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